Handbuch Politische Ideengeschichte: Zugänge – Methoden – Strömungen [1. Aufl.] 978-3-476-04709-0;978-3-476-04710-6

Das Handbuch bildet die Pluralität der Ideengeschichte in den Disziplinen ab und zeigt, dass eine Reihe von Methoden in

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German Pages IX, 282 [288] Year 2018

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Handbuch Politische Ideengeschichte: Zugänge – Methoden – Strömungen [1. Aufl.]
 978-3-476-04709-0;978-3-476-04710-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Front Matter ....Pages 1-1
Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte (Grit Straßenberger)....Pages 2-8
Philosophischer Zugang zur Ideengeschichte (Frauke Höntzsch)....Pages 9-14
Front Matter ....Pages 15-15
Hermeneutik (Hans-Jörg Sigwart)....Pages 16-23
Textanalyse/Dokumentenanalyse (Thomas Noetzel)....Pages 24-28
Diskursanalyse (Martin Nonhoff)....Pages 29-34
Ideologiekritik (Titus Stahl)....Pages 35-39
Theorienvergleich (Holger Zapf)....Pages 40-44
Historischer Kontextualismus (Cambridge School) (Oliver Hidalgo)....Pages 45-50
Politische Kulturforschung (Samuel Salzborn)....Pages 51-55
Front Matter ....Pages 57-57
Antike: Griechenland (Barbara Zehnpfennig)....Pages 58-69
Antike: Rom (Peter Kuhlmann)....Pages 70-81
Antike: China/Ostasien (Eun-Jeung Lee)....Pages 82-91
Mittelalter: Christlich (Peter Nitschke)....Pages 92-102
Mittelalter: Islamisch (Geert Hendrich)....Pages 103-112
Mittelalter: Jüdisch (Karl E. Grözinger)....Pages 113-123
Staatsraisonlehre/Souveränismus (Rüdiger Voigt)....Pages 124-130
Rationalismus und Aufklärung (Helmut Reinalter)....Pages 131-140
Kontraktualismus (Ingo Elbe)....Pages 141-153
Repräsentationsideen (Paula Diehl)....Pages 154-163
Liberalismus (Walter Reese-Schäfer)....Pages 164-173
Konservatismus (Klaus von Beyme)....Pages 174-182
Sozialismus und Kommunismus (Felix Sassmannshausen)....Pages 183-195
Anarchismus (Dominique Miething)....Pages 196-207
Republikanismus (Emanuel Richter)....Pages 208-219
Antikolonialismus (Thomas Schmidinger)....Pages 220-226
Feminismus (Beate Rosenzweig)....Pages 227-238
Nationalismus und Antisemitismus (Patrick Eser, Dana Ionescu)....Pages 239-252
Faschismus/Nationalsozialismus (Stefan Breuer)....Pages 253-263
Front Matter ....Pages 265-265
Die Zukunft der politischen Ideengeschichte (Samuel Salzborn)....Pages 266-275
Back Matter ....Pages 276-282

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Samuel Salzborn (Hg.)

Handbuch Politische Ideen­ geschichte Zugänge – Methoden – Strömungen

Samuel Salzborn (Hg.)

Handbuch Politische ­ Ideengeschichte Zugänge – Methoden – Strömungen

J. B. Metzler Verlag

Der Herausgeber

Prof. Dr. Samuel Salzborn ist Gastprofessor für Antisemitismusforschung am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und apl. Professor für Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Dezember 2015 erhielt er den Preis der Stiftungsrates der Universität Göttingen in der Kategorie »Wissenschaft und Öffentlichkeit« für den »vorbildlichen Transfer aktueller wissenschaftlicher Themen in eine breite Öffentlichkeit«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-04709-0 ISBN 978-3-476-04710-6 (eBook) Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über­­ setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature www.metzlerverlag.de [email protected] Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: shutterstock) J. B. Metzler, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018

Inhalt Einleitung  VII

I Ideengeschichtliche Zugänge 1 Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte  Grit Straßenberger  2 2 Philosophischer Zugang zur Ideengeschichte  Frauke Höntzsch  9 II Methoden der ideengeschichtlichen Forschung 3 Hermeneutik Hans-Jörg Sigwart  16 4 Textanalyse/Dokumentenanalyse  Thomas Noetzel  24 5 Diskursanalyse Martin Nonhoff  29 6 Ideologiekritik Titus Stahl  35 7 Theorienvergleich Holger Zapf  40 8 Historischer Kontextualismus (Cambridge School)  Oliver Hidalgo  45 9 Politische Kulturforschung  Samuel Salzborn  51 III Denkströmungen A Antike

10 Antike: Griechenland  Barbara Zehnpfennig  58 11 Antike: Rom  Peter Kuhlmann  70 12 Antike: China/Ostasien  Eun-Jeung Lee  82

B Mittelalter

13 Mittelalter: Christlich  Peter Nitschke  92 14 Mittelalter: Islamisch  Geert Hendrich  103 15 Mittelalter: Jüdisch  Karl E. Grözinger  113 C Frühe Neuzeit

16 Staatsraisonlehre/Souveränismus  Rüdiger Voigt  124 17 Rationalismus und Aufklärung  Helmut Reinalter  131 18 Kontraktualismus  Ingo Elbe  141 19 Repräsentationsideen  Paula Diehl  154 D Moderne

20 Liberalismus  Walter Reese-Schäfer  164 21 Konservatismus  Klaus von Beyme  174 22 Sozialismus und Kommunismus  Felix Sassmannshausen  183 23 Anarchismus  Dominique Miething  196 24 Republikanismus  Emanuel Richter  208 25 Antikolonialismus  Thomas Schmidinger  220 26 Feminismus  Beate Rosenzweig  227 27 Nationalismus und Antisemitismus  Patrick Eser / Dana Ionescu  239 28 Faschismus/Nationalsozialismus  Stefan Breuer  253 IV Ideengeschichtlicher ­Ausblick 29 Die Zukunft der politischen Ideengeschichte  Samuel Salzborn  266 Autorinnen und Autoren  276 Personenregister  277

Einleitung Die Rekonstruktion der Geschichte politischer Ideen unterliegt fortlaufenden Konjunkturen und stellt gleichermaßen in ihrem dialektischen Verhältnis von Formierung, Verfestigung und Revision der Kanonisierung politischen Denkens stets einen neuen Quell für Adaptionen von politischen Ideen in der Gegenwart dar. Denn die Frage, welcher Gedanke, welche Reflexion und welche Utopie sich als ideengeschichtlich relevant herausstellt, wird stets neu diskutiert und unter dem Primat des retrospektiven Blicks neu justiert: Galt der eine Autor in seinem zeitgenössischen Kontext als theoretisch ambitioniert, wird sich seine Idee in der Retrospektive als vielleicht doch weniger innovativ und revolutionär erweisen, als das erst Jahre später in der ideengeschichtlichen Forschung rezipierte, aber zeitgleich entstanden Werk einer anderen Autorin. Insofern unterliegt die Historiografie des politischen Denkens Konjunkturen, die nicht allein von Originalität, Innovationspotenzial oder gar Genialität politischer Denkerinnen und Denker abhängen, sondern die maßgeblich von ihrem politischen, gesellschaftlichen und sozialen Kontext und dessen Rezeptionen geprägt sind. Liegen die Entstehungsbedingungen für politische Theorien in politischen und sozialen Interessenkonflikten begründet, so sind sie auch die Ursache für die Wirkmächtigkeit von politischen Theorien über den engen, historischen Bezug hinaus. Denn allein der Umstand, dass eine Idee politisch-theoretisch konzipiert und von einer Gruppe von Intellektuellen und politisch Aktiven angenommen und vorangetrieben wird, klärt nicht ihre legitimatorische Durchsetzungsstärke. Aufgabe der Historiografie der politischen Theorien sollte es sein, ein möglichst umfassendes Bild der im Laufe der Geschichte formulierten, sich teils ergänzenden, teils widersprechenden, aber immer im intellektuellen Kampf um Interpretations- und Deutungshoheiten stehenden Ideen zu skizzieren. Wichtig erscheint es besonders, die Relationalität der Ideengeschichte im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft zu reflektieren und damit die spezifischen his-

torischen Orte kenntlich zu machen, an denen politische Theorien formuliert worden sind – wobei diese historischen Orte stets auch einen räumlichen und zeitlichen Kern inkorporieren, also niemals kontextlos formuliert werden. Ideengeschichtlich fundamental dürfte es sein, neben dem Raum-Zeit-Kern auch in den Blick zu nehmen, worin die Potenziale des politischen Denkens liegen, die über die damit anvisierte empirische Analyse konkreter gesellschaftlicher und politischer Konstellationen, die politische Theorien zum Zeitpunkt ihrer Verfassung ja letztlich immer sind, hinausgehen – also auf die konkreten Geltungsansprüche politischer Theorie zu fokussieren und dabei stets ihr abstraktes Generalisierungspotenzial im Blick zu behalten. Die politische Ideengeschichte generiert insofern einen Wissensvorrat, der auch unter methodologischen Gesichtspunkten bedeutsam ist. Denn es sind gerade die methodologischen Potenziale der Ideengeschichte, die dazu in die Lage versetzen, methodische Schwächen anderer analytischer Herangehensweisen auszugleichen. Denn methodische Integration sollte ja, wie Gary Goertz und James Mahoney (2012) argumentiert und einer tradierten Undifferenziertheit widersprochen haben, gerade nicht aufgrund von Gemeinsamkeiten, sondern aufgrund von methodologischen Differenzen begründet werden – denn nur die Differenz zeigt die Stärken der jeweiligen Methoden (und eben auch: ihre Schwächen). Die Differenz in erkenntnistheoretischer Perspektive liegt dabei in den Überzeugungen über die Form, die Aussagen über politische und gesellschaftliche Fragen haben müssen, um tatsächlich Aussagefähigkeit über politische und gesellschaftliche Fragen zu besitzen. In der theoretischen Logik der ideengeschichtlichen Forschung ist der epistemologische Primat die Theorie, in der dem Sollen ein Vorrang vor dem Sein eingeräumt wird, wobei der methodologische Blick auf gesellschaftliche wie politische Strukturen und damit auf die Makro-Ebene gerichtet ist. Es werden strukturelle Aspekte von Politik und Gesellschaft analysiert,

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Einleitung

die gleichzeitig auch im Zentrum der formulierten Erkenntnisse und Annahmen stehen. Theoretische Ansätze versuchen Aspekte von Vergesellschaftung zu verstehen und zu erklären, allerdings fokussieren sie nicht auf den subjektiven, sondern primär auf den objektiven Sinn als Erkenntnisanspruch. Hypothesen werden in theoretischen Methoden bestätigt und/ oder verworfen, nehmen damit aber in Differenz zu rein empirischen Methodologien einen signifikant geringeren Stellenwert in ihrer Explizitheit ein. Denn der epistemologische Kern von politischer Theorie ist nicht die Hypothese, sondern die Wahrheit – und der Streit, Konflikt, Disput oder Kampf um die diesem Anspruch zugrundeliegenden Geltungsansprüche in der Theorie wie Praxis und damit zugleich auch jeder empirischen Wirklichkeit als im Kern letztlich theoretischer Faktizität (vgl. Salzborn 2017). Politische Ideengeschichte ist nicht nur eine um akademische und außerakademische Wahrheitsan­ sprüche in Dialog tretende Wissensdisziplin, sie ist auch eine Wissenschaftsdisziplin, die sich mindestens die Fächer Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft teilen und insofern zugleich auch durch sie miteinander verbunden sind, jeweils mit eigenen Spezifika der methodischen und konzeptionellen Hinwendung auf die politische Ideengeschichte, jeweils also mit spezifischen Stärken und Schwächen in der analytischen Erkenntnisfähigkeit des politischen Denkens. Das Handbuch Politische Ideengeschichte verfolgt einen Zugang, der wissenschaftsdisziplinumfassend systematische mit historischen Dimensionen verbindet. Dabei wird die Pluralität der Ideengeschichte abgebildet (Kapitel I: Ideengeschichtliche Zugänge) und gezeigt, dass eine Reihe von Methoden in der ideengeschichtlichen Forschung existieren, die aber nur selten explizit gemacht werden, weshalb theoretische Forschung völlig zu Unrecht als methodenfrei oder unempirisch gilt, während sie faktisch die erkenntnistheoretische und methodologische Grundlegung jeder empirischen Forschung ist (Kapitel II: Methoden der ideengeschichtlichen Forschung). Herzstück des Handbuches ist ein historisch-systematisch untergliederter Zugang zur Ideengeschichte (Kapitel III: Denkströmungen), der Pluralität wie Referenzialität (in) der Ideengeschichte abbildet und historisch rekonstruiert, wobei besonders auf die Pluralität der Ideengeschichte, ihre Wechselwirkungen und damit die fortwährende Frage nach Kontinuitäten und Brüchen im politischen Denken fokussiert wird. Was das Handbuch Politische Ideengeschichte leisten will, ist insofern die Herstellung eines kritischen Ge-

samtüberblicks über die politische Ideengeschichte, in der manche – sicher nicht alle – Leerstellen der politischen Ideengeschichtsforschung mit Inhalt gefüllt werden. Denn während sich viele Gesamtdarstellungen zur politischen Ideengeschichte in jüngerer Vergangenheit vor allem an einer westlichen Kanonbildung orientiert haben, in der nicht nur zahlreiche internationale Dimensionen unterkomplex reflektiert worden sind, war ein Teil dieser Orientierung auch, das Hauptaugenmerk auf normative Momente der Ideengeschichte zu richten, die als emanzipativ und/oder fortschrittlich galten oder im weitesten Sinne eher mit einer affirmativen Hinwendung denn einer dezidierten Ablehnung rekonstruiert und analysiert wurden. Insofern erfolgt der außereuropäische Blick auf die Ideengeschichte oftmals nicht integral, sondern separiert in den entsprechenden Perspektiven der Regionalstudien, was insbesondere die interaktive und damit interdependete Dimension von politischer Theoriebildung im Weltmaßstab verkennt. Die Rekonstruktion des politischen Denkens sieht bisweilen gern über die dunklen Orte und destruktiven Schattenseiten der Ideengeschichte hinweg, auch im internationalen Kontext. Das erweist sich nicht nur als historisch problematische Auslassung, sondern angesichts des aktuellen Erstarkens antidemokratischer und gegenaufklärerischer Bewegungen, die an faschistisches, nationalsozialistisches, antisemitisches, rassistisches und islamistisches Denken anschließen und es zu reaktualisieren trachten, im Besonderen als Manko einer politischen Ideengeschichtsforschung. Denn diese versteht sich ja eigentlich – aus gutem erkenntnistheoretischen und methodologischen Grund – als grundlegende und damit letztlich jede empirische Forschung unterlegende Teildisziplin der Politikwissenschaft. Denn was auch immer Gegenstand empirischer Forschung ist: Die abstrakte Frage, welche theoretischen Konzepte sich im untersuchten Material verwirklichen und welche Referenzialität in diesem objektiv mit Blick auf Facetten der Ideengeschichte besteht – ungeachtet dessen ob dies Forschenden auch subjektiv bewusst ist –, stellt sich besonders für diejenigen empirischen Forschungsansätze, die sie in ihrer eigenen Ideologie der Ideologiefreiheit am offensivsten von sich weisen. Empirie ohne Theorie ist nicht nur hypothetisch unmöglich, die empirische Realität von Politik und Gesellschaft ist immer Verwirklichung und Affirmation von politischen Theorien, in positiver Referenznahme wie in negativer Abgrenzung. Auch wenn das Handbuch philosophische und geschichtswissenschaftliche Perspektiven auf die politi-

Einleitung

sche Ideengeschichte integriert und für unverzichtbar für die Forschung hält, ist seine Ausrichtung dennoch primär auf die Politikwissenschaft orientiert. Das hat zum einen systematische Gründe, denn das Feld »Politische Theorie und Ideengeschichte« ist mit Blick auf die fachdisziplinären Differenzierungslogiken besonders stark in der Politikwissenschaft verankert; das hat zum anderen aber auch methodologische Gründe, da die politikwissenschaftliche Perspektive auf die politische Ideengeschichte auch als Angebot gelesen werden kann, die spezifischen Fachkompetenzen von Philosophie und Geschichtswissenschaft zu vermitteln und auf diese Weise integrativ zu wirken: Liegt die vielleicht stärkste Kompetenz der Philosophie in der intensiven Auseinandersetzung mit dem textuellen Gedanken, der intellektuellen Tiefbohrung einer argumentativen Präzision und damit der Frage nach ihrer universalen Potenzialität, so scheint die exponierteste Stärke der Geschichtswissenschaft vielleicht im Bereich der umfangreichen historischen Kontextualisierung von Ideen und damit genau umgekehrt der Akzentuierung ihrer Zeit- und Ortgebundenheit zu liegen. Vor diesem Hintergrund lokalisiert sich das Feld der politischen Ideengeschichte in der Politikwissenschaft sowohl mit Blick auf seine methodologische, wie methodische Herangehensweise genau dazwischen. Die Politikwissenschaft macht hermeneutische, textanalytische und diskursive Zugänge zur politischen Ideengeschichte gleichermaßen fruchtbar, wie historisch-kontextualisierende, politisch-kulturelle oder vergleichende Zugänge, um deren integrative und (ideologie-)kritische Integration die politische Ideengeschichte bemüht ist im Spannungsfeld von universalen Geltungsansprüchen und zeitlichräumlich kontextualisierten Begründungszusammenhängen des politischen Denkens. Auch wenn dieses Handbuch versucht, die politische Ideengeschichte in ihren wesentliche Zügen zu rekonstruieren und in ihren weltweiten Interaktionsprozessen erkennbar werden zu lassen, wird dieser Anspruch freilich stets wieder aufs Neue einzulösen sein – denn auch dieses Handbuch wird, wie sich in einige Jahren oder Jahrzehnten zeigen wird, abermals Leerstellen hinterlassen, wichtige Autorinnen und Autoren der politischen Ideengeschichte sind auch vielleicht heute noch nicht bekannt, rekonstruiert oder kontextualisiert, der Zugang zu Archiven und Nachlässen, die Befassung mit theoretischen Strömungen in Teilen der Welt, die heute aus nicht zuletzt sprachlichen Gründen noch nicht hinreichend erfolgt ist, wird sich erweitern, manche Gedanken, die in die-

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sem Handbuch für wichtig erachtet werden, werden in Zukunft vielleicht nicht mehr als relevant eingestuft. Folglich ist dieses Handbuch Politische Ideengeschichte ein ideengeschichtlicher Zwischenstand, der vor allem, weil die jüngere Vergangenheit in weitaus höherem Maße Deutungs- und Relevanzinterpretationsveränderungen unterliegt, seinen zeitlichen Fokus mit dem Jahr 1945 und nur einem skizzenhaften darüber hinaus weisenden Ausblick (Kapitel IV: Ideenge­ schichtlicher Ausblick) beendet, aber bis dahin den Anspruch erhebt, den aktuellen Zwischenstand der ideengeschichtlichen Debatte kompakt zusammenzufassen – so lange, bis wieder der Versuch unternommen werden wird, die Historiografie der politischen Ideengeschichte mit neuem Wissen und neuen Ansprüchen abermals zu rekonstruieren. Kontroversen innerhalb der politischen Ideengeschichtsforschung werden dabei in diesem Handbuch bewusst nicht nivelliert, die Autorinnen und Autoren sind ausgewiesene Expertinnen und Experten in ihrem Feld, was für die Leserinnen und Leser neben fach- und sachkundigen Darstellungen einschließlich der Debatten im jeweiligen Feld auch bedeutet, die hier und da zwischen den Beiträgen des Handbuches in der Interpretation und Deutung einzelner Autor(inn)en und theoretischen Strömungen bestehenden Differenzen konstruktiv als Wesen von Aufklärung reflektieren zu müssen. Und dazu gehört auch, dass in diesem Handbuch bewusst und vorsätzlich auf eine Vereinheitlichung der Sprachregelungen mit Blick auf eine geschlechtergerechte Sprache verzichtet wurde: Der Herausgeber hält diese zwar für unverzichtbar, ob, wie und in welcher Weise dies aber die Autor(inn) en sehen, liegt in ihrer Freiheit – so dass auch hier im differenten Umgang in den einzelnen Beiträgen des Handbuches dem Pluralismus der politischen Ideengeschichte Rechnung getragen wird und insofern jeder Autorin und jedem Autor die Freiheit gelassen wurde, ihre und seine eigenen Position damit kenntlich zu machen, die ja selbst wiederum Teil ideengeschichtlicher Deutungen und (Selbst-)Reflexionen ist. Literatur

Goertz, Gary/Mahoney, James: A Tale of Two Cultures. Qualitative and Quantitative Research in the Social Sciences. Princeton/Oxford 2012. Salzborn, Samuel: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext. 2. akt. Aufl. Baden-Baden 2017.

Samuel Salzborn

I Ideengeschichtliche Zugänge

1 Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte Die Politikwissenschaft ist eine relativ junge akademische Disziplin. Im universitären Kampf um Anerkennung als eigenständiger, von den kanonisierten Disziplinen der Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und Soziologie klar zu unterscheidender Lehrund Forschungsbereich stand die Politikwissenschaft vor dem Problem, dass weder über den Gegenstand Einigkeit erzielt werden noch eine einzelne politikwissenschaftliche Methode für sich in Anspruch nehmen konnte, das Fach insgesamt zu repräsentieren. Normative Perspektiven auf das Politische, das seinerseits umkämpft ist, konkurrieren hier mit institutionellen Fragestellungen nach den Mechanismen und Funktionen bestehender politischer Ordnungen. Umstritten ist dabei nicht nur, was eigentlich die Analysegrößen der Politikwissenschaft sind – der Staat, Föderationen oder internationale Beziehungen –, es existieren auch unterschiedliche Auffassungen darüber, was als ›realistische‹ politische Theorie zu gelten hat (vgl. Geuss 2011) und in welchem Verhältnis normativanalytische Ansätze zu ›empirischen‹ Theorien stehen (vgl. Richter 2016, 18–28). Die Politikwissenschaft hat auf die Unentschiedenheit hinsichtlich der Bestimmung ihres Gegenstandes und des methodischen Zugriffs auf das ›Material‹ mit der Ausdifferenzierung in vier klassische Lehr- und Forschungsbereiche reagiert: Innenpolitik bzw. Regierungslehre, Vergleichende Politikwissenschaft, Internationale Politik sowie Politische Theorie und Ideengeschichte. Die ersten drei Subdisziplinen, die sich in den letzten Jahrzehnten weiter ausdifferenziert haben und auch mancherlei Allianzen eingegangen sind – so verbindet etwa die mittlerweile recht gut ausgestattete politikwissenschaftliche Subdisziplin Europäische Politik eine vergleichend angelegte Regierungslehre mit dem Forschungsbereich der Internationalen Beziehungen –, folgen überwiegend der institutionellen Perspektive. Politische Institutionen, formalisierte Verfahren und etablierte Arrangements gesellschaftlicher Interessenvermittlung werden hier hinsichtlich ihrer Stabilitäts- und Veränderungspotenziale auf nationaler, supranationaler oder internationaler Ebene analysiert.

Die Politische Theorie und Ideengeschichte als der vierte klassische Teilbereich der Politikwissenschaft ist weder dem von der modernen Governanceforschung noch einmal forcierten Ausdifferenzierungsund Professionalisierungstrend gefolgt noch der Abgrenzung der Politikwissenschaft gegenüber angrenzenden Disziplinen. Stattdessen bildete die politische Ideengeschichte eine inter- und transdisziplinäre Praxis politikwissenschaftlicher Theoriebildung aus. Aus dieser Methodenvielfalt oder Methodenkonkurrenz erwächst der ambivalente Status der politischen Ideengeschichte innerhalb der Politikwissenschaft. Sie bildet einerseits das Scharnier der in Subdisziplinen ausdifferenzierten Politikwissenschaft, andererseits unterläuft sie ›material‹ und methodisch sowohl die innerdisziplinäre Ausdifferenzierung der Politikwissenschaft als auch ihre disziplinäre Außenabgrenzung. Daher wird der Politischen Theorie gelegentlich auch eine subversive Rolle im Fach insgesamt zugesprochen (Brown 2010). Die ambivalente Position der Ideengeschichte innerhalb der Politikwissenschaft soll in drei Schritten aufgezeigt werden: Zunächst wird die politische Ideengeschichte als verschiedene politikwissenschaftliche Theorien und Forschungsansätze verbindender Ansatz vorgestellt (I). An diese Überblicksdarstellung schließt sich eine differenzierte Betrachtung konkurrierender ideengeschichtlicher Methoden an (II). Abschließend werden die disparaten Zugänge zur Ideengeschichte exemplarisch im »Challenge-and-Response-Ansatz« zusammengefasst (III).

1.1 Die Ideengeschichte als Scharnier politikwissenschaftlicher Forschung Seit ihrer Etablierung als eigenständige universitäre Disziplin ist die Frage nach dem Gegenstand der Politikwissenschaft identisch mit der Frage nach dem Wesen bzw. dem Begriff des Politischen. Im Anschluss an die klassische Unterscheidung von Dolf Sternberger zwischen drei Wurzeln der Politik – die mit dem Werk von Aristoteles verbundene »Politologik«, die an Machiavellis Principe exemplifizierte »Dämonologik« und die auf Augustinus zurückgeführte »Eschatologik« (Sternberger 1978, 159–265)

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_1

1  Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte

– werden vier politikwissenschaftliche Aspekte unterschieden: Der machtanalytische Aspekt thematisiert die Ausübung politischer Macht, der institutionelle sowie politisch-soziologische Aspekt stellt auf die Mechanismen und Funktionen der bestehenden politischen Ordnung ab, der politisch-teleologische Aspekt fragt nach dem philosophisch bestimmten Sinn der politischen Institutionen und der emanzipatorischutopische Aspekt widmet sich der Realisierung politischer Zielentwürfe. Gegenstand der Politikwissenschaft sind demnach die Politik als Kampf um Macht und Deutungshoheit, die empirisch-analytische Erfassung der bestehenden politischen Ordnung und die stärker normativ ausgerichtete Frage nach der Verwirklichung der am Gemeinwohl orientierten »guten Ordnung« (Münkler 1985, 15). Diese differenzierte Gegenstandsbestimmung korrespondiert teilweise mit drei politikwissenschaftlichen Theorietypen, die Wolf-Dieter Narr und Klaus von Beyme als ideengeschichtlich-essentialistisch bzw. ontologisch-normativ, deduktiv-empirisch bzw. empirisch-analytisch und dialektisch-historisch bzw. dialektisch-kritisch bezeichnet haben (vgl. Münkler 1985, 18 f.). Diese Strukturierungen sind analytisch um einiges komplexer als die in der angloamerikanischen Politikwissenschaft dominierende, eher schematische Unterscheidung zwischen politics, policy und polity. Die verschiedenen Gegenstände und Theorietypen politikwissenschaftlicher Forschung sowie die jeweils verfolgten methodischen Ansätze – dominant sind hier die historische, die institutionelle und die komparative Methode – werden in der politischen Ideengeschichte zusammengeführt. Die politische Ideengeschichte verbindet drei grundlegende politikwissenschaftliche Perspektiven: Die historisch-analytische Perspektive verfolgt Herkunft und Wandel politischer Kernbegriffe und zentraler politischer Ideen mit Blick auf deren Attraktivität und mobilisierende Kraft für politische Bewegungen. In zeitdiagnostischer Perspektive analysiert die politische Ideengeschichte gegenwärtige Krisen- und Konfliktsituationen in unterschiedlichen Politikbereichen hinsichtlich ihrer Ursachen, Erscheinungsformen und möglichen Konsequenzen und entwickelt von dort aus in therapeutischer Perspektive politische Reaktions- und Reformvorschläge (Münkler/Straßenberger 2016, 17 f.). In der Verbindung dieser drei Perspektiven fungiert die Ideengeschichte als »Archiv und Laboratorium« politischen Denkens (Münkler 2003, 103 ff.) bzw. als »Archiv und Arsenal« der Politikanalyse (Llanque 2008, 1 ff.).

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Die auf den ersten Blick verwandten Semantiken von »Laboratorium« und »Arsenal« verweisen auf methodische Kontroversen, die innerhalb der politischen Ideengeschichte um den Begriff des Politischen und den angemessenen oder ›richtigen‹ Zugriff auf das Archiv politischen Denkens geführt werden. Die Rede vom »Laboratorium« stellt Ideengeschichte als politikwissenschaftliche Versuchsanordnung vor, die klassische politische Ideen und Theorien mit neuen Ingredienzen anreichert und in einer bislang noch nicht getesteten Weise miteinander verbindet. Damit wird die therapeutische Perspektive der politischen Ideengeschichte gestärkt. Dem gegenüber stellt die Rede vom »Arsenal« den ideenpolitischen Kampf ins Zentrum. Politische Theorie wird hier als politische Tat eines politischen Denkers betrachtet, der sich in einem konkreten politisch-historischen Kontext an ein entscheidungsrelevantes Publikum wendet und um Zustimmung wirbt. Der Kampf um Macht ist dieser, an die Sprechakttheorie von John Austin (2002) anschließenden Perspektive zufolge wesentlich ein Kampf um Deutungshoheit, den der Theoretiker führt, um eine Veränderung des gesellschaftlichen Lebens zu bewirken (Weber/Beckstein 2014, 131). Der therapeutische Beitrag der politischen Ideengeschichte für die Bearbeitung gegenwärtiger Probleme ist hier nachrangig gegenüber der politischen Adressierung eines Textes im zeitgenössischen Entstehungskontext.

1.2 Methodenvielfalt oder Methoden­ konkurrenz? Die politische Ideengeschichte verbindet nicht nur verschiedene Zugänge zum Bereich des Politischen, sondern thematisiert und reflektiert zudem das Verhältnis von theoretischer Innovation, gesellschaftlicher Selbstauslegung und politischer Ordnung. Daraus erwächst eine pluralistische Praxis politischer Ideengeschichte, die als Methodenvielfalt oder kritisch als »methodologisches Babel« (Busen/Weiß 2013, 15 f.) verstanden werden kann. Die methodischen Kontroversen und konzeptionellen Abgrenzungen lassen sich entlang von drei Unterscheidungen darstellen: als Infragestellung der ›alten‹ durch eine ›neue‹ Ideengeschichte, als Unterscheidung zwischen drei diskursanalytischen Zugängen und als Binnendifferenzierungen innerhalb hermeneutisch-interpretativer Ansätze.

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I  Ideengeschichtliche Zugänge

Neue gegen alte Ideengeschichte Die politische Ideengeschichte hat das Studium der Geschichte politischer Ideen zum Gegenstand. Wie Ideen im Unterschied zu Begriffen und Konzepten verstanden werden können, in welchem Verhältnis sie zu Theorien stehen und wie politische Ideen identifiziert und politikwissenschaftlich analysiert werden können, ist jedoch nach wie vor umstritten (Bluhm 2006, 15). Klarer scheint hingegen die Frontlinie zwischen einem ›alten‹ Konzept von Ideengeschichte, das mit einem starken, eher abstrakten bzw. essentialisierenden Ideenbegriff operiert, und einem neueren, kontextualistischen Konzept, das politische Ideen und ideengeschichtliche Diskurse historisiert. Die essentialisierende oder ontologisch-normative Ideengeschichte interessierte sich wesentlich für überzeitliche Fragestellungen. Im Zentrum stand hier der normative Gehalt politischer Kern- oder Leitideen, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend oder auch Demokratie. Diesem Ansatz zufolge, der in deutschsprachigen Tradition paradigmatisch von Friedrich Meineke und in der amerikanischen Tradition von Arthur O. Lovejoy geprägt wurde, sind »über die Jahrhunderte hinweg dieselben Ideen gleichsam zeit- und ortsunabhängig verhandelt worden« (Weber/Beckstein 2014, 15). Gegen diese eher philosophische als politikwissenschaftliche Ideengeschichte, wie sie etwa von Leo Strauss, Eric Voegelin und Dolf Sternberger mit Rekurs auf Platon bzw. Aristoteles betrieben wurde, entwickelte sich ab den 1970er Jahren eine kritische Gegenbewegung. Der gemeinsame Nenner dieser kritischen Ideengeschichte bestand in dem Anliegen, »die Ideengeschichte vom geistesgeschichtlichen Höhenkamm in historisch-kontextualistische Täler ideologiekritischer Diskursanalyse zu ziehen« (Huhnholz 2015, 157). Was diese neue, auf die Herausforderungen der (angelsächsischen) Sprachphilosophie und Sprechakttheorie, der (deutschen) Sozialgeschichte und Sozialwissenschaften sowie der (französischen) Mentalitätsgeschichte und des Strukturalismus reagierende Ideengeschichte vor allem kennzeichnet, ist die Einbettung von Ideen in tradierte Wissensordnungen und ihre Rückbindung an politisches Handeln und an spezifische Sprachen und rhetorische Strategien (Bluhm 2006, 16).

Diskursanalytische Zugänge: Ideenpolitik, Begriffsgeschichte, Diskursarchäologie Ab Anfang der 1970er Jahre entwerfen Quentin Skinner, Reinhart Koselleck und Michel Foucault unabhängig voneinander unterschiedliche Ansätze eines diskursanalytischen Zugang zur politischen Ideengeschichte, der eine neue Form der politikwissenschaftlichen Theoriebildung befördert hat und bis in die gegenwärtigen Debatten über performative Ansätze des Politischen hinein als Paradigmenwechsel in der politischen Ideengeschichtsforschung angesehen wird (vgl. Huhnholz 2015). Die drei Begründer der diskursanalytischen Wende der westlichen Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften eint nicht nur die Abgrenzung zur sogenannten ›traditionellen‹ Ideengeschichte, sie gehen zudem auf Konfrontationskurs zur neuen Frankfurter Schule, die mit ihrer Frontfigur Jürgen Habermas auf eine philosophisch-normative Diskurstheorie abstellt. Sie positionieren sich damit in klarer Opposition zu philosophischen Ansätzen der politischen Ideengeschichte, betreiben aber trotz der historischen Kontextualisierung politischer Ideen keine rein historische Betrachtung. Der ideenpolitische Ansatz der Cambridge School um John Pocock und vor allem Quentin Skinner untersucht die politischen Absichten, rhetorischen Strategien und diskursiven Praxen politischer Denker. Dazu werden die Kernaussagen eines Textes in dem diskursiven und ideologischen Kontext analysiert, in dem dieser entstanden ist (Skinner 2002). Skinners Methode der semantischen Erschließung des diskursiven Umfeldes der politischen Theoriearbeit einzelner Autoren besitzt eine große Nähe zum begriffsgeschichtlichen Ansatz. Die Begriffsgeschichte, wie sie ihr prominentester Vertreter Reinhart Koselleck in dem von ihm gemeinsam mit Otto Brunner und Werner Conze herausgegebenen Werk Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (1972 ff.) betrieben hat, interessiert sich für die begriffspolitischen Implikationen im semantischen Wandel von Leitideen und für die darin eingelagerten politischen Erfahrungen sowie ihre politischen Folgen. Im Unterschied zum ideenpolitischen Ansatz von Skinner, der konkrete Texte als »Dokument« liest, über das sich ein Autor absichtsvoll in die gesellschaftlichen Kontroversen seiner Zeit einmischt, geht es Koselleck in historisch-analytischer Perspektive darum, »Entwicklungen von Begriffen über viele Texte hinweg

1  Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte

nachzuzeichnen, um so letztlich sozialen und politischen Wandel historisch greifbar zu machen« (Weber/Beckstein 2014, 23). Während sich der Cambridge-School-Ansatz auf den ideologischen Umgang mit Begriffen in einem vom jeweiligen Forschungsinteresse abhängigen, dann aber immer spezifischen historischen Kontext fokussiert, greift der begriffsgeschichtliche Ansatz weiter aus, wenn er die Vor- und Nachgeschichte der Umdeutung von Begriffen aufzeigt. Im Zentrum steht gleichwohl das lange 19. Jahrhundert. Ausgehend von der theoretischen Prämisse, dass sich Geschichte in bestimmten Begriffen niederschlägt, und unter der Annahme, dass politisch-soziale Begriffe in dem Zeitraum zwischen Mitte des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts, von Koselleck auch »Sattelzeit« genannt, einen langfristigen und tiefgreifenden Bedeutungswandel erfahren haben, wird Sozialgeschichte als »historisch-kritische Begriffsgeschichte« betrieben (Koselleck 1972a, Koselleck 1972b). Beide Ansätze eint jedoch der Anspruch, eine reflexive Praxis politikwissenschaftlicher Begriffsbildung zu befördern, indem der »politisch-polemische Modus aller Begrifflichkeit« ausgestellt wird (Mehring 2006, 41). Für den ideenpolitischen Ansatz ist der Kampf um die begriffliche Deutung der Welt programmatisch, aber auch die Begriffsgeschichte hat »eine spezielle Gruppe polemischer Begriffe unter dem Titel asymmetrischer Gegenbegriffe zum Gegenstand gemacht« (Bluhm 2006, 19) und damit die ideologische Umkämpftheit der grundsätzlich vieldeutigen Begriffe akzentuiert (Koselleck 1972 a, XXIII). Die Diskursarchäologie von Michel Foucault stellt einen deutlich anders gelagerten diskursanalytischen Zugang dar. Zwar interessiert sich auch Foucault für die gesellschaftlichen Wirkungen von politischen Ideen, nimmt aber stärker die Entstehung und den Einfluss politisch-hegemonialer Wissensformationen in den Blick. Er ist damit zum einen von der Cambridge School abzugrenzen. Das Subjekt als intentionaler Autor und Urheber seiner Handlungen wird verabschiedet, an seine Stelle tritt der Wissensdiskurs über die Standards der jeweiligen Zivilisation. Der Diskurs selbst wird zum Medium, in dem sich Macht konstituiert, und bildet damit den vornehmlichen Gegenstand der Untersuchung. Doch auch zum begriffsgeschichtlichen Ansatz geht Foucault auf Distanz. Die Diskursarchäologie ist gerade keine interpretative Methode, sondern eine Methode der Dekonstruktion (Foucault 1981, 198 ff.). Foucault will das Vertraute unvertraut machen, tradierte Gewiss-

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heiten auflösen, scheinbar evidente Wahrheiten in Frage stellen (ebd., 33 ff.). Foucault reformuliert die politikwissenschaftliche Frage nach der Entstehung und Ausübung politischer Macht im Rahmen einer emanzipatorisch-kritischen Gesellschaftstheorie. In eigenwilliger, systematisch kaum entwickelter Verbindung von historischer Darstellung (Archäologie) und Kritik (Genealogie der Macht) stellt Foucault auf die Kontingenz hegemonialer Diskursformationen ab und betont darüber die Offenheit politischer Geschichte und ihre Diskontinuität (ebd., 22 f.). Zugleich wird damit der politisch interventive Ansatz der kritischen Diskursanalyse explizit: Dass mit Begriffen Politik gemacht wird (Ideenpolitik) oder dass in politischen Begriffen soziale Veränderungen reflektiert und auch bewertet werden (Begriffsgeschichte), ist Foucault nicht genug, ihm geht es darum, eine ganz andere Geschichte dessen zu schreiben, was Menschen gesagt oder getan haben (ebd., 195 ff.). Foucault entwickelt zwar keine Demokratietheorie, aber seine kritische Diskursanalyse stellt darauf ab, die Kritik- und Widerstandsfähigkeit demokratischer Individuen zu stärken. Foucault wird daher auch zu einem der zentralen Referenzautoren der radikalen Demokratietheorie (vgl. Flügel-Martinsen 2017, 128–142). Hermeneutisch-performative Zugänge zum Politischen Die hermeneutische Interpretation ist die kardinale Methode der politischen Ideengeschichte. Denn was Ideengeschichtler vornehmlich tun, ist, klassische wie moderne Texte der politischen Theorie, politische Dokumente, wie Verfassungen und Verfassungsdebatten, oder auch literarische Quellen entlang ausgewählter Fragestellungen zu interpretieren. Diese Fragestellungen können transhistorischer Art sein oder sich auf bestimmte historische Epochen beziehen oder kulturell spezifische politische Diskurse evaluieren. Unter das weite Etikett hermeneutisch-interpretativer Ansätze fallen die ›traditionellen‹ Ansätze von Friedrich Meineke, Leo Strauss und Arthur O. Lovejoy, die auf die zeit- und ortsunabhängige Geltung von Ideen abstellen. Dieses Konzept politischer Ideengeschichte hat sich keineswegs einfach erledigt, wie sich etwa bei der im aktuellen gerechtigkeitstheoretischen Diskurs prominenten Aristotelikerin Martha C. Nussbaum beobachten lässt, die eine moderne Reinterpretation der aristotelischen Idee des guten Lebens unter Bedingungen transnationaler Verteilungs-

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I  Ideengeschichtliche Zugänge

konflikte entwickelt (Nussbaum 2002; Nussbaum 2010; vgl. dazu Straßenberger 2018). Aber auch die gegen die essentialisierende Ideengeschichte gerichteten Ansätze der Ideenpolitik und Begriffsgeschichte sind Interpretationsansätze. Stehen bei Skinner der ideengeschichtliche Text und das adressierte Publikum im Zentrum der Textinterpretationen, nimmt die Begriffsgeschichte ein Kollektiv von Texten in den Blick und fragt nach Leitbegriffen und ihren Wandlungen (Weber/Beckstein 2014, 21 ff.). Zu hermeneutisch-interpretativen Theorien gehören schließlich auch performative Theorien des Politischen, die politische Ideengeschichte als Intervention in gesellschaftliche Deutungskämpfe betreiben. Ausgangspunkt performativer Ansätze ist die Annahme, dass das Politische wesentlich sprachlich verfasst ist. Das betrifft sowohl das im engeren Sinne politische Handeln, also das in öffentlicher Rede und Gegenrede begründete Beraten und Entscheiden, als auch die begrifflich-konzeptionelle wie ideengeschichtlich-narrative Tradierung politischen Handelns, auf die sich Akteure interpretativ beziehen, wenn sie für ihre Vorschläge und Projekte um öffentliche Anerkennung und Unterstützung werben. Wie man etwa bei den »narrativ-hermeneutischen« Ansätzen von Hannah Arendt und Michael Walzer (Arendt 1994; Walzer 1993; vgl. dazu Straßenberger 2006), aber auch bei Chantal Mouffes hegemonietheoretischer Wendung der Diskursanalyse (Mouffe 2008) beobachten kann, messen performative Ansätze der politikwissenschaftlichen Ideengeschichtsschreibung selbst einen konstitutiven Beitrag für politische Praxis bei. So nutzt Walzer Rahmen und Erzählstruktur der biblischen Exodus-Narration, um die Geschichte ihrer politischen Rezeption zu erzählen (Walzer 1995). Er entwickelt darüber nicht nur eine Theorie der Revolution, sondern bietet zugleich eine krisendiagnostische Perspektive auf Entpolitisierungs- und Entfremdungsprozesse in liberal-demokratischen Ordnungen. Diesem performativen Verständnis politischer Praxis zufolge ist es keineswegs bedeutungslos, wie und in welcher Absicht vergangenes und gegenwärtiges Tun ideengeschichtlich tradiert und begrifflich konzeptionalisiert wird. Über die Kritik dominanter Wahrnehmungskategorien des Politischen und die Umdeutung politischer Begriffe, wie Freiheit, Macht, Autorität, aber auch über alternative Lesarten hegemonialer Leitkonzepte, wie Liberalismus bzw. liberale Demokratie (vgl. Rzepka/Straßenberger 2014), stellen performative Ansätze auf die kategoriale und narrative

Neubestimmung des ideengeschichtlichen Bezugsrahmens ab, innerhalb dessen politische Akteure ihre Gestaltungsmöglichkeiten einschätzen, Handlungsoptionen abwägen und politische Projekte ent- oder verwerfen (Münkler/Straßenberger 2016, 20 f.). Hermeneutisch-performative Ansätze grenzen sich in mehrfacher Weise von philosophischen Ansätzen der politischen Ideengeschichte ab: Zum einen interessieren sie sich nicht für die universelle Geltung normativer Konzeptionen des guten Lebens oder gerechter Politik, sondern fragen nach der mobilisierenden Kraft politischer Ideen und politikwissenschaftlicher Theoriebildung für politische Bewegungen. Zudem praktizieren sie einen erfahrungswissenschaftlichen Zugang politikwissenschaftlicher Theoriebildung, wie ihn exemplarisch Alexis de Tocqueville in seiner »neuen politischen Wissenschaft« entwickelt hat (Bluhm/Krause 2014). Sie stehen damit für eine politikwissenschaftliche Ideengeschichte, die auf eine enge Verknüpfung von politischer Theorie und Erfahrung abstellt. Erfahrungen gelten als besondere Form des Wissens, die politische Theorie zu erklären habe und die innerhalb einer Ideengeschichtsschreibung zu realisieren sind, die zwischen den Erfahrungen politischer Akteure, ihrer narrativen Tradierung und der politiktheoretischen Deutung dieser Erfahrungen »zweiter Ordnung« unterscheidet (vgl. Straßenberger 2006). Schließlich lehnen performative Ansätze die philosophische Privilegierung der vita contemplativa gegenüber der vita activa ab. In den politischen Kampf um Deutungshoheit sind politische Akteure wie politische Theoretiker gleichermaßen ›verstrickt‹. Diese ›Verstrickung‹ wird zwar durchaus unterschiedlich konzeptionalisiert, aber politische Ideengeschichte wird gleichwohl als ein in die gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse eingreifendes politikwissenschaftliches Problemdenken entworfen und praktiziert. In methodischer Hinsicht bleibt der hermeneutisch-performative Ansatz jedoch defizitär. Zugunsten einer auf politische Intervention angelegten und polemisch gegen den tradierten Kanon der politischen Theorie gerichteten Neuerzählung des Politischen werden methodische Fragen weitgehend ausblendet. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die ideengeschichtlichen Referenzen eher nach den Vorgaben politischer Plausibilität arrangiert als begriffsgeschichtlich systematisch entwickelt werden. Performative Zugänge bleiben damit nicht nur unter dem methodologischen Reflexionsniveau diskursanalytischer Ansätze, sondern machen auch die Transferleis-

1  Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte

tungen von politischer Ideengeschichte in politikwissenschaftliche Theoriebildung nicht explizit.

1.3 Der Challenge-and-Response-Ansatz – ein Integrationsangebot? Theorien als Antworten auf politische und gesellschaftliche Herausforderungen zu begreifen, also die Texte der politischen Ideengeschichte und die in ihnen entwickelten Argumente im Wechselspiel zwischen Bestandsaufnahme, Problemdiagnose und dem Entwurf von Lösungsstrategien zu analysieren, um, ausgehend von dieser historischen Analyse politischen Denkens und Handelns, einen neuen Blick auf die Gegenwart zu gewinnen, ist das zentrale Anliegen des Challenge-and-Response-Ansatzes der politischen Ideengeschichte. Er verbindet nicht nur historischkontextualistische Analysen politischer Ideen mit hermeneutisch-interpretativen Ansätzen, sondern macht sich auch die diachrone Vergleichsperspektive der ›alten‹, von der Diskursanalyse verabschiedeten Ideengeschichte zueigen: Die Diachronie der großen Denker gibt ein Beispiel dafür, wie das ideengeschichtliche Archiv auf der Suche nach Lösungen für Probleme und Herausforderungen der je eigenen Zeit durchforstet werden kann (Münkler/Straßenberger 2016, 18 ff.). Eben dieses gegenwartsdiagnostische Potenzial vermisst der Challenge-and-Response-Ansatz bei diskursanalytischen Zugängen. In der weitgehenden Ausblendung der Frage, ob aus der historisch-politischen Analyse theoretisch-systematische Erkenntnisse gewonnen werden können, die eine kritische Evaluierung politischer Handlungsvorschläge ermöglichen, erkennt der Challenge-and-Response-Ansatz eine für die politikwissenschaftliche Scharnierfunktion der Ideengeschichte höchst nachteilige (Selbst-) Begrenzung diskursanalytischer Zugänge. Zwar gibt es durchaus Versuche, dieses Defizit auszugleichen, wie etwa David Armitages Vorschlag des »serial contextualism« zeigt (Armitage 2012), aber eine systematische Modellbildung ist damit nicht verbunden, und auch der zeitdiagnostische oder therapeutische Beitrag der Ideengeschichte beleibt vage. Dem gegenüber stellt der Challenge-and-Response-Ansatz darauf ab, die konzeptionellen Leistungen politiktheoretischer Entwürfe und ihre politischen Umsetzungschancen zu beurteilen – und zwar sowohl innerhalb ihres historischen Entstehungs- und Wirkungsrahmens als auch mit Blick auf die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart (Münkler/Rzepka 2015).

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Dass die Ideengeschichte für die politikwissenschaftliche Reflexion gegenwärtiger politischer Praxis anschlussfähige Analyse- und Therapieperspektiven bietet, zeigen exemplarisch die Studie von Hubertus Buchstein zum Losverfahren als »politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU« (Buchstein 2009) und die gesellschaftstheoretische Analyse von Michael Th. Greven (1999) zum Spannungsverhältnis von politischer Dezision und demokratischer Deliberation. Der Challenge-and-Response-Ansatz greift verschiedene Aspekte der disparaten, zuteilen in polemischer Konfrontation zueinander entwickelten Ansätze politischer Ideengeschichte auf. Von der Begriffsgeschichte übernimmt er den Ansatz »asymmetrischer Gegenbegriffe«, von der Cambridge School die kontextsensitive Aufmerksamkeit für den ideenpolitischen Kampf um (Deutungs-)Macht und von Foucaults Diskursarchäologie die ideologiekritische Perspektive. Mit performativen Ansätzen teilt er die starke Annahme, dass aus der politischen Ideengeschichte handlungsorientierende Vorbilder für die Gegenwart gewonnen werden können, und mit der ontologisch-normativen Ideengeschichte die Radikalität, gegen die Antike-Moderne-Unterscheidung zu denken und systematische Schneisen durch 2500 Jahre politisches Denken zu schlagen. In diesem Sinne praktiziert der Challenge-and-Response-Ansatz einen methodisch und disziplinär ausgreifenden Zugang zur Ideengeschichte und behauptet damit offensiv die Scharnierfunktion des Lehr- und Forschungsbereichs Politische Theorie und Ideengeschichte innerhalb der Politikwissenschaft. Der Kampf um den ›richtigen‹ Zugriff auf die Politik und das Politische ist damit freilich nicht entschieden, sondern bleibt auf der Tagesordnung einer im Modus von Ideengeschichte und Ideengeschichtsschreibung betriebenen Politikwissenschaft. Literatur

Arendt, Hannah: Verstehen und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz. München 1994, 110–127 [engl. 1968]. Armitage, David: What’s the Big Idea? Intellectual History and the Long Durée. In: History of European Ideas 38/4 (2012), 493–507. Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Stuttgart 2002 [engl. 1962, 1975]. Bluhm, Harald: Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Einleitung. In: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden 2006, 9–29.

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Bluhm, Harald/Krause, Skadi: Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse der Demokratie. In: Leviathan 42/4 (2014), 635–656. Brown, Wendy: Political Theory Is Not a Luxury: A Response to Timothy Kaufman-Osborn’s »Political Theory as a Profession«. In: Political Research Quartely 63/3 (2010), 680–685. Buchstein, Hubertus: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Frankfurt a. M. 2009. Busen, Andreas/Weiß, Alexander: Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens – The State of the Art? In: Dies. (Hg.): Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens. Baden-Baden 2013, 15–39. Flügel-Martinsen, Oliver: Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution – Gesellschaftsordnung – Radikale Demokratie. Wiesbaden 2017. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981. Geuss, Raymond: Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift. Hamburg 2011 [engl. 2008]. Greven, Michael Th.: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie. Opladen 1999. Huhnholz, Sebastian: Bielefeld, Paris, Cambridge. Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Kosellecks, Foucaults und Skinners. In: Gasteiger, Ludwig/Grimm, Marc/Umrath, Barbara (Hg.): Theorie und Kritik – Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen. Bielefeld 2015, 157–182. Koselleck, Reinhart (1972a): Einleitung. In: Ders./Conze, Werner/Brunner, Otto (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, XIII–XXVII. Koselleck, Reinhart (1972b): Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: Ludz, Peter Christian (Hg.): Soziologie und Sozialgeschichte: Aspekte und Probleme. Opladen 1972, 116–131. Llanque, Marcus: Politische Ideengeschichte – ein Gewebe politischer Diskurse. München/Wien 2008. Mehring, Reinhard: Begriffssoziologie, Begriffgeschichte, Begriffspolitik. Zur Form der Ideengeschichtsschreibung nach Carl Schmitt und Reinhart Koselleck. In: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden 2006, 31–50. Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox. Wien 2008. Münkler, Herfried: Politikwissenschaft. Zu Geschichte und Gegenstand, Schulen und Methoden des Fachs. In: Fetscher, Iring/Münkler, Herfried (Hg.): Politikwissenschaft. Begriffe – Analysen – Theorien. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1985, 10–24.

Münkler, Herfried: Politische Ideengeschichte. In: Ders. (Hg.): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 2003, 103–131. Münkler, Herfried/Rzepka,Vincent: Die Hegung der Öffentlichkeit. Der Challenge-and-Response-Ansatz und die Genese des Liberalismus aus der Krise des Republikanismus. In: Reinalter, Helmut (Hg.): Neue Perspektiven der Ideengeschichte. Innsbruck 2015, 49–74. Münkler, Herfried/Straßenberger, Grit: Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Vincent Rzepka und Felix Wassermann. München 2016. Nussbaum, Martha C.: Aristotelische Sozialdemokratie. Die Verteidigung universaler Werte in einer pluralistischen Welt. In: Nida Rümelin, Julian/Thierse, Wolfgang (Hg.): Für eine aristotelische Sozialdemokratie. Essen 2002, 17–40. Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010 (engl. 2006). Richter, Emanuel: Demokratischer Symbolismus. Eine Theorie der Demokratie. Berlin 2016. Rzepka, Vincent/Straßenberger, Grit: Für einen konfliktiven Liberalismus. Chantal Mouffes Verteidigung der liberalen Demokratie. In: Zeitschrift für Politische Theorie 5/2 (2014), 217–233. Skinner, Quentin: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Ders.: Visionen des Politischen. Frankfurt a. M. 2002, 21–61 (engl. 2002). Sternberger, Dolf: Drei Wurzeln der Politik, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1978. Straßenberger, Grit: Neoaristotelismus und narrativistische Wendungen politischer Theorie: Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Craven Nussbaum. In: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden 2006, 155–180. Straßenberger, Grit: Martha Craven Nussbaum und das kommunitaristische Denken. In: Reese-Schäfer, Walter (Hg.): Handbuch Kommunitarismus, Wiesbaden 2018 (i. E.). Walzer, Michael: Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik. Frankfurt a. M. 1993 [engl. 1987]. Walzer, Michael: Exodus und Revolution. Hamburg 1995 [engl. 1985]. Weber, Ralph/Beckstein, Martin: Politische Ideengeschichte. Interpretationsansätze in der Praxis. Göttingen 2014, 13–24.

Grit Straßenberger

2  Philosophischer Zugang zur Ideengeschichte

2 Philosophischer Zugang zur Ideen­ geschichte Der ›philosophische‹ Zugang zur Ideengeschichte bezeichnet keinen fachspezifischen Zugang, zumal Philosophen mit Blick auf deren Gegenstand üblicherweise von der ›Geschichte der politischen Philosophie‹ sprechen. Es handelt sich vielmehr um eine methodische Bezeichnung. Der ›philosophische‹ Zugang zu bzw. Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen geht so bezeichnenderweise auch nicht auf Philosophen, sondern auf Historiker zurück. Während es den Begründern der Ideenge­ schichte um die Erforschung von Ideen, aber ebenso deren Wandlungen und Materialisierungen in der Geschichte ging, erfährt der Ansatz seine Prägnanz letztlich erst durch die Kontrastierung mit dem als ›historisch‹ bezeichneten Zugang zur Ideengeschichte. Philosophische Ideengeschichte wird in dieser Gegenüberstellung gleichgesetzt mit der Herausarbeitung überzeitlicher Ideen und Konzepte aus den Werken großer Geister. Der Gegenstand einer philosophischen Ideengeschichte (ebenso wie einer Geschichte der politischen Philosophie) sind die sogenannten Klassiker, deren Texte den zu bewahrenden Kanon bilden, während andere Texte in der Logik einer philosophischen Ideengeschichte aufgrund ihrer Zeitgebundenheit zu Recht dem Vergessen anheimgefallen sind. Mit dieser Einschätzung ist der Anspruch verbunden, die in der diachronen, vom ursprünglichen Kontext abstrahierenden Rezeption geborgenen Ideen als normative Richtschnur auch für Fragen der Gegenwart heranzuziehen. In diesem letztlich aus dem Gegensatz zweier Zugänge konstruierten reinen Verständnis wurde der ›philosophische‹ Ansatz in der Praxis der ideengeschichtlichen Arbeit nur selten verfolgt. Zumal die Annahme überzeitlicher Ideen quer zum Zeitgeist, vor allem der Annahme der Kontingenz menschlicher Erkenntnis steht. So haben die Kritiker von Anbeginn auf die Unmöglichkeit einer vom Kontext völlig losgelösten Betrachtung politischer Konzepte und deren Verständnis als überzeitliche Wahrheiten hingewiesen. Dabei konnten oder wollten die Kritiker jedoch meist selbst nicht umhin in der einen oder anderen Form die Anschlussfähigkeit früherer Konzepte zu behaupten – zumindest dann, wenn sie den Anspruch vertreten, über eine historische Rekonstruktion hinaus auch Aussagen für die Gegenwart zu treffen.

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2.1 Die Idee mit den Ideen Will man das Aufkommen der Ideengeschichte historisch einordnen, kann man sie als Reaktion auf die durch den Historismus behauptete Werterelativität und die damit verbundene Erfahrung der Diskontinuität verstehen. Als Begründer der »history of ideas« und damit des Konzepts überzeitlicher Ideen gilt im angelsächsischen Raum Arthur Oncken Lovejoy (1873–1962), Historiker und Literaturwissenschaftler, der in einer 1933 gehaltenen und 1936 unter dem Titel The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea publizierten Vorlesung Gegenstand und Vorgehen der Ideengeschichte in expliziter Abgrenzung zu einer Geschichte der Philosophie umreißt. In Deutschland gilt Friedrich Meinecke (1862– 1954), ebenfalls Historiker, als bedeutendster Repräsentant dieser frühen Ideengeschichte, der in seiner 1924 entstandenen Studie Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte einleitend sein Verständnis der Ideengeschichte darlegt. Die Begründer der Ideengeschichte sehen die Leistung der neuen Disziplin dabei gerade – in Abgrenzung zu einer Dogmengeschichte – im Einbezug des historischen Kontextes. Die Ideen haben die Funktion, eine historische Kontinuität zu beweisen, anstatt eine Geschichte zu schreiben, die vermeintlich unterschiedliche Lehrmeinung unverbunden nebeneinander stellt. Das heißt in der Vielfalt der historisch geprägten Lehrmeinungen soll gerade das Gemeinsame, die zugrundeliegenden Ideen, nachgewiesen bzw. gefunden werden. Arthur Oncken Lovejoy grenzt die »history of ideas« von der »history of philosophy« über die Art und Weise, wie beide mit demselben Material umgehen, ab. Das Vorgehen der Ideengeschichte vergleicht er mit demjenigen der analytischen Chemie: »In dealing with the history of philosophical doctrines [...] it cuts into the hard-and-fast individual systems and, for its own purposes breaks them up into their component elements, into what may be called their unitideas« (Lovejoy 1936, 1). Die Originalität der meisten philosophischen Systeme liegt so verstanden weniger in ihren Komponenten selbst als vielmehr in der Kombinationen dieser begrenzten »essentially distinct philosophical ideas«, die durch ihre Kombination – wie im Falle chemischer Zusammensetzungen – ihre Eigenschaften verändern (Lovejoy 1936, 2). Eine genaue Definition dieser Elementarideen bleibt zwar bei Lovejoy aus, entscheidend ist aber, dass diejenige Art von Idee, mit der er sich befassen will, von ihrem Entstehungskontext isolierbar ist:

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_2

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I  Ideengeschichtliche Zugänge »it consists in a single specific proposition or ›principle‹ expressly enunciated by the most influential of early European philosophers, together with some further propositions which are, or have been supposed to be, its corollaries.« (Lovejoy 1936, 14)

Sind die Ideen erst einmal isoliert, ist es die Aufgabe des Historikers, so Lovejoy, sie durch alle Bereiche der menschlichen Geschichte zu verfolgen – über Disziplin- und Sprachgrenzen hinweg (vgl. Lovejoy 1936, 26 ff.) Dabei liegt das Augenmerk dann auf dem Auftauchen und Wirken bestimmter Ideen im kollektiven Denken großer Gruppen und weniger in den Werken zentraler Autoren: »It is, in short, most interested in ideas which attain wide diffusion, which become a part of the stock of many minds.« (Lovejoy 1936, 31)

Man könnte sagen: Isolieren lassen sich die Ideen aus dem Denken großer Geister, Lovejoys Ziel aber ist eine umfassende Geschichtsschreibung, indem diese in allen Bereichen des Denkens nachgewiesen werden. Auch Friedrich Meinecke lehnt es ab, die Idee der Staatsräson »in dogmengeschichtlicher Art als eine Aufeinanderfolge von Lehrmeinungen, lose verbunden mit der allgemeinen Geschichte, zu behandeln. Diese blasse und verflachende Art genügt uns heute nicht mehr. Ideengeschichte muß vielmehr als ein wesentliches, unentbehrliches Stück der allgemeinen Geschichte behandelt werden« (Meinecke 1957, 24). Während jedoch Lovejoy die Idee als isolierbar und damit gegeben versteht, geht Meinecke davon aus, dass die historische Gesamtschau die Ideen zwar umreißen kann, sie aber niemals in ihrem Wesen zu erfassen sind. Zur Erfassung der Ideen ist anders als bei Lovejoy der Bezug zum Kontext nötig, auch wenn er sich bei Meinecke auf den angenommenen »Zusammenstoß der Idee [...] mit den Weltanschauungen und geistigen Denkweisen« (Meinecke 1957, 7) beschränkt. Ziel für Meinecke ist eine weitestgehende Annäherung an die Idee aus der Geschichte heraus: »Das Höchste, was der Historiker zu leisten vermag, ist, die besonderen Lebensvorgänge der geschichtlichen Welt, deren anschauliche Wiedergabe von ihm erwartet wird, im Lichte höherer und allgemeinerer Mächte, die hinter ihnen wirken und in ihnen sich auswirken, erscheinen zu lassen, das Konkrete sub specie aeterni zu zeigen, — aber dieses Höhere und Ewige selbst in seinem Wesen und in seinem Verhältnis zur

konkreten Wirklichkeit endgültig zu bestimmen, ist er nicht imstande.« (Meinecke 1957, 8)

Bei Meinecke steht die Idee also nicht am Anfang der Untersuchung, sondern ist das Ziel der Analyse des diachronen Diskurses großer Geister; anders als bei Lovejoy ist mit der in der historischen Analyse herausgearbeiteten Idee in der Folge ein normativer Anspruch verbunden: »Es gibt für jeden Staat in jedem Augenblicke eine ideale Linie des Handelns, eine ideale Staatsräson. Sie zu erkennen ist das heiße Bemühen des handelnden Staatsmannes wie des rückschauenden Historikers.« (Meinecke 1957, 9)

Wie bei Lovejoy erfordert die Herausarbeitung der Idee ein selektives Vorgehen und eine Konzentration auf die Klassiker: »Die Untersuchung politischer Gedanken darf niemals losgelöst werden von den großen Persönlichkeiten, den schöpferischen Denkern; dort an der Quelle und nicht in der breiten Ebene der sogenannten öffentlichen Meinung, der kleinen politischen Tagesliteratur muß man sie zunächst zu fassen versuchen« (Meinecke 1957, 18). Die Ideen haben überzeitlichen Wert, denn Ideengeschichte stellt laut Meinecke »dar, was der denkende Mensch aus dem, was er geschichtlich erlebte, gemacht hat, wie er es geistig bewältigt, welche ideellen Konsequenzen er daraus gezogen hat, gewissermaßen also die Spiegelung der Essenz des Geschehens in Geistern, die auf das Essentielle des Lebens gerichtet sind.« (Meinecke 1957, 24)

Wenn so auch Meineckes Vermittlung zwischen Kontext und Idee für eine zeitgenössische Ideengeschichte anschlussfähiger erscheint als die völlig entkontextualisierten Ideen Lovejoys, so ergibt sich die Schwierigkeit von Meineckes Konzept der Idee aus der Annahme ihrer überzeitlichen Normativität.

2.2 Text vor Kontext Die »reine« Lehre einer philosophischen Ideenge­ schichte, falls es so etwas überhaupt gibt, findet sich am ehesten bei politischen Philosophen, wie Leo Strauss, Eric Voegelin oder auch dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, wenngleich in unterschiedlicher Ausformung. Anders als bei Lovejoy und Mei-

2  Philosophischer Zugang zur Ideengeschichte

necke liegt hier kein historisches Interesse zugrunde, diesen Denkern geht es nicht um die Darstellung historischer Gesetzmäßigkeiten, sondern um die Frage nach dem Wesen der guten Ordnung. Auch sie reagieren auf die Erfahrung der Diskontinuität – allerdings (in Folge der Schrecken des Nationalsozialismus) nicht mit der Suche nach Kontinuität, sondern mit einer Rückbesinnung auf die als vorbildlich vorgestellte Antike. Gefragt wird nicht länger nach Ideen und ihren geschichtlichen Materialisierungen in verschiedenen Ordnungsvorstellungen, gefragt wird nach überzeitlichen Konzepten als Norm für jegliche politische Ordnung. Gegenstand sind die Texte klassischer Autoren, die auf ihre systematische Kohärenz hin analysiert werden, unabhängig von den historischen Entstehungsbedingungen. Ziel des Quellenstudiums ist es Leo Strauss folgend, den Text so zu verstehen, wie ihn der Autor selbst verstanden hat: »The indefinitely large variety of equally legitimate interpretations of a doctrine of the past is due to conscious or unconscious attempts to understand the author better than he understood himself. But there is only one way of understanding him.« (Strauss 1959, 67 f.)

Problematischer als die Behauptung der Möglichkeit des ›richtigen‹ Verständnisses eines historischen Textes, auf die man gegebenenfalls verzichten bzw. die man als Argumentationsstrategie entlarven könnte, scheint die den genannten Autoren gemeinsame Annahme, dass es bessere, sprich kohärentere und der Wahrheit gemäßere Doktrinen gibt, die allein überzeitlichen Wert haben und solche die als bloße Meinungen zu verwerfen sind. Während diese zumeist aus der Theorie eines herausragenden antiken Denkers gewonnen wird, wird die Ideengeschichte jenseits dessen letztlich als Ansammlung von Meinungen oder als Geschichte des Verfalls verstanden. Bei Strauss findet sich das besonders zugespitzt: »Political philosophy will then be the attempt to replace opinion about the nature of political things by knowledge of the nature of political things« (Strauss 1959, 34). Ein solches völlig vom Kontext abstrahierendes Vorgehen findet sich in der Politikwissenschaft, wie auch in den Reihen der politischen Philosophie, kaum. Auch diejenigen, die zur philosophischen Ideengeschichte tendieren, verwerfen die Annahme überzeitlicher Ideen und betonen die historische Bedingtheit politischen Denkens. Im Ergebnis allerdings lässt sich auch bei diesen Autoren eine klare

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Fokussierung auf die Analyse der klassischen Schriften und deren Wirkungsgeschichte, sowie eine Bevorzugung antiken Denkens ausmachen. So wählt Henning Ottmann den Titel seiner mehrbändigen Geschichte des politischen Denkens zwar, wie er betont, mit Bedacht: »Geschichten der ›politischen Ideen‹, der ›politischen Philosophie‹, der ›Klassiker‹ der Politik, oder wie auch immer sonst die Titel lauten mögen, haben gewöhnlich den Nachteil irgendeiner Einseitigkeit, sei es, daß die Ideen die Realgeschichte verdrängen, sei es, daß nur von der Philosophie oder nur von den Klassikern der Politik die Rede ist.« (Ottmann 2001, V)

Doch auch wenn hier der historische Kontext erklärtermaßen berücksichtigt werden soll, indem die Geschichte des politischen Denkens versucht, »die Klassiker zu würdigen und doch auch das einzubeziehen, was jeweils zeitgebunden ist« (Ottmann 1995/1996, 2), bleibt die Kontextualisierung auf eine Darstellung von zeitgeschichtlichem und autobiographischem Hintergrund des jeweiligen Autoren und die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Werke beschränkt und damit hinter dem, was Kritiker des philosophischen Ansatzes unter ›Kontext‹ verstehen, weit zurück. Das kommt auch bei Ottfried Höffe zum Ausdruck, der seine Darstellung erklärtermaßen »auf jene unstrittig Großen, die wegen ihrer zeitübergreifenden Gedanken wahrhaft ›Geschichte gemacht‹ haben« beschränkt, aber pflichtschuldig einräumt: »Das bedeutet nicht, dass ihr Denken außerhalb ihrer Zeit und deren politischen Verhältnissen entstanden wäre. Um diesem Missverständnis entgegenzutreten, erinnere ich jeweils in gebotener Kürze an den geschichtlichen Kontext« (Höffe 2006, 13, Herv. d. Verf.). Auch wenn hier nicht von überzeitlichen Ideen die Rede ist, werden die Werke in den genannten Darstellungen auf ihre systematischen Konzepte und deren Kohärenz hin befragt, deren Wirkmächtigkeit durch die aus ihnen folgenden Rezeptionslinien gewissermaßen bewiesen wird. So hält Höffe fest: »Ideengeschichtlich sollen sowohl einige Entwicklungs- und Verbindungslinien aufgespürt als auch da und dort Zusammenhänge wahrgenommen, nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte angedeutet werden. In philosophischer Hinsicht hingegen sollen Begriffe und Argumente nicht bloß genannt, sondern gelegentlich auf ihre Tragweite hin geprüft werden.« (Höffe 2006, 13)

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I  Ideengeschichtliche Zugänge

Auch findet sich bei Vertretern einer philosophisch vorgehenden Ideengeschichte, wenn auch nicht verbunden mit einer Darstellung der Ideengeschichte als Verfallsgeschichte, ein normativer Bezugspunkt in der Antike. So will Ottmann zwar keiner Totalkritik der Moderne das Wort reden, fühlt sich aber einem Modernitätskonservatismus verpflichtet und versteht politisches Denken in Anschluss an Aristoteles als »praktisches Denken«, »für das es keinen privilegierten Zugang gibt« und »das zwischen bloßer Meinung und exakter Theorie steht« (Ottmann 2001, 6). Auch Höffe schließt an Aristoteles an, dessen Ausführungen zu Ethik und Politik er als traditionsenthoben und dem Anspruch nach universalistisch kennzeichnet (Höffe 2001, 11 ff.). Eine andere Spielart einer philosophisch verfahrenden Ideengeschichte findet sich bei Barbara Zehnpfennig. Sie folgt der sokratisch-platonischen Philosophie, jedoch nicht in erster Linie inhaltlich (auch wenn eine Nähe zu platonischen Inhalten unverkennbar ist), sondern vor allem hinsichtlich des Weg-Charakters, der in der philosophischen Wahrheitssuche liegt; das bedeutet nicht, dass Einzelne im Besitz der Wahrheit wären, aber doch, dass sie existiert und man sich ihr annähern kann. Der zeitlose Wert des platonischen Denkens liegt so verstanden in der Prüfung logischer Schlüssigkeit politischen Denkens, die gleichwohl zeitlich – für jeden historisch konkreten Gegenstand aufs Neue – einzulösen ist (Zehnpfennig 2016, 61). Was bei Zehnpfennig besonders deutlich wird, lässt sich auch für die anderen Vertreter einer philosophischen Ideengeschichte festhalten: Das Zeitlose liegt in den genannten Ansätzen gewissermaßen in der Art zu denken, in der Denkhaltung selbst, das Zeitgebundene im Gegenstand, dem man mit dieser Art zu denken begegnet.

2.3 Das philosophische Moment Dem Umgang mit einer philosophisch ausgerichteten Ideengeschichte haftet in unserer Zeit eine merkwürdige Ambivalenz an: Einerseits scheint die Annahme überzeitlicher Konzepte vor dem Hintergrund der zunehmenden Szientifizierung der Politikwissenschaft und damit auch des Umgangs mit der Ideengeschichte, der gleichermaßen dem Anspruch empirischer Überprüfbarkeit genügen soll (wenn auch hier nicht in Form der Untersuchung dessen, was ist, sondern dessen was war) sowie vor dem Hintergrund der Annahme historisch und kulturell kontingenter Wertvorstellungen nicht länger haltbar, andererseits

scheint das »philosophische Element« mit der Ideengeschichte – zumindest in ihrer politischen Spielart – unauflöslich verbunden. Ohne einen wie auch immer gearteten Anspruch aus den ideengeschichtlichen Quellen etwas für die je eigene Gegenwart zu erfahren, wäre die Ideengeschichte eine rein historische Disziplin, deren Gegenstand von Interesse für das Verständnis einer gewissen Epoche kaum aber hinsichtlich aktueller Fragestellungen wäre. Jedem Ansatz, so scheint es, der politische Ideengeschichte betreibt, wohnt so ein »philosophisches Moment« inne. Das lässt sich gerade auch anhand der Kritik von Seiten einer historisch betriebenen Ideengeschichte zeigen. Kritiker, wie besonders prominent die Cambridge School, haben zu Recht den Anspruch einer philosophisch ausgerichteten Ideengeschichte aus ideengeschichtlichen Texten »›zeitlose Elemente‹ in Form ›universaler Ideen‹ oder sogar ›überzeitlicher Weisheiten‹ von ›universaler Anwendungsmöglichkeit‹« (Skinner 2010, 22 f.) zu extrahieren, in Frage gestellt. So hält Quentin Skinner fest, »dass es unmöglich ist, zu erforschen, was ein klassischer Autor, besonders in einer fremden Kultur, tatsächlich gesagt hat, ohne von den eigenen Erwartungen beeinflusst zu werden« (Skinner 2010, 25). Doch so treffend die Kritik der Sache nach ist, so wenig hat Skinner selbst darauf verzichtet, aus der Ideengeschichte Rückschlüsse für die eigene Gegenwart zu ziehen; besonders prominent mit seinem »third concept of liberty«, das er als »neo-roman« unmittelbar in eine ideengeschichtliche Tradition stellt und unter anderem aus der Lektüre von Niccolò Machiavelli herleitet. Auch wenn man zugesteht, dass nur eine den ursprünglichen Kontext in den Blick nehmende Ideengeschichte eine kritische Aufgabe erfüllen kann, weil nur sie »uns das zurückliegende Gedankengut in einer Weise erschließt, die es in seiner Fremdheit, in seiner uns zunächst kaum verständlichen Bedeutung bestehenläßt« (Honneth 2014, 280), müsste Skinner eine solche diachrone Weiterführung von Ideen methodisch eigentlich dennoch ablehnen. Insofern hat Olaf Asbach mit Blick auf die Cambridge School sehr treffend festgehalten: »Was den theoretischen Gehalt politischen Denkens anbetrifft, so droht aufgrund des kontextualistischen Ansatzes paradoxerweise ausgerechnet jener Gegenstand der politischen Ideen- und Theoriengeschichte verlorenzugehen, der mit seiner Hilfe doch erstmals in seiner wahren Bedeutung rekonstruiert werden sollte: die politischen Ideen und Theorien« (Asbach 2002, 656). Neuere geschichtswissenschaftliche Ansätze haben

2  Philosophischer Zugang zur Ideengeschichte

versucht, der genannten Kritik an den zeitlosen Ideen gerecht zu werden, ohne den Anspruch aufzugeben etwas über die eigene Gegenwart aussagen zu können. Das von David Armitage formulierte Konzept einer »long-range intellectual history« versucht dabei erklärtermaßen eine methodische Annäherung von intellectual history and longue durée in Form eines serialen Kontextualismus, dem es darum geht, »to produce longer-range histories which are neither artificially punctuated nor deceptively continuous« (Armitage 2012, 499). Im Ergebnis führt das zu einer Rettung der ›Ideen‹ nun aber kontextualisierend verstanden im Sinne von ideas in history, »to distinguish it from the distrusted and discredited ›history of ideas‹ associated with Lovejoy and his acolytes« (Armitage 2012, 497). So geboten ein Vermittlungsversuch zwischen synchroner und diachroner Sichtweise, zwischen Kontext und Text, zwischen einer historischen und einer philosophischen Herangehensweise erscheint, der die unfraglich berechtigten Einwände gegen eine history of ideas ernst nimmt und darauf reagiert, ohne sich deshalb auf einen puren Kontextualismus zurückzuziehen, führt dieser Vermittlungsversuch doch vor Augen, was auch auf in der Politikwissenschaft verbreiteten integrative Ansätze zutrifft, nämlich dass eine schiere Kombination der verschiedenen Zugänge nicht gelingen kann, da sich hier zwei Erkenntnisinteressen unvereinbar gegenüberstehen.

2.4 Ideen im Kontext Das Missverständnis des serialen Kontextualismus liegt in seinem Anspruch begründet, Aussagen über die Gegenwart zu tätigen: denn auch der seriale Kontextualist wechselt, indem er aus der serialen Kontextualisierung der Ideen auf die Gegenwart schließt, vom Beobachter zum Akteur der transtemporalen Geschichte und würde sich damit selbst zum Gegenstand seiner Forschung machen. Anders gesagt: die Erkenntnis darüber, wie Ideen in der Geschichte kontextualisiert wurden, sagt noch nichts darüber, wie sie für die Gegenwart zu kontextualisieren wären, es sei denn man gewänne durch die Methode der serialen Kontextualisierung die Idee (als zeitloses Desiderat) selbst – das aber wollen die Vertreter der transtemporalen Geschichte ja eben nicht und das wäre auch nichts Neues, dann wäre man wieder zurück bei den Anfängen, genaugenommen bei Meinecke. Wie nun lässt sich das ›philosophische Moment‹, das in einer im Wortsinne ›politisch‹ betriebene Ide-

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engeschichte – verstanden als unter Rückgriff auf ideengeschichtliche Quellen in den je gegenwärtigen Kontext intervenierende normative politische Theorie – stets enthalten ist, konzipieren? Ansätze dafür finden sich in den gleichwohl spärlichen Ausführungen Hannah Arendts. Der Umstand, dass Arendt nicht so sehr als Ideengeschichtlerin wahrgenommen wird und sich auch selbst nicht als solche bezeichnet, liegt wohl auch daran, dass die Ideengeschichte (wie in anderen normativen politischen Theorien) bei Arendt immer ›nur‹ ein Zwischenschritt ist. Sie aber hat ihre Methode zumindest skizziert, wenn auch nicht völlig expliziert. In einem Aufsatz über Walter Benjamin, dessen Ausgangspunkt die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit ist, hält sie fest: »Walter Benjamin wusste, daß Traditionsbruch und Autoritätsverlust irreparabel waren, und zog daraus den Schluß, neue Wege für den Umgang mit der Vergangenheit zu suchen.« (Arendt 2012, 244)

Den Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen beschreibt Arendt im Anschluss an Benjamin wie folgt: »Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht er in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leistet, ist die Überzeugung, dass zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; dass in der ›Meereshut‹ [...] neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt.« (Arendt 2012, 258)

Für Arendt hat die Vergangenheit und haben damit die ideengeschichtlichen Quellen die Verbindlichkeit, die Fähigkeit als Tradition zu verpflichten, quasi den an sich normativen Charakter verloren (den etwa die neoklassischen Autoren der Antike zusprechen). In Vom Leben des Geistes spricht Arendt von »einer) zerstückelte(n) Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewißheit verloren hat« (Arendt 1998, 208, Herv. i. Orig.). Im Unterschied zur Überlieferung, die das Ver-

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I  Ideengeschichtliche Zugänge

gangene zu ordnen sucht und so auch das Verpflichtende herausheben will, ebnet eine solcher Art verfahrende Ideengeschichte laut Arendt alle Unterschiede ein. Allerdings: Wenn Arendt auch nicht von überzeitlichen Ideen ausgeht, so doch von zeitlosen Gedanken. Arendt setzt die Zeitlosigkeit erklärtermaßen nicht mit Ewigkeit gleich, sie entspringt vielmehr, so Arendt, aus dem Zusammenprall von Vergangenheit und Zukunft, während die Ewigkeit ein Grenzbegriff ist, der sich nicht denken lässt, weil er den Zusammenbruch aller zeitlichen Dimensionen bedeutet (vgl. Arendt 1998, 206). Diese zeitlosen Gedanken haben zwar an sich keinen Wahrheitsgehalt, sie werden aber doch entkontextualisiert: »Und wenn ich es auch nicht für das »Land der Wahrheit« halte, so ist es doch gewiß der einzige Bereich, in welchem sich das Ganze des eigenen Lebens und sein Sinn [...], wo dieses ungreifbare Ganze sich als reine Kontinuität des Ich-bin offenbaren kann, als fortdauernde Gegenwart inmitten der ständig sich wandelnden Flüchtigkeit der Welt.« (Arendt 1998, 207)

Die fortdauernde Gegenwart spricht den Bruchstücken keinen Wert an sich zu, aber doch eine Selbstständigkeit, eine kontextlose Existenz. Nimmt man Arendts Absage an die ideengeschichtliche Kontinuität und die Verbindlichkeit qua Tradition ernst, ließe sich der auch bei Arendt vorhandenen Entkontextualisierung mit einem Verständnis der Ideengeschichte als Bergung und Rekontextualisierung von Unbestimmtheitsstellen begegnen (vgl. Höntzsch 2015); das Wolfgang Isers Wirkungsästhetik entliehene Konzept der Unbestimmtheit hat den Vorteil, dass es die Bruchstücke, die Korallen nach wie vor als kontextgebunden versteht – nur eben aufgrund ihrer Abstraktheit nicht an einen spezifischen bzw. den ursprünglichen Kontext gebunden. Die durch Abstraktion von der Wirklichkeit entstehenden Unbestimmtheitsstellen bedürfen des Bezuges zu einer historischen Realität, sie verlangen nach einer Konkretisierung oder anders einer Kontextualisierung, die sich in der Ideengeschichte als Rekontextualisierung darstellt. Das heißt die Unbestimmtheitsstellen sind nicht zeitlos, genauer nicht kontextlos zu fassen, weil ihre Bergung immer schon ihre Rekontextualisierbarkeit für einen spezifischen Kontext impliziert. Die Unbestimmtheitsstellen abstrahieren vom ursprünglichen Kontext, sind aber nicht entkontextualisierbar.

Literatur

Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. München/Zürich 1998. Arendt, Hannah: Walter Benjamin. In: Dies. (Hg.), Menschen in finsteren Zeiten, München/Zürich 2012, 195– 258. Armitage, David: What’s the Big Idea? Intellectual History and the Longue Durée, In: History of European Ideas, 38/4 (2012), 493–507. Asbach, Olaf: Von der Geschichte politischer Ideen zur »History of Political Discourse«? Skinner, Pocock und die »Cambridge School«. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12/2 (2002), 637–667. Hidalgo, Oliver/Höntzsch, Frauke/Salzborn, Samuel: Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2012. Berlin 2012, 175– 200. Höffe, Otfried: Einführung in Aristoteles’ Politik. In: Ders. (Hg.): Aristoteles: Politik (= Klassiker Auslegen, 23). Berlin 2001, 5–19. Höffe, Otfried: Geschichte des Politischen Denkens. Zwölf Portraits und acht Miniaturen. München 2006. Höntzsch, Frauke: Für eine politikwissenschaftliche Ideengeschichte. In: Reinalter, Helmut (Hg.): Neue Perspektiven der Ideengeschichte. Innsbruck 2015, 75–89. Honneth, Alex: Geschichtsschreibung als Befreiung. Quentin Skinners Revolutionierung der Ideengeschichte. In: Ders. (Hg.): Vivisektionen eines Zeitalters. Portraits zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2014, 263–280. Meinecke, Friedrich: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hg. und eingeleitet von Walther Hofer. München 1957. Lovejoy, Oncken: The Great Chain of Being. A Study of a History of an Idea. Cambridge/London 1936. Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens. Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Bd. 1/1. Stuttgart 2001. Ottmann, Henning: In eigener Sache: Politisches Denken. Oder: Warum der Begriff ›Politisches Denken‹ konkurrierenden Begriffen vorzuziehen ist. In: Jahrbuch für Politisches Denken 1995/1996, 1–8. Skinner, Quentin: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Mulsow, Martin/Mahler, Andreas (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 2010, 21–87. Strauss, Leo: What is Political Philosophy? In: Ders. (Hg.): What is Political Philosophy? And other studies. Chicago/ London 1956, 9–55. Zehnpfennig, Barbara: Denken im luftleeren Raum? Über die Bedeutung der Politischen Ideengeschichte für die Praxis. In: Gallus, Alexander (Hg.): Politikwissenschaftliche Passagen. Deutsche Streifzüge zur Erkundung eines Faches. Baden-Baden 2016, 45–63.

Frauke Höntzsch

II Methoden der ideen­ geschichtlichen Forschung

3 Hermeneutik Die verschiedenen Bedeutungen, in denen der Begriff der Hermeneutik innerhalb der ideengeschichtlichen Forschung Verwendung findet, decken ein breites Spektrum ab. Das gilt sowohl für die theoriegeschichtlichen Diskussionszusammenhänge als auch für die sachlichen Probleme, auf die der Terminus bezogen werden kann. Angesichts dieser Bedeutungsbreite ist es nicht sinnvoll den Begriff der Hermeneutik im Sinne eines klar umrissenen methodologischen Ansatzes in der Ideengeschichte zu verstehen, vergleichbar etwa mit den Ansätzen der ›Begriffsgeschichte‹ oder der Cambridge School. Er bezeichnet eher einen im Vergleich dazu breiteren, grundlegenderen und zugleich unschärferen methodologischen Problemkomplex, der eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze (u. a. die beiden genannten) umfasst bzw. berührt und in dessen Zentrum die Probleme des Verstehens und der Interpretation stehen. Im Folgenden wird in einem ersten Abschnitt zunächst eine allgemeine Bestimmung des hermeneutischen Problemkomplexes sowie dessen Bedeutung für die ideengeschichtliche Forschung skizziert. Im zweiten Abschnitt werden daraufhin einige zentrale Grundaspekte von Hermeneutik als ideengeschichtliche Methode in den Blick genommen. Im dritten Abschnitt wird auf unterschiedliche Varianten hermeneutischer Methodologie sowie auf einige damit zusammenhängende Kontroversen eingegangen.

3.1 Das hermeneutische Problem Theoriegeschichtlich wird die Hermeneutik oft im Sinne einer relativ eng zusammenhängenden Traditionslinie innerhalb der deutschen wissenschaftstheoretischen Debatte des 19. und 20. Jahrhunderts verstanden, als deren prominenteste Vertreter Friedrich D. E. Schleiermacher, Wilhelm Dilthey, der frühe Martin Heidegger und schließlich Hans-Georg Gadamer gelten (vgl. die Überblicksdarstellung bei Grondin 2011). Gadamers philosophische Hermeneutik, die dem eigenen Anspruch nach die konzeptionelle Summe aus dieser wissenschaftstheoretischen Debatte zieht, gehört zu den einflussreichsten hermeneuti-

schen Konzeptionen in der ideengeschichtlichen Forschung. Alternativ umfasst der Begriff der Hermeneutik über diesen spezifischen Kontext hinausgehend alle diejenigen theoretischen Positionen, für die die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Interpretation und des Verstehens ein wesentliches Problem sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung darstellt. Folgt man diesem weiteren Verständnis, lassen sich u. a. auch die »verstehende« und die Wissenssoziologie, bestimmte Arten der Diskurstheorie, pragmatistisch inspirierte Sozialtheorien sowie eine Reihe politiktheoretischer Positionen als Varianten hermeneutischer Theoriebildung begreifen, deren Vorgeschichte zudem bis in die Antike zurückreicht. Auch sachlich oszilliert der Begriff der Hermeneutik zwischen einem engen Verständnis, etwa im Sinne eines Sammelbegriffs verschiedener wissenschaftlicher Methoden der Interpretation von Texten, und einem weiten Verständnis, nach dem er das existentielle Grundproblem des »Verstehens« von sozio-historischer Wirklichkeit überhaupt bezeichnet. Ein solches sachlich weites Verständnis hat sich exemplarisch in der oben angesprochenen wissenschaftstheoretischen Tradition der Hermeneutik entwickelt, in der die Reichweite des Begriffs von einer noch stark textbezogenen Variante bei Schleiermacher über deren Ausweitung auf historisch-gesellschaftlichen Sinn bei Dilthey bis zur sprachtheoretischen »Verallgemeinerung des Interpretationsbegriffs bis hin zur Deckungsgleichheit mit der Welterfahrung selbst« (Vattimo 1997, 18) bei Heidegger und Gadamer sukzessive ausgedehnt wird, bei Heidegger gar die Bedeutung einer ontologischen Selbstauslegung menschlichen Dasein überhaupt annimmt (Heidegger 2001, 36 f.). Ein sozialontologisch fundiertes und entsprechend weit gefasstes Verständnis des Sinnverstehens liegt aber auch der »verstehenden Soziologie« zugrunde, wie sie exemplarisch von Max Weber, Georg Simmel und Alfred Schütz entwickelt wurde. Im Sinne einer solchen »universalen« Reflexion des »Verstehens« als eines spezifischen Modus des Weltzugangs bezeichnet der Begriff der »Hermeneutik« eine umfassende theoretische Perspektive, die sich als grundlegende Gegenposition zu naturalistischen Verständnissen sozialer Wirklichkeit begreifen lässt. Während naturalistische Konzeptionen, sehr verein-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_3

3 Hermeneutik

facht ausgedrückt, von einer (zumindest heuristisch anzunehmenden) Gleichförmigkeit des wissenschaftlichen Zugangs zu soziokulturellen Phänomenen mit dem Zugang zu Naturphänomenen ausgehen und dementsprechend einer am Paradigma der Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftstheorie folgen, geht die Hermeneutik von der Grundthese aus, dass sich die Art und Weise, in der gesellschaftliche bzw. kulturelle Wirklichkeit sowohl wissenschaftlich als auch praktisch erfahren wird, von dem Gegebensein von Naturphänomenen wesentlich unterscheidet (so schon Dilthey 1981, 101 ff.). Gesellschaftliche Wirklichkeit ist demnach nicht nur von objektiven Kausal-, sondern immer auch von objektivierten Sinnzusammenhängen geprägt und kann daher nicht ausschließlich als Konglomerat von objektiven und äußerlich beobachtbaren »brute data« (Taylor 1985, 19), sondern muss in erster Linie als historisch gewachsene und sich in permanenter Umgestaltung befindliche Konstellation sozialer Praktiken begriffen werden, die immer auch Praktiken der Interpretation der Welt, der Zu- und Umschreibung von Sinn sind. Soziale Akteure bewegen sich somit in Handlungszusammenhängen, die ihnen in ihren Versuchen der Weltorientierung neben kausalen Zurechnungs- immer auch praktische Verstehensleistungen abverlangt, welche ihrerseits in objektivierter Form, also etwa als Texte, Institutionen, gesellschaftliche Routinen etc., selbst wiederum Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit werden. Insofern sozio-kulturelle Phänomene also prinzipiell als von menschlicher Praxis gestaltete und insbesondere von den objektiven Hinterlassenschaften der menschlichen Praxis der Interpretation aktiv durchformte Phänomene zu begreifen sind, bedarf es für ihre wissenschaftliche Erforschung folgerichtig ebenfalls einer interpretativen methodischen Grundlage. Diese Gegenstandsbestimmung impliziert zudem eine spezifische Beziehung hermeneutischer Wissenschaft zu diesem Gegenstand. Die interpretative Rekonstruktion von Sinn-Konstellationen kann nach hermeneutischem Verständnis immer nur von einem gesellschaftlich-historisch konkreten Standpunkt aus, also gleichsam immer nur aus einer Binnenperspektive erfolgen. Die Vorstellung von einem »überstandpunktlichen Standpunkt«, von dem aus zum Beispiel der Verlauf der Philosophiegeschichte und die Konstellation zwischen den verschiedenen Standpunkten in ihr von außen in den Blick genommen werden könnte, ist demnach »eine reine Illusion« (Gadamer 1987a, 381). Jede Interpretation markiert selbst einen

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bestimmten Standpunkt, ist immer selbst Teil der Geschichte und des gesellschaftlichen Ganzen, auf die sie sich bezieht. Es gibt keinen »view from nowhere« (Thomas Nagel), von dem aus eine Interpretation von außen möglich wäre. Vor dem Hintergrund dieser knappen Bestimmung des hermeneutischen Problems wird einsichtig, inwiefern die Ideengeschichte eine natürliche Affinität zur Hermeneutik hat, und zwar sowohl zum engen als auch zum weiten Verständnis des Begriffs. Denn zum einen stellen Texte einen wesentlichen (wenn auch keineswegs den einzigen) Gegenstand ideengeschichtlicher Forschung dar. Zum anderen teilen Hermeneutik und Ideengeschichte sowohl die Betonung der Geschichtlichkeit soziopolitischer Realität als auch die Grundannahme, dass »Ideen« einen wesentlichen Einflussfaktor historischer und gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken darstellen, innerhalb derer sie eine eigenständige Wirkungsmacht entfalten. Für beide ist daher die Frage nach der Art, »in der die Ideen in der Geschichte wirksam werden« (Weber 1947, 82 f., 205), für das Verständnis soziopolitischer Wirklichkeit von zentraler Bedeutung. Der Sache nach ist folgerichtig beinahe jede Art von ideengeschichtlicher Forschung mit dem hermeneutischen Problem konfrontiert. Das gilt selbst für solche Ansätze, die Ideen bewusst in kritischer Abgrenzung vom methodischen »Idealismus« der »traditionellen Hermeneutik« aus einer materialistisch inspirierten Perspektive in den Blick nehmen und die Methode der Interpretation in erster Linie als »Instrument der Entschlüsselung ideologischer Traditionsträger« verstehen (Sandkühler 1973, 52, 82). Im Grunde fallen so verstanden allenfalls diejenigen Positionen in der historischen Forschung aus dem Bereich der hermeneutischen Perspektiven heraus, denen es, wie etwa der Wissensarchäologie und historischen Diskursanalyse des frühen Foucault, dezidiert nicht um die Interpretation von Sinnzusammenhängen geht, die sich dem eigenen Anspruch nach daher allerdings insgesamt jenseits ideengeschichtlicher Forschung verorten (Foucault 1973, 193 ff.).

3.2 Hermeneutik als Methode Ungeachtet dieser (beinahe) universalen Bedeutung des Problems des Verstehens sind die Konturen der Hermeneutik als konkrete Methode der Interpretation in der ideengeschichtlichen Forschung wie gesagt vergleichsweise unscharf. Zudem ist die Beziehung

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

zwischen den verschiedenen Varianten hermeneutischer Methodologie immer auch durch wechselseitige Kritik geprägt. Dabei wurde mitunter auch die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob die Grundanliegen der Hermeneutik unter dem Label »Methode« überhaupt adäquat gefasst werden können (Gadamer 1987a, 3  ff.). Entsprechend der unterschiedlichen Reichweite der verschiedenen Verständnisse von Hermeneutik variiert schließlich auch die Reichweite der Implikationen sehr stark, die mit dem Begriff im Sinne einer ideengeschichtlichen Methodologie verbunden werden. Diese können ihrerseits vorrangig auf methodische Fragen der wissenschaftlichen Interpretation von Texten beschränkt sein, aber auch auf die grundlegenderen Fragen einer ideengeschichtlichen Praxistheorie ausgreifen, in der es um die konstitutive Rolle und die hermeneutische Wirkungslogik von Ideen als Bestandteile umfassender »social imaginaries« (Charles Taylor) geht. Allerdings stehen auch solche weiteren Verständnisse insofern in Kontinuität zur engeren Frage nach den Methoden der Textinterpretation, als aus hermeneutischer Perspektive die Praxis des Lesens von Texten bzw. der »Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins« (Dilthey 1981, 267) durchaus als paradigmatischer Fall des Problems der Interpretation und des Verstehens von Sinn insgesamt betrachtet werden kann (Ricœur 1972). Innerhalb dieses notwendigerweise relativ unscharf bleibenden Rahmens lassen sich einige grundlegende Aspekte einer hermeneutischen Methode als Zugang zur Ideengeschichte bestimmen. Der erste, der sich unmittelbar aus den anti-naturalistischen Implikationen der hermeneutischen Perspektive ergibt, lässt sich in der These fassen, dass es die Hermeneutik in ihren Gegenständen mit historisch jeweils einzigartigen, sich niemals vollständig wiederholenden Sinnkonstellationen zu tun hat. Gesellschaft und Geschichte sind nicht ausschließlich durch wiederkehrende Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die in nomologischen Aussagen oder in einer Bestimmung von Gattungsbegriffen erschöpfend beschrieben werden könnten. Vielmehr stehen soziale Tatsachen und Ereignisse als Sinnphänomene immer auch in konkreten historischen Entstehungs- und Beziehungskontexten. Einem methodischen »Verstehen« solcher Kontexte geht es daher, im Unterschied zur »erklärenden« Bestimmung von Kausalgesetzen, nicht so sehr um die Identifizierung von »Gleichförmigkeiten, Regelhaftigkeiten, Gesetzmäßigkeiten« (Gadamer 1987a, 9) im Sinne einer Zuordnung von möglichst vielen Fällen

zu einer möglichst allgemeinen Regel, sondern eher um die Rekonstruktion der Beziehungen zwischen historisch konkreten und daher jeweils einzigartigen, aber sinnhaft verbundenen Phänomenen – ähnlich dem Versuch einer Rekonstruktion der Beziehungen zwischen einer Vielzahl von jeweils einzigartigen Puzzleteilen, die sich im Ganzen aber zu einem verstehbaren Bild zusammenfügen. Historisch-hermeneutische Erkenntnis erstrebt demnach nicht in erster Linie »die konkrete Erscheinung als Fall einer allgemeinen Regel«, sondern »in ihrer einmaligen und geschichtlichen Konkretion zu verstehen«, also etwa »zu verstehen, wie dieser Mensch, dieses Volk, dieser Staat ist, was er geworden ist – allgemein gesagt: wie es kommen konnte, dass er so ist« (Gadamer 1987a, 10). Als »einmalige geschichtliche Konkretionen« in diesem Sinne lassen sich auch einzelne Texte verstehen. Im Hinblick auf die methodische Frage der Interpretation von Texten rückt die Hermeneutik daher zweitens die Frage nach der Kontextabhängigkeit der Bedeutung von Texten und ihre Einbettung in sprachliche, historische und gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge einerseits, nach der Bedeutung von Autorschaft und Intentionalität andererseits in den Vordergrund. Die Methode der Interpretation besteht demnach im Wesentlichen aus dem Versuch einer systematischen Verknüpfung dieser beiden grundlegenden Aspekte von Bedeutung ganz generell. Die klassische Formulierung dieses Grundproblems findet sich in Schleiermachers Bestimmung der Methode der Interpretation als des Ineinandergreifens einer »psychologischen« und einer »grammatischen« Komponente der Auslegung von Texten (Schleiermacher 1977, 77 ff.). Die Bedeutung eines Textes ergibt sich demnach zum einen daraus, dass er das Werk eines Autors, also die intentional sinnhafte Gestaltung einer denkenden und schreibenden Person ist. Zum anderen ist jeder Text aber auch Bestandteil einer Sprache und hat als solcher sozusagen seinen spezifischen Platz in einem über seinen personalen Sinn hinausgehenden und jeder intentionalen Gestaltung immer schon vorgegebenen Gesamtzusammenhang. Die doppelte Aufgabe der Interpretation ist es, den Sinn eines Textes mit Blick auf diese beiden konstitutiven Verweisungszusammenhänge zu verstehen. Als psychologische Deutung verfolgt die Interpretation das Ziel eines möglichst genauen Verständnisses des ›subjektiven‹ Sinns eines Textes, d. h. im Wesentlichen der Intention des Autors, die unter Berücksichtigung der Stellung des Textes im Gesamtwerk und dessen Beziehung zur Biografie des Autors, aber auch etwaiger unbewuss-

3 Hermeneutik

ter Einflüsse von dessen historisch-gesellschaftlichem Entstehungskontext erschlossen wird. Als grammatische Deutung hingegen versucht sie den Text als sinnvollen Teil in das Ganze einer Sprache einzuordnen und aus der Grammatik dieses Ganzen heraus in seinem ›objektiven‹, vom Autor unabhängigen Sinn, sozusagen als sprachliches Phänomen überhaupt zu verstehen. Diese Differenzierung eines zweigeteilten Sinnhorizonts des Verstehens wurde vielfach aufgegriffen und hat dabei eine Reihe unterschiedlicher Ausdeutungen erfahren. Bei Dilthey tritt an die Stelle von Text und Sprache das Ganze der sozio-historischen Wirklichkeit, an die Stelle von Autorschaft und Intention die »Lebensäußerungen« bzw. subjektiven »Erlebnisse« von Individuen (Dilthey 1981, 235 ff.). Max Weber bringt ein ähnliches Problem in seiner Unterscheidung von »aktuellem Verstehen« und »rationalem Motivationsverstehen« zum Ausdruck, in der an die Stelle von Autorschaft und Sprache die Spannung zwischen dem »subjektiv gemeinten Sinn« einer sozialen Handlung und ihrer ihr immer eingeschriebenen objektiven »Kulturbedeutung« tritt (Weber 1988b, 546 ff.). Gadamer hingegen vertritt eine stärker kontextualistisch akzentuierte Position und letztlich die pointierte These, dass die Seite der »subjektiven Interpretation«, die insbesondere Schleiermacher überbetont habe, »wohl ganz beiseite gesetzt werden« dürfe (Gadamer 1987a, 297). Gegen die »romantisch-individualistische« Privilegierung des einzelnen Subjekts als Quelle von Bedeutung müsse die zentrale Rolle gesellschaftlich-objektivierter und geschichtlicher Kontexte herausgestellt werden: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. [...] Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens« (Gadamer 1987a, 281). Für Schleiermacher ist dagegen entscheidend, dass beide von ihm unterschiedenen Sinnrichtungen konstitutive Elemente des Verstehensprozesses sind, die sich außerdem wechselseitig bedingen und daher die eine jeweils Voraussetzung des Verstehens der anderen ist (Schleiermacher 1977, 97). Damit verweist seine Unterscheidung auf einen dritten Grundaspekt hermeneutischer Methode, der unter dem Topos des »hermeneutischen Zirkels« bekannt ist. Die Intention eines Autors lässt sich aus einem Text erst unter der Voraussetzung herausarbeiten, dass dessen sinnhafter Charakter als Teil des umfassenden Ganzen einer bestimmten Sprache verstanden wird, deren »Gramma-

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tik« er sich bedient. Umgekehrt ist jeder Versuch des Verstehens dieser Grammatik aber selbst wiederum auf die Vielzahl ihrer konkreten Artikulationen in einzelnen Texten verwiesen. Für Schleiermacher wiederholt sich dasselbe Problem einer wechselseitigen Bedingung der Bedeutung von Einzelnem und Ganzem zudem sowohl innerhalb der psychologischen als auch innerhalb der grammatischen Deutung selbst und schließlich auch mit Blick auf einen einzelnen Text. Sowohl der psychologische als auch der grammatische Sinn eines einzelnen Satzes erschließt sich erst aus dem Sinn des Ganzen, in dessen Kontext er steht. Der Sinn dieses Ganzen allerdings – der Text, das Werk, die Sprache – lässt sich selbst nicht anders als durch die Interpretation der einzelnen Sätze, Texte, Handlungen erschließen, aus denen er besteht. Methodologisch folgt aus diesem Problem eine eigentümlich zirkuläre Struktur der Praxis der Interpretation, die sich zwischen zwei sich wechselseitig bedingenden und daher eigentlich vorauszusetzenden, zugleich aber jeweils überhaupt erst zu erschließenden Deutungs- und Wissenshorizonten bewegen muss. Damit tritt im Verstehen an die Stelle logischen Schließens auf Grundlage fester Ausgangsprämissen eine oszillierende Denkbewegung, die von einem vorläufig skizzierten Ausgangspunkt aus diesen zunächst mittels eines experimentellen »Vorgriffs« in einen vorläufigen Entwurf seiner möglichen Sinnzusammenhänge einzuordnen und im weiteren Verlauf der Untersuchung Ausgangspunkt und Entwurf einer wechselseitigen kritischen Prüfung zu unterziehen versucht. Da Einzelnes und Ganzes sich wechselseitig bedingen, ihre Interpretation daher weder im einen noch im anderen eine feste, unabhängig gegebene Grundlage vorfindet, muss ihre Beziehung durch eine interpretative Hin- und Her-Bewegung zwischen beiden erschlossen werden, in der beide beständig korrigiert und immer wieder neu gleichsam in eine Art interpretatives Überlegungsgleichgewicht gebracht werden. Hermeneutische »Erkenntnis« muss somit im Sinne einer grundsätzlich fallibilistischen Form des beständigen Infragestellens und kritischen Korrigierens von sich wechselseitig bedingenden Wissenshorizonten begriffen werden. Idealiter ergibt sich aus dieser hermeneutischen Zirkelbewegung die »Spiralbewegung« bzw. die Bewegung »in konzentrischen Kreisen« (Gadamer 1987a, 296) eines sich erweiternden und vertiefenden Verständnisses beider Sinnhorizonte und ihres Zusammenhangs, das allerdings dennoch stets einen letztlich vorläufigen Charakter behält.

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

So wenig daher der Prozess des Verstehens ein definitives Ende haben kann, so wenig hat er außerdem einen natürlichen Anfang, und daraus ergibt sich, viertens, die Verankerung hermeneutischer Methode in »Vorverständnissen«. Die Praxis der Interpretation ist auf das subjektive Vorverständnis des Untersuchungsgegenstands konstitutiv angewiesen, das jeder Interpretierende immer schon mitbringt, da dieses überhaupt erst den Einstieg in die zirkuläre Bewegung des Verstehens ermöglicht. Das bedeutet, dass hermeneutische Erkenntnis, sofern sie ihren Ausgangspunkt immer in einer solchen subjektiven Perspektive hat, »nicht vorurteilslos in die Sache eindringen (kann), sondern unvermeidlich vom Kontext, in dem das verstehende Subjekt seine Deutungsschemata zunächst erworben hat, voreingenommen« ist (Habermas 1982, 333). Das bedeutet allerdings nicht, dass die Interpretation gänzlich von diesem ihr vorgegebenen Vorverständnis bestimmt bleibt. Der Sinn der zirkulären Denkbewegung des Verstehens besteht gerade auch darin, im beständigen Hin und Her zwischen Vorverständnis und experimentellem Vorgriff auf das Ganze seines möglichen Sinnkontextes die Voreingenommenheit ihres Ausgangspunkts einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Hermeneutisches Verstehen erfordert daher beides: dass der Interpret sein subjektives, immer ungesichertes Vorverständnis der Sache produktiv »ins Spiel bringt« und dass er dieses Vorverständnis im weiteren Verlauf des kritischen Interpretationsprozesses zu korrigieren und sozusagen aufs Spiel zu setzen bereit ist (Gadamer 1987b, 64). Auf den Nenner eines einfachen Subjektivismus, Relativismus oder Historismus lässt sich diese komplexe Struktur sinnverstehender Denkprozesse schon deshalb nicht reduzieren, weil damit ihre prinzipiell fallibilistische Logik außer Acht gelassen würde. Dennoch ist es gerade der zuletzt angesprochene Punkt, auf den sich viele der kritischen Einwände gegen die hermeneutische Methode beziehen und an dem sich zudem auch die unterschiedlichen Varianten hermeneutischer Theorie voneinander unterscheiden.

3.3 Varianten und Kontroversen Gadamer etwa betont die Verankerung jeder Interpretation in Vorverständnissen besonders stark und spitzt sie zu der These einer hermeneutischen »Emanzipation des Vorurteils« überhaupt zu. Historisch gewachsene »Vorurteile« müssten, entgegen des Geschichtsbilds einer einseitig rationalistischen Aufklä-

rung, immer auch als produktive Quellen der Erkenntnis geschichtlicher Zusammenhänge verstanden werden (1987a, 270 ff.). Indem Gadamer diese These mit seiner Konzeption des »wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins« und der Betonung einer unhintergehbaren Eingebundenheit jeder Interpretation in den »Überlieferungszusammenhang« einer bestimmten »Tradition« verknüpft (ebd., 305 ff.), rückt er sie konsequent ins Zentrum seiner Konzeption und arbeitet sie systematisch zu einem umfassenden, aber auch spezifischen, nämlich kontextualistisch und traditionalistisch akzentuierten philosophischen Verständnis von Hermeneutik aus. Dabei zeigen sich an dieser Stelle allerdings auch die Grenzen des kritischen Potenzials dieses Verständnisses. Auf dieses Problem und darauf, dass Gadamers wirkungsgeschichtlich-traditionalistische Zuspitzung sich keineswegs zwingend aus den allgemeinen Zügen des hermeneutischen Problems überhaupt, sondern eher aus dessen »Verabsolutierung« bei Gadamer herleite, hat insbesondere Jürgen Habermas hingewiesen. Gegen diese Verabsolutierung plädiert Habermas für die Verbindung einer psychoanalytisch inspirierten kritischen Sozialtheorie mit einer Form von Hermeneutik, die, indem sie die »Faktizität der überlieferten Normen« kritisch-reflexiv einzuholen versucht, »den Anspruch von Traditionen auch abweisen« und damit die Grundlage einer hermeneutischen Kritik gegebener gesellschaftlicher Sinnzusammenhänge bieten kann (Habermas 1982, 303 ff.). Erst auf dieser Grundlage lässt sich für Habermas eine hermeneutische Perspektive gewinnen, aus der auch die subjektiven Freiheitsspielräume und die Möglichkeiten von Individuen in den Blick rücken, in gesellschaftliche Deutungsprozesse und Sprachspiele »bewusst einzugreifen, und eingelebte Deutungsschemata mit dem Ziel zu ändern [...], traditionell Vorverstandenes zugleich anders sehen und neu beurteilen zu lernen (und zu lehren)« (Habermas, 1982, 335). Dass aus Gadamers eigener Sicht den Möglichkeiten solcher subjektiven Gestaltung und Emanzipation in der Tat klare Grenzen gezogen sind, legen auch dessen skeptische Bemerkungen gegenüber einem anders gelagerten Versuch der kritischen Emanzipation der Hermeneutik von Geschichte und Tradition nahe. Leo Strauss’ theoretisches Projekt, durch den Rückbezug auf die klassische Philosophie eine substantiell normative Perspektive der Textinterpretation zu begründen, sei, so Gadamer, vor allem »von seiner Einsicht in die Katastrophe der Moderne« motiviert. Angesichts seines entsprechenden Befunds, dass »die Tradition,

3 Hermeneutik

die den überlieferten Text und seine Interpreten gemeinsam trägt, brüchig geworden« sei, erhebe Strauss apodiktisch den radikal ahistorischen und aus Gadamers Sicht eigentlich anti-hermeneutischen Anspruch, »dass der Mensch sich über seine geschichtliche Bedingtheit muss erheben können. Die klassische Philosophie, die mit der Frage nach der Gerechtigkeit die Unbedingtheit in den Vordergrund stellt, hat offenbar recht, und der radikale Historismus, der alle unbedingte Geltung geschichtlich relativiert, kann nicht recht haben« (Gadamer 1987b, 415, 419). Strauss’ Verständnis von Hermeneutik markiert der Sache nach in der Tat die Gegenthese zu Gadamers zugespitzt kontextualistischer Konzeption und setzt dieser allerdings eine ihrerseits äußerst zugespitzte Position entgegen. Strauss’ Unterscheidung einer exoterischen und einer esoterischen Bedeutungsebene philosophischer Texte ist auf die Frage nach der Beziehung zwischen Politik und Philosophie fokussiert, und sie deutet diese Beziehung als radikalen Gegensatz. Dazu muss Strauss nicht nur von einem Verständnis von Philosophie als »essentially a privilege of ›the few‹«, sondern auch von einem prinzipiellen Gegensatz zwischen diesen Wenigen und den Vielen als »a basic fact of human nature« ausgehen, »which could not be influenced by any progress of popular education« (Strauss 1988, 34). Als Konsequenz konstatiert Strauss eine prinzipiell gefährdete Stellung der Philosophie, die sich aus einer Inkompatibilität der jeweils eigentümlichen Bedeutungsstrukturen von gesellschaftlichen Meinungsdiskursen und philosophischen Diskursen ergebe. Hermeneutik als Methode hat vor diesem Hintergrund in erster Linie die Aufgabe des Verstehens jener spezifischen Art des verschlüsselten philosophischen Schreibens, die diesem Antagonismus zwischen politischer Gesellschaft und Philosophie entspricht. Dazu erfordert sie eine zweigeteilte Perspektive, die es ermöglicht, die exoterische, also allgemein zugängliche Bedeutungsebene eines philosophischen Textes, mit der er sich gleichsam einpasst in den gesellschaftlichen Meinungsdiskurs seiner Zeit, von seiner esoterischen Bedeutungsebene zu unterscheiden, auf der die eigentlich philosophischen Inhalte in verschlüsselter Form verhandelt werden. Letztlich läuft dieses Verständnis von Hermeneutik auf den Versuch hinaus, der modernen interpretativen Wissenschaft, die auch für Strauss von einer historisch partikularen Position aus operiert, in ihrem Gegenstand der Philosophie einen hermeneutischen Ankerpunkt jenseits ihres geschichtlich bedingten Horizonts zu verschaffen. Ob dies gelingt oder am Ende

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nicht eher in eine Art von philosophisch gewendetem Traditionalismus zweiter Ordnung einmündet, sei hier dahingestellt. Wichtig ist aber der bei Strauss implizierte Hinweis auf die Bedeutung der Frage nach der Beziehung zwischen Hermeneutik und Politik. Denn zum einen ist damit ein Problemzusammenhang identifiziert, der nicht nur bei Gadamer, sondern in der klassischen deutschen hermeneutischen Tradition insgesamt tatsächlich weitgehend unberücksichtigt bleibt. Und zum anderen ist es gerade dieser Problemzusammenhang, der in neueren Auseinandersetzungen mit der Hermeneutik in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, dabei allerdings sehr unterschiedlich ausgedeutet wird. Stanley Rosen etwa hat diesen Zusammenhang, in Anknüpfung an Strauss’ esoterische Hermeneutik, auf die Formel »hermeneutics as politics« (1987) gebracht und zu dem vor allem gegen postmoderne Theorien gerichteten kritischen Einwand zugespitzt, dass sich in ihnen die Logik der Interpretation letztlich als eine gleichsam propaganda-artige und gegen die Wahrheitsansprüche von Wissenschaft und Philosophie gerichtete Logik aktiver Meinungspolitik strategischer Umdeutungen erweise. Affirmativ gewendet und in dezidiert konstruktiver Anknüpfung an »postmoderne« Konzeptionen verschränken Richard Rorty und Gianni Vattimo ihre hermeneutischen Reflexionen in der Tat mit einer radikalen Kritik philosophischer Wahrheitsansprüche und zugleich unmittelbar mit ihren jeweiligen Politikverständnissen zu einer Idee von Hermeneutik als eines emanzipativen »politischen Projekts« (Vattimo/Zabala 2011, 77). Mit stärker methodologischem Akzent schlägt auch J. G. A. Pocock, prominenter Vertreter der Cambridge School, eine politisch orientierte Hermeneutik vor, indem er für eine Einbettung der interpretativen Methode in die Gesamtzusammenhänge »politischer Sprachen« argumentiert. Hannah Arendt schließlich deutet in ihrer politischen Theorie die Konturen einer republikanisch akzentuierten politischen Hermeneutik an, in der das »Verstehen« als genuin politischer Modus der Erfahrung und Interpretation von Wirklichkeit begriffen wird, der unmittelbar der spezifischen Sinnstruktur von politischen Handlungsprozessen und öffentlichen Räumen entspricht (vgl. Sigwart 2012, 355  ff.). In methodischer Hinsicht zeichnet sich Arendts Perspektive vor allem dadurch aus, dass der politische Akzent ihrer Hermeneutik, im Unterschied zu den stark kontextualistisch orientierten Konzeptionen von Rorty, Vattimo und Pocock, die Bedeutung von subjektiven Sinnhorizonten und ihre wechsel-

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

seitig konstitutive Beziehung zu gesellschaftlichen Kontexten wieder stärker in den Blick rückt. Damit verschiebt sie den Akzent der hermeneutischen Perspektive weg von einem Kontextualismus Gadamerscher Prägung in die Richtung einer Perspektive, die Schleiermachers Konzeption der Doppelstruktur von Verstehen und Sinn und seine Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen »Kontextualität« und »Autorschaft« in neuer Weise zu reflektieren ermöglicht. Zwar folgt die aktuelle ideengeschichtliche Methodenreflexion in dieser Frage der Sache nach in weiten Teilen der Position Gadamers und betont die bestimmende Wirkung von Kontexten im Sinne von »sozialen und mentalen Rahmen, (die) den Einzelnen vorgegeben und ihnen nicht vollständig bewusst (sind)« (Stollberg-Rilinger 2010, 40). Allerdings wird dabei nicht selten als die einzig mögliche Alternative zu einer solchen pointiert kontextualistischen Perspektive die allzu naiv wirkende Vorstellung behandelt, »dass zu allen Zeiten individuelle Subjekte als souveräne Autoren in ihren Texten vollständig rational und bewusst abstrakte Ideen äußern und sich über die Epochen hinweg untereinander darüber verständigen« (ebd.). Diese Beschreibung wird schon Schleiermachers Position nicht gerecht, der weniger einen radikalen hermeneutischen Individualismus vertritt, wie Gadamers entsprechende Kritik es nahelegt, sondern eher die Idee einer spannungsreichen Gleichzeitigkeit der Möglichkeiten von Autorschaft und individuellem Ausdruck einerseits und objektiver Kontextabhängigkeit andererseits. Für Schleiermacher ergibt sich daraus eine prinzipielle Gleichrangigkeit psychologischer und grammatischer Deutung: »Die psychologische ist die höhere, wenn man die Sprache nur als das Mittel betrachtet, wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt; die grammatische ist dann bloß Hinwegräumung der vorläufigen Schwierigkeiten. Die grammatische ist die höhere, wenn man die Sprache so betrachtet, als sie das Denken aller Einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort für die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart. Alsdann wird die psychologische völlig untergeordnet wie das Dasein des einzelnen Menschen überhaupt. Aus dieser Duplizität folgt von selbst die vollkommene Gleichheit.« (Schleiermacher 1977, 79)

Bezeichnenderweise scheinen sich weite Teile der ideengeschichtlichen Forschung faktisch eher an der Idee

einer solchen Gleichzeitigkeit oder zumindest an einer hermeneutisch-methodologischen Position zwischen Gadamer und Schleiermacher zu orientieren und dem Moment von Autorschaft und Intention eine größere Bedeutung zuzuschreiben, als es die kontextualistisch dominierte Methodendebatte in der Ideengeschichte eigentlich zulässt. Das ist insbesondere insofern der Fall, als die ideengeschichtliche Forschung sich nicht ausschließlich mit der praktischen Wirkungsgeschichte von Ideen, sondern auch, und nicht selten autorenzentriert und epochenübergreifend, mit systematischen Fragen beschäftigt, in denen es um die hermeneutische Rekonstruktion und kritische Reflexion der Bedeutung theoretischer Konzeptionen im Sinne ihrer theoriegeschichtlichen Vergegenwärtigung geht. Zwar schließen auch solche konzeptionellen theoriegeschichtlichen Fragestellungen ihre kontextuelle Einbettung nicht aus und erfordern also keineswegs die Rückkehr zu einem »naiven« Verständnis von Autorschaft. Aber sie zeigen, dass ein radikaler Kontextualismus sowohl methodisch als auch relevanztheoretisch (vgl. Stollberg-Rilinger 2010, 42) an Plausibilitätsgrenzen stößt. Vor diesem Hintergrund stellt der Versuch einer Neubestimmung des Verhältnisses von Autorschaft und Kontextualität (vgl. auch Hunter 2010 und Sigwart 2016, 1113 ff.) aktuell ein sich aufdrängendes offenes Problem ideengeschichtlicher Methodologie dar. Literatur

Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. 1981. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke, Bd. 1. Tübingen 1987a. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik II: Wahrheit und Methode: Ergänzungen, Register. Gesammelte Werke, Bd. 2. Tübingen 1987b. Grondin, Jean: Einführung in die philosophische Hermeneutik. 3. Aufl. Darmstadt 2011. Habermas, Jürgen: Zur Logik der Sozialwissenschaften. 5., erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1982. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 18. Aufl. Tübingen 2001. Hunter, Ian: Die Geschichte der Philosophie und die Persona des Philosophen. In: Mulsow, Martin/Mahler, Andreas (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010, 241–283. Ricœur, Paul: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen. In: Bühl, Walter Ludwig (Hg.): Verstehende Soziologie. Grundzüge und Entwicklungstendenzen. München 1972, 252–283. Rosen, Stanley: Hermeneutics as Politics. Oxford 1987. Sandkühler, Hans Jörg: Praxis und Geschichtsbewusstsein.

3 Hermeneutik Studie zur materialistischen Dialektik, Erkenntnistheorie und Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1973. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt a. M. 1977. Sigwart, Hans-Jörg: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt. Würzburg 2012. Sigwart, Hans-Jörg: Wider die Gespenster der Vergangenheit – Politische Ideengeschichte und Kritik der Gegenwart. In: Quante, Michael (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 2014, Kolloquienbeiträge. Hamburg 2016, 1109–1123. Stollberg-Rilinger, Barbara: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Ideengeschichte. Basistexte. Stuttgart 2010, 7–42. Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing. Chicago 1988.

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Taylor, Charles: Interpretation and the Sciences of Man. In: Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2. Cambridge 1985, 15–57. Vattimo, Gianni: Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie. Frankfurt a. M./ New York 1997. Vattimo, Gianni/Zabala, Santiago: Hermeneutic Communism. From Heidegger to Marx. New York 2011. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 1947, 17–206. Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988, 541– 581.

Hans-Jörg Sigwart

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

4 Textanalyse/Dokumentenanalyse Die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung von Textanalyse und Dokumentenanalyse für die ideengeschichtliche Untersuchung hängt ganz entscheidend vom Verständnis dessen ab, was als Idee zu bezeichnen ist. Dabei kann mit guten Gründen davon ausgegangen werden, dass platonische oder neo-platonische Vorstellungen eines quasi objektiven Raumes, in dem Urbilder aller dem Menschen zugänglichen Phänomene als Ideen vorhanden sind, modernen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. Wenn man diesen Ausgangspunkt in die Geschichte der Philosophie, insbesondere der Erkenntnistheorie, einordnen will, so kann davon gesprochen werden, dass Ideengeschichte heute ohne metaphysische Rückzugsmöglichkeiten betrieben werden muss. Ideen sind also Ereignisse im Hier und Jetzt, Ausdruck menschlichen Denkens und Handelns und mitteilungsfähig. Ideen sind danach als spezifische Kommunikationsformen zu betrachten – und nur als solche überhaupt zu untersuchen. Ideen entwerfen nicht nur Muster für zukünftige Handlungen, sondern in dieser Vorwegnahme und dem Hinweis auf Zukunft beeinflussen sie Gegenwart. Ideen irritieren damit eingeschliffene Kommunikationsformen und -inhalte und nötigen so die an der Kommunikation Beteiligten, sich zu dieser Idee zu verhalten. Dieser Verweis auf Zukunft ist nun nicht unbedingt an etwas Neues gebunden. Ideen können auch darin bestehen, das Festhalten am Alten zur Handlungsmaxime zu machen. Nicht spezifische Inhalte machen also Ideen zu Ideen, sondern ihre Funktion als Hinweis auf zukünftige Handlungsmöglichkeiten. Die in der Idee liegende Irritation kann begrüßt und akzeptiert werden, kann abgelehnt werden oder einfach nur zur Kenntnis genommen werden. Aber immer nötigt die Idee die Irritierten zu einer Reaktion. Solche Kommunikationsverhältnisse können nun historisch und sozialwissenschaftlich, handlungstheoretisch oder im Rahmen von systemfunktionalen Analysen untersucht werden. Die Allgemeinheit von Kommunikation und ihrer Irritation verweist darauf, dass Ideengeschichte nur als interdisziplinäres auf Polyperspektivität angelegtes Projekt möglich ist. Im Zentrum stehen dabei immer die Medien, in denen Ideen Beobachtungsform gewinnen. Klassisch war die Beschäftigung mit Texten und Dokumenten. Daneben spielen aber Bilder, Töne und Akte inzwischen eine ebenso große erkenntnistheoretische, methodologische und methodische Rolle. Im Folgen-

den soll es um die Bedeutung der Dokumentenanalyse für die Ideengeschichte gehen. Die Möglichkeit, geäußerte Ideen zu verschriftlichen, führt zu einer allgemeinen Zunahme von Irritationen, weil Texte Ideen auf Dauer stellen. Damit bleiben Ideen vorrätig und können aktualisiert werden. Die Abgrenzung von Text und Dokument ist schwierig. Neben der Materialität ist hier auch auf spezifische Form, Funktion und Handlungspraxis zu verweisen. Dokumente sind in der Regel Texte, die einer besonderen Form genügen und eine spezifische Funktion erfüllen. Sie verweisen auf die Erfassung vergangener Handlungen, deren Ergebnisse oder deren Verläufe besonders gesichert werden sollen. Wobei gesichert hier eben nicht nur auf Texte verweist, sondern auch auf vielfältige andere Techniken der Aufbewahrung des individuellen und sozialen Sinns der jeweils zu dokumentierenden Handlung. Eine solche Funktion können auch andere Aufzeichnungssysteme erfüllen wie Bilder aller Art, Töne oder vielfältige andere materiale Träger. So können auch etwa Teppiche und ihre spezifischen Muster sozialen Sinn dokumentieren und die Funktion der Aufbewahrung erfüllen. In der Regel hat es aber die Ideengeschichte mit textlich gefassten Dokumenten zu tun. Damit ergibt sich auch schon ein erster Hinweis auf die Methodologie und Methode der Dokumentenanalyse. Sie ist ein hermeneutisches Verfahren, das der qualitativen Sozialforschung zugeordnet wird. Es geht um ein Verstehen der in den jeweiligen Dokumenten niedergelegten Sinnhaftigkeit und in nächster Stufe dann um eine sozialhistorisch angeleitete, politikwissenschaftlich und soziologisch informierte ideengeschichtliche Kontextualisierung. Wobei die Irritationsfunktion von Dokumenten doppelt angelegt ist. Zum einen stellen Dokumente Quellen der Irritation dar. Zum anderen lassen sich in Dokumenten und mithilfe von Dokumenten Verläufe von Irritationen rekonstruieren. Das Verstehen von Dokumenten beginnt mit einer Untersuchung der Art des vorliegenden Dokuments. Daran schließt sich dann eine Analyse des Textinhalts an, wobei Grammatik und Semantik zu deuten sind, aber auch spezifische, pragmatische Formen, die die jeweilige soziale Funktion des Dokuments deutlich werden lassen. Neben diesen immanenten hermeneutischen Arbeiten schließen sich ideengeschichtliche Analysen der Adressaten des Dokuments und seiner Wirkung an. Die Dokumentenanalyse wird so zur ideengeschichtlich angeleiteten Untersuchung von spezifischen Kommunikationen und Kommunikationslagen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_4

4 Textanalyse/Dokumentenanalyse

Genauso unbestimmt wie der Begriff des Dokuments ist auch die Frage der ideengeschichtlichen Dokumentenbearbeitung. Schaut man in die einschlägige Fachdiskussion, so fällt auf, dass sich fast alle Autor/in­ ­nen darin einig sind, dass der Begriff des Dokuments nicht abschließend definierbar ist. Wolff (2009, 502) hält noch recht stark an den Akten fest, die einen Zugang zur Wirklichkeit böten, während Hoffmann (2012, 397) von einem Dokument als »kulturelles, verzeitlichtes ›Produkt‹«, das in seiner Gemachtheit und Wirkung zu sehen sei, spricht. Reh (1995, 204) verweist unspezifischer auf sämtliches »Material zur Rekonstruktion der Vergangenheit«, geht aber vermehrt auf Akten ein. Etwas psychoanalytischer (und ähnlich wie Hoffmann) definiert Mayring (2006, 47) Dokumente als »sämtliche gegenständliche Zeugnisse, die als Quelle zur Erklärung menschlichen Verhaltens dienen können«. Noetzel u. a. (2009, 325) sehen Dokumente vor allem in ihrer Funktion als »Gesamtheit einer Datenstruktur«, also als Informationsträger. Ein eleganter Begriff, der so bei keiner der Autor/innen vorkommt, ist der des »Bedeutungsträgers«. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Dokumente als etwas aufzufassen sind, das zu einem bestimmten oder unbestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit produziert worden ist, und das einen Rückschluss auf die sozialen und/oder natürlichen Bedingungen der Produktion gibt. Es ist an dem Interpretierenden, die Bedeutung des Dokuments sowie die Informationen, die darin enthalten sind, zu entschlüsseln und zu überlegen, ob diese Informationen von dem Produzierenden intendiert und bewusst vermittelt wurden, bzw. ob sich der Bedeutungscharakter des Dokuments im Laufe der Zeit verändert hat. Je nachdem, wie Dokumente definiert werden, also ob mehr auf die Aktenförmigkeit eingegangen wird, kann die Analyse von Dokumenten weiter ausdifferenziert werden. So wird durchaus schlicht die Unterscheidung, wie sie Historiker aufgemacht haben, also zwischen Tradition und Überrest, übernommen. Noetzel u. a. (2009, 326) schlagen fünf verschiedene Kategorien vor. In diesem Sinne können Dokumente als hoch standardisierte Texte und darüber hinaus allgemein als standardisierte Artefakte verstanden werden. Dann bietet sich folgende Unterscheidung an: Deskriptive Dokumente (Sachverhalt erörternd, Bsp. Nachrichten), präskriptive Dokumente (Norm und Verhaltensweisen vorgebend, Bsp. Gesetz), logischanalytische Dokumente (Gesetzmäßigkeiten aufzeigend, prognostisch), Quellen (historische Dimension dokumentierter Sachverhalte; wird in Primär- (Ori-

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ginaldokumente) und Sekundärquellen (auf Primärquellen reagierende Dokumente) unterteilt), Akten (Verwaltungsschriften, die der Nachprüfbarkeit dienen). Gerade der Hinweis auf die Nachprüfbarkeit ist wichtig mit Blick auf die Irritationsfunktion. Begreift man – etwa bei der Analyse von Verwaltungshandeln – Dokumente als Akten, die in Form und Inhalt die Rationalität bürokratischer Prozesse niederlegen und auf Dauer stellen, dann ist das Dokument als spezifischer bürokratischer Umgang mit sozialem Irritationssinn zu deuten. In dieser Funktion der Selektion von Irritationen und der Stabilisierung spezifischer Prozesse und Strukturen ist die Akte dann wiederum in ihrem Ideengehalt zu analysieren. Ebenso wie bei der Definition von Dokumenten lässt sich auch bei der Analyse von und der ideengeschichtlichen Arbeit mit Dokumenten an sich keine einheitliche Beschreibung oder gar ein idealtypischer Ablauf feststellen. Prägnant fasst es Hoffmann (2012, 504) unter Bezugnahme auf Wolff zusammen: Die Dokumentenanalyse sei zwar unverzichtbar, aber aufgrund der Uneindeutigkeiten eher die »Umschreibung einer spezifischen Zugangsweise«. Diese Zugangsweise wird von einigen sich auf Ballstaedt (1982, 169 ff.) beziehenden Forscherinnen und Forschern in vier verschiedene Grundformen der Dokumentenanalyse unterteilt: Analyse eines einzelnen Dokuments (Einzelfallstudie), Analyse verschiedener Dokumente mit variierenden Perspektiven, Analyse gleichartiger Dokumente (bspw. Wahlreden), »case survey aggregation analysis«, bei der umfangreiche Korpora mit unterschiedlichen Dokumentenklassen über ein theoretisch hergeleitetes Kategoriesystem – ggf. auch als statistische Einheit – analysiert werden. Daneben kommt in der ideengeschichtlich angeleiteten Dokumentenanalyse geschichtswissenschaftliches Können zum Ausdruck. In der Dokumentenanalyse manifestiert sich eine interdisziplinäre Methode und Methodologie, die in ihren geschichtswissenschaftlichen Anlehnung etwa auf die Art des Dokuments (Urkunde, Artikel etc.) schaut, ihre äußeren Merkmale bestimmt (Gestaltung des Artefakts), sich inhaltlich dem Text widmet, Intentionen des Textes zu entschlüsseln versucht, die zeitliche, räumliche, soziale Nähe zum im Dokument erfassten Gegenstand herausarbeitet und Provenienzfragen klärt (Reh 2006, 125). Bei der Durchführung einer Dokumentenanalyse lassen sich verschiedene Stufen identifizieren, die eine Einordnung des Inhalts anhand formaler Kennzeichen erlauben. Zu diesen gehören folgende Aspekte,

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

deren Bedeutung im Folgenden näher erläutert werden soll: •• Erstens findet eine Einstufung der Textart statt. Analysiert werden kann diese in Bezug auf ihren deskriptiven, präskriptiven oder logisch-analytischen Charakter. Weiter ist zu klären, ob es sich um eine historische Quelle handelt, und ob diese vollständig oder aber nur unvollständig erhalten ist. Zudem bleibt zu untersuchen, ob der Text dem Bearbeiter gekürzt oder ungekürzt vorliegt und einen gewissen Öffentlichkeitsgrad erfüllt. •• Zweitens gilt es, den Kontext der Textentstehung zu betrachten. Hierzu gehört neben Zeit, Ort und Anlass der Entstehung auch die Überprüfung der Authentizität des Textes. •• Drittens ist der Frage nachzugehen, wer Produzent des Textes war, und ob es sich hierbei um einen anonymen oder bekannten Autor handelt. Hat dieser alleine publiziert oder war dieser im Kollektiv tätig? •• Dem folgend wird in einem vierten Schritt geklärt, wer Adressat des Textes ist. Wichtig hierbei ist nicht nur zu untersuchen, wer formaler Adressat des Textes war, sondern welcher Personenkreis zu den tatsächlichen Empfängern des Textes gehört und welchen Status bzw. Sachbezug die jeweiligen Personen besaßen. Sind diese Aspekte geklärt, erfolgt die eigentliche Analyse und Interpretation des Textes, die sich wiederum in mehrere Gesichtspunkte gliedern lässt. •• In einem ersten Schritt muss im Rahmen einer Textgliederung der Aufbau und die Art der Gedankenführung untersucht werden. Zudem ist zu klären, ob der Text einer klaren oder unklaren Struktur folgt. •• Im Weiteren wird dann auf den Textinhalt eingegangen. Dieser befasst sich mit der Textaussage, d. h. mit den zentralen Thesen, Argumenten und Folgerungen des Textes. Im Zuge dessen sollten Schlüsselbegriffe herausgearbeitet werden. •• Im darauffolgenden dritten Schritt gilt es, Sprachbesonderheiten wie Groß- oder Kleinschreibung, Grammatik oder Abkürzungen zu identifizieren. Es muss geklärt werden, welche Art von Sprachstil verwendet wird. Dieser kann bspw. wissenschaftlicher Natur, aber auch umgangssprachlich oder gar assoziativ sein. Besonderes Augenmerk ist in diesem Zusammenhang auf rhetorische Stilmittel wie Metaphern, Ironie, Paraphrasen, rhetorische Fragen, Alliterationen u. a. zu legen. Zudem könnte der Text sogenannte Killerphrasen aufweisen,

Dys- und Euphemismen enthalten oder Diminutiv-Suffixe einschließen. •• Zuletzt erfolgt eine Abschlussbewertung, die sich mit möglichen Widersprüchlichkeiten innerhalb des Dokuments auseinandersetzt. Was mögen die Absichten oder Interessen des Produzenten gewesen sein und welche mögliche Wirkung erzielen diese beim Empfänger? Hierbei ist relevant, inwiefern der Autor möglicher Kritik bereits innerhalb des Textes entgegenwirkt und welche Gegenpositionen er zu diesem Zwecke einnimmt. Im Rahmen dieser Abschlussbewertung ist der Text bezüglich seiner Angemessenheit stets im ihn bestimmenden Kontext zu bewerten. Sein Stellenwert bemisst sich dabei auch anhand seiner Bedeutung für die Beantwortung der Ausgangsfrage. In der ideengeschichtlichen Dokumentenanalyse muss jeder Untersuchungsschritt von dem Bewusstsein begleitet sein, dass es nicht um die Rekonstruktion von Wirklichkeit geht, sondern um die Bereitstellung notwendiger Instrumente zur Beantwortung einer Forschungshypothese. In diesem Sinne zwingt auch die hermeneutische Analyse den befragten Texten ein Wissen ab, dass durch die Hypothesenbildung erst erzeugt wurde. Die Dokumentenanalyse ist also nicht vergleichbar mit Theorien und Methoden etwa der Kriminalistik, die die objektive Tat als Wahrheit ermitteln will, sondern liefert auf spezifisch gestellte Fragen für schlüssig gehaltene Antworten. Das Maß, hermeneutisch gesprochen die Bedeutungszuschreibung in der Interpretation zu untersuchender Handlungen, Prozesse und Strukturen, bringt das zu Messende letztlich erst hervor. Hier berühren sich übrigens hermeneutische Verfahren mit der Quantenphysik und ihrer Unschärferelation, die erst in der Messung die Lage von kleinsten Elementarteilchen festlegt. Heisenberg spricht hier erhellend davon, dass Messen immer auch erpressen heißt. Die Anforderung von Sinnen sozialer Verhältnisse sollte sich dieser Abhängigkeit der Beobachtung und Beschreibung von Wirklichkeit von der Position des Beobachtenden und seinen Fragen an die Wirklichkeit bewusst sein. Den Ablauf der Messung im Sinne der Interpretation beschreiben Noetzel u. a. in etwa ähnlich: Zunächst erfolgt die Formulierung einer klaren Fragestellung (Mayring). Noetzel u. a. bestimmen dies dagegen als Exploration, also Überprüfung der Forschungsfrage, wobei dieser eventuell auch die Überprüfung des Forschungsstandes vorausgehen sollte (Reh). Das Vor-

4 Textanalyse/Dokumentenanalyse

gehen diesbezüglich gliedert sich wiederholt in einige Unterpunkte. So muss erstens die sogenannte Materialbestimmung stattfinden. Gemeint ist hiermit, dass eine Definition vorliegen muss, was genau als Dokument gehandelt und entsprechend betrachtet werden darf (Mayring). Für Noetzel u. a. fällt dies unter den Aspekt der Hauptuntersuchung, während Reh eine Überprüfung und Zusammenstellung der Quellen vorsieht. Nach Mayring erfolgt dann eine Quellenkritik anhand der oben genannten Kriterien. Laut Noetzel u. a. ist diese ebenso relevant, gilt allerdings als Teil der Hauptuntersuchung. Gemäß Reh sind eine Quellensicherung und die Durchführung einer Echtheitskritik anhand äußerer Merkmale von besonderer Bedeutung. Erst dann kann in einem dritten Schritt die Interpretation (Mayring), Auswertung (Noetzel u. a.) bzw. Quellenauswertung anhand innerer Merkmale (Reh) erfolgen. Reh unterscheidet hier im Gegensatz zu den anderen Autoren zusätzlich zwischen zwei Unterschritten. So fordert er zunächst die sprachliche Aufschlüsselung des Textes unter Berücksichtigung des Bedeutungswandels von Sprache. Wie anhand des Schaubilds unterschiedlicher Sprachstile nach Bergsdorf (1982, 487) deutlich wird, folgt der sprachlichen Aufschlüsselung zusätzlich eine sachliche Aufschlüsselung. Diese beinhaltet die Auswertung des politischhistorischen Informationsgehalts unter Berücksichtigung dreier Grundformen des Interpretierens – namentlich die Zusammenfassung des Inhalts, gefolgt von der Explikation einzelner Abschnitte unter Zuhilfenahme weiteren Materials und der Strukturierung, im Zuge derer vorher bereits festgelegte Aspekte herausgearbeitet werden sollen. Die historische Kontextualisierung der Quellen nimmt bei Reh darüber hinaus einen eigenen Analysepunkt ein, während Mayring als auch Noetzel u. a. diese bereits im dritten Schritt der Analyse durchgeführt sehen wollen. Konträr zu den anderen Autoren widmet Reh der Zusammenschau der Einzelergebnisse gemäß der sechs Erkenntniskriterien Mayrings einen eigenen und damit fünften Abschnitt seines Analyseschemas. Prior (2009) bietet laut Hoffmann eine der ausführlichsten Konzeptionen für einen qualitativen Einsatz der Dokumentenanalyse, »die nicht nur kategorial subsumptionslogisch vorgeht, sondern auch Traditionslinien der Feldforschung, der Ethnomethodologie, der Grounded Theory oder der Diskursanalyse auf-

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greift« (Hoffmann 2012, 401). In diesem Sinne liefert Prior (2009, 5 ff.) drei zentrale Anforderungen an eine Analyse. Hierzu gehört zunächst, konkrete, feldbezogene Kontexte detailliert in den Blick zu nehmen. Unumgänglich ist für Prior weiter, das Verhältnis von Autor/in und Publikum im Sinne einer dynamisch-reziprok interagierenden Beziehung zu betrachten. Zuletzt ist die Erschließung des Dokuments stets auf die Fragestellung als auch auf die eigentliche Struktur des Dokuments abzustimmen. Ganz eigen beschreibt Wolff das methodische Vorgehen bei der Dokumentenanalyse. Insbesondere der Punkt zur Anwendung von Techniken der Befremdung des Gegenstands findet sich so bei keiner anderen Autor/in. Für Wolff stellen Dokumente eine eigenständige Datenebene dar. Entsprechend müssen diese als methodisch gestaltete Kommunikationszüge analysiert und interpretiert werden – gemäß der Vorgabe »order all points«. Die Analyse sollte in jedem Fall zunächst von der Selbstgenügsamkeit des Textes ausgehen. Die Hinzunahme weiterer Materialien ist dementsprechend nicht nur unnötig, sondern zu Beginn unerwünscht. Wie bereits erwähnt, sollen Techniken der Befremdung des Gegenstandes Anwendung finden, da eine wichtige Leistung von Dokumenten »darin besteht, den Umstand ihrer Herstellung unsichtbar zu machen« (Wolff 2009, 512). Erreicht werden kann dies laut Wolff durch Techniken des Laut-Lesens, der ethnographischen Beobachtung oder Untersuchung narrativer Interviews zu konkreten Fällen der Dokumentenerstellung, des Vergleichs verschiedener Gruppen von Textproduzenten sowie der Kontrastierung von Dokumententexten im Hinblick auf ihre mündliche Präsentation. Wolff schreibt hierzu: »Die qualitative Dokumentenanalyse zielt auf die Erforschung der strukturellen Probleme und des methodischen Instrumentariums, mit denen sich Dokumentenersteller und ihre Rezipienten auseinander zu setzen haben, und versucht, die Implikation unterschiedlicher Gestaltungsformen und Darstellungsstrategien zu explizieren. Man sollte von ihr keine Hinweise auf ›richtige‹ Textgestaltung erwarten.« (Wolff 2009, 512)

Literatur

Ballstaedt, Peter: Effects of elaboration on recall of texts. In: Flammer, August/Kintsch, Walter (Hg.): Discourse processing. Amsterdam 1989, 482–494. Bergsdorf, Wolfgang: Sprache und Politik. Wien 1982.

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

Denz, Hermann: Einführung in die empirische Sozialforschung. Wien 1989. Hoffmann, Nicole: Dokumentenanalyse. In: Schäffer, Burkhard/Dörner, Olaf (Hg.): Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung. Opladen 2012, 395–406. Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung – Eine Anleitung zum qualitativen Denken. 6. überarb. Aufl. Weinheim 2006, 46–50. Noetzel, Thomas/Krumm, Thomas/Westle, Bettina: Dokumentenanalyse. In: Westle, Bettina (Hg.): Methoden der Politikwissenschaft. Baden-Baden 2009, 325–334. Prior, Markus: Improving media effects research through better measurement of news exposure. In: The Journal of Politics (2009) 71 (03), 893–908.

Reh, Werner: Dokumentenanalyse als Kommunikationsanalyse: Ein Vorschlag für die Rolle und Anwendungsmöglichkeiten interpretativer Verfahren in der Politikwissenschaft. In: Schmitz, Sven-Uwe/Schubert, Klaus (Hg.): Einführung in die Politische Theorie und Methodenlehre. Opladen 2006, 111–128. Reh, Werner: Quellen- und Dokumentenanalyse in der Politikfeldforschung: Wer steuert die Verkehrspolitik? In: Alemann, Ulrich von (Hg.): Politikwissenschaftliche Methoden. Opladen 1995, 201–248. Wolff, Stephan: Dokumenten- und Aktenanalyse. In Flick, Uwe u. a. (Hg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch. Hamburg 2000, 502–513.

Thomas Noetzel

5 Diskursanalyse

5 Diskursanalyse Die Diskursanalyse als Methode in ein Handbuch für Politische Ideengeschichte aufzunehmen, ist aus zwei Gründen nicht ohne Risiko. Zum einen gibt es in der foucaultianischen Tradition der Diskursanalyse eine strikte Ablehnung der Ideengeschichte im Sinne einer die Klassiker auslegenden Tradition, jedenfalls dann, wenn diese Tradition darauf zielt, ideelle Kontinuitäten und Entwicklungslinien zu zeichnen. Solch einen harmonisierend-interpretativen Zugang weist Michel Foucault explizit zurück. Bekanntermaßen argumentiert er in seiner Archäologie des Wissens stattdessen dafür, sich bei der Analyse auf die äußeren Merkmale und Materialitäten von Diskursen sowie auf die stets auffindbaren Brüche statt auf Kontinuitäten zu konzentrieren (Foucault 1969/1997). Zum anderen ist eine diskursanalytisch vorgehende Ideengeschichte nach wie vor eher die Ausnahme. Zwar gibt es gelegentliche Plädoyers etwa für ein genealogisches Vorgehen (Saar 2007) oder für eine politische Theorie, die ihren Ausgangspunkt im Mapping von Widerstandsdiskursen sieht (Tully 2002). Doch eine systematisch diskursanalytisch vorgehende Befassung mit dem Korpus der politischen Ideengeschichte ist nicht gegeben. Aus diesem Grund will ich im Folgenden auch weniger auf einzelne Studien eingehen als vielmehr erstens die epistemologische und ontologische Perspektive verdeutlichen, die sich aus der Verortung der Diskursanalyse im Linguistic Turn ergibt, zweitens die grundsätzliche Forschungsprogrammatik der Diskursanalyse skizzieren und drittens einige Hinweise zur guten diskursanalytischen Arbeitspraxis geben.

5.1 Kontext: Der Linguistic Turn Die Prämisse einer diskursanalytischen Perspektive auf die Ideengeschichte ist, dass wir ideengeschichtliches Wissen nur in einem intersubjektiven Konstruktionsprozess etablierten können. Der Wissensraum, in den wir als Forscherinnen und Forscher eintreten, ist immer schon von bestimmten Vorstellungen gefüllt, z. B. von Standardauslegungen und etablierten Kanons dessen, was überhaupt zur Ideengeschichte gehört. Zwar kann man mit beidem brechen, aber nicht, ohne Bezug auf die immer schon vorhandenen Auslegungen zu nehmen. Aber Ideengeschichte ist nicht nur intersubjektiv, weil man sich hier stets in der Gesellschaft von Auslegungstraditionen bewegt, sondern auch, weil die fortgesetzte Befassung mit den klassischen

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(und vielleicht auch den gegenwärtigen) Texten ebenfalls nur im Austausch mit anderen, im Ringen um eine akzeptierte Ideengeschichtsschreibung manifest wird. In jeder Hinsicht haben wir es mit einem sprachlichen Prozess zu tun: Die Ideengeschichte tritt uns in sprachlichen Repräsentationen gegenüber und wir können sie nur durch eben solche erfassen. Die Konsequenz dieser Erkenntnis kann nur lauten, dass auch ideengeschichtliche Diskursanalyse die größte theoretische Wende des 20. Jahrhunderts, den Linguistic Turn (klassisch: Rorty 1967), in aller Konsequenz ernst nehmen muss. Ich will nun zuerst in aller Kürze drei Punkte skizzieren, die durch die Orientierung am Linguistic Turn berührt sind: den konstitutiven Charakter von Sprache und Diskursen, die Instabilität sprachlicher Bedeutung sowie die Existenz normalisierender oder hegemonialer diskursiver Formationen. Eine erste wichtige Grundannahme verweist auf den konstitutiven Charakter von Sprache bzw. von Diskursen. In anderen Worten: Ähnlich wie politische Repräsentanten nie den Willen der Repräsentierten einfach abbilden, sondern sich dieser Wille im Fokuspunkt des Repräsentanten erst herstellt (vgl. Pitkin 1967; Laclau 2005, 157–164), bilden auch sprachliche »Repräsentationen« das, was sie repräsentieren, niemals einfach nur ab. Vielmehr konstituieren Begriffe, Sätze, Argumente, Erzählungen etc. das, was sie zu repräsentieren suchen, immer auch mit. Die Begriffsbildung des »Gesellschaftsvertrags« bringt diesen in spezifischer Weise hervor, das Argument für einen »historischen Materialismus« erzeugt eine neue Welt; verschiedene Erzählungen von der Demokratie verknüpfen sie mit dem Pöbel, mit der Freiheit oder mit dem Rechtsstaat. Einer der zentralen Wissensbestände der Diskursforschung ist entsprechend die Überlegung Michel Foucaults, dass diskursive Aussagen sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie die Gegenstände und Subjekte, über welche sie etwas aussagen, im Moment der Aussage erst als spezifische Gegenstände und Subjekte hervorbringen, das heißt als Gegenstände und Subjekte, die durch die Aussage in einer spezifischen Relationalität zueinander in Erscheinung treten (Foucault 1969/1997, 128–153). Zweitens muss man, wenn man Diskurse analysiert, die Instabilität sprachlicher Bedeutung in Rechnung stellen. Die Ursachen der Instabilität liegen sowohl im systematisch-semantischen als auch im pragmatischen Aspekt von Sprache. Unter dem Aspekt der Semantik liegt Bedeutung nicht »natürlicherweise« in der Identität eines einzelnen sprachlichen Zeichens. Sie stellt sich vielmehr, so das be-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_5

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

kannte strukturalistische Argument Ferdinand de Saussures (1916/1967), nur über Differenz zwischen den Zeichen eines Sprachsystems her. Dass sich in einem Differenzsystem keine stabilen Bedeutungen einstellen, erweist sich, wenn man den Fall eines Lexikoneintrags heranzieht: Schlägt man in einem Lexikon die Bedeutung eines Begriffs nach, so wird dieser mit einer Reihe weiterer Begriffe erläutert, die man wiederum nachschlagen und sich durch abermals andere Begriffe erläutern lassen kann, usf. usf. Sprachliche Zeichen können gar nicht anders, als auf andere Zeichen zu verweisen. Im Alltag halten wir diesen Entlanggleiten an der »Signifikantenkette« (vgl. Lacan 1966/1991, 22–32) mehr oder weniger willkürlich an, weil sonst Praxis verunmöglicht würde. Dass sich also aus der unendlichen Vielzahl möglicher Differenzen zwischen sprachlichen Zeichen bestimmte Bedeutungen einstellen, ist ein Resultat von Konventionen, von sozialer und historischer Kontingenz. Ohne diese Konventionalität würde sich die Alltagserfahrung von relativ stabilen Sprachbedeutungen nicht einstellen können. Zugleich aber ist – und damit nehme ich den pragmatischen Sprachaspekt auf – gerade diese alltagsweltliche Stabilität trügerisch, weil bei aller Konvention die Bestimmung von Bedeutungen stets von der konkreten, kontextabhängigen Sprachpraxis abhängt. Sprachregeln und Regeln der Bedeutung kommen nur im Moment ihrer Anwendung – in Wittgensteins (1953/2003) Worten: in einem bestimmten Sprachspiel – zur Geltung und können aber in eben diesem Moment auch situationsangemessen modifiziert werden. Insofern sind Sprache und Diskurs sowohl von einer systematisch-semantischen als auch von einer pragmatischen Instabilität affiziert. Drittens stellen wir trotz dieser grundsätzlichen Instabilität fest, dass sich in konkreten historischen und sozialen Kontexten immer wieder hegemoniale diskursive Formationen bilden, d. h. Arrangements von Aussagen, die sich gegenseitig über eine ganze Weile stabilisieren können und somit vorherrschend werden. Oft resultieren solche Formationen einerseits aus Kämpfen um den diskursiven Sinn von Ereignissen und Sachverhalten, und andererseits aus kontinuierlicher diskursiver Arbeit, die Formationen iteriert und bekräftigt. In hegemonialen Formationen kommt somit Macht zum Ausdruck. Ein klassisches Beispiel hierfür sind ist der Kampf um verpflichtende Kanons für das Studium der Ideengesichte, wie sie etwa an USamerikanischen Colleges in den letzten Jahrzehnten tobten. Dabei ging es im Wesentlichen darum, ob man

die etablierten Leselisten, die mit Klassikern von Aristoteles bis Weber gefüllt waren, dahingehend öffnet, dass sie nicht im Wesentlichen die Erfahrungen von weißen, männlichen Europäern und Nordamerikanern reflektieren (Nonhoff 2006a). In Kämpfen wie diesen zeigt sich aber auch, dass hegemoniale diskursive Formationen nicht nur durch Macht hervorgebracht werden, sondern dass von ihnen auch Macht ausgeht, und zwar deshalb, weil sich Sprecher/innen auf die eine oder andere Weise zu ihnen verhalten müssen. Wenn nun aber einerseits instabiler Sinn in hegemonialen Formationen diskursiv stabilisiert werden kann und als solcher andererseits – wie eben ausgeführt – konstitutive Auswirkungen auf unser aller Leben hat, dann ist die Erforschung der Prozesse, Mechanismen und Ordnungen dieser konstituierenden Macht von Diskursen nicht nur per se, also weil man sich für sie interessiert, ein hoch spannendes Unterfangen. Sie ist zudem auch von äußerst praktischer Relevanz. Und nicht zuletzt ermöglicht sie auch die Kritik des diskursiv Seienden, wenigstens insofern, als es in seiner Unmittelbarkeit und Normalität in Frage gestellt werden kann.

5.2 Diskursanalyse als Forschungs­ programmatik Vor dem Hintergrund des Linguistic Turn erscheint nun die Diskursanalyse als eine im weitesten Sinne interpretative Methode. Allerdings greift der Begriff der Methode eigentlich zu kurz, weil es in der Diskursanalyse, wie in verschiedenen jüngeren Übersichtsbänden ausführlich dokumentiert wird (Keller u. a. 2010; Keller u. a. 2011; Angermuller u. a. 2014; Nonhoff u. a. 2014), kein einheitliches methodisches Vorgehen gibt, weder bei der Datenerhebung noch bei der Datenauswertung. Anders als im Fall von statistischen oder inhaltsanalytischen Verfahren gibt es in der Diskursanalyse kein Standardvorgehen, kein Programm, das sich exerzieren ließe. Diskursanalyse lässt sich nicht, wie eine Methode im engeren Sinne, schematisch anwenden. Diskursanalyse muss man immer aufs Neue praktizieren; dabei gilt es, die konkreten Schritte der Datenerhebung und Datenaufbereitung tastend auszuloten und auf die Forschungsfrage und den Forschungsgegenstand hin auszurichten. Entsprechend versammeln sich in der empirischen Forschung unter dem Etikett der Diskursanalyse Dokumenten- und Presseanalysen, ethnographische Analysen und Arbeiten, in die Interviews eingeflossen sind. Sobald

5 Diskursanalyse

man die Geschichte der Ideen breiter begreift als das, was sich im Kanon »großer Bücher« niederschlägt, also als Geschichte von politisch wirkmächtigen Ideen wie z. B. der Sozialen Marktwirtschaft, dann nähert eine ideengeschichtliche Diskursanalyse durchaus der empirischen Forschung an (Nonhoff 2012; Nonhoff 2006b). Daneben werden auch gelegentlich philosophische oder politisch-theoretische Texte selbst zum Gegenstand (z. B. Temmar 2001), oder aber es werden Beiträge zu ideengeschichtlichen Debatten analysiert (Nonhoff 2006a). Der Zugriff auf die Texte erfolgt, indem ihre formalen Eigenschaften analysiert, sie mit Hilfe von Kodierungen interpretiert oder indem sie auf inner- und intertextuelle Verknüpfungen und Strukturen hin untersucht werden. Wir finden also innerhalb der der Diskursanalyse eine ähnliche Methodenvielfalt wieder wie generell im Feld interpretativer Methoden. Die Einheit der Diskursanalyse wird also nicht durch ein spezifisches methodisches Vorgehen gesichert. Dennoch gibt es eine weitreichende Ähnlichkeit zwischen vielen Diskursanalysen, weshalb es üblich geworden ist, von der Diskursanalyse nicht als Methode, sondern als Forschungsprogrammatik zu sprechen (vgl. Keller 2004). Diese Forschungsprogrammatik zeichnet sich durch typische Fragestellungen und Forschungsziele aus. Die von Jennifer Milliken (1999) für die Internationalen Beziehungen festgehaltenen diskursanalytischen Fragestellungen können als typisch für die gesamte sozialwissenschaftliche Diskursforschung gelten, auch für die Ideengeschichte. So wird erstens danach gefragt, wie die diskursive Produktion von Bedeutung und Wissen im Allgemeinen und in konkreten Diskursen funktioniert. Zweitens werden diese Produktionsprozesse nicht als isolierte gedankliche oder rein sprachliche Prozesse betrachtet. Texte sind aus diskursanalytischer Perspektive immer Texte im sozialen Kontext, die auf ihre praktischen Auswirkungen hin untersucht werden. Das bedeutet insbesondere zu fragen, wie Akteure subjektiviert werden, wie dadurch bestimmte Handlungsweisen normalisiert und wahrscheinlich werden, andere aber einem Rechtfertigungsdruck unterliegen, und mit welchen institutionalisierten und materialisierten Formen sich diskursive Formationen verbinden (vgl. z. B. die berühmte Gefängnisstudie von Foucault 1975/1995). Drittens stellt sich die Frage nach der Praxis, durch welche Bedeutungen zu dominanten Bedeutungen werden. Für die IB interessant sind hier insbesondere hegemoniale diskursive Formationen der Außenpolitik (vgl. Diez

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2010, 509). In anderen Worten interessiert Diskursanalytiker/innen stets auch das Ineinanderwirken von Diskurs und Macht sowie die Frage diskursiver Hegemonie (klassisch Laclau/Mouffe 1985). Als Forschungsziel verbindet die meisten Diskursanalysen, dass sie die Gewordenheit des Normalen, die Kontingenz des Natürlichen, die Machtgegründetheit von Hegemonien aufzuzeigen suchen. Diskursanalysen sind, jedenfalls einem einflussreichen, durch die Rezeption Foucaults (1969/1997) geprägten Verständnis nach, nicht einfach Beschreibungen von zirkulierendem Sinn (oder von Textkorpora, von Texten im Kontext etc.). Sie sind in diesem Sinne keine Inhaltsanalysen. Diskursanalysen begreifen sich vielmehr als Interventionen in Felder bestehenden Wissens. Sie vollziehen nach, wie sich dieses Wissen herausbilden konnte, welche Voraussetzungen und Konsequenzen eine bestimmte Wissensformation hat, welche Erkenntnisformen und Erkenntnisse in ihr möglich sind, welche Zwänge und Normen sie begleiten. Indem sie ein theoretisches oder auch ein praktisches Wissen zerlegt und beschreibt, tut Diskursanalyse aber auch etwas anderes: Sie interveniert in dieses Wissensfeld auf eine bestimmte Weise. Sie zeichnet die Gewordenheit und damit die Spezifik von selbstverständlichem Wissen und routinisierter Praxis nach, sie verdeutlicht damit die Nichtnotwendigkeit des Bestehenden. Zugleich sind Diskursanalysen bemüht zu zeigen, welche Über- und Unterordnungen, Vorrangigkeiten und Nachrangigkeiten, welche Hierarchien, kurz: welche Machtverhältnisse mit den diskursiven Repräsentationen, den Wissensverhältnissen einhergehen; oder auch nur, wie sich bestimmte Machtverhältnisse und Wissensverhältnisse gegenseitig zu stützen vermögen. Bei aller Vielfalt, die konkrete Diskursanalysen auszeichnet, geben die nun genannten typischen Frage­ stellungen und Forschungsziele dennoch eine Idee davon, welche Erwartungen sich mit einem diskursanalytischen Vorgehen verbinden. Ein noch etwas klareres Bild resultiert aus einer Abgrenzung: Zwar habe ich Diskursanalyse hier als Forschungsprogrammatik im Feld der interpretativen Methoden eingeführt. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es wichtige Unterschiede zur klassischen hermeneutischen Methode des Verstehens gibt. Wie schon zu Beginn dieses Beitrags thematisiert wurde, streben Diskursanalysen nämlich im Allgemeinen nicht danach, die Texte, die sie analysieren, auszulegen. Es geht ihnen nicht darum, eine Bedeutungsebene unterhalb des Textes freizulegen. Sie untersuchen vielmehr, wie sich Texte, wie

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

sich Repräsentationen der Welt im gesellschaftlichen Kontext zu normalem Wissen verknüpfen und verdichten. Dies bedeutet durchaus interpretatorische Arbeit, aber Arbeit auf der Oberfläche des Textes. Gefragt wird nicht, was diskursive Aussagen »eigentlich« bedeuten, sondern wie sie in ihrem Bedeuten funktionieren (vgl. Foucault 1969/1997, 157–165).

5.3 Fünf Grundsätze guter diskursana­ lytischer Forschung Angesichts der Pluralität von unterschiedlichen Methoden, die bei Diskursanalysen in der Erhebung und Bearbeitung von Daten zu konstatieren ist, lässt sich eine gewisse Einheit des Feldes dennoch, wie eben gesehen, über typische Fragestellungen und Forschungsziele etablieren. Doch daneben gibt es noch eine Option, die es erlaubt, das Feld der Diskursanalyse auch über die jeweils konkrete Methodik hinaus zu konturieren, und das sind allgemeine methodologische Grundsätze. Diese Grundsätze müssen so verfasst sein, dass sie innerhalb der Pluralität einen fortgesetzten wissenschaftlichen Austausch, gegenseitige Kritik und damit die Produktion intersubjektiv geteilter Wissensbestände ermöglichen. Pluralität darf also nicht gleichbedeutend werden mit Beliebigkeit und Willkür im Forschungsprozess. Hierauf zielt die Forderung nach Systematizität, die meines Erachtens unerlässlich ist, wenn man sich mit Methodenfragen befasst. Dies gilt verstärkt dann, wenn man sich im Feld interpretativer Methoden bewegt. Nimmt man die obigen Ausführungen zur Instabilität von Bedeutung ernst, so kann man kann an Interpretationen von Repräsentationen der Welt nicht den Anspruch zu stellen, dass sie »richtig« sind. Sehr wohl kann man aber zwei Dinge einfordern: zum einen, dass Interpretationen möglichst plausibel erarbeitet und präsentiert werden; und zum anderen, dass interpretative Forschung ihre eigene Perspektivität und Begrenztheit reflektiert. Dies ist der Kern der Forderung nach einem systematischen methodischen Vorgehen. Im Einzelnen bedeutet das die Beachtung der folgenden fünf Grundsätze guter diskursanalytischer Forschung: a) Klare Formulierung der Forschungsfrage und Explizierung des Forschungszwecks. Nur wenn diese Bedingung eingehalten wird, ist der Leserin die Beurteilung und Kritik der Untersuchungsergebnisse in einem umfassenden Sinn möglich. b) Klare Herleitung und Benennung von Kategorien der Zerlegung sowie der Systematik der Regrup-

pierung. Im Umgang mit diskursiven Repräsentationen steht man vor dem Problem, dass man sie auf sehr viele Weisen untersuchen kann. Üblicherweise wird der Akt der Interpretation aber ihre Zerlegung in bestimmte Einheiten (Begriffe, Relationen, Subjektpositionen, Narrationselemente etc.) umfassen, um sie anschließend systematisch zu regruppieren. Beispiele hierfür sind Arbeiten, die verschiedene Formen des Kodierens verwenden, oder Arbeiten, die Diskurse darauf hin untersuchen, wie sich Typen der Relation zwischen diskursiven Elemente zu strategischen Formationen verdichten (vgl. Nonhoff 2006b, 207–240; Herschinger 2011, 33–59). Angesichts der (sinnvollen und willkommenen) Vielfalt möglicher Zugriffe auf den Gegenstand erscheint es mir unerlässlich, die Kategorien, anhand derer seine Zerlegung vorgenommen wird, ebenso wie die Systematik und Typenbildung, anhand derer die zerlegten Einheiten regruppiert werden, in klarer, genauer und reflektierter Weise zu erarbeiten und darzustellen. c) Klare Bezeichnung von Grenzen der Untersuchung. Diskursive Repräsentationen bilden ein unendliches relationales Verweisungsfeld, das man zu weiten Teilen arretieren muss, wenn man sinnvolle Ergebnisse erzielen will (vgl. Neumann 2008, 73). Dies wird bedeuten, thematische und zeitliche Schnitte zu ziehen, bestimmte Sprecher auszuschließen und regelmäßig Interpretationsvorgänge abzubrechen, wenn sie der Klärung der Forschungsfrage nicht länger dienlich erscheinen. Diese Grenzziehungen müssen reflektiert und expliziert werden. d) Klare Reflexion von Verschiebungen im Forschungsprozess. Empirisches Arbeiten zwingt uns oft dazu, Kategorien oder Typologien, die aus theoretischer Warte sinnvoll und umfassend erschienen, zu modifizieren oder zu erweitern, um sinnvollere Ergebnisse zu erzielen. Solche Veränderungen der Untersuchungskategorien im Verlauf der Untersuchung haben aus positivistischer Perspektive einen Hautgout, weil sie nach »Herumschrauben« an der Wahrheit riechen. In der Grounded Theory (Glaser/Strauss 2008) oder in pragmatischen Ansätzen (Friedrichs/Kratochwil 2009) kommt den Modifikationen jedoch programmatische Relevanz zu. Sobald man akzeptiert, dass der Forschungsgegenstand ohnehin nicht neutral abgebildet werden kann, und zugleich anerkennt, dass Wissenschaft Wissen produziert, das in den Augen der Peers sinnvoll sein

5 Diskursanalyse

muss, verlieren die Verschiebungen im Forschungsprozess ihren schlechten Nachge­schmack. Allerdings müssen auch sie klar benannt werden, um Kritik zu ermöglichen. e) Reflexion der doppelten Perspektivität von Forschungsergebnissen. Der Gegenstand von Diskursanalysen ist nicht eine unmittelbar zugängliche Welt, es sind die Repräsentationen dieser Welt, wie sie in Diskursen zirkulieren, auf Kontexte verweisen und diese Kontexte damit auch auf spezifische Weise herstellen. Repräsentationen zu erforschen bedeutet, eine Lesart von Lesarten der Welt zu entwickeln. Ergebnisse solcher Forschungen können einem emphatischen Wahrheitsanspruch nicht gerecht werden. Wenn man beispielsweise diskursive Hegemonien erforscht, wird schnell deutlich, dass es sehr schwer ist, den objektiven Bestand solcher Hegemonien zweifelsfrei zu beweisen. Es ist ohne weiteres möglich, dass unterschiedliche Akteure zum selben Zeitpunkt in derselben Gesellschaft eine Hegemonie des Neoliberalismus einerseits und der Sozialdemokratie andererseits behaupten. Die Konse­ quenz kann nur sein, dass die doppelte Perspektivität, nämlich Wissen im Sinne von Lesarten von Lesarten zu produzieren, in die jeweiligen Analysen auf reflektierte Weise Eingang findet. Dieses Kapitel greift in größeren Abschnitten auf einen bereits publizierten Text zurück [Nonhoff 2011]. Ich danke dem Nomos Verlag für die Genehmigung zur Zweitverwertung. Literatur

Angermuller, Johannes/Nonhoff, Martin/Herschinger, Eva/ Felicitas Macgilchrist/Reisigl, Martin/Wedl, Juliette/ Wrana, Daniel/Ziem, Alexander (Hg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Bd. 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen. Bielefeld 2014. Diez, Thomas: »Postmoderne Ansätze«. In: Schieder, Siegfried/Spindler, Manuela (Hg.): Theorien der Internationalen Beziehungen. Opladen 2010, 490–519. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975]. Frankfurt a. M. 111995. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens [1969]. Frankfurt a. M. 1997. Friedrichs, Jörg/Kratochwil, Friedrich: On Acting and ­ Knowing: How Pragmatism Can Advance International Relations Research and Methodology. In: International Organization 63 (2009), 701–731. Glaser, Barney/Strauss, Anselm: The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. New Brunswick, NJ 2008.

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Herschinger, Eva: Constructing Global Enemies. Hegemony and Identity in International Discourses on Terrorism and Drug Prohibition. Milton Park, Abingdon 2011. Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Opladen 2004. Keller, Reiner/Hierseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2: Forschungspraxis. Wiesbaden 2010. Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. 3. Aufl. Wiesbaden 2011. Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud [1966]. In: Ders.: Schriften II. Weinheim/Berlin 31991, 15–59. Laclau, Ernesto: On Populist Reason. London/New York 2005. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London/ New York 1985. Milliken, Jennifer: The Study of Discourse in International Relations: A Critique of Research and Methods. In: European Journal of International Relations 5/2 (1999), 225– 254. Neumann, Iver B.: Discourse Analysis. In: Klotz, Audie/­ Prakash, Deepa (Hg.): Qualitative Methods in International Relations: A Pluralist Guide. Houndmills, Basingstoke 2008, 61–77. Nonhoff, Martin (2006a): Politische Ideengeschichte und politische Hegemonie – Anmerkungen zum ›Battle of the Books‹ an den amerikanischen Colleges. In: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden 2006, 223–242. Nonhoff, Martin (2006b): Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt ›Soziale Marktwirtschaft‹. Bielefeld 2006. Nonhoff, Martin: Konstruktivistisch-pragmatische Methodik. Ein Plädoyer für die Diskursanalyse. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 18/2 (2011), 91–107. Nonhoff, Martin: Soziale Marktwirtschaft für Europa und die ganze Welt! Zur Legitimation ökonomischer Hegemonie in den Reden Angela Merkels. In: Geis, Anna/Nullmeier, Frank/Daase, Christopher (Hg.): Der Aufstieg der Legitimitätspolitik. Leviathan Sonderband 27. Stuttgart 2012, 262–282. Nonhoff, Martin/Herschinger, Eva/Angermuller, Johannes/ Macgilchrist, Felicitas/Reisigl, Martin/Wedl, Juliette/ Wrana, Daniel/Ziem, Alexander (Hg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Bd. 2: Methoden und Analysepraxis. Perspektiven auf Hochschulreformdiskurse. Bielefeld 2014. Pitkin, Hanna Fenichel: The Concept of Representation. Berkeley/Los Angeles/London 1967. Rorty, Richard (Hg.): The Linguistic Turn. Essay in Philosophical Method. Chicago 1967. Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M./New York 2007.

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Martin Nonhoff

6 Ideologiekritik

6 Ideologiekritik 6.1 Einleitung Im Vergleich zu anderen Methoden spielt die Ideologiekritik in gängigen Einführungen in die Ideengeschichte keine Rolle (vgl. etwa Stollberg-Rilinger 2010; Beckstein und Weber 2014). Das hat mehrere Gründe: Die Idee der Ideologiekritik ist eng mit der marxistischen Tradition des »historischen Materialismus« verbunden, die annimmt, dass Entwicklungen von Überzeugungssystemen primär durch Veränderungen der sozialökonomischen Umstände erklärt werden müssen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass aus einer solchen Perspektive oft die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte den Vorrang erhielt (für den deutschen Kontext vgl. Stollberg-Rilinger 2010, 18). Für die Ideengeschichtsforschung scheint die Methode der Ideologiekritik auch unabhängig davon unüblich, scheint sie doch die Beschäftigung mit den Texten selbst zugunsten einer »hinter« ihnen zu entdeckenden Funktion zu verdrängen (Freeden 1996, 1). Auch wenn der Begriff der Ideologie in einem weiteren Sinne immer wieder durch Ansätze der Ideengeschichte aufgenommen wird, spielen die gängigen systematischen marxistischen Analysen von Ideologie daher nur selten eine Rolle. Einzelne ideologiekritische Argumentationsformen hingegen lassen sich auch in vielen nicht-explizit ideologiekritischen Ansätzen finden. Um diesen Komplex zu untersuchen, grenzt der folgende Beitrag zunächst Ideologietheorie von Ideologiekritik ab, um dann systematische Ideologiebegriffe bei Marx und in der folgenden Theoriebildung zu analysieren; diese werden wiederum von ideologiekritischen Argumentationsformen abgegrenzt; abschließend wird die Relevanz der Ideologiekritik für die Ideengeschichte skizziert.

6.2 Ideologietheorie und Ideologiekritik Die Ideologiekritik muss zunächst von dem Feld der Ideologietheorie abgegrenzt werden. Eine Ideologietheorie verwendet den Begriff der Ideologie deskriptiv dafür, Systeme von Überzeugungen, Haltungen Praktiken, Symbolen oder Diskursen voneinander abzugrenzen, in ihrer Kohärenz zu verstehen und in ihrem historischen Wandel zu erklären (Geuss 1983, 13–21). In der politischen Ideengeschichte im engeren Sinne, vor allem aber in der politischen Theorie im weiteren Sinne gibt es den Versuch, Texte und Argu-

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mente dadurch zu analysieren, dass sie in die Entwicklung einer übergreifenden politischen Ideologie, wie etwa des Liberalismus, des Marxismus oder des Konservatismus eingeordnet werden (Maynard 2017; Freeden 1996). Ähnlich neutral lässt sich der Begriff »Ideologie« im Sinne von Versuchen, umstrittene fragwürdige Praktiken moralisch zu legitimieren, beispielsweise auch bei Skinner finden (Skinner 2002, 149, 1965). Im Gegensatz zu solchen »neutralen« Ideologietheorien nehmen Ansätze der Ideologiekritik erstens stets an, dass die Qualifikation von Überzeugungssystemen als »ideologisch« ein Defizit ausdrückt. Sie repräsentieren die Welt falsch dienen zur Ausbildung von Illusionen oder sind systematisch fehlgeleitet. Der kritische Aufweis solcher Defizite muss zweitens als eine notwendige Voraussetzung für das adäquate Verständnis des besprochenen Materials dienen. Drittens nehmen Ansätze der Ideologiekritik an, dass der ideologische Charakter von Überzeugungen oder Theorien auch einen Teil einer historischen Erklärung ihrer Akzeptanz darstellt.

6.3 Systematische Ansätze der Ideo­ logiekritik Die Ideengeschichte der Ideologiekritik selbst beginnt im Wesentlichen erst bei Marx (Stråth 2013). Marx übernimmt den Begriff der »Ideologie« von der französischen Aufklärung, wendet ihn jedoch in der Deutschen Ideologie gegen seine junghegelianischen Zeitgenossen. Marx bezeichnet dort eine Idee zweiter Ordnung als »deutsche Ideologie«, nämlich die (falsche) Idee, dass wir politische Verhältnisse dadurch erklären können, dass wir auf die Vorherrschaft bestimmter Ideen verweisen. Dagegen wendet Marx ein, dass geistige Aktivitäten im Kontext der sozialen Reproduktionserfordernisse menschlicher Gesellschaften betrachtet werden müssen, die die wirkliche Basis der Geschichte darstellen, und insbesondere, dass sie der Ausdruck historisch spezifischer sozialer »Verkehrsformen« (Marx und Engels 1845/2018, 5:33) sind. Nicht jeder solcher Ausdruck ist in dem Sinne ideologisch, dass er den oben beschriebenen Fehler begeht. Erst mit Aufkommen der sozialen Arbeitsteilung entsteht eine herrschende Schicht, die von materieller Arbeit befreit ist, und daher der Illusion erliegen kann, dass die geistige von der materiellen-sozialen Sphäre unabhängig sei. Auch wenn Ideologie daher unwahr ist, ist sie kein Produkt eines epistemischen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_6

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Fehlers, sondern, wie Marx’ berühmte Metapher der »camera obscura« nahelegt (Marx und Engels [1845] 2018, 5:135), eine angemessene Reflektion einer sozialen Praxis. In der Deutschen Ideologie findet sich neben dieser Vorstellung von Ideologiekritik auch noch eine Reihe anderer Aussagen, die andere Aspekte der Ideologiekritik nahelegen. Erstens spricht Marx von »Ideologen« als »die Denker [...], welche die Ausbildung der Illusion dieser [der herrschenden, T. S.] Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweige machen« (Marx und Engels 1845/2018, 5:62), was eine absichtliche Irreleitung nahelegt, zweitens vertritt er ein Modell von Ideologie als funktional notwendiger illusorischer Verallgemeinerung partikularer Interessen (Marx und Engels 1845/2018, 5:61), und schließlich die wissenssoziologische Idee, dass die herrschende Klasse jeder Gesellschaft die materiellen Mittel monopolisiert, die für intellektuelle Arbeit notwendig sind (Marx und Engels 1845/2018, 5:60). Auch wenn Marx später keine methodologischen Überlegungen zur Ideologiekritik anstellt, lässt sich beispielsweise das Kapital selbst weithin (auch) als ein ideengeschichtliches Werk – die klassische politische Ökonomie betreffend – lesen, das diese Methode anwendet. Eine Rekonstruktion der Entwicklung der philosophischen Ideologiekritik nach Marx würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen (vgl. dazu Rehmann 2008; Larrain 1979; Shelby 2003; Stahl 2016). Es sei daher nur kurz auf zwei theoriegeschichtlich einflussreiche Weiterentwicklungen der Idee der Ideologiekritik hingewiesen. In Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács (1968) findet sich einer der eindrucksvollsten und zugleich problematischsten Versuche, die Ideologiekritik für die Ideengeschichte brauchbar zu machen. Lukács entwickelt dort die These, dass die Dominanz der Warenform in kapitalistischen Gesellschaften alle sozialen Beziehungen einer verdinglichenden Dynamik unterwirft, d. h., dass diese Beziehungen nur noch als Teil eines von ihnen unabhängigen gesellschaftlichen Mechanismus wahrgenommen werden. Auf dieser Basis entwickelt Lukács seine ideengeschichtliche These: Er nimmt an, dass das moderne Weltverhältnis von Verdinglichung geprägt ist, die eine unüberbrückbare Kluft zwischen einer objektiven, eigengesetzlich geprägten Welt und dem Subjekt und dessen qualitativer Erfahrung zur Folge hat. Die modernen Rechtswissenschaften, die Ökonomie und vor allem die Philosophie schließen in ihrem Streben, die objektive Realität zu erfassen, daher alle qualitativen Dimensionen der Erfahrung aus,

werden dadurch aber unfähig, ihre theoretischen Ziele zu erreichen, also ihren Gegenstandsbereich verständlich zu machen. Lukács liest die gesamte moderne Philosophiegeschichte, insbesondere die Erkenntnistheorie betreffend, als eine Reaktion auf dieses Problem einer Spaltung zwischen Subjekt und Welt, die dessen soziale Ursache nicht begreift. Eine zweite einflussreiche Strömung bezieht sich auf die Überlegungen von Louis Althusser. Ideologie repräsentiert, so Althusser, »das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen« (Althusser 1977, 75). In ideologischem Denken drückt sich aus, dass Menschen ihr Verhältnis zu den sozialen Bedingungen in einer Weise repräsentieren, die von den Bedürfnissen »subjektiv gelebter« Erfahrung dominiert wird, insbesondere von der Notwendigkeit, eine Subjektivität auszubilden können, die ihnen die Integration in ihre soziale Umwelt ermöglicht. Im Unterschied zu Ideologie in diesem Sinne ist Wissenschaft objektzentriert. Historisch konkrete Formen der Wissenschaft sind nur dadurch zu begreifen, indem man versteht, wie sie mit dem ideologischen Alltagsverständnis brechen und ihren Gegenstandsbereich konstituieren; für die Analyse dieser Konstitution schlägt Althusser wiederum die Methode einer »symptomatischen Lektüre« vor (Balibar und Althusser 1972, 32), die darauf abhebt, inwieweit in einer bestimmten Theorie Antworten auf Fragen gegeben werden, die von der Problematik dieser Theorie unsichtbar gemacht werden. Auch wenn die methodischen Verpflichtungen Althussers in der Ideengeschichte nur gelegentlich eine Rolle spielen – und wenn dann eher sein Begriff einer Wissenschaft als der Ideologiebegriff – hat seine Ideologietheorie, die auf die »Interpellation« (Althusser 1977, 88) von Subjekten durch Diskurse abzielt, großen Einfluss auf Ansätze etwa der feministischen Theorie gehabt, die die Analyse solcher ideologischer Anrufungsprozesse in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen.

6.4 Ideologiekritische Argumentsformen: epistemische und methodische Aspekte Auch wenn die genannten systematischen Ansätze keine lebendigen Optionen für die heutige Ideengeschichte darstellen, sind doch ideologiekritische Argumente in zahlreichen ideengeschichtliche Studien anzutreffen. Raymond Geuss unterscheidet drei solcher Argumentationsformen, die jeweils unter-

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schiedliche Ideologiebegriffe voraussetzen (Geuss 1983, 22–23): epistemische Ideologiebegriffe grenzen Ideologien durch Verweis auf ihre Falschheit ab, funktionale Ideologiebegriffe definieren Ideologien durch ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung (oppressiver) Herrschaft, genetische Ideologiebegriffe charakterisieren Ideologien als Überzeugungssystem die eine bestimmte, fragwürdige Kausalgeschichte haben. Die epistemische Strategie scheint dabei die erfolgversprechendste zu sein, scheinen doch die Funktionalität und die Herkunft eines Überzeugungssystems solange dessen Akzeptabilität nicht zu untergraben, solange es nicht auch in irgendeinem Sinne ungerechtfertigt oder falsch ist. Für die Ideengeschichte scheint diese Strategie jedoch aus zwei Gründen ungeeignet. Für Theorien oder Texte, die im engeren Sinne unwahre Aussagen beinhalten, stellt sich erstens die Frage, ob diese Unwahrheit sie bereits dann als Ideologie qualifiziert, wenn sie auf der Basis des übrigen Wissens der Leserin als solche erkennbar ist oder nur dann, wenn sie auch für die Verfasserin des Textes, für die Adressatinnen oder für die durchschnittliche Zeitgenossin bei hinreichender epistemischer Sorgfalt als unwahr erkannt werden hätten können. Die erste Option scheint eine unproduktiv anachronistische Lesart nahezulegen, die zweite Lesart scheint hingegen gerade diejenigen Texte oder Theorien von der Kritik auszunehmen, die sich auf im jeweiligen Kontext weithin geteilte und plausible gesellschaftliche Ideologien berufen können, die für die jeweilige Referenzgruppe eben gerade nicht in ihrer Unwahrheit erkannt werden konnten. Besser geeignet für die Ideologiekritik sind daher die Formen epistemischer Ideologietheorie, die nicht die Unwahrheit von Aussagen erster Ebene, sondern Irrtümer zweiter Ebene als Kennzeichen von Ideologie behandeln. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine Theorie, die (»in Wirklichkeit«) ein bloß emotiver Ausdruck eines geteilten sozialen Wunsches oder der Befürwortung einer bestimmten Herrschaftsordnung ist, die sich aber selbst als Analyse zeitloser Wahrheiten beschreibt. Dieser Vorschlag kann Ideologien von der Masse unschuldiger Irrtümer abgrenzen und taugt auch zur Analyse politischer, religiöser oder moralischer Texte. Er teilt jedoch mit der ersten Variante das Problem, dass unklar ist, aus welcher epistemischen Perspektive die Unwahrheit des Selbstverständnisses diagnostiziert werden darf. Eine letzte Variante des epistemischen Ideologiebegriffs nimmt schließlich nicht einzelne Überzeugungen oder Behauptungen, sondern Diskursformen

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ins Visier. Marx’ Idee folgend, dass Ideologien Ausdruck von durch Herrschaft verzerrten sozialen Verkehrsformen sind, könnte man Ideologien als Diskursformen bestimmen, die strukturell Infragestellung oder Kritik blockieren (Stahl 2013a). Dieser Ideologiebegriff nimmt auch die Naturalisierung oder Verdinglichung sozialer Kategorien in den Blick, aber nicht als Folgen falscher Überzeugungen von Individuen, sondern als interne Begrenzungen von Diskursen. Dabei stellt sich dann jedoch die Frage, ob es unter dieser Voraussetzung noch sinnvoll ist, von einer spezifisch epistemischen Falschheit zu sprechen. Funktionale Formen der Ideologiekritik nehmen an, dass ein Überzeugungssystem oder eine Theorie dann ideologisch ist, wenn sie funktional für die Aufrechterhaltung (bestimmter, möglicherweise normativ abgegrenzter) Formen der Herrschaft ist (Maynard 2017, 304). Dieser Vorschlag hat jedoch zahlreiche, letztlich fatale Probleme: Zunächst sind zahlreiche nichtideologische Überzeugungen herrschaftsstabilisierend, wie beispielsweise die richtige Annahme, dass Widerstand gegen politische Unterdrückung oft soziale Kosten mit sich bringt. Zudem ist unklar, ob gemeint ist, dass die Akzeptanz einer bestimmten Überzeugung (etwa von den Adressatinnen einer Kommunikation) für die Aufrechterhaltung einer bestimmten Form der Herrschaft funktional notwendig bzw. unersetzbar sein soll, oder dass sie nur zur Stabilisierung der Herrschaft beiträgt. Es ist plausibel anzunehmen, dass fast niemals irgendeine Überzeugung unersetzbar für die Stabilisierung einer Herrschaftsform ist und fast jede Überzeugung unter den richtigen Umständen zur Stabilisierung beiträgt. Eine Charakterisierung eines Überzeugungssystems als Ideologie im funktionalen Sinn ist also entweder fast immer falsch oder trivial. Der genetische Ansatz charakterisiert Ideologien schließlich dadurch, dass sie eine epistemisch oder normativ problematische Herkunft haben, dass also das Aussagen- oder Überzeugungssystem nicht existieren würde, wenn nicht Faktoren bei der Entstehung eine Rolle gespielt hätten, die für das Subjekt reflektiv inakzeptabel sind. Von genealogischen Theorien in der Tradition Nietzsches oder Foucaults unterscheidet sich genetische Ideologiekritik dadurch, dass sie nicht die Geschichte eines ideologischen Gehalts, sondern die sozialen Bedingungen der Akzeptanz untersucht (Shelby 2003, 183). Auch wenn genetische Erklärungen produktiv zur Eröffnung alternativer Verständnishorizonte beitragen können, besteht doch der Einwand gegen den genetischen Ideologiebegriff, dass die

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Bedingungen der Akzeptanz von Überzeugungssystemen oder Theorien weder Zugriff auf die aktuelle Bedeutung (zum Zeitpunkt der Produktion oder Rezeption) ermöglicht, noch die soziale Funktion von Ideen determiniert. Ideologiekritische Argumentationsformen können in textimmanenten, kontextualistischen und diskurstheoretischen Methoden eine Rolle spielen. In ihrer einfachsten Form kann ein epistemisches Argument einen Text daraufhin untersuchen, welche falschen Überzeugungen erster oder zweiter Ordnung er explizit enthält oder welche dieser Überzeugungen implizit, etwa als verborgene Prämissen, den Argumentationsgang strukturieren. Dabei können die gängigen rekonstruktiven Methoden textimmanenter Verfahren angewandt werden, die dann auf die Aufdeckung von Irrtümern fokussiert werden. Funktionalistisch oder genetisch argumentierende Ideologiekritik kann zum Verständnis eines Textes dahingehend beitragen, dass sie die Eigenschaften des Wirkungskontextes bzw. Entstehungskontextes rekonstruiert, die zur funktionalen bzw. genetischen Erklärung des Textes notwendig sind; in Kombination mit einer epistemischen Ideologiekritik kann dies dazu dienen zu verstehen, wieso Widersprüche oder implausible Annahmen von der Kritik ausgenommen bleiben. Etwas komplexere Konzeptionen der Ideologiekritik, die nicht einzelne Propositionen, sondern Diskurse in den Blickpunkt rücken (Fairclough 2013; Herzog 2018), können etwa darin bestehen, dass eine kritische Diskurstheorie entwickelt wird, die die Wirkung diskursiver Blockaden, diskursiv vermittelter Herrschaft oder diskursiver Exklusion im Text nachweist. Was die Frage der Normativität betrifft, legen die verschiedenen theoretischen Optionen verschiedene Ansätze nahe: Epistemische Ideologiebegriffe werden ideologische Theorien oder Überzeugungssysteme aufgrund ihrer Falschheit kritisieren; dabei können jedoch – wie bereits erwähnt – rein »interne« Formen der Kritik, die die Widersprüche in einem Text oder zwischen den Propositionen einer akzeptierten Theorie und dem im Kontext verfügbaren Wissen nachweisen, nicht nur von »externen« Formen unterschieden werden, die von der Menge der von den RezipientInnen für wahr gehaltenen Überzeugungen ausgehen, sondern auch von »immanenten« Formen, die nicht nur die tatsächlich von den Autor/innen oder Adressat/innen akzeptierten Propositionen in den Blick nehmen, sondern auch Entwicklungspotenziale (Jaeggi 2009; Stahl 2013b). Insbesondere die letztere, immanente Form der Kritik eignet sich auch für diejeni-

gen Formen der Ideologiekritik, die nicht (nur) die Falschheit von Propositionen, sondern die Unangemessenheit von Konzeptionen der Rechtfertigung oder die Blockade von Diskursen kritisieren.

6.5 Ideologiekritik und die Ideengeschichte der Gegenwart In der Ideengeschichtsforschung spielen simple genetische oder funktionalen Formen der Ideologiekritik gegenwärtig keine nennenswerte Rolle; für die dahinter liegenden Intuitionen sind mit der historischen Semantik der Systemtheorie und vor allem mit den an Foucault anschließenden Ideen der Archäologie, Genealogie und der Diskurstheorie im weiteren Sinne Theorieoptionen entstanden, die die Komplexität historischer Diskurse ernst nehmen und eine überzeugendere Analyse von der Verschränkung zwischen Macht und Diskurs vorlegen als der historische Materialismus (LaCapra 1983, 42). Als Beispiel für eine komplexere Variante der epistemischen Ideologiekritik kann Crawford B. MacPhersons Political Theory of Possessive Individualism (1964) dienen, wo die klassische britische Gesellschaftsvertragstheorie daraufhin untersucht wird, welche unausgesprochenen sozialen Annahmen für die Plausibilität ihrer normativen Aussagen gemacht werden müssen – auch wenn sowohl die Analyse der besprochenen Theorien selbst, wie auch der Erklärungsanspruch des politischen Modells stark umstritten sind (Tully 1993). In der feministischen Philosophie kann beispielsweise Susan Moller Okin’s Lektüre von Rawls in Justice, Gender, and the Family (1989) als Beispiel für ideengeschichtliche Ideologiekritik dienen. Von einfachen textzentrierten Rekonstruktionen unterscheiden sich solche ideologiekritischen Lektüren dadurch, dass sie nicht nur auf Inkonsistenzen oder Irrtümer zweiter Ordnung aufmerksam machen, sondern annehmen, dass diese Irrtümer nur dadurch erklärt werden können, dass auf den sozialen Kontext verwiesen wird, dessen soziale Pathologien diese Eigenschaften ausdrücken oder für dessen Herrschaftsverhältnisse sie funktional sind bzw. durch welche sie kausal verursacht werden. Ideologiekritik ist damit also einer stärkeren Rolle des sozialen Kontextes verpflichtet als sie beispielsweise Skinner zugesteht, der den sozialen Kontext einbezieht, soweit dieser bestimmte (zu rekonstruierende) diskursive Handlungen ermöglicht (vgl. dazu Wood 2011, 8); im Gegensatz dazu wird eine ideologiekritische Analyse anneh-

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men, dass im Falle ideologischer Äußerungen die diskursiv Handelnden auf nicht-zufälligerweise ihr eigenes Handeln missverstehen und der Kontext für die Notwendigkeit dieses Missverständnisses explanatorisch aufkommt. Während die meisten philosophischen Einwände gegen die Ideologiekritik ihr ihre Nichtfalsifizierbarkeit, ihren Rückgriff auf methodisch dubiose Formen der Erklärung (Elster 1985) und ihre unklare normative Basis vorwerfen (Leist 1986), finden sich zumindest implizit in den methodologischen Überlegungen der neueren Ideengeschichte auch eine Reihe spezifischer Einwände gegen ihre Anwendung auf die Geistesgeschichte: Nicht nur Luhmanns Polemik gegen die Ideologiekritik kann dazu gerechnet werden, der zufolge diese eine Form aufklärerischen Denkens ist, die sich gerade selbst Reflexionsbarrieren auferlegen muss, um ihren Wahrheitsanspruch aufrechtzuerhalten (Luhmann 1980, 1:10). Auch Skinners Einwand gegen kontextualistisch-kausale Erklärungen, die die Intentionen hinter Sprechakten nicht rekonstruieren können, weil sie systematisch nicht die Möglichkeit verschiedener Interventionen in einen sozialen Kontext zulassen, ist durchaus als auf die Ideologiekritik gemünzt zu verstehen (Skinner 1969, 42–48). Die relative Marginalisierung der Großentwürfe der Ideologiekritik in der Ideengeschichte sollte jedoch die Diskussion über ideologiekritische Argumentationsformen nicht verhindern: eine systematische Untersuchung des möglichen Beitrags dieser Argumentationsformen zur Ideengeschichte steht jedoch noch aus. Literatur

Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg 1977 [frz. 1970]. Althusser, Louis/Balibar, Etienne: Das Kapital lesen I. Reinbek bei Hamburg 1972 [frz. 1965]. Beckstein, Martin/Weber, Ralph: Politische Ideengeschichte: Interpretationsansätze in der Praxis. Göttingen 2014. Elster, Jon: Making Sense of Marx. Cambridge 1985. Fairclough, Norman: Critical Discourse Analysis: The Critical Study of Language. Abingdon 2013. Freeden, Michael: Ideologies and Political Theories: A Conceptual Approach. Oxford 1996. Geuss, Raymond: Die Idee einer kritischen Theorie. Königsstein/Ts. 1983 [engl. 1981]. Herzog, Benno: Marx’s critique of ideology for discourse analysis: from analysis of ideologies to social critique. In: Critical Discourse Studies (online-Vorausgabe) 2018.

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Jaeggi, Rahel: Was ist Ideologiekritik? In: Jaeggi, Rahel/ Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a. M. 2009, 268–295. LaCapra, Dominick: Rethinking Intellectual History: Texts, Contexts, Language. Ithaca 1983. Larrain, Jorge: The Concept of Ideology. London 1979. Leist, Anton: Schwierigkeiten mit der Ideologiekritik. In: Angehrn, Emil/Lohmann, Georg (Hg.): Ethik und Marx. Königstein i. Ts. 1986, 58–79. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980. Lukács, Georg: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats [1923]. In: Werke. Bd. 2: Geschichte und Klassenbewusstsein. Neuwied 1968, 257–397 Macpherson, C. B.: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke. Oxford 1964. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manuskripte und Drucke zur Deutschen Ideologie. Berlin 2018. Maynard, Jonathan Leader: Ideological Analysis. In: Blau, Adrian (Hg.): Methods in Analytical Political Theory. Cambridge 2017, 297–324. Okin, Susan Moller: Justice, Gender, and the Family. New York 1989. Rehmann, Jan: Einführung in die Ideologietheorie. Hamburg 2008. Shelby, Tommie: Ideology, Racism, and Critical Social Theory. In: Philosophical Forum 34/2 (2003), 153–188. Skinner, Quentin: History and Ideology in the English Revolution. In: The Historical Journal 8/2 (1965), 151–78. Skinner, Quentin: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8/1 (1965), 3–53. Skinner, Quentin: Visions of Politics: Regarding Method. Cambridge  2002. Stahl, Titus: (2013a): Ideologiekritik als Kritik sozialer Praktiken. Eine expressivistische Rekonstruktion der Kritik falschen Bewusstseins. In: Jaeggi, Rahel/Loick, Daniel (Hg.): Nach Marx. Berlin 2013, 228–54. Stahl, Titus (2013b): Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken. Frankfurt a. M. 2013. Stahl, Titus: Ideologiekritik. In: Quante, Michael/Schweikard, David (Hg.): Marx-Handbuch. Stuttgart 2013, 238– 253. Stollberg-Rilinger, Barbara: Ideengeschichte. Stuttgart 2010. Stråth, Bo: Ideology and Conceptual History. In Freeden, Michael/Tower, Lyman/Stears, Marc (Hg.): The Oxford Handbook of Political Ideologies. Oxford 2013. Tully, James: An Approach to Political Philosophy: Locke in Contexts. Cambridge 1993. Wood, Ellen: Citizens to Lords: A Social History of Western Political Thought from Antiquity to the Late Middle Ages. London 2011.

Titus Stahl

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

7 Theorienvergleich Der Vergleich verschiedener politischer, sozialwissenschaftlicher, philosophischer, pädagogischer oder medizinischer Theorien ist nicht nur eine beliebte Übung für angehende Ideengeschichtlerinnen mit unterschiedlichen Fachinteressen, sondern auch für Fortgeschrittene. Mehr noch: Unbestritten ist der Vergleich ein erstrangiges Instrument, um methodisch angeleitet wissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren. Voraussetzung für den Erkenntnisgewinn durch Vergleich ist einerseits, dass vorab wesentliche Gemeinsamkeiten identifiziert werden, die die Sinnhaftigkeit des Vergleichs garantieren und dass andererseits die begründete Vermutung besteht, mindestens einen relevanten Unterschied aufzufinden. Über diese Grundvoraussetzung hinaus funktioniert der Vergleich meist nicht selbst schon als Methode, vielmehr greift er in der Regel auf andere Methoden der Erschließung des Materials – z. B. hermeneutische Interpretationen – zurück. Da es hier jedoch explizit um die besondere Form des Theorievergleichs geht, lassen sich durchaus einige besondere Charakteristika dieses Genres herausstellen. Im Folgenden werden zunächst einige methodologische bzw. metatheoretische Grundüberlegungen präsentiert, im Anschluss stehen Heuristik und Methode des Theorievergleichs im Mittelpunkt.

7.1 Methodologische Grundüberlegungen Wenn Theorien Gegenstand eines Vergleichs sind, dann sollte geklärt werden, was charakteristisch für Theorien ist. Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass Theorien – und das gilt gerade für diejenigen Theorien, die Gegenstand der Ideengeschichte sind – prinzipiell dreigesichtig sind (vgl. Zapf 2013, 17 f.): Sie beinhalten Aussagen über empirische Zusammenhänge (das ›Sein‹), stellen normative Forderungen auf (das ›Sollen‹) und bringen für beides eine bestimmte Beschreibungssprache ins Spiel (die Semantik). Insbesondere die neuere sozialwissenschaftliche Theoriebildung bemüht sich darum, wenigstens die ersten beiden Bereiche sauber voneinander zu trennen, doch damit werden in der Regel die jeweils komplementären empirischen bzw. normativen Elemente lediglich ins Implizite verschoben: Schließlich sind normative Theorien, die völlig frei von Annahmen über die Wirklichkeit Normen begründen, ihrerseits sinnfrei, so wie auch empirische Theorien, die ihre normativen

Gründe ignorieren und Zusammenhänge erklären, ohne dabei handlungsleitend zu wirken, wertlos sind. Insofern ist davon auszugehen, dass sich mindestens auf impliziter Ebene in einer Theorie alle drei Elemente finden lassen. Je nach Erkenntnisziel müssen diese impliziten Elemente dann unter Umständen erst aus den expliziten Annahmen rekonstruiert werden, so dass sie die Theorie sinnhaft und kohärent ergänzen, um sie schließlich einem Vergleich zugänglich zu machen. Darüber hinaus müssen vor einem Theorievergleich generell Unklarheiten beseitigt und offene Interpretationsmöglichkeiten entschieden werden. Insofern geht Theorievergleichen in aller Regel die auf Kohärenz und Explizitheit abzielende Rekonstruktion von Theorien voraus, so dass letztendlich diese Rekonstruktionen (und nicht unmittelbar die Theorien ›selbst‹) Gegenstand des Vergleichs sind. Damit kann ein weitere wesentlicher Gesichtspunkt genannt werden: Wenn von Theorien die Rede ist, dann wird dabei in der Regel an einen Typus von Aussagensystemen gedacht, der besonderen Ansprüchen genügen muss. Eine grundlegende Forderung ist dabei, dass die Aussagen einen gewissen Grad an Allgemeinheit aufweisen müssen, da sie andernfalls als konkrete Beschreibung eines Tatbestands oder als konkrete normative Forderung bestenfalls höchst unsichere Rückschlüsse auf eine dahinterstehende Theorie erlauben würden. Alle weiteren gängigen Merkmale von Theorien, die sich unter dem Begriff der Elaboriertheit zusammenfassen lassen, sollen in diesem Kontext dagegen allenfalls relativ gelten, da manche ideengeschichtlichen Theorien einem engen Theoriebegriff nicht genügen würden. Wesentliche Merkmale dieser Elaboriertheit wären: die definitorische Engführung von Begriffen, die konsistente Verwendung dieser Begriffe, die kohärente und damit widerspruchsfreie Aufeinanderbezogenheit von Aussagen und die Offenlegung erkenntnistheoretischer Vorannahmen (vgl. Zapf 2013, 19). Wenn diese Merkmale nicht erfüllt sind, ist es Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die fehlenden Elemente wiederum sorgfältig und zurückhaltend zu rekonstruieren – vor allem, wenn im Anschluss ein Vergleich auf dem Programm steht, denn eine Voraussetzung für jeden Vergleich ist das Vorliegen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ausreichendem Maß. Entsprechend können geeignete Theorierekonstruktionen dafür sorgen, dass die verglichenen Theorien in ihrer rekonstruierten Form ein in etwa gleiches Maß an begrifflicher Klarheit, kohärenter Aufeinanderbezogenheit der Aussagen oder explizierten erkenntnistheoreti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_7

7 Theorienvergleich

schen Annahmen aufweisen, um sie dann z. B. mit Blick auf ihre unterschiedlichen Erklärungsweisen eines empirischen Phänomens vergleichen zu können. Rekonstruktiv muss dann vorab die widersprüchliche Verwendung von Begriffen geklärt und entschieden, die Kohärenz der Theorie störende Aussagen müssen eliminiert und je nach Erkenntnisziel müssen erkenntnistheoretische Vorannahmen, die nicht expliziert wurden, aus der expliziten Theorie abgeleitet werden. Mithilfe von Theorierekonstruktion höhere Grade von Elaboriertheit herzustellen geht gleichwohl immer mit dem Risiko einher, die ursprünglich in den Quellen vorfindliche Theorie verzerrt und unangemessen wiederzugeben. Um Theorien Punkt für Punkt vergleichen zu können, ist jedoch eine entsprechende Reduktion von Komplexität unumgänglich. Freilich kann auch der Grad der Elaboriertheit der unrekonstruierten Theorie selbst zum Gegenstand des Vergleichs werden, doch ergibt dies in der Regel nur dann Sinn, wenn (a) Theoriefort- oder -rückschritt im Rahmen von paradigmatisch weitgehend identischen Erklärungsoder Begründungsansätzen gezeigt werden soll oder (b) genau die mangelnde Vergleichbarkeit differenter Erklärungs- oder Begründungsansätze aufgrund unterschiedlicher Grade von Elaboriertheit aufgezeigt werden soll. Während also die sprichwörtlichen elaborierten Äpfel mit weniger elaborierten Äpfeln vergleichbar sind, sollte ein Vergleich elaborierter Äpfel mit unelaborierten Birnen unterbleiben, weil von vornherein klar ist, dass die Birnen in so einem Vergleich nur verlieren können. Allgemein ist die Frage nach der Vergleichbarkeit ein erhebliches Problem, das vor allen weiteren denkbaren Schritten von der Theoriekritik bis hin zur Theoriesynthese geklärt werden muss. Wenn etwa im Anschluss an Thomas Kuhns Überlegungen zur Inkommensurabilität naturwissenschaftlicher Theorien (vgl. Kuhn 2007) von einer prinzipiellen Unvergleichbarkeit ausgegangen wird, gibt es gar keine sinnvollen Möglichkeiten für Theorievergleiche. Diese Annahme widerspricht zwar erheblich sowohl der Intuition wie auch der gängigen Praxis – schließlich vergleichen wir ohne Bedenken Galilei mit Aristoteles, Hobbes mit Machiavelli oder Freud mit Jung –, doch verweist die Annahme auf ein grundlegendes Problem, das Kuhn mit dem Begriff der Inkommensurabilität deutlich machen wollte: Beim Vergleich von Theorien kann es letztendlich keinen neutralen Boden geben, von dem aus sich der Vergleich vornehmen ließe. Schon die Semantik, in der wissenschaftliche Probleme präsentiert

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werden, ist theoriebeladen. Und in die Kriterien, die den empirischen Bewährungsgrad einer Theorie oder ihre normative Qualität bewerten sollen, fließen erkenntnistheoretische ebenso wie ethische Vorannahmen ein, die ihrerseits nicht vor- bzw. außertheoretisch zu haben sind. Entsprechend gibt es keinen völlig theoriefreien Standpunkt, von dem aus eine völlig neutrale Bewertung von Theorien möglich wäre. Dieses Vergleichsproblem lässt sich auch in Anlehnung an die strukturale Linguistik formulieren, wobei es hier einen etwas anderen Fokus bekommt und damit ein anderes Teilproblem akzentuiert: So wie Wörter in Sprachen durch ihre Relationen zu anderen, sie umgebenden Wörtern ihre Bedeutung erhalten, so sind theoretische Begriffe durch ihre Einbettung in den Theorieapparat bestimmt. In der Regel sind die bedeutungsstiftenden Relationen von Theorie zu Theorie unterschiedlich strukturiert, so dass sich nie ein Begriff unmittelbar und isoliert mit einem anderen Begriff aus einer anderen Theorie vergleichen lässt. Auch aus dieser Sicht ist es schwierig, eine neutrale Semantik für die Rekonstruktion von Theorien zu finden, die sich gleichermaßen zwanglos in die jeweiligen Semantiken der verglichenen Theorien ›übersetzen‹ lässt, also mit beiden Semantiken ›kommensurabel‹ ist. Die theorieimmanente Bedeutung eines Begriffes lässt sich ebenso schwer über die Grenzen der Theorie transportieren wie die exakte Bedeutung eines Wortes über die Grenze einer Sprache – auch wenn Wörterbücher und mitunter auch Theorievergleiche in der Praxis so verfahren, als wäre das mehr oder weniger problemlos möglich. Das freilich ist der pragmatischen Notwendigkeit geschuldet, Sprachen ineinander zu übersetzen und Theorien miteinander zu vergleichen – beide Absichten sind ja durchaus nachvollziehbar motiviert. Was aber motiviert den Vergleich von Theorien eigentlich? Hier dürfte wiederum die Unterscheidung von normativen und empirischen Forschungsinteressen weiterhelfen. Die Motivation für den Vergleich von primär empirischen Theorien besteht zum einen darin, den besten Erklärungsansatz auszuwählen – dies insbesondere mit Blick auf den empirischen Bewährungsgrad der Theorie –, und zum anderen darin, durch den Vergleich zu einer »Präzisierung, Modifikation und Synthese von Theorien« beizutragen (vgl. Salzborn 2010, 195). Er zielt also darauf ab, die optimale Erklärung aufzufinden, wobei die Kehrseite dieses Zieles ist, suboptimale Erklärungen auf vergleichender Basis kritisieren zu können. Hier spielen neben der empirischen Bewährung auch andere Aspekte

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wie Operationalisierbarkeit, aber auch Schlankheit und Reichweite der Theorie wesentliche Rollen. Hieran zeigt sich bereits, dass auch an dieser Stelle (normative Meta-)Theorien über Theorien wirksam sind, ein Vergleich von einem gänzlich neutralen Standort also nicht möglich ist. Die Motivation für den Vergleich von primär normativen Theorien ist in der Literatur ungleich weniger reflektiert worden. Zwei Aspekte scheinen hier im Vordergrund zu stehen, und beide zielen letztlich darauf, eine optimale Begründung aufzufinden und – wiederum als Kehrseite dieser Suchfunktion – suboptimale Begründungsversuche auf der Grundlage des Theorievergleichs kritisieren zu können: einerseits ein Vergleich der normativen Konsequenzen von Theorien, andererseits der Vergleich ihrer argumentativen Überzeugungskraft. Während der erste Aspekt wiederum nicht frei von normativen Vorentscheidungen zugänglich ist, setzt der zweite häufig einerseits an der theorieimmanenten Konsistenz und andererseits an der generellen Plausibilität der theoretischen Annahmen an, was ebenfalls wiederum metatheoretische Annahmen über Elaboriertheit bzw. Plausibilitätsstandards voraussetzt. Der Vergleich dient also wesentlich einer kritischen Auseinandersetzung mit empirischen und normativen Theorien sowie der Suche nach ›bestmöglichen‹ Theorien, wobei die Alternativtheorien mit ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit als Benchmark gelten können. Insgesamt gilt: Auch wenn weder die optimale Erklärung eines empirischen Phänomens noch die optimale Begründung eines Normensystems durch einen ›standortfreien‹ und damit neutralen Theorievergleich aufzufinden sind, leuchtet doch ein, dass beide Ziele sinnvoll nicht ohne Rückgriff auf Theorievergleiche zu erreichen sind. Vergleiche sind also den oben genannten Einschränkungen zum Trotz vielmehr unumgänglich, und sie sind legitim, weil sie ein systematisches Vorgehen anhand definierter Kriterien und eine methodische Umsetzung ermöglichen. Gleichwohl sollte umgekehrt nicht vergessen werden, dass es keinen neutralen, vortheoretischen Standpunkt gibt, was zu einer gewissen Demut im beliebten Feld der Theoriekritik veranlassen sollte.

7.2 Heuristik und Methodik des Theoriever­ gleichs Jede Heuristik des Vergleichs setzt bei der Frage nach den wesentlichen Gemeinsamkeiten und relevanten Unterschieden an. Diese Attribute sind durchaus be-

deutsam: Theorien können ja auch durch unwesentliche Gemeinsamkeiten ausgezeichnet sein – z. B., wenn die beiden Urheber von zwei zu vergleichenden Theorien identische Vornamen haben. Auch die Unterschiede können, müssen aber nicht relevant sein – so z. B., wenn unterschiedliche Begriffe in identischer Bedeutung verwendet werden. Wie lassen sich nun wesentliche Gemeinsamkeiten und relevante Unterschiede aufspüren – gibt es eine systematische Heuristik hierfür? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass wesentliche Gemeinsamkeiten und relevante Unterschiede von Theorien auf sehr unterschiedlichen Ebenen liegen können (vgl. auch Zapf 2013, 46 f.). Eine wesentliche Gemeinsamkeit von zwei Theorien könnte z. B. sein, dass sie beide aus dem gleichen Zeitraum stammen, von Vertretern einer intellektuellen Tradition aufgestellt wurden und aus zumindest ähnlichen sozialen Rahmenbedingungen hervorgingen, während die Theorien selbst zwar einen ähnlichen Themenbereich abdecken, ansonsten aber recht unterschiedlich sind. Man kann also zwischen den theoretischen Gehalten einerseits und ihren sozialen, wissenschaftlichen und politischen Randbedingungen sowie anderen theorieexternen Faktoren andererseits unterscheiden. Ähnlich wie in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung die Äquifinalität von Prozessen untersucht wird, kann hier nach der Konvergenz oder Divergenz von Theorieentwicklung gefragt werden. Wenn z. B. unterschiedliche soziale Kontexte ganz ähnliche Theorien hervorbringen, dann wäre das ein Beispiel für Konvergenz. Würde demgegenüber eine intellektuelle Tradition unterschiedliche Theorien zeitigen, würde das auf Divergenz hinweisen. Auch wenn das in dieser Form trivial klingt, erweisen sich solche Fragen in konkreten wissenschaftlichen Auseinandersetzung als hochgradig spannend und politisiert – so etwa, wenn pauschal unterstellt wird, Vertreter einer bestimmten intellektuellen Richtung, Schule, Religion oder Partei müssten zwangsläufig auch über weitgehend identische (und folglich allesamt abzulehnende) Theorien verfügen. Ein Beispiel hierfür liefern die politischen Theorien islamischer (oder, je nach Debatte sogar: islamistischer) Denker – hier wird intensiv diskutiert, ob sie in hinreichendem Maß relevante Unterschiede etwa im Bereich der Rechtfertigung von Menschenrechten enthalten, um eine nennenswerte theoretische Divergenz dieser religiösen bzw. intellektuellen Strömung diagnostizieren zu können. Eine Heuristik von wesentlichen Gemeinsamkeiten und relevanten Unterschieden wird also sowohl

7 Theorienvergleich

den theoretischen Gehalt wie auch außertheoretische Faktoren berücksichtigen, wobei diese grundlegenden Aspekte je nach Forschungsinteresse herangezogen werden. Heuristische Teilelemente dieser beiden Bereiche wurden bereits genannt: Theorieimmanent finden sich erkenntnistheoretische Grundlagen, zentrale Begriffe, Hypothesen und Argumente, empirische Basis, Aussagenhierarchie und Theoriearchitektur sowie spezifische Antworten auf konkrete Fragen wie die theoretische Einordnung und semantische Verortung (›Framing‹) empirischer Phänomene, die normative Bewertung von Handlungen oder die Motivation von moralischem Handeln als Ausgangspunkte für die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Theorieextern werden sie ergänzt durch soziale Randbedingungen wie gesellschaftliche/politische Situation, wissenschaftliche Paradigmen, intellektuelle Traditionen, Einflussgrößen wie Religionen, Ideologien, sozioökonomischer Status/Klassenzugehörigkeit sowie durch von der Theorie selbst ermöglichte gesellschaftliche (und damit theorieexterne) Effekte wie z. B. die Wirkung der Theorie auf bestimmte Gruppen, die Umsetzung einer Theorie in politische Programmatik oder die Häufigkeit theoriespezifischer Semantiken im öffentlichen Diskurs etc. Eine solche Heuristik sollte jedoch keinesfalls als starres Raster verstanden werden, aus dem sich ein Vergleich ›nach Schema F‹ gewinnen ließe – zu unterschiedlich ist die Bauart vieler Theorien, und daher sind die Gräben, die durch Theorierekonstruktion von Fall zu Fall überbrückt werden müssen, mitunter größer als es der erwartete Erkenntnisgewinn rechtfertigen kann. Die Sinnhaftigkeit und Überzeugungskraft eines Vergleichs steht und fällt darum mit der klugen Wahl einer passenden Vergleichsperspektive. In einem weiteren Schritt ist es für eine Heuristik des Theorievergleichs wesentlich, sich über die Anzahl der Vergleichsgesichtspunkte und ihren jeweiligen Charakter klar zu werden. Im einfachsten Fall werden Theorien nur unter einem Gesichtspunkt miteinander verglichen, komplexere Vergleiche integrieren mehrere Gesichtspunkte. Dabei ist zu beachten, dass komplexere Vergleiche tatsächlich im engeren Sinne auf eine Integration der Vergleichsgesichtspunkte angewiesen sind – es muss hier also eine Leitfrage im Sinne eines zentralen Vergleichsgesichtspunktes geben, die den Vergleich motiviert und die unterschiedlichen Gesichtspunkte zusammenhält. In jedem Fall stellt sich die Frage, ob ein Gesichtspunkt nur dichotome Ausprägungen hat oder mehr als zwei Ausprägungen annehmen kann. Je nach Operationalisie-

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rung des Gesichtspunktes muss er jedoch nicht notwendig kategorial sein, sondern könnte sogar als metrisches Merkmal auftreten – so zum Beispiel, wenn bei zwei Theorien ermittelt wird, wie viel Prozent der jeweils vorkommenden Argumente religiöser Natur sind. Damit wird deutlich, dass der Vergleich von Theorien wie eingangs bereits bemerkt nicht schon für sich genommen eine eigenständige Methode ist. Unterschiedliche methodische Zugänge bieten sich hier je nach Fragestellung an – von einfacher benevolenter Interpretation bis zur Tiefenhermeneutik, vom Wörterzählen bis zur Codierung von Argumenten, von oberflächlichen textimmanenten Begriffsdefinitionen bis hin zu kontextsensitiven Begriffsanalysen. Die Wahl der Methode hängt dabei nicht zuletzt von der Anzahl der verglichenen Theorien ab. Für zwei oder drei Theorien stellt die Hermeneutik als ›weiche‹ Methode noch ausreichende Sicherheit bereit, je größer die Zahl verglichener Theorien wird, desto entscheidender werden zum einen harte, intersubjektiv leicht nachvollziehbare Kriterienraster und Operationalisierungsmethoden und zum anderen die Arbeitsökonomie des gewählten Ansatzes. Auch die Flexibilität des Forschungsdesigns unterscheidet sich erheblich: Wenn mehr als drei Theorien miteinander verglichen werden, ist die Flexibilität mit zunehmender Theorieanzahl immer geringer, es sollte also so weit wie möglich vorab geklärt werden, welche Vergleichsgesichtspunkte relevant sind und ob die gewählte Operationalisierung tragfähig ist. Der Vergleich von zwei oder drei Theorien wird häufig Punkt für Punkt durchgeführt, wobei relevante Vergleichsgesichtspunkte oft erst im Zuge der vertieften Auseinandersetzung mit den Theorien auftauchen und gerade nicht von vornherein offensichtlich sind, weshalb es mitunter schwerfällt, sie initial im Forschungsdesign zu berücksichtigen. Umso wichtiger ist es, sie im Verlauf der Untersuchung in die existierende Vergleichssystematik zu integrieren und die Stimmigkeit mit der Leitfrage bzw. dem zentralen Vergleichsgesichtspunkt zu überprüfen. Wenn mehr als drei Theorien miteinander verglichen werden sollen, ist die Kombination von zwei Vergleichsgesichtspunkten besonders aufschlussreich (sollten an der Sinnhaftigkeit einer solchen Perspektive grundlegende Zweifel aufkommen, sei an dieser Stelle auf die oben getroffene Entscheidung verwiesen, einen sehr breiten Theoriebegriff zugrundezulegen, weshalb hier auch politische Programme etc. subsumiert werden könnten). Hier ließe sich an eine Vierfelder-Matrix denken, wobei je nach Operationalisierung des Ver-

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

gleichsgesichtspunktes die Achsen dieser Matrix nicht dichotom strukturiert sein müssen, sondern auch stetig skaliert sein können – in diesem Fall würde es sich also um ein Streudiagramm handeln. Um bei dem oben genannten Beispiel zu bleiben, könnte bei so einem Streudiagramm auf der einen Achse der Grad der Bejahung oder Verneinung der in der UN-Charta niedergelegten Menschenrechte abgetragen werden, auf der anderen Achse dagegen der Grad an religiösen vs. nicht-religiösen Argumenten. Bei dieser Art der Darstellung würde eine einzelne Theorie als Punkt auftauchen. Wenn auf diesem Wege mehrere Theorien mit bestimmten Eigenschaften verglichen werden, könnte es sein, dass eine Punktwolke entsteht, oder dass sie zufällig im Raum verteilt sind etc. Wenn auf diesem Weg eine repräsentative Anzahl von Theorien untersucht wird, kann dadurch die Empirisierung in der Erforschung normativer Theorien vorangetrieben werden. Eine solche Vierfelder-Kombination von Vergleichsgesichtspunkten kann unter Umständen aber auch schon allein dadurch aufschlussreich sein, dass sie zu der Überlegung anregt, ob es logisch überhaupt möglich (oder: empirisch überhaupt erwartbar) ist, dass alle Quadranten gefüllt sind. Abschließend noch ein Wort zum Vergleich als Mittel der Darstellung: Nicht selten werden verglei-

chende Kontrastierungen vorgenommen in der Absicht, die im Zentrum der Darstellung stehende Theorie möglichst deutlich hervortreten zu lassen. Dafür bietet es sich an, sie mit Alternativtheorien zu konfrontieren. Solche Vergleiche sind dann oft eher punktueller Natur, und sofern der Vergleich vor allem als Mittel zur Darstellung herangezogen wird, ist gegen eine nur schwach ausgeprägte Vergleichssystematik und rudimentär erklärte Vergleichsmethoden wenig einzuwenden. Zweifelhaft werden solche Unterfangen allerdings, wenn Alternativtheorien als prekäre ›Theoriepopanze‹ präsentiert werden, deren einziger Zweck es ist, die favorisierte Theorie in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Diese Strategie fällt in der Regel auf den Anwender zurück und diskreditiert den Versuch eher, als ihm zu nutzen. Literatur

Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 2007. Salzborn, Samuel: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt a. M. u. a. 2010. Zapf, Holger: Methoden der Politischen Theorie. Eine Einführung. Opladen u. a. 2013.

Holger Zapf

8  Historischer Kontextualismus (Cambridge School)

8 Historischer Kontextualismus (Cambridge School) Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der politischen Ideen bediente sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für gewöhnlich einer bemerkenswert unhistorischen Herangehensweise: Klassische, als kanonisch betrachtete Texte von Platon, Machiavelli, Hobbes oder Rousseau wurden bis dahin entsprechend auf ihren überhistorischen Gehalt bzw. ihren internen Zusammenhang hin befragt, d. h. auf die angeblich zeitlosen politischen Probleme, die jene Werke thematisierten, die allgemeinen Einsichten, die die genannten Autoren darin präsentierten, sowie nicht zuletzt die Lösungsvorschläge, die sie ihrem Publikum unterbreiteten. Erkenntnisinteresse und Methodik des historischen Kontextualismus richten ihren Fokus hingegen auf das exakte geschichtlichpolitische Umfeld, aus denen heraus bspw. die Politeia, der Leviathan oder der Contrat social entstanden sind. Auf Basis der Rekonstruktion von intellektuellen Quellen und Diskursen, die den Gedankengang einschlägiger Autorinnen und Autoren maßgeblich prägten, bzw. auch der Verortung ihrer Stellungnahmen innerhalb der damals stattfindenden realen Debatten und Auseinandersetzungen, will der historische Kontextualismus das direkte ›Gespräch‹ mit den ›Granden‹ der Ideengeschichte kappen und stattdessen die geschichtlichen Situationen analysieren, die Klassiker der Politikwissenschaft von Aristoteles bis Hannah Arendt erst jeweils zu ihren Aussagen und Theorien motivierten. Ein entscheidender Impuls, die Genese und Formulierung politischer Ideen aus ihrem historischen Kontext heraus verstehen zu wollen, ging von Peter Lasletts Neuausgabe der Two Treatises of Government (1960) aus. Anhand von Archivmaterial, unveröffentlichten Manuskripten sowie der (wiederentdeckten) Bibliothek Lockes konnte Laslett nicht nur überzeugend belegen, dass der Großteil der beiden 1689 erschienenen Abhandlungen über die Regierung bereits 1679/80 verfasst wurde, sondern auch, wie entscheidend jener historische ›Fakt‹ für die Absichten des Textes selbst war. So seien die Two Treatises mitnichten als nachträgliche Rechtfertigung der Glorious Revolution (1688) bzw. der Implementierung einer auf Parlamentarismus und Gewaltenteilung fußenden Verfassung zu interpretieren (wie Locke im Vorwort von 1689 selbst suggeriert), sondern vielmehr als bewusster Versuch, während der sogenann-

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ten ›Exclusion Crisis‹ (1679–1681) Argumente für den Ausschluss des zum Katholizismus konvertierten James, Duke of York von der Thronfolge in England, Schottland und Irland bereitzustellen. Die von Laslett offerierte erkenntnisleitende Präzision moderner historiografischer Methoden übte im Anschluss großen Einfluss auf die Auffassung der Ideengeschichte durch die Cambridge School of Intellectual History aus, wie sie vor allem Quentin Skinner entwickelte. Ein weiteres Vorbild fand Skinner in der historistischen Position Robin G. Collingwoods, der bezweckte, historische Erkenntnis über den kontextualisierenden Nachvollzug von in der Vergangenheit gedachten Gedanken (Reenactment) zu erreichen. Dem Beispiel Collingwoods folgend, deutete Skinner die klassischen Texte aus dem Archiv der Geschichte des politischen Denkens mithin als dezidierte Antworten auf spezifische Herausforderungen, wie sie infolge konkreter historischer Ereignisse und Zusammenhänge aufgetreten waren.

8.1 Was ist historischer Kontextualismus? Das Anliegen, ideengeschichtliche Texte im historischen und diskursiven Kontext ihrer Entstehung zu situieren und dadurch im hermeneutischen Sinn ›verstehbar‹ zu machen, korrespondiert mit diversen epistemologischen Prämissen und (Vor-)Überlegungen. Zunächst spiegeln sich darin einige Grundansprüche des modernen Historismus wider, was wissenschaftliche Standards in der Analyse textueller Quellen anbetrifft. In proklamierter Abgrenzung zu jeder Art der geschichtsphilosophischen Metaphysik bedeutet es die Zielvorstellung eines solchen Historismus, die Verschiedenartigkeit und Partikularität seiner Untersuchungsgegenstände auf Basis systematischer, quellenkritischer Methoden so zu beschreiben, wie sie – als Epochen, Ereignisse oder Handlungen – ›objektiv‹ stattgefunden haben bzw. wie sie als Gedanken und Ideen mit einer bestimmten Intention der Autorin/des Autors in schriftlichen Werken niedergelegt wurden. Im Hinblick auf den Bereich der Geschichte des politischen Denkens werden die dort versammelten ›Ideen‹ folgerichtig nicht zuvorderst als kognitive Kategorien aufgefasst, sondern vielmehr als praktische Komponenten konkreter Kommunikationsprozesse und somit als soziale Handlungen. Zugleich reagiert der historische Kontextualismus auf die Entwicklungen in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts, welche unter dem Begriff linguistic turn und der hiervon an-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_8

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

gezeigten sprachlichen Strukturiertheit aller menschlichen Erkenntnis zu subsumieren sind. Dem allgemeinen Ziel, die sprachlichen Vermittlungsformen im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften genauer in den Blick zu nehmen, verschreibt sich die historische Kontextualisierung auf charakteristische Weise, indem sie in Anlehnung an Ferdinand de Saussures Linguistik bzw. der Sprechakttheorie von John L. Austin und John Searle die innerhalb eines sozialen Systems bereitgestellten semantischen Möglichkeiten (langue) rekonstruiert, aus denen ein bestimmter Autor/eine Autorin ihre individuellen Sprechakte (paroles) zu schöpfen vermögen. Die Kontextualisierung von politischen/politiktheoretischen Aussagen und Ideen verlangt es demzufolge, letztere als sprachliche Äußerungen zu betrachten, die von bestimmten Subjekten und Akteuren in einer konkreten historischen Situation getätigt wurden und die deswegen einzig aus diesem ›Kontext‹ heraus einsehbar sind. Schließlich knüpft der historische Kontextualismus auch an Thomas S. Kuhns Structure of Scientific Revolutions (1962) und die Bedeutung gedanklicher und theoriengeschichtlicher Paradigmenwechsel an, indem er bemüht ist, Veränderungen und Diskontinuitäten im Rahmen der Entwicklung von politischen Ideen zu identifizieren sowie dem sprachlichen und begrifflichen Wandel in der Artikulation entsprechender Gedankengebäude nachzuspüren. Aus den skizzierten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Ingredienzien des historischen Kontextualismus ergibt sich ein Grundverständnis der Materie des politischen Denkens, das es der Praxis des historischen Forschens nicht länger erlaubt, die Klassiker der Ideengeschichte als überzeitliche Autoritäten anzusehen, die zu ihren Lebzeiten bereits Fragen gestellt und Antworten lanciert haben, die für die Gegenwart des Politischen und das Verständnis ihrer Grundlagen und Zusammenhänge von entscheidender Bedeutung wären. Peter Laslett (1956, VII) erklärte deshalb die normativ ausgerichtete politische Philosophie der Tradition nonchalant für »tot«. Denn anstatt aus dem breiten Fundus der Ideengeschichte ›ewig‹ gültige Werte und Einsichten ableiten zu können, müsse man, um politische Ideen zu durchschauen, nicht nur ihre Vor- und Wirkungsgeschichte erforschen, sondern sie insgesamt in den Rahmen der politischen und sozialen Kontexte bzw. auch der diskursiven Strategien einbetten, in denen sie sich einst herausgebildet hatten. Ändern sich diese Kontexte, ändert sich mit ihnen auch der Sprachgebrauch der Begriffe, die sich bis dato imstande zeigten, die soziale

Realität semantisch einzukleiden und zu erfassen oder aber es entstehen neue Sprachen und Begriffe, die diese Funktion übernehmen können. Umgekehrt würde gemäß den Annahmen des historischen Kontextualismus in der politischen Ideengeschichte aus Paradigmenwechseln innerhalb der sprachlichen Welt ebenso die Wahrscheinlichkeit von politischen Revolutionen steigen, sofern es den herrschenden »Machtstrukturen« (power-structures) nicht gelingt, ihr Überleben durch erfolgreiche Änderung ihrer »Sprache« (idiom) abzusichern (Pocock 1972, 19). Die Applikation der epistemologischen Prämissen und Methoden des historischen Kontextualismus konvergiert einerseits mit einem Verständnis der politischen Ideengeschichte als Abfolge von sich wandelnden »Geweben politischer Diskurse« (Llanque 2008) und fördert andererseits zugleich eine genealogisch-begriffsgeschichtliche Perspektive (Koselleck 1979). Die Herausbildung politischer Theorien und Ideen wird dabei als in einer Weise von den jeweils tradierten Kontexten geprägt gedacht, die sowohl den Theoretiker/die Theoretikerin als auch die von ihnen benutzten Begriffe und Gedanken als Produkt sozialgeschichtlicher Prozesse auffasst. Jene Sichtweise lädt im Folgenden nicht nur zu einer synchronen wie diachronen Komparatistik ein, sondern ebenso zur Wahrnehmung eines Konkurrenzverhältnisses zwischen politischen Ideen im Sinne eines unendlichen »Kampfes« (Salzborn 2015). Denn sobald den Klassikern des politischen Denkens keine höhere normative oder moralische Instanz mehr konzediert wird, richtet sich der erkenntnisleitende Fokus unweigerlich darauf, welche politischen Theorien und Leitideen sich unter bestimmten geschichtlichen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen faktisch gebildet und wenigstens vorläufig gegenüber konkurrierenden Antworten und Deutungsangeboten durchgesetzt haben. Zentral für den historischen Kontextualismus sind überdies die Überlegungen von Leo Strauss, dass klassische Denker wie Machiavelli, Hobbes oder Rousseau ihre Gedanken nicht einfach offen in ihren Schriften geäußert haben, sondern aufgrund faktischer oder drohender Verfolgung stets Rücksichten auf das seinerzeit ›Sagbare‹ nehmen mussten. Der Nexus zwischen Persecution and the Art of Writing ermahnt insofern nach Straussʼ gleichnamiger Schrift von 1952 dazu, eine Unterscheidung von esoterischer und exoterischer Lesart politischer Texte und Ideen vorzunehmen, um die wirklichen Absichten eines Autors/einer Autorin von einer rein wörtlichen Auslegung des Geschriebenen zu dispensieren.

8  Historischer Kontextualismus (Cambridge School)

Als federführend im Hinblick auf die Etablierung des historischen Kontextualismus innerhalb der politischen Ideengeschichte aber können zweifellos Namen wie Quentin Skinner oder John G. A. Pocock gelten, die als Initiatoren und Begründer der Cambridge School of Intellectual History sowie der von ihr verantworteten Buchreihe Ideas in Context wesentlich dazu beitrugen, dass sich die hier angeführten epistemologischen Prämissen und Methoden in den angelsächsischen Ländern spätestens seit den 1980er Jahren »gleichsam zur ideengeschichtlichen Orthodoxie« (Mulsow/Mahler 2010, 8) aufschwangen. Im deutschsprachigen Raum dominieren diesbezüglich hingegen eher die begriffsgeschichtlichen Ansätze von Reinhart Koselleck (zum Strukturwandel der politisch-sozialen Sprache) über die nach Joachim Ritter benannte Ritter-Schule bis hin zur Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, die – zumindest bis zum einem gewissen Grad – ebenfalls dem begriffsgeschichtlichen Paradigma verpflichtet ist.

8.2 Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte Die Cambridge School, zu der neben Skinner und Pocock weitere Ideenhistoriker wie John Dunn, Richard Tuck, James Tully oder Anthony Pagden zu zählen sind (die seit den 1960er Jahren zumindest zeitweilig in Cambridge gelehrt haben), sieht sich ihrem von Skinner (2010, 81 f.) artikulierten Selbstverständnis nach bei der Analyse politischer Texte mit einer »grundlegenden Aufgabenstellung« konfrontiert, nämlich »herauszufinden, was ein Autor zu der Zeit, in der er schrieb, dem Publikum, das er ansprechen wollte, durch das Machen der Äußerung tatsächlich mitzuteilen beabsichtigte«. Für diese Form der historischen Kontextualisierung, welche die originäre Intention von Autoren eruiert, indem sie deren Werke durch Bestimmung zugrundeliegender sprachlicher Prinzipien und ideologischer Subtexte in ihre geistige Entstehungswelt einbettet, ist es offenkundig nötig, die »Bandbreite der möglichen Kommunikationen« im seinerzeit gegebenen »Rahmen der Konventionen« zu berücksichtigen, um dadurch den Text erst in seinen »weiteren sprachlichen Kontext« übersetzen zu können. Wie Skinner (2008, ix–xi) im Vorwort der 1978 erschienenen Foundations of Modern Political Thought anmerkt, konzentriert sich die von ihm selbst praktizierte historisch kontextualisierende Methode der Interpretation politischer Texte dabei vor allem

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auf Denker des Spätmittelalters, der Renaissance und der frühen Neuzeit. An diesen Diskursen lasse sich nämlich die sukzessive Formierung des modernen, legalistischen Staatsdenkens vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen demonstrieren, wie sie sich zunächst in Italien (Dante, Marsilius, Machiavelli, Guicciardini) und später in den Niederlanden (Erasmus), England (Morus), Deutschland (Luther), der Schweiz (Calvin), Spanien (Vitoria, Suárez) oder Frankreich (Beza, Mornay, Bodin) abspielten. Dazu passend hatte Pococks Studie The Machiavellian Moment (1975) die These aufgestellt, dass die »atlantische« Tradition des Republikanismus (Harrington, Milton, Montesquieu), die den modernen politischen Revolutionen in England und Amerika vorausging, auf ein paradigmatisches Erbe zurückgriff, das sich zuvor im politischen Diskurs der Stadt Florenz zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert herauskristallisiert hatte und das auf Selbstbestimmung des eigenen politischen ›Schicksals‹ pochte. Dazu steckte Pocock – seiner eigenen programmatischen Schrift Politics, Language, and Time (1972) folgend – akribisch das linguistische Universum ab, in dem sich die politische Sprache der Florentiner seinerzeit entwickelt hatte, wobei die (wiederentdeckten) Schriften des Aristoteles, der christliche Humanismus sowie das historische Vorbild der römischen Republik bzw. der ›Mythos‹ republikanischer Praxis in Venedig die wichtigsten intellektuellen Zutaten markierten. In seiner methodisch-praktischen Ausrichtung fokussiert sich Pocock (2010, 129 f.) auf den affektiven und effektiven Gehalt der sprachlichen Formen der von ihm untersuchten politischen Diskurse, die er aus den überlieferten Texten herausschält, d. h. auf die »Idiome, rhetorischen Verfahren, Formen politischer Rede [...], Sprachspiele, die jeweils über ihr eigenes Vokabular verfügen können, ihre Regeln, Vorbedingungen und Implikationen, ihren Ton und Stil«. Das Metier der politischen Ideengeschichte erfordert vom Historiker/von der Historikerin folgerichtig ein regelrechtes Erlernen einschlägiger »Sprachen« und »Paradigmen«. Solches Erlernen wird mit dem Ziel unternommen, den jeweiligen sprachlichen Kontext wieder präsent zu machen, in dem »der Diskurs vergangener Zeiten geführt worden ist«. Infolge des permanenten Vergleichs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, dem Nachzeichnen sprachlicher Wandlungen und Entwicklungsgänge, wachse schließlich auch das Verständnis für die Politik der Sprache selbst (ebd., 131 f., 134). An dieser Stelle werden einige gravierende Unter-

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

schiede zwischen Skinner und Pocock transparent. So übersteigt Pococks Beschäftigung mit den politischen Sprachwelten deutlich den Zweck, bestimmte Autorenintentionen einzuholen oder auch nur einen konkreten politischen Diskurs zu rekapitulieren. Wenn Pocock die Absicht einer konkreten Wortwahl mithilfe der Einsicht in die Konventionen und Regeln des zugrundeliegenden politischen Vokabulars herausfiltern will, dann beschränkt sich sein Erkenntnisinteresse nicht darauf, die Bedeutung eines historischen Ausdrucks qua Kontextualisierung zu erschließen, sondern gilt vor allem den Grundlagen und Wirkungsweisen der politischen Sprache als solcher. Deshalb differenziert Pocock (1985, 1 f.) auch viel grundsätzlicher als Skinner zwischen der autorenzentrierten politischen Ideengeschichte der Tradition und einer Geschichte von politischen Diskursen und Paradigmen, die nicht zuletzt von einer bleibenden Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der einschlägigen politischen Texte geprägt ist (ebd., 30; Pocock 1972, 23 f.). In Treue zur linguistischen Verfasstheit der Geschichte proklamiert Pocock (1972, 25) letztendlich sogar einen »Vorrang« (precedence) der Paradigmen, mit denen ein Autor/eine Autorin operiert, vor allen Fragen nach der »Intention« oder »Illokution« (illocutionary force) einer getätigten sprachlichen Äußerung. Sein Ansatz beinhaltet insofern eine nachhaltige Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte politischer Ideen und Konzepte, als Pococks Art der sprachlichen Paradigmenbestimmung zugleich Implikationen von Texten zum Vorschein bringen will, die erst deutlich nach ihrer Entstehungszeit in späteren Epochen »sichtbar« (visible) wurden (ebd., 33 f.). Mit anderen Worten, der Interpret ideengeschichtlicher Texte macht ebenso Aspekte explizit, die in einem fraglichen Text zwar implizit angelegt waren, die dem eigentlichen Autor/der Autorin dieses Textes, der/die das eigene Sprachparadigma jeweils nur unvollständig zu durchdringen vermochte, gar nicht bewusst sein konnten und die erst dadurch zum Vorschein kamen, dass Rezipienten jene Implikationen später herauslasen oder sie infolge einer Paradigmenveränderung offenkundig wurden. Indem jedoch beide genannten Fälle ihrerseits Gegenstände der historischen Kontextualisierung von Texten bezeichnen, ist der historische Interpret von ideengeschichtlichen Texten bei Pocock seinerseits untrennbarer Teil der Geschichte politischer Diskurse. Anstatt also wie Skinner, dessen historistische Position sich programmatisch als Forderung eines Return of Grand Theory in the Human Sciences (1985) zu

erkennen gibt, vom Interpreten politischer Ideen zuallererst eine neutrale, objektive Rekonstruktion des Autorwillens zu verlangen, registriert die von Pocock vertretene Linie der Cambridge School of Intellectual History stärker, dass die Interpretation der politischen Sprachen der Vergangenheit ihrerseits unweigerlich einen auch politischen Vorgang meint. Was für die Autorinnen/die Autoren eines ideengeschichtlichen Textes zutrifft, die nach Pocock (1985, 5, 25) keineswegs zum »bloßen Sprachrohr« (mere mouthpiece) des jeweils dominierenden linguistischen Paradigmas degradiert werden, sondern in kreativer Vermittlung der Sprache aktiv und mit politischen Zielvorstellungen in das Diskursgeschehen eingreifen, gilt ebenso für die Interpreten, die – nach Pococks Auffassung – prozedural und performativ schon allein dann ideologisch liberal eingefärbte Geschichte schreiben, wenn sie die Rolle des handelnden und sprechenden Subjekts darin nicht unterschätzen (ebd., 34). Gemeinsam mit Skinner, der vor allem in seinen späteren Schriften wie den Visions of Politics (2002) den allgemeinen strategischrhetorischen Grundcharakter von politischen Ideen und Theorien offenlegt, beinhaltet Pococks Position infolgedessen eine klare Antithese zu Foucaults Archéologie du savoir (1969), die im Diskurs eben kein Phänomen des Ausdrucks bzw. der Manifestation politischer Positionen denkender und sprachlich handelnder Subjekte vermutet und darum die Instanz des schöpferischen Subjekts im Namen einer systematischen Beschreibung von Diskursen als ›Objekte‹ zu eliminieren trachtet.

8.3 Kritik und Würdigung Die diversen Ansätze des historischen Kontextualismus liefern einen wichtigen Beitrag zur methodologischen Klärung der Erforschung politischer Ideen sowie des epistemologischen Status politischer Theorien. Als Metatheorie der politischen Ideengeschichte sind dabei insbesondere die Einsichten und Ansprüche der Cambridge School ebenso als Grundlage für eine Gesellschaftstheorie lesbar (Rosa 1994). Bevorzugt die Perspektiven Skinners und Kosellecks kulminieren zudem in einer Art der kritischen Begriffsgeschichte, die sich jenseits überhistorischer Wahrheiten formiert (Palonen 2004), wenngleich gerade Skinners Position aufgrund ihrer stellenweisen überambitionierten Reanimation des Weberschen Objektivitätspostulats starken Gegenwind entfachte (Tully 1988). Kritisch kommentiert wurde überdies, dass die Anstöße Pococks

8  Historischer Kontextualismus (Cambridge School)

und Skinners nicht nur zu heterogen seien, um sie einer einheitlichen wissenschaftlichen Schule zuordnen zu können, sondern in ihrem einseitigen Fokus auf die Rekonstruktion historischer Diskurse, Kontexte und Zusammenhänge für die traditionellen normativen Anliegen der Subdisziplin Politische Philosophie und Ideengeschichte letztlich eine Art trojanisches Pferd bedeuten (Bevir 2009). Dem wenigstens partiell zur Schau gestellten Interessensverlust an den eigentlich inhaltlich-semantischen Aussagen der Klassiker der politischen Ideengeschichte (White 1987) ist von Olaf Asbach (2002, 655–658) sogar ein doppelter Reduktionismus attestiert worden: So entwerte die Zwei-Fronten-Stellung gegen idealistische und wissenssoziologische Zugriffe zur Ideengeschichte den Gegenstand politischer Theorien und Ideen nicht nur als »bloße Elemente historisch spezifischer Sprechakte« bzw. als »taktische oder strategische Manöver innerhalb gesellschaftlich herrschender Vokabulare und Ideologien«, sondern lasse in ihrer Methodik entweder die weniger rekonstruierten als ›atomisierten‹ Diskurse unvermittelt nebeneinander stehen (Skinner) oder aber hypostasiere die als erkenntniskonstitutiv veranschlagten Paradigmen letzten Endes zu Entitäten, die ihre historischen Entstehungsbedingungen eher systematisch verdecken denn erklären (Pocock). Hinzu kommt, dass sich der historische Kontextualismus den ethischen Relativismus einzukaufen droht, der jedem (strengen) Historismus inhärent ist, einmal ganz abgesehen davon, dass der eigene geschichtliche und sprachliche Kontext der Interpreten deren Interpretationen auf eine Weise prägen, die jeder ›neutralen‹ Erfassung des sprachlichen Diskurses einer bestimmten historischen Epoche von vornherein zuwiderläuft. Eine schwerwiegende Hypothek für das Grundanliegen des historischen Kontextualismus, die ›ursprüngliche‹ Bedeutung eines Textes ausgehend von seiner diskursiven Entstehungssituation zu eruieren, stellt schließlich auch die Einsicht dar, die bereits mit Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960) assoziiert wird: dass jede Textinterpretation nicht unabhängig von den subjektiven Vorurteilen der Interpreten erfolgt. Wenn daher die sprachanalytischen Zugänge der Cambridge School oder anderer Vertreter des Kontextualismus mit einigem Recht bestreiten, »›zeitlose Elemente‹ in Form ›universaler Ideen‹ oder sogar ›überzeitliche Weisheiten‹ von ›universaler Anwendungsmöglichkeit‹« aus den überlieferten Texten herausdestillieren zu können (Skinner 2010, 22 f.), dann ist damit – entgegen der expliziten Überzeugung Skinners (2008, xi) – keineswegs ausgemacht, die po-

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litische Ideengeschichte im Gegenzug als rein historische Disziplin erfassen zu können. Stattdessen hat sich jeder Interpret und jede Interpretin zu vergegenwärtigen, dass die produktive Beschäftigung mit dem Archiv historisch-politischer Texte jenseits überzeitlicher Wahrheitsansprüche und komplementär zu einer ggf. qua kontextualisierender Methode erschließbaren ursprünglichen (Sinn-)Bedeutung von Texten desgleichen darin besteht, letztere ebenso einer aktualisierenden Betrachtung zu unterziehen (Hidalgo/ Höntzsch/Salzborn 2012). Anders ausgedrückt, ohne eine ›Rekontextualisierung‹ der in jedem ideenhistorischen Text vorhandenen normativen Appellstrukturen und deren Anwendung auf immer wieder neue zeitliche Kontexte bliebe jeder Kontextualismus am Ende unvollständig. Literatur

Asbach, Olaf: Von der Geschichte politischer Ideen zur ›History of Political Discourse‹? Skinner, Pocock und die ›Cambridge School‹. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12/2 (2002), 637–667. Bevir, Mark: Contextualism: From Modernist Method to Post-analytic Historicism? In: Journal of the Philosophy of History 3 (2009), 211–224. Hidalgo, Oliver/Höntzsch, Frauke/Salzborn, Samuel: Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft. In: Jahrbuch Politisches Denken 22 (2012), 175–200. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979. Laslett, Peter (Hg.): Philosophy, Politics and Society. A Collection. Oxford/New York 1956. Llanque, Marcus: Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse. München/Wien 2008. Mulsow, Martin/Mahler, Andreas (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 2010. Palonen, Kari: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben politischer Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck. Münster 2004. Pocock, John G. A.: Politics, Language, and Time. London 1972. Pocock, John G. A.: Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. Cambridge 1985. Pocock, John G. A.: Der Begriff einer ›Sprache‹ und das métier d’historien. Einige Überlegungen zur Praxis. In: Mulsow, Martin/Mahler, Andreas (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 2010, 127–152. Rosa, Hartmut: Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der Cambridge School zur Metatheorie. In: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), 197–223. Salzborn, Samuel: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext. Baden-Baden 2015. Skinner, Quentin: The Foundations of Modern Political Thought. Bd. 1: The Renaissance. Cambridge 2008.

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

Skinner, Quentin: Bedeutung und Verstehen der Ideengeschichte. In: Mulsow, Martin/Mahler, Andreas (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 2010, 21–87. Tully, James (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics. Cambridge 1988.

White, Hayden: The Context in the Text. Method and Ideology in Intellectual History. In: Ders.: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore 1987, 185–213.

Oliver Hidalgo

9  Politische Kulturforschung

9 Politische Kulturforschung Im Zusammenhang von zeitgenössischer Diskursund Wirkmächtigkeit politischer Theorien und ihrer fortwährenden Nutzung auch nach Überschreiten ihres unmittelbaren gesellschaftlichen Zenits liegt eine verdoppelte methodische Herausforderung der Erforschung von politischen Ideen. Die Relevanz der Auseinandersetzung mit politischen Theorien stellt sich deshalb in doppelter Hinsicht, weil es zugleich darum geht, einen methodischen Zugang sowohl mit Blick auf den historischen Standort von Theorien als abstrakte Versuche, Politik und Gesellschaft zu analysieren bzw. zu interpretieren, zu entwickeln, wie auch darum, die (instrumentelle) Nutzung von historischen Theorien für gegenwärtige Politik methodisch greifbar zu machen. Udo Bermbach (1981, 1984) hat für diesen Ansatz einer gesellschaftstheoretisch und sozialhistorisch reflektierenden Theorieanalyse den Begriff der Theoriengeschichte vorgeschlagen, der im Unterschied zum Begriff der Ideengeschichte weniger die vermeintliche Genialität einzelner Personen (»großer Männer«) und ihrer scheinbar kontextlosen »Ideen« in den Mittelpunkt rückt, sondern die historische Kontextgebundenheit von Theorieentwicklung betont und dafür plädiert, die Auseinandersetzung mit historisch-politischen Theorien – wie Gesine Schwan (2010) argumentiert hat – auch im Sinne der politischen Kulturforschung nach ihren sozialen Kontextbedingungen zu befragen. Der traditionelle Gegenstand der historisch-politischen Theorieanalyse ist der Text (s. zur Bildanalyse Hofmann 1999) – doch lässt sich mehr an Erkenntnis über Gesellschaft und Politik gewinnen, als der Text es vordergründig als zunächst lediglich beschreibende und analysierende Sprachform zulässt? Die These im Kontext der politischen Kulturforschung ist, dass der Text als Medium ein immenses Erkenntnispotenzial für die Analyse von Politik und Gesellschaft inkorporiert und die Auseinandersetzung mit politischen Theorien als Texte sowohl mit Blick auf die historische, wie die gegenwärtige Dimension gesellschaftliche und politische Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstehbar werden lässt.

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9.1 Politische Kultur und politische ­ Theorien Die politische Kulturforschung ist ein methodischer Zugang, der um eine möglichst weitreichende Kontextualisierung der Entstehung und Wirkung von politischen Theorien bemüht ist und zwar sowohl in hermeneutischer und diskursiver Hinsicht, wie in ideologiekritischer Absicht und mit dem Versuch der Anwendung sowohl auf politische Theorien selbst, wie deren Rezeption in späteren bzw. gegenwärtigen wissenschaftlichen und/oder politischen Kontexten. Die politische Kulturforschung orientiert dabei methodisch stärker auf die Gegenwart und jüngere Vergangenheit, als andere ideengeschichtliche Methoden. Sie stellt einen metatheoretischen Quantensprung in der politische-theoretischen Forschung dar, da sie die reale Komplexität von Politik und Gesellschaft methodologisch zu reflektieren versucht. Die kontextualisierende Stärke der politischen Kulturforschung hinsichtlich der Arbeit mit politischen Theorien liegt vor allem in der Rekonstruktion der sozialen Interaktionsbeziehungen im Streit um die Ausdeutungen der subjektiven Dimensionen des Politischen, also die Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Verankerung von Theorien und ihren gleichzeitigen Wirkungen auf die politischen Ordnungen selbst. Die politische Kulturforschung will Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen politischen Institutionen und Gesellschaft gewinnen und so die subjektive Dimension des Politischen zwischen individuellen Orientierungen und sozialstrukturellen Kontexten ergründen (vgl. Salzborn 2009). Die politische Kultur ist somit der connecting link zwischen Mikro- und Makropolitik (Almond/Verba 1963). In Anlehnung an und Erweiterung von Anton Pelinka (2006), Martin und Sylvia Greiffenhagen (1997) und Karl Rohe (1990, 1996) kann politische Kultur begriffen werden als das Ensemble der für eine Gesellschaft oder ein gesellschaftliches Teilsegment in Relation zur »systematisierten Form von Herrschaft« (Pelinka 2006, 225) relevanten emotionalen und kognitiven Haltungen und der daraus resultierenden Formen stabilisierten Verhaltens, die sich jeweils im Spannungsfeld von politischer Norm und gesellschaftlicher Wirklichkeit bewegen. Die Haltungen gegenüber dem politischen System setzen sich dabei zusammen aus längerfristigen, historisch formierten Elementen, stabilen Vorstellungen in Form von weltanschaulichen Konzepten und kurzfristig entwickelten, in deutlich höherem Maße wandelbaren Einstellungen (vgl.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_9

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

Schuppert 2008). In diesen drei Dimensionen verknüpfen sich jeweils kognitive mit emotionalen Elementen, auf deren manifestem historischem Kern sich eine normative Weltanschauung gründet, die wiederum in konkreten Situationen unterschiedliche Einstellungen zur Folge haben kann, die Ausdruck einer (be-)wertenden Haltung zur politischen Ordnung sind (vgl. Westle/Gabriel 2009). Die Varianz der Einstellungsoptionen ist immer prädominiert von ihren historischen und normativen Grundlagen konstitutioneller, ideengeschichtlicher, erkenntnistheoretischer und ethischer Provenienz (vgl. Hempfer/ Schwan 1987), d. h. kontinuierliche Veränderungen von Einstellungen verweisen zugleich auf tiefer liegende Eruptionen auf weltanschaulicher Ebene. Die politische Kulturforschung eröffnet insofern den methodischen Zugang zum gesellschaftlichen Kontext des Theoretischen am weitesten (und entfernt sich zugleich auch am meisten vom Text), da die Verwobenheit von politischem Bewusstsein mit politischem Verhalten und seinen Trägergruppen systematisch in den Blick gerät (vgl. auch zum Folgenden: Waschkuhn 2002, 162). Als Vorstellungen und Einstellungen, die mit generellen Haltungen zum Politischen identifiziert werden, gelten dabei gleichermaßen weltanschauliche Grundeinstellungen wie Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus oder Faschismus, wie politische Einstellungs- und Weltanschauungssyndrome wie Autoritarismus, Antisemitismus, Nationalismus oder Konventionalismus, kollektive Identifizierungsformen wie Geschichts- und Traditionsbewusstsein, Religiösität und Moralität, Loyalität und Illoyalität, Konformismus und Nonkonformismus, emotionale Grundlagen des Bewusstseins wie Angst, Anomie, Frustration oder Depression, wie schließlich auch (tages-)aktuelle politische Einstellungen und Meinungen. Unter Integration von Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Sozialforschung stellt die politische Kulturforschung somit das Bindeglied zwischen Theorie und Empirie her, wenn weltanschauliche Konzepte und die aus ihnen resultierenden tagesaktuellen Meinungen in Relation zu unterschiedlichen Trägergruppen einer Gesellschaft gesetzt werden, so dass eine präzisere sozialstrukturelle Differenzierung möglich wird, als dies etwa durch text- oder diskursanalytische Verfahren möglich wäre. Mit Martin und Sylvia Greiffenhagen (1997, 170) ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff politische Kultur politikwissenschaftlich dabei keine Wertung impliziert, also gänzlich vom umgangssprachlichen Verständnis, nach dem »politische Kultur« zumeist positiv

assoziiert wird, abweicht, als alle Formen politischer Willensäußerung auch Teil politischer Kultur sind – unabhängig ihres gesellschaftstheoretischen oder politischen Standortes. Peter Reichel (1984, 9) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass von politischer Kultur umgangssprachlich oftmals in einem polemisch-normativen Sinn die Rede ist, wenn über Legitimitätsdefizite von politischen Entscheidungen gesprochen wird, von »linker« Seite im Sinne eines Mangels an demokratisch-partizipatorischer Kultur, der den Konservativen angelastet wird, von »rechter« Seite wird der »Linken« wiederum eine allgemeine Gefährdung oder Zerstörung der politischen Kultur im Sinne des christlichen Humanismus vorgehalten. Ein politikwissenschaftliches Verständnis von politischer Kultur sollte analytisch hingegen sowohl normative, wie empirische und kritische Dimensionen einschließen, was systematisch auf eine terminologische Offenheit und damit konzeptionelle Neutralität des Kulturbegriffes hinweist (vgl. Greiffenhagen/Geiffenhagen 2002). Die reale Dominanz einzelner struktureller und funktioneller Elemente innerhalb einer nationalen politischen Kultur ist dabei stets Ausdruck konkurrierender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen, der diesen zugrundeliegenden politischen Ideen und des kontroversen Kampfes um politische Deutungshoheiten auf vertikaler (»oben« – »unten«) und horizontaler (»links« – »rechts«) Ebene. Insofern kann eine politische Kultur in bestimmten Bereichen von konservativen, in anderen von liberalen und in wieder anderen von sozialen Momenten dominiert werden, ohne dass die jeweilige Dominanz etwas über die Qualität der politischen Kultur aussagt. Die Relation politischer Kultur zur politischen Ordnung ist dabei nie statisch, sondern immer dynamisch (vgl. Pelinka 1974), d. h. der Wandel politischer Kultur kann auch zum Wandel der normativen Ordnung führen, wie umgekehrt Modifizierungen im politischen System auch zu Veränderungen innerhalb der politischen Kultur oder einzelner politischer Subkulturen führen können.

9.2 Von der Methodologie zur Methode der politischen Kulturforschung Unter Aufgreifung der klassischen Systematisierung der Methoden der politischen Kulturforschung von Dirk Berg-Schlosser (1972, 63 ff.; 1994, 349 ff.) lassen sich dabei im Kern vier methodische Herangehensweisen der politischen Kulturforschung festhalten. Als

9  Politische Kulturforschung

wohl wichtigste Grundlage kann die Analyse kultureller Indikatoren gelten, da es sich hierbei um die manifesteste Dimension politischer Kultur handelt, die durch Text-, Inhalts- und Diskursanalysen von natürlichem und künstlichem Material vorgenommen wird und sowohl qualitativ wie quantitativ ausgerichtet sein kann. Gegenstand sind beispielsweise Medien aller Art, öffentlich dokumentierte (Parlaments-)Debatten und Archivalien von Institutionen, Verbänden oder politisch relevanten Einzelpersonen, die nutzbar sind für die Bestimmung qualitativer Faktoren einer politischen Kultur oder Subkultur, der in diese eingelassenen politischen Ideen, der intermediären Interaktion und der Beziehungen zwischen einzelnen Akteur(inn)en innerhalb eines politischen Systems oder im bi- oder multinationalen Vergleich. Während die Analyse kultureller Indikatoren eher auf der Makroebene ansetzt, zielt die Umfrageforschung als zweite zentrale Methode der vergleichenden politischen Kulturforschung auf die Mikroebene und die Ermittlung von quantifizierenden Aussagen über Einstellungen und politische Orientierungen. In ihr herrschen repräsentativ-demoskopische Verfahren vor, in denen statistische, quantitative und in deutlich geringerem Maße auch qualitative Interpretationsansätze Anwendung finden. Das Potenzial der Umfrageforschung liegt in der Möglichkeit der kurzfristigen Einstellungsmessung und – in Panel-Studien oder häufig replizierten Survey-Untersuchungen – der Modifikation von Einstellungen, auch in Bezug auf intendiertes politisches Verhalten. Semiologische Interpretationen als dritte Methode der politische Kulturforschung analysieren politische Rituale (Festzeremonien, politische Schlüsselreden, öffentliche Parlamentsdebatten etc.) und politische Symbole (wie Flaggen, Nationalhymnen oder Ikonen) als Elemente des »kulturellen Gedächtnisses« (Assmann 1992) – also der langfristig-strukturellen Dimension der historischer Grundierung aktueller Politik – einer politischen Kultur oder Subkultur, wobei vor allem qualitative Analyseverfahren bei der Interpretation von Texten und/oder Bildern Anwendung finden. Die teilnehmende Beobachtung schließlich dient der Ermittlung von Handlungsstrukturen und Interaktionsspielräumen vor allem kleinräumiger politisch-kultureller Artikulationen (soziale Bewegungen oder Subkulturen, Parteien auf lokaler Ebene etc.), dem Verständnis des Sozialgefüges und der Analyse von symbolischen Interaktionen. Auch hier dominieren qualitative Ansätze zur Ermittlung von Modifikationen einer politischen Kultur über längere Zeiträu-

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me, wobei besondere Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Interaktion zwischen unterschiedlichen politisch-kulturellen Kontexten (z. B. im Rahmen von wechselseitigen Migrationsbewegungen) zukommt. Grundsätzlich geht die politische Kulturforschung dabei von zwei generell differenten Grundprägungen von politischen Kulturen aus, die Karl Rohe (1990, 343 f.) auf die Begriffe Staatskultur und Gesellschaftskultur gebracht hat: Während in einer Staatskultur das Partizipationsinteresse stärker auf das output des Politischen Systems und damit alle mit dieser Dimension verbundenen politischen Theorien orientiert, sind die partizipatorischen Grundorientierungen in einer Gesellschaftskultur stärker auf den input und damit die aktive und selbst bestimmte Gestaltung durch die politische Kultur ausgerichtet. Die mit dieser Idealtypisierung vollzogene Abstraktion zielt einerseits auf die vertikale Ausrichtung von politischen Kulturen, andererseits beschreibt sie innerhalb der Dominanzfrage zwischen politischem System und Gesellschaft bzw. zwischen Elite und Masse systematisch die beiden denkbaren funktionalen Strukturierungen. In eine ähnliche Richtung weist auch die Differenzierung von zentrifugaler und zentripetaler Demokratie von Arend Lijphart (1969, 3 ff.), nach der zu unterscheiden ist zwischen einem hohen Fragmentierungsgrad der politischen Kultur, die verbunden ist mit hohem Immobilismus und ausgeprägter Instabilität (zentrifugale Demokratie) oder einer starken Homogenität der politischen Kultur mit gleichzeitig hoher Stabilität des politischen Systems (zentripetale Demokratie). Die Konzeptualisierungen von Rohe und von Lijphart können in der politischen Kulturforschung für eine prinzipielle Orientierung genutzt werden; für eine präzisere Typologisierung ist allerdings eine weitere Ausdifferenzierung nötig, die bereits von den Pionieren der politischen Kulturforschung, Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1965), durch ihre idealtypische Beschreibung unterschiedlicher politischer Kulturen und der sie tragenden politischen Ideen vorgenommen wurde. Im Mittelpunkt der Klassifizierung steht hier das »unterschiedliche Ausmaß der Beteiligung« (Pelinka 2005, 97), also letztlich die Partizipations- und Legitimationsfrage. Almond/Verba (1965, 16 ff.) unterscheiden zwischen drei reinen Typen politischer Kultur: der parochialen politischen Kultur (Parochial Political Cul­ ture), der Untertanenkultur (Subject Political Culture) und der partizipativen politischen Kultur (Participant Political Culture), die jeweils auch Mischformen

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II  Methoden der ideengeschichtlichen Forschung

bilden. Eine parochiale politische Kultur ist demnach gleichermaßen geprägt von einem minimalen Wissen der Beherrschten über das politische System und Formen politischer Willensbildung wie einer mangels Interesse kaum oder gar nicht vorhandenen affektiven Bindung an die Politik: »The parochial expects nothing from the political system« (ebd., 17). Das politische System tritt insgesamt wenig ins Bewusstsein der Beherrschten, so dass es sich zwischen politischem System und politischer Kultur um zwei weitgehend voneinander getrennte Sphären handelt. Religiöse, familiäre oder Stammesbindungen dominieren deutlich gegenüber denen an das politische System. In der Untertanenkultur ist der Bezug auf das politische System gegeben, allerdings fehlt es auf Seiten der Beherrschten an aktiven Impulsen zur Veränderung der Politik. Das administrative System ist voll ausdifferenziert und wird auch von den Beherrschten in seiner Funktionalität wahrgenommen, so lange es um ihre Leistungsansprüche geht. Die wechselseitige Interaktion zwischen politischem System und politischer Kultur wird allerdings nicht begriffen, die Beherrschten sehen sich als passives Objekt von Politik, verfügen dabei aber auch nur über ein eingeschränktes Maß an politischem Wissen und politischer Bildung. Die partizipative politische Kultur ist ebenfalls voll ausdifferenziert und durch eine hohe Beteiligung der Beherrschten geprägt, die über umfangreiches Wissen und Bildung verfügen und sich konstruktiv und kritisch in die Gestaltung des politischen Lebens einbringen. Almond/Verba gehen neben diesen drei reinen Typen politischer Kultur, die weder als homogen noch als gleichförmig zu interpretieren sind, von Mischformen aus, der parochialen Untertanenkultur (Parochial-Subject Culture), der partizipatorischen Untertanenkultur (Subject-Participant Culture) und der parochial-partizipatorischen Kultur (Parochial-Participant Culture), die vor allem für die Typisierung der revolutionären oder evolutionären Wandels politischer Kulturen im historischen Übergang herangezogen werden können, sowie der Civic Culture, die als gemischte politische Kultur das Idealbild einer Bürgerkultur markiert (vgl. Pickel/Pickel 2006, 64 f.). Die hohe Komplexität der politischen Kulturforschung wird dabei durch die historische Entwicklungsdimension und ihre ideengeschichtliche Verwebung zusätzlich erhöht, da wirklich valide Aussagen über eine politische Kultur nur unter Berücksichtigung ihrer Genese getroffen werden können. Neben den jeweils konkreten Veränderungen inner-

halb einer politischen Kultur gehört zu diesen Entwicklungsdimensionen auch der kollektive Wandel politischer Ordnungs- und Organisierungsformen im Prozess des Übergangs von der Vormoderne zu Moderne und der Transformationsprozesse innerhalb der modernen Weltordnung selbst. Die idealtypische Konzeptualisierung politischer Kulturen durch Almond/Verba kann somit um eine entwicklungstheoretische Dimension ergänzt werden, die neben der theoretischen Ausdifferenzierung auch die historische Genese berücksichtigt und in die vergleichende Analyse politischer Kulturen Eingang findet. Gabriel A. Almond und G. Bingham Powell (1966) haben hierzu ein entwicklungstheoretisches Konzept formuliert, das auf der Annahme basiert, dass es in der Entwicklung politischer Kulturen langfristige Tendenzen gibt, die zwar immer wieder durchbrochen und konterkariert werden, aber aufgrund politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturprinzipien jeweils zu hegemonialen Mustern werden. Bei diesem Entwicklungsmuster handelt es sich, wie Anton Pelinka (2005, 97) betont hat, um die »ständige Ausdifferenzierung immer neuer gesellschaftlicher und damit auch politischer Rollen.« Die Genese von einer vormodernen, vorindustriellen Gesellschaft hin zu einer modernen, industriellen Gesellschaft wird dabei der Annahme folgend von verschiedenen Formen autoritärer politischer Kultur begleitet, wobei »der Prozess der Industrialisierung oder Modernisierung [...] langfristig die Wahrscheinlichkeit einer demokratischen politischen Kultur« (ebd.) steigert. Die dem zu Grunde liegende Annahme besteht darin, dass in einem langfristigen Entwicklungsprozess der politischen Kulturen zunächst solche dominiert haben, die – zumeist verbunden mit einer kleinräumigen Struktur – starke Elemente von Partizipation und Mitbestimmung integriert haben, wie beispielsweise die antike Polis oder die ständischen Versammlungen im Mittelalter. An diese Form politischer Kultur schlossen autoritäre Übergangsformen an, etwa die absoluten Monarchien in Europa oder religiös-fundamentalistische Systeme zur Zeit der Reformation. Im Übergang zu industriellen Formen politischer Kultur finden sich dann wieder autoritäre und demokratische Typen, wobei als autoritäre Modelle politischer Kultur vor allem sozialistische und faschistische Diktaturen gelten, wohingegen die Form der demokratisch-industriellen politischen Kultur im modernen Rechts- und Verfassungsstand anzutreffen sei (vgl. ebd., 96 f.).

9  Politische Kulturforschung Literatur

Almond, Gabriel A./Bingham Powell, G.: Comparative Politics. A Developmental Approach. 5. Aufl. Boston 1965. Almond, Gabriel A./Verba, Sidney: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in five Nations, 4. Aufl. Boston/Toronto 1965. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Berg-Schlosser, Dirk: Politische Kultur. Eine neue Dimension politikwissenschaftlicher Analyse. München 1972. Berg-Schlosser, Dirk: Politische Kulturforschung. In: Nohlen, Dieter (Hg.): Lexikon der Politik. Bd. 2: Politikwissenschaftliche Methoden. Hg. von Jürgen Kriz, Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze. München 1994, 345–352. Bermbach, Udo: Bemerkungen zur politischen Theoriengeschichte. In: Politische Vierteljahresschrift 22, H. 2 (1981), 181–194. Bermbach, Udo: Über die Vernachlässigung der Theoriengeschichte als Teil der Politischen Wissenschaft. In: Ders. (Hg.): Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft (= PVS-Sonderheft Nr. 15). Opladen 1984, 9–31. Greiffenhagen, Martin/Greiffenhagen, Sylvia (Hg.): Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. 2. überarb. und akt. Aufl. Wiesbaden 2002. Greiffenhagen, Martin/Greiffenhagen, Sylvia: Politische Kultur. In: Geiss, Harald (Hg.): Grundwissen Politik. 3. überarb. und erw. Aufl. Bonn 1997, 167–237. Hempfer, Klaus W./Schwan, Alexander (Hg.): Grundlagen der politischen Kultur des Westens. Berlin/New York 1987. Hofmann, Wilhelm (Hg.): Die Sichtbarkeit der Macht – Untersuchungen zur Theorie und Empirie visueller Politik. Baden-Baden 1999.

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Lijphart, Arend: Typologies of Democratic Systems. In: Comparative Political Studies 1, H. 1 (1968), 3–44. Pelinka, Anton: Dynamische Demokratie. Zur konkreten Utopie gesellschaftlicher Gleichheit. Stuttgart 1974. Pelinka, Anton: Vergleich politischer Systeme. Wien/Köln/ Weimar 2005. Pelinka, Anton: Die Politik der politischen Kultur. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 35, H. 3 (2006), 225–235. Pickel, Susanne/Pickel, Gert: Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung. Wiesbaden 2006. Reichel, Peter: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Politische Kultur in Westeuropa. Bürger und Staaten in der Europäischen Gemeinschaft. Frankfurt/New York 1984. Rohe, Karl: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung. In: Historische Zeitschrift 250 (1990), 321–346. Rohe, Karl: Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts. In: Niedermayer, Oskar/Beyme, Klaus von (Hg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. Opladen 1996, 1–22. Salzborn, Samuel (Hg.): Politische Kultur. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Frankfurt a. M. 2009. Schuppert, Gunnar Folke: Politische Kultur. Baden-Baden 2008. Schwan, Gesine: Was trägt die Politische Theorie zur demokratischen Praxis bei? In: Politisches Denken. Jahrbuch 2010. Berlin 2010, 12–19. Waschkuhn, Arno: Grundlegung der Politikwissenschaft. Zur Theorie und Praxis einer kritisch-reflexiven Orientierungswissenschaft. München/Wien 2002. Westle, Bettina/Gabriel, Oskar W. (Hg.): Politische Kultur. Eine Einführung. Baden-Baden 2009.

Samuel Salzborn

III Denkströmungen

A Antike 10 Antike: Griechenland In der griechischen Antike, das lässt sich wohl ohne Übertreibung sagen, wurden die Grundlagen der europäischen Kultur gelegt. Hier entstehen die Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, die das abendländische Denken prägten. Damit war jenes geistige Rüstzeug geschaffen, das es erlaubte, sich auch der Religion wissenschaftlich zuzuwenden. So konnten sich griechische Philosophie und jüdisch-christlicher Glaube verbinden und zur entscheidenden Prägekraft des europäischen Denkens werden. Das gilt bis zur frühen Neuzeit, implizit aber wohl weit darüber hinaus bis zur Gegenwart. Weshalb gerade Griechenland ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert zu einem solchen geistigen Kristallisationspunkt werden konnte, lässt sich nur vermuten. Vorreiter der Entwicklung waren die griechischen Kolonien in Kleinasien, Unteritalien und Thrakien, die durch ihre reichen Handelsbeziehungen Kontakte nicht nur im gesamten Mittelmeerraum, sondern auch in den Orient hinein pflegten und dadurch wahrscheinlich mit dem aktuellen Wissensstand der ägyptischen, phönizischen und chaldäischen Kultur bekannt wurden (Vorländer 1979, 7 f.). Mag die Anregung, sich mit Fragen der Weltentstehung, der Beschaffenheit des Kosmos und der Natur zu befassen, auch von außen gekommen sein, die Art der Befassung war Griechenland doch spezifisch . Dass der Weg des griechischen Denkens vom Mythos über die Betrachtung der Natur zur Befassung mit dem Menschen und dem menschlichen Zusammenleben, der Politik, führte, war in der Tat eine ganz eigene, maßstabsetzende Entwicklung. Die wesentlichen Phasen, in denen sich diese Entwicklung vollzog, lassen sich, grob gefasst, folgendermaßen charakterisieren: In der sogenannten archaischen Zeit, einer Zeit, aus der nur wenige schriftliche Zeugnisse erhalten sind, werden mit der Dichtung Homers (8.– 7. Jahrhundert v. Chr.) und Hesiods (7. Jahrhundert v. Chr.) Mythos und Logos, Götter-

und Menschenwelt bereits reflexiv verbunden; die Götter erscheinen z. T. als Personifikationen von Prinzipien menschlichen Zusammenlebens, so z. B. die Dike, das Recht. Obwohl die Dichtung also durchaus rationale Gehalte transportiert, kann sie dies natürlich nur in der für sie spezifischen Weise tun, in Erzählungen, Bildern, Metaphern. Die Anfänge rein philosophischen Nachdenkens finden sich in Ionien, nämlich in einer Naturphilosophie, die zwar nach materiellen Ursachen des Werdens und Vergehens sucht, dabei aber auch auf nichtmaterielle Prinzipien stößt wie z. B. die von Heraklit behauptete Einheit der Gegensätze. Dennoch bleibt das Denken fixiert auf die äußere Wirklichkeit. Den entscheidenden Schritt darüber hinaus vollzieht die Sophistik. Durch sie gerät der Mensch in den Mittelpunkt des Interesses – der Mensch, der sich in der Betrachtung der äußeren Natur selbst vergessen hatte. Der mit der Sophistik oft einhergehende Subjektivismus, die Rückführung alles Wahrgenommenen und Gedachten auf den Menschen, führt allerdings zum Verschwinden der objektiven Welt, zum radikalen Relativismus. Wenn der Mensch Maß aller Dinge ist, können es Welt und Gott nicht mehr sein. Auf diese Situation reagiert die griechische Klassik. Deren großes Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles lehrt und lebt in Athen in der Blütezeit der attischen Kultur: Griechische Tragödie und Komödie, Bildhauerkunst, Architektur, politische Rhetorik und Philosophie haben im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Sokrates und sein Schüler Platon sehen das Ungenügen einer Naturphilosophie, die den die Natur reflektierenden Menschen außer Acht lässt, sowie einer Philosophie, die sich zwar auf den Menschen konzentriert, ihn aber in seiner ganzen Subjektivität zum Maßstab erheben will. Um den Menschen muss es gehen, darin geben beide der Sophistik recht. Doch der Mensch kann so, wie er ist, nicht selbst Maßstab sein, sondern er bedarf zu seiner Selbstvollendung etwas, das mehr und größer ist als er: Er muss erkennen, was gut ist, um selbst gut

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_10

10  Antike: Griechenland

zu werden. Hierin folgt Aristoteles seinem Lehrer Platon allerdings nicht. Obwohl er sich ebenfalls in Opposition zum sophistischen Subjektivismus sieht, glaubt er, in Platons Rede vom Guten wiederum einen falschen Objektivismus zu erkennen: Ein Gutes, das in der Weise eines Dinges zu verstehen ist, ist eine sinnlose Verdoppelung der wirklichen Welt mit ihren vielen Gütern. Diesem in seinen Augen falschen ›Idealismus‹ setzt er einen ›Realismus‹ entgegen, der die Dinge aus sich heraus zu verstehen unternimmt. Welche Konsequenzen sich aus diesem Gegensatz zwischen Sokrates/Platon und Aristoteles im Hinblick auf ihre politische Philosophie ergeben, wird weiter unten gezeigt. In der griechischen Klassik fließen so die Ströme der sogenannten vorsokratischen Philosophie und der Sophistik zusammen und werden auf ganz eigene Weise verarbeitet. Der Blick wird auf die gesamte Wirklichkeit erweitert, und damit differenzieren sich die verschiedenen Disziplinen der Philosophie und Wissenschaft heraus: Erkenntnistheorie und Ontologie, Sprachphilosophie und Naturphilosophie, politische Philosophie und Ethik, Seelenlehre und Kosmologie. Bei Platon finden diese Disziplinen ihren Einheitspunkt immer im Menschen, sie bilden einen Gesamtkosmos. Bei Aristoteles hingegen treten die Disziplinen auseinander, sie verselbständigen sich. Damit ist der Grund für die kommende europäische Wissenschaftsentwicklung gelegt, die einerseits disziplinäre Vertiefung mit sich bringt, andererseits aber auch die Lösung der Wissenschaft aus ihrem Rückbezug zum Menschen. Auf die Klassik folgt der Hellenismus – die Zeit der Ausbreitung ihrer Gedanken über den gesamten Mittelmeerraum, nicht zuletzt erschlossen durch die Eroberungsfeldzüge Alexanders des Großen. Jene Epoche zwischen dem Tod Alexanders (323 v. Chr.) und dem Ende des Ptolemäerreichs (30 v. Chr.) (Flashar/ Görler 1994, 3) ist bestimmt durch die Aufnahme, z. T. aber auch Verflachung klassischen Gedankenguts. In den drei großen hellenistischen Schulen der Skeptiker, Stoiker und Epikureer (Knoll 2017, 305–341) stehen Fragen der praktischen Lebensführung im Mittelpunkt; die Höhe der theoretischen Begründung, wie sie der Klassik zueigen war, wird nun nicht mehr erstrebt und nicht mehr erreicht.

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10.1 Die Dichtung Homers und Hesiods Bereits in Homers Ilias und Odyssee finden sich Elemente, die den Übergang vom Mythos zum Logos signalisieren und auf die Themen der späteren philosophischen Reflexion vorverweisen. So wird in der Beschreibung des Schilds, den der Gott Hephaistos für den Helden Achilleus schmiedet (Homer 2004,18 und 478–608), der große Zusammenhang von Menschenwelt und göttlicher Sphäre dargestellt, wobei sich die Welt als ein Ordnungssystem zeigt, das sich aus der Einheit der Gegensätze ergibt (Bremer 2013, 71 f.). Das menschliche Leben auf diese Weise in einen übergeordneten Zusammenhang einzubetten, der nach rational erfassbaren Strukturen gegliedert ist und sich als ein geordnetes Ganzes gestaltet, bedeutet einen erkennbaren Schritt über die dichterische Verarbeitung des Lebensvollzugs hinaus in Richtung eines wissenschaftlichen Weltverhältnisses. Die Einheit der Gegensätze wird später Heraklit beschäftigen, die Vorstellung, Okeanos sei der Ursprung von allem, findet eine Entsprechung in Thales Theorie, das Wasser sei die erste Ursache (Bremer 2013, 72 f.). Hesiods Theogonie entwirft eine Weltentstehungstheorie, die den Weg vom Chaos zur Ordnung nachzeichnet. Anders als bei Homer, dessen (vor)philosophische Reflexionen in eine komplexe Erzählhandlung eingebettet sind, wird hier also eine eigenständige, wenn auch mythologisch verbrämte Theorie entwickelt. Diese erhebt einen Wahrheitsanspruch, unterstellt einen zielgerichteten Prozess, erklärt die Durchsetzung des Rechts, der Dike, zum Telos (Ziel) in der Verfolgung jenes Prozesses, entfaltet eine systematische Herkunftsgeschichte alles Seienden einschließlich der Götter etc. Das Gedicht weist also viele Merkmale auf, die auch bei einer rein theoretischen Betrachtung des kosmologischen Entstehungszusammenhangs eine Rolle spielen könnten. Und in der Tat kehren diverse Motive der Dichtung in der vorsokratischen Philosophie wieder, so etwa bei Empedokles (Unterscheidung der vier Elemente) oder bei Anaximander, Heraklit und Parmenides, was die Stellung des Rechts angeht (Bremer 2013, 79).

10.2 Vorsokratische Philosophie Am Beginn dessen, was uns von der griechischen Philosophie – meist nur fragmentarisch – überliefert ist, stehen drei Denker aus dem kleinasiatischen Milet: die Ionier Thales, Anaximander und Anaximenes.

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III Denkströmungen – A Antike

Wahrscheinlich in Kenntnis der Wissenschaft Ägyptens und anderer Länder des Orients suchen sie nach einem Urstoff bzw. Urprinzip zur Erklärung der natürlichen Prozesse: das Wasser als Ursprung von allem (Thales), das Unbegrenzte, aus dem sich Festes und Flüssiges sondern (Anaximander), oder die Luft (Anaximenes). Damit rückt das Göttliche aus dem Zentrum der Betrachtung; die Natur soll auch mittels natürlicher Ursachen erklärt werden. Mit Pythagoras (ca. 580–500 v. Chr.), der in Unteritalien lebt und dort eine ordensartige Gemeinschaft gründet, ist ein neuer Abstraktionsgrad in der Ursachenforschung erreicht: Für ihn wird die Welt von mathematischen Proportionen bestimmt. So systematisch, wie die Zahlen geordnet sind, ist es auch der Kosmos. Eine andere philosophische Schule bildet sich etwa zeitgleich im italienischen Elea – die Eleaten. Ihr bekanntester Vertreter Parmenides führt in die Weltbetrachtung eine Unterscheidung ein, die erkenntnistheoretisch von grundlegender Bedeutung ist: die zwischen Schein und Sein, zwischen Meinung und Wahrheit. Nur das Sein ist, das Werden ist Illusion. Damit wird die auf das Werden gerichtete Sinneswahrnehmung dem Bereich des Scheins zugeordnet und nur dem Denken Wahrheit zugebilligt – eine Vorform des Idealismus. Das Kontrastprogramm dazu scheint die Lehre des Ioniers Heraklit (geb. ca. 540 v. Chr.) zu bilden, für den nur das Werden wirklich ist. Dies Werden wird allerdings von einem Gesetz regiert, nämlich dem Kampf der Gegensätze, aus dem sich Einheit und erneute Entzweiung ergeben. Sowohl dialektische Philosophien wie die von Hegel und Marx als auch eine gegen jedes Seinsdenken gerichtete Philosophie wie die Nietzsches konnte in Heraklit ihren Urvater sehen. Die vier-Elemente-Lehre (Feuer – Wasser – Erde – Luft) des sizilianischen Empedokles wiederum verbindet eine physikalische Welterklärung mit dem Bezug auf die Prinzipien der Liebe und des Hasses, die das Weltgeschehen bestimmen. Dagegen ist die Theorie des thrakischen Demokrit, dass der Raum mit unteilbaren, unvergänglichen Teilchen (Atomen) gefüllt sei, rein materialistisch. Dieses Schwanken der Vorsokratiker zwischen Urstoff und Urprinzip in der Erklärung der Natur zeigt sich noch einmal besonders deutlich bei dem Denker, der die Philosophie nach Athen bringt: Anaxagoras. Für ihn ist es der Nous, der Geist, der die Welt geordnet hat. Doch wenn er die Wirkung des Nous erklären soll, vermag er nichts weiter als mechanische Ursachen auszumachen.

10.3 Sophistik Als Griechenland sich von der Herrschaft der Perser befreit hat (in den Perserkriegen 500–448 v. Chr.) und Athen zur entscheidenden Polis aufsteigt, gewinnt die Volksherrschaft, die sich seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. auszubreiten beginnt, an Boden. Die (adlige) Herkunft verliert an Gewicht, das Bürgertum erstarkt. Damit bekommt auch die Bildung einen neuen Stellenwert: Andere Schichten als bisher streben nach Bildung, und gefragt sind nun jene Kenntnisse, die es ermöglichen, den bürgerlichen Selbstbehauptungskampf in den demokratischen Institutionen der Volksversammlung und des Gerichts zu bestehen. Diesem Bildungsbedürfnis trägt ein neuer Berufsstand Rechnung – die Sophisten, in Griechenland umherreisende und ihr Wissen gegen Geld vermittelnde Weisheitslehrer. Weil sie die Menschen nicht zuletzt für das politische Leben tauglich machen wollen, beschäftigen sich die Sophisten auch primär mit den Dingen des Menschen: seinem Erkenntnisvermögen, seiner Wirklichkeitswahrnehmung, seiner Art, Gemeinschaften zu begründen. Dazu müssen die Sophisten umfangreiches Schrifttum verfasst haben, von dem aber nur wenige Bruchstücke überliefert sind. Doch in den Dialogen Platons spielen sophistische Positionen eine gewichtige Rolle und werden dort so konsistent entwickelt, dass sich Argumentationsweise, thematische Bandbreite und der Pluralismus der Positionen sehr gut nachvollziehen lassen. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist für die Sophistik die Theorie des Protagoras von zentraler Bedeutung. Nach Protagoras ist »der Mensch das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind« (Platon 1990h, 152a). Der damit verbundene Verzicht auf einen objektiven Maßstab für die Erkenntnis verlagert alles zurück in das Subjekt, das damit ermächtigt ist, die Welt nach eigenem Dafürhalten zu deuten. Die konsequente Folge ist ein Relativismus, der vor nichts Halt macht. Dass sich in der Auslieferung der Erkenntnis an die gerade aktuellen Eindrücke und Befindlichkeiten des Menschen nicht nur die Objektwelt auflöst, sondern auch die Einheit des sie beurteilenden Subjekts, zeigt die platonische Analyse (Platon 1990h, 152a–186d). An ihr wird aber auch die Nähe der Sophistik zu modernen und postmodernen Theorien sichtbar, denkt man etwa an Nietzsches Perspektivismus oder Foucaults Zerstörung des Subjekts. Aus der Protagoreischen Erkenntnistheorie lassen

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sich ganz unterschiedliche politische Folgerungen ziehen. Wenn jeder Mensch für sich Maßstab ist, gibt es zunächst einmal wenig Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. So kann man die fehlende natürliche Gemeinsamkeit durch eine vertragliche Einigung ersetzen. Dann regeln die Menschen ihr Zusammenleben über das von ihnen geschaffene Recht, wie Protagoras es in seinem »Kulturschaffungsmythos« darstellt (Platon 1990a, 322c). Diese friedliche, konsensuale Einigung ist aber nicht die einzige Möglichkeit, das Zusammenleben zu organisieren. Sophisten wie Kallikles und Thrasymachos führt die sophistische Selbstermächtigung des Menschen zur Theorie des Rechts des Stärkeren, nach der derjenige das Recht hat, sich gegen die Anderen durchzusetzen, der dazu stark genug ist (Platon 1990b, 483d; Ders. 1990e, 338c). Die vertragliche Einigung ist in den Augen dieser Sophisten etwas für Schwächlinge, denn deren auf bloßer Setzung beruhendes Recht widerspricht dem natürlichen Recht, das auf der Seite des Stärkeren steht. Dieser Gegensatz zwischen Nomos und Physis, zwischen Menschenrecht und Naturrecht, ist eines der zentralen Themenfelder der Sophistik. In der Rezeption wurden die Sophisten oft als Aufklärer betrachtet (Hegel 1971, 410 und 422), wohl nicht zu Unrecht, wenn man zur Aufklärung solche Bewegungen rechnet, die den Menschen in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs per Bewusstseinsbildung zu neuem Denken befreien wollen. Dazu gehört eine ausgefeilte Rhetorik, eines der Spezialgebiete der Sophisten. Und es gehört dazu das Selbstgefühl einer Avantgarde, die sich aufgrund des eigenen Bewusstseinsvorsprungs dazu berufen sieht, den anderen den Weg zu weisen. Der Anspruch der Sophisten, Tugend lehren zu können, kündet von einem solchen Selbstgefühl. Dass sie in der Rezeptionsgeschichte aber nicht nur als Aufklärer, sondern auch als Zerstörer der traditionellen Sittlichkeit galten (Ricken 2007, 60) hat ebenso ein fundamentum in re, sieht man, was sie unter dem Begriff »Tugend« verstehen – nicht zuletzt die Fähigkeit zur Selbstdurchsetzung. Dass es eben nicht auf die Begriffe ankommt, sondern auf die mit ihnen gemeinte Sache, ist eine der wesentlichen Einsichten, mit denen dann Platon der Sophistik, aber auch den anderen Denkansätzen seiner Zeit begegnet.

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10.4 Klassik Reisten die Sophisten durch die Lande, so hat die griechische Klassik einen festen Ort: Athen. Die drei Großen der griechischen Klassik Sokrates, Platon und Aristoteles sind allesamt durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis verbunden: Sokrates war der Lehrer Platons, Platon der Lehrer des Aristoteles. Doch die Schülerschaften haben sehr unterschiedlichen Charakter: Platon (ca. 428–348 v. Chr.) verewigt in seinem Werk das Denken seines Lehrers Sokrates (470–399 v. Chr.), der selbst nur mündlich wirkte, voller Hochachtung. Aristoteles (384–322 v. Chr.) hingegen wendet sich primär kritisch gegen seinen Lehrer Platon, obwohl er ihm erkennbar viel verdankt. So kann man die sokratisch-platonische Philosophie auch als Einheit fassen (pro: Schleiermacher 1996; contra: Burnet 1928), während die aristotelische sich deutlich von der seiner Vorgänger abhebt. Die sokratisch-platonische Philosophie Folgt man der in das platonische Werk eingelassenen Biografie des Sokrates, so waren es die Naturphilosophie, die Eleatik, die Sophistik und die Begegnung mit der Mysterienreligion, die den sokratischen Weg prägten. Dieser ist von Anfang an bestimmt von der Suche nach der letzten Ursache alles Wirklichen (Zehnpfennig 2012). Eine Letztursache muss es geben, weil das Denken sonst ohne Begründung bleibt. Doch wo ist die Ursache zu suchen, wie ist sie zu verstehen? Die Naturphilosophie glaubt an eine materielle Ursache, selbst wenn sie wie Anaxagoras vom Nous, vom Geist, spricht. Doch am Materiellen zeigt sich die Ursache nur, sie geht nicht in ihm auf (Platon 1990c, 96a–99c). Das Materielle ist das Viele, nicht das gesuchte Eine, deshalb muss die Ursache des Vielen als etwas Nicht-Materielles, als etwas Geistiges gedacht werden. Nun folgt die Wende zur Eleatik: Kann die Ursache jenes Sein sein, das der aus Elea stammende Parmenides als Grundlage von allem propagiert? Doch jenes Sein soll zugleich das Eine sein. Damit hat sich in die eine Letztursache eine Zweiheit eingeschlichen (Platon 1990i, 244b–245e), und so geht es bei jedem Versuch, die Ursache über ihre Eigenschaften zu erfassen. Denn dadurch man muss ihr zuschreiben, was doch nicht sie selbst sein kann. Als Ursache muss sie mehr und anderes als das Verursachte sein. Solange die Ursache als ein dem Subjekt gegenüberstehendes Objekt verstanden wird, kann man sie nur in der

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Weise eines Gegenstands denken, wodurch man sie notwendig depotenziert. So weit gekommen, muss Sokrates – das lässt sich nur indirekt aus dem platonischen Werk erschließen – der sophistischen Lösung der Ursachenfrage begegnet sein: Was ist, wenn der Mensch die Ursache von allem ist? Hat man damit nicht die Probleme eines objektivistischen Verständnisses der Ursache überwunden? Sehr schnell aber ergeben sich neue Probleme, nämlich die oben geschilderten: Sollte wirklich jeder Mensch mit seinen individuellen Eigenheiten der Wahrnehmung und des Denkens Ursache und Maß des Wirklichen sein, würde alles in einen ununterscheidbaren Strom des Werdens hineingerissen. Denn auf der Ebene der Wahrnehmung ist nichts konstant, weder das Empfundene noch der Empfindende. Ebenso muss es dann auch mit dem aus der Wahrnehmung abgeleiteten Denken gehen. Wenn weder Subjekt noch Objekt feststehen, muss am Ende auch die Sprache versagen; jedes Wahrnehmungsund Erkenntnis-Ereignis wäre so singulär, dass es mit keinem allgemeinen Begriff mehr zu bezeichnen wäre. (Platon 1990h, 183a, b) Wenn weder das objektivistische noch das subjektivistische Verständnis der Ursache Bestand hat, bleibt, so scheint es, nur noch eine Möglichkeit: die Ursache muss als etwas Absolutes gedacht werden. Aber auch dieser Anlauf des Sokrates scheitert: In einem – möglicherweise fiktiven – Gespräch mit den Eleaten Parmenides und Zenon durchdenkt Sokrates neben den genannten beiden auch die dritte Möglichkeit, die Ursache oder Idee zu deuten. Als Absolutes wäre die Ursache jedoch ganz an und für sich, also abgetrennt von allem anderen: von der menschlichen Erkenntnis und von allem, wofür sie eigentlich Ursache sein sollte. Sie wäre eine Ursache ohne Wirkung (Platon1990f, 133b–134e). Das Absolute denken zu wollen, endet im Selbstwiderspruch, denn als Absolutes ist es gänzlich jenseitig, damit auch jenseits des Denkens. Was hier logisch durchexerziert wurde, trifft nicht nur die Philosophie- und Ideengeschichte vor Sokrates, sondern auch die nach ihm: In immer neuer Gestalt treten die genannten drei Positionen in der Geschichte auf, z. B. als Empirismus (Materialismus), Rationalismus (Idealismus) und Metaphysik. Die Aporien aber bleiben, an den grundsätzlichen logischen Schwierigkeiten ändert sich nichts. Nach diesem Scheitern auf der ganzen Linie erscheint die Lage aussichtslos; da begegnet Sokrates der Mysterienreligion in Gestalt der Priesterin Diotima. Auch die religiöse Lösung der Ursachenfrage er-

scheint noch nicht als die endgültige, denn Sokrates bleibt nicht bei ihr stehen. Doch die Begegnung ermöglicht eine gänzlich neue Ausrichtung: Alle bisherigen Erkenntnisversuche waren von der unbewussten Prämisse ausgegangen, das Entscheidende im Grunde bereits zu wissen und es nur durch entsprechendes Nachdenken aktualisieren zu müssen. Die Priesterin fordert aber eine andere Haltung: die des wahrhaft Suchenden, der sich als der Wahrheit noch bedürftig erkennt (Platon 1990d, 201d–203a). Der Philosoph ist eben, anders, als es der Sophist zu sein beansprucht, nicht der Wissende, sondern der Weisheitsliebende. Er liebt die Weisheit und die Wahrheit, was bedeutet, dass er beides noch nicht hat. Gefordert ist damit die Selbsttranszendierung des Erkenntnissuchenden; er kann die gesuchte Letztursache nicht mehr länger nach eigenem Maßstab entwerfen, gleichgültig, ob er sie als objektivistische, subjektivistische oder absolute entwirft. Das bloß vorgestellte bzw. gedachte Absolute erfüllt die Kennzeichen der Transzendenz nicht; es bleibt im Bann der schon immer vorhandenen Vorstellungen und des schon immer praktizierten Denkens. Wie der Prozess der Transzendenzerfahrung aussieht, veranschaulicht Diotima im Bild des Aufstiegs (Platon 1990d, 209e–212a). Danach muss das Denken schon am Sinnlichen das Nicht-Sinnliche suchen und sich über die Stufen des Physischen, des Seelischen, des Politischen und der Wissenschaften in steter Ausrichtung an dem, was er selbst nicht ist und hat, auf den entscheidenden Überschritt vorbereiten: die Schau des Schönen selbst. Das Schöne ist hier Synonym der Letztursache, weil es sich um einen Liebesaufstieg handelt und die Schönheit den Anreiz für die Liebe darstellt. Dieser Aufstiegsgedanke bleibt das Zentrum der sokratisch-platonischen Philosophie. Allerdings wird aus dem religiösen Weg der Schau ein rationaler Weg der Erkenntnis, wie er etwa in den drei Gleichnissen der Politeia dargestellt wird (Platon 1990e, 506d–517a). Die Grundstruktur ist dieselbe. Am Anfang des Aufstiegs steht eine fundamentale Änderung der Blickrichtung: Das Denken wendet sich von seinen eigenen ungeprüften Voraussetzungen ab und ergibt sich ganz der Suche, die, vom Sinnlichen zum Nicht-Sinnlichen aufsteigend, eine stete Annäherung an die Letztursache bewirkt. Am Ende erfolgt dann der Überschritt, der aber nicht so zu verstehen ist, als ob das Subjekt nun eines Objekts habhaft würde, was die zuvor geschilderten Aporien erneut heraufbeschwören würde. Vielmehr sind im Erkenntnisakt

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Erkennender und Erkanntes eins, weil die Letztursache – das Gute – sich im Erkennenden verwirklicht. Wer das Gute erkannt hat, ist gut, soweit das dem Menschen möglich ist. Er hat den Verstand zur Vernunft hin überschritten (Platon 1990e, 509d–511e), wodurch sich Vernunft überhaupt erst einstellt. Die enge Beziehung zwischen Erkenntnis des Guten und Selbsterkenntnis, freilich verstanden als das veränderte Selbst des Menschen, wird im platonischen Werk immer wieder angedeutet (Fröhlich 2017, 450–523). Betrachtet man das platonische Werk von diesem sokratischen Erkenntnisweg her, lösen sich einige Schwierigkeiten auf, die die Rezeption des Werks so erschwert haben. Dann wird nämlich verstehbar, weshalb fast alle platonischen Schriften in Dialogform verfasst sind. Der Dialog des Sokrates mit den geläufigen Meinungen über die entscheidenden menschlichen Dinge wie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit scheint genau der eben beschriebene Weg zu sein, zur Ursachenerkenntnis zu gelangen. Indem Sokrates fragt: »Was ist Gerechtigkeit (Tapferkeit etc.)?«, setzt er dieses Wissen eben nicht voraus, sondern sucht es anhand der ihm darüber dargebotenen Meinungen. In der dialektischen Prüfung der Voraussetzungen des Denkens, in der Widerlegung ungeprüfter Prämissen vollzieht sich die Erkenntnisbewegung, die der Philosoph immer wieder aufs Neue durchexerzieren muss. Dabei geht die Prüfung des anderen stets mit der Selbstprüfung einher, stehen die vorgeführten Positionen doch für grundlegende Denkmuster, wie sie jedermann im Alltagsdenken hegt. Daraus folgt, dass es im platonischen Werk nicht um die Vermittlung von Theorien und Wissen (Wieland 1982), sondern um die Anregung zum Vollzug der vorgeführten Denkbewegung geht. Erkenntnis ist eben nicht wie Wissen übertragbar (Platon 1990 g, 341b–d). Deshalb vollzieht sich das Eigentliche der platonischen Philosophie jenseits der von den Dialogpartnern vorgetragenen Theorien, nämlich in der Auseinandersetzung mit ihnen. Diese Art des Philosophierens ist in der gesamten Ideengeschichte einzigartig geblieben, auch wenn es ab und zu Versuche der äußerlichen Nachahmung gab. In der Rezeption wurde aber gemeinhin versucht, das sokratisch-platonische Philosophieren wieder in Wissbares zu übersetzen, was z. B. dazu führte, von einer »Ideenlehre« Platons zu sprechen (Ross 1951). Doch um eine Lehre geht es in den Dialogen gerade nicht: Jede inhaltliche Aussage in Platons Werk erschließt sich nur aus ihrer Funktion im Dialogzusammenhang. Deshalb ist es

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auch so schwierig, das platonische Denken angemessen darzustellen. Weil sich für Platon die Erkenntnis nur über die dialektische Prüfung der Meinungen erreichen lässt, ist ihm die Auseinandersetzung mit den Sophisten besonders wichtig. Denn sie verkörpern die umlaufenden Meinungen in Reinform, sie haben sie sozusagen auf den Punkt gebracht. Außerdem haben sie in ihrer Konzentration auf den Menschen bewusstgemacht, dass die Wahrheit nicht in der Natur zu finden ist, sondern dass alles, was der Mensch über die äußere Wirklichkeit aussagt, doch wieder zu ihm selbst zurückführt. Der Unterschied zu Platon ist allerdings, dass die Sophisten den Menschen, wie er ist, zum Maßstab machen, während Platon nur den vernünftig gewordenen Menschen, den Menschen, der sich selbst überschritten hat, als maßstabgebend betrachtet. Der Dialog mit den Sophisten ist für den Weg zur Vernunft aber unverzichtbar, weil er zugleich der Dialog mit den eigenen ungeprüften Urteilen und Vorurteilen ist. Einer dieser Dialoge, der Gorgias (Platon 1990b), befasst sich mit der sophistischen Rhetorik. Das ist jene Rednerkunst, der es gemäß dem Sophisten Protagoras darum geht, die »schwächere Meinung zur stärkeren zu machen« (Diels 1961, Bd. 2, 80 B 6 b). Die drei Dialogpartner des Sokrates, nämlich Gorgias, Polos und Kallikles, verteidigen ihre Kunst immer offensiver und aggressiver, ohne dass es ihnen gelänge, den programmatischen Satz von Protagoras zu bewahrheiten: Ihre Meinung bleibt das Schwächere gegenüber der sokratischen Widerlegung. Kern der Widerlegung ist die sophistische Prämisse, dass die Rhetorik sich jedes Themas bemächtigen kann, ohne etwas von der Sache zu verstehen. Die Sophisten sehen sie als eine wertfreie Technik, die den größten denkbaren Nutzen gewährt – nämlich mit ihrer Hilfe selbst frei zu sein und über andere zu herrschen (Platon 1990b, 452d). Das ist im Grunde das Ideal des Tyrannen, der die Anderen durch Regeln bindet, denen er selbst sich nicht unterwirft. Nun stellt sich für Sokrates aber die Frage, ob tun zu können, was man will, weil man die Anderen mittels rhetorischer Tricks in den Dienst der eigenen Zwecke stellen kann, tatsächlich nützlich ist. Die Sophisten müssen zugeben, dass sie, ohne Fachleute in dem zu sein, worüber sie Reden halten, zumindest ein Wissen bei sich selbst voraussetzen: das, was wahrhaft gut ist. Gut ist, möglichst viel Macht zu haben. Was aber, wenn diese Macht zuungunsten des Mächtigen ausschlägt? Schädigt derjenige, der anderen in seiner Machtvollkommenheit Unrecht tut, nicht zuallererst

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sich selbst? Für Kallikles ist eine solche Sicht, die sich alleine aus der logischen Prüfung der Prämissen von Gorgias und Polos ergeben hat, Ausdruck einer Moral der Schwäche. Die vielen Schwachen argumentieren so, um die wenigen Starken dadurch zu demoralisieren, dass sie die Selbstdurchsetzung als moralisch minderwertig abqualifizieren. Dahinter steht aber ihr Interesse, sich auf diese Weise selbst, und zwar ohne Kampf, an die Stelle der Starken zu setzen (eine Denkfigur, die Nietzsche bei seinem »Sklavenaufstand in der Moral« wiederaufnehmen wird). Das Recht aber ist auf der Seite der Starken (Platon 1990b, 483a–484c). Doch auch Kallikles kann seine Position nicht halten, weil er zugeben muss, dass die wenigen Starken im Zweifel schwächer sind als die vielen Schwachen; es ist also doch nicht die Stärke, die das Recht schafft. So bleibt als Herrschaftslegitimation der Starken nur ihr Besser-Sein. Und worin sind sie besser? Wenn nicht in der Selbstdurchsetzung, dann kann ihr Besser-Sein letztlich nur in überlegener Einsicht bestehen. Diese, so zeigt sich, zielt aber auf das wahrhaft Gute und nicht auf das bloß Angenehme wie z. B. ein ungezügeltes Machtstreben, das möglicherweise eine Selbstschädigung zur Folge hat. Damit hat sich die Apologie der Macht in Nichts aufgelöst, denn der Mächtige tut möglicherweise das, was er selbst nicht will. Das ist dann der Fall, wenn er nicht weiß, was wirklich gut ist, aber stark genug ist, das bloß für gut Gehaltene durchzusetzen. Letztlich erweist er sich als Ohnmächtiger. An diesem Dialogbeispiel wird Vieles sichtbar: Das, was alle Menschen unbewusst voraussetzen, ist, zu wissen, was gut ist. Jede im Leben gewählte Option hängt an diesem Vorverständnis. Von daher wird verstehbar, wieso Platon im Guten die Letztbegründung sieht. Erkennbar wird auch, dass die Sophisten tatsächlich die traditionelle Moral in Frage stellen. Allerdings entlarven sie sie zugleich – als Selbstdurchsetzungstechnik der Schwachen. Insofern machen sie im Grunde nur deren Selbstzerstörung sichtbar. Deshalb geht es in der platonischen Philosophie auch nicht um die Wiederherstellung der konventionellen Moral. Es geht um eine ganz neue Begründung der lebensleitenden Prinzipien, um die Suche nach Erkenntnis statt der Behauptung vermeintlichen Wissens. Aus diesem Grund präsentiert Sokrates den Meinungen seiner Dialogpartner auch keine Gegenmeinung, sondern durchdenkt stattdessen ihre Theorien bis zu ihrem Wesenskern. Trotzdem hat Platon ebenfalls Texte mit langen darstellenden Passagen geschrieben, so z. B. die Po-

liteia (Der Staat). Doch hier wie überall im platonischen Werk ist die Beachtung des Zusammenhangs, in dem sie stehen, essentiell. Dem positiven Staatsentwurf der Politeia geht im 1. Buch ein Dialog mit drei Partnern über die Gerechtigkeit voraus, der negativ endet (Platon 1990e, 327a – 354c). Ihre Gerechtigkeitsvorstellungen halten der Prüfung nicht stand. Das gilt für Kephalos, der mit seiner Gerechtigkeitsdefinition »Wiedergeben, was man empfangen hat« den Vertragsgedanken präsentiert, für Polemarchos, der mit seinem Satz »den Freunden nutzen, den Feinden schaden« deutlich macht, was mit denen passiert, die jenseits des Vertrags stehen, und für Thrasymachos, der mit seiner Definition, gerecht sei »das dem Stärkeren Zuträgliche« für eine völlige Aufkündigung des Vertrags plädiert. Alle drei Definitionen widerlegt Sokrates durch den Aufweis innerer Widersprüche. Letztlich kranken sie alle daran, dass sie als Gerechtigkeit ausgeben, was doch nur dem jeweiligen Interesse entspricht: dem der Vielen, die sich untereinander einigen, sich an die vereinbarten Regeln zu halten; dem der schon deutlich Wenigeren, die die Regeln nur für Freunde gelten lassen wollen, den außerhalb der Einigung Befindlichen aber mit Vergeltung drohen; dem des Einen, der sich stark genug fühlt, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen (Zehnpfennig 2008). Das sind Grundmodelle, Recht und Gerechtigkeit zu deuten: als Ausgleich, als Vergeltung, als Recht des Stärkeren. Gegen ihr Ungenügen soll ein Gegenmodell entworfen werden: ein Staat, in dem tatsächlich Gerechtigkeit herrscht. Platon betont aber, dass das eigentliche Ziel der Untersuchung nicht die staatliche Verfasstheit, sondern die der menschlichen Seele ist. Die menschliche Seele wird auf ein größeres Gebilde projiziert, um an der größeren Struktur die gesuchte Gerechtigkeit besser erkennen zu können. Die Staatsstruktur ist also im Grunde Seelenstruktur, denn Ausgangs- und Zielpunkt alles platonischen Philosophierens ist der einzelne Mensch. Deshalb ist das, was über den entworfenen Staat gesagt wird, nur bedingt politisch, und Platon äußert seine Zweifel an der Möglichkeit einer politischen Umsetzung auch immer wieder im Text. An der Umsetzung im Menschen äußert er jedoch keinen Zweifel, schließlich hat er, wie aus seiner Darstellung zu erschließen ist, ein Beispiel der gelungenen Verwirklichung unmittelbar vor Augen: Sokrates. Das Äußere des Staates ist seine Unterteilung in drei Stände: den der Bürger, der Wächter und der Philosophen. Jedem obliegt eine spezifische Aufgabe. Die

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Bürger sollen für den leiblichen Erhalt sorgen, die Wächter für den Schutz nach Innen und Außen, die Philosophen legen die Richtlinien für die Gemeinschaft fest. Analog sollen sich in der menschlichen Seele die Bedürfnisse um die Selbsterhaltung kümmern, der Wille soll auf die Vernunft hören und um des Schutzes des Menschen willen auch mäßigend auf die Bedürfnisse einwirken, die Vernunft legt die Ziele fest. Gerecht ist für Platon an dieser Anordnung, dass jeder Stand, jede seelische Kraft das tut, was er bzw. sie am besten kann. Auf diese Weise ist für alle am besten gesorgt, denn wenn die Vernunft herrscht, hat sie das Wohl aller im Blick. Sollten im Staat hingegen wirtschaftender Stand oder Wächter, im Menschen Trieb oder Wille die Oberhand gewinnen, würde das jeweils Herrschende nur das eigene Interesse verfolgen – auf Kosten aller anderen. Nun ist natürlich der entscheidende Punkt, was die Philosophen zur Herrschaft berechtigt bzw. worin Vernunft besteht. Denn die Okkupation des Begriffs ist ein Leichtes, nicht aber seine Ausfüllung. Deshalb ist das Herzstück der Politeia der Teil, in dem Platon in drei Gleichnissen von dem Weg zur Erkenntnis des Guten als der Grundvoraussetzung für den Erwerb von Vernunft spricht (Platon 1990e, 504a–519b). Da es hier um kein Wissen, sondern um eine Erkenntnis geht, kann nur der Weg beschrieben, nicht aber das Ziel begrifflich gefasst werden. Erkenntnis ist nicht über bloße Begriffe mitteilbar, weil sie auf individueller geistiger Erfahrung beruht. Deutliche Hinweise Platons führen aber zurück zur sokratischen Dialektik als erfolgversprechender Weg zum Ziel. So scheint das 1. Buch der Politeia nicht bloß Propädeutikum, sondern jenes Exerzitium zu sein, das Platon meint, wenn er von philosophischer Bildung spricht. Philosophische Bildung ist sicher auch der Zweck, den Platon mit der Gründung seiner Akademie (ca. 387 v. Chr.) in Athen verfolgt. Das platonische Erbe lässt sich nach seinem Tod aber wohl nicht lange bewahren, obwohl die Akademie ca. drei Jahrhunderte überdauert. Offenbar schwanken seine Nachfolger, soweit sich das den vorhandenen Zeugnissen entnehmen lässt, zwischen Dogmatisierung des platonischen Denkens und Skepsis – beides problematische Arten, auf ein Denken zu reagieren, das sich nicht als Wissen fassen lässt. Auch der Neuplatonismus, der sich ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. als System etabliert, hat nur bedingt mit Platon zu tun; er verwandelt das platonische Denken in eine Emanationslehre mit mystischen Elementen. In der Renaissance mit ihrer Rückwendung zur Antike wird eine platonische Akademie

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in Florenz gegründet, und die nun wieder zugänglichen platonischen Schriften werden ins Lateinische übersetzt. Die deutsche Übersetzung der Dialoge durch Friedrich Schleiermacher ab 1804 leitet eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit Platon ein. Diese durchzieht die weitere Geschichte bis heute, wobei sich jede Zeit das an ihm heraussucht, was sie gebrauchen kann oder kritisieren will – Platon als Vorläufer Kants, wie der Neukantianer Paul Natorp behauptet, oder Platon als Vordenker des Totalitarismus, wie der kritischen Rationalist Karl Popper behauptet. Indem er nichts Schriftliches hinterließ, konnte Sokrates diesem Schicksal des platonischen Werks immerhin entgehen. Die aristotelische Philosophie Etwa zwanzig Jahre (ca. 366–347 v. Chr.) verbrachte Aristoteles als Schüler in Platons Akademie. Viele Spuren dieser Schülerschaft finden sich in seinem Werk, doch mindestens ebenso deutlich ist die Abgrenzung gegenüber dem Lehrer. Diese betrifft vor allem die Ideenkritik. Zwar betont Aristoteles in seiner Metaphysik, dass die Ursachenerkenntnis das entscheidende Kennzeichen des Weisen sei (Aristoteles 1981, 982a 25–30). Doch mit der platonischen Letztursache, dem Guten oder der Idee des Guten, geht er ebenso ins Gericht wie mit der Ursachenforschung der Vorsokratiker. Zuvor erklärt er jedoch, welche Ursachen die zutreffenden sind, nämlich die vier Ursachen, die man im Mittelalter in Anknüpfung an Aristoteles die causa materialis, formalis, movens und finalis genannt hat – Stoff-, Form-, Bewegungs- und Zielursache (Aristoteles 1981, 983a 24–32). Schon an diesem Vorgehen zeigt sich der Unterschied zur platonischen Philosophie. Aristoteles geht von einem Standpunkt des Wissens aus, von dem her er seine Vorgänger beurteilt. In der weiteren Geschichte wurde deshalb oft die Auffassung vertreten, mit Aristoteles beginne die Wissenschaft (Kullmann 1998), zumal er die Wissensbereiche, anders als sein Lehrer, voneinander separiert. Doch ob es einen Fortschritt darstellt, Wissen als gesichert vorauszusetzen, wenn die sokratische Wissensprüfung doch immer wieder die Grundlosigkeit solcher Wissensannahme gezeigt hatte, wäre zu prüfen. Spätere Wissenschafts- und Fortschrittskritik wie etwa die Nietzsches oder Heideggers bedient sich allerdings nie des platonischen Modells. Eher bezweifelt sie Wert und Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt und be-

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trachtet gleich die gesamte abendländische Entwicklung als Irrweg. Aristoteles kritisiert nun an den Vorsokratikern, dass sie nur eine Ursache annehmen (den Stoff) oder zu viele oder zu ungenau gefasste Ursachen. An Platon bemängelt er, dass dieser bloß Stoff und Form unterscheidet, vor allem aber, dass er mit seinen Formen oder »Ideen«, also mit der Frage nach dem, was die Sache selbst ist, eine sinnlose Verdoppelung der wirklichen Welt vornimmt (Aristoteles 1981, 990a 35–b 8). In der aristotelischen Darstellung wird das, was bei Platon Ursache ist, zu einem »Ding«, das über den real vorhandenen Dingen eine von ihnen abgetrennte Existenz führt. Solch ein Ding kann natürlich nichts verursachen, aber ob Platon seine Ursache so verstanden wissen wollte? Die verfügbaren Texte nähren hier Zweifel. Doch die aristotelische Sicht Platons hat sich in der weiteren Geschichte als äußerst wirkmächtig erwiesen. Die »Verdinglichung der Idee« ist ein Vorwurf, der zum Standardeinwand gegen die platonische Philosophie geworden ist. (Kutschera 1995, 31 und 35) Aristoteles’ eigene Ursachenlehre geht davon aus, dass alle vier Ursachen im konkreten Ding zusammenwirken. Der Stoff wird durch die Bewegungsursache geformt und verwirklicht in der Formgewinnung zugleich seine Zweckursache. Diese Ausrichtung alles Wirklichen auf einen Zweck hin, die pyramidenförmige Zuordnung von unbelebter Natur, belebter Natur und Mensch auf die Erstursache hin, nämlich den unbewegten Beweger oder Gott, ist ein entscheidender Wesenszug der aristotelischen Philosophie. Hier wird auch verstehbar, weshalb Aristoteles in der christlichen Philosophie des Mittelalters als »der Philosoph« (Thomas von Aquin 1951, 1 q.1 a.1) galt. Sein Ansatz, die Welt als teleologisch ausgerichtet, d. h. nach einem Ziel bzw. nach Vollendung strebend zu denken, ließ sich mit dem christlichen Weltbild nahtlos zusammenfügen. Nun bleiben bei der aristotelischen Ursachenlehre aber diverse Unklarheiten. Wenn Aristoteles gegen Platon das konkrete Einzelding aufgewertet wissen will, dann aber doch wieder das Allgemeine, das Wesen, das Substrat etc. davon unterscheidet – welchen Stellenwert haben diese dann? Und wenn er sich als Letztursache einen Gott vorstellt, der in sich kreisend nur sich selbst denkt (Aristoteles 1981, 1072b 14–24), wie kann dieser Gott dann Ursache für irgendetwas sein? Trotz dieser Unklarheiten ist für Aristoteles die Befassung mit der Ursachenlehre die prima philosophia. Alle anderen Bereiche des Philosophierens sind ihr untergeordnet.

Das gilt auch für Politik und Ethik. Da wir uns hier im Bereich der Erfahrung bewegen, ist keine solche Prinzipienorientierung und logische Strenge zu fordern wie in der theoretischen Philosophie (Aristoteles 1986a, 1094b 11–28). Aristoteles unterscheidet sehr deutlich zwischen Theorie und Praxis (Wieland 1978, 49), wobei er das Leben des Theoretikers als die höchste Form des Mensch-Seins bewertet. In der konkreten Situation kann der Praktiker dem Theoretiker allerdings überlegen sein, weil es hier eben um Erfahrung und nicht um Prinzipienwissen geht. Damit hat sich Aristoteles erneut sehr deutlich von Platon abgegrenzt, der mit seinem Philosophenherrscher den erkenntnisgeleiteten Politiker fordert und generell die Erkenntnis des Guten als Grundvoraussetzung für ein gelingendes, glückliches Leben betrachtet. Aristoteles genügen im Praktischen Erfahrung und Klugheit; die Vernunft, der Nous, befasst sich mit etwas anderem – der prima philosophia, die Selbstzweck ist. Deshalb hat man es in der Politik auch nur mit den ethischen, nicht mit den dianoetischen (Verstandes-) Tugenden zu tun. In seiner »Politik« verwendet Aristoteles viel Sorgfalt auf die Unterscheidung der verschiedenen Staatsformen, die Auflistung ihrer empirisch vorfindlichen Varianten, die Frage, wie Staatsformen sich erhalten oder auflösen etc. Jenseits dessen spricht er aber doch meist vom Staat als solchem, also von der Polis, die diesen Namen verdient. Das ist jener Staat, der es dem Menschen ermöglicht, das gute, und das bedeutet: das tugendhafte Leben zu führen. Denn Sinn und Zweck des menschlichen Zusammenlebens ist die Verwirklichung dessen, woraufhin der einzelne Mensch angelegt ist: das Gute. In der Benennung des letzten Ziels kommt Aristoteles also zu keinem anderen Ergebnis als sein Lehrer Platon. Für Aristoteles ist das, was Ziel ist, immer schon vor seiner Verwirklichung da, es bezeichnet die Natur einer Sache (Aristoteles 1986b, 1252b 30–1253a 29). So strebt alles danach, seine Natur zu vollenden, und dem Staat kommt dabei eine herausragende Stellung zu. Die teleologische Pyramide gestaltet sich folgendermaßen: Der Mensch ist von Natur aus auf Gemeinschaft hin angelegt, er braucht das Zusammenleben mit anderen zu seiner Vollendung. Schon in der Verbindung von Mann und Frau wirkt ein über sie hinausgehendes Ziel, die Fortpflanzung. Unterste Einheit der Vergemeinschaftung ist der Oikos, das Haus, bestehend aus Eltern, Kindern und Sklaven. Das ist eine Gemeinschaft zur Überlebenssicherung. Aus der Zusammenfügung vieler Oikoi entsteht das Dorf, das

10  Antike: Griechenland

schon mehr repräsentiert als eine bloße Bedarfsgemeinschaft. Doch erst wenn sich viele Dörfer zur Polis zusammengeschlossen haben, ist das eigentliche Ziel erreicht: der Staat, »zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden, aber um des vollkommenen Lebens willen bestehend« (Aristoteles 1986b, 1252b 29–30). Dieser Ansatz, der Platon und Aristoteles gemeinsam ist, nämlich dass der Staat nicht nur die Funktion der Überlebenssicherung hat, sondern auch das gute, tugendhafte Leben ermöglichen soll, hat noch die mittelalterliche Philosophie bestimmt, etwa die des Thomas von Aquin (1974). Er steht aber in krassem Gegensatz zum neuzeitlichen Staatsverständnis, das den Staat auf seine Überlebenssicherungsfunktion reduziert sehen will. Vor allem der liberal-demokratische Staat erlegt sich Zurückhaltung hinsichtlich staatlicherseits propagierter Ziele für den Menschen auf. Allerdings kommt auch er nicht umhin, ein bestimmtes Gerechtigkeitsverständnis zu vertreten. Insofern kann sich auch die Moderne nicht gänzlich von den Tugenden lösen, von denen die Antike spricht. Die Tugend, sei es Gerechtigkeit oder Freigiebigkeit, Tapferkeit oder Mäßigung, ist für Aristoteles stets eine Mitte (Aristoteles 1986a, 1106a 24–b 16): die rechte Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig. So muss auch der richtige Staat ein Staat der Mitte sein. Weder Armut noch Reichtum dürfen dominieren, weder die besonders Herausragenden dürfen regieren noch die Oligarchen noch diejenigen, die nichts zu verlieren haben, weil sie überhaupt nichts haben. Der in allem mittlere Staat ist auch der stabilste. Was letztlich stabilisierend wirkt, ist die Gerechtigkeit bzw. die Beachtung des Gemeinwohls. Nun gibt es zwei Entartungsformen des Staates, die besonders häufig vorkommen: die Oligarchie und die Demokratie. Der Fehler der Oligarchen ist, dass sie glauben, weil sie in puncto Besitz ungleich sind, generell ungleich zu sein. Der Fehler der Demokraten ist, dass sie glauben, weil sie in puncto Freiheit gleich sind, generell gleich zu sein. Beide verstoßen damit gegen die Gerechtigkeit, die nach Aristoteles darin besteht, Gleichen Gleiches und Ungleichen Ungleiches zu gewähren. Obwohl Aristoteles bisweilen als Vordenker der modernen Demokratie in Anspruch genommen wird (Nussbaum 1990; dagegen: Knoll 2009), besteht dazu wenig Anlass. Er ist keineswegs ein Verfechter allgemeiner Gleichheit. Zwar weiß er die Politie als positive, Gemeinwohl-orientierte Variante der Herrschaft der Vielen zu loben, doch die Politie ist eine Mischverfassung, die oligarchische und demokratische Ele-

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ment gegeneinander austariert (Aristoteles 1886b, 1294a 15–b 42). Erst dadurch, dass sich die Einseitigkeiten dieser beiden Staatsformen wechselseitig konterkarieren, kommt eine gesunde Mischung zustande. Jede für sich aber verfolgt nur Partikularinteressen und ist damit weit von der Gerechtigkeit entfernt. Wie sein Lehrer Platon gründet Aristoteles in Athen eine Schule, das Lykeion, in dem der gesamte Kanon der bis dahin bekannten Wissenschaften gelehrt wird. Sein Denken gerät dann ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. durch die arabische und jüdische Überlieferung seiner Texte wieder in den Blick und geht ab ca. 1200 die schon erwähnte Verbindung mit der christlichen Scholastik ein, die im Thomismus ihren Höhepunkt findet. Aristoteles’ naturwissenschaftliche Ergebnisse werden ab dem 17. Jahrhundert größtenteils widerlegt, seine Logik, Methodenlehre etc. haben darüber hinaus Bestand. Im 20. Jahrhundert knüpfen die Kommunitaristen an seinen Vorstellungen über die natürliche Neigung des Menschen zur Gemeinschaftsbildung an.

10.5 Hellenismus Verliert Griechenland auch in politischer Hinsicht an Bedeutung, als es 337 v. Chr. unter die Herrschaft Makedoniens fällt, so gewinnt es doch in geistiger Hinsicht unendlich an Gewicht, als sich das griechische Denken über den Mittelmeerraum bis in den Orient hinein verbreitet. So beeinflusst griechisches Denken auch die nun bestimmende, sich zu imperialer Größe aufschwingende Macht: Rom. In der Verschmelzung griechischen und römischen Denkens verlagern sich die Akzente: Der römische Pragmatismus hat weniger Interesse an umfassenden Welterklärungsmodellen als an ethischen und politischen Fragen, die vor allem die Stellung des Einzelnen in seinem Verhältnis zu Staat und Recht betreffen. Obwohl die wesentlichen hellenistischen Schulen der Stoa, Epikureer und Skeptiker mehr oder weniger an der sokratisch-platonischen Philosophie anknüpfen, gelingt ihnen dies doch nur durch die Vereinseitigung einzelner ihrer Züge. Deshalb unterscheiden sie sich auch trotz gemeinsamer Quelle erheblich voneinander. Nichtsdestotrotz führen die Spuren aller Schulen, die sich im Zeitalter des Hellenismus entwickeln, zurück nach Athen (Flashar/Görler 1994, 4 f.). Hier wird das Grundlegende gedacht, das sich die Epigonen ihren Zeit- und Lebensumständen gemäß anverwandeln.

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III Denkströmungen – A Antike

Stoa

Skepsis

Zweifellos ist die Schule der Stoiker, ob in ihrer frühen griechischen (Zenon, Kleanthes, Chrysipp) oder späten römischen Variante (Seneca, Epiktet), von den Kynikern beeinflusst. Deren Plädoyer für das bedürfnislose, die äußeren Verhältnisse geringachtende Leben findet sich in der stoischen Ethik wieder. Die geistige Bedürfnislosigkeit der Kyniker hat in der Stoa jedoch keine Entsprechung. Vielmehr üben ihre Anhänger sich in den Disziplinen der Logik, Physik und Ethik, wobei die beiden Ersteren um der Letzteren willen betrieben werden. Da für die Stoiker in der Natur eine übergeordnete Vernunft waltet, ist das naturgemäße Leben das dem Menschen angemessene. Doch die menschlichen Bedürfnisse widerstreiten der Vernunft. Deshalb stellt sich nur durch tugendhafte Beherrschung der Affekte der Zustand der Apathie, der Leidenschaftslosigkeit, ein und damit der erstrebte Seelenfrieden. Diese zunächst rein individuelle Glücksvorstellung wird in der römischen Stoa universalistisch geweitet. Zum richtigen Leben gehören auch das Streben nach Gerechtigkeit sowie eine Menschenliebe, die selbst Sklaven und Barbaren umfasst. Es sind nicht zuletzt solche Gedanken, die die spätere Verbindung des stoischen mit dem christlichen Gedankengut ermöglichen.

Was bei Epikur schon angelegt war, die Bedeutungslosigkeit bzw. Unerkennbarkeit bestimmter grundlegender Phänomene, wird in der Schule der Skeptiker, die sich in der mittleren Phase sogar in der platonischen Akademie ansiedelt, systematisch entfaltet. In ihrer Lehre von den Tropen sammeln sie alle Aspekte, die für die Unerkennbarkeit der Wahrheit sprechen, u. a. die Verschiedenheit der Menschen und ihrer Sinneseindrücke, die Unterschiedlichkeit der Objekte etc. Auch hier geht es um die Seelenruhe, die man durch die Enthaltung vom Urteil (die Epoché, die später in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts wiederauftaucht) gewinnen soll. Das ist sozusagen ein Anti-Intellektualismus im intellektuellen Gewand – kein seltenes Phänomen gerade in Zeiten, die auf eine Phase der Hochzeit des Geistes folgen, wie sie die Klassik darstellte. Die Skepsis tritt geschichtlich oft dann auf, wenn die großen Entwürfe, die großen Systeme zu Ende gedacht und ausgereizt erscheinen.

Schule des Epikur Auch bei den Epikureern steht der Seelenfrieden des Menschen im Zentrum. Das Mittel hierzu ist allerdings ein präzises Lust-Unlust-Kalkül. Weil es um Lustmaximierung geht, ist alles Unlust-Fördernde zu vermeiden, und dazu gehört auch, sich von der Furcht vor Göttern zu befreien. Dazu dienlich ist eine rein physikalische Welterklärung, für die Epikur wohl an Demokrits Atomtheorie anknüpft (Erler 1994, 66), und das Ausblenden der Gottesfrage. Auch um den Tod soll sich der Mensch nicht kümmern. Alles Geistige wird damit in den Dienst der Lust gestellt: das Kalkulieren von Lust und Unlust und die Ausgrenzung von Fragen, die den Seelenfrieden, die Ataraxie, stören könnten. Anders als die Stoiker kann der Epikureer sein Glück in der Beschränkung auf sich selbst finden.

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Barbara Zehnpfennig

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III Denkströmungen – A Antike

11 Antike: Rom Die Stadt Rom war schon in früher Zeit von unterschiedlichen Kultureinflüssen geprägt: Neben den italischsprachigen Bewohnern von Stadt und Umland (Latiner und Sabiner in Latium) gab es früh einen bedeutenden kulturellen Einfluss der Etrusker, deren Siedlungsgebiet in alter Zeit bis in das römische Stadtgebiet hineinreichte. In der Königszeit regierten sogar einige etruskische Könige die Stadt (bis Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.). Von den Etruskern übernahmen die Römer vermutlich im 7. Jahrhundert v. Chr. die Alphabetschrift, die allerdings bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. fast nur für religiöse Inschriften genutzt wurde. Auch für den Kult spielten die Etrusker eine wichtige Rolle: Insbesondere die Eingeweideschau wurde nach etruskischen Kultvorschriften durchgeführt. Daneben war der griechische Kultureinfluss im frühen Rom spürbar, allerdings zunächst vor allem durch die allmähliche Übernahme einiger griechischer Götter und Götterattribute. Vermutlich gelangte sogar der Stadtgründungsmythos mit Aeneas und Romulus über etruskische Vermittlung aus Griechenland nach Rom (Bömer 1951). Nach der Abschaffung der Königsherrschaft um 500 v. Chr. wurde Rom ein republikanisch verfasster Stadtstaat, der von den wenigen Familien der erbadeligen Patrizier angeführt wurde. Die politischen Ämter waren jährlich neu durch Wahl zu besetzen, allerdings garantierte die soziale Exklusivität des Ämterzugangs sowie die Annuität eine einigermaßen gleichmäßige Berücksichtigung aller männlichen Mitglieder der adeligen Führungsschicht (Patrizier) in den politischen und militärischen Ämtern Roms. Nach dem Abschluss der Ständekämpfe im 4. Jahrhundert v. Chr. erhielten auch die übrigen Bürger des Plebejer- und Ritterstandes gleichberechtigten Zugang zu den Ämtern, was zu einer deutlich stärkeren Konkurrenz um politische Führungsstellen führte. Prestige und Vorteile für Wahlen konnte man besonders durch militärische Erfolge erwerben, was nach heutiger Auffassung zu einem großen Teil den nun einsetzenden Expansionsdrang der Römer in hellenistischer Zeit erklärt (Bellen 1995, 83–90). Das aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammende Gesetzeswerk der ›Zwölf-Tafel-Gesetze‹ dürfte von griechischen Vorbildern wie der Gesetzgebung des Solon (6. Jahrhundert v. Chr.) in Athen beeinflusst sein. Ansonsten blieb Rom jedoch vor der Zeit der Expansion ein relativ traditionalistischer Stadtstaat mit aristokratischen und patriarchalischen Strukturen. Das ganze

öffentliche Leben war dominiert von den patrizischen Familienverbänden (gentes), in denen jeweils der pater familias eine fast unbeschränkte Machtfülle über seine Hausgemeinschaft (familia) ausübte und sogar für die Kulte innerhalb des Hauses zuständig war. Der Gehorsam und die Ehrerbietung gegenüber dem pater familias und anderen älteren männlichen Verwandten wurde mit dem Begriff der pietas bezeichnet. Prägend für die adeligen Männer war ein bis in die Kaiserzeit relativ konstanter Wertekanon (Schröder 2017), der auf vir-tus, d. h. »Mannhaftigkeit« fußte. Römische virtus umfasste alle idealtypischen Eigenschaften eines Mannes der Oberschicht wie politischen, gesellschaftlichen und militärischen Erfolg. Hierzu gehörte das Streben nach Ruhm (lat. gloria) und Ehre (lat. Honor), um sich ein bleibendes Andenken bei der Nachwelt (lat. memoria) zu sichern. Fast das gesamte öffentliche und politische Leben war bis zur Christianisierung, ähnlich wie in den griechischen Poleis, von kultischen Handlungen durchdrungen, die vielfach von den Magistraten der Stadt selbst durchgeführt wurden (Rüpke 2001, 24–31). Senatssitzungen konnten nur in geweihten Gebäuden stattfinden: Daher tagte der Senat nicht nur in der Kurie, sondern vielfach auch in bestimmten, räumlich geeigneten Tempeln der Stadt. Es gab offizielle Staatsgottheiten für Rom wie etwa die Kapitolinische Trias (Jupiter, Juno, Minerva); der Import fremder Gottheiten bedurfte offizieller Beschlüsse des Senats. Die Rituale gegenüber den Göttern mussten streng befolgt werden, um so die Fürsorge der Götter gegenüber dem römischen Staat zu sichern. Über das ganze Jahr waren viele Kultfeste zu Ehren bestimmter Gottheiten verteilt, die wiederum das kulturelle Leben prägten. So fanden etwa die Theateraufführungen in Rom zusammen mit Circus-Spielen im Rahmen des Kultfestes der Ludi Romani zu Ehren Jupiters statt. Erst mit der allmählichen Eroberung Griechenlands, die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zum Abschluss kam, begann ein deutlicher kultureller Umbruch: Nun gelangten in großem Umfang griechische Kunstschätze, Kriegsgefangene mit hoher Bildung und vor allem Bibliotheken nach Rom (Woolf 2015, 199–217). Damit kamen auch Denkströmungen nach Rom, die das Geistesleben sowie den kulturellen Geschmack der gebildeten Oberschicht nachhaltig veränderten. Die Hauptstadt Rom wurde selbst immer mehr zur Metropole des römisch dominierten Mittelmeerraums, der Gebildete und Kulturschaffende aus dem griechisch geprägten Osten dorthin zog. Bekannte Beispiele hierfür sind die stoischen Philosophen Pa-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_11

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naítios von Rhodos (ca. 180–110 v. Chr.) und sein Schüler Poseidónios (135–51 v. Chr.), die in Rom mit römischen Adelsfamilie wie den Scipionen oder im Falle des Poseidonios mit Politikern wie Cicero enge persönliche Kontakte unterhielten und viele vornehme Römer in Philosophie unterrichteten. Gleichwohl blieb in Rom, anders als in Athen und Griechenland, das Interesse an Philosophie zunächst vergleichsweise gering. Vor allem die gebildete adlige Oberschicht in Rom begann sich für die Lehren und Weltanschauungen griechischer Philosophen zu interessieren. Unter ›Philosophie‹ verstand man in antiker Zeit teilweise etwas Anderes als heute (Ries 2005, 11–16; Kuhlmann 2017, 144 f.): Im Laufe der antiken Philosophiegeschichte gelangten aus heutiger Perspektive ganz unterschiedliche Bereiche in die Zuständigkeit der Philosophie, nämlich die Physik, die etwa der Naturwissenschaft entspricht und die Götterlehre einschließt; die Logik, zu der auch die Sprachbetrachtung gehört; die Ethik und schließlich die Staatslehre. In der Antike umfasste also die Philosophie tatsächlich ein breites Spektrum von Auffassungen, Ideen und Konzepten zum Kosmos, zum menschlichen Leben, zur Politik sowie zur Theologie im modernen Sinne, die sich erst in nachantiker Zeit zu einzelnen selbständigen Disziplinen ausdifferenzierten. Zudem handelte es sich bei den einzelnen Philosophenschulen um miteinander konkurrierende und einander im Grunde ausschließende Weltanschauungen im Sinne eines Bekenntnisses: Man war also in der Regel nur Anhänger einer bestimmten philosophischen Lehre, ähnlich wie heute die Mitgliedschaft in mehreren Konfessionen oder Religionen nicht möglich ist. Aus moderner Sicht ist die Grenze zwischen einer zum Teil durchaus theologisch geprägten Philosophenschule der Antike und einem religiösen Bekenntnis bzw. einer ›Konfession‹ nicht immer leicht zu ziehen. Das in römischer Zeit aufkommende Christentum wurde übrigens nicht selten als ›Philosophie‹ bezeichnet, weil es eine Lehre enthielt, die vergleichbar mit der von nicht-christlichen Philosophenschulen der griechischen Tradition war. Für Rom waren ideengeschichtlich die wichtigen Philosophenschulen des Platon (die Akademie), des Aristoteles (der Perípatos), der Stoiker und des Epikur besonders prägend. Überhaupt erst in der Zeit des Hellenismus (ab dem 3. Jahrhundert v. Chr.) gelangten im Zuge der römischen Expansion Ideen griechischer Philosophen nach Rom. So kam im 3. Jahrhundert v. Chr. etwa der griechisch- und oskischsprachige Gelehrte Ennius aus

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Süditalien nach Rom und trug als Hauslehrer und Gast vornehmer Familien (z. B. der Scipionen) zur Verbreitung griechischer Kultur bei. Er übersetzte um 200 v. Chr. u. a. die Schriften des hellenistischen Philosophen Euhémeros (ca. 340–260 v. Chr.) ins Lateinische, der eine Erklärung für die Götterverehrung entwickelte: Nach der Theologie des Euhemeros waren die Götter ursprünglich einmal Menschen, die dann später aufgrund ihrer herausragenden Leistungen als Götter verehrt wurden. Diese Theorie des Euhemeros wurde in der Antike und im Mittelalter viel benutzt und als ›Euhemerismus‹ zu einem Klassiker antiker Religionserklärung (Thraede 1966). Dabei handelte es sich ursprünglich nicht um eine Kritik an der Götterverehrung, sondern um eine quasi wissenschaftliche Erklärung des Phänomens als solchen. Auch sonst gab es in der griechisch-römischen Mythologie Vorbilder für eine solche Götter-Erklärung: So waren etwa der Heilgott Asklepios oder der römische Stadtgründer Romulus ursprünglich Menschen, die nach ihrem Tod als Götter oder Heroen kultische Ehren erhielten. Die christlichen Kirchenväter benutzten die euhemeristische Theorie jedoch später, um die griechisch-römischen Götter als eigentlich falsche oder erfundene Götter zu entlarven. Im Mittelalter wiederum nutzte man die aufgrund der lateinischen Rezeption immer noch bekannte Götterlehre des Euhemeros dann wieder im positiven Sinne, um nach der Christianisierung Nordeuropas die germanischen Göttergenealogien mit der christlichen Theologie kompatibel zu machen: Danach erklärte der isländische Gelehrte Snorri Sturluson (um 1200) in der altnordischen Snorra-Edda (Gylfaginning 1–2) z. B. das germanische Götterpantheon der Asen euhemeristisch und etymologisch als ursprünglich menschliche Einwanderer aus Asien und leitete den Götternamen Thor von Tros, dem Stammvater der Trojaner, ab (Lorenz 1984, 34–37 und 43–56). Somit konnten die christianisierten Germanen weiterhin den traditionellen mythologischen Figuren im Sinne historischer Ahnherren Respekt zollen, ohne mit der christlichen Lehre in Konflikt zu geraten. Im hellenistischen Rom gab es vor allem zunächst Skepsis gegenüber der griechischen Philosophie, was insbesondere die sogenannte Philosophengesandtschaft belegt (bezeugt bei Laktanz, Institutiones 5,14 f.): Im Jahre 155 v. Chr. kamen auf Einladung des römischen Senats Vertreter der wichtigsten Philosophenschulen nach Rom, um dort ihre Lehren vorzustellen. Nicht eingeladen waren die Epikureer, deren Lehre den konservativen Römern offenbar besonders

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III Denkströmungen – A Antike

verdächtig war. Doch auch die anderen Schulen stießen nicht nur auf Zustimmung. Besondere Empörung rief die Vorstellung des Schulhauptes der platonischen Akademie namens Karnéades hervor. Im 2. Jahrhundert v. Chr. war die Schule des Platon ›skeptisch‹ ausgerichtet, d. h. sie verneinte die Möglichkeit absoluter Wahrheitsfindung. Der platonische Skeptiker Karneades hielt entsprechend am ersten Tag seines Auftretens eine Rede für die Gerechtigkeit und widerlegte am folgenden Tag in einer Gegenrede diese Ansichten wieder, um die Nutzlosigkeit der Gerechtigkeit darzulegen. Es ging dem Philosophen vor allem um den typisch platonischen Beweis, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt. Diese skeptische Grundhaltung führte zur Ausweisung der Philosophen aus Rom. Trotzdem konnte diese Maßnahme die Ausbreitung der neuen Ideen nicht aufhalten, denn viele römische Aristokraten unterhielten seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. enge persönliche Kontakte zu griechischen Philosophen, reisten zur eigenen Weiterbildung nach Griechenland und besaßen von ihren Eroberungszügen in Griechenland private Bibliotheken mit griechischer Literatur (Zimmermann 2013). Zudem enthielten speziell die platonischen und die stoischen Philosophenschulen vielfach die Rhetorik als integrativen Teil der Ausbildung für ihre Schüler. Da aufgrund der erweiterten politischen Partizipationsmöglichkeiten im hellenistischen Rom eine fundierte rhetorische Bildung Vorteile in Wahlkämpfen und überhaupt bei der Ausübung öffentlicher Ämter mit sich brachte, dürften die zunächst griechisch geprägten Philosophen- und Rhetorenschulen in Rom großen Zulauf gehabt haben. Denn dort erwarben die jungen Männer mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten Wissen und Kompetenzen, die innerhalb der patrizischen Schicht vorher lediglich aufgrund persönlicher Kontakte auf informelle Weise entweder in der Familie oder durch persönliche Beziehungen tradiert wurden (Kuhlmann 2016, 168 f.). Zwar waren die Plebejer ursprünglich in Rom kein politisch gleichberechtigter Stand gewesen; gleichwohl gab es sehr wohlhabende plebejische Familien, die aufgrund ihres Reichtums durchaus mit den Patriziern konkurrieren konnten.

11.1 Spezifika römischer Philosophie Nachdem Griechenland römische Provinz geworden war, blieb Rom bis zur Spätantike das eigentliche Zentrum für geistige Strömungen aller Art und damit

auch der griechischen Philosophie. Die Philosophie wurde gerade in der politisch aktiven Führungsschicht der römischen Gesellschaft zunehmend Teil des oberschichtlichen Bildungskanons, so dass eigentlich alle Angehörigen der Nobilität über gewisse Grundkenntnisse in Philosophie verfügten. Zur Nobilität gehörten in Rom nicht nur die Angehörigen der alten erbadeligen Patriziergeschlechter, sondern auch die Aufsteiger aus dem Plebejer- und Ritterstand, die höhere politische Ämter in der Leitung des Staates innehatten. Trotz des gestiegenen Interesses an Philosophie bekannten sich natürlich nicht alle Römer zu einer philosophischen Richtung. Vielmehr gab es durchaus auch in der Kaiserzeit noch Vorurteile gegenüber philosophischer Beschäftigung, die aus praktischen Erfahrungen resultierten: So traten viele Philosophen in der Öffentlichkeit betont ungepflegt auf, um so ihrer Missachtung aller äußeren Güter Ausdruck zu verleihen. Angehörige der römischen Oberschicht achteten hingegen besonders auf ihr gepflegtes Äußeres und standesbewusstes Auftreten, was sich schon in der Körperhaltung und der Art des Daherschreitens offenbarte. Philosophische und rhetorische Bildung wurden in Rom zum einen in den privat geführten und kostenpflichtigen, nur für die finanzkräftige Oberschicht erschwinglichen Schulen oder durch noch teurere Privatlehrer vermittelt (Kuhlmann 2016, 166 ff.). Zum anderen traten auch an öffentlichen Plätzen vielfach philosophierende Redner auf, die ein Massenpublikum mit öffentlichkeitswirksamen Vorträgen begeisterten. Auf diese Weise konnten auch soziale Gruppen mit niedrigem Einkommen an philosophischer Bildung partizipieren. Ein wichtiger Grund für eine häufig distanzierte Haltung der römischen Oberschicht gegenüber der Philosophie war die mangelnde Übereinstimmung römischer Wertvorstellungen mit philosophischen Anschauungen. So waren speziell für die Männer der römischen Oberschicht eher ›äußere‹ Werte wie politischer und militärischer Erfolg von großer Bedeutung, während die griechischen Philosophen den Wert dieser äußeren Güter negierten oder zumindest stark relativierten. Griechische Philosophie wurde in Rom auf zweierlei Weise rezipiert: Zum einen studierten viele Gebildete – vor allem die fachlich besonders Interessierten – die Texte im griechischen Original; da in der römischen Oberschicht griechische Ammen Mode geworden waren, wuchsen die Angehörigen der Nobilität meist mehr oder weniger zweisprachig lateinisch-

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griechisch auf (vgl. Quintilian, Institutio oratoria 1,4– 14). Zum anderen präsentierten einige Römer wie Lukrez, Cicero oder Seneca griechische Philosophie bewusst in lateinischer Sprache, um so eigene inhaltliche Akzente zu setzen und griechisches Ideengut zu romanisieren. Hierdurch und aufgrund der besonderen gesellschaftlichen Bedingungen in Rom entstand eine eigene Form römischer Philosophie und Ideenwelt, die sich in Manchem von den griechischen Vorbildern unterschied. Römische Charakteristika sind: •• die bewusste Wahl ästhetisch ansprechender literarischer Formen wie Dichtung, Dialoge, literarischer Briefe; •• die Verbindung von Rhetorik und Philosophie; •• das Hauptinteresse für ethische und eher lebenspraktische Fragen bei gleichzeitiger Zurückdrängung rein theoretischer Spezialprobleme; •• eine deutliche Anbindung an den Wertekodex der römischen Nobilität, die durch lateinische Übersetzungen griechischer Termini gesteuert wurde (Kuhlmann 2018). Speziell Cicero (106–43 v. Chr.) war von mehreren philosophischen Schulen beeinflusst und kombinierte in seinen Schriften Elemente von Platon (Akademie), Aristoteles (Perípatos) und der Stoa, so dass man hier von einer ›eklektischen‹ Philosophie bzw. von ›Eklektizismus‹ (von gr. eklégo »auswählen«) spricht (Leonhardt 1999). Diese Art philosophischer Haltung war in der Antike untypisch, da man sich ja im Normalfall nur zu einer Schule (wie zu einer ›Konfession‹) bekannte.

11.2 Platonismus und Aristotelismus In Rom empfand man meistens keinen besonderen Gegensatz zwischen der platonischen und der aristotelischen Philosophie, so dass beide Richtungen teilweise gemeinsam rezipiert wurden. Für politisch aktive Schriftsteller wie Cicero waren diese beiden Richtungen besonders attraktiv, weil sowohl Platon als auch Aristoteles Fragen der Staatslehre in ihren Werken behandelten. Speziell beim Platonismus (Akademie) sind zwei unterschiedliche Ausrichtungen zu unterscheiden: So gab es eine eher skeptische Richtung, die in Rom vor allem in der ausgehenden Republik wichtig war und leicht mit dem Aristotelismus verbunden werden konnte. Daneben existierte jedoch auch eine eher dogmatische Ausprägung des Platonismus, die sich in der Kaiserzeit und Spätantike durchsetzte.

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In Rom griff zuerst Cicero die beiden Richtungen der Akademie und des Peripatos auf. Cicero war selbst eher skeptisch veranlagt und lehnte jede dogmatische Verengung ab (Gawlawik/Görler 1994, 1095–1125; Reydams-Schils 2016, 17 f.). Dies spiegelt sich schon in der Wahl der literarischen Form wider: Er verbreitete seine Ideen vorzugsweise in Dialogform (Steel 2013). In diesen Dialogen treten historische Persönlichkeiten auf, die entweder zu Ciceros eigener Lebenszeit oder im ausgehenden 2. Jahrhundert v. Chr. eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben Roms spielten (Politik, Redekunst, Kult) und somit zu einem großen Teil als Exempla für die römischen Leser fungieren konnten. Die Dialogfiguren halten bei Cicero meist längere Reden, die zum Teil nach den Regeln von politischen und gerichtlichen Reden gestaltet sind (Lefèvre 2008). Damit stellt Cicero eine enge Verbindung von griechischer Philosophie, römischer Politik und zum Teil Religion für die Leser seiner Werke her. Er vermittelt den Eindruck, viele führende Römer seien bereits mit griechischen Bildungsideen vertraut gewesen, nähert aber zugleich griechisches Gedankengut an römische Wertvorstellungen an. Ein Beispiel aus dem religiöskultischen Bereich ist der Dialog De natura deorum, der Fragen der Götterlehre in einem philosophischen Rahmen behandelt: Es gibt hier einen eigenen Dialogsprecher für die skeptische Akademie, nämlich den Pontifex maximus Aurelius Cotta, und weitere Dialogsprecher als Vertreter des epikureischen und stoischen Standpunktes, die jeweils längere Reden für ihre Positionen und Gegenreden gegen die übrigen Standpunkte halten. Ausgerechnet der römische Priester Cotta stellt alle sichere Erkenntnis über die Götter in Frage und weiß nicht einmal genau, ob die Götter überhaupt existieren (2,1–19). Für den modernen Leser wird der skeptische Dialogsprecher Cotta am überzeugendsten dargestellt. Es kommt hinzu, dass Cicero wie Cotta auch selbst ein Priesteramt innehatte und beide der skeptischen Akademie anhingen, also insofern eine Parallelisierung Cicero-Cotta naheliegt. Allerdings mischt sich der Autor Cicero am Schluss dieses Dialogs (3,95) noch einmal selbst in das Gespräch ein und erklärt überraschend, ihm komme die Meinung der Stoiker zur Götterlehre am wahrscheinlichsten vor. Der Leser muss sich am Ende ein selbständiges Urteil bilden, weil keine absolute Wahrheitsfindung möglich ist. Die skeptisch-akademische Anlage der Dialoge dient letztlich nur als Medium der eigenen Meinungsfindung nach dem Austausch der wichtigsten Argumente unter Berücksichtigung aller Standpunkte.

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III Denkströmungen – A Antike

Diesen Skeptizismus wendet Cicero auch auf Fragen nach den größten Gütern und Übeln sowie nach dem Sinn und Ziel des eigenen Lebens an: Im Dialog De finibus bonorum et malorum kontrastiert Cicero zunächst die Auffassungen der Epikureer (Buch 1–2) und der Stoa (Buch 3–4); im letzten Buch behauptet ein Vertreter der aristotelischen Schule, diese Frage könne man gar nicht so pauschal und dogmatisch beantworten, wie die Vertreter von Stoa und Epikureismus es vorgäben; vielmehr müsse man für den Einzelnen das höchste Gut sowie das Lebensziel jeweils individuell unterschiedlich festlegen (5,24–26). Ciceros Anlehnung an die Akademie und den Peripatos ergab sich inhaltlich aus dem Interesse an politischen Fragen, die sowohl Platon als auch Aristoteles vielfach behandelten. So übernahm Cicero Aristoteles’ Vorstellung vom Menschen als einem politischen Wesen (gr. zôon polītikón), das aufgrund seiner Natur zur Staatenbildung bestimmt sei. Ähnlich wie Platon und Aristoteles verfasste auch Cicero eine philosophische Schrift zum Staat (De re publica), die platonische und aristotelische Vorstellungen miteinander verbindet, dabei jedoch Spezifika der römischen Staatsauffassung betont. So erwähnt Cicero darin (1,44–45) den schon bei Platon und Aristoteles beschriebenen Verfassungskreislauf: Danach gibt es drei Grundformen der Staatsverfassung, nämlich Monarchie, Aristokratie und Demokratie; doch diese Formen können im Laufe der Geschichte zu einer Tyrannei, einer Oligarchie oder zur Ochlokratie (»Pöbelherrschaft«) pervertieren. Als ideal erscheint bei Cicero die römische Verfassung mit ihrem Mischcharakter aus allen drei Elementen: Die Magistrats- und Priesterwahlen enthalten demokratische Elemente, das starke Gewicht der Nobilität bei Wahlen fußt auf dem eigentlich aristokratischen Charakter des Staates, und die politischen Vollmachten der Konsuln oder in Krisenzeiten des Diktators weisen monarchische Elemente auf. In der Kaiserzeit wurde Platon durch den Mittelplatonismus nach einer gewissen Pause wieder verstärkt rezipiert, allerdings mit verändertem Zugriff: In Griechenland wirkte der vielseitige Schriftsteller Plutarch (ca. 50–120 n. Chr.) und orientierte sich in seinen philosophischen Werken sowohl an der skeptischen als auch an der eher dogmatischen Tradition des Platonismus. Im 2. Jahrhundert n. Chr. verfasste der aus dem nordafrikanischen Madaura stammende Schriftsteller Apuleius platonische Schriften in lateinischer Sprache. Seine Philosophie repräsentiert jedoch eher die dogmatische Ausrichtung der Platoniker und des zeitgenössischen griechischen Mittelpla-

tonismus. Plutarch und Apuleius übernahmen Platons Lehre von einer unsterblichen Seele, die auf Erlösung durch die Befreiung vom Körper als Gefängnis der Seele wartet. Zwischen den Menschen und Göttern nahmen sie in Anlehnung an Platons Dialog Symposion eine Existenz von guten Zwischenwesen an, die sie als daímones – eigentlich »Dämonen« – bezeichneten. Diese mittelplatonische Lehre von der unsterblichen Seele und den Zwischenwesen (daímones) übernahmen dann die christlichen Kirchenväter und entwickelten sie weiter: So entwickelten sie ein Modell, nach dem zwischen Gott und den Menschen die guten Zwischenwesen (Engel) und die bösen Dämonen existierten, wobei Letztere den jetzt als bösartig erklärten Göttern der Griechen und Römer entsprachen. Die antiken christlichen Theologen waren also keineswegs ›Monotheisten‹ im modernen Sinne, die die Existenz der polytheistischen Götterwelt leugneten, sondern sie versuchten, die traditionellen Gottheiten ganz ähnlich wie spätere christlichen Missionare der Germanen und Slawen oder heutige Missionare in Afrika oder Südamerika zu bösen Geistern und Dämonen umzuinterpretierten.

11.3 Stoa Eine besondere Rolle spielte im Rom der ausgehenden Republik und der frühen Kaiserzeit die Stoa. Doch auch in der Spätantike waren den gebildeten Römern die Vorstellungen der Stoa noch geläufig. Unter den hellenistischen Philosophenschulen schien die Lehre der Stoa am ehesten mit den Wertvorstellungen der römischen Oberschicht vereinbar zu sein: Als höchstes Gut galt den Stoikern die ›Tugend‹ bzw. gr. areté, was Cicero und Seneca im Lateinischen als virtus, d. h. eigentlich »Mannhaftigkeit« wiedergaben (Kuhlmann 2018). Schon aufgrund dieser Übersetzung schienen die Konzepte der Stoa mit den männlich geprägten Werten der römischen Aristokratie kompatibel zu sein. In den Einzelheiten der Lehre ergeben sich freilich deutliche Unterschiede zwischen Stoa und römischem Wertekanon. Diese Spannung spiegelt sich gut bei Cicero wider, der in einigen seiner Dialoge (vor allem De officiis) durchaus stoisch beeinflusst ist – etwa bei der Tugendlehre –, allerdings einige typisch stoische Lehren wie die von der Lenkung allen Weltgeschehens durch das Schicksal (lat. fatum) strikt ablehnte. In der historischen Entwicklung der Stoa lassen sich drei Phasen unterscheiden (Ries 2005, 131–

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148): (a) eine frühe Stoa zur Zeit der Schulgründer, (b) eine mittlere Stoa unter Panaitios und Poseidonios und schließlich (c) die späte Stoa in der römi­ schen Kaiserzeit. Die frühe und späte Stoa zeichnen sich durch besonders rigorose und strenge Ansichten aus, während die mittlere Stoa von den Lehren des Aristoteles beeinflusst ist und weniger strenge Lehren aufweist – vor allem in den Bereichen Affektenund Güterlehre. Im Rahmen dieser Entwicklung gehört Ciceros Darstellung zur mittleren und Senecas Haltung zur späten, strengeren Stoa. In der Zeit nach Seneca gab es in Rom weitere wichtige Vertreter der Stoa, so den griechischen Autor Epiktét (ca. 50–138 n. Chr.) und den römischen Kaiser Marc Aurel (121– 180 n. Chr.), der ebenfalls ein griechischsprachiges Werk mit dem Titel »Selbstgespräche« (gr. eis heautón) verfasste, das in aphoristischer Form die stoische Lehre wiedergab. Eine wichtige Rolle spielte für die römischen Stoiker die Götterlehre. Nach griechisch-stoischer Auffassung gab es eine göttliche, als Feuer gedachte Urkraft (gr. lógos), die den gesamten Kosmos durchzieht und belebt. Bei Cicero und Seneca wird der vieldeutige griechische Terminus lógos (»Vernunft, Geist, Rede, Wort«) als ratio wiedergegeben, d. h. eine göttliche Vernunft oder eine Art Weltgeist. Allerdings bedeutet lateinisch ratio eigentlich ›(Be-)Rechnung‹, aber nicht ›Rede, Wort‹, so dass die lateinische Übersetzung eine andere Konnotation als der griechische Terminus aufweist. Da der Kosmos in der Stoa als göttlich durchwirkt gedacht ist, spricht man auch vom stoischen ›Pantheismus‹. An diesem göttlichen Weltgeist haben alle Menschen in gleicher Weise Anteil, weswegen die Stoiker in Bezug auf die Vernunft durchaus von einer Gleichheit aller Menschen ausgehen. Die göttliche Vernunft bringt nicht nur den Kosmos und alles Leben hervor, sondern bestimmt auch alles Weltgeschehen nach einem festen Plan vorher. Somit vollzieht sich alles in der Welt nach dem Schicksal (lat. fatum). Dieses Schicksal kümmert sich in fürsorglicher Weise (lat. providentia) um unser Wohlergehen. Die Freiheit des Menschen besteht allenfalls darin, das Schicksal entweder ›frei-willig‹ anzunehmen oder es abzulehnen. Mit dieser Vorstellung hatten die römischen Autoren besondere Schwierigkeiten: Cicero führt in Buch 3 seines Dialoges De natura deorum zahlreiche Gegenbeispiele gegen die vermeintliche providentia an (3,79–92): Demnach könne angesichts vieler Belege von Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit in der Welt keine

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Rede von einem göttlichen ›Masterplan‹ oder einer göttlichen Fürsorge sein; in der Schrift De fato lehnt Cicero die Vorstellung von einem alles lenkenden Schicksal rundweg ab. Selbst Seneca meidet das Thema Schicksal in seinen Werken eher, vermutlich weil es den römischen Lesern schwer zu vermitteln war. Oft nennt er das fatum im Plural fata oder auch deus/ dei: Der Plural klingt für den lateinischen Muttersprachler wie der alte Ausdruck fata deum »Sprüche der Götter«. Mit dieser begrifflichen Angleichung an die römische Religion wollte speziell Seneca den stoischen Schicksalsglauben für die Römer vermutlich akzeptabler machen (Kuhlmann 2018). Der Religion der Römer war nämlich der Glaube an ein alles lenkendes (abstraktes!) Schicksal fremd: Die römischen Götter gaben zwar den Menschen durch Zeichen (Omina, Prodigien) oder in Kultritualen (Vogel-, Eingeweideschau) den Menschen Auskunft über ihre (Un-)Zufriedenheit mit dem menschlichen Handeln, aber sie determinierten keineswegs das Weltgeschehen. Im Gegenteil fassten die Römer ihr Verhältnis zu den Göttern als geradezu vertragsmäßig auf (do ut des), d. h. man konnte prinzipiell mit den Göttern verhandeln (Rüpke 2001, 86–117). Auf der ratio fußte auch die stoische Ethik: Alles Handeln des Menschen sollte nach den Regeln der Vernunft erfolgen, weil die Vernunft die eigentliche Natur des Menschen darstelle (secundum naturam vivere: »gemäß der Natur leben«). Dieses Handeln nach den Regeln der ratio führe dann auch zu einem tugendhaften Leben (virtus). Doch stellte schon Cicero dieses Vernunft-Ethik in seinem Dialog De natura deorum (3,65–78) in Frage und führte viele Beispiele für schädliches und unsoziales Verhalten an, das aus der Anwendung der ratio resultierte. Diese Einstellung Ciceros ergibt sich letztlich aus dem Bedeutungsspektrums des lateinischen Begriffs: ratio bezeichnet nicht nur ›Vernunft‹ und ›vernünftiges‹ Handeln, sondern eben auch die »berechnende« Intelligenz, die zum Betrug eingesetzt werden kann. Besonders bei Seneca erscheint die ratio weiter als wichtiger Faktor in der sogenannten Affektenlehre. Hier vertritt Seneca einen für die späte Stoa typischen Rigorismus, wonach alle Affekte wie Zorn, Angst, Trauer oder auch Verliebtheit der ratio und dem vernunftgemäßen Handeln entgegenstehen und daher mithilfe der ratio vollständig aus der menschlichen Psyche zu eliminieren seien (Wildberger 2006, 231–235). Die mittlere, von Aristoteles beeinflusste Stoa (vor allem Poseidonios) kannte eine weniger rigorose Affektenlehre, wonach die Affekte in einem gewissen Maße zugelassen wur-

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III Denkströmungen – A Antike

den, allerdings nicht zu einem Kontrollverlust und der Beschränkung der Handlungsfreiheit führen durften. Für Seneca stellten die Affekte anders als in der modernen Psychologie regelrecht Krankheiten dar, von denen die Philosophie als Ärztin den Menschen befreien müsse, um so durch die vollständige Affektlosigkeit (gr. apátheia) die Seelenruhe (lat. tranquillitas animi) zu erlangen. Auf dem Konzept der ratio fußt ferner die Güterlehre: Nach stoischer Definition ist allein das Unverlierbare ein ›Gut‹. Alles Andere stellt lediglich ein für die ›Tugend‹ irrelevantes Scheingut dar (gr. adiáphoron). Das laut Stoa distinktive und unverlierbare Merkmal des Menschen ist die Vernunft bzw. lat. ratio, deren Anwendung zu einer sittlich guten Lebensführung nach den Regeln der »Tugend« (lat. virtus) als Ziel führt. ratio und virtus sind demzufolge die eigentlichen Güter der römischen Stoa. Damit passt die Güterlehre auf den ersten Blick gut zum römischen Wertekanon, der zumindest der virtus ebenfalls einen zentralen Stellenwert zuweist. Allerdings bedeutet virtus für die römische Oberschicht speziell die idealtypischen Eigenschaften des männlichen Aristokraten, nämlich Tapferkeit im Krieg, Erfolg in der Politik, Durchsetzungskraft in Familie und Gesellschaft sowie allgemein das Streben nach Ruhm (lat. honor, gloria). Indem Cicero und Seneca das griechische Wort areté durch virtus übersetzten, legten sie eine Ähnlichkeit stoischer und römischer Wertvorstellungen nahe, die so nicht existierte (Kuhlmann 2018): Im Rahmen der stoischen Güterlehre gehören nämlich politische, militärische und gesellschaftliche Erfolge und Leistungen zu den Adiaphora und leisten somit keinen Beitrag zur philosophischen virtus. Nach stoischer Lehre entspringt der Tugend und der Anwendung der Vernunft das sittlich gute Handeln. Die griechischen Stoiker verwendeten hierfür den eher neutralen Begriff agathón (»gut«). Cicero und Seneca übersetzten dies im Lateinischen mit dem kulturell und politisch aufgeladenen Begriff honestum, das eigentlich »ehrenvoll« bedeutet und sich von honor (»Ehre, Ruhm«) ableitet. Aus solchen Übersetzungen resultiert eine vermeintliche Ähnlichkeit zwischen Stoa und dem Wertekodex der römischen Oberschicht: »Ehrenvoll« ist für den römischen Mann alles, was zur allgemeinen virtus im Sinne von »Mannhaftigkeit« gehört, nämlich gesellschaftlicher, politischer und militärischer Erfolg sowie geistige und nicht zuletzt körperliche Leistungsfähigkeit. Etwas »sittlich Gutes« bezeichnet honestum hingegen ursprünglich nicht, und lateinische Muttersprachler konnten bei

der Lektüre Ciceros und Senecas die ursprünglichen Bedeutungen von virtus und honestum nicht ausblenden, so dass die römische bzw. lateinischsprachige Stoa sich in diesen Punkten konzeptuell vom griechischen Ursprung unterscheidet. Für die römischen Adressaten kommt eine Nähe zur römischen Religion hinzu, denn VIRTVS und HONOS wurden in Rom in mindestens zwei Doppel-Tempeln als Gottheiten gemeinsam kultisch verehrt (Livius 27,25,7–10). Diese kultisch-religiöse Assoziation fehlte den griechischen Begriffen areté und agathón völlig. Die von Cicero und Seneca konstruierte Nähe der römischen Stoa zu den typisch altrömischen Werten und zur römischen Religion spielte übrigens auch in der politischen Praxis der Kaiserzeit eine gewisse Rolle: Es gab innerhalb der Senatorenschicht immer einige mutige Oppositionelle gegen den Prinzipat und die Willkürherrschaft einiger Kaiser wie Nero. Einige dieser Senatoren waren selbst Stoiker und verbanden in ihrer Opposition, die oft mit Exil oder Hinrichtung endete, altrömische und stoische virtus miteinander. Die Ausführungen könnten den Eindruck vermittelt haben, die römische Stoa sei lediglich eine philosophische Lehre für die politisch aktive Oberschicht gewesen. Es gibt hingegen durchaus Belege für Sklaven, die sich philosophisch betätigten: So ist von dem oben genannten Epiktet überliefert, er sei als Sklave aus Kleinasien nach Rom gekommen und habe dort noch vor seiner Freilassung bei dem Stoiker Musonius Rufus studiert. Später unterrichtete Epiktet selbst stoische Philosophie und gründete eine entsprechende Schule in Griechenland. Im Übrigen haben sich die antiken Stoiker freilich nicht für eine Abschaffung der Sklaverei ausgesprochen, auch wenn einzelne Vertreter wie Seneca für deren humane Behandlung plädierten (z. B. Brief 47). Die Gründe hierfür sind einmal in der Lehre vom Schicksal zu sehen, das jedem Wesen im Kosmos seinen Platz zuweist, so auch den Sklaven mit ihrem Los der Unfreiheit. Es kommt die Güterund Affektenlehre hinzu: Freiheit und Sklaverei sind Adiaphora, d. h. irrelevant für das Erreichen von Tugend; der Sklave kann seine Tugend durch das tapfere Ertragen der Unfreiheit sogar besser beweisen als ein im Wohlstand lebender Freier. Dennoch hat die Kenntnis stoischer Vorstellungen bei Denkern der Aufklärung wie Samuel Pufendorf im 17. Jahrhundert den Diskurs von der Gleichheit aller Menschen und den Menschenrechten im Allgemeinen befördert (Cancik 1998).

11  Antike: Rom

11.4 Epikureismus Die Lehren des griechischen Philosophen Epikúr (341–270 v. Chr.) gelten im Allgemeinen als Kontrastprogramm zur Stoa. In der Lebenspraxis ergaben sich allerdings auch einige Parallelen zwischen den beiden philosophischen Schulen, so in der Forderung einer eher asketischen Lebensführung und der Seelenruhe als Lebensziel. Epikurs Lehren stießen bei den römischen Gebildeten vermutlich auf nicht so große Akzeptanz wie die Stoa (Erler 1994, 203–380). Dies lag u. a. an der Warnung Epikurs vor politischem und gesellschaftlichem Engagement, um die Seelenruhe nicht zu gefährden. Ein solches eskapistisches Lebensmotto war für die Männer der politischen Führungsschicht Roms vor allem in republikanischer Zeit unattraktiv, weil es den Verzicht auf eine politische und militärische Karriere bedeutet hätte. Allerdings sind doch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten in Rom bekannt, die den Lehren Epikurs anhingen. Zu den prominentesten Epikuranhängern gehörte vermutlich der Diktator Caesar, aber auch Ciceros engster Freund Atticus. Überdies beklagt Cicero in seinem Tuskulanischen Gesprächen (3,4,7), dass Epikur mittlerweile geradezu ein Modephilosoph in Italien geworden sei. Es gab bei Neapel in Kampanien sogar eine epikureische Schule, die von dem griechischen Philosophen Siron (1. Jahrhundert v. Chr.) geleitet wurde, in der u. a. die Dichter Vergil und Horaz eine philosophische Ausbildung erhalten haben (Neumeister 2005, 215– 242). Zudem wirkte der epikureische Philosoph Philodém von Gadara (ca. 110–35 v. Chr.) in Italien und war u. a. mit der Familie Caesars befreundet. In Rom spielte nach Ausweis der erhaltenen Texte vor allem im 1. Jahrhundert v. Chr. der Epikureismus eine gewisse Rolle. In späterer Zeit ist er bei den christlichen Kirchenvätern als Negativbeispiel für eine als atheistisch geltende Weltanschauung bezeugt. Cicero lässt in einigen seiner Dialoge epikureische Lehren von römischen Zeitgenossen als Dialogfiguren referieren. Dabei erscheint der Epikureismus allerdings in einem eher negativen Licht (Erler 1994, 368– 370). Systematisch dargestellt wird Epikurs Lehre in lateinischer Sprache nur von dem römischen Dichter und Epikur-Anhänger Lukrez (ca. 98–54 v. Chr.), der das Lehrgedicht De rerum natura in sechs Büchern über den Epikureismus verfasst hat. Ein zentrales Kennzeichen der Lehre ist der durchgängige Materialismus und die Übernahme der Atomlehre von früheren griechischen Philosophen (z. B. Leukipp, Demokrit). Das Weltbild fußt auf streng naturgesetzlichen

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Erklärungen aller Vorgänge und Erscheinungen im Kosmos. Wichtig ist etwa das Gesetz von der Konstanz der Masse in der Welt, d. h. Epikur bzw. Lukrez gehen davon aus, dass alle Masse im Kosmos aus Atomen besteht, deren Anzahl konstant bleibt. Undenkbar sind demnach göttliche Eingriffe in das Weltgeschehen, die entweder zum Verschwinden oder zur Neuschaffung von Gegenständen oder Personen in Form von Wundern führen könnten. Auch die Götter, deren Existenz nicht bezweifelt wird, bestehen aus Atomen. Sie leben allerdings nicht wie nach traditioneller griechisch-römischer Anschauung im Olymp oder in Tempeln bzw. zeigen sich nicht durch Epiphanien auf der Erde den Menschen, sondern sie leben in sogenannte Intermundien (d. h. Zwischenwelten zwischen den vielen existierenden Welten) strikt getrennt von den Menschen. Sie greifen nicht aktiv in das Weltgeschehen ein (sogenannter Deismus), sondern führen ein kontemplatives Dasein in ewiger Glückseligkeit. Somit erübrigt sich der für die Griechen und Römer übliche Kult für die Götter. Die römische Vorstellung, wonach die Staats- bzw. Stadtgötter aufgrund des Kultes ihnen gegenüber der res publica Wohler­ gehen und Sieghaftigkeit im Krieg schenken, ist nach epikureischer Lehre eine reine Fiktion. Lukrez warnt sogar in seinem Lehrgedicht (1,80–101) vor der verderblichen Macht der Religion. Aus Atomen besteht auch die Seele, die beim Tode zusammen mit dem Leib zerfällt. Es gibt also kein Leben nach dem Tode, weswegen Lukrez die Menschen von Ängsten vor den Unterweltsstrafen des Mythos befreien will. Im Bereich der Ethik spielt als höchstes Lebensziel die sogenannte Lust eine zentrale Rolle. Bei Epikur selbst lautet der griechische Terminus hēdoné, was eigentlich eher »(Lebens-)Freude« bedeutet und im epikureischen Kontext eine allgemeine Lebenszufriedenheit bezeichnet. Das entscheidende Mittel zur Erlangung der ›Lust‹ ist die Seelenruhe (lat. tranquillitas animi). Cicero, aber interessanterweise ebenso Lukrez übersetzen diesen Begriff mit dem lateinischen Substantiv voluptas, der auch die Bedeutung »Wollust« besitzt und anders als das griechische Original nicht eindeutig positiv konnotiert ist. In ihrer lateinischen Version wirkt die epikureische Lehre somit ›hedonistischer‹ als bei Epikur selbst. Es kommt hinzu, dass Epikur die hēdoné als »Ziel« (gr. télos) allen Handelns bezeichnet (Brief an Menoikeus 129 f.) und so erklärt, was uns zum Handeln motiviert. In Ciceros Darstellung wird die voluptas dagegen zum summum bonum (»höchstes Gut«) der Epikureer (De finibus 1,40–42), was zusätzlich einen anderen Akzent setzt. Alles Han-

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deln des Menschen dreht sich letztlich darum, die Seelenruhe und damit voluptas zu erlangen bzw. nicht zu verlieren. Um dies zu erreichen, raten die Epikureer nicht nur von jeglicher politischen Betätigung ab, sondern auch von Ehe und Familiengründung. Damit sind die Grundwerte der römischen Gesellschaft in Frage gestellt. Insbesondere für die Nobilität war neben der Ämterlaufbahn der Erhalt der gens bzw. des Familienverbandes durch Eheschließung und Kinderzeugung zentral. Innerhalb des römischen Kontextes wirkt die epikureische Lehre geradezu erratisch, weil sie anders als die anderen Weltanschauungen kaum zum römischen Weltbild zu passen scheint. Insofern ist es erstaunlich, dass überhaupt bedeutende römische Politiker wie der Diktator Caesar ihr angehangen haben sollen. Die Existenz von Lukrezens Lehrgedicht und der bei Cicero erwähnten, im Umlauf befindlichen epikureischen Bücher zeigt aber ebenso wie Ciceros platonisch gefärbter Skeptizismus, dass im 1. Jahrhundert v. Chr. offenbar ein lebendiger Diskurs über die Rolle der Religion und über allgemeine Lebensziele existierte, der nicht – wie später in christlicher Zeit – von staatlicher Seite durch zensurähnliche Maßnahmen unterdrückt wurde. Dies ist umso erstaunlicher, als manche Anschauungen der Stoiker und vor allem der Epikureer Institutionen wie den römischen Staatskult und überhaupt das politische Funktionieren des Staates in Frage stellten. Speziell für Caesar dürfte genau das den Epikureismus attraktiv gemacht haben: Er brauchte sich nach epikureischer Lehre nicht um vermeintliche Götterzeichen oder Omina vor wichtigen politischen und militärischen Entscheidungen zu kümmern und konnte seine eigene Lebenszufriedenheit zum Maßstab allen Handelns erheben. In nachantiker Zeit blieb der Epikureismus vor allem in seiner lateinischen Version (vor allem Lukrez und die Polemik bei den Kirchenvätern) bekannt. Das bedeutet auch, dass z. B. die rein materialistisch-naturgesetzliche Erklärung der Welt aus Atomen bei den Lukrez-Lesern in der frühen Neuzeit niemals ganz verloren ging (z. B. Pierre Gassendi im 16. Jahrhundert). Auch das deistische Gottesbild oder die (vermeintlichen) atheistischen Züge der Lehre mit ihrer Religionskritik stießen in der frühen Neuzeit wieder Diskussionen über die Existenz Gottes und seine Rolle in der Welt an (Greenblatt 2011, 61–90).

11.5 Christentum Das Aufkommen des Christentums im Römischen Reich stellt ideengeschichtlich einen wichtigen Umbruch dar, der in der Zeit des 4. Jahrhundert n. Chr. unter dem Druck der konstantinischen Kaiserdynastie sogar zu einem umfassenden Religionswechsel auf dem gesamten Reichsterritorium führte (Sommer 2009, 351–365). Schon eingangs wurde bemerkt, dass das Christentum als ›Lehre‹ eine ähnliche Stellung in der Antike beanspruchen konnte wie die unterschiedlichen Philosophenschulen. Allerdings lösten die verschiedenen Philosophenschulen keineswegs den griechisch-römischen Götterkult bei der Masse der Bevölkerung ab, auch wenn sie ihn zum Teil durchaus in Frage stellten. Die Anhänger dieser Philosophenschulen blieben in der Regel weiterhin in die Kulte ihrer Poleis eingebunden, so dass es keine wirkliche Konkurrenz z. B. zwischen Stoa und römischem Staatskult oder Ähnliches gab. Beim Christentum ist dies insofern völlig anders, als zumindest nach der strengen christlichen Lehre das Bekenntnis zu Christus den Kult für die Götter der Griechen und Römer ausschloss und umgekehrt; in der Praxis kam freilich beides durchaus vor (Markschies 2001, 131–134). Die Christen wurden vom römischen Staat zunächst nicht streng von den Juden unterschieden, dann aber nach der offenkundigen Absonderung der Christen vom Judentum vielfach von römischen Behörden verfolgt. Dies erscheint vor dem Hintergrund der vielfach beschworenen ›römischen Toleranz‹ in religiösen Fragen zunächst befremdlich. Der Grund liegt freilich in dem auch religiös begründeten römischen Staatsverständnis: Für die Römer bildete der Götterkult die Garantie für die salus rei publicae, d. h. das Wohlergehen des Staates. Wenn der Kult nicht mehr durchgeführt wurde, drohte eine Abwendung der Götter mit entsprechenden Strafen für Staat und Gesellschaft. Aus diesem Grunde konnten sich die Römer immer dann ›tolerant‹ verhalten, wenn fremde Völker zwar ihre eigenen Götter verehrten, aber nicht den römischen Staatskult antasteten. Wenn hingegen sogar römische Bürger nach ihrer Bekehrung zum Christentum den Kult für die römischen Götter verweigerten, bedrohte dies die Existenz des Staates (Wlosok 1970). Umgekehrt waren die Christen grundsätzlich keine Feinde des römischen Staates. Im Gegenteil erkannte gerade der Apostel (und römische Bürger) Paulus die römische Obrigkeit als gottgegeben an und forderte von den Mitchristen Gehorsam ihr gegenüber (Rö-

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merbrief 13,1–7). Dieses positive Staatsverständnis prägte auch die im 2. Jahrhundert nach Christus aufkommende apologetische Literatur, die das Christentum gegenüber den Angriffen von nicht-christlicher und staatlicher Seite zu verteidigen suchte (Markschies 2001, 39–46). Viele christliche Theologen deuteten die Existenz des Römischen Reiches sogar als Teil des heilsgeschichtlichen Plans: Aufgrund der im Imperium Romanum gegebenen guten Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten konnte sich das Christentum besonders gut ausbreiten, was vermutlich in der Zeit vor Augustus so tatsächlich nicht möglich gewesen wäre. Doch auch in philosophischer Hinsicht gab es einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem Christentum und der religio Romana: Für die Religion der Römer (und Griechen) war im Wesentlichen nur die reine Kultausübung zentral für das Heil des Staates. In der Religionswissenschaft spricht man hier von einem ›ortho-praxen‹ (»richtig handeln«) Religionsverständnis (Rüpke 2001, 86). Vor allem im paulinisch geprägten Christentum spielt dagegen der Glaube an die Lehre bzw. das Dogma die zentrale Rolle für das persönliche Heil und die Rettung der Seele, weswegen man das Christentum eher dem ›ortho-doxen‹ (»richtig glauben«) Religionstypus zuweist. Die Verschiedenheit der beiden Religionstypen empfanden übrigens offenbar schon die antiken Kirchenväter: Sie nannten die Religion bzw. den »Kult« der Römer religio (Romana), ihre eigene hingegen fides (Christiana), d. h. »Glaube«. ›Orthodoxe‹ Lehren sind zwar auch für die hellenistischen Philosophenschulen kennzeichnend, allerdings traten die eben nicht als Konkurrenz zu den orthopraxen Kulten des Polytheismus auf. Seit der sogenannten Konstantinischen Wende seit dem Toleranzedikt von Mailand unter Kaiser Konstantin 313 nach Christus entwickelte sich das Christentum von einer bevorzugten Religion schnell zur Staatsreligion: Die Bischöfe wurden zu Beamten des Kaisers und übernahmen Aufgaben in der weltlichen Verwaltung und Gerichtsbarkeit; speziell Kaiser Konstantin wirkte an der Entwicklung der katholischen Dogmatik aktiv mit (z. B. Wortlaut des Glaubensbekenntnisses auf dem Konzil von Nizäa 325 n. Chr.); seit 380 n. Chr. war das Bürgerrecht faktisch an das christliche Bekenntnis gebunden; Konstantin verlegte die Kaiserresidenz von Rom nach Byzanz (Konstantinopel), das er zum christlichen Rom umgestaltete (Piepenbrink 2002, 85–95). In dieser Zeit integrierte freilich auch das Christentum Elemente der alten Göt-

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terkulte und nahm dabei orthopraxe und geradezu polytheistische Züge an. So ersetzte der Heiligenkult vielfach den Kult für die alten Götter und Heroen, die alten Kultfeste wurden durch einen liturgischen Kalender mit christlichen Festen ersetzt und selbst viele Tempel wurden einfach in christliche Kirchen bei Übernahme bestimmter Kultpraktiken umgewandelt (Heid 2007). Ein wichtiger ideengeschichtlicher Einschnitt stellt allerdings die Zeit um 400 n. Chr. dar, in der der wohl bekannteste und wichtigste lateinische Kirchenvater der Antike, der heilige Augustinus (354–430 n. Chr.), wirkte (Flasch 2000, 37–51). Im Zuge der Völkerwanderung drangen germanische Stämme tief in die Gebiete des Römischen Reiches ein, und um 410 erstürmte der westgotische König Alarich sogar die alte Hauptstadt Rom und plünderte sie drei Tage lang. Dieses Ereignis wurde von vielen Zeitgenossen als die Strafe der Götter für den Abfall von der alten Religion und die Christianisierung des Römischen Reiches empfunden. Augustinus entwickelte in den Jahren 412–426 n. Chr. in seinem Werk De civitate Dei (»Vom Gottesstaat«) eine eigene christliche Geschichtsphilosophie (Fuhrer 2004, 137–149). Er zeigte, dass auch in der früheren Zeit die Kulte für die traditionellen Götter keine Vorteile für den römischen Staat gebracht hätten. In diesem Zusammenhang entwirft er die Lehre von der civitas dei und der civitas diaboli (»Staat des Teufels«). Die civitas dei bezeichnet die Sphäre Gottes bzw. des Guten, das zwar teilweise, aber nicht gänzlich in der christlichen Kirche präsent sei; die civitas diaboli dagegen stellt das Prinzip des Bösen dar, das zwar prinzipiell eher mit dem Irdischen und dem römischen Staat verbunden werden kann, aber eben auch partiell in der Kirche wirken könne. Für das Seelenheil des Einzelnen spielt nach Augustins Lehre ein militärischer oder politischer Erfolg im diesseitigen Leben oder Staat keine Rolle. Daher sei auch die Eroberung Roms durch Alarich für die Rettung der Seele irrelevant und könne nicht als religiöses Zeichen interpretiert werden. Augustins Geschichtsphilosophie wertet die Rolle des römischen Staates und die Bedeutung des Imperium Romanum überhaupt stark ab. Damit unterscheidet er sich von den meisten christlichen Theologen und Schriftstellern seiner Zeit und späterer Epochen, für die die Ausbreitung Roms Teil der christlichen Heilsgeschichte war. Augustin zeigt dagegen am Beispiel der römischen Geschichte, dass Imperialismus in der Regel eher zu Unrecht und Unterdrückung anderer Völker, d. h. im theologischen Sinne zu sünd-

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III Denkströmungen – A Antike

haftem Verhalten führt. Charakteristisch für die Theologie Augustins ist insgesamt die Übernahme von Elementen der stoischen Güterlehre: Auch für die Stoiker hatte äußerer Erfolg oder Misserfolg keine Relevanz für das moralisch richtige Verhalten bzw. die virtus (»Tugend«) eines Menschen. Im Gegenteil können äußere Katastrophen dazu beitragen, die eigene virtus unter Beweis zu stellen. Eine andere Quelle der augustinischen Theologie ist die platonische Vorstellung von einer immateriellen Welt der Ideen sowie des Guten und einer davon strikt zu trennenden Welt der Materie, die gegenüber der Welt der Ideen abgewertet wird. In verschiedenen Kommentierungen zum Römerbrief entwarf Augustinus eine weitere Lehre, die ebenfalls von den Vorstellungen anderer zeitgenössischer Kirchenväter abwich, nämlich die Gnadenlehre (Fuhrer 2004, 159–164). Danach beruht die Rettung der menschlichen Seele ausschließlich auf der Gnade Gottes (gratia Dei); damit sei eine Mitwirkung des Menschen am Seelenheil auf der Grundlage des freien Willens und Handelns ausgeschlossen. Augustinus stellte Gottes Allmacht besonders stark in den Vordergrund und entwickelte in diesem Zusammenhang die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung (›Prädestination‹) der Seelen entweder zur Rettung oder zur Verdammung noch vor der Geburt des Einzelnen. Sein Ausgangspunkt hierfür war die alttestamentliche Geschichte von Isaaks Söhnen Esau und Jakob: Durch einen Betrug verschaffte sich der jüngere Jakob von seinem älteren Bruder das Erstgeburtsrecht und den Segen seines Vaters (Genesis 25). Doch Gott bestrafte Jakob nicht für diesen Rechtsbruch, sondern belohnte ihn im Gegenteil im weiteren Leben. Dieses Beispiel zeigt laut Augustin, dass Jakob ungeachtet seiner Taten ein Auserwählter Gottes sei. Geprägt ist auch diese Lehre von der Philosophie der Stoa, nach der alles Weltgeschehen dem Schicksal und der göttlichen Vorsehung untergeordnet ist. Zwar ist Augustins Theologie ein gutes Beispiel für platonische und stoische Einflüsse auf die Entwicklung der christlichen Lehre, allerdings hat die offizielle (katholische) Kirche der Spätantike und des Mittelalters die hier dargestellten Lehren nie akzeptiert, sondern immer die Willensfreiheit des Menschen betont. Augustinus hatte dennoch zu allen Zeiten viele Anhänger (Fuhrer 2004, 174 ff.): Eine wichtige Rolle spielte seine Lehre vor allem für die Entstehung des Protestantismus im 16. Jahrhundert. Der deutsche Reformator Martin Luther war selbst Augustiner-Mönch und gründete seine Theologie auf der Gnadenlehre

Augustins. Der Genfer Theologe und Begründer der Reformierten Kirche Johannes Calvin übernahm zusätzlich noch die Prädestinationslehre in seine Theologie. Literatur

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Peter Kuhlmann

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III Denkströmungen – A Antike

12 Antike: China/Ostasien In dem Gebiet um den Gelben Fluss hat sich die chinesische Zivilisation vor 4000 bis 5000 Jahren entwickelt. Schon in jener Zeit bildeten sich Staatsformen heraus, deren Struktur und Macht weit komplexer waren als die von Stammesgesellschaften. In den benachbarten Gebieten wie Korea, Japan und Vietnam haben bereits im 1. Jahrhundert v. u. Z. damit begonnen, auf direktem oder indirektem Weg Elemente der chinesischen Zivilisation und staatlichen Ordnung zu rezipieren. Indem diese Königreiche eine Art tributärer Beziehungen mit den chinesischen Dynastien eingingen, konnte sich in Ostasien ein chinesischer Kulturkreis etablieren. Auf diese Weise bildete das politische Denken des antiken Chinas zugleich die Grundlage des politischen Denkens in Ostasien. Das antike politische Denken hat sich in China zwischen dem 5. und dem 3. Jahrhundert v. u. Z. entwickelt, also in einer Zeit, die in der chinesischen Geschichte als die Epoche von »Frühling und Herbst und der Kämpfenden Reiche« (770–221 v. u. Z.) bezeichnet wird. Diese Zeit war in der chinesischen Geschichte eine der philosophisch produktivsten Perioden. Die Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Ordnung von Gesellschaft und Politik erreichten damals einen Höhepunkt. Man nennt diese Epoche nicht ohne Grund die »Zeit der Hundert Schulen«. In den Worten von Heiner Roetz zeichnet sich diese Zeit durch »Verlust der Substantialität und der Geschlossenheit des Lebens durch Reflexion und Transzendenz, [...] Überwindung des Mythos durch die Vernunft, Innewerden der Person und des Einzelnen, Infragestellung alles zuvor Selbstverständlichen, Durchdenken der widersprechendsten Alternativen, Vergeistigung, Geschichtsbewusstsein etc.« aus (Roetz 1992, 48). Ausgelöst wurden diese Debatten durch den Zusammenbruch der alten Ordnung. Um das zu verstehen, ist es unvermeidbar, sich mit einigen Gegebenheiten des chinesischen Altertums zu befassen. Die Quellenlage über die ersten Dynastien Chinas, also die Shangund die Westliche Zhou-Dynastie (1700–1025 v. u. Z. bzw. 1025–256 v. u. Z.), hat sich mittlerweile so weit verbessert, dass man das historische und kulturelle Umfeld jener Zeit einigermaßen sicher rekonstruieren kann (Loewe und Shaughnessy 1999; Opitz 2000).

12.1 Sozio-politischer Kontext der chinesischen Antike Den Sippenstämmen der Zhou aus dem westlichen Tal des Gelben Flusses war es vor dem 11. Jahrhundert v. u. Z. gelungen, die Shang (ca. 1700–1100 v. u. Z.) und andere kleinere Stämme zu unterwerfen und damit den größten Teil des Einzugsgebietes des Gelben Flusses zu beherrschen. Zur Legitimierung ihres Aufstiegs bedienten sich die neuen Herrscher der Religion, nämlich des Gedankens vom Mandat des Himmels und des Ahnenkultes (Garnet 1988). Der Gedanke vom himmlischen Mandat, insbesondere die eng damit verbundene Vorstellung von der Fundierung gesellschaftlicher Ordnung und politischer Herrschaft in der herrschaftlichen Tugend, sollte ein zentrales Element im politischen Denken Chinas werden. Entstanden war diese Vorstellung aus dem Kult der Ehrerbietung gegenüber den Naturgewalten, wobei die Natur als Macht betrachtet wurde. Man glaubte, dass sie Glück oder Unglück über die Menschheit bringen könnte, ähnlich einer mysteriösen, gewaltsamen und Ehrfurcht gebietenden Persönlichkeit, die über die individuellen oder gemeinsamen Schicksale der Menschen bestimmt. Personifizierte Naturgewalten wurden Götter genannt. Die menschliche Gemeinschaft brachte den Göttern Opfer, um ihren Schutz zu erlangen. Unter diesen Göttern galt der Herr des Himmels als der mächtigste; er beherrschte die Welt, sowohl die der Menschen als auch die der Götter. Diese absolute Autorität des mächtigsten Gottes sollte auf den Herrscher übergegangen sein. Der Herrscher wurde damit zum Himmelssohn, das heißt zum Träger des Mandats des Himmels (Tucker 1998). Um die Usurpation des Mandats des mächtigsten Himmelsgottes, das die Herrscher der Shang-Dynastie innegehabt hatten, auf die Zhou-Herrscher zu rechtfertigen, wurde deren Tugend als zentrales politisches Merkmal eingeführt. Demnach sollte der Mandatsinhaber mit einer nur ihm eigenen Tugend (de) ausgestattet sein, welche Offenheit und Gehorsam gegenüber dem Willen des Himmels sowie die Bereitschaft, sich dessen Normen im persönlichen und politischen Verhalten zu unterwerfen, enthalten sollten. Gesellschaftliche Ordnung und Unordnung galten nunmehr als weitgehend zentriert in der Person des Herrschers, speziell in seiner Tugend. Dies ist der Grund, warum die in den klassischen Texten Shujing und Shijing enthaltenen Reflexionen über die Ordnung der Gesellschaft weniger um die Beschaffenheit von Gesetzen oder um die Struktur von politischen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_12

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Institutionen und Verfassungen kreisten, als um jenen Begriff, der die Tüchtigkeit des Herrschers bezeichnete, nämlich de (Opitz 2000, 28). Aus der Sicht dieser neuen Ideologie von Zhou (ca.1100–256 v. u. Z.) war die Shang-Dynastie untergegangen, weil ihre Herrscher den Weg des Himmels und den Pfad der Tugend verlassen, also die Tugend verloren und sich damit als Werkzeug des Himmels disqualifiziert hatten. Deshalb war das Mandat des Himmels den Shang-Herrschern entzogen und dem Herrscher von Zhou anvertraut worden. Hier wurde also Geschichte als dynastischer Wechsel infolge himmlischer Eingriffe konstruiert, um die durch Unachtsamkeit oder Ungehorsam der Herrscher verfallene Ordnung der Welt durch eine neue Dynastie wiederherzustellen. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass Herrscher und Herrenhäuser die Instrumente zur Sicherung einer übergreifenden kosmischen Ordnung waren. Auch wenn die Dynastien wechselten, blieb die Ordnung selbst bestehen (Opitz 2000, 30). So wurde die Autorität der Zhou-Herrschaft durch die Einführung der Dimension der Tugend ideologisch gerechtfertigt und gesichert. Nur der Herrscher von Zhou durfte aufgrund seiner Stellung als Himmelssohn dem Himmelsgott opfern, während seine Gefolgsleute ihm gegenüber als Vertreter des Himmelsgottes ehrfürchtig, treu und gehorsam bleiben mussten. Es ist hier deutlich erkennbar, welch eminent politische Bedeutung den Gottheiten im chinesischen Altertum zukam. In der Chunqiu-Zeit (770–476 v. u. Z.) vollzog sich dann ein Prozess der Umwandlung des Himmels von einer anthropomorphen in eine natürliche Macht, die bald mehr oder minder stark mit hinter ihr stehenden oder mit ihr zusammenwirkenden anderen Kräften assoziiert wurde. Ein ähnlicher Prozess war fast zeitgleich im antiken Griechenland mit der Ablösung der homerischen Götterwelt durch die Spekulationen der ionischen Naturphilosophen und der griechischen Philosophie vollzogen worden. Es waren insbesondere die über Jahrhunderte andauernden Kriege, Bürgerkriege und sozialen Umbrüche der Chunqiu-Zeit, die den Glauben an den Himmel als eine sittliche, das irdische Geschehen überwachende Macht erschütterten. Dies ging mit dem Zusammenbruch des Herrschaftssystems der Zhou einher. Der König von Zhou besaß als Obereigentümer zwar im Prinzip die absolute Verfügungsgewalt über den Boden und die Bevölkerung des Reiches, konnte diese jedoch praktisch kaum ausüben, da angesichts der in jener Zeit bestehenden Naturalwirtschaft und der kaum vorhande-

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nen Verkehrswege eine funktionierende zentralstaatliche Verwaltung nicht geschaffen werden konnte. Deshalb wurde nach der Eroberung des Gebietes um Gelben Fluss das Land bis auf die wenigen königlichen Domänen den Vertretern der Sippenaristokratie, nämlich engen Verwandten, Vertrauten und Verbündeten des Königs, als Lehen gegeben. Zugleich wurden ihnen auch die zum Ackerbau nötigen Arbeitskräfte, das heißt die Stämme der beherrschten Shang, zugeteilt. Aus dem vom Anspruch her zentralstaatlichen Königtum war so eine feudale Standesgesellschaft entstanden. Betrachtet man den Feudalismus als ein Regierungssystem, in dem der Herrscher seinen Vasallen für Teile seines Herrschaftsgebietes gewisse Souveränitätsrechte überträgt (Creel 1964, 163), scheint sich der Feudalismus der Zhou kaum vom Feudalismus im europäischen Mittelalter zu unterscheiden. Allerdings unterscheiden sich beide Systeme in einem Punkt wesentlich. Im europäischen Feudalismus gab es bei den Herrschenden kein Bewusstsein einer gemeinsamen Herkunft (Creel 1964, 164). Hingegen wurde das Feudalsystem der Zhou mithilfe der aus dem Ahnenkult der Sippenstämme hervorgehenden religiösen Macht der Vorfahren ideologisch abgesichert. An der Spitze dieser Herrschaftshierarchie stand deshalb der König, gefolgt von den mit ihm nah oder entfernt verwandten Ahnenkultgruppen), die sich je nach ihrer sippenhierarchischen Ordnung in große oder kleine Gruppen unterteilten. In jeder Ahnengruppe wurde die Autorität des Oberhauptes von allen Sippenmitgliedern hochgeachtet, denn nur ihr Oberhaupt durfte den Ahnen die vorgeschriebenen Ritualopfer darbringen. Alle anderen Verwandten mussten ihm dabei folgen. Das Oberhaupt einer Ahnenkultgruppe war normalerweise der älteste Sohn der Hauptfrau des vorherigen Oberhauptes. Die Erbfolge ergab sich also aus der Primogenitur. Der König, der Himmelssohn, galt als Haupt der großen Ahnenkultgruppe, während die Fürsten der Lehnsstaaten sich als Oberhäupter untergeordneter Ahnenkultgruppen betrachteten. Diese Fürsten wurden von ihren größeren oder kleineren Würdenträgern, also Unterlehnsbesitzern, als Oberhäupter dieser umfassenderen Ahnenkultgruppen verehrt. Diese Unterlehensbesitzer waren wiederum selbst Oberhäupter kleinerer Ahnenkultgruppen. Auf diese Weise war die herrschende Klasse von Zhou durch den Ahnenkult und ihre gemeinsame Ahnenschaft mit dem König sowie untereinander verwandtschaftlich-patriarchalisch verbunden. Der König besaß in diesem System selbstverständlich die höchste

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III Denkströmungen – A Antike

Stellung. Die regelmäßig stattfindenden Ahnenrituale bestätigten seine Autorität und die Treueverpflichtungen aller Oberhäupter untergeordneter Gruppen ihm gegenüber. So gründete sich die Zhou-Herrschaft auf die Blutsverwandtschaft der Sippenmitglieder. Damit wurde das Prinzip der Verwandtentreue mit der Loyalität zum Staat gleichgesetzt. Die gebotene Ehrerbietung der Söhne gegenüber ihren Vätern und der Jüngeren gegenüber den Älteren innerhalb der Familien erklärte sich analog zum Gehorsam der Untertanen gegenüber dem König. Die Ehrerbietung des Sohnes gegenüber dem Vater wurde zur Haupttugend eines Adligen. Ebenso hatten sich Verwandte als Verwandte zu behandeln, also nicht wie Fremde oder Feinde. Gleiches galt für die Beziehungen zwischen Eheleuten und Brüdern (Shujing, 39 Zicai). Die Verhaltensregeln (li) für all diese Beziehungen stammten aus noch älterer Zeit, also aus der der Sippengemeinschaften. Mit der Gründung des Königreichs von Zhou sollten diese Regeln nicht mehr nur zur Regulierung der Gesellschaft, sondern auch zur Rechtfertigung und Konsolidierung der Herrschaft der Zhou dienen. Deshalb galten die liNormen als Wurzel des Staates (Chunqiu, Duke Seang XXV, Duke Ch’aou XXVI). An vielen Stellen der genannten Schriften wird klar erkennbar, dass li ursprünglich nur für die Aristokratie galt. Das gemeine Volk hatte sich nicht danach zu richten, für dieses wurden Strafen und Gesetze als Herrschaftsmittel eingesetzt (Gassmann 2000). Das Straf- und Gesetzsystem war sehr detailliert und umfassend ausgearbeitet. Im Shujing werden fünf Hauptstrafen – tätowieren, Nase abschneiden, Füße abhacken, Kastration und Hinrichtung – sowie dreitausend Vergehen, die eine Bestrafung erforderten, aufgelistet (Shujing, 27 Taishishang). Der Zweck dieses Systems lag in der Disziplinierung des Volkes, das hauptsächlich aus Bauern bestand. Deren Arbeit bildete die ökonomische Grundlage der Herrschaft von Zhou. Da in jener Zeit die Bevölkerungszahl gering, Boden aber relativ reichlich vorhanden war, mussten die Bauern zur Arbeit gezwungen und an das ihnen bestimmte Land gebunden werden (Shujing, 55 Luxing). Die Meinungen über das System der Zuteilung von landwirtschaftlichen Flächen gehen unter Sinologen auseinander. So wird die Existenz eines urkommunistisch erscheinenden Brunnenfeldsystems, wie es in Mengzi dargestellt wird (Mengzi 3A3), oft bezweifelt. Jedoch ist die Existenz von Allmenden und der Rechte des Königs als höchstem Eigentümer von Grund und Boden nicht umstritten (Shujing, 37 Kanggao). Die Bauern selbst

verfügten über kein eigenes Land; vielmehr bekamen von aristokratischen Grundherren oder aus den Gemeinschaftsfeldern einer Ahnenkultgruppe Land zur Bewirtschaftung zugeteilt und mussten dafür Arbeitsrenten und Naturpacht ableisten. Die ökonomische und politische Ordnung von Zhou begann in der Chunqiu- und Zhanguo-Zeit (770–221 v. u. Z.) zu zerfallen. Zhou hatte es nicht vermocht, das System des patriarchalischen Feudalismus so zu gestalten, dass ein Erstarken bzw. der Expansionsdrang der peripheren Fürstenstaaten verunmöglicht oder zumindest verhindert wurden. Denn im Feudalsystem von Zhou hatte jeder Lehnsherr zur Sicherung seiner Stellung zwei Bedingungen zu erfüllen, nämlich zum einen sein Territorium zu verteidigen und möglichst zu erweitern sowie zum anderen die ihm zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte effektiv einzusetzen. Folglich gerieten kleinere und größere Lehnsstaaten in Konflikte, und zwar zunächst in ihren Grenzregionen mit umherwandernden Nomadenvölkern, schließlich aber auch untereinander. Zudem entwickelten sich einige Lehnsstaaten dank günstiger topografischer und klimatischer Bedingungen besser und wurden selbst zu Hegemonialfürstentümern. Einige von ihnen übertrafen im Laufe der Zeit die königliche Domäne an ökonomischer und militärischer Stärke. Der König wurde allmählich zur Marionette, der nur noch nominelle Funktionen als Himmelssohn verblieben. Unvermeidlich musste dies die Beziehungen zwischen König und Vasallen und die patriarchalisch-sippenherrschaftliche Ideologie des Vater-SohnVerhältnisses von Grund auf erschüttern. Zum Ende von Zhou führten die einzelnen Lehnsgebiete gegenseitig Vernichtungskriege, in deren Verlauf sich die mächtigeren Fürstentümer die kleineren und schwächeren Herrschaftsgebiete einverleibten. Der größte Teil der Erbaristokraten ging dabei unter, während sich einige wenige zu mächtigen Herrschern entwickelten. Die im Verlauf dieser Auseinandersetzungen unabhängiger und reicher gewordenen Bauern und Händler erwarben u. a. Grundeigentum und entwickelten sich gegenüber der sich auflösenden Erbaristokratie zu einer neuen Machtgruppe (Lee 2008, 26). Angesichts der Schwächung der Herrschaft war man immer weniger in der Lage, das gemeine Volk zu kontrollieren. Dieses versuchte zu fliehen oder sich gegen die Herrschenden aufzulehnen. In diesen Wirren nahmen Zweifel am ›Himmel‹, der den Herrschenden den himmlischen Auftrag gegeben haben sollte, zu. Die Vorstellung vom himmlischen Auftrag, mit der sich politische Herrschaft von Zhou legitimierte, be-

12  Antike: China/Ostasien

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ruhte auf dem Vertrauen, dass der Himmel die Welt nicht in Chaos versinken lassen, sondern irgendwann eingreifen und sein Mandat auf andere Herrscher übertragen würde. In der Chunqiu- und Zhanguo-Zeit hatte die Krise der gesellschaftlichen Ordnung einen Punkt erreicht, an dem es zu einer Vertrauenskrise gegenüber der kosmischen Ordnung kam (Opitz 2000, 72). Die Existenz des Himmels selbst, des göttlichen Bereichs, wurde angesichts des allgemeinen Chaos und allumfassenden Leids in Zweifel gezogen. Die überkommene Sittlichkeit der alten Gesellschaft von Zhou war damit insgesamt in die Krise geraten. Die Bewältigung dieser Krise, die die Welt zu zerreißen schien, war eine Herausforderung, an der sich die chinesische Philosophie entzündete. Es findet sich kaum ein Text aus dieser Zeit, in dem nicht die Motive des Chaos, des Verfalls, der Sorge, der Furcht und der Rettung anklingen. Das waren die Vokabeln, in denen sich die Stimmung der Zeit niederschlug und die die Motivation der damaligen Denker erkennbar werden lässt. Das dao, der wahre Weg, sei verloren gegangen und dafür sei eine Bewegung in die Welt gekommen, die weithin als bedrohlich empfunden wurde. Die Flut, in der alles versinkt, wurde zu einer typischen Metapher jener Zeit (Roetz 1992, 67–69). Die Ruhelosigkeit, die auf dem Verlust an Beheimatung in vertrauten Verhältnissen beruhte, fand im Wandern der Philosophen einen sinnfälligen Ausdruck. Wie ihre griechischen Zeitgenossen durchreisten sie das Land, disputierten mit Ihresgleichen, zogen von Hof zu Hof und trugen den Herrschern ihre Ansichten und Ordnungsvorstellungen vor. Unter diesen Wanderern befanden sich Denker wie Konfuzius (551–479 v. u. Z.), Mengzi (370–290 v. u. Z.), Xunzi (298–220 v. u. Z.), Hanfeizi (ca. 280–233 v. u. Z.), Modi (ca. 479–381 v. u. Z.), Laozi (6. Jahrhundert v. u. Z.) und Zhuangzi (366–290 v. u. Z.). Auch die Denkrichtungen des Konfuzianismus, Taoismus, Legismus, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren, entwickelten sich in jener Zeit.

tungen werden. Auch über Gott, dessen Existenz einige Philosophen leugneten, konnte man sich auslassen. Nicht nur über Gott, sondern eben auch über Fragen von Macht und Herrschaft wurde diskutiert. Diese Philosophen genossen keinen materiellen Wohlstand, manche waren sogar sehr arm, aber in ihrem Denken genossen sie große Freiheiten. Es war ihnen freigestellt, Fürsten und Regenten, Staat und Gesellschaft ihrer kritischen Analyse zu unterwerfen. Die Offenheit des Denkens und der Erkenntnis prägten diese Zeit. Auch die Fürsten selbst boten ihnen häufig die Bühnen, auf denen sie ihre Ideen frei entfalten konnten. Jeder Philosoph (es gab keine Frauen) war frei in der Wahl des Gebietes und des Gegenstandes seines Denkens und konnte diese methodisch nach eigenem Ermessen erschließen. In diesen Freiräumen konnten die sogenannte Hundert Denkschulen entstehen, gerade auch weil die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler nichts Verbindliches darstellte. So gründete etwa Modi, der zunächst konfuzianische Lehrer hatte, seine eigene Denktradition. Hanfeizi war Schüler von Xunzi, einem Konfuzianer, und wurde später ein bedeutender Legist. Untereinander war das Verhältnis zwischen Denkschulen nicht unbedingt von Respekt getragen. Es konnte passieren, dass man andere Schulen, statt sie mit geistigen Waffen zu bekämpfen, öffentlich verächtlich machte oder gar, so im Falle der Legisten in ihren Auseinandersetzungen mit den Konfuzianern, sie zu beseitigen suchte. Insgesamt wurde die Pluralität des Denkens allerdings gewahrt und nicht einmal ein Despot wie Kaiser Shi Huang Di (250–210 v. u. Z.) konnte diese zerstören. In dem Maße, in dem die Hundert Schulen um politische sowie gesellschaftliche Resonanz konkurrierten, reifte und vertiefte sich ihre Lehre. Um ihre bedrohte Legitimität zu sichern, sahen sich die Herrscher gezwungen, einige ihrer Ideen aufzugreifen und Reformen durchzuführen. Dafür benötigten sie das Wissen und die Weisheit der Denker. Dies führten wiederum zum Wettbewerb der politischen Ideen.

12.2 Bedingungen der kognitiven Wende

12.3 Mensch und Natur

Im Zuge der politischen Umwälzungen zum Ende von Chou, also zwischen dem 5. und dem 3. Jahrhundert v. u. Z., kam es auch zu so etwas wie einer grundlegenden kognitiven Wende. Die Bedingungen hierfür waren günstig (Liu 1987). Das Denken war weitestgehend frei. Für die Philosophen dieser Zeit konnten alle Dinge ihrer Welt zum Gegenstand ihrer Betrach-

Der Kern der kognitiven Wende im 5.–3. Jahrhundert v. u. Z. liegt darin, dass man damals damit begann, die Beziehungen zwischen Mensch und Himmel ebenso wie die zwischen Mensch und Natur vom Menschen her zu denken. Von den Philosophen des antiken China sind nur wenige Äußerungen über Gott überliefert. Dies bedeutet gewiss nicht, dass sie die Existenz des

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Gottes geleugnet hätten. Laozi betrachtete dao als höchste Existenz, die alles bestimmt. Insofern kann man sagen, dass er zumindest Raum für den Gott als Glaubensgegenstand zuließ, obgleich auch er nie explizit von Gott sprach. Konfuzius meinte seinerseits, man solle bei der Durchführung der Rituale für den Himmelsgott so tun, als ob dieser tatsächlich existierte (Lunyu 3.12). Das lässt sich so interpretieren, dass Konfuzius zumindest Existenz des Gottes nicht leugnete. In seinem politischen Denken steht jedoch der Mensch, nicht aber Gott im Mittelpunkt. So sagt Konfuzius, dass der Wille des Volkes der Wille des Himmels sei. Dies zeigt zugleich, dass der Konfuzianismus als eine humanistische Lehre zu sehen ist. Das Menschenbild im politischen Denken des antiken China ist allerdings nicht einheitlich. Die Unterschiede lassen sich sowohl in der Behandlung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur als auch zwischen den Menschen feststellen. So wird der Mensch meist als ein von seiner Natur aus anderes Wesen als das Tier dargestellt, allerdings mit unterschiedlichen Begründungen. Für Modi zum Beispiel ist der Mensch abhängig von der Arbeit und das Tier abhängig von der Natur. »Tiere [...] und Insekten [...] müssen nicht Landwirtschaft betreiben, auch ihre Weibchen müssen nicht weben, sie erhalten von der Natur ihr Vermögen zum Essen und Anziehen. Bei den Menschen ist es aber anders. Sie können nur durch ihre Arbeit überleben, wer nicht arbeitet, kann nicht überleben« (Modi 32). Demgegenüber betont etwa Xunzi, dass der Mensch von Natur aus vorrangig ein soziales Wesen sei. Er vergleicht den Menschen mit Ochsen und Pferden und sagt, »der Mensch ist nicht so stark wie Ochsen, kann auch nicht so schnell laufen wie Pferde. Was ist aber dann der Grund dafür, dass Ochsen und Pferde von Menschen benutzt werden? Die Menschen können Kollektive bilden, aber die Ochsen und Pferde sind nicht in der Lage, dies zu tun« (Xunzi 9). Konfuzius wiederum sagt, die Menschen verfügten anders als die Tiere über das Bewusstsein von Riten und Moral. »Heutzutage wird die kindliche Pietät als Pflege der Eltern betrachtet. Allerdings kann man auch Hunde und Pferde pflegen. Wie könnte man zwischen der Pflege der Hunde und Pferde und der Pflege der Eltern unterscheiden, wenn das Bewusstsein der kindlichen Pietät nicht vorhanden wäre?« (Lunyu 2.7) Er lehrt, dass der Respekt bzw. die Hochachtung der Eltern den Kern der Riten bilden. Auch wenn die antiken Philosophen von den Unterschieden zwischen Mensch und Tier sprachen, betrachten sie den Menschen nicht als ein von der Na-

tur unabhängiges Wesen. Sie alle teilen die Auffassung, dass der Mensch ein Produkt der Natur ist. Die Natur bildet die Lebensbedingungen für die Menschen. Als solche ist die Natur die Quelle des Lebens. Die menschlichen Aktivitäten werden durch die Natur eingeschränkt. Die Kräfte der Natur übersteigen die Kraft der Menschen bei weitem. Auf dieser Erkenntnis beruht dann auch die Auffassung, dass man nur scheitern könne, wenn man gegen die Gewalt der Natur agiert. Deshalb müsse der Mensch die Ordnung der Natur, d. h. die Naturgesetze, verstehen und dieser Ordnung der Erde und der Jahreszeiten folgen (Mengzi 4a: 7; Guanzi 66; Zhuangzi 23.8). Die Idee, der Ordnung der Natur zu folgen, kann daher als wichtigste Grundregel im Denksystem der chinesischen Antike gelten. Demnach kann der Mensch nur dann die Natur nutzen und die Natur für die Menschen nur dann existieren, wenn er in Harmonie mit der Natur lebt. Daraus ergibt sich eine Handlungsmaxime für den Menschen, nämlich das dao des Himmels zu verstehen und mit dem dao des Himmels eins zu werden. Dies führt letztlich zu einem Zustand des Gleichgewichts, einem gerechten und ausgeglichenen Zustand, so wie dem von Sonne und Mond, der für alle gleich ist, ohne Bevorzugung von etwas oder jemandem. In der Bestimmung der menschlichen Natur und der menschlichen Werte unterscheiden sich allerdings die Ansichten der antiken Philosophen in wesentlichen Punkten. Dies hängt mit der Reflektion über das Verhältnis zwischen der Natur und dem Menschen sowie zwischen dem Menschen und der Gemeinschaft zusammen. Die Daoisten vertreten, dass der Wert der Menschen mit der Rückkehr zur Natur zu sich kommt. Das heißt in dem Maße, in dem der Mensch mit der Natur eins wird, werde sein Wert größer. Die Konfuzianer, deren Einfluss auf das Menschenbild im politischen Denken des antiken Chinas wesentlich größer war, sahen das ganz anders. Mengzi und Xunzi gingen davon aus, dass die menschlichen Eigenschaften von Natur aus gut bzw. böse seien. Ungeachtet dieser gegensätzlichen Bestimmung der Natur der Menschen kamen beide konfuzianische Denker dennoch zum gleichen Ergebnis, nämlich, dass »aus jedem Menschen ein Yao oder Shun werden« könne (Mengzi 6 A:7, 6 B:2). Diese sind die legendären ersten Könige aus der ganz alten Vergangenheit Chinas, die als Kulturheroen shengren den perfekten, idealen Menschen verkörpert haben sollen. Um dies zu erreichen, müsse der Mensch nach Mengzi auf der Basis von Moral und Sitte (ren und li) seine gute Natur konsequent herausbilden. Xunzi hingegen sagt, dass der Mensch nur

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dann, wenn er sich stets mit Hilfe von Moral und Sitte bemühe, seine böse Natur zu überwinden, wie Yao und Shun werden könne (Xunzi 23). Eine Gesellschaft, in der alle Menschen dieses höchste Ziel erreicht haben, entspricht dem Idealstaat im konfuzianischen Denken. Der Glaube, dass jeder durch seine vom Himmel verliehene Natur zum idealen Menschen werden könne, bildet zugleich die Grundlage der Idee von der menschlichen Würde, die von niemanden genommen werden kann (Mengzi 6a:17). Mengzi überträgt damit die Würde der moralischen Natur auf den Menschen selbst. Deshalb bezeichnet er die Fürsten seiner Zeit, die die Menschen nicht wie Menschen, sondern wie Tiere behandeln, als Mörder (Mengzi 1a:4). Darin ist ein Anknüpfungspunkt zur Idee individueller Menschenrechte enthalten (Roetz 1992, 2004). Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Menschen treten die Unterschiede der Denkrichtungen noch deutlicher in Erscheinung. Die Legisten glauben, dass die menschliche Natur auf purem Selbstinteresse beruhe und das Wesentliche der zwischenmenschlichen Beziehungen daher lediglich durch Kalkül (ke) bestimmt sei (Hanfeizi 32). Je weniger soziale Beziehungen bestehen, desto näher zur Natur stehe der Mensch. Sie betrachten jede Art von sozialen Beziehungen als Störung oder gar Zerstörung der Einheit der anarchischen Uridylle der Natur. Das ideale Leben bedeutet für sie, im Wald von dao frei zu schweben, ohne jedes Ziel, ohne jede Beziehung und ohne Sorgen. Hingegen verbinden die Konfuzianer die Menschen auf der Basis von Moral und Sitte miteinander. Die ethische Grundlage der menschlichen Beziehungen beruht bei ihnen auf der Goldenen Regel, nämlich, dass man den anderen nicht antut, was man selbst nicht angetan bekommen möchte (vgl. Roetz 1992, 219 f.). Von diesem Grundprinzip ausgehend lehrte Konfuzius, man solle der Menschlichkeit (ren) und Gerechtigkeit (yi) folgend die Mitmenschen lieben und sie den Sitten und Riten (li) entsprechend behandeln. Was dem li nicht entspricht, müsse man nicht sehen, nicht hören, nicht reden, und nicht handeln (Lunyu 12.1). Das konfuzianische Denken stand im strikten Gegensatz zum daoistischen Gedanken vom Ausstieg aus dieser Welt. Im Lunyu findet sich eine Passage, in der sich Konfuzius gegen die daoistische Kritik wendet. Jienie, offensichtlich ein Daoist, sagte zu Zilu, einem Schüler von Konfuzius: »Eine einzige Flut überschwemmt die Welt; durch wen ließe sich das ändern! Wäre es nicht besser für dich, nicht einem Literaten zu folgen, der die Menschen flieht, sondern denjenigen

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zu folgen, die der Welt entfliehen?« Als Konfuzius davon erfuhr, seufzte er: »Ich kann mich doch nicht mit Tieren zusammentun! Selbst wenn ich mich von dieser Welt verstecken sollte, mit wem sollte ich leben, außer diesen Menschen. Hätte die Welt das dao, dann müsste ich nicht dabei mittun, sie zu ändern!« (Lunyu 18.6.) Konfuzius bekennt sich hier zur sozialen Verantwortung jedes einzelnen in der Verbesserung der Welt. Dafür ist die Förderung von Moral und Sitte des Individuums, d. h. die Selbstkultivierung Basis und Ausgangspunkt zugleich.

12.4 Herrschaft und Ordnung Die Bestimmung der Beziehung zwischen den Menschen ist eng verbunden mit der Bestimmung von Herrschaft und Ordnung. Für den Daoismus bedeutet jegliche Art von staatlicher Institution eine Einschränkung der Ordnung der Natur. Im entwickelten Staat sehen die Daoisten lediglich ein blutiges Repressionsinstrument und eine widernatürliche Erscheinungsform. Zhuangzi geht so weit, den Staat als Räuberbande zu bezeichnen. Sein Anführer, der sich selbst als »Fürst« bezeichnet, habe außerdem Moral und Intelligenz als Mittel zum Zweck gestohlen (Zhuangzi 10). Der Lösungsvorschlag der Daoisten auf die chaotischen Verhältnisse ihrer Zeit gründet sich daher anstelle des Handelns auf das zweckfreie Geschehenlassen, auf ein ambitionsloses Leben des Nichtstuns (wuwei). Solch ein Lebensentwurf ist freilich nicht in einer Gesellschaft realisierbar, in der eine auf der Basis der fürstlichen Macht institutionalisierte Ordnung existiert. Folglich richtet sich das Plädoyer von Laozi auf die Rückkehr in die Natur und die Desorganisation der Gesellschaft, diese solle wieder in unterkomplexe, überschaubare und autarke Gemeinschaften zurückentwickelt werden (Laozi 80). Das Ideal der Daoisten bedeutet also die Wiederherstellung einer verlorenen Einheit, die ohne institutionelle Zwänge existieren konnte. Die Wiederherstellung des Idealstaates steht ebenfalls im Mittelpunkt des konfuzianischen politischen Denkens. Ausgangspunkt ist hier die frühere Existenz eines Idealstaates, in dem der perfekte, ideale Mensch shengren in den Personen von Yao und Shun, man könnte sagen von Philosophenkönigen im Sinne Platons, herrschten. Konfuzius weiß natürlich, dass in der wirklichen Welt ein shengren kaum anzutreffen ist. Allerdings ist er der Auffassung, dass dann, wenn alle Menschen den shengren nacheifern und dadurch zu

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edlen Menschen (junzi) werden, und so, wenn auch kein Idealstaat, doch ein vorbildlich geführtes Herrschaftssystem geschaffen werden könne. Hauptthema seines politischen Denkens ist daher die Herrschaft der Edlen und deshalb steht die Bildung der Edlen im Mittelpunkt seiner pädagogischen Arbeit. In seiner sozialethischen Lehre lassen sich politische und philosophische Ideen nicht trennen, vielmehr dienen sie gemeinsam der Herausbildung eines neuen Menschentypus, eben des neukonzipierten Edlen als Träger der Herrschaft. Angesichts des politischen und gesellschaftlichen Chaos seiner Zeit fordert Konfuzius die im Entstehen begriffene Schicht der Literaten (shi) auf, sich so weit zu bilden, dass sie als neue edle Menschen politische Verantwortung übernehmen können. Das setzt wiederum voraus, dass die Rekrutierung der politischen Amtsträger auf der Grundlage ihrer persönlichen Fähigkeiten erfolgt, aber nicht mehr, wie das bis dahin der Fall war, auf der Basis von Geburt und Stand. Im Hinblick auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, in denen das niedergehende Feudalsystem noch weiterlebte, war das eine sehr radikale Forderung. Die Bildung staatlicher Herrschaft ist allerdings kein Selbstzweck. Für den Konfuzianismus liegt ihr Zweck vor allem in der Erfüllung der Aufgaben für das Gemeinwesen. Konfuzius zufolge erhält die Herrschaft dadurch, dass sie für ein materiell abgesichertes, friedvolles und kultiviertes Zusammenleben der Menschen in einer hierarchischen Gesellschaft sorgt, ihre Legitimität. Politische Macht existiert nicht um der Macht willen. Sie hat mit der Sicherstellung des öffentlichen Wohlstandes eine soziale Funktion zu erfüllen, zugleich ist sie der natürlichen moralischen Zweckbestimmung des Menschen untergeordnet. Als solche wird die Qualität der Herrschaft mit zwei Maßstäben, einem utilitaristischen und einem moralischen, beurteilt. Es ist aber letztlich das Volk, das darüber ein Urteil trifft, ob die Herrschaft legitim ist oder nicht. Dies ist auch der Kern der »Idee vom Volk als Basis«. Das Volk, nicht der Herrscher, ist die direkte Repräsentanz des Himmels. Dieser sieht und hört durch das Volk« (Mengzi 5a:5). So lehrt Mengzi: »Das Volks ist das Höchste, dann folgt das Land. Der Fürst ist das Unbedeutendste« (Mengzi 7b:14). Ihm zufolge verliert ein Herrscher, der seine Aufgabe nicht erfüllt und sein Volk durch die Zerstörung seiner Lebensgrundlagen in die Kriminalität treibt, den Anspruch auf Gefolgschaft (Mengzi 1a:7, 1b:2). Der Mord an einem Tyrannen, der sich vom Volk abgewandt und sich damit seiner Herrscherwürde als unwürdig er-

wiesen hat, wird von Mengzi als »Hinrichtung eines isolierten Kerls« gerechtfertigt (Mengzi 1b:8). Ähnlich charakterisiert Xunzi die Beziehung zwischen Herrscher und Volk: Der Herrscher sei das Boot und das Volk das Wasser, auf dem das Boot fährt. Das Volk, also das Wasser könne das Boot fahren lassen, aber auch zum kentern bringen (Xunzi 9). Insofern setzt die Akzeptanz gesellschaftlicher Ungleichheit durch das Volk stets voraus, dass die Regierenden ihrer Funktion für das Ganze gerecht werden. Trifft dies zu, dann, so heißt es im Lunyu, werden die Leute in der Nähe sich freuen und die Leute aus der Ferne kommen. »Wenn die Regierenden die Etiketten (li) wertschätzen, wird niemand im Volk es wagen, sich nicht ehrerbietig zu zeigen. Wenn die Regierenden die Gerechtigkeit (yi) wertschätzen, wird niemand im Volk es wagen, sich nicht ihrem Beispiel zu fügen. Wenn die Regierenden die Vertrauenswürdigkeit (sin) wertschätzen, wird niemand im Volk es wagen, sich nicht als verlässlich zu erweisen. Wo es solche Verhältnisse gibt, dorthin würden die Leute mit ihren Kindern auf dem Rücken aus allen vier Himmelsrichtungen zusammenströmen« (Lunyu 13.4). Um die staatliche Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, sei es zwar unvermeidlich, dass das Regieren bis zu einem gewissen Grad Zwangscharakter habe, jedoch zeichne sich die beste Form des Regierens dadurch aus, dass sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft, das heißt das Volk, freiwillig daran beteiligten. Dies sei nicht dadurch zu schaffen, dass man die Menschen über ihre Inzuchtnahme durch die Institutionen zu sozialen Wesen formt, sondern nur durch eine »humane Politik« (ren zheng). Menschlichkeit (ren) ist ein zentraler Begriff im Konfuzianismus. Die Menschlichkeit zielt, indem das Ich und das Andere nicht als Gegensatz, sondern das Andere als Fortsetzung des Ichs verstanden wird, auf die Herstellung der Voraussetzungen des Zusammenlebens in einer politischen Gemeinschaft, um sich auf diesem Weg der Lebensordnung eines idealstaatlichen Zustands anzunähern. Menschlichkeit zu erreichen ist ein lebenslanger Prozess, bei dem sich jeder Einzelne selbst vervollständigen muss. Dies beginnt damit, dass man den Willen hat, dem dao zu folgen. Ob man die Menschlichkeit erreicht oder nicht, hängt von der Entscheidung und vom Tun des einzelnen Menschen ab (Lunyu 15.28.). Für Konfuzius bleibt die Menschlichkeit allerdings nicht auf die individuelle Ebene beschränkt. Sie ist auch die Grundtugend, die die Regierenden unbedingt besitzen sollten. Insofern enthält sie auch eine soziale Bedeutung.

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Die Legisten lehnen hingegen die »humane Politik« ab. Für Shenzi (395–315 v. u. Z.) bedeutet Herrschaft, die nicht auf klaren Entscheidungskriterien beruht, politische Beliebigkeit. Bestrafung und Belohnung hingen dann nur vom subjektiven Urteil des Herrschers ab. Nach dem Legismus, der das berechnende Selbstinteresse für die Natur des Menschen hält, kann auf dieser Basis kein Staat bestehen. So vertritt Shenzi, dass ein Herrscher die für alle gleichen Gesetze nicht beeinträchtigen dürfe und sein Selbst auszuschalten habe (Shenzi 6). Der Legismus vertritt also ein strikt technisches Modell der Politik, das auf institutionalisierten Regeln beruht. »Nur das Gesetz (fa) ist die einzige Regelung«, und »dem Gesetz folgend politische Entscheidungen zu treffen, ist das Grundprinzip der Herrschaft« (Shenzi 7). Für den Legismus bedeutet Gesetz eine allgemein gültige Regelung sozialer Beziehungen (Guanzi 3). Erst auf dieser Grundlage kann das berechnende Selbstinteresse aller Beteiligten wirksam werden. Aus der Sicht der Legisten darf niemand über bzw. außerhalb des Gesetzes stehen. »Gesetz wird vom Herrscher und Beherrschten zusammen aufgestellt«, und »nur wenn alle, sowohl der Herrscher als auch die Beherrschten, oben und unten, Edle und Gemeine, dem Gesetz folgen, kann von einer guten Herrschaft die Rede sein«. Da der Befehl des Herrschers das Gesetz zum Maßstab nehmen muss, muss laut Guanzi »der Herrscher auf der Grundlage des Gesetzes seine Befehle geben« (Guanzi 52). Der Herrscher kann auch selbst Gesetze und Ordnungen einführen, aber ohne Gesetz und Ordnung kann er das Land nicht herrschen. Das Gesetz ist die Herrschaftsmethode der Legisten. Daher sagt Hanfeizi, die klügste Regierung stütze sich auf Regeln und Gesetze, statt auf Menschen (Hanfeizi 55). Entsprechend liegt die Antwort der Legisten auf das Chaos ihrer Zeit in der Verwirklichung der Politik, die an die Stelle des Individuums und seiner Selbstkultivierung und Verantwortung das institutionell geregelte öffentlichen Wohl, an die Stelle persönlicher Bindungen die reine Verpflichtung auf das Gesetz und an die Stelle der Tradition das Notwendige und Praktikable setzt. Nicht zuletzt wegen der politischen Rolle der Legisten während der kurzen Herrschaft der Qin Dynastie wird ihnen nachgesagt, den Aufbau eines zentralen Verwaltungsstaates, ja sogar die zentralstaatliche Despotie, zu befürworten. Dabei wird übersehen, dass die Legisten vorrangig die Herrschaft nach dem Gesetz betonen, wobei alle, auch der Herrscher, dem Gesetz zu folgen haben (Shenzi 6). Insofern beinhaltet ihr Ansatz einen Mechanismus, der dem Wandel des Herr-

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schers zum Despoten vorbeugen sollte. Sie gehen davon aus, dass sich in einem politischen System, in dem das Gesetz fest institutionalisiert ist, die Rolle des Herrschers lediglich auf die Überwachung der reibungslosen Anwendung des Gesetzes beschränkt. Im idealen Herrschaftssystem der Legisten muss der Herrscher überhaupt keine aktive Rolle mehr spielen.

12.5 Politische Instrumentalisierung der Ideen Im Mittelpunkt des politischen Denkens im antiken China stand die Suche nach einem Ausweg aus den damaligen krisenhaften, wenn nicht chaotischen Verhältnissen. Aus der Vielzahl der damals entstehenden Gedankengebäude und philosophischen Schulen wurden hier drei Hauptrichtungen, nämlich der Daoismus, der Konfuzianismus und der Legismus, vorgestellt. Der Daoismus lehnt staatliche Herrschaft und jeglichen institutionellen Zwang ab und betrachtet die Wiederherstellung des Naturzustandes als Ideal. Der Konfuzianismus stellt den in die Vergangenheit projizierten, auf einer Verantwortungsethik beruhenden utopischen Idealstaat als Vorbild für die Gegenwart dar und plädiert für dessen Wiederherstellung. Der Legismus schließlich glaubt, durch die Einrichtung eines sich auf Gesetze gründendes Herrschaftssystem, das dem Selbstinteresse des Individuums möglichst breiten Raum gibt, die ideale Form der Herrschaft gefunden zu haben. Ungeachtet dieser Unterschiede sind sich Daoismus, Konfuzianismus und Legismus einig, dass die gesellschaftliche Ordnung auch ohne aktives herrschaftliches Eingreifen aufrechterhalten werden könnte, wenn denn die Idealform ihrer jeweiligen staatlichen Herrschaftsform verwirklicht werden würde. Die Vorstellungen der Legisten haben im Prozess der Einigung Chinas durch die Qin-Dynastie (221– 207 v. u. Z.) eine entscheidende Rolle gespielt. Shi Huang Di, der Gründer dieser despotischen Dynastie, nutzte die Herrschaftslehre von Hanfeizi, um einen zentralistisch organisierten Verwaltungsstaat aufzubauen. Gleichzeitig geriet der Konfuzianismus in Gefahr ausgelöscht zu werden, denn Shi Huang Di verbot nicht nur das Studium, sondern auch den Privatbesitz von alten Büchern und ließ im Jahr 213 v. u. Z. alle Bücher von Privatpersonen, mit Ausnahme von technischen Werken über Agrarwirtschaft, Medizin und Astronomie, verbrennen. Er ließ zudem die kritikfreudigen Konfuzianer verfolgen und 212 v. u. Z.

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über 460 Studenten des Konfuzianismus lebendig begraben. Aufgrund ihrer kurzen Dauer konnte die QinDynastie trotz dieser brutalen Verfolgung die konfuzianische Lehre nicht vollkommen vergessen machen. Außerdem hielten gerade die Grausamkeiten dieses Tyrannen in der Gesellschaft die Sehnsucht nach der alten Zeit und damit auch die Erinnerung an die konfuzianische Lehre wach (Creel 1949, 246). Der kurzlebigen Qin- folgte die Han-Dynastie (206 v. u. Z.– 220). Sie bedeutete für die Konfuzianer wie auch für die Bevölkerung eine Erlösung von der Angstherrschaft. Allerdings blieb das von den Legisten entworfene und entwickelte politische System weitgehend erhalten. Im Grunde übernahm die Han-Dynastie die gesamten staatlichen Einrichtungen von Qin fast unverändert (Franke 1925, 184). Der neue Herrscher hörte jedoch auf, die Konfuzianer zu bekämpfen und versuchte stattdessen einen modus vivendi mit ihnen zu finden. Im Laufe der Zeit kam es zu einer Renaissance des Konfuzianismus, die unter Kaiser Wudi (140–87 v. u. Z.) einen Höhepunkt erreichte. Wudi ordnete die systematische Wiederherstellung des zerstörten konfuzianischen Schrifttums an: Jeder Winkel des Landes wurde nach Resten alter Schriften durchsucht. Auch nur im Gedächtnis aufbewahrte und von einer Schülergeneration zur nächsten vererbte Texte wurden aufgezeichnet. Es wurde verglichen, gesichtet, ergänzt, erklärt. Von 136 v. u. Z. an stellten große staatliche Gelehrtenausschüsse die klassischen Werke neuerlich zusammen. Im Jahr 124 v. u. Z. wurde die sogenannte Große Akademie errichtet, deren Aufgabe es war, die in diesen Texten enthaltenen Lehren zu erläutern und zu verbreiten. Nur den in dieser Akademie ausgebildeten Männern sollten die hohen Ämter im Staate anvertraut werden. Damit legte Wudi die Grundlage des Examenssystems für die Beamtenauswahl (Creel 1949, 264; Franke 1925, 186). Indem der Besitz konfuzianischer, literarischer und moralischer Bildung zur Voraussetzung für den Zugang zu Staatsämtern erhoben wurde, gelangte der Konfuzianismus als Bewahrer der traditionellen Kultur und als staatstragende Philosophie zu neuer Geltung. Von da an galt der Konfuzianismus offiziell als Staatsphilosophie und wurde zu einer zentralen Institution des chinesischen Reichs. Doch dieser Konfuzianismus, der nun als herrschendes Dogma des Reiches triumphierte, war nicht mehr die Philosophie von Konfuzius und Mengzi. Er war weit entfernt von deren ursprünglichen Lehren und hatte viele fremde Ideen aufgenommen, darunter

nicht nur Elemente aus dem Legalismus, sondern auch der Yin-Yang-Kosmologie des Daoismus und anderer Naturreligionen. Offizielle Förderung bedeutete auch offizielle Kontrolle. Er wurde zu dieser Zeit in eine große synkretistische Lehre verwandelt, in der vielerlei Elemente vermischt wurden. Populärer Aberglaube ebenso wie Staatsanbetung wurden unter den Mantel der konfuzianischen und vorkonfuzianischen Klassiker gebracht, um ihnen eine respektable und autoritative Erscheinung zu geben. Folglich meint Roetz, der »Konfuzianismus« sei spätestens seit der Han-Zeit ein nur mit Vorsicht zu gebrauchender Begriff geworden (Roetz 1995, 44). Während in der frühen konfuzianischen Lehre der Mensch als das wichtigste Element des Staates im Mittelpunkt stand, rückte im neuen Konfuzianismus als Staatsideologie der Herrscher ins Zentrum des Staates. Zugleich wurde auch die vertikale und autoritäre Dimension der sittlichen Beziehungen hervorgehoben: also die zwischen Herrscher und Untertanen, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen Alten und Jungen und zwischen Freunden. Mit der Anerkennung des Konfuzianismus als Staatsideologie stieg die Zahl derjenigen, die die konfuzianischen Texte studierten, dramatisch an, da dies nun der beste Weg war, um zu Reichtum und Ruhm zu gelangen (Creel 1949, 187). Aus Sicht der Regierung war eine wunderbare Methode gefunden worden, um die konfuzianischen Gelehrten von der Gesellschaftskritik, durch die sich ihre Lehre bis dahin ausgezeichnet hatte, abzubringen und sie mit harmlosem Studium zu beschäftigen. Ein bedeutender Teil der Intelligenz vom Staat wurde dadurch absorbiert und neutralisiert. Zudem trugen die Institutionalisierung des staatlichen Examenssystems und die damit verbundene Aufhebung feudaler Geburtsprivilegien zur Stabilität des chinesischen Reichs bei. Dennoch ging der ursprüngliche kritische Impuls des Konfuzianismus niemals ganz verloren (Roetz 1984, 431). Obwohl der Staat seine Version des Konfuzianismus gründlich institutionalisiert hatte, gab es immer genügend Gelehrte, die die ursprüngliche Lehre von Konfuzius verstanden hatten und diese Tradition fortführten. So kennt die Geschichte zahlreiche Fälle aufrechter Beamter, Dichter und Denker, die wegen ihrer moralischen, kritischen Haltung dem Herrscher gegenüber in Ungnade fielen und verbannt oder gar hingerichtet wurden, dafür aber bis heute verehrt werden. Dies wiederum lässt sich in Verbindung mit dem staatlichen Prüfungssystem erklären. Denn gerade aufgrund dieses Systems genoss der konfuzianische

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Beamte ein gesellschaftliches Prestige, das er allein seiner Bildung verdankte und das somit auch von seiner Einstellung gegenüber dem Kaiser und von seiner Stellung innerhalb der staatlichen Hierarchien unabhängig war. In diesem Sinne war er kein bloßer Fachmann und mehr als ein weisungsgebundener Funktionär. Ein Verlust des Amtes, gar des Lebens, zerstörte keineswegs seine Würde und sein Ansehen. »Wenn ein Monarch nicht die alleinige Quelle von Prestige ist, kann er seine Bürokratie nicht dadurch versklaven, dass er mit Prestigeverweigerung droht« (Osterhammel 1989, 74). Der konfuzianische Beamte war deshalb niemals ein Höfling oder eine Kreatur des Herrschers. Er besaß eine kulturell sanktionierte Rückzugsposition, auf der ihn der Arm des Herrschers letzten Endes nicht erreichen konnte. Der ungerecht bestrafte, der in mahnendem Protest freiwillig aus dem Leben geschiedene Beamte – dies waren und sind die anti-despotischen Kulturheroen des konfuzianischen China – und Ostasiens. Von den meisten chinesischen Klassikern liegen gute Übersetzungen in westlichen Sprachen vor. Auch ohne Chinesischkenntnisse kann man Zugang zum politischen Denken des antiken Chinas finden. Die Zitate aus klassischen Texten wurden von der Autorin übersetzt. Primärliteratur

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Eun-Jeung Lee

B Mittelalter 13 Mittelalter: Christlich Das Mittelalter ist christlich geprägt gewesen, sagt man gemeinhin. Doch worin genau besteht dieses Christlich sein und was bedeutet dies für das Denken über Politik? Eine gewisse Schwierigkeit für die Beantwortung dieser Fragestellung beginnt schon bei der zeitlichen Zuordnung zu dem, was man für Mittelalter hält. Man kann z. B. als Beginn des Mittelalters das Ende des weströmischen Reiches mit der Demission des Kaisers Romulus August im Jahre 476 notieren, man kann ebenso gut die Krönung Karls des Großen im Jahre 800 hier ansetzen – oder auch den Siegeszug einer neuen, eben der islamischen Theologie. Das Alles bringt jedoch nicht viel. Der Übergang von der sogenannten Antike in das sogenannte medium aevi ist ein eher Jahrhunderte überspannender Prozess, den man tunlichst nicht an einem einzigen Ereignis verbuchen sollte. Gleiches gilt für die Betrachtung zum Ende des Mittelalters. Auch wenn Petrarca (1304–1374) schon im Jahre 1373 vom medium tempus sprach, mit dem er meinte, seine eigene Epoche von der Vorhergehenden unterscheiden zu können, sind es doch im spezifischen Sinne Historiker gewesen, die sich ab dem 17. Jahrhundert mit dieser Betrachtungsweise immer deutlicher für die eigene Epoche (als neue Zeit) vom Mittelalter abzugrenzen versuchten. Entscheidend ist aber vielmehr für das Denken über Politik, inwieweit und mit welcher Dauer theologische Interpretamente vorherrschend sind. Denn offensichtlich steht das Mittelalter unter dem Paradigma theologischen Denkens, wenn es um politische Erscheinungsformen und deren inhaltlichen Effekte geht. Vielfach werden diese Erscheinungsformen auch gar nicht in ihrer Spezifik als politisch begriffen, sondern wegen der theologischen Deutungshoheit als praktische Anwendungsprobleme der christlichen Ethik abgehandelt und interpretiert (vgl. hier im gelungenen Überblick Ottmann 2004; grundsätzlich auch Burns 1988). Im Grunde beginnt das Mittelalter, was das christliche Denken in Bezug auf die Bedeutung einer politi-

schen Ordnung betrifft, mit Augustinus (354–430). Mit der monumentalen Lehre des Bischofs von Hippo wird auch zugleich symbolisch das Ende der römischgriechischen Antike angezeigt, ungeachtet der hermeneutischen Tatsache, dass damit noch keineswegs die Theoreme beendet werden, die seit Platon hier verhandelt wurden. Es ist aber insofern ein Endpunkt für die antiken Diskurse, weil ab jetzt die Fragen nach einer Henologie, nach der metaphysischen Präsenz aller Anschauungen im Diesseits mit einer komplett durchorganisierten christlichen Theologie beantwortet werden. Hierzu liefert Augustinus erstmals ein umfassendes Lehr- und Deutungssystem. Dabei verschiebt sich der metaphysische Dualismus der Platoniker von der Betrachtung der Außenwelt auf die Innenweltperspektive. Ab jetzt wird es wichtig, wie man im Inneren, am tiefsten Punkt der Seele seinen jeweils spezifischen Zugang zu Gott findet (und lebt). Damit kommt eine Barriere ins Spiel, die es so zuvor in der heidnischen Metaphysik der Aristoteliker und Platoniker nicht gegeben hat. Das Innere verabsolutiert sich gegenüber dem Äußeren. Das Seelenheil bekommt einen Vorrangcharakter vor den Anfechtungen und Zumutungen der äußeren, der diesseitigen Welt. Damit konstituiert sich zugleich intrinsisch eine Identität, deren Grundlage die jeweils intime, weil nur für das gläubige Individuum ausgerichtete Beziehung zu Gott darstellt. Alles Andere, d. h. Irdische, ist demgegenüber sekundär, nachrangig. Was zählt, ist der innere Glaubensbezug zum Schöpfer der Welt. Diese theopolitische Ausdeutung der Ordnung ist immer eine Kosmologische (vgl. auch Angenendt 2012, 27). Sie weist dem Einzelnen seinen natürlichen Platz in dieser Welt zu. Da das Christentum zugleich aber eine Bekenntnislehre darstellt, in welcher der Einzelne (als gläubiger Mensch) seinen je spezifischen Zugang zu Gott finden soll, wird den Verhältnissen auf dieser Welt intrinsisch etwas gegenübergestellt, was nicht von dieser Welt ist – und über das diese Welt (insbesondere ihre Herrschaftssysteme) letztlich keine Verfügung hat. Dieses Glaubensversprechen ist ko-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_13

13  Mittelalter: Christlich

gnitiv wie auch in praktischer Hinsicht kaum zu unterschätzen. Der gläubige Christ bekommt damit eine Idealitätssicht auf die Dinge dieser Welt zugeschrieben, an der er die jeweils vorherrschenden Ergebnisse in der Welt messen kann und messen muss. Und diese Messung fällt nie vollständig zufriedenstellend für diese Welt aus!

13.1 Die Bibel als Maßstab der Welt Die Bibel ist über lange Zeiträume hinweg für das christliche Denken über Politik das universale Lektüreformat schlechthin. Insbesondere in der Zeitdiagnose, mit der eschatologischen Verheißung in der Offenbarung formuliert die Bibelexegese einen oft dogmatisch vorgetragenen Anspruch auf den Daseinshorizont der Menschen in Zeit und Raum. Wenn Gott in der Offenbarung wiedergegeben wird mit dem Satz Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende (Offenbarung 22,10– 13), dann bedeutet dies, dass es für den Sinnhorizont des Menschen eine ultimative Grenzziehung in und durch Gott gibt. Die zentrale Botschaft für die christliche Soziallehre vermitteln die Zehn Gebote (vgl. Ex 20,3–17): Während die Gebote 1 bis 3 die Heiligkeit Gottes hervorheben und den intrinsischen Zugang des Gläubigen zu Gott regeln, setzt ab Gebot 4 mit der Ehrpflicht gegenüber den Eltern der interpersonale Umgang an der natürlich wichtigsten Stelle, nämlich der Familie, ein. Das Gebot 6 formuliert dann das Verbot der Tötung, welches allerdings in bestimmten Konfliktsituationen aufgehoben werden kann. Die Gebote 6 bis 10 vermitteln darüber hinaus erste, recht einfach gehaltene, Umgangsformeln zur Regelung von Besitzansprüchen. Jenseits des Urkontrakts mit Gott ist die Botschaft, die von diesen Regeln ausgeht, zunächst einmal eine recht einfache, weil natürliche Symbolik. Allerdings gilt bis in die Gegenwart die Einsicht bzw. Anerkennung, dass die Zehn Gebote, würde man sie tatsächlich strukturell im Alltag befolgen, eine hohe normative Verbindlichkeit in der Praxis mit sich bringen. Eine politische Ordnung, gar ein Staat mit einer Heerschar von Juristen und Polizisten, wäre so dann nicht nötig. Insofern sind die Zehn Gebote und viele Aussagen, die sich in der Bibel hierzu regulativ anschließen lassen, alles andere als banal oder gar nur plakativ. Insgesamt folgen die normativen Bestimmungen sowohl des Alten wie des Neuen Testaments einem ethischen Duktus, der den sozialen Frieden unter den

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Menschen unterstreicht, der sich immer dann und dort manifestieren wird, wo die Gläubigen sich ihrer Verantwortung vor Gott bewusst sind und dieses Bewusstsein im Alltag auch entsprechend strukturell vorleben (vgl. hier auch Nitschke 2017).

13.2 Die Zwei-Reiche-Lehre Die sicherlich weitreichendste paradigmatische Formel für christliches Denken über Politik manifestiert sich in der monumentalen Abhandlung De civitate dei (ca. 413–427) von Aurelius Augustinus. In dieser sogenannten Zwei-Reiche-Lehre formuliert der Bischof von Hippo die Verantwortung des Gläubigen vor Gott und in der Welt in einem sehr umfassenden Sinn. Der civitas terrena als der irdischen Welt wird die Welt Gottes, die civitas dei, gegenübergestellt. Die irdische Welt ist die Welt der (physischen) Körper, in der die Leidenschaften existieren und in der alle menschlichen Eigenschaften und Handlungen letztlich endlich sind. Demgegenüber ist die Welt Gottes die Sphäre des Geistes und des Glaubens, die Welt der Seele, welche aufgrund der Heilsbotschaft ewig existent ist. Größer könnten die Gegensätze also gar nicht sein. Die entscheidende Frage ist, was verbindet diese beiden Welten miteinander und wie gestaltet sich diese Verbindung im praktischen Alltag für den Gläubigen? Denn Seele und Körper des Menschen verweisen zeitgleich auf diese beiden unterschiedlichen Seinsbereiche, sind also gleichermaßen existenziell für das Leben der Menschen. Augustinus ordnet zwar beide Seinsbereiche in einem Wechselverhältnis aufeinander zu, betont aber zugleich das dualistische Grundprinzip hierbei, in welchem (natürlich) der göttlichen Sphäre eine weitaus höhere Dignität zukommt: »So besteht denn der Friede eines Körpers in dem geordneten Verhältnis seiner Teile, der Friede einer vernunftlosen Seele in der geordneten Ruhelage der Triebe, der Friede einer vernünftigen Seele in der geordneten Übereinstimmung von Denken und Handeln, der Friede zwischen Leib und Seele in dem geordneten Leben und Wohlbefinden des beseelten Wesens, der Friede zwischen dem sterblichen Menschen und Gott in dem geordneten gläubigen Gehorsam gegen das ewige Gesetz, der Friede unter Menschen in der geordneten Eintracht der Hausbewohner im Befehlen und Gehorchen, der Friede des Staates in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen, der Friede des himmlischen Staates in der bestgeord-

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III Denkströmungen – B Mittelalter neten, einträchtigsten Gemeinschaft des Gottesgenusses und gegenseitigen Genusses in Gott, der Friede aller Dinge in der Ruhe der Ordnung. Ordnung aber ist die Verteilung gleicher und ungleicher Dinge, die jedem den gebührenden Platz anweist.« (Augustinus 1991, 552)

Mit dieser Festlegung wird ein systematisches Herrschaftsverhältnis mit einer hierarchischen Ordnung begründet, bei der aber letztlich nicht die Politik entscheidend ist, sondern die theologische Bestimmung. Der Mensch als Bürger unterliegt in der irdischen Welt den Geboten der weltlichen Herrschaft. Befehlen und Gehorchen, hierin folgt Augustinus durchaus dem ciceronischen Leitbild, sind Ausdruck eines Regelsystems, in welchem die Herrschaft der Menschen untereinander durch angemessene Gesetze geregelt wird. Die rhetorisch aufgeworfene Frage, was denn den Staat von einer Räuberbande unterscheide, da doch beide Herrschaftssysteme durch Gewalt gekennzeichnet seien, beantwortet Augustinus durch den Verweis auf die Legalität der politischen Ordnung. Die civitas terrena ist dann und dort gerechtfertigt, wo die Befolgung der Gesetze als Maßstab für das Zusammenleben der Menschen seine Gültigkeit hat. Gegenüber der rein willkürlichen Gewalt in einer Räuberbande unterscheidet sich die Gewaltstruktur des Staates durch ihre Legitimität und Legalität. Diese wiederum hat sich auszurichten an der Ordnung Gottes. Insofern ist Politik bei Augustinus auch nicht eigenständig: mit ihrem theozentrischen Weltbild ist sie im Prinzip sehr theokratisch angelegt. Letztlich entscheiden die Priester darüber, was gerecht ist und was nicht. Damit wird der Kreislauf von Befehlen und Gehorchen von der irdischen Sphäre noch einmal überhöht bzw. gedoppelt durch die göttliche Dimension. Erst von der Ebene der civitas dei her bekommt die irdische Welt (und damit auch alle Politik unter den Menschen) ihre eigentliche sinnvolle Berechtigung. Die irdische Macht des (römischen) Kaisers existiert, weil Gott sie so haben will. Deshalb zitiert Augustinus auch den Bibelspruch Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott (Mk 12,17). Letztlich bleibt es immer beim Dualismus in der Existenz der Menschen: das Reich Gottes und die Reiche der Menschen sind zu verschieden, um adäquat miteinander verschmolzen werden zu können: »Aller Gebrauch zeitlicher Dinge zielt also im irdischen Staate auf den Genuß irdischen Friedens ab, im himmlischen Staate aber auf den Genuß des ewigen Friedens« (ebd., 555).

Die Ordnung Gottes ist eine Friedensordnung, eine Ordnung der Körper und der Seelen. Allerdings ist diese Ordnung im irdischen Leben nur unvollständig, eben nicht perfekt. Mitunter kann sie sogar dramatische Zustände des Leidens erreichen. Denn die geordnete Ruhelage der Triebe ist ständig in der Gefahr einer Maßlosigkeit zum Opfer zu fallen. Hierfür verantwortlich ist (neben der Unvollständigkeit des Menschen aufgrund des Sündenfalles) vor allem die Existenz und das Tätigwerden des Teufels. Der Teufel betreibt permanent die Destruktion der göttlichen Ordnung in ihrer natürlichen Reinheit. Das bedeutet, das Böse ist in dieser Welt und hat hier eine spezifische Funktion. Dem (gläubigen) Menschen kommt somit eine Art Auftrag zur Erkennung und Bekämpfung des Bösen zu. Nicht erst in der Heilsschlacht beim Endkampf gegen den Antichristen und seine Heerscharen, sondern auch schon zuvor, eben im täglichen Leben. Das Böse ist eigentlich gar nichts (malum nihil est). Es hat so gesehen keine innere Qualität (vgl. ebd., 553), aber es wirkt zerstörerisch auf das Gute hin. Das Problem oder Dilemma, welches vom Bösen ausgeht, besteht in seiner diagnostischen Unschärfe. Kein Triebtäter wird behaupten, dass er etwas Böses tut. Das heißt, die Sündenstruktur der menschlichen Existenz verschleiert bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit der angemessenen Selbstkritik, die zu einer Selbstkorrektur bzw. Selbstdisziplinierung führen könnte. Das Problem des Bösen in der Welt ist demnach für Augustinus an erster Stelle ein epistemologisches Problem: Gutes (Tun) und Böses (Tun) werden beim Menschen häufig schnell vermischt. Der Glaubensauftrag an den Christen ist deshalb, hier eine tägliche Trennung zwischen dem Guten und dem Bösen vorzunehmen: Strukturell (und damit umfassend) gelingt dies erst beim Jüngsten Gericht (vgl. ebd., 591). Aber es bleibt auch vorher schon – in der jeweiligen Jetztzeit in der irdischen Welt – das Grundanliegen für die Gläubigen. Die Glaubensfrage im Kampf zur Unterscheidung von Gut und Böse ist zugleich eine Wahrheitsfrage (vgl. auch hier grundsätzlich Hübner 2001). Denn nur wer sich der Wahrheit widmet, wird in der Lage sein, zwischen dem Richtigen und dem Falschen unterscheiden zu können – und damit auch das richtige Tun umsetzen können. Die Suche nach Wahrheit ist hiermit zugleich das soziale Grundprinzip der christlichen Existenz. Nur wer Wahrheit sucht und diese dann auch beachtet, wird tatsächlich Gerechtigkeit erreichen können. Insofern ist der in der Offenbarung des Johannes verkündete Endkampf auch der Abschluss des ewigen Ringens um die Wahrheit. Das hat

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– neben der epistemologischen Wirkung – vor allem auch eine Funktion hinsichtlich der Bewertung der politischen Ordnung. Denn diese ist so lange instabil, willkürlich und vor allem ungerecht, wie sie sich nicht der Wahrheit in den Dingen widmet. Und hier ist besonders aus Sicht von Augustinus in der Interpretation der Offenbarung des Johannes die politische Ordnung auf Erden grundsätzlich defizitär, weil sie die Sündenstruktur des Menschen nicht in ihre Regularien angemessen einbezieht, was nur über den Glauben möglich wäre, sondern (schlimmer noch) diese Sündenstruktur eher grundsätzlich ablehnt bzw. übersieht. Das ist der zentrale Vorwurf an die eigene Epoche, insbesondere hier an das Römische Reich, welches als ein heidnisches System die Wahrheitsfrage nicht verfolgt und damit jedwede Aussicht auf Gerechtigkeit systemisch destruiert. Der Staat als Tier steht dann eher auf der Seite des Teufels (vgl. ebd., 611 f.), was wiederum bedeutet, dass eine solche politische Ordnung ganz grundsätzlich scheitern muss, weil sie den Trieben in der Sündenstruktur der menschlichen Existenz freien Lauf lässt. Dadurch wird deutlich, dass die normative Bewertung der menschlichen Existenz in Form der theologischen Prämissen zu einem Anspruch führt, der nicht einfach an der Binnensphäre des gläubigen Individuums stehen bleibt, sondern eben auch ganz grundsätzlich die politische Ordnungsstruktur in der Außenwelt (der Körper) betrifft. Die Qualität und Form der politischen Ordnung darf also nicht beliebig sein. Auch wenn sie gegenüber der göttlichen Ordnung immer unvollständig und oft genug (nur) willkürlich ist, besteht hier doch ein hoher Rechtfertigungsdruck zugunsten einer Beachtung bzw. strukturellen Einhaltung der christlichen Normgebote. Denn je besser die politische Ordnung dem christlichen Anliegen (der »Liebe zur Wahrheit«) gerecht wird (ebd., 635), desto eher und umso nachhaltiger stellt sich auch Gerechtigkeit auf Erden, also in diesem Leben, ein. Die Wahrheit und die Liebe zu ihr konstituiert und erhält die Existenz der Seele – und in der logischen Folge damit auch die der politischen Ordnung. Wenn Augustinus hier Paulus zitiert mit dem Satz In Christus werden alle lebendig gemacht (ebd., 637), dann bedeutet dies, dass der Staat spezifisch nur in einem christlichen Bekenntnis lebensfähig sein kann. Demgegenüber tritt die politische Ordnung in ihrer praktischen Alltagswirklichkeit oft nicht nur defizitär auf, sondern erscheint hier geradezu als Gegentypus zur normativen Leitfunktion des christlichen Ordo. Das heißt, der politische Ordo der irdischen

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Existenz agiert sogar auf der Seite des Teufels, der den »feindseligen Staat« im Schlepptau mit sich bringt (ebd., 620). Genau diese Agenda des heuristisch Bösen gilt es beim Ringen um die Wahrheit zu bekämpfen. Insofern ist der Endkampf beim Jüngsten Gericht auch nicht eine absolute Tabula-Rasa-Veranstaltung, sondern bedingt eine Transformation für die Gläubigen zugunsten der wahren Ordnung Gottes auf Erden. Die bis dato falsche Ordnungswelt mit ihren verheerenden Defiziten aus der Sündenstruktur des Menschen wird umgewandelt zu einem neuen Himmel und einer neuen Erde: »Denn durch Veränderung der Dinge, nicht völligen Untergang wird diese Welt vergehen« (ebd., 621). Der »neue Himmel und die neue Erde« führen schließlich zum Untergang »der gottlosen Menschen« (ebd., 630). Aber bis es soweit ist, erfährt die irdische Welt die Anfechtungen des Teufels, der in der Erscheinung des Antichristen zunächst überaus erfolgreich auf den Plan tritt. Er ist vor allem deshalb so erfolgreich, weil er durch allerlei trügerische Machtmittel und »aller erdenklichen Verführung zur Ungerechtigkeit« die Herzen (und Seelen) der Menschen korrumpiert (ebd., 632). Erneut bestätigt sich damit die epistemologische Funktion des Glaubens. Das Böse in der Welt ist nur dann (und dort) erfolgreich, wo man zwischen dem Richtigen und dem Falschen nicht klar zu unterscheiden weiß. Das ist letztlich eine Gewissens- und Verantwortungsfrage an jeden Einzelnen. Und so versteht Augustinus die symbolische Figur des Antichristen auch nicht einfach als Charakterisierung einer einzelnen Person, die zum Schlechten führt, sondern als einen ganzen Leib, also die »ihm angehörige Menschenmenge mitsamt ihrem Fürsten« (ebd.)! Für die eigene Gegenwart verweist er hier auf das Römische Reich (vgl. ebd., 633), dem er diese, die Gerechtigkeit destruierende Qualität zuschreibt.

13.3 Organologisches Denken und die Aristotelische Revolution Das hermeneutische Problem des christlichen Denkens über Politik besteht im Mittelalter darin, dass sich im Kontext der überaus erfolgreichen Zwei-Reiche-Lehre von Augustinus lange Zeit gar kein spezifischer Zugang zur Politik denken ließ. Die Anleitung mit der Symbolik der Zwei Reiche führte zu einem Dualismus, bei dem die Rangordnung theologisch gesehen eine eindeutige Präferenz hat: das Reich Gottes ist das Caput, das Haupt der Christenheit, demgegen-

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über die politische Welt lediglich eine membrane Funktion darstellt. Bei strenger Befolgung dieser Lehre im Sinne eines kognitiven Schemas stellte sich für die Anhänger dieser Doktrin eine Form der Antipolitik ein. Das hatte weitreichende Folgen: 1. Politik wird nicht als spezifische Aufgabe des Menschen verstanden. 2. Die Ordnung ist immer (von Gott) vorgegeben. 3. Die (christliche) Moral ist wichtiger als die praktische Politik. Mit dem Verweis auf das Evangelium nach Markus (12,17) konnte man die Welten schön getrennt lassen, das Eine für wichtiger als das Andere erklären. Diese im Grunde antipolitische Ausrichtung förderte konsequenterweise auch ein passives Ertragen gegenüber der jeweiligen politischen Herrschaft und ihrer Praxis. Im eigentlichen Sinne wurde diese Praxis aber gar nicht als politisch begriffen, sondern sie war lediglich eine mehr oder weniger gut bzw. schlecht ausgestaltete Form von Herrschaft im Rahmen des göttlichen Masterplans. Der metaphysische Dualismus der Zwei-ReicheLehre bleibt über Jahrhunderte hinweg das vorherrschende Denkkriterium, wenn es um die Deutung von Politik in dieser Welt ging. Im eigentlichen Sinne war das dann eben gar keine politische Deutung. Die Bibel und ihr genaues Studium reichten im Grunde schon für die Interpretation über die Maßstäbe der Welt. Im Zuge der Völkerwanderungen wurden die Wissensbestände der römischen Welt oft regional nachhaltig destruiert und konnten lange Zeit nur rudimentär in den Klöstern tradiert werden. Theologisches Denken, welches die Prämissen für die Inhalte vorgab und die Tradierung römischen Rechts im Christentum des Frühmittelalters dekodierten damit das Verständnis von Politik zu einer Form der symbolischen Perspektive, eben nicht der eines praktischen Bewusstseins. Soziale oder gar ökonomische Grundlagen spielten keine Rolle, alles wurde im Wertekanon der Bibel verstanden und entsprechend kodiert. Allerdings verändert sich ab dem Hochmittelalter insofern etwas in der Interpretation, weil sich in der theologischen Metaphysik ein Biologismus einschleicht, der sich im christlichen Naturrecht bemerkbar macht. Wenn alles in der Natur von Gottes Schöpfung und Masterplan abhängt, dann ist auch alles in dieser Natur selbst als natürlich aufzufassen. Eine solche Deutung hat dann auch Konsequenzen für die Politik bzw. das Verständnis von politischer Ordnung. Wenn die Weisheit (und Liebe) Gottes auf Erden das Maß der Dinge ist, dann kann (ja sollte) eigentlich auch die politische Ord-

nungswelt danach ausgerichtet sein. Diese Grundintention gibt es auch schon bei Augustinus, der jedoch mit dem Verweis auf das Jüngste Gericht alle weltlichen Systeme stets als letztlich defizitär abqualifiziert. Wenn man jedoch, wie die christlichen Fürstenspiegel dies nahe legen, die natürliche Ordnung Gottes als Prinzip für die Ordnung der Menschen untereinander auslegt, dann vermischen sich hier christliches Naturrecht und das weltliche Ordnungsrecht der Menschen miteinander, stellen sogar theopolitisch eine Symbiose her. Dann wird die Frage, ob und inwiefern der christliche Regent gut im funktionalen Sinne sein soll, nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch im Rahmen der christlichen Morallehre, behandelt. Damit rücken normative und funktionale Argumente aufeinander zu. Entscheidend wird dabei, wie genau die christlichen Autoren das Amt bzw. die Funktion des Herrschers begreifen? Johannes von Salisbury (1115/20–1180) ist der erste theologische Autor, der die Rolle des Herrschers in eine naturalistische Analogie setzt, aus der heraus, wenn auch zunächst symbolisch begrenzt, die Funktionalität der Herrschaft als etwas Eigenständiges begriffen wird. In seinem Policraticus (entstanden 1156–59) formuliert Johannes die Rolle des Herrschers als eine naturgegebene Instanz, indem er die Funktion des Königs mit den Aufgaben der natürlichen Organe im Körper vergleicht. Statt Kopf oder Herz verweist Johannes von Salisbury hier auf die Funktion des Magens: Ohne den Magen kann kein Lebewesen überleben! Der Magen ist der große (natürliche) Transmitter, der alle Ressourcen, die dem Körper zugeleitet werden, in angemessener, d. h. natürlicher Weise, verwertet und an die übrigen Organe verteilt. Das bedeutet: der Magen ist aufgrund seiner natürlichen Beschaffenheit notwendig für die Existenz des gesamten Körpers. Mag er auch noch so »gefräßig und begierig nach Fremden sein«, ist der Magen (= dem Herrscher) »dennoch nicht so sehr« auf sich selbst ausgerichtet, »sondern für die anderen« vorhanden, »die nicht ernährt werden können, wenn er ausgehungert« wäre (Salisbury 1975, 72). Damit wird der metaphysische Dualismus bzw. die Dialektik zwischen Idealität und konkreter Realität, wie sie in der Zwei-Reiche-Lehre vorherrscht, verlassen und zugunsten einer symbolischen Organologie gewendet. Diese Organologie ist wiederum jedoch konkret insofern, da sie biologistischen Interpretation der Natur augenscheinlich folgt. Mit dieser Umwandlung wird eine plakative Symbolik für das Verständnis von politischer Ordnung betrieben, die in ihrer heuristischen Auswirkung bis hin zur symboli-

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schen Metaphorik der Vertragslehre bei Thomas Hobbes ihre Folgen haben wird. Der christliche Herrscher ist nicht einfach nur von Gott erlaubt, im Sinne von zugelassen, er ist vielmehr in seiner natürlichen Funktion zum Nutzen aller notwendig. Neben dieser organologischen Interpretation wird ein anderer Diskurs für das christliche Denken über Politik ab dem Hochmittelalter wichtig. Dieser hat etwas mit der Tradierung der antiken Texte zur politischen Philosophie im Abendland zu tun. Denn eigentlich ist es verwunderlich, dass sich seit dem Frühmittelalter eher eine strukturelle Abstinenz im Hinblick auf politisches Denken einstudiert hatte. Cicero etwa spielte in der Tradition der ethischen Auslegung bei den christlichen Autoren keine Rolle, war er doch ein heidnischer Autor, noch dazu ein Apologet von der Allmacht Roms. Auch Platon erfuhr eine Wendung in der theologischen Interpretation des christlichen Mittelalters. Zwar wurde er für seine Ideenlehre gefeiert, indem man die Henologie von der Idee des Guten mit der Existenz Gottes gleichsetzte, aber die Implikationen der platonischen Philosophie in Bezug auf die politische Ordnung wurden weitgehend ignoriert. Nicht die Politeia stand bei der Lektüre in den Klöstern im Vordergrund, sondern der Timaios, die kosmologische Ordnung im Ganzen. Und noch ein anderer wichtiger Autor lag im Schatten der Deutungsmöglichkeiten über Politik. Ausgerechnet Aristoteles, der die erste systematische Abhandlung über Politik formuliert hat, war als Autor einer solchen Studie nicht bekannt. Er wurde, dies allerdings mit großer Wertschätzung wegen seiner Nikomachischen Ethik, zwar nachhaltig rezipiert. Die Politik des Aristoteles hingegen kannte man gar nicht, sie war in den Wirren der Völkerwanderung nicht tradiert bzw. in den Interpretationskanon übernommen worden. Jedenfalls nicht im christlichen Abendland. Das sah jedoch in den Regionen südlich der Mittelmeerwelt anders aus. Es gehört insofern zu einer der größten Überraschungen in der Geschichte der Tradierung von Wissen, dass hier erst durch einen interkulturellen Wechselbezug die Politik des Aristoteles auch wieder für die christlichen Autoren sichtbar gemacht werden konnte. Denn in der muslimischen Welt hatte diese Schrift überlebt, ist Aristoteles als Lehrmeister der Politik im wachsenden Maße rezipiert und diskutiert worden. Dabei haben die Theoreme eine z. T. erstaunliche Transformation in eine auch für den Islam eher säkulare Auslegung bei Autoren wie Al-Fārābī (um 870–950), Avicenna (um 980– 1037) und Averroës (1126–1198) gefunden (vgl. dezi-

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diert dazu Ottmann 2004, 129 ff.; zu den Autoren im Einzelnen vgl. die biografischen Analysen bei Kobusch 2000, kontextuell dazu auch Fidora 2007). Im Kontext der militärischen Reokkupationen durch die christliche Reconquista auf der spanischen Halbinsel gelangten diese Texte islamischer Philosophie in die Hände christlicher Theologen. Man war überrascht, dass islamische Denker den klassischen Aristoteles anhand einer ganz bestimmten Schrift reflektierten und kommentierten, die man bis dato im Abendland gar nicht gekannt hatte. Etwa um 1260 herum ist dann der griechische Ausgangstext der Politik des Aristoteles erstmals ins Lateinische übersetzt worden. Dies hat die Aristotelische Revolution ausgelöst, weil in der Folgezeit jeder christliche Autor, der sich mit politischen Ordnungsfragen beschäftigte, elementar (wieder) von Aristoteles ausging. Albertus Magnus (um 1200–1280) ist einer der Ersten, der diesen Paradigmenwechsel zugunsten einer Bestimmung von Politik einleitet: »Nichts ist im Leben des Menschen so natürlich wie die Sozialform des Politischen,« urteilt Albertus in seiner Kommentierung der aristotelischen Politik, »denn sie ist Ziel und Erfüllungsgestalt aller Sozialbeziehungen. Das nämlich, worin für jedes Wesen seine Erfüllungsgestalt liegt, nennen wir seine Natur« (Albertus Magnus, zit. nach Söder 2008, 66; vgl. auch Albertus Magnus 2001, 185 ff.). Insbesondere Thomas von Aquin (1224/25–1274) folgt dieser Interpretationsrichtung und beschäftigt sich eingehend in Kommentaren mit der Politik des Aristoteles. Die soziale Dimension der christlichen Ethik bekommt hierdurch eine politische Wendung.

13.4 Die Rationalisierung von Welt und politischer Führung In der Lehre des Thomas von Aquin kommt es zu einer Umwandlung der metaphysischen Betrachtung von Gott und Welt: Nicht Gott ist in den Dingen (wie bei Augustinus), sondern die Dinge sind in Gott (vgl. Thomas von Aquin 1985, 141). Das heißt, hier existiert der Masterplan einer universellen Ordnung, die jedoch, bedingt durch das menschliche Erkenntnisvermögen, immer nur unvollständig erfasst werden kann. Umso mehr kommt der Suche nach der Wahrheit eine große epistemologische (und eben auch sittliche) Funktion zu. Der Anspruch auf Wahrheit verbindet sich auch in der Soziallehre des Aquinaten mit der Botschaft der Liebe, die Gott allen Menschen an sich zu Teil werden lässt. Gott wird hier mit seinem Willen, der nichts

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Schlechtes wollen kann, als Kausalursache alles Seienden verstanden (vgl. ebd., 163). Sein Wille ist »die Ursache aller Dinge« (ebd., 190). Indem Thomas auf Ursache-Wirkungsanalysen dringt, führt seine Theologie zu einer Rationalisierung des göttlichen Ordo. Damit wird zugleich eine Rationalisierung auch der menschlichen Lebenswelt implementiert. Der Mensch hat sich innerhalb seiner Ordnung der »natürlichen Mangelhaftigkeit« (seiner selbst) zu stellen (ebd., 165). Weil Gott stets ein größeres Gut als ein weniger Großes begünstigt, bedeutet dies auch die Suche nach einer lebenslangen Optimierung der menschlichen Existenz (vgl. ebd., 169). Im Gegensatz also zur passiven Hinnahme der Sündenstruktur des Menschen, die grundsätzlich erst beim Jüngsten Gericht überwunden werden kann, wie in der Theologie des Augustinus geschildert, formuliert der Aquinate einen Dauerauftrag zur Optimierungssuche und Ausgestaltung für den Menschen. Das hat notwendigerweise Folgen für die Interpretation der politischen Ordnung. Der Mensch wird bei Thomas als animal social et politicum betrachtet. Er ist damit im Rahmen der göttlichen Ordnung nicht nur für die soziale Ethik hinsichtlich der christlichen Theologie interessant, sondern diese ist eben auch zuständig für eine Interpretation von Gott und (politischer) Welt. In der kleinen (und leider unvollendet gebliebenen) Abhandlung Über die Herrschaft des Fürsten (um 1265–67 oder 1271–73) formuliert Thomas eine geradezu säkularistische Öffnungslehre zugunsten eines Verständnisses von Politik, welche notwendigerweise (auch) ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen darf (und muss). Der Aquinate geht hierbei von einer sorgfältigen Rezeption der gerade eben wiederentdeckten Politik des Aristoteles aus, indem er das aristotelische Paradigma vom zoon politikon in die christliche Auslegung der menschlichen Existenz auf Gottes Erdenplan hin transformiert (vgl. die Beiträge in Schönberger 2017). Damit wird die Welt der Politik nicht mehr einfach getrennt von der civitas dei (wie bei Augustinus) und als grundsätzlich defizitär begriffen, sondern sie bekommt jetzt ihre eigene Daseins- und Rechtsqualität zugeschrieben. Nunmehr wird eine Natur der Politik beschrieben, die ihre Voraussetzung und Grundlegung in der Natur des Menschen findet, der von Gott erschaffen worden ist. Der Mensch als Geschöpf Gottes hat eine elementare Bestimmung in seiner Wesenhaftigkeit zum Sozialen hin. Diese ontologische Prämisse hat eine logische Folge für die Welt der Politica: Auch in dieser Sphäre, d. h. in der politischen Ordnung und ihrer praktischen Ausgestaltung manifes-

tiert sich ebenfalls Gottes Vernunft (in der Natur). Natura und Politica bedingen und ergänzen sich demnach wechselseitig. Die von Gott gegebene Ratio ist das mediale Bindeglied, mit dem der Mensch sich diese beiden Welten als ein Gemeinsames erschließen kann. Deshalb lautet die paradigmatische Schlussfolgerung bei Thomas in Anlehnung an Aristoteles, dass der Mensch dem Menschen ein Freund ist. In der natürlichen Welt ist es die natürliche Ordnung Gottes, welche die Freundschaft als ein ethisches Gut an sich für alle Menschen bereitstellt. Diese natürliche Ordnung bedarf jedoch einer Übersetzung in die von Menschen um ihrer selbst willen gemachte Ordnung, in der eine Herrschaft von Menschen über Menschen hergestellt werden muss. In dieser politischen Ordnung schimmert immer noch das Freundschaftsbild des Aristoteles als ein soziales Band durch. Die Mitglieder der politischen Ordnung bleiben im Prinzip Freunde, auch (und gerade), wenn sie sich in der Herrschaft auf eine klare Ein- und Unterordnung hin festgelegt haben. Das führt zu einer theozentrischen Begründung von Politik, gleichzeitig aber auch zu ihrer Abkoppelung von der theologischen Bevormundung. Der Begriff der Ordnung kommt von Gott. Die Durchführung dieser Ordnung ist jedoch Sache der Regierung in der Menschenwelt. Das heißt, die Politik, die unter Menschen immer interpersonal ist, muss sich hinsichtlich der Grundlagen der göttlichen Ordnung an dem ausrichten, was Gott den Menschen zur Erkenntnis des an sich Möglichen und des jeweils Notwendigen mit auf den Weg gegeben hat. Dazu existiert die Vernunft. Der Mensch soll in seiner Politik vernunftgeleitet die Ausrichtung der Ordnung Gottes in der Welt bewerkstelligen. Im Gegensatz zu Augustinus, der die Zweiteilung zwischen Gott und Mensch letztlich als unaufhebbar ansieht, besteht hier eine teleologische Ausrichtung. Was von Gott an natürlichen Regeln kommt, muss in der Welt der Menschen auch wieder zu Gott (d. h. der wahren Natur des Menschen) hingeführt werden können. »Man kann in allen Bemühungen, ein Ziel zu erreichen, einen richtigen und einen unrichtigen Weg einschlagen«, urteilt Thomas: »Deshalb wird man auch bei der Lenkung einer Gesellschaft richtiges und unrichtiges Vorgehen finden. Richtig wird etwas, was auch immer es sei, geleitet, wenn es zu dem Ziel geführt wird, das ihm angemessen ist, unrichtig aber, wenn es zu einem Ziel gebracht wird, das ihm nicht entspricht.« (Thomas von Aquin 1987, 8)

13  Mittelalter: Christlich

Der traditionelle Aufbau mittelalterlicher (christlicher) Herrschaft bekommt nun bei Thomas eine systematische Tiefenstruktur. Über die Lebenswelten von pugnatores, oratores und laboratores wacht jetzt nicht einfach der christliche Fürst als vicarius dei, als Stellvertreter Gottes auf Erden, sondern dieser von Gott angeleitete Ordo wird ausdifferenziert in ein Herrschaftsgefüge, welches sich durch territoriale Zuständigkeiten ausweisen lässt. Mit dem Kaiser an der Spitze wird jetzt ein ganzes Imperium adressiert. Dieses ist jedoch in sich gestaffelt in verschiedene regna, die wiederum durch eine Vielzahl von Provinzen an der Basis strukturiert werden. Mit einer solchen Interpretation transformiert Thomas (mehr als Augustinus) im eigentlichen Sinne die antike Polis-Lehre zugunsten einer Herrschaftsdoktrin, welche auf territoriale Abstufungen von Herrschaftsformen in der Fläche ausgerichtet ist. Raum und Zeit werden durch diese Interpretation zu einer dezidiert christlichen Ordnungslehre. Denn über allen Territorialgewalten und deren Legitimationsketten steht am Ende der göttliche Ordo selbst. Die Vermittlung zwischen diesem (eigentlich für Menschen unerreichbaren Ordo, der seinem Wesen nach rein ist) und der Menschenwelt, die stets unvollendet bleibt, ist Aufgabe für den christlichen Fürsten, der an der Spitze des Imperiums steht. Hier setzt für Thomas die elementare Leitungskompetenz für den christlichen Regenten an: »[...] zu dem Begriff des Königs gehört: einer zu sein, der anderen als Herr vorangesetzt ist und doch wie ein Hirte wirkt, indem er das Gemeinwohl der Gesellschaft, nicht aber seinen eigenen Vorteil im Auge hat.« (Ebd., 9)

Auch in seiner vor den Menschen herausgehobenen Position muss dem christlichen Regenten stets bewusst sein, dass er am Ende (im Rahmen der Natur) Mensch unter Menschen bleibt: »Dessen muß sich also ein König bewußt werden: daß er das Amt auf sich genommen hat, seinem Königreiche das zu sein, was die Seele für den Leib und Gott für die Welt bedeutet. Wenn er dies mit Fleiß bedenkt, wird in ihm wohl der Eifer der Gerechtigkeit entbrennen, da er erwägt, daß er nur deshalb auf seinen Platz gestellt ist, um an Gottes statt in seinem Reiche Urteil zu sprechen.« (Ebd., 48 f.)

Der christliche Regent ist nur Stellvertreter Gottes, er ist nicht gottgleich. Am Ende stirbt jeder König als

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Person. Insofern sind Mäßigung und Bescheidenheit hier als christliche Tugenden für den Monarchen normativ verbindliche Größen. Mit der Interpretation bei Thomas von Aquin findet der christliche Monarch seine figurative Funktion in der Verbindung von Theologie und den weltlichen Belangen der Politik. Das Ordoverständnis ist nunmehr systemisch umfassend, indem hier der praktische Alltag mit einer Ausrichtung auf den Nutzen hin verbunden wird mit dem normativen Anspruch durch das Christentum. Es setzt sich zudem sukzessive ein Verständnis durch, dass die Rolle des Königs in einer gedoppelten Funktion begriffen wird, einmal als Person des Königs, der physisch gesehen sterblich ist und zum anderen als Amt des Königs, welches (weil von Gott aufgegeben) nicht vergeht. Die Lehre von den Zwei-Körpern des Königs versteht die politische Funktion der Führung also als eine ambivalente Eigenschaft. Zum einen ist sie ewig, zum anderen nur temporär. Insofern ist der jeweilige König immer nur persona mixta, eine gemini persona (vgl. grundsätzlich Kantorowicz 1990). Diese Zweiteilung ist diagnostisch konstitutiv für die Abkoppelung des (formalen) Amts von der je historisch-konkreten Persönlichkeit. Die ganze Fürstenspiegelliteratur insbesondere des späten Mittelalters untermauert diese Perspektive, indem hier dem jeweils zu erziehenden zukünftigen christlichen Regenten der Spiegel vorgehalten wird, wie er sich in der politischen Praxis, sobald der Thronfolger das Amt des Herrschers übernommen hat, zu verhalten habe (vgl. Berges 1938 sowie Bejczy/Nederman 2008). Auch wenn hierbei die theologische Bevormundung weiterhin normativ den Ausschlag gibt, ist die Feststellung, dass Amt und Person nicht dasselbe sind, für die moderne Verfassungsentwicklung substantiell geworden. Die Figur des Königs ist dann spätestens mit der Lehre des Aegidius Romanus (um 1243–1316) die lebendige Personifizierung der (göttlichen) Gesetze. Der König hat den Vorteil gegenüber der Abstraktion der Gesetze, dass er belebt ist. Das verschafft seiner Gesetzesauslegung eine menschliche Qualität, die Gott ihm zugestanden hat. Aegidius schreibt: »der König oder Fürst ist eine Art Gesetz, und das Gesetz ist eine Art König oder Fürst. Denn das Gesetz ist eine Art unbelebter Fürst, der Fürst hingegen eine Art lebendes Gesetz. Und wie das Belebte über dem Unbelebten steht, muß der König oder Fürst über dem Gesetz stehen« (zit. nach Kantorowicz 1990, 150).

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III Denkströmungen – B Mittelalter

Das Prinzip des legibus solutus, welches meist als Paradigma für die absolutistische Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet wird, ist insofern so neu nicht, sondern eine Deutung des Hochmittelalters. Dementsprechend ist schon bei Aegidius (und dann erst recht in allen Fürstenspiegeln, die ihm hier folgen) der König der Vermittler zwischen dem göttlichen Naturrecht und dem positiven Recht der Menschen in ihrer Welt (vgl. Miethke 2008). Es sind vor allem die Juristen, welche diese Deutung interpretativ hochhalten und verfeinern. Insofern ist das christliche Denken des Spätmittelalters in Bezug auf die Politik durch bemerkenswert starke Schübe einer Juridifizierung in der Argumentation geprägt. Gerade indem der König als Mediator, als persona mixta, zwischen Naturrecht und positivem Recht erscheint, wird die Handlungssphäre der innerweltlichen Bezüge umso wichtiger für den Erfolg des Fürsten selbst.

13.5 Das Erbe des christlichen Denkens über Politik Allerdings sollte man diese Art der Rationalisierung in der theologischen Argumentation auch nicht überbewerten. Mitunter neigt die moderne Interpretation dazu, bei den Theoremen des mittelalterlichen politischen Denkens den Start zur Säkularisierung zu betonnen und die metaphysischen Aspekte zu minimieren oder zu ignorieren, obwohl diese weiterhin eine starke Rolle spielen. Insbesondere bei einem spätmittelalterlichen Autor wie Marsilius von Padua (um 1285/90–1342/43) überwiegt dann eine Interpretation, die mitunter schon säkularistisch einseitig hier eine Verortung zur Moderne hin vornimmt (vgl. z. B. Nederman 1995 oder Koch 2005, dagegen prononciert und ausgewogen Miethke 2017; vgl. zum Text selbst Padua 2017). Glaube und Wissen bleiben jedoch auch weiterhin für die Debatten im Spätmittelalter die zentralen Bezugspunkte für das christliche Denken über Politik. Allerdings nicht in dem Sinne, dass man hierbei heuristisch aus der Differenz dieser beiden Denkweisen heraus den Politikbegriff und das politische Ordnungsverständnis zu einer Synthese zusammengeführt hätte. Die Perspektive auf politische Ordnungsfragen bleibt eigentlich bis zur Reformation und Renaissance hin nachhaltig theologisch geprägt. Von politischer Theorie kann man deshalb in einer Gesamtbetrachtung für die christlichen Autoren des Mittelalters gar nicht sprechen, politische Philosophie ist

auch nicht das Anliegen, welches Augustinus bei seiner Zwei-Reiche-Lehre oder etwa Thomas von Aquin bei seiner Aristoteles-Kommentierung gehabt hat. Jedoch kann man konstatieren, dass mit der Theologie des Aquinaten sukzessive eine philosophisch stringentere Diskursperspektive über Politik und politische Ordnungsformen eingeführt und verstetigt wird (vgl. Schönberger 2017, 14). Die civilis scientia, wie Thomas die Lehre von der Politik nennt, wird hier erstmals als eine wichtige Handlungslehre begriffen, für den Bereich des praktischen Tuns (mit Aristoteles) sogar als ganz zentral. Allerdings bleibt auch trotz dieser funktionalen Bedeutungsanerkennung nach wie vor der normative Rahmen der christlichen Theologie das letztendscheidende Prinzip jeglicher Auslegung. Dieser Suprematieanspruch ist von vornherein festgelegt gewesen in der Zwei-Schwerter-Lehre, die Papst Gelasius I. (494) formuliert hatte. Das weltliche und das geistliche Schwert arbeiten Hand in Hand zusammen, doch die eigentlich normativ bestimmende Funktion kommt hierbei der auctoritas sacrata pontificium zu. Insofern ist auch nicht zu unterschätzen, wie gerade durch die Beanspruchung und Modifizierung römischer Rechtsprinzipien das christliche Denken über Politik und deren Ordnung immer wieder von Neuem die Betonung des Heiligen unterstrichen hat. Nicht zuletzt das sacrum imperium steht dafür sinnbildlich. Es ist gerade die Profanität des Denkens und Handels, die von Seiten der christlichen Autoren für das Verständnis von Politik weitgehend ausgegrenzt, d. h. normativ mit den theologischen Zuordnungen überfrachtet und damit zugeschüttet wurde. Außer der ontologischen Tatsache, im Sinne der Anerkennung und Befolgung des göttlichen Masterplans, dass es Herrschaft gibt, weil Gott dies so gewollt habe, bleibt für ein spezifisches Verständnis der Funktionen in der Welt der Politik nicht viel übrig. Die Sozialität des Menschen wird stets über die biblische Charakterisierung verstanden. Wenn etwas schlecht ist im irdischen Leben, d. h. nicht der wahren Ordnung (Gottes) entspricht, dann ist es halt Politik. Politische Dinge sind damit zunächst einmal eher unlogische Vorgänge. Sie betreffen Verhaltensweisen, die der Hybris der Macht, und damit besonders auffällig der Sündenstruktur der menschlichen Existenz unterliegen. Warum sollte man sich damit eingehender beschäftigen? Die apolitische Grundhaltung des christlichen Mittelalters folgt insofern der hehren Stilisierung des Heiligen, in der die reale Welt als Herrschaftswelt immer nur von minderer Qualität sein kann.

13  Mittelalter: Christlich

In diesem christlichen Verständnis ist Geschichte in jeder Form letztlich Weltgeschichte – und diese wiederum ist in ihren Erscheinungsformen eine Heilsgeschichte, die das ständige Ringen zwischen Gut und Böse anzeigt. Da Gott (wie auch der Teufel) in der Welt ist, geht es für den gläubigen Christen permanent darum, sich Rechenschaft abzulegen, ob und inwiefern er auf der richtigen Seite steht. Die eschatologische Perspektive des christlichen Denkens ist hierbei nicht zu unterschätzen. Gerade im Spätmittelalter häufen sich neben den Rationalisierungsdiskursen auch Ansichten, wie die von Joachim von Fiore (um 1130/35–1202) (vgl. Riedl 2004), die meinen, den Endkampf bzw. die Einteilung der Zeitalter genau vorherbestimmen zu können. Es ist allerdings auch nicht richtig, wenn man hier immer von einem einheitlichen Zeitblock für das sogenannte Mittelalter ausgeht: als wenn das Jahrtausend zwischen 500 und 1500 einheitlich und linear gewesen wäre. Tatsächlich hat es auch hier Differenzen in den Topoi gegeben, auch politische und religiöse Dispute, allerdings bleiben diese generell unter dem Mantel bzw. Dach einer christlich-theologischen Weltanschauung. Genau dieser Rahmen ist normativ dann das Bild, welches das mittelalterliche (christliche) Denken von dem der Neuzeit bzw. der Moderne unterscheidet. Allerdings sollte man demgegenüber gleichzeitig jedoch in Rechnung stellen, dass bei allen Säkularisierungsstrategien der Neuzeit bestimmte Theoreme ihren Ursprung gerade im mittelalterlichen Weltbild haben. Das gilt allgemein für den Universalisierungsgedanken, für das Naturrecht, aber auch für innerweltlich programmatische Themen wie etwa die Frage nach der (besten) Verfassung oder der Bedeutung von Souveränität. Im Übrigen gehört auch der Republikanismus dazu. Auch wenn er nicht mit dem neuzeitlichen oder gar modernen Verständnis identisch ist, lässt sich für das Mittelalter durchaus ein christlicher Republikanismus anzeigen. Die mittelalterlichen Juristen und Theologen haben unter den Bezeichnungen regnum bzw. respublica etwas anderes verstanden als die antiken Autoren (vgl. auch Nederman 2008, 191). Insofern ist der christliche Republikanismus nicht ein Ordoverständnis, welches vom Individuum ausgeht (wie in der Moderne), sondern von organischen Einheiten, welche den Gesamtkörper der politischen Ordnung ausmachen (vgl. ebd., 192). Diese organischen Einheiten haben eine ontologische Legitimation, die von Gott kommt. Insofern ergibt sich hier dann auch eine natürliche, d. h. wiederum metaphysische, Rangfolge in der

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Sozietät dieser gesellschaftlichen Gruppen und Verbände. Sie existieren nicht qua voluntas (oder aus intrinsischen Interessenslagen heraus), sondern sie folgen in ihrer Beschaffenheit dem göttlichen Masterplan. Selbst ein spätmittelalterlicher (oder eben prämoderner) Autor wie Cusanus (1401–1464) ist hiervon geprägt (vgl. ebd., 196 f.). Der christliche Republikanismus findet sich auch noch im weiteren Diskursverlauf der frühen Neuzeit, sei es in der gruppenspezifischen Form gesellschaftlicher Konsoziationen in der Föderaltheorie des Johannes Althusius (1557–1638) oder in der eher schon individualisierten Logik einer rationalisierten Monarchie bei Leibniz (1646–1716) (vgl. Nitschke 2015). Der eigentliche Bruch bzw. die Transformation kommt dann mit der Begründungsformel der Kontrakttheorie zustande. Diese folgt zwar dem menschenrechtlichen Universalismus aus dem christlichen Naturrecht, wie man sehr eindringlich dies noch bei Locke (1632–1704) konstatieren kann, formuliert zugleich aber einen voluntativen Geltungsanspruch für das Individuum in Form des bürgerlichen Subjekts, welches sich seine Herrschaftsverhältnisse selbst zuschreiben kann und darf. Diese Entdeckung des voluntativen Selbst ist dann die heuristische Grenze, an der sich das christliche Denken des Mittelalters von dem der neuen Zeit unterscheidet. Allerdings bleiben die Übergänge hier trotz aller Säkularisierungsschübe in und mit der Aufklärung fließend, gerade weil die Aufklärung nicht geradlinig verläuft, sondern sich in Zeit- und Raumzonen durchaus national unterschiedlich kodiert darstellt (vgl. hierzu grundsätzlich Taylor 2012). Was bleibt also vom christlichen Denken über Politik, wie es im Mittelalter prägend war? Neben den ersten Anzeigen eines verfassungsrechtlichen Rahmendenkens, in welchem der Ordo insgesamt und für die Rolle des Monarchen im Speziellen taxiert worden ist, erweist sich besonders der Aristotelismus in seiner politischen Interpretationsperspektive als dominante Erscheinungsform, die weit über das Mittelalter hinaus strahlt. Davon ist besonders die spätscholastische Debatte innerhalb des Katholizismus nach der Reformation geprägt worden. In der Schule von Salamanca sind dabei jedoch nicht nur die Topoi der Scholastik aus dem Mittelalter fortgesetzt, sondern in wesentlichen Denkfigurationen verändert und nachhaltig modernisiert worden (vgl. Scattola 2007). Die Debatte über die Rechte der Menschen findet hier bezeichnenderweise ihren Ausgangspunkt in der Frage, wie die christlichen Eroberer und Kolonisatoren mit der indianischen Ureinwohnerschaft und ihrem Hei-

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III Denkströmungen – B Mittelalter

dentum in der Neuen Welt umgehen soll. Von der systematischen Ausgestaltung des christlichen Naturrechts profitiert dann auch der säkularistische Interpretationsstrang, der sich im protestantischen Diskurs über Klassiker wie Hugo Grotius (1583–1645) oder Thomas Hobbes (1588–1679) bis hin zu John Locke im 17. Jahrhundert wegweisend durchsetzt (zu Grotius umfassend Nellen 2014, zu Hobbes neuerdings Lau u. a. 2017 sowie Skinner 2017). Ohne die scholastischen Diskurse zum Naturrecht wäre die Genese der Kontrakttheorien (so) nicht möglich gewesen. Literatur

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Peter Nitschke

14  Mittelalter: Islamisch

14 Mittelalter: Islamisch Die Sichtweise der Geistes- und Realgeschichte der islamischen Welt hat sich, zumindest aus der Perspektive der Wissenschaften, in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Lange Zeit galt geradezu paradigmatisch das Bild von der islamischen Kultur als einer grundsätzlich religiös konnotierten, mit der Folge, dass alles Geschehen innerhalb dieser Kultur als Teil und Ausdruck einer religiösen Seinsweise begriffen wurde. Alle Weltinterpretation, alle Sinnhorizonte und Ideenwelten, aber letztlich auch alles realgeschichtliche Geschehen, wurde auf das religiöse Wesen der Kultur zurückgeführt. Was sich dieser Sicht nicht fügen wollte, wie etwa die hellenistisch beeinflusste Philosophie (falsafa), galt als der Kultur letztlich nicht zugehörig, als kulturfremd, bestenfalls als Sonderfall, der letztendlich gegenüber der europäischen Philosophie nicht bestehen kann. Das hat niemand so eindeutig formuliert wie Hegel (in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie): »Wir können von den Arabern sagen: Ihre Philosophie macht nicht eine eigentümliche Stufe in der Ausbildung der Philosophie; sie haben das Prinzip der Philosophie nicht weitergebracht [...] Sie haben kein anderes Prinzip als das der Offenbarung, - ein äußerliches« (Hegel 1971, 19, 517 f.). Das Wesen der islamischen Geisteswelt ist also Religion oder kultureller Import (wie bei ›der Philosophie‹ von den Griechen oder ›der Mathematik‹ von den Indern); der Rest ist Exotik. So, in eine durch Religion definierte Identität eingesperrt, bleibt der islamischen Welt letztlich seit jeher nur die Wahl zwischen einer selbstgenügsamen, bornierten Frömmigkeit oder der Übernahme »fremder« Ideen, von außen an sie herangetragen. Heute wird diese Sichtweise zwar immer noch in den öffentlichen Diskursen des Westens (und pikanterweise auch innerhalb des fanatisierten Islamismus) vertreten, gilt aus wissenschaftlicher Perspektive aber als das, was sie ist: als Kulturalismus, der letztlich verkappter Rassismus ist. Zumindest als Eurozentrismus wird gewertet, was sich als Gegenposition seit Ernst Blochs Avicenna und die aristotelische Linke im Diskurs etabliert hat: Die Sicht auf die islamische Geistesgeschichte als Feindschaft zwischen einer dogmatische religio-politischen Jurisprudenz (fiqh) und der falsafa, oder mit Bloch: »Avicenna und Averroes gegen die Mufti-Welt des Islam« (Bloch 1972, 492). Diese beiden wohl bekanntesten Philosophen der islamischen Geschichte stehen für den Anspruch und die Selbstbehauptung der autonomen Vernunft gegen-

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über den absoluten Wahrheitsansprüchen der Religionen und der religiösen Dogmen. Nur gerät man hier erneut in eine Identitätsfalle, nämlich indem man vorschnell die mit einer bestimmten Sichtweise von Aufklärung und ›gesellschaftlichem Fortschritt‹ gleichgesetzte Philosophie gegen die Religion als bloß ›reaktionäre‹ Seite einer Kultur ausspielt. Zumal man dabei die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit eben dieser Kultur zugunsten eines vorschnellen Differenzdenkens ignoriert: hier die ›gute‹ Aufklärung, dort die bornierte Religiosität. Indem man nun im Rahmen einer ideengeschichtlichen Betrachtung versucht, Kohärenz zwischen singulären Ereignissen, Kontexten, sprachlichen Konstituenten etc. herzustellen, also sich auf das Geteilte einer Kultur einzulassen, wächst die Gefahr, erneut in die Identitätsfalle zu geraten, wo Kultur und Identität Konstrukte sind. Gerade weil solche Konstrukte so plausibel sind, malen sie das Bild einer Kultur, in dem alles Kontroverse, Diskontinuierliche und Widersprüchliche aussortiert und weggelassen wird. Soll das vermieden werden, müssten – beim Thema Islam – sowohl die gesellschaftlichen Entwicklungen, als auch die Genese der Religion und die Geschichte von Philosophie und Wissenschaften mit einbezogen werden. Ich möchte im Folgenden versuchen, eine solche Darstellung zumindest anzudeuten. Keine Religion fällt vom Himmel, heißt es, und das gilt auch für den Islam. Arabien beim Auftreten des Propheten Muhammad war keine terra deserta et incognita, wie in westlichen Geschichtsbüchern lange Zeit gerne verbreitet wurde. Der vordere Orient und Nordafrika waren schon in der Antike Teil der Oikumene (seit Xenophanes die Bezeichnung für die zivilisierte Welt – zu der das Europa nördlich der Alpen sicherlich nicht gehörte) und teilten gemeinsame Denkund Lebensräume, nicht nur Religionen und Riten, sondern auch literarische, wissenschaftliche und philosophische Traditionen. Der Norden der arabischen Halbinsel war z. B. vollständig romanisiert. Das Verschwinden der römischen Hegemonialmacht am Ende der Antike beendete diese ›Fusion der Kulturen‹ keineswegs, löste aber andererseits politische, soziale und religiöse Bindungskräfte auf. Der Erbe Roms im vorderen Orient beanspruchten sowohl Byzanz als auch das persische Sassanidenreich, wobei vor allem letzteres auf der arabischen Halbinsel dominant war. So wenig also das Arabien zur Zeit Muhammads eine isolierte Kultur war, so wenig ist der Islam selbst ein bloßer »Geniestreich Muhammeds« (Peter Brown). Auch hinter dieser Beschreibung steht eine ›west-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_14

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III Denkströmungen – B Mittelalter

liche‹ Sichtweise, die eine eigene kulturelle Identität wie selbstverständlich über ihre Herkunft aus den antiken Kulturen konstruiert, von der – ebenso selbstverständlich – die Kultur des Fremden abgegrenzt wird. So entsteht in der Wahrnehmung eine autochthone arabische Kultur, die selbstgenügsam und merkwürdig isoliert erscheint. Es ist interessant, dass diese verzerrte Sichtweise auf die arabisch-islamische Geschichte auch im Islam selbst akzeptiert wird, nur unter anderen Vorzeichen. Hier gilt die Zeit vor Muhammad als djahiliya, als Zeit der Unwissenheit, und dient als düstere Kontrastfolie zur neuen Zivilisation des Islam. Indem alles auf Muhammad zurückgeführt wird, entsteht ein Ursprungsmythos, der – obwohl bloße Geschichtsklitterung – alles Folgende, das sich als ›wahrer‹ Islam und richtiger Glaube ausgibt, bewahrheitet. Das geht bis zur Zerstörung vorislamischer Monumente und Kulturartefakte durch islamische Fanatiker, für die nicht existieren soll, was nicht existent sein darf. Stattdessen muss die arabische Kultur vor dem Islam wie auch die islamische selbst begriffen werden als Teil der Spätantike, mit allen Verbindungslinien, die von dort her existieren (vgl. Schmutzer 2015; Neuwirth 2017). Muhammad machte solche geteilten Denkräume zum Inhalt seiner Verkündigung, die zwischen etwa 610 und dem Tode des Propheten 632 sowohl in Mekka als auch in Medina (dem früheren Yathrib) stattfand. Nicht nur die Vorstellungswelten der tribalen Gesellschaft Westarabiens (der hidjaz), auch jüdisches und christliches Denken (die große Gemeinden in der Region hatten), sowie hellenistische Denktraditionen fließen in seine Botschaft ein und finden später im Koran Niederschlag. So finden wir in den Rechtsvorstellungen des frühen Islam neben überlieferten tribalen sowohl römisch-byzantinisches als auch sassanidisches Recht. Manfred Schmutzer verweist darauf, dass selbst für die »Entstehung von Wissenschaften die Existenz eines allgemein gültigen Rechts eine notwendige Voraussetzung bildet« (Schmutzer 2015, 153). Sowohl für die Entstehung des »islamischen« Rechtsverständnisses wie auch für die politischen Ordnungsvorstellungen sieht Schmutzer als mustergültig die Charta von Medina an. In ihr regelte Muhammad nach seiner Flucht aus Mekka und der Übersiedlung nach Yathrib (der Hidjra, »Auswanderung«, 622) zumindest grundsätzlich die Verhältnisse innerhalb der neuen umma (der Gemeinde), etwa als Friedenspflicht der Muslime untereinander, im Verhältnis zu Juden und Christen (die als Teil der frühen umma galten, unter Wahrung ihres

Glaubens) oder die Beistandspflicht gegenüber den Feinden aus Mekka. Unabhängig davon, für wie bedeutsam man die »Charta« hält, kommt in ihr ein wichtiger Aspekt der islamischen Kultur zum Ausdruck. Indem Muhammad sich mit der »Charta« implizit zum obersten Richter und unparteiischen Schiedsrichter machte, verknüpfte er seine prophetische, also religiöse Sendung mit der politischen Rolle, die er einnahm, seit er von den Bewohner von Yathrib gebeten worden war, ihre internen Streitigkeiten zu schlichten. Dieser Wesenszug zieht sich dann durch die gesamte Geschichte des Islam, und Schmutzer folgert entsprechend: »Den Islam ausschließlich als religiöses Bekenntnis zu betrachten, scheint [...] aus historischer Sicht einseitig« (Ders. 2015, 143). Vielmehr ist die »Charta« (oder Gemeindeordnung) von Yathrib »aus unser modernen Sicht« (Ders. 2015, 161) die Etablierung einer eigenen Staatlichkeit. Zugleich wird aber deutlich, dass auch eine der typischen Interpretationen dieser Gleichzeitigkeit von Religion/Bekenntnis und Recht/Politik nicht trägt, nämlich der immer wieder geäußerte Vorwurf, im Islam fehlten Reformation und Aufklärung, die eine säkulare Gesellschaft ermöglichen würden. Denn Muhammads Rolle als politischer Führer und oberster Richter ist nicht mit einem Amt, sondern mit seiner Person als Prophet verknüpft. Er ist also, wie es im Koran heißt, »der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten« (Sure 33,40), was bedeutet, dass er sowohl alle früheren Propheten beglaubigte (z. B. Moses oder Jesus), als auch, dass er der letzte in der Reihe dieser Propheten ist. Damit aber war die Gleichzeitigkeit der religiösen und politisch-juristischen Funktionen mit dem Moment seines Todes beendet. Tatsächlich übte Muhammad diese Funktionen bis zu seinem Tode 632 in Medina und Mekka aus. Aber danach fehlte der umma ein Nachfolger, der eben diese Gleichzeitigkeit hätte weiter erfüllen können. Die Muslime mussten also lediglich auf der Grundlage der weitgehend allgemeinen Aussagen des Koran, orientiert am Gedanken eines gottgefälligen Lebens, selbst herausfinden, was hinsichtlich der politischen wie der Rechtspraxis gelten sollte. Dies konnte nur durch einen konsensualen Prozess geschehen, der selbst unabschließbar war. Entsprechend sieht Angelika Neuwirth in der islamischen Geschichte eine Gleichzeitigkeit des Sakralen und Säkularen, und in diesem Sinne wird die Forderung nach einer ›islamischen Säkularisation‹ sinnlos (abgesehen davon, dass der Begriff im strengen Sinn auch deshalb nicht greift, weil der Islam kein Priesteramt und keine Kirchenhierarchie kennt). Andererseits

14  Mittelalter: Islamisch

wird dadurch auch deutlich, warum in der Geschichte des Islam politische Herrschaft niemals eine eigene Legitimationsgrundlage fand, sondern sich in der politischen Instrumentalisierung des Religiösen erschöpfte: »der dynastische Staat machte den Glauben [...] so nur zu einer ›Staatsreligion‹, er wurde hierdurch aber nicht zum ›Religionsstaat‹« (Schulze 1992, 110). Schon Muhammad sah sich dem Problem gegenüber, dass er sich in Mekka und bei den Stämmen der arabischen Halbinsel keineswegs auf eine allgemeine Zustimmung stützen konnte; vielmehr blieben Stadt und Stämme zutiefst gespalten. Sie zerfielen in Interessengruppen und Clans, die jeweils unterschiedliche ökonomische und politische Macht hatten und um Einfluss, Anerkennung und Teilhabe rangen. Die Stiftung der umma als ›Gemeinschaft der Gläubigen‹ durch Muhammad war also nicht zuletzt ein Versuch der Befriedung der Gesellschaft. Dazu trat Muhammads Bemühen, der neuen Gemeinde durch eine Rechtsordnung einen Rahmen für das soziale Miteinander zu geben, auch durch die Befriedung der enormen sozialen Gegensätze innerhalb der Städte und zwischen diesen und den Bauern und Nomaden auf dem Land. Vor allem die Armenfürsorge, die zu den religiösen Pflichten gehörende Zahlung des zakat (Almosengabe), sollte die Klassengegensätze entschärfen. Die Einordnung seiner selbst als Übermittler der göttlichen Botschaft in die Reihe der Propheten schuf den Arabern darüber hinaus eine historische Identität, die mit Abraham beginnt und die Reihe biblischer Propheten mit Muhammad als letztem Gesandten Gottes enden lässt. Durch die zentrale Rolle der arabischen Sprache (der Koran ist, nach seinen eigenen Worten, Gottes Verkündigung an die Araber in arabischer Sprache) wird nicht nur eine kulturelle Identität geschaffen, sie ist zugleich die Voraussetzung für die Etablierung des Arabischen als Lingua franca im Vorderen Orient und Nordafrika, die sich im Zuge der Entstehung des arabisch-islamischen Weltreiches durchsetzen wird. Und schließlich schufen die Idee der umma als Gemeinschaft aller Gläubigen, die Etablierung einer Rechtsordnung und die Bindung ihrer Führung an den Propheten eine politische Identität. Gerade diese aber war als Legitimation des Staates wenig mehr als eine Klammer, auf die bei Bedarf zurückgegriffen wurde, die sich aber bei unterschiedlichen Interessenlagen und Machtkonstellationen in der Praxis aufkündigen ließ, auch wenn sie formal immer als Legitimationsgrundlage diente. Schon mit dem Tode des Propheten und der ungeklärten Nachfolge bre-

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chen die Konflikte innerhalb der jungen Gemeinde wieder auf. Die Nachfolger, selbst ja ohne prophetische Gabe, wurden als Bewahrer und Verteidiger des neuen Glaubens verstanden. In dieser Funktion waren sie »keine Alleinherrscher«, »sondern ihre Herrschaft war von Vorstellungen und Traditionen der vorislamischen Stammesgesellschaft und dem Ideal der Umma geprägt« (Schmutzer 2015, 183). Unter den Nachfolgern Muhammads, den rechtgeleiteten Kalifen, begann zwischen 632 und 656 die islamische Eroberungsbewegung. Man kann dies als klugen Schachzug der Kalifen ansehen, durch den es gelang, von den zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen innerhalb der islamischen Gemeinde abzulenken. Die Eroberungsbewegung war aber keine Missionierungsbewegung; zwar gingen die Muslime energisch gegen alle ›Götzenanbeter‹, also gegen polytheistische Kulte vor, aber sie respektierten die monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum oder die Anhänger der persischen Religion des Zoroastrismus, ganz so, wie es im Koran gefordert wird. Die Integration in das neue ›islamischen‹ Reich wurde nicht nur durch Toleranz, sondern auch durch die wichtige Rolle befördert, die gerade Juden und Christen als Experten einnahmen. Denn für viele Bereiche der staatlichen Verwaltung oder in den praktischen Wissenschaften fehlten Fachleute. Mittelfristig hat dies das hellenistische Erbe innerhalb der arabisch-islamischen Kultur weiter gestärkt. Nach Innen war die wichtigste Neuerung sicherlich die Schaffung einer islamischen Rechtswissenschaft. Sie setzt die von Muhammad begonnene Verrechtlichung fort, die nur auf der Grundlage des Koran und der ›überlieferten Worte und Taten des Propheten und seiner ersten Wegbegleiter‹ (hadithe) möglich war. Implizit führte dies zur politischen Indienstnahme der Religion, weil es bei jeder Rechtspraxis als den Regeln des gesellschaftlichen Lebens immer auch um Interessen und damit um Machtfragen geht, nicht um einen sakralen Gehalt. Man braucht dabei nicht so weit zu gehen wie Karam Khella, der den Islam als »die Ideologie des arabischen Feudalismus« bezeichnet (Khella 1991, 61), aber zweifellos spiegelt schon der Koran und noch viel mehr die spätere Rechtspraxis reale Machtverhältnisse, z. B. die soziale und politische Ungleichheit oder das patriarchal geprägte Geschlechterverhältnis. Anfänglich existierte dabei keine gesetzgebende Instanz. Vielmehr war die islamische Jurisprudenz Ergebnis eines offenen Prozesses durch die Gemeinde selbst, begünstigt durch das Fehlen eindeutiger Text-

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grundlagen. Die systematische Sammlung der zum Koran gehörenden Texte begann unter dem Kalifen Uthman (644–656); unter dem Umaiyadenkalifen Abd al-Malik erfolgte um 700 die Endredaktion (vgl. z. B. Neuwirth 2010, 29). Die Hadithe existieren in unterschiedlichen Sammlungen, die deutlich später entstanden; die sunnitischen Muslime erkennen sechs davon an. Tatsächlich aber liefern beide Quellen nicht annähernd ausreichende Grundlagen für eine Rechtsprechung, und das galt umso mehr, je größer das islamische Reich wurde. Viel wichtiger waren »rationale[] Verfahren wie sprachwissenschaftliche[] Exegese und logische[] Schlüsse[]«, wodurch das Recht »sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Elemente« (Bauer 2011, 210 f.) aufwies. Dabei ging es darum, einen Konsens zu konkreten Rechtsproblemen zu finden, also die beste Begründung für eine Rechtsposition. Dazu entwickelten sich mehrere Verfahren, die die Grundlage einer eigenständigen islamischen Wissenschaft abgaben. Dabei ist zunächst der Analogieschluss (qiyas) zu nennen, bei dem in Koran oder Hadithen eine Aussage als Grundlage für die Beurteilung eines konkreten, aber inhaltlich anders gelagerten Falles gesucht wird, um dann von dieser Grundlage her auf den konkreten Fall zu schließen. Am Ende einer solchen Argumentation soll ein Konsens (idyma’) unter den Mitgliedern der Gemeinde bzw. den Rechtsgelehrten stehen; diese Konsensurteile bilden dann selbst wieder Grundlage für Analogieschlüsse. Folgerichtig entstand im Islam niemals ein Kodex, der nun ›islamisches Gesetz‹ gewesen wäre, sondern Rechtshandbücher und Sammlungen von Urteilen und Rechtsgutachten. Ihr Inhalt ist dabei vor allem privatrechtlicher Natur; es geht um Verpflichtungen, Verträge und Ansprüche, also um vielfältige Aspekte des weltlichen Lebens. Nur ein sehr kleiner Teil betrifft die ›Rechte Gottes‹ (huquq Allah), und hier geht es vor allem um die Pflichten, die das islamische Gemeinwesen zu erfüllen hat. Einen Muslim, der sich in einem Gemeinwesen Andersgläubiger aufhält, betreffen diese Rechte nicht. Entsprechend zeugt es von weitgehender Unkenntnis des Islam, wenn heute Muslime oder westliche Beobachter von einer ›Anwendung der Scharia‹ reden; denn »dieser Ausdruck steht nicht für das Gesetz, sondern ist eine allgemeine Bezeichnung für die sittliche Ordnung, ähnlich wie nomos« (al-Azmeh 1996, 30). In diesem Sinne spielt das ›islamische‹ Recht im Alltagsleben gläubiger Muslime auch heute noch eine Rolle, etwa als Beratung bei Alltagsproblemen oder zur Schlichtung von privaten Streitigkeiten.

Es lassen sich also zwei Kennzeichen des islamischen Rechts hervorheben: Erstens erzeugten die islamischen Rechtswissenschaften (ilm al-Fiqh) kein kodifiziertes Recht; ihr Kern war die ›freie Erörterung‹ (idjtihad), die Mehr- und Vieldeutigkeit der Interpretationen und damit auch der Rechtspraxis zuließ und dies als selbstverständlich hinnahm. Sozialer Träger der islamischen Rechtswissenschaften war die Klasse der Rechts- und Korangelehrten, er ulama. Aus ihren Interpretationen von Koran und Hadithen entstanden im 8./9. Jahrhundert die Rechtsschulen. Aus diesen heraus gab es Versuche, der Mehrdeutigkeit der Interpretationen Herr zu werden. So erklärten z. B. orthodoxe sunnitische Rechtsgelehrte im 12. Jahrhundert nach der Gründung des schiitischen Kalifats der Fatimiden in Kairo die ›Schließung des Tores zum Idjtihad‹, als Schutz vor Irrlehren und unerwünschten Neuerungen. Praktische Bedeutung hatte das für die theologischen Debatten; an der Rechtspraxis änderte sich dadurch wenig. Zweitens kann das Zulassen von ›Mehrdeutigkeit‹ im Recht durchaus als Kennzeichen der islamischen Kulturen bis zur Moderne gewertet werden. Thomas Bauer hat dies mit dem Begriff der ›Ambiguitätstoleranz‹ bezeichnet, also nicht nur dem Zulassen unterschiedlicher Ansichten, sondern darüber hinaus der Akzeptanz, dass einzelne Lebensbereiche von verschiedenen Normsystemen gleichzeitig geregelt werden können (vgl. vor allem Bauer 2010 und 2011). Weniger in religiösen Dogmen oder gar im überzeitlichen ›Wesen‹ des Islam (was ein bloßes ideologisches Konstrukt ist) finden ›Ambiguitätstoleranz‹ und ›freie Erörterung‹ ihre Grenze, als vielmehr in realen Machtverhältnissen. Das gilt auch für die Alltagswelt mit ihren kleinen, aber darum für die Betroffenen besonders realen Problemen. Denn hier wirken sich patriarchalische Strukturen, soziale Macht und die Beharrungskräfte von Traditionen besonders hemmend aus. Auch die emanzipatorischen Potentiale, die in der Vielfältigkeit im Recht und in der religiösen Alltagspraxis verborgen liegen, jene »prinzipiell demokratische Einstellung des Islam«, von der Schmutzer spricht (vgl. Schmutzer 2015, 160), kann sich unter den realen gesellschaftlichen Bedingungen nur begrenzt entfalten. Dazu trägt die legitimatorische Schwäche der ›islamischen‹ Staaten bei. Hier spielten auch die Rechts- und Korangelehrten eine Rolle. Gerade nachdem das islamische Reich der Kalifen schon im 10. Jahrhundert weitgehend in Teilstaaten zerfallen war, über die der Kalif in Bagdad allenfalls eine formale Oberhoheit hatte, konnten die-

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se Gelehrten zu Legitimationsgebern werden. Ob innerhalb eines Teilreiches ein Putsch stattfand, oder ob ein Herrscher seinen Nachbarstaat erobern wollte, wer immer in solchen Situationen die Gutachten und die wichtige Macht der Vorbeter in den Moscheen auf seiner Seite hatte, fand zumindest kurzfristig eine Legitimationsgrundlage. Das Verhältnis der ulama, der Rechts- und Korangelehrten, zur Herrschaft hatte so in manchen Situationen den Charakter einer wechselseitigen Abhängigkeit. Aber man verfehlt die Beziehung von Staat/Politik und Religion im Islam, wenn man vergisst, dass das Subjekt der islamischen Geschichte nicht der Islam selbst war und ist, sondern die konkreten gesellschaftlichen Akteure. Oder wie es Schulze in Bezug auf die osmanischen Sultane sagt (und wie man es bis heute verallgemeinern kann): Sie herrschten nicht, »weil sie religiös legitimiert waren, sondern weil sie sich selbst inthronisiert hatte, weil sie ›Herren zu eigenem, nicht von der Anerkennung der Beherrschten abhängigem, Recht‹ waren« (Schulze 1992, 111, der hier seinerseits aus Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft zitiert). Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass die heute in der islamischen Welt (und auch unter den Diaspora-Muslimen) propagierte ›Rückkehr zu den Wurzeln‹ (des Islam) gerade keine Kontinuität innerhalb des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft darstellt, sondern einen Bruch: Fundamentalismus und sich religiös verbrämender Terrorismus sind Phänomene unser Moderne (und gehören insofern nicht mehr zum Gegenstand dieses Kapitels). Wer die von den Extremisten propagierte ›Rückkehr‹ für bare Münze nimmt, vergisst, dass eine extreme Positionen im Islam nur eine unter vielen war und keineswegs das ›Wesen‹ des Islam widerspiegelt. Der Islam der Gegenwart ist, wie Bauer richtig bemerkt, keine Fortsetzung des traditionellen Islam, sondern Produkt der Moderne – und das gilt übrigens nicht nur für den fundamentalistischen Islam, sondern auch für den ›liberalen‹ (vgl. Bauer 2010, 2). Zumindest für die Herrschaftsdiskurse im Islam sind Hauptlinien zu erkennen: Der wohl älteste Politikdiskurs, erläutert Bauer (vgl. Bauer 2011, 318 ff.), ist in der vorislamischen Dichtung zu finden; als Lobund Heldengedichte und als Fürstenspiegel und -ratgeber setzen sie sich bis in die Neuzeit fort. Dazu kommt als erster genuin religiöser der theologische Diskurs, der vor allem die Anfangszeit des Islam bestimmt. Damals fielen Streitigkeiten um das richtige Verständnis dessen, was zentraler Gehalt und Dogma der neuen Religion sein sollte, mit den politischen

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Auseinandersetzungen um die Führung der umma zusammen, und lösten so nicht nur die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten aus, sondern spiegelten sich auch in den zahlreichen ›Sekten‹ oder theologisch-philosophischen Schulen, zwischen denen kontrovers über Vorherbestimmung und Willensfreiheit, über die Erschaffung der Welt und die Gerechtigkeit Gottes gestritten wurde. Zu dieser kalam (arab. für Rede) genannten spekulativen Theologie tritt die das hellenistische Erbe antretende Philosophie hinzu; schon in den frühen theologischen Debatten findet aristotelische Logik wie neoplatonische Gedankenwelten ihren Widerhall (vgl. Hendrich 2011, 18 ff.). Der juristische Diskurs nimmt ebenfalls Impulse antiken Denkens auf, und er ist für die Herrschaftsdiskurse wohl auch bedeutender als es letztlich die theologischen waren. Und schließlich muss die Philosophie erwähnt werden, bei der etwa alFarabis Schrift vom Musterstaat direkt an Plato anknüpfte. Aber auch Ibn Sina (Avicenna), Ibn Badjdja (Avempace), Ibn Tufail (Abubacer), Ibn Rusd (Averroes), Ibn an-Nafis und schließlich Ibn Khaldun tragen jeweils Eigenes zum Diskurs bei. Der in diesem Zusammenhang häufig erhobene Vorwurf, die Philosophie im Islam sei marginalisiert und insofern bedeutungslos gewesen, ist dabei schon insofern eine verzerrte Sichtweise, weil Philosophie in allen Kulturen marginalisiert war und ist; immer ein Interessensgebiet einer Minderheit und immer ohnmächtig in den politischen Auseinandersetzungen – auch in Europa. Aber andererseits gilt: »Auch wenn [...] der philosophische Diskurs nie wirklich zentral wurde, so hat er über viele Jahrhunderte seine Vitalität bewahrt und innovative Werke hervorgebracht, die studiert und kopiert wurden. Er mag marginal gewesen sein, aber er war nicht ausgegrenzt [...]« (Bauer 2011, 321). Hier stoßen wir auf eine weitere Ideenwelt innerhalb des Islam: die Fortführung des hellenistischen Erbes, das sich keineswegs nur auf die spekulative Theologie und die Philosophie beschränkte, sondern ganz besonders die (im neuzeitlichen Sinne) Naturwissenschaften mit einschloss. Im Unterschied zur Philosophie waren ihre praktischen Auswirkungen keineswegs marginal, sondern sehr bedeutsam für die Lebenswelt der islamischen Länder. Die Philosophie im Islam bezog sich, ähnlich wie die mittelalterliche Philosophie in Europa, zunächst auf die antiken Quellen, und hier vor allem auf den Neoplatonismus und auf Aristoteles. Im Unterschied zu Europa war das antike Erbe im Nahen und Mittleren Osten sehr viel präsenter, und die Toleranz gegenüber Andersgläubigen

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erleichterte den Muslimen die Aufnahme des antiken Wissens. Überdies löste sich die islamische Philosophie bald deutlich von den antiken Vorbildern. Das lag sicher auch an dem völlig anderen Umfeld: Während in der Antike die Philosophie im Unterschied zu den vielfältigen und sich ständig wandelnden religiösen Kulten entwickelte, sah sie sich in den monotheistischen Religionen mit einem universellen und absoluten Geltungsanspruch konfrontiert, der sich auf die jeweilige Offenbarungsschrift bezog und daraus den alleinigen Wahrheitsanspruch ableitete. Im Islam reagierte die Philosophie darauf nicht mit Religionskritik (obwohl es diese auch gab, wenn auch sehr viel dezidierter in der Dichtung), sondern zunächst mit der Denkfigur der ›doppelten Wahrheit‹. Danach widersprechen sich religiöse Verkündigungswahrheit und philosophische Vernunftwahrheit nicht, sondern meinen eigentlich dasselbe. Schon der erste große Philosoph im Islam, al-Kindi (um 800–873), vertrat diese These und unterstrich dabei die methodologische Unabhängigkeit der Philosophie. Al-Farabi (ca. 870–ca. 951), den man den ›zweiten Lehrer‹ (nach Aristoteles) nannte, akzentuierte diese Sichtweise noch. Für ihn war die durch Vernunft gewonnene Erkenntnis der Philosophie die höchste Stufe menschlicher Erkenntnis, und wenn sich Philosophie und Religion beide auf die gleiche Wahrheit bezogen, dann ging die Philosophie mit der Klarheit und Eindeutigkeit der Beweise der Religion mit ihren Metaphern und Gleichnissen voraus. Während sich Philosophie an die wenigen zur Weisheit Fähigen richtet, ist die Religion die Vermittlung der Wahrheiten an die im Denken ungeübten Massen. Es wird deutlich, dass die islamische Philosophie mit ihrer Betonung der epistemischen Überlegenheit der Philosophie über die Religion eine sehr viel radikalere Position bezieht, als dies in der Antike der Fall war. Besonders deutlich wird das in den Schriften von Ibn Rusd (lat. Averroes, 1126–1198). In seinem Fasl al-maqal (Die entscheidende Abhandlung) geht er von einer Aussage des Aristoteles (in der Analytica priora, I, 32, 47a) aus, nach der alles Wahre mit sich selbst im Einklang stehen muss, und führt aus, dass die Gemeinschaft der Muslime wisse, »dass die apodiktische Betrachtung nicht zu einem Widerspruch führt mit dem, was die Satzung vorgeschrieben hat; denn die Wahrheit steht nicht im Widerspruch zur Wahrheit, sondern stimmt mit ihr überein und legt Zeugnis für sie ab« (Averroes 2010, 20). Taucht doch ein scheinbarer Widerspruch zwischen Satzung (also Koran und Sunna) und philosophischen Urteilen auf, dann ergibt sich die Not-

wendigkeit der Interpretation der Satzung. Bei Ibn Rushd wird also die Superiorität der Philosophie sogar noch ergänzt durch die Aufforderung, die heiligen Texte qua Interpretation den Vernunftwahrheiten anzupassen. Ihm ging es nicht mehr nur um eine ›doppelte Wahrheit‹, die das Erkenntnisstreben der Philosophie rechtfertigen sollte, sondern um die Anpassung religiöser Praxis an vernunftgeleitete Diskurse. Im islamischen Kontext blieb diese Radikalität weitgehend wirkungslos; erst in der Moderne diente sie als Beleg für die Forderung nach einer Reform des Islam, einschließlich einer kritischen, wissenschaftlichen Koranexegese. Anders in Europa: Hier hat der ›lateinische Averroismus‹ nicht nur die erbitterte Abwehrreaktion der Kirche hervorgerufen, sondern entfaltete bis ins 16. Jahrhundert Wirkung innerhalb der philosophischen und kirchenkritischen Diskurse (vgl. Hendrich 2011, 100 ff.). Ein zentraler Gedanke der neoplatonisch-aristotelischen Tradition der arabisch-islamischen Philosophie geht von einer vernünftig geordneten Welt aus, geschaffen von dem einen Gott, der reine Vernunft ist. Dem Menschen kommt nach dem Koran zwar keine Gottebenbildlichkeit zu, aber Allah hat ihm »von meinem Geiste eingehaucht« (Sure 15,29). Die Erkenntnis, also die rationale Durchdringung der Welt, ist nicht nur ein entscheidendes Charakteristikum des Menschen, sondern auch ein Auftrag an die ›Verständigen‹ unter ihnen. Entsprechend bemühten sich die Philosophen um eine deduktiv-syllogistische rationale Erklärung des Kosmos, und dies mündete nicht nur in erneuerte Metaphysik, sondern hatte auch Auswirkungen auf alle Zweige der Welterkenntnis. Bereits alFarabi sprach neben Metaphysik und Logik den ›Naturwissenschaften‹ (also der Physik als Sammelbegriff für alle ›physischen‹ Erkenntnisgegenstände) einen allgemeinen Wahrheitsanspruch zu, während Theologie und die übrigen ›politischen‹ Wissenschaften (wie Staatstheorie, Ethik und Geschichte) nur eine regionale oder zeitlich begrenzte Aussagekraft hätten. In dem Maße, in dem die Philosophie durch Systematik und Kohärenz eine zunehmende Verwissenschaftlichung zeigte, wirkte sich dies auch auf die gesamte Entwicklung der Wissenschaften im Islam aus. Voraussetzung dafür war die mit der Dynastie der Abbasiden einsetzende Übersetzertätigkeit. Die Abbasiden hatten seit Beginn des 8. Jahrhunderts gegen die regierenden Umayyaden agitiert und sich dabei mit den frühschiitischen Kräften im Irak und in Persien verbündet. Hintergrund war vordergründig die Frage, wer zur Führung der umma legitimiert sei: die

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aus der mekkaner Elite stammenden Umayyaden mit ihrem dynastischen Herrschaftsanspruch, oder die sich von Muhammads Onkel Abu Abbas herleitenden Abbasiden. Tatsächlich stand vor allem der Konflikt zwischen den alten Eliten aus Mekka und den Interessen und Ansprüchen der neuen Muslime im Mittelpunkt; es ging also um soziale und politische Partizipationsrechte. Unterstützung fanden die Abbasiden auch unter der persischen Kaufmannselite, und gerade sie war ein Bildungsträger ersten Ranges. Hier hatte sich die alte hellenistische Bildung ebenso erhalten wie unter der christlichen und jüdischen Elite des vorderen Orients. Bereits der zweite abbasidische Kalif, al-Mansur, ließ in seiner Regierungszeit (754–775) systematisch griechische Werke ins Arabische übertragen, wie der Historiker al-Masudi (895–956) berichtet. Al-Mansurs Sohn al-Mahdi (775–785) setze dies fort; unter ihm wurde etwa die Topik des Aristoteles übertragen, also Dialektik, Logik und Rhetorik. Schmutzer verweist darauf, dass dies wohl vor allem deshalb geschah, weil diese Kenntnisse »zur Klärung von Rechtsdisputen« und »in Auseinandersetzungen mit Andersgläubigen« gute Dienst leisten konnten (vgl. Schmutzer 2015, 266). Überhaupt standen bei der sich intensivierenden Übersetzertätigkeit praktisches Interesse im Vordergrund: Physik und Geometrie fanden Anwendung in der Technik, mit der man Kanäle, Befestigungsanlagen und Straßen bauen konnte. Für letztere braucht man wiederum Geografie, die außerdem für die Verwaltung des riesigen Reiches notwendig war, ebenso wie Astronomie, die überdies für die Schifffahrt Bedeutung hatte. Andere praktische Wissenschaften wie die Medizin standen hoch im Kurs, während Philosophie und Geschichte erst später hinzukamen. Entscheidend für die Dynamik der Wissenschaftsentwicklung war auch, dass die Abbasiden ihren Regierungssitz in das neugegründete Bagdad verlagerten, »eine multiethnische Metropole, deren Bevölkerung sich aus Arabern, Persern und überwiegend syrischsprachigen Christen zusammensetzte« (Perkams 2013, 117). Für die Abbasiden war die Förderung der Übersetzungen und der Wissenschaften vor allem ein Teil von ›Herrschaftswissen‹, das ihnen Kontrolle und Machtausübung erleichterte. Dass dabei eine Wissenskultur entstand, die über viele Jahrhunderte einzigartig war und erstaunliche Ergebnisse erzielte, von der Bewahrung des antiken Erbes gar nicht zu reden, war dabei ein wohl nicht beabsichtigter Effekt. Bekanntester Ausdruck dieser Wissenskultur war das Bagdader Bait alhikma, das ›Haus der Weisheit‹, eine unter dem Ab-

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basidenkalifen al-Ma’mun gegründete Akademie, die »wahrscheinlich sowohl Forschungsinstitut als auch Bibliothek war« (Freely 2012, 103, vgl. auch Schmutzer 2015, 279–299). An dieser Institution soll etwa auch der Mathematiker und Astronom al-Chwarizmi tätig gewesen sein, der Verfasser der Algebra, von dessen Namen sich auch der Begriff ›Algorithmus‹ ableitet. Gerade die Institutionalisierung des Wissens im Bait al-hikma trug zu ihrer Verbreitung bei und eröffnete den Gelehrtendiskurs in der islamischen Welt. Entsprechend lassen sich aus den folgenden Jahrhunderten zahllose Beispiele für bedeutende wissenschaftliche Leistungen finden. Zum Beispiel der Mathematiker und Astronom Ibn al-Haitham (lat. Alhazen, 965–1040), der in seiner ›Optik‹ die antike Theorie des vom Auge ausgehenden Sehstrahls widerlegte, als erster die Wirkungsweise der Camera obscura beschrieb, sie baute und weitgehende Schlüsse für die Optik daraus zog, dessen vielleicht größte Leistung aber darin bestand, »Physik und Mathematik in eine Synthese zu bringen« und damit »die Kluft zwischen Mathematik und empirischer Forschung zu schließen« (Belting 2008, 106). Oder der persische Universalgelehrte al-Biruni (973 – um 1050), der unter anderem den Erdumfang fast exakt berechnete, das erste Pyknometer zur Bestimmung der Dichte von Flüssigkeiten und Feststoffen entwickelte, sowie eine Theorie zur Entstehung unterschiedlicher Gesteinsarten. Aber mindestens so bedeutsam wie die Leistungen einzelner Wissenschaftler war die Verbreitung zumindest großer Teile dieses Wissens in den vielen islamischen Staaten und Kulturen. Erklärbar wird dies, wenn man einen Blick auf die kulturellen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen wirft. Der islamische Orient war – anders als das mittelalterliche Europa nördlich der Alpen – eine städtische Kultur. Auch dabei trat man das Erbe der antiken Kulturen an und schuf darüber hinaus neue städtische Zentren wie Bagdad und Kairo. Die Städte waren Herrschaftssitze oder zumindest doch regionale Verwaltungszentren. Traditionell lagen sie meistens an den Knotenpunkten der Handelswege und den entweder noch aus römischer Zeit bestehenden oder unter den Kalifen gebauten Fernstraßen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass seit der Antike die Welthandelsachse vom fernen Orient über den Mittleren und Nahen Osten ans Mittelmeer verlief, wodurch der islamischen Welt lange Zeit eine wichtige Zulieferer- und Verteilerfunktion zukam. Als Handels- und Dienstleistungszentren gelangten viele Städte zu Wohlstand, und neben der Beamtenschaft und dem

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Offizierskorps bildeten die Kaufleute die Eliten dieser Städte. Hinzu trat lokal auch das Handwerk, teils schon als Manufakturproduktion, das unter den Kalifen einen hohen Entwicklungsstandard erreichte und ebenfalls zum Wohlstand beitrug. Außerdem lebten die Großgrundbesitzer in den Städten und nicht etwa (wie in Europa) selbst auf dem Land; auch das ließ die städtische Kultur sich schneller und umfassender entwickeln als in Europa. Das städtische Patriziat förderte die Künste und Wissenschaften, entsprechend lebten auch die Gelehrten, Dichter und Theologen in den städtischen Zentren, wo sich auch große Bibliotheken entwickelten, deren Bestände die der europäischen Klosterbibliotheken weit überstiegen. Hinzu kommt als wichtiger Faktor für die Verbreitung des Wissens die arabische Sprache: Welche lokale Sprache auch immer gesprochen wurde, das Arabische als Sprache des Koran war überall verbreitet und deshalb auch die Sprache der Wissenschaften. Allerdings darf man die ›Blütezeit des Islam‹ nicht idealisieren: Sie war eine Variante des Feudalismus, in der vor allem die Oberschicht vom gesellschaftlichen Reichtum profitierte und die Unterschicht wenig Anteil an der Wissenskultur hatte. Zumindest hatte die Wissenskultur Auswirkungen auf die urbane Alltagskultur, von der alle profitieren konnten. Die Städte der islamischen Welt kannten Wasser- und Abwasserversorgung, Straßenbeleuchtung und eine medizinische Versorgung durch Krankenhäuser, deren Qualität sehr viel besser war als ihre Entsprechungen im christlichen Europa. Das und eine ›Kultur des angenehmen Lebens‹ hatte Vorbildfunktion für die europäischen Oberschichten, auch wenn »die meisten Europäer so gut wie nichts vom arabischen und islamischen Ursprung dessen, was sie da übernahmen« (Watt 1988, 36), wussten. Auch des großen Einflusses auf die Literatur und Baukunst war man sich kaum bewusst, im Unterschied zum Einfluss der Philosophie. Welchen großen Beitrag zur Entwicklung der (Natur-)Wissenschaften in Europa der Islam hatte, gehört dagegen zu unserem verdrängten ›dritten Erbe‹ und erfährt erst heute größere Würdigung, zumindest in der Forschung. In der islamischen Kultur stoßen wir also auf zwei große Ideenwelten, die sich – wie die ganze Religion – stufenweise entwickeln und sich wechselseitig berühren: Recht als Jurisprudenz und soziale Praxis, und die stärker an antike Traditionen anknüpfenden Wissenschaften. In Zusammenhang mit dem Recht stehen die Hilfswissenschaften der koranischen Exegese: die Überlieferung der klassischen arabischen Dichtung,

die Grammatik und die rhetorischen Techniken von Analogschluss (qiyas) und Konsensfindung (idjma’). Daraus entstand kein kodifiziertes Recht, sondern Sammlungen von Urteilen und Rechtsgutachten, die jeweils Grundlage weiterer Erörterungen und Anpassungen an die aktuellen Anforderungen darstellten. Gleichzeitig entwickelte sich mit den Rechts- und Korangelehrten (ulama) ein für die soziale und politische Praxis wichtiger Machtfaktor. Denn ihre soziale Funktion geht über die eines Gutachters in Rechtsfragen hinaus; auch heute noch sind sie zugleich Berater in allen Bereichen der Lebenspraxis und Kommentatoren gesellschaftlicher Entwicklungen. Nach meinem Eindruck kommt hier sehr viel besser zum Ausdruck, was mit umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, gemeint ist, als in der formalen Zugehörigkeit zum Islam. Islam ist in Praxis und Theologie verwirrend heterogen; von ›dem Islam‹ zu sprechen ist also eigentlich ähnlich unsinnig wie auf das in unserer Moderne bloß rhetorische Konstrukt eines ›christlichen Abendlandes‹ zu rekurrieren. Dagegen stellt der Versuch, einen einheitlichen Islam mit einer einheitlichen Lehre und einheitlicher rechtlicher wie politischer Praxis zu schaffen, gerade eine Abkehr vom mittelalterlich-klassischen Islam dar; er ist ein Produkt der Moderne, eine ›Islamisierung des Islam‹ (wie etwa Bauer 2010 das gerade für die Rechtspraxis oder al-Azmeh 1993 für die politische Theorie nachgewiesen hat). Die Durchdringung der Alltagspraxis mit dem indirekten Verweis auf eine identitätsstiftende Zugehörigkeit zur umma, verstanden als die jeweils konkrete, lokale Form eines am Ideal der ›Rechtleitung‹ orientierten Lebens, ist im Unterschied zur modernen Tendenz der Vereinheitlichung und Rationalisierung tatsächlich viel eher Ausdruck einer islamischen Ideenwelt. Wichtig ist dabei auch die implizite Anerkennung, die in dieser Lebensweise steckt; die Zugehörigkeit schafft starke soziale Bindung und enthält im klassischen islamischen Kontext auch Tendenzen sozialer Partizipation. Auch die Legitimation dieser Lebensweise ist sozusagen implizit und wirkmächtig, denn die ›Rechtleitung‹ meint die Orientierung am Offenbarungstext und am Leben des letzten Propheten, also eine Berufung auf die größtmöglichen Autoritäten – so absurd es selbst aus einer theologischen Sicht auch immer sein mag, eine konkrete Lebenspraxis an den wörtlichen Text des Koran binden zu wollen. Auffällig ist auch, wie sehr sich Traditionen, lokales Brauchtum und Moralvorstellungen über den Islam zu legitimieren suchen, auch wenn sie nicht in Bezug zum Koran stehen, ja diesem sogar widersprechen.

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Gerade bei der sozialen Integration zeigt sich aber die Schwäche des islamischen Konstruktes: die Geschichte der islamischen Welt ist von Anfang an mit dem Protest der sozial Deklassierten durchzogen, mit Aufständen und Revolten. Denn Koran und Prophetenworte sprechen nicht von Partizipationsrechten, sondern höchstens von Mildtätigkeit, also Almosengabe, und dem Schutz vor Wucher. Im Gegenteil heißt es in Sure 43,31: »Wir verteilen unter ihnen [d. h. unter den Mitgliedern der umma, Anm. d. Verf.] ihren Unterhalt im irdischen Leben und erhöhen die einen unter ihnen über die anderen um Stufen, dass die einen die anderen zu Fronarbeitern nehmen.« Das Fehlen sozial-ökonomischer Partizipationsrechte erschwerte also die Möglichkeit eines ›gottgefälligen‹ Lebens und schwächte die umma. Auch die großen Philosophen sahen das Problem, wie ein Muslim unter Bedingungen eines ›Unrechtstaates‹ ein rechtgeleitetes Leben führen sollte. In al-Farabis madina al-fadila (Der Musterstaat) bleibt dem Menschen in diesem Fall nur die innere Emigration oder die Flucht. Erst Ibn Rusd (Averroes) hat in seinem Kommentar zu Platons Politeia die These entwickelt, dass die Gesetze eines gerechten Gemeinwesens sich danach richten müssten, was der Bestimmung des Menschen entspreche. Dabei hat er keine Demokratie im Sinn, weil nach seiner Auffassung dort das Hauptgewicht auf dem Streben der Menschen nach privatem Wohlergehen liegt und nicht in dem nach Gemeinwohl. Für Ibn Khaldun (1332–1406), den man den Begründer der Soziologie nennt, war der am Gemeinwohl ausgerichtete Gemeinschaftssinn, den er als asabiyya (Stammessolidarität) bezeichnet, das konstitutive Moment für die Entstehung der umma und den Aufstieg des Islam. Mehr noch: für Ibn Khaldun ist die Entstehung aller großen Staaten und Reiche an die asabiyya gebunden, und ihr Niedergang (den er für seine Zeit bei den islamischen Staaten konstatiert) das Ergebnis der Dekadenz, die im Verlust des Gemeinsinns wurzelt. Zugleich ist seiner Auffassung nach die Legitimität von politischer Herrschaft immer an die Fähigkeit und Bereitschaft des Herrschers gebunden, dem Gemeinsinn zu erhalten und das Gemeinwohl zu fördern (vgl. Tibi 1993, 118 ff.; Hendrich 2011, 129 ff.). Bei Ibn Rusd dagegen führt der Gemeinwohl-Gedanke nur wieder zurück zur platonischen Idee der Philosophen-Könige als Herrschaft der Besten. Trotzdem findet man hier eine verbindende Idee im islamischen Selbstverständnis: Recht und Gerechtigkeit, Anerkennung und Teilhabe sind als Bedingungen der Möglichkeit für ein ›rechtgeleitetes‹ Leben nicht mög-

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lich als bloß formaler Verfassungsrahmen, in dem die Individuen dann ihrem Lebensentwurf folgen, sondern nur über die Idee der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die durch ihren besonderen (sakralen) Charakter mehr ist als die Summe ihrer Teile. Sich zunächst über die Gemeinschaft zu definieren, sich im Selbstbild und im Selbstverständnis als ihr Teil zu begreifen, drückt sich nicht nur im politischen Denken aus, sondern durchdringt die gesamte Alltagspraxis. Gerade dadurch ist diese Selbstverortung in der Gemeinschaft auch besonders anfällig für politische Instrumentalisierung, wie etwa zuletzt durch den militanten Islamismus. Außerdem ist schon darauf hingewiesen worden, dass das ideelle Verständnis von Gemeinschaft im Widerspruch zur sozialen Praxis in der islamischen Geschichte steht, in der die sozialen Gegensätze immer scharf gegeneinanderstanden. Unter Bedingungen der Moderne treten weitere Probleme hinzu: Die Selbstdefinition über die Gemeinschaft schafft nicht nur Anerkennung und Integration, sondern umgekehrt auch Ausgrenzung bis hin zur Sanktionierung differenter Lebensweisen. Wer im Selbstverständnis eines modernen Individualismus das Recht auf Selbstbestimmung und den eigenen Lebensentwurf einfordert, gerät in Konflikt mit den patriarchalischen und hierarchischen Strukturen der traditionellen Gesellschaft. Auch die islamische Welt nimmt Teil an den Modernisierungsprozessen mit der Folge, dass lebensweltlich soziale und politische Verwerfungen und Konflikte zunehmen und durch traditionelle Konfliktlösungsstrategien nicht behoben werden können (vgl. Courbage/Todd 2008). Die ulama spielt hier weitgehend die Rolle des Bewahrers der Traditionen, und unternimmt nur in ihrem kleineren, ›liberalen‹ Teil den Versuch, Moderne und die Idee der umma zusammen zu denken, um produktiv Visionen einer Synthese zwischen einer am Selbstbestimmungsrecht der Individuen orientierten Moderne und der Selbstverortung als Teil einer Gemeinschaft zu entwickeln. Die ulama hatte auch in der islamischen Geschichte ihren Anteil dran, dass die zweite große Ideenwelt, die der Wissenschaften und Philosophie, sich seit dem 14. Jahrhundert nicht weiter entwickelte. Die Stagnation der Wissenschaften wurde in der islamischen Welt seit dem 19. Jahrhundert in der Konfrontation mit den europäischen Kolonialmächten zum Thema gemacht. Interessanterweise verband sich die Forderung nach einer ›Renaissance‹ der Wissenskultur oft mit der nach einer ›Rückkehr zu den Wurzeln‹ des Islam, also einer völlig reaktionären gesellschaftlichen

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Perspektive, die überdies noch völlig ahistorisch ist (vgl. Hendrich 2011, 138 ff.). Zum Niedergang der Wissenskultur im Islam trugen neben der Geistfeindlichkeit von Teilen der ulama noch weitere Faktoren bei, etwa interne sozio-ökonomische (der Prozess der Re-Feudalisierung, die Verlagerung der Welthandelsachse an den Atlantik) und externe (Kreuzzüge, Mongoleninvasion und später der Kolonialismus). Unter kritischen Intellektuellen in der islamischen Welt wie auch im Westen hat die Rolle vom ulama und der Religion allgemein dazu geführt, die islamischen Ideenwelten und Traditionen als radikalen Gegensatz zu einer aufgeklärten Moderne zu begreifen. Drastisch hat das etwa der Philosoph al-Azm ausgedrückt: Entscheiden sich die muslimischen Gesellschaften gegen die Moderne und ihre Wissenskultur, dann tun sie dies »um den Preis der Selbstüberantwortung an den Mülleimer der Geschichte« (al-Azm 1993, 46). Begreift man dagegen die Moderne als »unvollendetes Projekt« (Jürgen Habermas), dann wird deutlich, dass sich »die Modernisierung von Kulturen [...] historisch verschieden abspielen« kann, und deshalb »modernisierende Kulturen nicht immer wieder, wie ein geradezu kolonialistisch anmutendes Modell es will, die abendländische Modernisierungsgeschichte nachahmen [müssen], um modern zu sein« (Schnädelbach 2000, 33). Für die islamischen Gesellschaften könnte das heißen: die Selbstverortung als Teil der Gemeinschaft in ein produktives Verhältnis zu Selbstbestimmungsrecht und Individualismus zu setzen. Denn Ideen, die eine große gesellschaftliche Akzeptanz haben, lassen sich nicht einfach aufkündigen. Literatur

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Geert Hendrich

15  Mittelalter: Jüdisch

15 Mittelalter: Jüdisch 15.1 Kennt das Judentum der Vormoderne politisches Denken? Der Begriff ›politische Ideengeschichte‹ gilt, bezogen auf das Judentum der Vormoderne, gemeinhin eher als ein Unwort, da das Judentum seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der Zeitrechnung keinen eigenen Staat und dementsprechend weder politische Theorien, Gesetze noch politisches Wollen entwickelt habe. In diesem Sinn hat es während der israelischen politischen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Staat und Religion in den 1950er Jahren der extreme Verfechter einer Trennung von Religion und Staat, Jeschajahu Leibowitz (1903– 1994) formuliert: »Das jüdisch-religiöse Denken und Bewusstsein und deren Ausbildung in der Halacha kannte nur zwei Staatsformen, die in religiöser Hinsicht legitim sind [...] Das eine ist die der fernen Vergangenheit, nämlich das ›Königreich Davids und Salomos‹, die nur in einer semi-mythologischen Ahnung, der volkstümlichen Haggada, auf das religiöse Denken Einfluss nahmen, als eine Art jüdischer Prähistorie. Die zweite ist die endzeitliche Staatsform, nämlich das messianische Königreich, das als Endzeitvision gleichfalls nicht zu unserer realen Wirklichkeit gehört – als eine Art PostHistorie des Judentums.« (Leibowitz 1975, 131)

Leibowitz nimmt hier eine schon von Baruch Spinoza (1623–1677) formulierte und von Moses Mendelssohn (1729–1786) rezipierte Auffassung vom Verhältnis der jüdischen Religion zum politischen Denken und Handeln auf, wonach Staat und Religion nur in der altbiblischen Vergangenheit und wieder in der utopischen Zukunft des messianischen Reiches eins seien, was aber für die reale Gegenwart nicht mehr zutreffe (vgl. Grözinger 2009). Dies ist eine Sicht, die mutatis mutandis bei den frühen Zionisten wiederkehrt, so bei Moses Hess (1812–1875), der das jüdische Volk erst wieder »ins Geleise der Weltgeschichte« heben wollte (Hess 1899; vgl. Grözinger 2015), oder Achad Ha-Am (1856–1927), der die Aufgabe des Zionismus darin sah, »den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen; auf die Erde die Hoffnung und auf das Volk den Glauben zu gründen« (Ha-Am 1923, 41), so auch bei Hannah Arendt (1906–1975) und David Ben Gurion (1886–1973) (vgl. Graetz 1991,

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262). Demgegenüber wird von manchen Historikern, wie Michael Graetz, die gegenteilige Auffassung vertreten, wonach die jüdischen Gemeinden zwischen dem Untergang ihrer Staatlichkeit in der Antike und der Moderne dank der ihnen durch Privilegien verliehenen Autonomie eine politische Körperschaft darstellten, »die nicht nur Spielball und Objekt der geschichtlichen Kräfte war« (Graetz 1991, 263). Führungstradition und politisches Bewusstsein habe nicht nur Politik nach innen, sondern vor allem in Zeiten der Bedrängnis auch Politik nach außen ermöglicht (vgl. ebd.; Biale 1986). Das nach innen gerichtete politische Handeln zeigt sich tatsächlich zum einen in den sogenannten Takkanot (durch besondere Umstände erforderliche Rechtsverordnungen gemäß rabbinischem Recht, der Halacha), und dann vor allem in den theologisch-philosophischen Bewertungen der Halacha, das heißt des religiösen Gesetzes, insgesamt, worauf im Folgenden des Näheren einzugehen ist. Die Tradition der sogenannten Takkanot, also halachischen Rechtsverordnungen einzelner jüdischer Gemeinden oder Gemeindegruppen, hat ihren wesentlichen Ausgang von den ab dem 13. Jahrhundert promulgierten Takkanot-SchUM und hat sich sodann auf den gesamten aschkenasischen Raum ausgebreitet (vgl. Litt 2013; Wolf 1880). 1754 wurde auf der Grundlage der mährischen Statuten von der Kaiserin Maria Theresia sogar die »General-PolizeiProzess und Commerzial-Ordnung« erlassen, während die deutschen Staaten ab dem 19. Jahrhundert entsprechende Synagogenordnungen erstellen ließen und sie staatlich sanktionierten, wodurch jüdische Politik zu staatlicher Verordnung wurde (vgl. Zink 1998; Grözinger 2009, 489–495). Die älteren Takkanot bezogen sich auf alle Bereiche des jüdischen Lebens, eine Trennung von Religion und bürgerlichem Leben gab es für sie nicht – anders in den Synagogen-Ordnungen des 19. Jahrhunderts, da die weltlichen Staaten das Judentum auf den Status einer ›Kirche‹ oder Konfession reduzierten. Die traditionelle rabbinische Halacha kennt diese Unterscheidung von Bürgerlichem und Religion nicht, nach ihr sind alle Bereiche des Rechtes göttliches Gebot. Gott ist der alleinige Gesetzgeber auch wenn das rabbinische Gericht und die Gesetzesausleger in ihren Entscheidungen gegenüber der Offenbarung autonom sind. Mit dieser Aussage ist allerdings die eingangs erörterte Frage, ob diese Halacha auch ein politisches Denken und Handeln umfasst, noch nicht entschieden, sofern man unter politischem Denken und Handeln ein autonomes Gestalten der

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_15

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III Denkströmungen – B Mittelalter

menschlichen Gesellschaft versteht, auch ohne einen eigenen Staat, sondern nur innerhalb der rechtsautonomen jüdischen Ortsgemeinde. Die Ablehnung des Prädikats ›politisch‹ für die Halacha durch Jeschajahu Leibowitz hat ihren Grund im Religionsverständnis von Leibowitz. Er meint: »Der Gegenstand des religiösen Denkens ist ausschließlich die Stellung des Menschen vor Gott« (Leibowitz 1975, 362). Dies gilt nach seiner Auffassung auch dann, wenn göttliche Gebote soziale und politische Kollateralfolgen haben. Die moderne kontroverse innerisraelische Debatte soll hier nicht weiterverfolgt werden, mit ihr sollte nur angezeigt werden, dass die Bewertung der Halacha und des von ihr möglicherweise umfassten politischen Denkens vom jeweiligen Religionsbegriff abhängig ist, von der Einschätzung und Begründung der Ethik und ihrer Funktion, von der durch die Gebote Gottes beabsichtigten Wirkung oder Bedeutung. Sie alle sind bedingt durch die Theologie und die Philosophie und damit zugleich von der Bewertung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung.

15.2 Die Entwicklungen seit dem Mittel­ alter In der rabbinischen Antike diente das göttliche Gebot ausschließlich dazu, dass der Mensch Gott gegenüber seinen Gehorsam und damit die Ehre Gottes bezeugen könne – trotz der menschlichen Autonomie in den Rechtsentscheidungen. Das heißt, nach dieser Auffassung entspringt das religiöse Gebot nicht einem Gestaltungswillen für die Gesellschaft, sondern alleine dem Willen Gottes, dem Gehorsam zu bezeugen ist. Auch die mittelalterliche Kabbala, ein weitverzweigtes Netz esoterischer Theologien ab der Mitte des 12. Jahrhunderts, eine Reaktion auf die sogleich zu beschreibende Philosophie, entnimmt die Ethik, sprich die Sinngebung der göttlichen Gebote, vollkommen der anthropologischen, sozialen und politischen Ebene. Nach den Lehren der Kabbalisten haben die Gebote ausschließlich eine theurgisch-sakramentale Funktion, das heißt die Macht unmittelbarer Einwirkung auf das göttliche Pleroma, um dort die göttliche Einheit herbeizuführen, von der man hernach auch segensreiche Auswirkungen auf die Menschenwelt erhofft (vgl. Grözinger 2005). Dieses einseitig theologische Bezugsfeld des jüdischen Rechtes sollte sich mit der im Mittelalter einsetzenden Philosophie grundsätzlich ändern. Der erste mittelalterliche jüdische Philosoph Rabbi Sa’ad-

ja Ga’on (882–942) hat hierfür den cantus firmus formuliert: »Die Quelle jeglichen Wissens und der Brunn aller Erkenntnis [...] sind drei: Das erste ist die Sinneswahrnehmung, das zweite ist die Erkenntnis mittels der Vernunft und das dritte ist die Erkenntnis aufgrund einer notwendigen Schlussfolgerung.« (Sa’adja Ga’on, zit. nach Grözinger 2004, 365)

In einem weiteren Nachsatz unterstreicht Sa’adja, dass auch die Offenbarung auf diesen drei Erkenntnisprinzipien aufruht. Sa’adja begründete damit die mittelalterliche Maxime, nach der Vernunft und Offenbarung identisch sind, die Offenbarung sich also stets vor der Vernunft rechtfertigen muss. Das bedeutet des weiteren: Auch die Texte der Tradition müssen der Vernunft entsprechend gedeutet werden. Dies betrifft in erster Linie natürlich die Lehre von Gott. Nach ihr ermangelt die Gottheit jeder Körperlichkeit und aller Kategorien der aristotelischen Erkenntnislehre. Damit ist die Gottheit der menschlichen Erkenntnis vollkommen entzogen, ebenso der direkten Kommunikation. Gott hat keine Ohren und hört kein Gebet, hat keine Augen und sieht nicht die Geschicke seines Volkes und – das ist für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend – er hat auch keinen Nutzen vom menschlichen Gehorsam und der menschlichen Gebotserfüllung. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist, dass die biblische Lehre vom Menschen als dem Ebenbild Gottes (Gen 1,26–28) zerbrochen ist. Gott ist so verschieden von allem Irdischen, dass der Mensch nicht mehr Ebenbild sein kann. Daraus folgt zugleich, dass es im Gegensatz zur altrabbinischen Lehre kein menschliches Tun geben kann, das man als imitatio dei bezeichnen könnte. Nach rabbinischer Auffassung gehörten zu ihr vor allem Werke der Nächstenliebe. Solches Tun ist nach Sa’adja allerdings nicht ausgeschlossen, es bezieht seine Begründung nun aber von der rein anthropologischen Ebene. Und dies gilt von nun an für sämtliche Gebote der Tora, sie haben Bedeutung nur für die menschlich irdische Ebene – Gott erreichen sie in seiner Andersartigkeit und Abgehobenheit nicht. Der Sinn der Gebote ist nun rein anthropologisch im weitesten Sinn zu sehen. Ein weiterer Punkt ist, dass nach der sa’adjanischen Maxime auch die Gebote, wenigstens im Prinzip, allesamt der menschlichen Vernunft entsprechen müssten. Wo immer der Mensch die Vernünftigkeit der Gebote erkennen darf, kann man von ›Vernunftgeboten‹ sprechen, wo dies nicht der Fall ist, spricht man

15  Mittelalter: Jüdisch

vorläufig, bis zur besseren Erkenntnis, von Traditionsoder Gehorsamsgeboten (vgl. Grözinger 2004, 393– 400). Wo aber die menschliche Vernunfterkenntnis hinreicht, kann man mit dieser Vernunft den Sinn der Gebote erkennen. Dieser Sinn liegt, gemäß dem zuvor Gesagten, gänzlich auf der menschlich-irdischen Ebene. Mit dieser philosophischen Konzeption setzt im Judentum die Literatur der Ta’ame Mizwot ein, einer Literatur, welche nach dem Sinn oder Grund der Gebote forscht, was nach altrabbinischem Verständnis recht eigentlich ausgeschlossen ist. Für Sa’adja und seine philosophischen Nachfolger stehen fortan alle Vernunft- und Offenbarungsgebote unter einem eudämonistischen Vorzeichen, das heißt, dass Gott sie dem Menschen zur Erlangung von dessen Glückseligkeit gegeben hat. Gerade darin erweist sich ein weiteres Mal die grundlegende Verschiebung des altjüdischen Gebotsverständnisses. Nicht Gott ist es, der von der Erfüllung der Gebote einen Nutzen oder Genuss hat, nämlich den Gehorsamserweis des Menschen. Nach der philosophischen Auffassung der Gebote ist es ausschließlich der Mensch selbst, der einen Genuss – oder Schaden – von der Gebotserfüllung bzw. -unterlassung hat. Diese anthropologische Sinngebung für die Gebote erweist sich dann insbesondere bei den Versuchen Sa’adjas, auch für die sogenannten Traditionsgebote vernünftige Begründungen wenigstens anzudeuten. Die heiligen Festzeiten dienen demnach nicht Gott und seiner Verherrlichung oder der imitatio dei, sondern dazu, dem Menschen Ruhe und Muße vom Alltag zu verschaffen und ihm Studium und soziale Kontakte zu ermöglichen. Die Aussonderung von Priestern und Leviten hat nicht einen kultischen Zweck, sondern den der Stärkung ihrer Lehrautorität zum Nutzen und Frommen der gesamten Gemeinschaft. Die Speisegesetze schließlich sind unter anderem dazu gegeben, dass der Mensch nicht verunreinigt werde. Das heißt, die Gebote dienen allesamt dem Menschen, sind nicht ›Gottesdienst‹, auch da, wo der Mensch dies vorläufig nicht wahrzunehmen vermag. Für den größten Teil der als vernünftig erachteten Gebote werden ›politische‹ Ziele und Zwecke erkannt. Das heißt der Sinn dieser Gebote wird darin gesehen, dass sie dem Zusammenleben der Menschen dienen. Dies gilt für alle sozialen, strafrechtlichen oder staatlichen Gesetze, also Verbote des Tötens, Raubens, Ehebrechens und dergleichen mehr. Die neue Wendung in der Bewertung der Gebote bedeutet nicht weniger, als dass sodann auch deren Auslegung und Weiterentwicklung durch die Rechtsgelehrten Rabbiner ausschließlich anthropologischen sowie so-

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zialpolitischen Gesichtspunkten folgen muss und weniger theologisch-mystischen. Damit ist ein sozialpolitischer Gestaltungswille geweckt. Der von Sa’adja begründete mittelalterliche jüdische Rationalismus hat indessen noch eine ganze Reihe philosophisch-theologischer Fragen offengelassen, wie zum Beispiel die Frage, wie ein solch transzendenter völlig von jeglichem Kontakt abgehobener Gott die Welt erschaffen konnte (zu älteren Formen biblisch-rabbinischer Rationalität vgl. Grözinger 2017). Auch für die Frage der Möglichkeit der Offenbarung der Tora und der Prophetie hat Sa’adja nur sehr unbefriedigende Antworten geben können. Diese Fragen werden darum die Sa’adja nachfolgenden Philosophen mit Hilfe der beiden dominanten mittelalterlichen Philosophenschulen, der Aristoteliker und der Neoplatoniker, bearbeiten.

15.3 Neoplatoniker und Aristoteliker Die Sa’adja nachfolgenden jüdischen Philosophen bedienten sich der Lehren der beiden mittelalterlichen Philosophenschulen, der Aristoteliker und Neuplatoniker, um die von Sa’adja erzeugte Kluft zwischen Gott und Welt sowie zwischen Gott und Mensch zu schließen, also logisch begreifbar zu machen, wie trotz der kategorialen Distanz dennoch eine Kommunikation möglich war und ist. In beiden Schulen wird das mithilfe der Vorstellung von Mittlerstufen zwischen der göttlichen und der irdischen Welt versucht. Mit ihnen soll der Übergang und Konnex vom Unendlichen zum Endlichen sowie vom Einen zur Vielfalt, der nach den Regeln der mittelalterlichen Logik eigentlich nicht möglich war, logisch erklärt werden. Nach dem mittelalterlichen Gesetz von Ursache und Wirkung, kann die Ursache nur Wirkungen hervorbringen, die in ihr selbst schon angelegt sind – also kann die Unendlichkeit kein Endliches und das Eine keine Vielfalt verursachen. Mit Hilfe sukzessiver Zwischenstufen vermeinte man, dieses Problem lösen zu können. Die Folge war, dass man zwischen der Welt Gottes und der irdischen Welt einen körperlosen intelligiblen mundus intelligibilis sehen wollte. Die körperlosen, rein geistigen Mittelsubstanzen sind es, die durch ihre Teilhabe an Gott wie an der irdischen Welt und insbesondere am Menschen, die Kluft überbrücken. Die Neoplatoniker, ich nenne Pseudo-Empedokles, Isaak (Jizchak) Jisraeli (855–955/6), Salomo Ibn Gabirol (1021–1058), Pseudo Bachja und Jehuda Abravanel alias Leone Ebreo (1460 – ca. 1523), spre-

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III Denkströmungen – B Mittelalter

chen von einer Emanation aus der Gottheit, die häufig mit der Lichtmetapher beschrieben wird, oder dem Hervorziehen des Lebens aus der je höheren Stufe (vgl. Grözinger 2004, 488–584). Dies gilt vor allem für den mundus intelligibilis und abgestuft auch für die irdischen Stufen. Besonders prekär ist der Übergang von der Gottheit selbst zur ersten intelligiblen Stufe. Die erste nachgöttliche Stufe ist eine intelligible Materie, welche aus der Gottheit mit der Form überkleidet wird. Dies geschieht aber nicht in einer Wendung nach draußen durch die Gottheit, sondern durch deren Selbstbetrachtung. Diese Selbstkontemplation der Gottheit wiederum – dadurch soll die mit der Emanationsvorstellung verbundene Konsequenz von der Ewigkeit der Welt zumindest abgemildert werden – wird von den Philosophen als ein göttlicher Wille beschrieben, womit der Anfang der Schöpfung als willentlicher Anfang und nicht als notwendige Ewigkeit gefasst wird. Die intelligible Urmaterie erhält so die Form, oder Formen aus der Gottheit und wird dadurch zur Welt der Ideen, die ihrerseits Formen und Materie nach unten weitergibt. Nach dem Urelement, oder der Urmaterie folgt der Intellekt, nach ihm die Welt-Seele und aus ihr emaniert die Welt der Himmelssphären oder der Natur. In der Natur geschieht schließlich der Umschwung vom rein Intelligiblen zum Sensiblen, dem Wahrnehmbaren der irischen Welt. Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass seine Seele ein Strahl aus der Weltseele ist, der in die materiell-sensible Welt hinabgesandt ist, um durch ihr ethisch-epistemisches Verhalten alsbald aus dieser Welt wieder empor zu fliehen. Diese Sicht der Situation des Menschen ist tatsächlich eher unpolitisch, ist auf das persönliche Heil der Rückkehr der menschlichen Seele in die Weltseele ausgerichtet. Die Aufgabe des Menschen in dieser Welt besteht in der Mehrung seiner Erkenntnis von dieser Welt und noch mehr von ihrem wahren transzendenten Wesen sowie der Abkehr von den niedrigen sensiblen Dingen und Trieben dieser Welt. Das Körperliche und dessen Leben ist damit marginalisiert. Hingegen ist die menschliche Seele nun wieder fähig gemäß der Bibel Ebenbild zu sein, allerdings nicht Abbild der Gottheit, sondern eben nur der Weltseele – wobei die Texte allerdings zuweilen auch die Grenze zur Gottheit selbst hin überschreiten. Die neoplatonischen jüdischen Philosophen haben, ganz gemäß dem mittelalterlichen Neoplatonismus, wie schon deutlich wurde, eher wenig Interesse an der Gestaltung der diesseitigen Welt. Hauptaufgabe

des Menschen in dieser Welt ist, seine Seele für die Rückkehr in die geistige Welt auszurüsten, dies geschieht durch intuitiv intellektuelles Streben nach Erkenntnis der wahren Welt und der asketischen Abwendung von der irdisch-materiellen Welt die eher ein Gefängnis für die Seele war. Diese Tendenz zur Weltabgewandtheit bei den Platonikern, im Gegensatz zu den im Folgenden zu beschreibenden Aristotelikern, lässt sich sehr schön an der Beschreibung der Differenz zwischen der Psychologie der beiden Schulen durch Isaak Jisraeli erkennen. Nach den Platonikern hat die menschliche Seele als Ausstrahlung der Weltseele nur ephemeren Kontakt zur Körperlichkeit, während sie nach den Aristotelikern die Körperlichkeit erst zur Wirklichkeit bringt: »Der Philosoph [d. i. Aristoteles] sagte: Die Seele ist eine Substanz, welche den natürlichen Körper vervollkommnet, den Körper, der das Leben nur in Potenz, d. h. als Möglichkeit besitzt. Plato dagegen sagte: Die Seele ist eine Substanz, die mit dem himmlischen Körper vereint ist, und durch diese Vereinigung ist sie mit den Körpern verbunden und wirkt in ihnen.« (Jisraeli, zit. nach Grözinger 2004, 514)

Die Aristoteliker sehen gemäß dieser Definition eine sehr viel größere Nähe und Verantwortung des Menschen samt seiner Seele in und für diese Welt. Zunächst soll aber gezeigt werden, wie die Aristoteliker die genannte Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, überbrückten. Avraham Ibn, Da’ud (1110– 1180) und Moses Maimonides (1135–1204) tun dies nicht mit Hilfe einer Emanationskette göttlicher Substanz, sondern durch eine Kette von Ursachen und Wirkungen. Danach steht am Anfang von Allem die unbewegliche Ursache aller Ursachen, der unbewegte Beweger, das ist Gott. Ihm folgen zehn rein intelligible Ursachen, es sind die sogenannten zehn Separaten Intellekte. Deren letzter ist der ›Aktive Intellekt‹. Er ist zum einen der ›Schöpfer‹, sprich Verursacher der Welt und zugleich der ›Engel‹, welcher den Menschen mit der zunächst nur potentiellen Anlage des Intellekts ausstattet. Der Intellekt oder die rationale Seele des Menschen ist aber nur eine der menschlichen Seelenstufen. Denn da der Mensch zugleich ein vegetatives und animalisches Wesen ist, hat er mit der Welt der Pflanzen und der Tiere je an deren Seelenqualität Anteil, ist mit ihnen existentiell verwoben. Diese intelligiblen Seelenstufen sind es, welche die Materie bewegen und erst ins Dasein treten lassen.

15  Mittelalter: Jüdisch

Das bedeutet, dass die Aufgabe des Menschen in dieser Welt nicht nur das Streben nach Erkenntnis und die Befreiung aus der Materie sein kann. Da der Mensch in dieser Welt mit allen drei Seelenstufen aufs engste verwoben ist, muss er zu seinem eigenen Wohl und zur eigenen Glückseligkeit alle drei Seelenstufen pflegen und sie in einem gesunden Zustand halten. Und gerade daraus ergibt sich dann auch des Menschen Pflicht, nicht nur seinen Intellekt, sondern auch seine Körperlichkeit und schließlich seine Stellung als Teil der Gesellschaft zu pflegen. Und dazu, so die jüdischen Aristoteliker, sind die Gebote der Tora gegeben. Sie werden nun allesamt als dem Intellekt einsehbare Gebote verstanden, und können wie schon bei Sa’adja nicht der Gottheit dienen, ihr Zweck ist vielmehr die ›Heilung der Seele‹ des Menschen, sprich deren drei Stufen, der rationalen, animalischen und vegetativen. Darum muss das Ziel ›der praktischen Philosophie‹ (filosofija ma’asit) das Erlangen der Glückseligkeit (Eudämonie) des Menschen sein. Und dies wird erreicht durch 1. die ›Verbesserung der Tugenden‹, 2. durch die ›Führung des Hauses‹ und schließlich 3. durch die ›Staatsgesetze‹. Damit ist dank des von den Platonikern verschiedenen Menschenbildes, für den Aristoteliker die Politik ein unverzichtbarer Teil des richtigen religiösen Lebens. Moses Maimonides, für den Gott ebenfalls die unveränderliche prima causa ist, die ihre Wirkung in der Welt über die zehn Separaten Intellekte ausübt, folgt hier Ibn Da’ud, er stellt sich aber der Problematik, dass mit der unveränderlichen prima causa die Welt als ewig verursacht gedacht werden muss und nicht als zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Wirklichkeit getretene. Um diesem Problem zu entgehen spricht Maimonides wie die Platoniker von einem Willen Gottes, der zu einem bestimmten Zeitpunkt die Welt entstehen lassen wollte. Dem Einwurf, dass damit eine Veränderung in der Gottheit und damit dessen Verursachung von einer weiteren vorangegangenen Ursache angenommen werden müsse, begegnet Maimonides mit dem Argument: Der Übergang von der Potenz in die Wirklichkeit, der uns von allem in dieser Welt bekannt ist, trifft für rein intelligible Wesen nicht zu, denn sie sind stets in der Verwirklichung, niemals nur in der noch nicht verwirklichten Möglichkeit. Die oben schon angesprochene Problematik der Möglichkeit der Offenbarung wird bei den Aristotelikern nun ganz dem Aktiven Intellekt und seiner Wirkung auf den menschlichen Intellekt zugeschrieben – der Intellekt ist nun das Bindeglied zwischen der gött-

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lichen und der menschlichen Welt. Und wie schon bei Ibn Da’ud ist die zunächst rein intellektualistische Konzeption des Menschenbildes – nämlich dass der Mensch erst durch seinen Intellekt zum Menschen wird – und die daraus folgenden intellektuelle Religiosität auch bei Maimonides zugleich in die irdischmenschliche Realität eingespannt. Darum muss neben die intellektuelle Vervollkommnung des Menschen eine leibliche treten: »Es ist ja schon bewiesen, dass der Mensch zweierlei Vollkommenheiten besitzen kann, die erste oder die leibliche, und die letzte oder die Vollkommenheit der Seele. Seine erste Vollkommenheit besteht darin, dass er gesund sei und sich im möglichst besten körperlichen Zustande befinde. Dies ist ihm aber nur möglich, wenn er seine Bedürfnisse zu jeder Zeit, da er sie sucht, erreichen kann, nämlich seine Nahrungsmittel und die anderen gewohnten Erfordernisse des Leibes, wie Wohnung, Bad und anderes. Dies kann aber ein einzelnes Individuum allein überhaupt nicht vollständig erreichen. Vielmehr kann der Mensch zu diesem Maße nur durch staatliche Vereinigung gelangen, wie ja bekanntlich der Mensch seiner Natur nach gesellig ist.« (Maimonides, zit. nach Grözinger 2004, 482)

Das heißt, auch das Erreichen der intellektuellen Vollkommenheit ist dem Menschen nur in der menschlichen Gesellschaft möglich. Dies beginnt mit der häuslichen Kindeserziehung, gefolgt von der Bildung in den Schulen bis hin zur philosophischen Bildung. Dieser Weg der intellektuellen Vervollkommnung bedarf aber auch der Abwehr des Unrechtes und des Frevels in der Gesellschaft. Das heißt, diese von Maimonides propagierte intellektualistische jüdische Frömmigkeit braucht ein festes politisches Fundament dessen Bereitstellung mithin ein unverzichtbarer Teil der menschlichen und damit religiösen Pflicht ist: »Wisse aber, [...] dass der zweite [Hauptzweck des Gesetzes], nämlich die Vervollkommnung des Leibes, die in der möglichst besten Regierung des Staates und in der möglichst vortrefflichen Gestaltung der Verhältnisse seiner Individuen besteht, der Natur und der Zeit nach [dem ersten Hauptzweck, der Vervollkommnung der Seele/des Intellektes] vorausgeht.« (Maimonides, zit. nach Grözinger 2004, 483)

Die genannte Reihenfolge von ethischer und intellektueller Bildung ist laut Maimonides auch darin begründet, dass die Ethik ihren Grund nicht in der Ver-

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III Denkströmungen – B Mittelalter

nunft hat (diese dient nur der Erkenntnis), sondern die Ethik hat ihr Fundament in Werturteilen, die entweder der Übereinkunft der Gesellschaft oder auf einem göttlichen Gesetz beruhen. Mit dem letzten Punkt macht Maimonides natürlich ein Zugeständnis an die religiöse Tradition des Judentums.

15.4 Naturrecht Mit der Einführung der sogenannten Vernunftgebote, also Gesetzen, die der Mensch alleine mit Hilfe seiner Vernunft für notwendig erkennt und erlassen kann, für die er also nicht auf eine Offenbarung angewiesen ist, hat Sa’adja in das Judentum den Gedanken eines universalen Gesetzes eingeführt, das für alle Menschen weltweit gültig ist, sofern sie Vernunftwesen sind. Nach Sa’adjas Auffassung, der zunächst alle späteren Philosophen folgten, betrifft diese Aussage im Grunde das gesamte biblische Recht, auch wenn aus mangelnder Erkenntnisfähigkeit des Menschen noch ein Rest nicht erklärbarer Gebote zurückbleibt. Ab dem 14./15. Jahrhundert hat sich in dieser Frage eine neuerliche Debatte angebahnt, die schließlich in die unten zu beschreibende Lehre von der dreifachen Wahrheit mündete. Es war der spanisch jüdische Rabbi und Gelehrte Josef Albo (ca. 1360–1444), der in seinem Buch von den Grund- und Glaubenslehren, angelehnt an Thomas von Aquin, zum ersten Mal von drei unterschiedlichen Gesetzeskategorien sprach und somit von der wenigstens theoretischen Einheitskonzeption seiner vorangehenden Kollegen abweicht (vgl. Albo 1877): »Das Gesetz ist entweder ein natürliches, oder ein bürgerliches, oder ein göttliches. Das natürliche ist gleich für jeden Menschen, jede Zeit und jeden Ort. – Das bürgerliche wird von einem oder mehreren Weisen dem Orte, der Zeit, und der Natur der zu Leitenden gemäß, bestimmt [...] – Das göttliche wird von Gott eingeführt, vermittelst eines Propheten, wie Adam oder Noah, wie die Unterweisung und Gesetz, worin Abraham die Menschen unterrichtete und übte zum Dienst Gottes, auf Dessen Geheiß er sie beschnitt [...].« (Albo 1877, I,7)

Nach Albos Auffassung ist das erste Gesetz natürlich zu nennen, weil es für den Menschen seiner Natur nach vonnöten ist, sei es von einem Weisen oder einem Propheten angeordnet, um Mord, Diebstahl, Raub und dergleichen zu verhindern. Dieses Gesetz

reicht indessen nicht aus, um die weiteren Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Dazu dient das zweite, bürgerliche oder Staats-Gesetz. Dieses ist eine Art Gesellschaftsvertrag, welcher durch die Bewohner eines Landes oder deren Herrscher eingesetzt wird. Das dritte, göttliche Gesetz, soll den Menschen zur Vollkommenheit und Glückseligkeit führen und wird von Gott durch einen oder mehrere herausragende Menschen oder Gelehrte an die Anderen vermittelt (vgl. Albo 1877, I, 5–10). Das Neue ist hier, dass Albo zum Einen unterschiedliche Quellen der Gesetze benennt und zum Anderen unterschiedliche Zielsetzungen, welche diese drei Gesetzeskategorien voneinander unterscheiden. Damit wird gleichsam zum ersten Mal, eine vom religiösen Bereich vollkommen gesonderte Rechtssphäre etabliert. Demgegenüber vertritt der venezianische Rabbiner Leone Modena (1571–1648) die zunächst mittelalterlich erscheinende Auffassung, dass das biblische Recht das gesamte Naturrecht in größter Vollkommenheit umfasse und allen menschlichen Lebensbereichen, Individuum, Familie und Staat genüge, weil es eine von Gott gegebene Ordnung ist. Modena formuliert diese sehr traditionell erscheinende Position allerdings nur, um mit ihr alle spätere religiöse Gesetzgebung, die jüdische, christliche wie muslimische, als menschgemacht abzulehnen. Modena greift also zu einem Traditionsargument, um gegen die spätere Tradition (aller dreier Religionen) zu polemisieren und sie für ungültig zu erklären. Dies ist nichts weniger als ein revolutionärer Befreiungsschlag gegen die rabbinisch-talmudische Rechtsentwicklung. Modena gegenüber bestreitet der tragische Rückkehrer vom ›Marranentum‹ zum rabbinischen Judentum, Uriel da Costa (1583–1640), dass die Tora göttlich sein könne, weil sie dem wirklichen göttlichen Naturrecht in vielen Punkten widerspreche. Das wahre göttliche Naturrecht sieht da Costa in Gesetzen, welche der menschlichen Natur entsprechen. Das göttliche Gesetz ist nach da Costas Auffassung von Gott in die Natur eingeschrieben, deren Teil auch der Mensch ist, weshalb es nach der Schöpfung und der Erschaffung des Menschen keiner Offenbarung mehr bedürfe. Erneut wird die Debatte um das Naturrecht von Moses Mendelssohn aufgenommen und zwar im Rahmen seiner Auffassung vom Judentum als Religion der Vernunft. Ein wesentlicher Grundzug der Religion der Vernunft, so Mendelssohn, sei es, dass sie das dem Menschen obliegende Tun selbst erkennt und auch in dieser Hinsicht autonom und unabhängig von einer

15  Mittelalter: Jüdisch

Offenbarung ist, also aus eigener Einsicht die Forderungen der Ethik erkennen kann. Die so von der Vernunft des Menschen erkannten Gesetze bezeichnet Mendelssohn als ›Naturrecht‹. Dieses Naturrecht regelt die Beziehungen der Menschen untereinander, deren Rechte und Pflichten gegeneinander in einer Weise, die den Menschen seiner Glückseligkeit zuführen soll. Dieses Naturrecht gehört zu dem was Mendelssohn ewige Wahrheiten nennt, die universal und allezeit gültig sind. Demgegenüber gehört die biblische Offenbarung mitsamt ihrem Gesetz laut Mendelssohn zu den zeitlich bedingten Geschichtswahrheiten, die also nicht ewig und nicht universal sind, das heißt, dass sie nur für die Juden Gültigkeit haben. Diese Gesetzgebung habe aber nach ihrer staatsrechtlichen Seite mit der Zerstörung des Ersten Tempels ihr Ende gefunden, während sie hinsichtlich ihrer zeremonialrechtlichen Seite für das Volk der Juden weiterhin Gültigkeit besäße und zwar als pädagogisches Erziehungsinstrument zur Vermittlung religiöser Erkenntnisse.

15.5 Die Frühe Neuzeit – verlängertes Mittelalter oder Neuanfang? Lange galt in der jüdischen Historiografie die Auffassung, das jüdische Mittelalter habe bis zur Aufklärung, hebräisch Haskala, sprich bis zu Mendelssohn, gedauert. Erst in neuerer Zeit hat man wahrgenommen, dass es in der jüdischen Geistesgeschichte wenigstens seit dem 16. Jahrhundert sehr bewusste Brüche mit dem Mittelalter gegeben hat, welche die bis dahin geltenden Grundlagen in Frage stellten. Der bedeutungsvollste Bruch war die Verabschiedung des mittelalterlichen Dogmas, dass Vernunft und Offenbarung identisch seien. Desweiteren entstand durch Asarja dei Rossi (ca. 1511–1578) eine kritische Historiografie, welche sich nicht nur auf die zum Teil sehr historiografiefernen Zeugnisse der talmudischen Antike stützte, sondern alle verfügbare Quellen auch aus nichtjüdischen Traditionsbeständen heranzog (vgl. Grözinger 2015). Dadurch wurden unterschiedliche Sichtweisen des historischen Geschehens erkannt, die sich auch auf die erheblich voneinander abweichenden Kalender bezog. Eine weitere bedeutsame Entwicklung war das im Milieu der Universitäten für die jüdischen Studenten nötig gewordene Entstehen von Enzyklopädien, in welchen das überkommene religiös-historiosofische und theologische Wissen nur eine Instanz unter den vielfältigen davon abweichenden

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Wissensbeständen war, was zugleich zu Relativierungen führte. Außerdem hatte die Vertreibung der Juden aus der pyrenäischen Halbinsel (1492 und 1498) eine Belebung messianischer Schriftstellerei und auch das vermehrte Auftreten von Messiasprätendenten zur Folge, die massiv und konkret in das politische Geschehen eingreifen wollten. Nach all den misslungenen messianischen Anläufen darf die von dem serbischen Rabbiner David Alkalai (1798–1878) propagierte apokalyptisch-messianische Deutung einer aktiven zionistischen Politik für das gelungene Ende einer solchen messianischen Politik des neuzeitlichen Judentums betrachtet werden. Wie schon erwähnt, ist der wesentlichste Bruch mit dem Mittelalter die Verabschiedung des Dogmas, dass Vernunft und Offenbarung vollkommen übereinstimmten. Es waren zwei durch fast 150 Jahre voneinander getrennte Verwandte, welche diesen Bruch herbeiführten, nämlich Elija Delmedigo (1460–1497) und Josef Schlomo Delmedigo (1591–1655). Sie veränderten dieses identitäre mittelalterliche Verständnis von Wahrheit und damit das Verhältnis von Philosophie und Offenbarung grundlegend. Paradigmatisch für die Zeit ist der Arzt, Mathematiker, Philosoph und Kabbalist Josef Schlomo Delmedigo (vgl. Grözinger 2009, 62–84). Er konnte diese in seiner Person vereinten so unterschiedlichen Wissenschaften allesamt ernst nehmen, und sie nachhaltig betreiben, weil er mit dem Dogma von der einen Wahrheit gebrochen hatte und eine Lehre von den drei Wahrheiten vertrat. Das von den Menschen erwerbbare Wissen ist laut Josef Delmedigo von dreifacher Natur: An erster Stelle steht die Erkenntnis, oder das Wissen (hebräisch: Daʽat), hernach folgen die Überzeugungen, oder das Denken (hebräisch: Machschava), und schließlich kommt der Glaube (hebräisch: ʼEmuna). 1. Das Wissen, das an erster Stelle rangiert, ist die aus der Sinneswahrnehmung gewonnene Erkenntnis. Sie ist die sicherste und die unbestreitbare Wahrheit, der sich alle anderen Erkenntnisse beugen müssen. 2. Weniger gewiss als das zuerst genannte Wissen ist die Überzeugung (Denken). Denn sie stützt sich nur auf dialektisch-argumentative Schlussfolgerungen, die aus der communis opinio oder aus Mehrheitsmeinungen abgeleitet werden – zu diesen Überzeugungen gehört nach Delmedigo die gesamte Philosophie. 3. Das dritte Wissen schließlich, der ›Glaube‹, kann sich nur auf Zeugnisse von anderen und auf die Tradition stützen. Mit dieser Dreiteilung des Wissens ist jedoch noch nicht das Wesentliche gesagt. Für Delmedigo geht es nicht nur um ein Nebeneinander von drei unter-

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III Denkströmungen – B Mittelalter

schiedlichen Wissensformen. Ihm zufolge unterliegen diese drei Weisen des Erkenntnisgewinns und das daraus resultierende Wissen einer strengen Hierarchie. 1. Die stärkste Position hat die auf die Sinneswahrnehmung gestützte Erkenntnis. Sie verdrängt in jedem Falle die beiden anderen Erkenntnisweisen, die Überzeugung und den Glauben, wenn ihr diese widersprechen. Überzeugung und Glaube können irren und müssen daher vor dem Sinnesbeweis weichen. 2. Wichtiger ist nun die nächste Folgerung hinsichtlich des Verhältnisses von Glauben und Denken (Überzeugung). Der Glaube und die Überzeugung, sprich die Philosophie, können sich gegenseitig nicht widerlegen, denn die Überzeugung (Denken) hängt immer von einer Reihe von Faktoren ab, die kontingent, oder gar subjektiv sind. Das bedeutet, wo Überzeugungen und Glaubensaussagen miteinander im Widerspruch stehen, gibt es keinen Grund, Glaubensaussagen fallen zu lassen. Und gerade diese letzte Aussage ist für Josef Delmedigos Position das Entscheidende. Da er die philosophischen Aussagen für nichts als Meinungen oder Überzeugungen hält, haben philosophische Aussagen nicht die Macht, Glaubensüberzeugungen umzustürzen. Philosophie und Glaube stehen gleichrangig nebeneinander. Es gibt also drei Wahrheiten: Die naturwissenschaftliche, die philosophische und die Glaubenswahrheit. Nur die erste Wahrheit ist absolut. Vor ihr müssen Philosophie und Glaube weichen. Hingegen können sich philosophische und Glaubenswahrheit nicht gegenseitig widerlegen. Solche Auffassungen vom Gewicht der drei unterschiedlichen Erkenntnisquellen hatten natürlich sowohl aus Sicht des Glaubens wie auch aus Sicht der empirischen sinnengestützten Wissenschaft fast zwangsläufig eine Marginalisierung der Philosophie innerhalb des Judentums zur Folge, die tatsächlich eingetreten ist (vgl. Grözinger 2007). Zu dieser Marginalisierung der mittelalterlichen jüdischen Philosophie gehörte, wie schon bei Ḥasdai Kreskas (1340–1410), eine Infragestellung der gesamten aristotelischen Metaphysik von den intelligiblen Separaten Intellekten und mit ihnen zugleich der aristotelische Psychologie, die ja für Maimonides eine wichtige Rolle für die Begründung seines politischen Denkens spielte. Die Höherbewertung der empirischen Erkenntnis gegenüber den Theorien der ›göttlichen Philosophen‹ vom Schlage der Aristoteliker hat nun auch eine Hinwendung zur Realpolitik zur Folge, die sich nicht nur in Theorien ergeht. Darum sagt Delmedigo:

»Da preise ich diejenigen, welche Handwerkskünste zum Nutzen der Allgemeinheit erfinden, die Metallschmelzer und die göttlichen Philosophen, die Wahrheiten ihres Philosophierens vor Augen führen, sei es bei der Seefahrt oder der Feldarbeit, bei der Technik des Wasserschöpfens und dergleichen für die Öffentlichkeit nutzbringende Dinge, sei es in Friedens-, oder in Kriegszeiten. Denn diese sind die vollkommenen Weisen, die solche ehrfurchtheischenden Dinge erfanden, nicht die Philosophen, die nur Wörter niederschreiben.« (Delmedigo 1629, 9a)

Die hier vollzogene Trennung von Religion und real politischem Denken führte bei Spinoza, der tief von seiner jüdisch-philosophischen Bildung beeinflusst war, zu der neben Maimonides auch Josef Schlomo Delmedigo gehörte, dazu, die auf die Vernunft gegründete Religion von den Gesetzen zu unterscheiden, welche von einer menschlichen Gesellschaft für das Zusammenleben in einem Staat erlassenen wurden – als Letzteres betrachtete Spinoza auch das altisraelitische biblische Gesetz des Pentateuch, das als Gesetz des altjüdischen Staates zu betrachten ist (vgl. Grözinger 2009). Ihm folgte letztlich auch der paradigmatische Aufklärer des Judentums, Moses Mendelssohn, der grundsätzlich Staat und Kirche trennen wollte, wiewohl er im biblischen Gesetz noch eine vollkommene Verflechtung von Religion und Staat sah, die allerdings mit der Zerstörung des Ersten Tempels (587 v. u. Z.) ein für alle Male zu Ende gekommen sei (vgl. ebd.). Das Staatliche ist, so Mendelssohn, seitdem ein eigener Bereich, neben der Religion. Der Staat hat zur Durchsetzung seiner Ordnung das Recht, Gewalt anzuwenden, die Religion darf nur überzeugen wollen. Daraus folgt, dass das politische Denken und Handeln den gesellschaftsimmanenten Realitäten zu folgen hat, die von den der Religion erlaubten Mitteln getrennt sind. Die Religion darf das staatliche Handeln allenfalls durch Argumente und Erziehung unterstützen. Ein anderer jüdischer Aufklärer, Mordechai Gumpel Schnaber-Levison (1741–1797), nimmt die Debatte von den verschiedenen Wahrheiten auf, will mit ihr aber vor allem zeigen, dass Glaube und Naturwissenschaften nie miteinander kollidieren können (vgl. ebd.). Er meint, dass es einerseits alleine die empirischen Wissenschaften sind, welche bleibende Wahrheiten, und das heißt experimentell nachprüfbare ewige Wahrheit verschaffen können. Demgegenüber ist der Glaube, oder präziser das Glaubenswissen, etwas, das zum einen die Vernunft übersteigt, und zum

15  Mittelalter: Jüdisch

anderen veränderlich ist und der Zeit unterliegt, weil es auf sich verändernden Gegebenheiten beruht, also können Glaube und wissenschaftliche Wahrheit nicht miteinander in Konflikt geraten, ihr Gegenstand und ihre Methodik sind verschieden. Mit dieser Differenzierung wollte Schnaber vor allem die Freiheit der Wissenschaft begründen, einer Wissenschaft, die sich im Gegensatz zum mittelalterlichen Denken, ganz auf Erfahrung stützt und sich darum in viele verschiedene Wissenschaften aufgliedert: 1. Die Logik und Dialektik, 2. Die Gotteswissenschaft (Theologie) im Sinne der Entfaltung eines Gottesbildes aus der Naturerkenntnis, 3. Die Wissenschaft von den Körpern (Physik), sie widmet sich dem intellektuellen und psychischen Innen des Menschen, der Ethik, Ökonomie (Hausführung), der Politik (Handeln der Nation), Polizei (Leitung des Staates) etc. und 5. Die Ontologie zu der auch Angelologie und Gotteswissenschaft gehören. Zur Beurteilung seines Wissenschaftsbegriffes muss man wissen, dass Schnaber-Levison im Gefolge von Newton die mittelalterliche Theorie von den alleine durch intelligible Seelen oder Intellekte bewegten Körper abweist, und mit Newton an die der Materie innewohnenden Kräfte, insbesondere die Gravitationskraft, glaubt, welche die Bewegung der Körper, inklusive der Gestirne verursacht. Als noch gläubiger Jude übernimmt Schnaber-Levison die von William Derham (1657–1735) entwickelte und von Carl von Linné weitergetragene sogenannte Physiko-Theologie, welche die den Körpern und auch der menschlichen Seele innewohnende Kraft als von Gott geschaffen und erhalten betrachtet. Bezüglich der politischen Wissenschaft übernimmt Schnaber die wesentlichen Gedanken von Maimonides, wonach politisches Denken und Handeln wegen der unterschiedlichen Veranlagung der Menschen, die stets zu Konflikten führt, gefordert ist. Auch wenn Schnaber damit der Auffassung des Maimonides folgt, die Gesetze der Tora seien ein offenbartes dem gesellschaftlichen Zusammenleben dienendes Gesetz, nimmt er dieser Offenbarung gegenüber doch eine für ihn charakteristische Haltung ein. Die prophetische Offenbarung ist für Schnaber nicht wie bei Maimonides eine Frucht der dem Menschen innewohnenden göttlich-angelischen Vernunft, sondern, John Locke (1632–1704) folgend, eine intuitive spontane Erkenntnis, die nicht der Sinneswahrnehmung und der Schlussfolgerung durch die Vernunft entspringt. Die Wahrheit dieser Gesetze ist alleine Glaubenssache und nicht unveränderliche, empirisch nachweisbare

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Wahrheit. Sie unterliegt damit letztlich dem von Schnaber zugleich nachgereichten Prinzip: »Und die Tora hat danach deren Erforschung befohlen und das Erbringen von Beweisen für sie.« Damit ist auch die politische Wissenschaft aufgerufen, für die Regelungen der biblischen Gesetze den Wahrheitsbeweis zu erbringen, wenn anders sie dann nicht der Vergänglichkeit der Glaubensgegenstände unterliegen.

15.6 Die traditionellen Richtungen Neben diesen hier skizzierten Linien des jüdischen Denkens in Mittelalter und Neuzeit, verlaufen, wie nicht anders zu erwarten, sehr traditionelle, wenn auch nicht der Originalität entbehrende Entwürfe vom Judentum (vgl. Grözinger 2009). Auch da wo nach den denkerischen Umbrüchen der mittelalterlichen Philosophie und ihrem sehr vielfältigen Widerpart der Kabbala (vgl. Grözinger 2005) die antiken rabbinischen Traditionen in den Vordergrund gestellt werden, geschieht dies nicht einfach in einer Wiederholung, sondern gerade in Auseinandersetzung mit den neuen Denkrichtungen. Dies geschah teilweise im Widerspruch, teilweise in der Rezeption und Integration, damit aber stets in einer Neuinterpretation der alten Traditionen, woraus sich ab dem 16. Jahrhundert das entwickelte, was man seit dem 19. Jahrhundert die jüdische Orthodoxie zu nennen pflegte. Sie ist meist ein Kompositum aus Elementen der biblischen und altrabbinisch-talmudischen Traditionen mit Elementen der verschiedenen Stränge der Kabbala und der philosophischen Konzeptionen. Diese Verbindungen prägen bis heute die jüdische Orthodoxie, die im Vergleich mit dem altrabbinischen Denken ein erheblich verändertes Profil erlangte. Da ist zum Beispiel der sagenhafte Maharal von Prag, Jehuda Liwaj Ben Bezalel (1512/26–1609), der bei einer Teilablehnung der aristotelischen Weltsicht, zunächst eine platonisierende Deutung der altrabbinisch-biblischen Auffassungen vorträgt und dabei die kosmologischen Begrifflichkeiten der Philosophen in anthropologische Qualitätsmerkmale überträgt, worin er wieder dem Aristoteliker Maimonides näher steht – Ziel des Menschen ist für ihn die individuelle Annäherung des Menschen an die göttlichen Qualitäten. Der Krakauer Moses Isserles (1525/30–1572) transformierte die Texte der verschiedenen Traditionen mit Hilfe einer Entsprechungslehre von kosmischen Gegebenheiten und religiösem Ritus zu einer symbolischen rituellen Frömmigkeit. Ḥajjim aus Woloschyn (1749–1821)

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III Denkströmungen – B Mittelalter

verwandelte die theurgische Kabbala in eine rabbinische Tora-Frömmigkeit mit mystischem Unterton.

15.7 Ausblick auf das 19.  Jahrhundert Das jüdische Denken des 19. Jahrhunderts ist durch zwei gegenläufige Linien gekennzeichnet. Die unter dem staatlichen Druck voranschreitende Konfessionalisierung und Ent-Ethnisierung des Judentums führte dazu, dass sich die jüdischen ›Religionsphilosophen‹ mit dem Judentum vorwiegend unter dem rein religiösen Aspekt befassten, dem alle politischen Ambitionen fehlen. Demgegenüber haben die im 19. Jahrhundert auftretenden frühen Zionisten natürlicherweise die Politik ins Zentrum ihres Denkens gerückt. Zu nennen sind vor allen Zwi Hirsch Kalischer (1795– 1874) und Moses Hess (1812–1875). Letzterer hat in seinem 1862 erschienenen Buch Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage die jüdische Politik zur vorrangigsten Aufgabe und Pflicht des Judentums erklärt. Angesichts der europäischen Nationalbewegungen schreibt Hess: »Zu den todtgeglaubten Völkern, welche im Bewusstsein ihrer geschichtlichen Aufgabe ihre Nationalitätsrechte geltend machen dürfen, gehört unstreitig auch das jüdische Volk, das nicht umsonst zwei Jahrtausende hindurch den Stürmen der Weltgeschichte getrotzt, und wohin auch die Fluth der Ereignisse es getragen, von allen Enden der Welt aus den Blick stets nach Jerusalem gerichtet hat und noch richtet.« (Hess, zit. nach Grözinger 2015, 75)

Die jüdische Religion ist für Hess nichts weniger als ein Nationalkultus. Hess, der Autor einer Philosophie der Tat (1843), entfaltete in seinem Rom und Jerusalem ein detailliertes politisches Programm, das nur wenig der späteren staatspolitischen Konzeptionen von Theodor Herzl (1860–1904) nachstand. Die Begründung des Staates Israel 1948 hat diesen Teil des Judentums wieder vollkommen in die politische Arena dieser Welt zurückgebracht. In der Entwicklung des jüdischen Rechtes, der Halacha, gab es zunächst nicht so vehemente Umbrüche, eher eine kontinuierliche Entwicklung, die das politische Element mal mehr, mal weniger einbezog. Dies sollte sich nach der Schoah dramatisch ändern, als orthodoxe Stimmen nachdrücklich eine politische, nicht nur individualreligiöse, Neugestaltung der Halacha forderten, so die amerikanischen Rabbiner Irving

Yizchak Greenberg (geb. 1933) und Elieser Berkovits (190 –1995), aber auch die Philosophen Emanuel Lévinas (1905/6–1995) und Hans Jonas (1903–1993) sind hier zu nennen, die von einer zunehmenden Verantwortung des Menschen bei einer voranschreitenden Unsichtbarkeit Gottes reden (vgl. Grözinger 2015). In der modernen Debatte in Israel wird auch von Seiten ›orthodoxer‹ Autoren die Frage erörtert, ob die Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse in der Halacha von den historischen, sozialen und politischen Umständen beeinflusst waren, oder nur einem Halacha-internen Diskurs folgten. Für die Verfechter der ersteren Position steht hinter dieser Auseinandersetzung natürlich der Wille, auch in der Gegenwart für eine realpolitische Novellierung der Halacha zu kämpfen. Eine solche Entwicklung forderte sogar Jeschajahu Leibowitz, der eine Trennung von Staat und Religion forderte, aber zugleich sah, dass eine aufrichtige und konsequente Befolgung der religiösen Gesetze nur dann möglich sein wird, wenn auch die orthodoxen Juden an der Erhaltung des jüdischen Staates beteiligt werden können, sprich auch am Schabbat öffentliche Arbeiten verrichten und Wehrdienst leisten können. Solche Arbeiten, meint Leibowitz, müssten wie die Arbeiten am früheren Tempel als national-religiöse Pflichten auch am Schabbat erlaubt sein. Denn, es gehe nicht an, dass man einige Juden mit solchen Arbeiten, die nach der bisherigen Halacha verboten sind, belastet und selbst im orthodoxen Reservat zugleich von diesen Arbeiten genießt (vgl. Grözinger 2018). Religion und Politik müssen eine neue Verbindung eingehen – wogegen sich allerdings die Ultraorthodoxen, welche den Staat Israel ohnehin ablehnen, vehement wehren. Literatur

Albo, Josef: Sefer ha-Ikkarim. Warschau 1877. Biale, David: Power and Powerlessness in Jewish History. New York 1986. Delmedigo, Josef Schlomo: Sefer ha-Mazref la-Ḥochma. In: Ders.: Ta’alumot Ḥochma. Basel 1629. Graetz, Michael: Judentum und Moderne: Die Rolle des aufsteigenden Bürgertums im Politisierungsprozeß der Juden. In: Grözinger, Karl E. (Hg.): Judentum im deutschen Sprachraum. Frankfurt a. M. 1991. Grözinger, Karl E.: »Jüdische Philosophie«. Ein zeitbedingter Schritt in der Geschichte rationaler jüdischer Denkkulturen. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 11, H. 2 (2017), 297–321. Grözinger, Karl E.: Der Staat Israel und das jüdische Gesetz: Eine moderne Kontroverse. In: Hajatpour, Reza/Meyer, Thomas/Tamer, Georges/Tzfadya, Esra (Hg.): Philosophy and Law. Islamic and Jewish Thought Between the Poles of Theocracy and Theology. Berlin 2018.

15  Mittelalter: Jüdisch Grözinger, Karl E.: Jüdisches Denken. Bd. 1: Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles. Frankfurt a. M. 2004. Grözinger, Karl E.: Jüdisches Denken. Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zu Ḥasidismus. Frankfurt a. M. 2005. Grözinger, Karl E.: Jüdisches Denken. Bd. 3: Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2009 Grözinger, Karl E.: Jüdisches Denken. Bd. 4: Zionismus und Schoah. Frankfurt a. M. 2015. Ha-Am, Achad: Nicht dies ist der Weg. In: Ders.: Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze. Bd. 1. Dt. von Israel Friedländer und Harry Torczyner. Berlin 1923. Hess, Moses: Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage, Briefe und Noten. Hg. von Dr. [Max Isidor] Bodenheimer. Leipzig 1899. Leibowitz, Yeshayahu: Jahadut, ’Am jehudi u-Medinat Jisra’el. Tel Aviv 1975.

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Litt, Stefan (Hg.): Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650–1850. Göttingen 2013. Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In: Thom, Martina (Hg.): Moses Mendelssohn, Schriften über Religion und Aufklärung. Darmstadt 1989. Wolf, Gerson: Die alten Statuten der jüdischen Gemeinden in Mähren sammt den nachfolgenden Synodalbeschlüssen. Wien 1880. Zink, Wolfgang Se’ev: Synagogenordnungen in Hessen 1815–1848. Formen, Probleme und Ergebnisse des Wandels synagogaler Gottesdienstgestaltung und ihrer Institutionen im frühen 19. Jahrhundert. Aachen 1998.

Karl E. Grözinger

C Frühe Neuzeit 16 Staatsraisonlehre/ Souveränismus Das Verständnis von Souveränität unterliegt in erheblichem Maße historischen und ideengeschichtlichen Veränderungen: »Von allen juristischen Begriffen ist der Begriff der Souveränität am meisten von aktuellen Interessen beherrscht« (Schmitt 1922, 25). Souveränität ist daher in jeder Epoche neu zu bestimmen. »Letztlich ist die Souveränität stets die Antwort auf eine bestimmte historische Problemlage« (Häberle 1967, 265). Daher kann nur bedingt auf Souveränitätskonzepte zurückgegriffen werden, die aus vergangenen Jahrhunderten stammen. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen für staatliches Handeln. Man denke nur an die starke Vernetzung, die für das 21. Jahrhundert charakteristisch, im 15. Jahrhundert hingegen undenkbar war. Der Staat des Früh- und Hochmittelalters war ein Personenverbandsstaat, der sich auf ein persönliches auf Gegenseitigkeit beruhendes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehnsherrn und Vasallen gründete. Die Regierungsgewalt war weder ›öffentlich‹, noch in der Hand eines Monarchen konzentriert. Stattdessen bestand ein dezentralisiertes, lockeres Gebilde, das sich aus mehreren Lehnsherrschaften zusammensetzte und noch kein zusammenhängendes Territorium umfasste. Erst im Territorialstaat der Frühen Neuzeit wurde das Territorium zur Grundlage des Herrschaftsanspruchs des Landesfürsten, der sich auch auf die Bevölkerung dieses Territoriums erstreckte. Trotz dieser Veränderungen der Staatlichkeit gibt es einige Kernbestandteile der Souveränität, die ihre Gültigkeit auch über die Jahrhunderte behalten haben. Es lohnt sich daher, auf die Souveränitätskonzepte früherer Staatsdenker zuzugreifen. Dabei ist die Souveränitätslehre des französischen Parlamentsjuristen Jean Bodin (1529–1596) von besonderer Relevanz.

16.1 Der Begriff Souveränität Souveränität leitet sich als Begriff vom französischen Wort ›souveraineté‹ ab, das höchste Staatsgewalt bedeutet. Es ist das Recht zur Letztentscheidung sowohl nach innen wie nach außen. Dabei handelt es sich also um einen doppelten Souveränitätsbegriff als Ausdruck sowohl der innerstaatlichen als auch der zwischenstaatlichen Ordnung (kritisch: Haltern 2007, 9). In der entgrenzten Welt von heute ist Beides eng miteinander verflochten. Nach wie vor gilt jedoch: Souverän ist nur, wer allein und letztverbindlich über das Wohl und Wehe seiner Bürger und Bürgerinnen entscheidet. Dazu gehören Entscheidungen über Währung und Steuern, über Beitritt oder Verlassen von Bündnissen, über Stärke und Bewaffnung der eigenen Streitkräfte, über die Stationierung fremder Truppen auf eigenem Territorium und letztlich über Krieg und Frieden. Bei der Souveränität geht es um die Einheit der Staatsgewalt (Huber 1934, 950 ff.), die zunächst in der Person des Monarchen sichtbar als politischer Körper zum Ausdruck kam (Därmann 2009, 80–97; Koschorke u. a. 2007; Skinner 2012). Zugleich handelt es sich um den Gehalt von Staatlichkeit und um das Verhältnis von Staat und Recht (Grimm 2009). Dies betrifft in besonderem Maße das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern und Bürgerinnen. Jean Bodin hat in seinen Sechs Büchern über die Republik folgende Merkmale der Souveränität herausgearbeitet, die unveräußerlich sind: 1. Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, 2. letztinstanzliche Gerichtsbarkeit, 3. Recht, Amtsträger ein- und abzusetzen, 4. Besteuerungsrecht, 5. Begnadigungs- und Dispensierungsrecht, 6. Recht, den Geldwert zu bestimmen, 7. Recht, einen Eid zu fordern. Allen Souveränitätsvorstellungen liegt ein ganz bestimmtes Menschenbild zugrunde. Bei der Souveränitätsdiskussion geht es um Personen, Institutionen und Verfahren, aber auch um Symbolik, Verkörperungen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_16

16 Staatsraisonlehre/Souveränismus

und nicht zuletzt um Emotionen. Die Debatte um die Souveränität wirkt in diesem Zusammenhang wie eine Art Katalysator: An der Souveränität prallen die gegensätzlichen Auffassungen aufeinander. Sieht die eine, eher ›konservative‹ Seite darin eine Art ›Fels in der Brandung‹, um im Mahlstrom der Geschichte Halt zu finden, so ist es für die andere, eher ›progressive‹ Seite die Wurzel allen Übels und der Quell der Unterdrückung, die möglichst zu verschwinden hat.

16.2 Zwei Grundtypen der Souveränität Will man der Entwicklungsgeschichte der Souveränität nachgehen, dann empfiehlt es sich, zwischen der ideengeschichtlichen und der realgeschichtlichen Seite zu unterscheiden. Beide Entwicklungen laufen keineswegs immer synchron, wenn sie sich auch gegenseitig beeinflussen. Während die Idee der Volkssouveränität bereits bei den Staatsdenkern des 17. Jahrhunderts weit verbreitet war (Skinner 2013), kommt ihre politische Realisierung erst viel später, nämlich am Ende des 18. Jahrhunderts, in Gang. Dabei lassen sich nach dem Träger der Souveränität zunächst zwei Grundtypen unterscheiden, die Fürstensouveränität und die Volkssouveränität. Als Fürstensouveränität beschreibt der französische Jurist und Staatsdenker Jean Bodin die summa potestas (höchste Gewalt) des absoluten Monarchen. Der Ausspruch »L ’ état, c’est moi« (Der Staat bin ich) wird bekanntlich dem französischen König Ludwig XIV. (1638–1715) in den Mund gelegt, der dies am 13. April 1655 im Alter von 16 Jahren zu den Mitgliedern des Parlaments gesagt haben soll, als diese über die von ihm erlassenen Edikte diskutieren wollten. Dem Monarchen schien jede Diskussion seiner Anordnungen nicht nur als überflüssig, sondern sogar als unzulässig. Dieser Ausspruch bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass der absolutistische Monarch zu seiner Zeit allein und unbestritten der Souverän war, die Fürstensouveränität wird zugleich als Staatssouveränität (beides ist nach dieser Vorstellung identisch) gedacht. Diese Auffassung ist auch für spätere Souveränitätskonzepte wichtig, da dort der Fürst durch eine andere Person bzw. Institution ersetzt wird. Im Gefolge der Französischen Revolution (1789) wird hingegen eine ganz eigene Art von Souveränität propagiert, die Volkssouveränität, die heute jeder modernen Verfassung – zumindest formal – zugrunde liegt. Der Ursprung jeder Art von Souveränität liegt danach beim Volk. Dies ist eine zentrale Prämisse, die

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später immer wieder in Frage gestellt oder zumindest relativiert wird. Ein erster Schritt wird mit der Magna Charta vom 15. Juni 1215 getan, die die Macht des Königs durch Vertrag begrenzt. Noch geht es nicht um das Volk, sondern um den Adel, dem in England Rechte gegenüber der Krone einräumt werden. Nach und nach wird die Allmacht des Monarchen mit der allmählichen Ausdifferenzierung einer Regierung und eines ›Parlaments‹, das freilich zunächst noch keine gewählte Volksvertretung ist, zurückgedrängt. Allerdings geschieht dies von Staat zu Staat in unterschiedlichem Maße und Tempo, sowie zu verschiedenen Zeiten. In England findet die Teilung der Gewalten, die 1748 der französische Jurist und Staatstheoretiker Charles de Montesquieu (1689–1755) zu seiner Schrift De L ’esprit de Lois (Über den Geist der Gesetze) inspiriert hat (Montesquieu 1994), also bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt statt. Der machtvolle Monarch, den Bodin im Blick hat, wird dann insbesondere im Gefolge der Französischen Revolution zunächst zu einem an die Verfassung gebundenen konstitutionellen Monarchen, um später entweder durch einen Präsidenten ersetzt und/oder auf eine rein repräsentative Funktion zurückgestutzt zu werden. Zugleich bewirkt die Französische Revolution eine ungeheure Machtballung bei der Zentrale, die es so vorher nicht gegeben hat. Noch in der Weimarer Republik kreist die staatstheoretische Diskussion um die Frage, mit welchem methodischen und verfassungspraktischen Instrumentarium der Verlust der Monarchie unter den Bedingungen der Republik kompensiert werden kann. Die Monarchie wird auch nach ihrem Sturz von Vielen als einheitsstiftend und daher als unverzichtbar empfunden (Hobe 1998, 73; vgl. Gangl 2011). Wer oder was kann an die Stelle des Monarchen treten? Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Kieler Matrosenaufstand, dem Abdanken des Kaisers und dem Ausrufen der Republik ist es die Verfassungsinstitution des direkt vom Volk gewählten Reichspräsidenten, auf welche die Souveränität bezogen werden kann. Es ist eine Kombination der zwei Arten von Souveränität. Dem Grundsatz der Volkssouveränität wird Genüge getan, indem der Reichspräsident direkt durch das Volk gewählt wird. Zugleich verfügt der Reichspräsident aber auch über Befugnisse, die sich durchaus mit denen eines Monarchen vergleichen und an die Fürstensouveränität denken lassen. Mit der Wahl des greisen Feldmarschalls Paul von Hindenburg, der als Sieger von Tannenberg gefeiert wurde, zum Reichspräsidenten im Jahre 1925 hatte die Republik einen ›Ersatzkaiser‹ erhalten.

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III Denkströmungen – C Frühe Neuzeit

Carl Schmitt hat diesen Gedanken in seiner Schrift Der Hüter der Verfassung (1931) ausgeführt, in der er die zentrale Rolle des Reichspräsidenten im Verfassungsgefüge der Weimarer Republik besonders hervorgehoben hat. Dieser Gedanke liegt durchaus nicht fern, denn der Reichspräsident hat – hierin dem amerikanischen Präsidenten nicht unähnlich – nach der Verfassung den Oberbefehl über die »gesamte Wehrmacht des Reiches« (Art. 47 WRV). Nur der Reichspräsident ist befugt, notfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen (Art. 48 Abs. 2 WRV). Schon hier zeigen sich aber die Einschränkungen der präsidialen Macht, denn der Reichspräsident hat von diesen Maßnahmen nicht nur unverzüglich den Reichstag zu unterrichten, vielmehr sind diese Maßnahmen auch auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Und noch wichtiger erscheint die Festlegung in der Verfassung: »Kriegserklärung und Friedensschluss erfolgen durch Reichsgesetz« (Art. 45 Abs. 2 WRV), mit anderen Worten also durch die Legislative und nicht durch die Exekutive. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es allerdings nirgends in Europa noch eine Person, die allein über Krieg und Frieden, gewissermaßen die Quintessenz der Souveränität, entscheiden kann. Im Frankreich der Fünften Republik ist freilich der Präsident nach Artikel 15 der Verfassung vom 4. Oktober 1958 auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Charles de Gaulle hatte sich bei der Formulierung dieser Verfassungsvorschrift von dem Weimarer Vorbild inspirieren lassen und sich die neue Verfassung ›auf den Leib geschneidert‹. Zumeist sind es heute jedoch zahlreiche Institutionen, deren Zusammenwirken die Verfassung bei dieser schwierigen Entscheidung verlangt. Dennoch liegt die personale Komponente der Souveränität auch heute noch – jedenfalls als gedankliche Grundlage – fast allen Souveränitätsvorstellungen zugrunde.

16.3 Grundlagen Bereits vor vielen hundert Jahren hat Bodin die theoretischen Grundlagen für das Souveränitätsdenken in seinen Sechs Büchern vom Staat (1576) gelegt: »Unter der Souveränität ist die dem Staat eigene, absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen [...]« (Bodin 1981, Buch I, Kap. 8, 205). Danach bedeutet Souveränität die höchste Befehlsgewalt im Staate (majestas) (Bodin 1981, 19), sie ist Ausdruck der höchsten Macht (potestas), der Einheit und Unteil-

barkeit. »Souverän ist, wer allen Untertanen das Gesetz vorschreiben kann, über Krieg und Frieden entscheidet, die Beamten und Magistrate im Lande ernennt, Steuern erhebt, von ihnen befreit, wen er will, und zum Tode Verurteilte begnadigt« (Bodin 1981, Buch I, Kap. 10, 285 f.). In einer höchst gefährlichen Krise Frankreichs – verursacht durch konfessionelle Auseinandersetzungen – hat Bodin den (letztlich erfolgreichen) Versuch unternommen, den König zur höchsten Autorität des Staates zu stilisieren, der auch den Bürgerkrieg beenden kann. Immerhin erschien Bodins Buch vier Jahre nach der blutigen Bartholomäusnacht vom 24. August 1572, in der Tausende von Hugenotten ermordet worden sind. Bodin, der selbst Hugenotte ist, benutzt die Souveränitätsidee dazu, den französischen Staat mit Hilfe des Monarchen gegen die streitenden Parteien im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts zu verteidigen (Steiger 1966, 18). Aus dem sakral geweihten Träger einer Krone wird so ein souveränes Staatsoberhaupt, aus dem superior ein supremus (aus dem Höheren ein Höchster, Heller 1992, 31–202, 35). Wichtigste Aufgabe des Monarchen ist nunmehr die Herstellung und Aufrechterhaltung des inneren Friedens. Dabei unterliegt der Monarch zwar nicht den von Menschen gemachten Gesetzen, aber doch naturrechtlichen und moralischen Bindungen (lois divines et naturelles). Bodin selbst formuliert bereits eindeutig: Der souveräne Fürst ist nicht befugt, »die Grenzen der Naturgesetze und des Gesetzes Gottes [...] zu überschreiten [...]« (Bodin 1981, 235). Verletzt der Souverän diese Grundsätze, dürfen die Untertanen ihm den Gehorsam verweigern (Bodin 1981, Buch III, Kap. 4, 293 ff.; Quaritsch 1970, 41). Erst der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes (1588–1679) stellt 1651 in seinem Leviathan mit einem berühmt gewordenen Satz fest, dass nicht die Wahrheit, sondern die staatliche Autorität Gesetze gibt: »Auctoritas non veritas facit legem« (Hobbes 1992). Auch für Hobbes selbst ist der Bürgerkrieg der Ausgangspunkt. Er selbst flieht nach Frankreich, als 1647 die Revolution in England beginnt (vgl. Voigt 2000, 17).

16.4 Das Westfälische Staatensystem Für die äußere Souveränität ist seit dem 17. Jahrhundert vor allem der Westfälische Frieden von 1648 von zentraler Bedeutung. Mit ihm wird nicht nur der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) durch Vertrag beendet, sondern auch die Souveränität der europäi-

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schen Fürsten und mit ihr das Recht zum Krieg (ius ad bellum) anerkannt. Fortan beruht das europäische Staatensystem, das Westfälische System, auf dem Prinzip der ›Gleichheit‹ bzw. Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Staaten. Jeder Fürst, auch der Herrscher eines kleinen Landes, kann einem anderen Fürsten den Krieg erklären. Denn zur fürstlichen Souveränität gehört fraglos das Recht, Krieg zu führen. Ein Krieg zwischen souveränen Fürsten gilt ›prima facie‹, also ohne weitere Begründung, als gerechter Krieg. So entsteht ein Gleichgewicht der Flächenstaaten auf dem europäischen Kontinent, das zugleich Voraussetzung für die Anerkennung eines gemeinsamen Rechts, des Jus Publicum Europaeum, ist (Voigt 2005), das – jenseits der kriegerischen Auseinandersetzungen der Souveräne – den Rahmen für eine Sphäre des Friedens und der Ordnung schafft (Schmitt 1950, 68 f.). Wie lange dieses Westfälische System gehalten hat, ob bis zum Wiener Kongress (1815) oder womöglich bis zum Ersten Weltkrieg (1914–1918), ist umstritten. Im Jahre 1651 – drei Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges – hält Thomas Hobbes in seinem Leviathan, der im Innern den Krieg eines Jeden gegen Jeden (bellum omnia contra omnes) zu einem Ende bringen will, das Recht des Souveräns zum Krieg gegen andere Souveräne für selbstverständlich. Er zieht damit nicht zuletzt die Konsequenz aus seinen Erfahrungen während des Englischen Bürgerkriegs (1642–1649). Aus seiner Perspektive ist die Abgrenzung nach außen unverzichtbare Voraussetzung für den inneren Frieden. Wichtigstes Herrschaftsinstrument neben den staatlichen Bürokratien werden die stehenden Heere, die nach dem Dreißigjährigen Krieg institutionalisiert werden. Von nun an werden Kriege nicht mehr mit Hilfe von Söldnern, Landsknechten und Kriegsunternehmern oder von Bürgermilizen geführt, sondern von staatlichen Armeen, die aus Steuermitteln finanziert werden (vgl. Voigt 2008). Der steigende Finanzbedarf des Staates führt zu einer immer effektiver arbeitenden Finanzverwaltung, aber auch zu der Notwendigkeit, die Stände angemessen an dem Prozess der Steuerbewilligung zu beteiligen. Das Budgetbewilligungsrecht wird zum vornehmsten, aber auch am härtesten umkämpften Recht zunächst der Ständeversammlungen und später der Parlamente. Dabei bedeutet die Existenz stehender Heere, deren Unterhaltung teuer ist, dass sie auch – zumindest von Zeit zu Zeit – eingesetzt werden müssen. Die Neigung, Kriege zu führen, nimmt damit tendenziell zu. Dynas-

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tische Streitigkeiten um geerbte oder eroberte Territorien lassen sich auf diese Weise – wie in einem Duell – zu einem Ende bringen. Nach Erreichen der Kriegsziele lässt sich der bewaffnete Konflikt jederzeit mit Hilfe eines Friedensvertrages beilegen.

16.5 Von der Souveränität der Nation zur Volkssouveränität Die Französische Revolution (1789–1799) führt erst in Frankreich und später auch in anderen Staaten zum Ende der Feudalherrschaft. Zugleich wird die Fürstensouveränität zunächst durch die Souveränität der Nation und später durch die Volkssouveränität ersetzt. In der ersten nachrevolutionären Verfassung heißt es, die Souveränität »gehört der Nation«, wie Titel III, Artikel 1 der Französischen Verfassung von 1791 formuliert. Die ausführende Gewalt ist allerdings dem König übertragen (Titel III, Art. 4; Kap. IV), der die Zustimmung zu den Beschlüssen der gesetzgebenden Körperschaft – wenn auch nur mit aufschiebender Wirkung – verweigern kann (Titel III, Abschn. III, Art. 1). Hier wird der verfassungshistorische Hintergrund des Vetorechts des amerikanischen Präsidenten erkennbar. Und weiter heißt es in der Französischen Verfassung von 1791: »Kein Teil des Volkes und keine einzelne Person kann sich ihre Ausübung aneignen.« »Die Nation, von der allein alle Gewalten ihren Ursprung haben, kann sie nur durch Übertragung ausüben« (Titel III, Art. 2). Damit sind – neben dem Bekenntnis zur nationalen Souveränität – drei grundlegende Entscheidungen getroffen worden, die große Auswirkungen auf andere Staaten haben sollten. Geburt des Nationalstaats: In der Französischen Revolution wird der Nationalstaat aus der Taufe gehoben, der im Folgenden zum wichtigsten Modell für moderne Staatlichkeit wird (vgl. Salzborn 2011). »Nicht mehr der göttliche Körper des Königs, sondern die geistige Identität der Nation bestimmte nunmehr Territorium und Bevölkerung als ideale Abstraktionen. [...] Der moderne Begriff der Nation stand somit in unmittelbarer Nachfolge des patrimonialen Körpers des monarchischen Staates und erfand diesen in neuer Form« (Hardt/Negri 2003, 108 f.). Im Namen der Nation: Zum anderen wird kategorisch festgestellt, dass die Kompetenzen innerhalb des Staates im Namen der Nation durch die Verfassung den einzelnen Gewalten übertragen werden. Repräsentativverfassung: In Titel III, Abs. 2 wird die Französische Verfassung zur Repräsentativverfas-

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sung erklärt; damit wird sie zum Vorbild für den Verfassungsgebungsprozess im übrigen Europa. Freilich handelt es sich noch nicht um eine Repräsentativverfassung im heutigen Sinne, denn das Parlament entscheidet als Legislative nicht allein bzw. letztverbindlich. Die Gesetzesvorschläge werden vielmehr erst dann ›Gesetze‹, wenn ein bestimmter (festgelegter) Anteil der Urversammlungen binnen 40 Tagen nicht reklamiert hat. Die Urversammlungen, die je einen Abgeordneten wählen und denen sogar eine eigene Polizei zusteht, bestehen aus den Bürgern, die seit sechs Monaten in einem Kanton wohnen. »Sie bestehen aus mindestens 200, höchstens 600 Bürgern, die zusammengerufen sind, um abzustimmen« (Art. 12 der Verf. von 1793). »Wenn eine Reklamation erfolgt, beruft die gesetzgebende Körperschaft die Urversammlungen ein« (Art. 60), die dann mit »ja« oder »nein« abstimmen. In der zweiten revolutionären Verfassung von 1793 ist nicht mehr von der Nation als Souverän die Rede. Vielmehr heißt es in Artikel 7 unter der Überschrift »Von der Volkssouveränität«: »Das souveräne Volk ist die Gesamtheit der französischen Bürger«. »Es wählt unmittelbar seine Abgeordneten« (Art. 8). »Es überträgt den Wahlmännern die Wahl der Präfekten, der Schiedsrichter, der Strafrichter und der Richter der Kassationshöfe« (Art. 9). Und: »es beschließt die Gesetze« (Art. 10). Von der Nationalversammlung als gesetzgebender Körperschaft werden Gesetze vorgeschlagen und mit einem Bericht versehen, Gesetz und Bericht werden allen Gemeinden der Republik übersandt. Diese auf den Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zurückzuführende Form der direkten Beteiligung des Volkes geht im Folgenden jedoch weitgehend verloren, während – angelehnt an das englische Beispiel – das Parlament als Versammlung der Repräsentanten des Volkes immer stärker in den Vordergrund rückt. Im deutschen Kaiserreich tritt das demokratisch gewählte Parlament, der Reichstag, hingegen erst ganz allmählich aus dem Schatten von Kaiser und Reichskanzler heraus. Der Reichkanzler ist nach der Verfassung nicht vom Vertrauen des Reichstags, sondern des Kaisers abhängig, der ihn auch ernennt. Der Kaiser steht dabei nicht allein mit der Auffassung, er sei der deutsche Souverän; große Teile der politischen Elite und eine Mehrheit des Volkes bestärken ihn vielmehr in dieser Sichtweise. Für die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs ist jede Staatsgewalt von der höchsten, allumfassenden Souveränität des Monarchen abgeleitet. Die Reichsverfassung von 1871 deckt diesen Anspruch auf Letztent-

scheidung freilich nur teilweise. So vertritt der Kaiser danach das Reich zwar völkerrechtlich, er ist im Namen des Reichs aber nur dann allein zur Erklärung des Krieges berechtigt, wenn »ein Angriff auf das Reichsgebiet oder dessen Küsten erfolgt« (Art. 11 Abs. 2 RVerf). Andernfalls ist hierfür die Zustimmung des Bundesrates, der Vertretung der der Bundesstaaten, erforderlich.

16.6 Resümee Die Souveränität als Letztentscheidungsrecht des Staates wird heute als Volkssouveränität verstanden. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz). Diese Souveränität wird allerdings durch zahlreiche rechtliche Bindungen z. T. erheblich eingeschränkt. Artikel 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen verbietet den Mitgliedstaaten die Anwendung oder Androhung von Gewalt. Kriegerische Auseinandersetzungen – mit Ausnahme der Selbstverteidigung gegenüber einem bewaffneten Angriff (Art. 51 VN-Charta) – sind demnach verboten. Das früher selbstverständliche Recht zur Kriegführung, ein Kernbestandteil der Souveränität seit 1648 (Westfälisches Staatensystem), entfällt damit zumindest theoretisch. Die internationale politische Praxis sieht allerdings anders aus. Hier klaffen ideengeschichtlicher Anspruch und realgeschichtliche Wirklichkeit zum Teil drastisch auseinander. Der ideengeschichtliche Bezug auf das Stichwort Souveränität ermöglicht jedoch einen spezifischen Blick auf das Staatshandeln. Wem soll eine Handlung zugerechnet werden, wann ist diese legitim, und wann verlässt der handelnde Staat den ›Korridor‹ der als legitim anerkannten Handlungsmöglichkeiten? Gerade weil allzu oft (nicht nur) totalitäre Regime militärische Gewalt zur Durchsetzung egoistischer Ziele einsetzen, bedarf es eines Maßstabes für legitimes Handeln, der nicht aufgrund der faktischen Anerkennung illegitimer Praktiken geschmeidig an neue Situationen angepasst werden kann. Offenbar ist es für viele Menschen nicht mehr selbstverständlich, das Handeln der verantwortlichen Politiker ohne weiteres als legitim anzuerkennen. Vielmehr werden an die Legitimität politischen Handelns höhere Anforderungen gestellt. Eine Diskussion über Ursprung, Inhalt und Grenzen von Souveränität kann hierbei mehr Klarheit bringen. Gegenstand der Souveränitätsdebatte ist heute auch die Frage, ob es bei dem bewährten Modell des demokratischen Nationalstaats bleiben soll, oder ob dieser

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in größeren Einheiten (Stichwort Europäische Union) oder gar in einem Weltstaat (Stichwort Kosmopolitismus) aufgehen soll. Literatur

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Rüdiger Voigt

17  Rationalismus und Aufklärung

17 Rationalismus und Aufklärung Die Grundstruktur und Ausprägung einer Epoche können im Hinblick auf die Ideengeschichte nur von den besonderen Entwicklungen der verschiedensten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche bestimmt werden. Dabei geht es immer um die besondere Form des häufig komplexen Zusammenspiels und der Wechselwirkungen zahlreicher Ideen, Kräfte und Bewegungen, wie auch im Zeitalter des Rationalismus und der Aufklärung. Die Periodisierung des Rationalismus und der Aufklärung ist, wie neuere Forschungen zeigen, aus verschiedenen Gründen schwierig, da sie als komplexe geistige Bewegungen sowohl in ihren einzelnen Bereichen als auch in den europäischen Staaten unterschiedlich entwickelt waren. In diesem Zusammenhang spricht man heute meist im Plural von Rationalismen und Aufklärungen. Die Ideen des Rationalismus und der Aufklärung haben sich in unterschiedlichen Formen auf Grund der jeweils politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen und der kulturell-religiösen Traditionen in den europäischen Staaten herausgebildet und entfaltet (Röd 1996, 17 ff.; Schneiders 1997; Schlobach/Jüttner 1992). Die Ausprägung der europäischen Aufklärung fiel in der Forschung bisher sehr unterschiedlich aus. Schottland gehörte politisch zu England und entwickelte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein eigenes philosophisches Profil. Die englische Aufklärungsphilosophie trat mit der schottischen zeitgleich in Erscheinung und bezog sich vor allem auf Isaac Newton und John Locke. Trotz einiger Unterschiede in erkenntnistheoretischer Perspektive als Empirismus, moralphilosophisch als Naturalismus, religionsphilosophisch als Deismus und politisch-philosophisch als liberal-konservativ eingeschätzt werden. Die französische Aufklärung hob sich von der englischen deutlich ab. Sie hatte ihre Wurzeln vor allem in der Philosophie René Descartes sowie in der französischen Newton- und Locke-Rezeption. In Frankreich bildete John Locke in Verbindung mit den biologischen Wissenschaften den wichtigen Ansatz für die materialistische Philosophie. Die französischen Aufklärungsphilosophen, wie Ètienne Condillac, Julien Offray de La Mettrie, Claude Adrien Helvétius, Paul Henri Thiry d’Holbach, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet und die Enzyklopädisten, als Gruppe oft »Les Philosophes« genannt, sind alle mehr oder weniger Materialisten und scharfe Kritiker der Religion gewesen.

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Die deutsche Aufklärung baute einerseits auf Gottfried Wilhelm Leibniz auf, andererseits auch auf dem Naturrecht des 17. Jahrhunderts. Am Beginn hatte sie zwei Ausprägungen, von denen eine auf Christian Thomasius zurückging und die andere auf Christian Wolff. Letztere setzte sich als die vorherrschende durch und wurde schon von Zeitgenossen als LeibnizWolffsche Philosophie charakterisiert. War Thomasius ein Realist und Empirist, der Wissenschaft als einen sozialen Prozess betrachtete, so stufte man Wolff als einen idealistischen Intellektualisten ein. Die Aufklärung war sich trotz regionaler Unterschiede in ihren Grundprinzipien ziemlich einig. Vernunft und Kritik bildeten die unabdingbaren Grundlagen des Denkens und Handelns. Selbstdenken und Mündigkeit und die Vorstellung von der Perfektibilität des Menschen waren für sie gleichsam ein Programm, das sich gegen Vorurteile, Aberglaube und Schwärmerei richtete. Das Streben nach Erkenntnis und Wahrheit wurde als Prozess verstanden, für den Toleranz, öffentlicher Diskurs und Publizität von großer Bedeutung waren. Innerhalb der Aufklärung bestand allerdings eine gewisse Spannweite zwischen Rationalismus, Empirismus und antimetaphysischem Skeptizismus. Auch zwischen Verstandesstrenge und Empfindsamkeit gab es Unterschiede, die die Lebendigkeit im Diskurs förderten. Aufklärung zielte letztlich auf den Menschen und seine Position in der Welt, auf rationale Weltaneignung und Weltgestaltung und auf die Verknüpfung von Theorie und Praxis ab. Der ideengeschichtliche Hintergrund des Rationalismus war eng verbunden mit der Renaissance, dem Humanismus und der Frühaufklärung, wobei diese geistigen Strömungen von der allgemeinen politischen und kulturellen Entwicklung stark beeinflusst wurden. Die Renaissance bewirkte eine völlige Neuorientierung der Wissenschaften, weil langsam die für das 16. Jahrhundert typische Denkweise des Rationalismus entstand. Die Entstehung des frühneuzeitlichen Europa brachte einen Wandel politischer, ökonomischer, sozialer und kulturell-mentaler Strukturen. Der schrittweise Durchbruch zur Moderne war allerdings begleitet von einer Verknüpfung feudaler Ordnungswelt mit gesellschaftlicher Rationalisierung, verlief also äußerst komplex und widersprüchlich. Für den Prozess der Veränderungen waren mehrere Faktoren entscheidend, wie die Formierung des kapitalistischen Systems, die Herausbildung des frühmodernen Staates, die Festschreibung der Ständegesellschaft, die Herausbildung des absolutistischen Herrschaftssystems und die Entwicklung neuer kultureller For-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_17

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III Denkströmungen – C Frühe Neuzeit

mationen, wie insbesondere der zunehmende Gegensatz von Volks- und Adelskultur und die Entstehung einer neuen kulturellen Elite von akademisch-ständischer Gelehrsamkeit. Unter diesen Bedingungen differenzierten sich auch die Religionssysteme der Frühen Neuzeit. Die Reformation war ein Prozess, an dem mehrere Reformatoren beteiligt waren. Neuere ideengeschichtliche Forschungen zeigen, dass sie als Ergebnis einer allgemeinen Krise des Feudalismus und Reaktion auf den tiefgreifenden Strukturwandel der spätmittelalterlichen und beginnenden frühneuzeitlichen Gesellschaft zu verstehen ist. Im 15. Jahrhundert erreichte das Reformationsbewusstsein einen Höhepunkt im sozial-politischen und religiös-geistigen Bereich. Es bildeten sich dabei zwei Grundmuster der Reformation heraus: ein rechtlich-obrigkeitlicher Akt der Wiederherstellung alter Ordnung und ein allgemeiner Erneuerungswille, der die gesamte Gesellschaft umfasste und sogar utopisch-schwärmerische Formen an­ ­nahm. Betrachtet man die Reformation im Rahmen der sozialen Protestbewegungen, so ist diese zweifelsohne das Ergebnis sich steigernder Unzufriedenheit, Kritik und Emanzipationsbestrebungen, insbesondere der unterdrückten Bauern und Bürger. Reformation und Bauernkriege erschütterten jedoch nicht das Feudalsystem und führten auch zu keiner Revolutionierung der Gesellschaft, sondern bewegten sich durchaus im Rahmen der traditionellen Herrschaftsordnung. Revolutionärer war hingegen die Zunahme an Wissen, Erkenntnissen und der Aufstieg der Wissenschaften, die alle bisherigen Bildungsvorstellungen sprengten. Der politische Einfluss bestand besonders in der langsamen Überwindung absolutistischer Ordnungssysteme, die markante Umbrüche im frühneuzeitlichen Europa bewirkten. Allgemein sah man die grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft auch als beginnende Säkularisierung. Bei diesem Wandlungsprozess spielte ein neues Wissenschaftsverständnis eine wesentliche Rolle, das durch Erfahrungen, Skeptizismus und Wahrscheinlichkeitsannahmen entstanden ist. Führende Köpfe waren vor allem Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei, Johannes Kepler, Isaac Newton und Descartes, die ein neues naturwissenschaftliches Weltbild und den Rationalismus begründeten. Dieses neue Weltbild beeinflusste auch die Politik dieser Zeit, insbesondere durch Bilder vermittelt, was sich sinnbildlich in der »Körpermetaphorik« in Thomas Hobbes Werk Leviathan, der Metapher von »der unsichtbaren Hand« bei Adam Smith und den naturrechtsphilosophischen

Grundlagen menschlichen Handelns bei David Hume und Samuel Pufendorf zeigte (vgl. Salzborn 2017, 46). Damit vollzog sich auch eine Veränderung im Selbstbild des menschlichen Körpers, nämlich die Vorstellung »eines eigenständigen und von anderen unab­ hängigen menschlichen Organismus, der unabhängig vom göttlichen Glauben vom Menschen selbst verstanden und erklärt werden konnte« (Salzborn 2017, 46). Damit wurden auch die physischen Grundlagen der Philosophie der Aufklärung geschaffen. Die Entwicklung der modernen Philosophie ist sehr eng mit der Entstehung der mathematischen Naturwissenschaften verbunden. Sie führte zur Auflösung des aristotelisch-scholastischen Weltbildes. Der Rationalismus war im 17. Jahrhundert immer durch seine Vieldeutigkeit gekennzeichnet. In erkenntnistheoretischer Hinsicht wurde die ratio häufig den Sinnen gegenübergestellt, und diese stand auch in einem gewissen Gegensatz zum Empirismus und Sensualismus, weil ihr die Vernunft als Erkenntnisquelle und Begründungsinstanz für Erkenntnisansprüche wichtiger erschien als die Erfahrungen, die durch die Sinne gewonnen werden. Die großen rationalistischen Systeme entwickelten sich im 17. und 18. Jahrhundert. Zu ihren bedeutendsten Denkern zählten – wie schon erwähnt – vor allem Descartes, Baruch de Spinoza, Leibniz und Wolff, auf die auch der Epochenbegriff zurückgeht. Der Rationalismus ging vor allem davon aus, dass das begrifflichlogische Denken der wichtigste Ausgangspunkt und das alleinige Kriterium für Erkenntnisse war. Zu den besonderen Inhalten und Kennzeichen des Rationalismus zählten die Annahme »angeborener Ideen«, die nicht erworbene, nicht durch Erfahrung veranlasste Ideen und Erkenntnisse waren, die Annahme von Erkenntnissen a priori, die als erfahrungsunabhängig zurechtfertigende Erkenntnisse verstanden wurden, die starke Ausrichtung auf mathematisches Wissen, der Einsatz von axiomatischen (»geometrischen«) Methoden und die Ordnung des Wissens nach einem deduktiven System (Hügli/Lübcke 1991, 482). Diese Inhalte waren geprägt von einem erkenntnistheoretischen Optimismus, also von der Annahme einer unbegrenzten menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Als Vorbild fungierten hier die mathematischen Naturwissenschaften. Das ›Vernünftige‹ hat im Rationalismus zwei verschiedene Bedeutungen: die Hervorhebung des Charakters des Sprachlichen oder des Rechnens und die Fähigkeit, Dinge genauer zu bezeichnen und die Vernunft als rechnerisch-planendes Vermögen zu sehen.

17  Rationalismus und Aufklärung

Darüber hinaus spielten im Rationalismus vor allem die methodischen Reflexionen eine große Rolle, die von den experimentellen Verfahren und der Mathematisierung der Naturwissenschaften sehr stark beeinflusst waren. Descartes hat dazu exakte Regeln in seinem Diskurs über die Methode aufgestellt (Erstveröffentlichung 1637). Darin entwickelte er die Methode der Analyse und Synthese, für die bestimmend war, einen Gegenstand in seine einzelnen Elemente zu zerlegen und dann wieder schrittweise zusammenzufügen. Damit sollten der innere Aufbau und seine Funktionsweise genauer erkannt werden. Descartes ging davon aus, dass die physikalische Welt aus mathematischen Axiomen deduziert werden könne. Francis Bacon forderte in ähnlicher Weise das naturwissenschaftliche Experiment und neue methodisch-technische Erfindungen. Gleichzeitig mit Newton entwickelte Locke eine Theorie der Erfahrung, die in England mit George Berkeley und David Hume sowie in Frankreich von Condillac eine Fortsetzung erfuhr. Der damals stärker werdende Gegensatz zwischen Rationalismus und Empirismus war nicht so weit entfaltet, wie angenommen wurde, weil die hier erwähnten Philosophen die Auffassung vertraten, dass die äußeren Sinne das Material der Erkenntnis für den Menschen bilden und der Mensch durch Erfahrung zu gewissen Regelmäßigkeiten gelangt und schließlich in der Lage ist, mit Hilfe des Verstandes allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Descartes war der Meinung, dass mit der Naturwissenschaft sichere Erkenntnisse der Natur gewonnen werden können, und hielt es für möglich, allgemeine Naturgesetze aus evidenten Prinzipien abzuleiten. Er war ein konsequenter Vertreter des rationalistischen Erkenntnisideals und war davon überzeugt, »dass eine Wissenschaft im Idealfall auf Axiomen beruhe, die auf Grund ihrer Einsichtigkeit keiner Begründung bedürfen und aus denen alle anderen ihrer Sätze logisch folgen« (Röd 1996, 20). In Bezug auf die Wahrheitsfindung galt es, alles Zweifelhafte und alle bloßen Annahmen sowie traditionsbedingten Auffassungen möglichst auszuschließen. Für das ›Ich denke, also bin ich‹ bildete der Satz die Voraussetzung, dass man für das Denken zuerst überhaupt existieren müsse. Descartes hob besonders den Zweifel als methodisches Erkenntnisprinzip hervor und forcierte die Suche nach den Grundlagen der Wahrheit des menschlichen Seins. Descartes Theorie der Ideen haben die Philosophie der Frühen Neuzeit auf eine neue Grundlage gestellt. Die philosophischen Ideen, die von ihm ausgingen,

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wie bei Spinoza oder Leibniz, waren bezüglich der Existenz Gottes und dessen Rolle als Schöpfer der Welt und der Menschen nicht zweifelhaft, aber sie kritisierten seine Beweisbarkeit. Der Rationalismus wandte sich vom Glauben ab und entwickelte sich zu einer aus Freiheit neu definierten Vernunft. Mit dieser Aufwertung des Wissens gegenüber dem Glauben resultierte auch ein neues Verständnis von Toleranz. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Deismus mit seiner Vorstellung von einer »natürlichen Religion« wirksam geworden (Hume 1757, 1779). Im Deismus wird in der Erkenntnis religiöser Wahrheiten die göttliche Offenbarung als nicht notwendig erachtet. Die Gottesbeweise ermöglichten für Descartes eine Antwort auf die Frage, ob Dinge, deren Ideen in Menschen vorhanden sind, auch außerhalb von ihnen existieren. Die Erklärung über die Eigenschaften der Dinge, die in der Geometrie geprüft wurden, vermittelten ihm die Ergebnisse der Metaphysik. Von der Methode Descartes begeisterte sich besonders Spinoza, weil sie ihn darin die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften erkennen ließ. So war er auch bemüht, die Metaphysik aus der Sicht der Ordnung der Geometrie zu betrachten und die Philosophie als rationalistische Metaphysik zu erklären. Eine Differenz zum Cartesianismus und der christlichen Philosophie bildete bei Spinoza allerdings das Bemühen, den Gegensatz von Welt und Gott bzw. Körper und Geist zu überwinden. Spinoza verwendete in seiner rationalen Ethik die geometrische Methode, und Thomas Hobbes entwickelte aus naturwissenschaftlicher Perspektive eine Theorie des Staates, die später auch für das politische Denken der Aufklärung bedeutsam wurde. Zweifelsohne waren Descartes, Spinoza und noch andere Philosophen des 17. Jahrhunderts mit ihren Ansichten bedeutsame Vertreter des Rationalismus, die allerdings auch Kritik provozierten, wie etwa bei Hobbes und Pierre Gassendi, aber auch bei Naturwissenschaftlern, wie Newton, Henry Moore oder Ralph Cudworth, dass Wirklichkeitserkenntnisse nicht aus reiner Vernunft stammen und sich Naturgesetze nicht nur aus Erfahrung allein zu erkennen geben. Hobbes entwickelte einen staatsphilosophischen Kontraktualismus, der die Legitimität einer politischen Ordnung über den Weg vertraglicher Übereinkunft seiner Mitglieder herbeiführen sollte. Im Leviathan (1651) wollte er eine absolute Herrschaftsordnung errichten, die auf der Basis freiwilliger Zustimmung der ihr Unterworfenen und auf einem Akt der Autorisierung ›von unten‹ beruht. Er begründete auch darin, warum die

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Menschen sich einer staatlichen Gewalt bedingungslos unterwerfen sollten. Locke meinte, dass alle Ideen auf Beobachtung beruhen und aus äußerer Wahrnehmung oder aus Selbstbeobachtung bzw. aus beiden Quellen resultieren. Für seine Erkenntnistheorie war die Realität von Ideen zentral. Unter realer Vorstellung verstand er einen denkunabhängigen Gegenstand, mit dem sie übereinstimmt. Er nahm auch an, dass zwischen Ideen und Eigenschaften der Dinge eine eindeutige Beziehung bestehen müsse. Bei Locke ging es politisch um einen Vertrag, um das grundlegende Recht auf Eigentum zu schützen. Der Staat wird bei ihm auf zwei Funktionen festgelegt, auf die Sicherheit vor Gewalt und die Sicherheit des Eigentums. Er galt auch in der politischen Ideengeschichte als Vertreter einer liberalen Vertragskonstruktion. Die vertragsschließenden Bürger sind bei ihm gleichzusetzen mit Eigentümern, wobei in seiner neuen Eigentumstheorie die zentralen Kategorien Eigentum und Arbeit miteinander verbunden werden. Der Staat sollte kein absolutes Durchgriffsrecht auf das Vermögen der Bürger haben. Er unterschied bereits zwischen Legislative, Judikative und Exekutive, eine Vorform der Gewaltenteilung, die dann später von Charles de Montesquieu und von der liberal-demokratischen Verfassung der Vereinigten Staaten übernommen wurde. War bei Descartes die Wirklichkeit teilweise materiell, teils auch geistig ausgeprägt, so war sie bei Leibniz im Grunde nur geistig. Im Bereich der Logik vertrat er eine andere Meinung als Descartes, der davon ausging, dass einfache Folgerungen intuitiv richtig erfasst werden können, während Leibniz betonte, dass die Ableitung von Sätzen auf Regeln aufgebaut sei. Die obersten logisch-metaphysischen Prinzipien bildeten für Leibniz der Satz von der Identität und der vom hinreichenden Grund. Urteile, die wegen des Identitätsprinzips als wahr angesehen werden können, bezeichnete er als ›Vernunftwahrheiten‹. Wolff galt als einflussreichster Vertreter der deutschen Aufklärungsphilosophie und als konsequenter Anhänger des Rationalismus. Seine Grundlage der Metaphysik war die Ontologie, weil sie alles Seiende und die wichtigsten Grundsätze formulierte. Zusammenfassend kann feststellt werden, dass der Rationalismus allgemein als eine Geisteshaltung charakterisiert werden kann, in der das rationale Denken und Erkennen dominieren. Weiters lässt er sich als methodische Richtung in der Philosophie bezeichnen, die, vom Vorbild der Mathematik ausgehend, Form und Inhalt allen Wissens aus der ratio, unabhängig

von aller Erfahrung oder unter Vernachlässigung der Empirie, ableiten lässt. Als erkenntnistheoretische Richtung postuliert er die Möglichkeit von Erkenntnissen durch den Gebrauch der Vernunft. Im Gegensatz zum Irrationalismus konstatiert er, dass Meinung oder Glaube nur dann annehmbar seien, wenn sie auf Erfahrung und Vernunftabwägung deduktiv oder induktiv aufbauen. Rationalität galt in der Forschung als ein spezifischer Typus des Denkens in Form einer kausallogischen, linear-zielführenden Zweck-Mittelrelation. Alle diese wichtigen Erklärungen für den Rationalismus des 17. Jahrhunderts verdeutlichen, dass vor allem aus philosophischer und ideengeschichtlicher Perspektive erkenntnistheoretische Positionen, die auf der Theoriebildung der Mathematik und der Rationalität der Mechanik beruhen, in einem deutlich erkennbaren Gegensatz zum Empirismus standen. In der Philosophiegeschichte werden heute drei Formen des Rationalismus unterschieden, nämlich der metaphysische, der erkenntnistheoretische und der methodische. Der metaphysische geht von einer methodisch z. T. unreflektierten Identität zwischen Vernunft und Wirklichkeit aus, der erkenntnistheoretische begründet den Vorrang eines nichtempirischen Wissens mit der Annahme ›angeborener Ideen‹, und im methodischen Rationalismus orientieren sich die nichtempirischen Bedingungen der Erkenntnis an begrifflichen Konstruktionen, bei denen die Mathematik aus konstruktiver Arithmetik eine wichtige Rolle spielt. Die neuzeitliche Philosophie in ihrer Entstehungsgeschichte wurde von den Auseinandersetzungen zwischen Rationalismus und Empirismus mit den exakten Wissenschaften begleitet. Dabei wurde Descartes allgemein als Begründer des klassischen Rationalismus bezeichnet. Sein Rationalismus ging – wie bereits erwähnt – davon aus, dass die Basis des Wissens und der Wissenschaft durch die Klarheit und Deutlichkeit der Verstandeserkenntnisse gebildet wurde. Daraus erfolgten die Herleitung des cogito ergo sum, die ›Ideenlehre‹ bei Descartes, und die Weiterentwicklung der Ideen zu einer mathesis universalis bei Leibniz. Der Rationalismus übte später auch großen Einfluss auf das Aufklärungsdenken aus, insbesondere der cartesianische Rationalismus, wobei im Aufklärungsdenken auch der klassische Empirismus von Bacon, Locke und Hume eine wichtige Rolle spielten. Es handelte sich dabei um ein Programm zu einer rational konzipierten Empirie. In diesem Sinne bildeten Rationalismus und Empirismus erkenntnistheoreti-

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sche Varianten im Zusammenhang mit Vernunft und Erfahrung. Der Rationalismus bildete im 18.  Jahrhundert zweifelsohne eine wesentliche Grundlage der Aufklärung und des Aufklärungsdenkens. Die Aufklärung hat ihre Wurzeln in der naturwissenschaftlichen Entwicklung des 17. Jahrhunderts und im zeitgleichen philosophischen Rationalismus. Sie unterschied sich aber in verschiedener Hinsicht vom Rationalismus. Die Forschung führte diese Unterschiede auf mehrere Gründe zurück. Galten für die rationalistische Philosophie die Mathematik und die mathematische Physik als wichtige Grundlagen, so waren für die Aufklärung die empirischen Wissenschaften und besonders die Biologie, die sich in Frankreich rasant entwickelte, von außergewöhnlicher Bedeutung. Die ratio der Rationalisten des 17. Jahrhunderts wurde als eine konstruierende Vernunft gesehen, die aus sich selbst ein Weltbild entwickeln kann, wobei dies einer mechanistischen Naturauffassung entsprach. Die ratio der Aufklärung war sehr kritisch und methodisch analysierend. Der Vernunft wurde die Aufgabe zugewiesen, Vorurteile zu entlarven und politische sowie gesellschaftliche Verhältnisse aufzudecken, die dem Glück des Menschen hinderlich waren. Die Aufklärungsphilosophie knüpfte hohe Erwartungen an die institutionalisierte Aus- und Weiterbildung, die zum kritischen Denken und selbstbewussten Handeln führen sollten. Die Aufklärung setzte mehr als die Philosophen des 17. Jahrhunderts auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Im 17. Jahrhundert hatten Philosophie und Wissenschaft eine noch eher stabilisierende Wirkung auf die Gesellschaft, während im 18. Jahrhundert Philosophie und Wissenschaft stärker als sozial und politisch dynamische Faktoren auftraten, die die bestehende Gesellschaftsordnung verändern sollten. Aufklärung im Sinne der Vermittlung von Wissen wurde im 18. Jahrhundert zu einer zentralen pädagogischen Aufgabe. Darauf verwiesen vor allem die großen Lexikonprojekte der Zeit, die Ausdruck der Überzeugung waren, dass Aufklärung den Menschen politisch und intellektuell befreien könne. Wichtigstes Beispiel dafür war die große französische Enzyklopädie, die zwischen 1751 und 1766 erschien. Die Aufklärung betonte vor allem die Vorherrschaft der Vernunft, um einen Prozess der Befreiung des Menschen aus allen Zwängen einzuleiten. Dieses Ziel sollte durch entsprechende Einrichtungen des Staates und der Gesellschaft gefördert werden. Vernunft wurde als menschliches Vermögen aufgefasst,

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das sich von göttlicher Offenbarung unterschied. In diesem Kontext war es ein wesentliches Ziel der Aufklärung, die individuellen Überzeugungen durch einen Diskurs aller denkbaren und erfahrbaren Überlegungen zu relativieren und auf einen vernünftigen Kern zu bringen. So wurde auch die Aufklärung als »Prozess der Freisetzung der Vernunft« und als »Vereinigung der partikulären Wahrheiten zu einer ungeteilten Wahrheit« gesehen (Hinske 1973, XIX). Mit Vernunft und Aufklärung sollten die Menschen sich von der Autorität der Kirche und der metaphysischen Denktradition lösen. Wie Immanuel Kant es formulierte, ist der Mensch frei, seinen Vernunftgebrauch ohne Anleitung oder Bevormundung einer ihm übergeordneten Institution vorzunehmen. Die in der Aufklärung und der Französischen Revolution vorgenommene Übersteigung der Vernunft und des Rationalismus provozierte eine Gegenbewegung, bei der der Irrationalismus oder die kritisch reflektierte Weiterentwicklung des Aufklärungsdenkens im Zentrum standen. In diesem Zusammenhang spricht man in der heutigen Forschung auch von zweiter oder ›reflexiver‹ Aufklärung und meint damit die politische Romantik im 19. Jahrhundert. Die Kernforderung der Aufklärung betraf alle europäischen Aufklärungen, obwohl es eine Vielfalt philosophischer Strömungen gab, nämlich die ›Autonomie des Subjekts‹. Allgemein wird die Aufklärung als eine geistige Bewegung eingestuft, obwohl sie gesamtgesellschaftliche Dimensionen hatte. Sie war zunächst äußerlich dadurch gekennzeichnet, dass sie die ratio als höchstes geistiges Vermögen einstufte. Gleichzeitig wurde die denkende Vernunft als ratio vom erkennenden Verstand her beurteilt. Logik war in diesem Sinne in erster Linie ›Logik der Vernunft‹. Der Begriff ›Aufklärung‹ ist bereits im 18. Jahrhundert nachweisbar. Die Lichtmetapher bildete eine Art Leitidee, dass nun das ›finstere Mittelalter‹ vom Zeitalter des ›Lichtes der Vernunft‹ abgelöst werde. Der Ausdruck ›Aufklärung‹ verstand sich ursprünglich als eine rationale Operation, die als ›Aufklärung des Verstandes‹ zur Erhellung und Klärung von Begriffen, Beseitigung von Unwissenheit und Unvernunft führen sollte, später bezeichnet der Begriff auch eine emanzipative Aktion, die zur Befreiung von allen Fesseln führen sollte. Diese Beschreibung wurde als emanzipatorischer Aufklärungsbegriff erklärt. Der Begriff ›Aufklärung‹ hat auch die religiös-metaphysische Lichtmetaphorik transformiert, in dem aus dem Licht vom Jenseits das Licht der aufgeklärten Vernunft

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wurde. In der französischen Aufklärung erreichte die Lichtmetaphorik eine außergewöhnliche Wirkung: ›Les lumiéres‹ wurde als Aufklärung verstanden und entwickelte sich aus dem Begriff ›lumiéres naturell‹. Schon im 17. Jahrhundert haben Descartes, Leibniz, Bayle u. a. Philosophen damit die menschliche Vernunft und Erkenntnisfähigkeit beschrieben. Diese Bezeichnung wandelte sich dann später zu einem kritischen Geist. Die mit der Politisierung der Aufklärung nach 1770 stärker werdende Debatte über ›wahre‹ und ›falsche‹ Aufklärung in Deutschland hat schließlich zu einer Vielzahl neuer Wertkombinationen geführt, wie z. B. Volksaufklärung, radikale und absolute Aufklärung. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts haben sich weitere Begriffsbildungen herausentwickelt, wie z. B. Aufklärung als Erleuchtung des Verstandes und Erwärmung des Herzens, als universaler Erkenntnisund Wissensbegriff, als Bildung sowie als Einheitsbegriff von Philosophie, Wissenschaft und rationaler Lebensführung. Seit einigen Jahrzehnten wird in der Forschung auch intensiv über die radikale Aufklärung geforscht, insbesondere über den atheistischen, skeptischen und materialistischen Flügel des Denkens im 17. und 18. Jahrhundert. Dabei wurde die These entwickelt, dass die radikalen Aufklärer für die grundlegenden Errungenschaften der Moderne verantwortlich seien, für Freiheit und Menschenrechte, Gleichheit und Toleranz, und dass der Spinozismus eine zentrale Rolle bei deren Durchsetzung gespielt habe. Ganz allgemein kann man die Radikalaufklärung heute als eine Bewegung von Denkern, Schriftstellern, Pamphletisten und Reformern begreifen, die im späten 17. Jahrhundert aufkam und das ganze 18. Jahrhundert hindurch fortbestand. Sie war denselben Idealen verpflichtet, wie die moderne Aufklärung, die die Hauptströmung der Aufklärung bildete und besonders die Vernunft verehrte, die gesellschaftliche, religiöse und persönliche Freiheit. Diese radikale Richtung stand nicht nur, wie die restlichen Aufklärungsbewegungen im Widerspruch zu den Verteidigern bestehender Autoritäten, der Tradition und des Glaubens, sondern wandte sich vehement auch gegen die sogenannte ›moderate Aufklärung‹ von Locke, Newton, François-Marie Arouet Voltaire, Montesquieu, Anne Robert Jacques Turgot und Hume und wurden von diesen auch bekämpft. Oft verfolgt und unterdrückt, gehörte zu dieser radikalen Strömung eine beachtliche Anzahl von Denkern, darunter Adriaan Koerbagh, Franciscus van den Enden, Pietro Giannone, Alberto Radicati, La Mettrie, Theodor Ludwig Lau, Johann Lorenz Schmidt, Johann

Friedrich Struensee und Tom Paine, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Die Radikalaufklärung unterschied sich hinsichtlich zahlreicher, grundlegender praktischer Ziele von der moderaten Aufklärung. Dabei ging es um die Fragen, ob alle Menschen aufgeklärt werden sollten oder nur einige, wie viel religiöse Toleranz, wie viel persönliche und sexuelle Freiheit erwünscht sei und wie viel Pressefreiheit? Weitere Fragen betrafen die Notwendigkeit einer Zensur, die Monarchie oder Republik, die Oligarchie oder Demokratie? Noch weiter auseinander gingen die Auffassungen darüber, was die theoretischen und moralischen Grundlagen von Gesellschaft, Religion, Politik, Naturwissenschaft und Aufklärung selbst betrafen. Folglich war die Radikalaufklärung eine der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Ursprungs und der intellektuellen Wurzeln wie auch der Widersprüche in der Moderne. Der vielleicht deutlichste Unterschied zwischen dem Denken der Radikalaufklärung und der Philosophie von Locke, Newton, Leibniz, Hume und Voltaire bestand darin, dass die Radikalen für die Zukunft der Menschheit allein auf die Vernunft setzten, während bei den Moderaten eine Form des Kompromisses oder eine Balance zwischen Vernunft und Glauben hergestellt werden sollte. Die Aufklärung führte auch – was ihre Ziele betraf – zur Entdeckung der Gesellschaft als sozialwissenschaftliches Feld, zur Entstehung der politischen Ökonomie und Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen, wie Geologie und Biologie oder im Bereich der Geisteswissenschaften zur Philosophie der Geschichte, eng verbunden mit Fortschrittsideen und Zukunftserwartungen. Neben der klassischen Aufklärungsphilosophie entstand auch eine in ihrer Breitenwirkung erfolgreiche Popularphilosophie, in deren Mittelpunkt realitätsbezogene Fragen der Moral und Probleme der praktischen und vernünftigen Lebensbewältigung standen. Zur Aufklärung gehörten auch noch die Ausweitung des Buchdruckes und die steigende Zahl der Schriftsteller und Leser. Im Kommunikationszusammenhang zwischen Schriftsteller und Publikum begann sich die Aufklärungsgesellschaft auf der Basis eines locker gehandhabten Konsenses der Meinungen und einer bestimmten Denkhaltung für Probleme der Lebenspraxis zu formieren. Ein wesentlicher Faktor der Aufklärung war auch das Entstehen einer politischen Öffentlichkeit, deren Voraussetzung das Auseinanderfallen von Staat und Gesellschaft in der politischen Theorie im Absolutismus bildete. Dazu zählten nicht nur Zeitschriften,

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Buch- und Broschürenproduktionen, sondern auch verschiedene aufgeklärte Sozietäten, die neue Geselligkeits- und Vergesellschaftungsformen bildeten, wie z. B. Akademien, Gelehrtengesellschaften, Lesegesellschaften, ökonomische und patriotische Sozietäten und Geheimgesellschaften. Allen diesen Sozietäten war das Bekenntnis zu den Ideen der Aufklärung gemeinsam. Die meisten Aufklärer traten für Reformen ein, die besonders im aufgeklärten Absolutismus eine große Rolle spielten. Es waren allerdings Reformen von oben. Für den Unterschied zwischen Aufklärung, Reform und Revolution waren, wie sich in der Spätaufklärung zeigte, mehrere Kriterien entscheidend. Die Anhänger der radikalen Spätaufklärung und der Revolution stellten sich im Gegensatz zum Reformabsolutismus und zur Aufklärung mit theoretischer und praktischer Konsequenz auf den Boden der Revolution. Sie glauben nicht mehr daran, dass die Aufklärung mit ihren Reformen das politische Herrschaftssystem und die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändern oder gar beseitigen würden, sondern waren davon überzeugt, dass der Feudalabsolutismus nur mehr durch den politischen Kampf erschüttert werden könne. Entscheidend war für sie die Tatsache, dass über Reformen keine grundlegende Änderung der Gesellschaft möglich war. Die Aufklärung hat aber durch die Schaffung eines zumindest neuen geistigen Klimas und Denkens die Revolution in Frankreich 1789 mitvorbereitet. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts eine geistige und gesellschaftliche Reformbewegung darstellte, die nicht nur intellektuelle Fortschritte, sondern auch die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse ins Auge fasste. Die Aufklärung setzte sich auch mit Problemen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung des 18. Jahrhunderts auseinander, wie z. B. mit der Staatsform und Rechtsordnung. In dieser Zeit entstanden Ansätze zu einer wissenschaftlichen Begründung von Politik. Montesquieu übertrug den in den Naturwissenschaften erarbeiteten Gesetzesbegriff auf Geschichte, Politik und Moral. In seinem Werk Vom Geist der Gesetze (1748) entwickelte er eine Theorie der Gewaltenteilung und Lehre von den ›Governements‹: Republik, Monarchie und Despotismus, wobei es sich hier mehr um eine Kombination der Gewalten und nicht um eine strenge Teilung handelte. In der Spätaufklärung wurde dann die schon vorher eingeleitete Politisierung durch die Polarisierung der Öffentlichkeit und die daraus entstandene Aufspaltung

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der Gesellschaft in ideologisch-politische Strömungen (früher Liberalismus, Sozialismus und Konservativismus) noch verstärkt. Diese konkreten Richtungen konnten aber noch keine Veränderungen der Politik und Gesellschaft bewirken, aber durch die Aufklärungsideen zumindest einen Wandel in den politischen Vorstellungen einleiten, zumal sie Herrschaft nicht mehr als Selbstzweck auffassten, sondern als Mittel zur Ermöglichung des individuellen und allgemeinen Wohls. Mit Jean-Jacques Rousseau kam das Problem der sozialen Ungleichheit, die Frage der Verteilung des Eigentums in den politischen Diskurs. Er stellte die Grundüberzeugung der Enzyklopädisten, den Glauben an einen unbegrenzten Forstschritt, in Frage und entwarf das Modell einer guten und gerechten Gesellschaft (Contrat social, 1759). In seinem Diskurs über die Ungleichheit (1755) kritisierte Rousseau die Theorie Lockes über den Ursprung der Gesellschaft und der bürgerlichen Gesetze und beurteilte den Contrat social als einen ›Betrugsvertrag der Reichen‹, der im Widerspruch zur natürlichen Freiheit stehe und diese zerstöre. Im ›Gesellschaftsvertrag‹ entwickelte er eine Theorie politischer Souveränität, die auf einer normativen Umdeutung des Naturzustandes aufgebaut war. Als Ziel wurde von ihm formuliert, dass mit diesem Vertrag ein neuer Gesellschaftszustand herbeigeführt werden sollte, in dem die Menschen sich wie im Naturzustand gleich und frei bewegen können. Allerdings müssen Gleichheit und Freiheit rechtlich garantiert sein. Rousseau wollte eine gerechte Ordnung, in der Gemeinwohl und Eigeninteresse zusammengeführt werden können. Die Sozialutopisten Étienne-Gabriel Morelly und Gabriel Bonnot de Mably forderten über Rousseau hinausgehend nicht nur eine annähernd gleiche Verteilung des Privateigentums, sondern dessen Aufhebung und die Einführung einer in Gütergemeinschaft lebenden Gesellschaft. In der neueren Forschung wurde die Aufklärung nicht selten als bürgerliche Emanzipation und Bildungsbewegung mit der höfisch-aristokratischen Kultur des Barock verglichen und davon abgegrenzt. Dabei wurde allerdings übersehen, dass im 18. Jahrhundert die Aristokratie noch politisch und kulturell dominierte. Was sich aber verlagerte, waren die Gewichte. Die Zahl der bürgerlichen Gelehrten, Philosophen, Schriftsteller, Künstler und Pädagogen vermehrte sich, so dass sie den Kern der gebildeten Schicht darstellten. Sie waren von einer spezifischen Welt- und Lebensanschauung geprägt, die als ›bürgerliche‹ Mentalität bezeichnet wurde und nicht so

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sehr von ihrem sozialen Status. Zur bürgerlichen Mentalität gehörte vor allem die Betonung der einzelnen Persönlichkeit, die nicht durch Geburt und Zugehörigkeit zu einem Stand und Verband, sondern durch Menschenwürde, Leistung und Verdienst bestimmt war. Die sozialen Beziehungen untereinander unterlagen einem strengen Rationalisierungs- und Funktionalisierungsprozess. Sie wurden nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern als Aufgabe und Chance der Gestaltung aufgefasst. Neben der Vernunft zählte auch die ›Kritik und Vorurteilskritik‹ zu den entscheidenden Schlüsselworten der Aufklärung. Kant hat das 18. Jahrhundert als Zeitalter der Kritik bezeichnet, wenngleich er den Begriff im Zusammenhang mit seiner Philosophie nur als Grenzziehung verstand. Kritik hatte eigentlich ursprünglich nur eine philosophisch-philologische Bedeutung. Der Begriff wurde dann von der Text- auf die Selbstkritik übertragen, wie in der französischen Enzyklopädie. Häufig wurde der Begriff auch für die Worte Prüfung, Zensur und Tadel verwendet. Davon ging auch Kant aus und platzierte seine Kritik zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Erst nach Kant hat sich der moderne und universale negative Sinn von Kritik entwickelt. Besonders wichtig erschien den Aufklärern die Vorurteilskritik. Ihr Begriff entstand zur Zeit der Aufklärung, obwohl das Wort weiter zurückgeht. Im 18. Jahrhundert galt, dass Vorurteile unvernünftig waren und ein Urteil der Vernunft dagegengesetzt werden müsste. In seiner Kritik der Urteilskraft (1790) hob er drei notwendige Kriterien für ein Urteil hervor: eigene Urteile mit Vernunft, mit dem ›Kopf‹ der anderen denken und urteilen, sowie konsequent und widerspruchsfrei urteilen. Diese drei Beispiele waren für Kants vorurteilsfreies Denken unverzichtbar. Die Philosophie der Aufklärung hat eine Vielfalt kritischer Theorien über das Vorurteil hervorgebracht – eine moralische, gnoseologische und eine pragmatische. So entstand aus den wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Umwälzungen im 18. Jahrhundert ein stärker pragmatisches Denken, das sich in der Aufklärung verwirklicht hat. Kant war in seiner Philosophie bemüht, die Einseitigkeiten des Rationalismus und Empirismus aufzudecken und mit Hilfe seines Vernunftkonzepts zu überwinden. Der Vernunftbegriff wurde von ihm differenziert in ›theoretische‹ und ›praktische‹ Vernunft, in ›Verstand und Vernunft‹. Bei Kant ging es darum, die Aufklärung ›reflexiv‹ zu sehen, ihre Ambivalenzen und Grenzen zu erkennen und daher als Selbstkritik der Vernunft zu sehen. So verstand Kant unter Kritik

der Vernunft »Selbstkritik der Vernunft« (Kant 1956 und 1959). Schon im 18. Jahrhundert geriet der Rationalismus in den Verdacht einer ›Herrschaftswissenschaft‹, die immer von der Rationalitätskritik begleitet wurde. Diese lässt sich in zwei große zeitliche Abschnitte gliedern, deren erster mit der Aufklärung beginnt. Er reicht bis Friedrich Nietzsche, der zweite von Nietzsche bis zur Gegenwart. Darüber hinaus haben sich schon in der Aufklärungszeit verschiedene Linien der Vernunftkritik herausgebildet, die auch von Kant aufgegriffen wurden. Kants Analyse synthetischer Urteile a priori versuchte, den Rationalismus und den Empirismus mit der Transzendentalphilosophie methodisch zu verknüpfen, was von der Leibnizschen Unterscheidung zwischen ›Vernunftwahrheiten‹ und ›Tatsachenwahrheiten‹ vorbereitet wurde. Damit kam es auch zu einem Übergang von einem erkenntnistheoretischen zu einem methodischen Rationalismus. Kant versuchte, den Rationalismus durch die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung und den Begriff der transzendentalen synthetischen Einheit der Apperzeption zu überwinden. Obwohl Kant die Existenz eines synthetischen Wissens a priori annimmt, verstand er sich selbst nicht als Rationalist. Kants eigenes kritisches Denksystem nahm an, dass über das synthetische Wissen allein die Phänomenenwelt Auskunft geben könne. Kant bestritt zudem, dass die sogenannten eingeborenen Ideen ihre Gültigkeit aus ihrer Übereinstimmung mit einer dahinterliegenden Wirklichkeit beziehen. War die Aufklärung zunächst auf das theoretische Wissen in den Naturwissenschaften bezogen, so erfolgte dann bald eine Übertragung ihrer Ideen auf Bereiche der Geistes- und der Sozialwissenschaften, die zu dieser Zeit entstanden sind, konkret auf Politik, Gesellschaft, Philosophie, Ethik/Moral und Geschichte. Aufklärung wurde so zu einer doppelten Bewegung: Kritik an der Tradition und an Autoritäten, die als reaktionär und dogmatisch empfunden wurden, und Aufbau eines eigenen Denkgebäudes. Sie war hauptsächlich reflexiv und tolerant, weil sie sich auf Fakten und Ursachen bezieht, das Wissen prüft und durch das eigene Vermögen des Menschen begründet. Aufklärung umfasste in ihren zentralen Gedanken die Mündigkeit des Individuums und stellte die Forderung nach geistiger und politischer Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung auf. Erreicht werden sollte dies durch die menschliche Vernunft und die Befreiung von traditionellen Fesseln, wie religiöse Vorstellungen, Dogmen und Institutionen. Aufklärung verlangte auch religiöse Toleranz, rechtliche Gleichstel-

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lung aller Menschen, persönliche Freiheit, freie wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Herstellung von Öffentlichkeit. Kants Definition der Aufklärung hobt besonders die Aspekte des Selbstdenkens, der Mündigkeit und Emanzipation hervor. Selbstdenken war dabei sehr eng mit dem öffentlichen Vernunftgebrauch verbunden. Aufklärung bedeutete aber auch, der richtig verstandenen Freiheit den Weg zu ebnen. Kants Aufklärung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Liberalisierung des Denkens durch Beseitigung von eingefahrenen Denkgewohnheiten, sondern viel mehr der öffentliche, freie Gebrauch der Vernunft (Reinalter 2016, 97 ff.). Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ist auch die Bezeichnung ›Aufklärung des Verstandes‹ lexikalisch belegt. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich das Verbalsubstantiv verselbstständigt und fand auch ohne Nennung eines Objekts häufiger Verwendung. Unter Aufklärung wurde dann auch eine geistige Aktion verstanden. Eine Vertiefung und Erweiterung erfuhr das vorher dominante rationalistische Denken von Aufklärung durch die starke Betonung der emanzipatorischen Dimensionen des Aufklärungsbegriffes bei Kant. Die Aufklärung förderte eine säkulare Betrachtungsweise, die sich vor allem in der Theorie des geschichtlichen Fortschritts manifestierte. Begründet wurde diese Überzeugung damit, dass der Mensch fähig sei, die Naturgesetze zu erkennten und für sich auch nutzbar zu machen sowie die sozialen Verhältnisse nach Möglichkeit der Naturgesetze für die Menschen rational zu gestalten. In diesem Sinne wurde die Geschichte als ein Prozess des Fortschrittes menschlichen Geistes, als Beförderung der Humanität und als Bestrebung nach einem weltbürgerlichen Zustand mit dem Ziel erklärt, der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Was die Ausdehnung und Wirkung der Aufklärung betraf, hat sich in den Debatten um politische und soziale Gleichheit später ein liberales Bürgertum herausentwickelt, das die Neuordnung der Gesellschaft nach Funktionalität und Prinzipien des freien Marktes entwickelte und in allen religiösen Fragen das Prinzip der Toleranz postulierte. Radikalere Sichtweisen haben einen konsequenten Egalitarismus in das Zentrum ihrer Ideen gestellt und plädierten für die politische Form der Republik, einige von ihnen auch für eine zivilreligiöse Kulturalität. Der Kern im Aufklärungsdenken von Kant ließ sich am besten mit dem Begriff der ›reflexiven‹ Aufklärung beschreiben, die auch als unabschließbares Projekt bezeichnet wurde. Dass seit

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der historischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts neue Aufklärungsprozesse entstanden sind, verdeutlicht den Wandel des Aufklärungsbegriffs und die Kritik an der Aufklärung. Schon während der historischen Aufklärung wurden Ansätze entwickelt, die den eigenen Anspruch der Aufklärer, ihr eigenes Verfahren und ihre Legitimität kritisch hinterfragt haben (Reinalter 2006). Literatur

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Helmut Reinalter

18 Kontraktualismus

18 Kontraktualismus 18.1 Traditioneller und moderner ­ Kontraktualismus Die vorherrschende Strömung der mittelalterlichen politischen Philosophie Europas unterstellt eine Menschennatur, die auf ein sittliches Kollektiv hingeneigt ist, in ihm ihre Potenziale entfaltet und dessen ständische Ordnung der Ungleichheit als unverfügbar und gottgewollt, also naturrechtlich verbürgt, gedacht wird. Gefragt wird hier allenfalls nach der Qualität der immer schon vorausgesetzten Herrschaftsordnung. Hier taucht bereits der Topos gesellschaftsweiter Verträge in zwei Varianten auf, allerdings als nachgeordnetes Moment eines nichtvertraglichen Gemeinschaftstelos: 1. Die Idee des Herrschaftsvertrags unterstellt Stände und Fürsten als vorgängige Vertragssubjekte und damit ursprüngliche kollektive Willenseinheiten. Ziel des Vertrags ist die Bewahrung ständischer Privilegien in einer natürlichen Ordnung der Ungleichheit, keineswegs die Konstitution bzw. Sicherung universeller individueller Freiheitsrechte oder die Hervorbringung einer Herrschaftsordnung überhaupt. Als Gegenleistung für die Privilegien wird ein bedingtes Gehorsamsversprechen gegeben, das dem Volk als Summe von ständisch gegliederten Korporationen zugleich ein Widerstandsrecht gegen den Fürsten bei Vertragsverletzung einräumt (vgl. Hespe 2005, 204–217). 2. Im Konzept des Eigentumsbegründungsvertrags wird die private Aufteilung des gottgewollten Gemeineigentums als Reaktion auf den Sündenfall und die Korrumpierung der menschlichen Natur gerechtfertigt: Da durch Stolz, Egoismus und Habgier die Bedingungen für eine kollektive Aneignung der Existenzgrundlagen verloren gehen, muss der Mensch die göttliche lex naturalis durch menschliche Satzung (lex humana) modifizieren. Der Vertragsgedanke verleiht hier der Aufteilung durch die Freiwilligkeitsunterstellung, »dass Alle übereingekommen sind, Jeder solle das zu eigen haben, was er in Besitz nehmen werde« (Grotius 2007, 245 f.) Legitimität. Dagegen fragt der moderne Kontraktualismus seit dem 17. Jahrhundert, unter welchen Bedingungen politische Herrschaft, die eine Einschränkung individueller Freiheit impliziert, überhaupt legitim ist und beantwortet diese Frage, nicht mehr diejenige bestimmter Ausgestaltungen vorab bestehender Herrschaftsord-

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nungen, mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrags. Es wird gefragt, wann ein Individuum verpflichtet ist, einer zwangsbewehrten sozialen Norm Folge zu leisten. Verpflichtet ist es, so die Idee, wenn die Einschränkung individueller Handlungsspielräume durch staatlich garantierte Kooperations- und Unterlassungsregeln nicht nur faktisch möglich, sondern berechtigt ist. Berechtigt sein kann sie dem Kontraktualismus zufolge nur, wenn die Herrschaftsunterworfenen dieses Recht verleihen, weil »Natur, Gott und Herkommen« (Kersting 1994, 12) als Legitimitätsquellen weggefallen sind. Diese Verleihung von Herrschaftsrechten wird als Gesellschaftsvertrag der zukünftig Herrschaftsunterworfenen verstanden, Verpflichtung (berechtigte Fremdbestimmung) somit als »selbstgewollte und selbstgewählte« (Stemmer 2013, 2) gedeutet. Selbst gewählt wird sie schließlich, wenn Bedingungen gegeben sind, unter denen sie den eigenen (langfristigen) Interessen (oder der eigenen Würde) entspricht, was zugleich heißt, dass diesen Interessen (oder dieser Würde) des Individuums die Rolle eines von allen tradierten und historisch kontingenten Gemeinschaftsbindungen unabhängigen Rechtfertigungsfundaments zugewiesen wird. Diese Interessen streben (meist) ein metaphysisch unanspruchsvolles, generell anzutreffendes individuelles Ziel an, vor allem die Selbsterhaltung (vgl. Hoerster 2003, 42). Die Bedingungen, unter denen politische Pflichten diesen Interessen (oder der Würde) der Individuen entsprechen, sind die Prekarität oder Unmöglichkeit der Realisierung dieses Ziels unter staatlich ungeregelten Verhältnissen – ein Naturzustand, der zum Beispiel Verletzbarkeit, Knappheit, Bedrohungssymmetrie, Konkurrenz, begrenzten Altruismus und begrenzte Willensstärke beinhalten kann. Diese Bedingungen zusammengenommen lassen es rational erscheinen, den unpolitischen Zustand zu verlassen, solange die anderen Akteure dies ebenfalls tun. Der Kontraktualismus argumentiert in der Regel wie folgt: ›Wenn Du x (Selbsterhaltung) anstrebst und Bedingung y (gefahrvoller Naturzustand) gegeben ist, dann ist es für Dich erforderlich (rational), das Mittel z (Etablierung von Unterlassungsregeln) zu ergreifen, um Dein Ziel zu erreichen.‹ Das kontraktualistische Argument entfaltet sich damit im Dreischritt von Naturzustand (Ziele und Bedingungen ihrer Nichtrealisierbarkeit) – Gesellschaftsvertrag (wechselseitige freiwillige Übereinkunft der Etablierung von Unterlassungsregeln und einer Instanz, die deren Einhaltung garantiert:) – Staat. Der moderne Kontraktualismus ist allerdings ein heterogener Diskurs. In ihm finden sich nicht nur un-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_18

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terschiedliche axiologische Prämissen und Naturzustandsbeschreibungen, er ist auch durch eine Reihe von Ambivalenzen gekennzeichnet, die Anlass zur Kritik und zu internen Revisionsprozessen gegeben haben: 1. Moderne Vertragstheorien sind sowohl legitimationstheoretische Konstrukte, die bestehende staatliche Herrschaftsstrukturen normativ rechtfertigen sollen, als auch auf (dem Anspruch nach) anthropologisches Wissen gestützte Projekte sozialtechnologischer Befriedung anomischer Verhältnisse. Normative Philosophie und empirische Sozialwissenschaft bilden hier noch eine spannungsreiche Einheit. 2. Der kontraktualistische Diskurs changiert zwischen Vertragsempirismus und Vertragsfiktionalismus, d. h. er unterstellt die (einstige oder gegenwärtige) empirische Realität der naturzuständlichen Bedingungen und ihrer einvernehmlichen Modifikation in politische, oder er führt eine legitimationstheoretische Fiktion ein, die ausmalt, was passieren würde, wenn Menschen staatlicher Herrschaft entbehren müssten und was diese Menschen vernünftigerweise tun würden, um diesen Zustand zu verlassen, wenn man sie denn fragen würde. Der Vertragsfiktionalismus antwortet, wie zu zeigen sein wird, auf die legitimationstheoretischen Aporien des Vertragsempirismus, allerdings mit dem Ergebnis der De-Voluntarisierung und damit Depotenzierung des Vertragsgedankens selbst (vgl. Kersting 1994, 31 ff.). 3. Moderne Vertragstheorien haben spezifische historische Bedingungen. Es ist kein Zufall, dass sie im England des 17. Jahrhunderts entstehen, einem Land, das sich anschickt, das erste kapitalistische Land der Welt zu werden und das neben einem langjährigen Bürgerkrieg durch die radikale Loslösung der Individuen aus feudalen und ständischen Bindungen sowie ihrer Freisetzung als prekäre Marktsubjekte gekennzeichnet ist. Diese Prozesse gewaltförmiger Enttraditionalisierung und Individualisierung werden theoretisch in Gestalt einer ideologischen Überhöhung dieses von allen Gemeinschaftsbindungen freigesetzten Marktakteurs zum natürlichen Menschen überhaupt verarbeitet, also durch die Enthistorisierung einer historisch spezifischen Individualitätsform zum legitimationstheoretischen Fundament (vgl. Macpherson 1980). Die universalistischen und rechte-egalitaristischen Kategorien des Kontraktualismus handeln sich damit histori-

sche, klassenspezifische, koloniale und patriarchale Partikularismen ein, die in marxistischen, feministischen, kommunitaristischen und postkolonialen Theorien kritisiert wurden. Allerdings besteht dabei die Gefahr, zu übersehen, dass erstens der universalistische Gehalt des Kontraktualismus und seines rechtfertigungstheoretischen Individualismus nicht in diesen Partikularismen aufgeht (der Mensch der Naturzustandskonstruktionen ist eben keinesfalls nur der moderne männliche Besitzbürger und weiße Imperialist) und zweitens damit auf anthropologische Systemprobleme und universalistisch begründbare Ansprüche des Individuums reflektiert wird, ohne die menschenrechtliche Argumentationen in Zeiten kollektivistischer Regressionsphänomene (in Gestalt von Faschismus, Stalinismus, Antisemitismus, Islamismus oder postmodernem Kulturrelativismus) in der Luft hängen. Die Gefahr ideologiekritisch-verdachtshermeneutischer Zugänge besteht also in einer zur Enthistorisierung des Bürgers komplementären falschen Historisierung des Menschen zum männlichen, weißen Besitzbürger und damit in der vollständigen Depotenzierung kulturübergreifender individueller Bedürfnisse als Legitimationsbasis für kollektive Verpflichtungen (vgl. Tugendhat 2009, 66, 71).

18.2 Die Begründung des modernen ­ Kontraktualismus: Hobbes Der moderne Kontraktualismus wird von Thomas Hobbes begründet. Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs und der Entstehung des Kapitalismus in England erscheint Hobbes die soziale Ordnung als Konstruktionsproblem und nicht mehr als selbstverständliche Voraussetzung. Ambivalenz des Ausgangpunkts der Staats­ konstruktion Der Mensch des Naturzustands ist der aus allen vorgegebenen moralischen und Sinnkontexten freigesetzte Einzelne, der »proletarian of creation« (Strauss 2001, 145). Die Menschheit als Menge primär dissoziierter Individuen ist Ergebnis der analytischen Abstraktion Hobbes’ von allen staatlichen Zuständen, die damit eine Problemsituation freilegt, aus der wiederum synthetisch der Staat als in seiner Notwendigkeit begriffene und legitimierte Problemlösungsinstanz

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rekonstruiert werden soll. Der Hobbessche Begriff des Menschen ist ein (nicht als solches ausgewiesenes) Konglomerat aus anthropologischen Bestimmungen und historisch-spezifischen Individualitätsformen: Auf der einen Seite steht der quälbare, angsterfüllte Körper als Ausgangspunkt der Staatskonstruktion: Hobbes’ mechanischer Naturbegriff verabschiedet das aristotelisch-christliche Weltbild einer von objektiven Normen durchtränkten, teleologisch strukturierten und nach dem Vergeltungsprinzip funktionierenden Natur zugunsten eines reduktiven Materialismus, der das Universum als Ansammlung von Körpern in Bewegung betrachtet. Den menschlichen Körper leitet ein hedonistisches Handlungsprinzip (Lust suchen, Schmerz meiden), das aufgrund der sprachvermittelten Antizipationsfähigkeit dieses Körpers die Furcht vor dem gewaltsamen Tod als größtes Übel einsetzt. In diesen Körper werden allerdings auf der anderen Seite elementare Prinzipien einer historisch spezifischen kapitalistischen Akkumulationslogik (Anhäufung und Re-Investition von Kapital, um in der Konkurrenz bestehen zu können) projiziert: Hobbes begreift den Menschen als Wesen, das Macht – bestimmt als Mittel zur Aneignung von Gütern – anstrebt, die wiederum als Mittel zur Erlangung weiterer Macht dienen und zwar von mehr Macht als andere besitzen (Hobbes 1999, 66; 1994a, 24; 1976, 65). Das Machtstreben ist damit kompetitiv und prinzipiell maßlos. Das Leben des Menschen ist ein »Wettrennen«, dessen einziges Ziel es ist, »an erster Stelle zu stehen. [...] Und das Rennen aufgeben heißt sterben« (Hobbes 1976, 76 f.). Legitimation und Sozialtechnologie Der von Knappheit, Misstrauen und maßlosem Steigerungswettbewerb im Überlebenskampf der Körper geprägte Naturzustand ist einerseits legitimationstheoretisches Konstrukt – er gibt die Situation an, unter der eine wechselseitige Freiheitsbeschränkung als vernünftig erscheint –, andererseits empirische Diagnose und Prognose und zwar als den politischen Gemeinwesen stets drohende Möglichkeit von Bürgerkriegen sowie stets präsente, zur Lösung aufgegebene Problemsituation des modernen Staates, denn die menschliche Wolfs-Natur, d. h. der soziale Antagonismus, ändert sich Hobbes zufolge im Staate nicht, er wird nur eingehegt und muss permanent eingehegt werden (vgl. Weiß 1980, 139 f., 231). Hobbes formuliert im Leviathan den Anspruch, dass »lange nachdem die Menschen begonnen hatten, unvollkommene, zum Rückfall in Unordnung neigende Staaten zu errichten,

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durch eifriges Nachdenken Vernunftsprinzipien ausfindig gemacht werden [müssen], um ihre Verfassung dauerhaft zu machen« (Hobbes 1999, 256). Da für Hobbes jede hinsichtlich des Friedensziels wirksame Regierung legitim, d. h. kontraktualistisch interpretierbar ist, ist seine Legitimitätsanalyse immer identisch mit der Untersuchung der Stabilitätsbedingungen von Gemeinwesen, woraus optimierende Ratschläge für wirkliche Staatswesen hervorgehen: die Angabe von »sicheren Regeln« für die »Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten«. (162) (vgl. Euchner 1979, 207) Hobbes’ Kontraktualismus glaubt, dass »die Einsicht in die rationalen Gründe staatlicher Existenz die Bürger zu einem gesetzestreuen Verhalten motivieren könnte, dass sich also der rationale Grund der Staatsentstehung in eine rationale Ursache der Staatserhaltung ummünzen ließe« (Kersting 2002, 196 f.). Schließlich ist der Naturzustand auch zwischenstaatliche Realität. Hobbes geht unhinterfragt vom bestehenden Staaten-Pluriversum aus, obwohl seine Prämissen dies nicht hergeben: Der Mensch, nicht der Engländer, Franzose etc. ist die Deduktionsbasis seiner Staatskonstruktion. Aporie des Gesellschaftsvertrags Das Naturrecht der Körper im Naturzustand bedeutet bei Hobbes lediglich die faktisch gegebene Bedürftigkeit und Fähigkeit zur Selbsterhaltung – ein ›Recht‹ aller auf alle und alles, was beliebt und zu erlangen ist –, es weist im Gegensatz zur naturrechtlichen Tradition keinerlei normativ definierte Grenze oder juridischen Gehalt auf. Das Leben unter diesen Bedingungen wäre »armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« (Hobbes 1999, 97). Unter der Bedingung angestrebter individueller Selbsterhaltung und der Tatsache, dass die Menschen füreinander eine reale Gefahr darstellen (Bedrohungssymmetrie), wird so die wechselseitige Unterlassung von Tötung und Versklavung zum Mittel individueller Sicherheit und Nutzenmaximierung. Im Gegensatz zum rein auf Macht und natürliche Bedürfnisse reduzierbaren ›Naturrecht‹ (natural right) ist das ›Gesetz der Natur‹ (law of nature) ein Set klugheitsbasierter Unterlassungs- und Kooperationsregeln. Die Akteure praktizieren »Selbstbeschränkung [...] mit dem Ziel [...], dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen« (131). Die natürlichen Gesetze sind hypothetische Imperative, die nur unter bestimmten Bedingungen gelten, wie bereits die Formulierungen der drei wichtigsten verraten: »Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht« (99).

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»Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten« (100). »Abgeschlossene Verträge sind zu halten [...], aber auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Verträge [sind] ungültig, wenn [...] eine der beiden Parteien die Nichterfüllung befürchtet« (110). Zwar sind den Akteuren diese Regeln durchaus gegenwärtig, im Naturzustand ist ihre Befolgung aber nicht möglich, da stets die Wahrscheinlichkeit besteht, dass andere die Option des Trittbrettfahrens wählen, also Kooperationsopfer vermeiden: Für A besteht keinerlei Sicherheit, dass beim Niederlegen der Waffen auch B die Waffen niederlegt. Eine Korrektur des Verhaltens ist nicht möglich, da der eigene Tod die Folge sein könnte. Die Selbstbeschränkung muss demnach die Form einer erzwingbaren Kooperationsordnung annehmen: Die Gesetze der Natur müssen von einer Instanz durch Androhung von Zwang in Geltung gesetzt werden, die unmittelbaren Kosten für Nichtkooperation müssen höher sein als deren Nutzen. Diese Instanz wird durch den »Vertrag eines jeden mit jedem« (134) errichtet, indem eine Person oder Personengruppe autorisiert wird, die Selbsterhaltungsbedingungen der Individuen verbindlich zu interpretieren und durch Zwangsandrohung zu implementieren. Empirisch interpretiert verfängt sich dieser Gedanke in einer Aporie, denn Verträge, die nur auf gegenseitigem Vertrauen beruhen, sind Hobbes zufolge ungültig, solange Vertragsbruch befürchtet werden muss, was im Naturzustand stets der Fall ist. Das »Band der Worte« sei »viel zu schwach [...], um den Ehrgeiz, die Habgier, den Zorn und die anderen menschlichen Leidenschaften ohne die Furcht vor einer Zwangsgewalt zu zügeln« (105). Im Naturzustand ist die den Vertrag auszeichnende Reziprozitätsbedingung stets gefährdet, denn hier »gibt es [...] nichts, was einem Friedensvertrag Kraft verleihen könnte« (108). Erst im Staatszustand, »wo eine Gewalt zu dem Zweck errichtet wurde, diejenigen zu zwingen, die andernfalls ihre Treuepflicht verletzen würden, ist eine solche Furcht nicht länger vernünftig, und deshalb ist derjenige, welcher aufgrund des Vertrags vorzuleisten hat, dazu verpflichtet« (105). Verträge sind also nur unter der Bedingung der Existenz eines Gewaltmonopols gültig, das aber durch den Gesellschaftsvertrag erst hervorgebracht werden soll. Dieser spezielle Vertrag muss also vor der Existenz seiner Geltungsbedingungen gültig sein. Der Vertrag könnte freilich auch als reine legitimationstheoretische Fiktion gelesen werden, wozu Hobbes’ Theorie durchaus Material liefert.

Der Staat als Ungeheuer – Souveränität als Naturzustand zwischen Staat und Bürgern Gesellschaftsvertragliche Autorisierung begründet Souveränität, in der der Wille einer Person oder einer Gruppe die Kooperationsordnung repräsentiert. Nur durch die furchtbegründete und autorisierte Herrschaft des Souveräns ist die Koordination der Privatwillen zu gewährleisten, nur dann existiert ein gesellschaftliches Band. Diese Autorisierung konzipiert Hobbes als Selbstentmündigungsakt der Individuen: ihr Wille und ihre Kraft, ihr Recht auf alles werden im Akt einer »Schenkung« (Hobbes 1994b, 148) zugunsten eines vertragsunbeteiligten Dritten vollständig und irreversibel an die dadurch souveräne Instanz übertragen (zum inkonsistenten Topos des Rechtsvorbehalts bei Hobbes vgl. Hüning 2005). Damit entstehen staatskonstitutive Paradoxien: Der Staat ist inhaltlich zweckgebunden an die Aufgabe der Sicherung der individuellen Existenz eines jeden, kann diese aber durch seine Macht jederzeit gefährden, weil er nicht selbst wiederum rechtlich eingehegt ist – der Souverän ist höchstens ›funktional‹, nicht aber rechtlich auf den Staatszweck verpflichtet (vgl. Kersting 1994, 97). Zudem kann der Souverän nun verbindlich entscheiden, wann Selbsterhaltung gefährdet ist, welche Bedingungen sie hat, ja sogar, was ein Mensch ist, dessen Selbsterhaltung es zu schützen gilt (vgl. Hobbes 1994b, 287). Der Staat ist rational ausgehend von den konvergenten Interessen der Individuen konstruiert und legitimiert, kann von seiner Position aus aber willkürlich (höchstens durch faktische Bedingungen begrenzt) entscheiden, was rational ist: »[D]er Leviathan erlaubt es dem Leviathan, den Leviathan zu verbieten« (Ludwig 1998, 385). In seiner Ablehnung von Gewaltenteilung und Meinungspluralismus sowie seiner Bevorzugung der Monarchie vertraut Hobbes ganz und gar auf die sichtbare Hand des Staates als einziges soziales Band, was John Locke zu Folge hieße, »die Menschen für solche Narren zu halten, daß sie sich zwar bemühen, den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder oder Füchse entstehen kann, aber glücklich sind, ja, es für Sicherheit halten, von Löwen verschlungen zu werden« (Locke 1998, 258). Bei allen totalitären Tendenzen, die Hobbes’ Leviathan paradoxerweise aufweist (vgl. dagegen: Kersting 1994, 99; Ottmann 2006), ist seine Idee absoluter Souveränität doch keineswegs auf eine spezielle Regierungsform reduzierbar, sondern zeigt fundamentale Probleme jeder modernen Staatlichkeit auf. Hobbes führt drei Argumente dafür an, dass Souveränität abso-

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lut sein muss: (1) Eine Interpretationshoheit der Bürger darüber, was eine angemessene Realisierung der Kooperationsordnung ist, würde einen Rückfall in den vorstaatlichen Zustand bedeuten und (künstliche) Verbindlichkeit des Staates durch (natürlichen) Relativismus und Subjektivismus ersetzen. (2) Eine Selbstverpflichtung des Souveräns ist nicht möglich, »denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet« (Hobbes 1999, 204). (3) Eine rechtliche Bindung des Souveräns würde einen infiniten Regress der Souveräne mit sich bringen. Die These der konstitutionellen Bindung des Gewaltmonopolisten stellt mit dem Gesetz »auch einen Richter und eine Gewalt zu seiner Bestrafung über ihn, was die Schaffung eines neuen Souveräns und aus demselben Grund wieder die Schaffung eines dritten zur Bestrafung des zweiten bedeutet, und so endlos weiter« (248).

18.3 Liberaler und empiristischer ­ Kontraktualismus: John Locke Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) stellen das zweite Gründungsdokument des modernen Kontraktualismus dar. Die Abhandlungen entstanden im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die englische Thronnachfolge und dem Kampf zwischen absolutistischen Tendenzen auf der einen Seite und der liberalen Bewegung für die Konstitutionalisierung der Herrschaft als Sicherung von ›Liberty and Property‹ auf der anderen. Es ist daher kein Zufall, dass Locke den besitzindividualistischen Ausgangspunkt der kontraktualistischen Staatslegitimation radikal ausformuliert und versucht, die Paradoxien der Hobbesschen Staatskonstruktion durch menschenrechtliche Fundierung, Modifikation des Vertragsgedankens und innerstaatliche Gewaltenteilung abzumildern. Menschenrechte ohne Vertrag Im als empirische Hypothese verstandenen Naturzustand treten sich am eigenen Überleben und Glück interessierte Individuen gegenüber, deren legitime Handlungsoptionen durch ein schöpfungstheologisch fundiertes Naturrecht eines jeden auf Leben, Freiheit und Privateigentum begrenzt sind. Das Privateigentum gilt Locke als vorsoziales Recht: Indem isolierte Akteure, denen Locke ein ursprüngliches Eigentum an ihren Kräften, Willen und Fähigkeiten attestiert, sich

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die Natur aneignen, vermischen sie diese rechtspersonale Substanz durch ihre Arbeit mit äußeren Gütern und fügen diesen etwas (rechtlich) ›Eigenes‹ hinzu, das den Zugriff aller anderen auf diese Güter ausschließt (zur Kritik an Lockes Arbeitstheorie vgl. Brocker 1992, 354–387). Arbeit wird von Locke begründungslos von vornherein als isolierte Privatproduktion verstanden, der aber zunächst enge Grenzen einer gebrauchswertorientierten Ökonomie gesetzt sind (artikuliert in Gestalt von Aneignungsschranken). Im Zuge der Entwicklung des Naturzustands wird aber durch die konventionelle Einführung des Geldes ein unverderbliches, Nutzen symbolisierendes Gut erschaffen, das gegen alle anderen eintauschbar ist, was unbegrenzte Akkumulation ermöglicht. Die Aussicht auf monetären Gewinn soll nun den Fleiß der Produzenten anspornen und zur Steigerung des Reichtums an intrinsisch wertvollen Dingen beitragen. Im Zuge dieser Anreiztheorie wird auch eine Arbeitsleidtheorie des Reichtums artikuliert (dass »die Arbeit den weitaus größten Anteil des Wertes der Dinge ausmacht«, Locke 1998, 226). Soziale Ungleichheit zwischen Eigentümern an Produktionsmitteln (Boden) und bloßen Selbsteigentümern ohne Produktionsmittel, entsteht Locke zufolge aus dem Unterschied des Fleißes. Im Naturzustand lässt die gleiche Freiheit (verstanden als Abwesenheit persönlicher Abhängigkeit) für natürliche Herrschaftsrechte keinen Raum. So gilt Locke auch die »eheliche Gesellschaft« als durch »einen freiwilligen Vertrag zwischen Mann und Frau« (248) entstanden. Allerdings bildet der Zweck der Gattungsreproduktion und Eigentumsvererbung das vorgegebene Vertragsziel. Lediglich die vorübergehende Verstandesdefizienz von Kindern begründet ein natürliches, aber an die Fürsorgepflicht gebundenes und mit der Volljährigkeit endendes Herrschaftsrecht – die väterliche Gewalt. Obwohl Locke den Naturzustand zunächst als friedlichen und rationalen zeichnet, identifiziert er hier aus der egoistischen Menschennatur fließende Konfliktpotentiale, die dazu führen, dass das gleiche Naturrecht der Eigentümer ihnen durch eine von ihnen selbst durch einen Gesellschaftsvertrag geschaffene Instanz aufgezwungen werden muss, die über das Rechtssetzungs-, -auslegungs- und -anwendungsmonopol verfügt. Vertragsempirismus und Treuhänderschaft Lockes Vertragsempirismus geht von wirklichen Staats- und Beitrittsverträgen der Einzelnen aus (vgl. §§ 101–122), durch die sie sich freiwillig zu bestimm-

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ten Handlungen und Unterlassungen verpflichten. Daher kann ihm zufolge ein Gesellschaftsvertrag, der von einer Generation eingegangen worden ist, die folgende, sobald sie erwachsen ist, nicht verpflichten: »[E]in jeder steht unter der Verpflichtung aller Verbindlichkeiten und Versprechen, die er für sich selber eingegangen ist, aber er kann durch keinerlei Vertrag seine Kinder oder Nachkommen binden« (274). Nach dem historischen Gründungsvertrag gebe jeder seine Zustimmung der Zugehörigkeit zu einem bestehenden Gemeinwesen, »einzeln für sich« (274). Dadurch werde dieser Beitrittsakt oft übersehen und als inexistent behauptet. Allerdings sei »zu erwägen, was als eine hinreichende Erwägung der Zustimmung eines Menschen verstanden werden soll«. Im Gegensatz zur »ausdrückliche[n] Zustimmung« erweist sich die »stillschweigende[.]« (275) als problematisch: Zeichen stillschweigender Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag seien vor allem (Grund-)Besitz und Aufenthalt auf dem Staatsterritorium. Die ausdrückliche Zustimmung verpflichte dabei »auf ewig und unwiderruflich« (277) zur Staatsbürgerschaft, während stillschweigende durch Aufgabe ihrer Anzeichen zurückgenommen werden könne. Durch stillschweigende Zustimmung kann man nach Locke allerdings kein Mitglied eines Staatswesens werden, sie begründe lediglich ein Gastrecht. Der Hobbessche Zirkel des Vertragsempirismus bleibt hier bestehen, denn die vernünftige Kooperationsleistung der Individuen, die den Staat begründen soll, kann nur unter staatlichen Bedingungen Wirklichkeit erlangen, da die Menschen Locke zufolge zu parteilich und egoistisch sind, um eine naturzuständliche Einigkeit über die Reichweite der individuellen Freiheitsräume und ihrer Sicherung zu erzielen. Rechtsstaat des Eigentums Der als empirisches Faktum verstandene Gesellschaftsvertrag konstituiere legitime Herrschaft, die allerdings nur Treuhänderin der Naturrechte ist und damit rechtsstaatlich limitiert sein soll. Das bedeutet allerdings nicht, dass es ein unbedingtes Recht auf Leben gäbe. Bereits im Naturzustand erachtet Locke die Todesstrafe für Eigentumsdelikte als legitim (211); im staatlichen Zustand kann der Einzelne jederzeit im Zuge des Krieges für den Erhalt der Eigentumsordnung geopfert werden (289). Primär ist also das Privateigentum. Der Staat wird in legislative und exekutive Gewalt (darunter Rechtsprechung, föderative außenpolitische Gewalt und Prärogative) unter-

teilt. Die »Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen« (291), erfordere eine Teilung der legislativen und der exekutiven Gewalt. Diejenigen, die die Gesetze beschließen, seien ihrer Ausführung unterworfen, die Ausführenden wiederum den Gesetzen verpflichtet. Innerhalb der konstituierten Gewalten des Staates komme der Legislative im Regelfall, der Prärogative im Ausnahmefall der Vorrang zu. Alle Gewalten seien aber natur- und positivrechtlich gebunden. Auch die Staatsräson des Fürsten, die im Ausnahmezustand gegen das Gesetz zugunsten des öffentlichen Wohls handeln soll, stelle lediglich einen Teil der vom Volk überantworteten Gewalt dar. Generell bestehe damit Herrschaft des Gesetzes. Im Zweifelsfall dauerhaften und schweren Missbrauchs der Macht existiere für das Volk ein Recht auf Widerstand. Damit bleibt das Volk bei Locke als konstituierende Gewalt der Souverän, wobei das Recht, in der konstituierten Gewalt der Legislative vertreten zu werden, jedem »Teil des Volkes [...] lediglich im Verhältnis zu dem Beistand [...], den er der Öffentlichkeit leistet« (300), zustehe (Zensuswahlrecht).

18.4 Modifikationen des Kontraktualismus im 18. Jahrhundert Die Entwicklung des modernen Kontraktualismus ist durch fundamentale Selbstkritiken gekennzeichnet. Selbstkritiken, weil dabei nicht auf eine traditionalistische und kollektivistische Begründungsstrategie zurückgegriffen wird, wie im Konservatismus, sondern Herrschaft sich immer noch vor dem Individuum rechtfertigen muss: Zum einen werden die begründungstheoretischen Aporien des Vertragskonzepts durch eine De-Voluntarisierung des Vertragsgedankens gelöst – statt freier Willkürakte werden bei David Hume und Immanuel Kant Interesse oder Vernunft zum Geltungsgrund staatlicher Verpflichtung. Zum anderen werden von Jean-Jacques Rousseau die anachronistischen Projektionen des modernen Menschen in den Naturzustand einer Kritik unterzogen, die demokratietheoretischen Defizite des bisherigen Herrschaftsmodells thematisiert und die klassenspezifische Kehrseite des formal rechte-egalitaristischen Kontraktualismus entlarvt.

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18.5 Klugheitstheoretischer Kontraktua­ lismus: David Hume Hume kritisiert die legitimationstheoretische Schwäche des Vertragsempirismus und arbeitet die obligationstheoretische Aporie des Vertragsgedankens heraus, allerdings ohne zentrale Motive des Kontraktualismus aufzugeben. Die Unbrauchbarkeit der stillschweigenden Zustimmung Zunächst argumentiert er im Jahr 1748 gegen Lockes Idee stillschweigender Verträge: Die Annahme solcher Verträge setze eine Entscheidungsfreiheit voraus, die meist nicht bestehe, weil der Gedanke, Herrschaft und Regierung stünden überhaupt zur Disposition der Untertanen, in der Regel nicht vorhanden sei. Hume konstatiert, dass »wortlose Zustimmung nur dort gegeben werden kann, wo zunächst die Vorstellung bestand, die Sache sei der eigenen Entscheidung überlassen«. Da aber die Mehrheit der Menschen »an eine angeborene Pflicht zur Loyalität zu einem bestimmten Fürsten oder einer bestimmten Form der Regierung glaubt«, sei diese Voraussetzung nicht gegeben (Hume 1988, 311). Zudem seien die Freiwilligkeitsbedingungen für Residenz als Zeichen stillschweigender Zustimmung nicht vorhanden: »Können wir allen Ernstes behaupten«, so Hume, dass »ein armer Bauer oder Handwerker, die freie Wahl hat, sein Land zu verlassen, wenn er keine Fremdsprache spricht oder Umgangsformen kennt und Tag für Tag von seinem geringen Lohn lebt? Wir könnten ebenso gut behaupten, daß ein Mann durch seinen Aufenthalt auf einem Schiff die Herrschaft des Kapitäns freiwillig anerkennt, obwohl er im Schlaf an Bord getragen wurde und ins Meer springen und untergehen müsste, wenn er das Schiff verlassen wollte« (311). Schließlich errichteten Staaten sogar nicht selten Einschränkungen der Freizügigkeit, also Residenzpflicht, um ihre »Entvölkerung« zu verhindern (312). Interesse statt Vertrag Hume stellt in seinem Traktat über die menschliche Natur (1739/40) zudem die verpflichtungstheoretische Tauglichkeit des Vertragsgedankens in Frage: Die ›Übereinkunft‹, die die Basis für legitime Herrschaft ist, stellt ihm zufolge weder einen Vertrag noch ein Versprechen dar. Die Begründung von Unterlassungsnormen (z. B. des Eigentumsrechts), liege im allgemei-

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nen Wissen um den individuellen Vorteil dieser Unterlassung begründet, wobei die Reziprozität der Unterlassung Geltungsbedingung dieser Norm sei: der andere hat nur dann ein Motiv, meine Güter unangetastet zu lassen, wenn ich seine Güter nicht ohne seine Zustimmung aneigne (vgl. Hume 1978, 233). Eine solche Übereinkunft ist für Hume deshalb kein Versprechen, weil solche vielmehr selbst auf einer ›Übereinkunft‹ im oben genannten Sinne beruhen: Er nennt »Versprechen menschliche Erfindungen [...], die sich auf die Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft gründen« (266), und wenn das Wissen um den Vorteil der Unterlassungsregel »wechselseitig kundgegeben« werde, sei das »Zwischenglied eines Versprechens [...] nicht erforderlich« (233). Hume schält damit den klugheitstheoretischen Kern des Kontraktualismus heraus, verzichtet aber auf die vertragstheoretische Hülle: Eine zwangsbewehrte Kooperationsordnung wird als künstliche direkt aus dem konvergenten Interesse aller an ihrem individuellen Nutzen hergeleitet. Der Kontraktualismus beschreite den überflüssigen Umweg, die Verpflichtung zur staatsbürgerlichen Loyalität aus der Verpflichtung zur Vertragstreue herzuleiten. Doch wenn der Kontraktualist gefragt würde, »warum man sein Wort halten« solle, so käme er »in Verlegenheit« und gebe schließlich dieselbe Antwort wie Hume: »Eure einzige Antwort darauf hätte [...] sofort und ohne jeden Umweg unsere Verpflichtung zu Loyalität begründet« (Hume 1988, 318), d. h. man benötige jenseits von Klugheitserwägungen nicht noch einmal einen Vertrag, um die Vertragstreue zu begründen. Humes Kritik erweist sich damit als Variante des Zirkularitäts- oder Regresseinwandes gegen den Kontraktualismus: Wenn A und B einen Vertrag schließen, der die wechselseitige Einhaltung bestimmter Normen zum Inhalt hat, so ist die primäre Verpflichtung, Verträge zu halten, vorausgesetzt, um diese sekundären Verpflichtungen zu generieren. Soll diese primäre Verpflichtung wieder durch Vertrag generiert werden, so verschiebt sich das Problem nur in einen infiniten Regress – die Verpflichtung, Verträge einzuhalten, ist nicht vertraglich hervorzubringen. Eine rein immanente Generierung von Verpflichtungen, ohne die Geltung von Normen jenseits vertraglicher Zustimmung vorauszusetzen, ist also nicht möglich (vgl. Stemmer 2013, 4). Der Hinweis auf das Versprechen, Verträge zu halten, reproduziert lediglich die Problematik, da nun die Pflicht, Versprechen zu halten, vorausgesetzt werden muss. Das Naturrecht als Basis legitimer Rechtsordnungen, ist Hume zufolge eine »eine Erfindung[, die] sich

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aufdrängt« (Hume 1978, 227). Die drei »Grundgesetze des Naturrechtes« (274) (Sicherheit des Besitzes; Eigentumsübertragung durch Zustimmung; Einhalten von Versprechen) sind Lösungsformen humanspezifischer Mängel und Vergesellschaftungsprobleme: All diese Regeln wurden aus der Nützlichkeit der gesellschaftlichen Kooperation für das Individuum und der Nützlichkeit dieser Regeln für die Kooperation abgeleitet. Obwohl Hume damit Herrschaftslegitimation vollständig von vertraglichen Bindungswirkungen unabhängig macht, bewahrt er Grundelemente kontraktualistischer Norm- und Rechtsbegründung (vgl. Stemmer 2013, 3, 18): (1) Die Immanenz der Rechtsordnung: sie ist menschengemacht, »nicht etwas durch die Natur oder transzendente Mächte Vorgegebenes« (2); (2) das individualistische Legitimitätskriterium: Nur solche Normordnungen gelten als legitim (also nicht bloß gewaltsam nötigend), die als aus einem Vertrag hervorgehend gedeutet werden können; (3) die Interessenbasiertheit rechtlich-staatlicher Verpflichtung: Unterlassungsregeln können als aus einem Vertrag hervorgehend gedeutet werden, wenn ihre Befolgung als im individuellen Eigeninteresse eines jeden verstanden werden kann. Die wechselseitige Befolgung von Unterlassungsregeln generiert für jeden einen Vorteil, der ohne diese Befolgung nicht zu haben wäre; (4) die Erklärung von Fremd- aus Selbstverpflichtung: mir auferlegte Gesetze werden damit als selbstauferlegte gedeutet.

18.6 Sozialkritischer und republikanischer Kontraktualismus: Jean-Jacques Rousseau Rousseau hat in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) sowie im Gesellschaftsvertrag (1762) eine sozialkritische und demokratietheoretische Umwälzung kontraktualistischer Motive vorgenommen. Die Klassenspezifik des Gesellschaftsvertrags Rousseaus Abhandlung ist eine kulturkritische Erzählung, die mit dem für dieses Genre stilbildenden Dreischritt ›Goldenes Zeitalter‹, fortschrittskritische ›Verfallsgeschichte‹ sowie ›pessimistische Zukunftsdiagnose‹ arbeitet (vgl. Rousseau 2005, 34; Bollenbeck 2007). Der methodische Status des Naturzustands ist schillernd: er fungiert als normative Kritikfolie für

die Gegenwart ebenso wie als »Hypothese mit empirischen Begründungselementen aus der Ethnologie und der Biologie« (Bollenbeck 2007, 51). Die Verfallsgeschichte geht von dem autarken und weitgehend isoliert lebenden Naturzustandsbewohner aus, dessen einfache Bedürfnisse von der Natur gedeckt werden und der nur punktuelle sexuelle Kontakte ohne jegliche Sippenbildung pflegt. Aufgrund der human­ spezifischen Perfektibilitätsanlage, der Entwicklung von Arbeits-, Urteils- und Vergleichsfähigkeit vor dem Hintergrund feindlich werdender Naturbedingungen und vor allem der Entstehung eines das Naturrecht brechenden und positivrechtlich ungeschützten Privatbesitzes, wird der Mensch allmählich vergesellschaftet, was kompetitive Selbstliebe, Neid und brutalen Kampf um Besitzanteile bedeutet. Der »Kriegszustand« zwischen den (Land-)Besitzenden und den Besitzlosen, die gezwungen sind, sich zu verdingen oder durch Raub ihr Leben zu fristen, lässt das »Recht des Stärkeren« zwischen den »Usurpationen der Reichen« und den »Raubtaten der Armen« entscheiden (Rousseau 2005, 90). Der Kriegszustand eines jeden gegen jeden ist für Rousseau Endpunkt dieser Entwicklung, nicht Ausdruck einer ursprünglichen Menschennatur. Er kritisiert Hobbes’ (und Lockes) Anthropologisierung des modernen Besitzindividualisten und führt damit eine historisierende Perspektive in den Kontraktualismus ein: »Ein oberflächlicher Philosoph beobachtet Seelen, die hundertfach im Sauerteig der Gesellschaft geknetet und fermentiert sind, und glaubt, den Menschen beobachtet zu haben. [...] Sie wissen durchaus, was ein Bürger von London oder Paris ist, aber was ein Mensch ist, werden sie nie begreifen« (Rousseau 1981b, 418). Allerdings ist auch für Rousseau die einmal gefallene Menschennatur nicht mehr revidierbar und sind daher Privateigentum und bürgerliche Gesellschaft alternativlos. Dennoch kritisiert er die illegitime Form einer gesellschaftsvertraglichen Beendigung des Kriegszustands durch bloße formalrechtliche gleiche Freiheitsgarantien: Die Reichen erkannten, dass der Kriegszustand für sie maximal unvorteilhaft war, da »die Gefahr für das Leben allen gemeinsam war, während die für Hab und Gut allein die ihre war« (Rousseau 2005, 90). Unter diesen Bedingungen ersannen sie Rousseau zufolge einen auf betrügerischen »Scheingründe[n]« basierenden Gesellschaftsvertrag mit dem Inhalt, »jedem den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört« und zwar »ohne Ansehen der Person« (92). Die bisherige ungleiche, durch usurpatorische Gewalt hervorgebrachte Eigen-

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tumsordnung, die eine klassenspezifische Ungleichheit der Verfügung über Produktionsmittel (Bodenbesitzer vs. Besitzer von nichts als Arbeitskraft) implizierte, werde durch ein das Privateigentum schlechthin und die Sicherheit der Eigentümer garantierendes, d. h. mittels abstrakt-allgemeiner Gesetze herrschendes Zwangsmonopol festgeschrieben. Dieses lege »das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fest[...]«, mache »aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht« und unterwerfe »für den Gewinn einiger Ehrgeiziger fortan das gesamte Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend« (93). Die Gleichbehandlung aller reproduziert so die ungleichen sozialen Ausgangsbedingungen. Der formalrechtliche Gesellschaftsvertrag konstituiert eine betrügerische Rechtsgleichheit in Form einer Positivierung der Ergebnisse des Kriegszustands, indem er die Verteilung der Produktionsmittel nicht zu den zustimmungsbedürftigen Vertragsinhalten zählt. Rousseau kritisiert damit die sozialer Ungleichheit gegenüber indifferenten Vertragstheorien und führt die soziale Frage als Legitimitäts- und Rationalitätsbedingung in den modernen Kontraktualismus ein. Demokratietheoretische Erweiterung des Ver­ tragsgedankens Im Gesellschaftsvertrag versucht Rousseau, seine bisherige Kritik des Kontraktualismus in den positiven normativen Entwurf einer rechtlichen Ordnung zu überführen. Eigentumstheoretisch bedeutet dies, dass sozioökonomische Homogenität angestrebt werden muss, um den Vertrag moralisch legitim und für einen jeden klugheitstheoretisch sinnvoll erscheinen zu lassen: »In Wirklichkeit sind die Gesetze immer denen nützlich, die etwas besitzen, und schaden denen, die nichts haben. Daraus folgt, daß der gesellschaftliche Zustand für die Menschen nur in dem Maße von Vorteil ist, in dem alle etwas und keiner von ihnen zuviel hat« (Rousseau 1981a, 287). Dies bedeutet klassentheoretisch eine kleinbürgerliche Eigentumsstruktur ohne Lohnarbeit, nämlich dass »kein Bürger so reich sein sollte, um einen anderen kaufen zu können, und niemand so arm, daß er gezwungen wäre, sich zu verkaufen« (311). Symmetrische Eigentumsverhältnisse sind aber nicht nur eine legitimationstheoretische Voraussetzung für die Gültigkeit des Gesellschaftsvertrags, sie sind zugleich entscheidende Bedingungen für eine gemeinwohlverträgliche Willensbildung im staatlichen Zustand selbst.

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Dies führt zur zweiten Innovation Rousseaus – die legitimitätsstiftende Allgemeinheit des staatsbegründenden Zustimmungsaktes wird nun in die Regierungsweise des Rechtsstaats selbst hinein verlängert. Die kontraktualistische Identität von Normautor und Normadressat nimmt die Gestalt der Identität von Gesetzgebenden und Gesetzesunterworfenen an, legitime staatliche Verfahren müssen die Form der Selbstgesetzgebung haben. Die Selbstbestimmung des den Gesellschaftsvertrag schließenden Naturzustandsbewohners soll im Gesellschaftszustand bewahrt werden und hat daher die Form der unvertretbaren Teilhabe an der Hervorbringung von allgemeinverbindlichen, jeden gleichermaßen verpflichtenden Gesetzen: individuelle Autonomie des natürlichen Menschen kann im gesellschaftlichen Zustand nur als kollektive Autonomie mittels direktdemokratischer Verfahren bewahrt werden. Freiheit ist Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen, auf die gleiche Freiheit eines jeden zielenden Gesetz. Für Rousseau ist daher auch nur die republikanische Form der Gesetzgebung legitim. Der Gesellschaftsvertrag muss Rousseau zufolge ein freiheitsbewahrender sein, weil der Vertrag seine normativen Ausgangsbedingungen, vor allem die Freiwilligkeit der Vertragsschließenden, erhalten müsse, ansonsten könne von einer rechtlichen Bindung, die wechselseitige freiwillige Willensübereinstimmung impliziere, keine Rede mehr sein. Das Recht des Sklavenhalters wäre ein Recht nur ihm selbst gegenüber, da der Sklave und sein Wille ihm gehören – »ein Wort ohne jeden Sinn« (275, vgl. auch Kant 1998a, 396–397). Nichtsdestotrotz ist der Contrat Social eine totale Abtretung der individuellen Rechte der Naturzustandsbewohner, die ihnen aber zugleich um die Kooperationsleistungen aller und den zwangsbewehrten Schutz vermehrt zurückerstattet werden. Diese Rechtsabtretung ist nicht, wie im Falle von Hobbes, ein Begünstigungsvertrag zugunsten eines vertragsunbeteiligten Dritten, sondern unterstellt strikt reziproke Bedingungen, die »für alle gleich« sind, »da sich jeder ganz gibt« (Rousseau 1981a, 280). Der Vertrag konstituiere »augenblicklich« aus der unverbundenen Menge der Einzelwillen und Einzelkräfte einen souveränen »politische[n] Körper« mit einem Willen und einer Kraft, der »aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat« (281), also aus allen vertragsschließenden Individuen, die dadurch Staatsbürger geworden sind und als Gesamtheit Volk genannt werden. Dabei müsse jedes Individuum als Einheit von citoyen (vernünftiger Allgemeinheit) und bourgeois (egoistischer

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Partikularität) verstanden werden. Der Allgemeinheitstyp des einheitlichen Willens bleibt mehrdeutig, er schwankt zwischen der liberalen Konzeption konvergenter Eigeninteressen, dem partikularen Gemeinschaftethos von Patrioten und einer deliberativen Idee der »argumentative[n] Ermittlung [...] konsensfähiger Interessen« (Kersting 1994, 177). Auch das Verhältnis der von Rousseau etablierten Legitimitätsbedingungen von Gesetzen bleibt problematisch (vgl. Kersting 2002, 159 f.): Staatsrechtlich müssen Gesetze Resultate realer Volksversammlungsbeschlüsse sein, geltungsumfänglich müssen sie an alle ohne Ansehen der Person gerichtet sein, normativ müssen sie das allgemeine Wohl zum Inhalt haben. Da Rousseau also den Voluntarismus vertragsempiristischer Normbegründung in die staatliche Gesetzgebung verlängert, aber zugleich behauptet, der allgemeine Wille (volonté générale) sei nicht einfach der Wille aller empirischen Subjekte (volonté de tous), so stellt sich die Frage, wie deren empirische Zustimmungsakte gemeinwohlförderliche, vernünftige Gesetze geben können. Rousseaus Antwort lautet: wenn diese Zustimmungsakte auf tugendhaften, vernünftigen Willen beruhen, die durch einen Versittlichungsprozess vernünftig gemacht wurden. Damit ist die Verbindung der Legitimitätsbedingungen »unter bestimmte, staatsrechtsexterne [...] ethische Bedingungen gestellt« (Kersting 2002, 132). Das Problem, dass ein sittlich unreifes Volk trotz republikanischer Verfahren unsittliche Gesetze erlässt, führt zu dem Kunstgriff, einen informellen Gesetzgeber (›Legislateur‹) anzunehmen, der den formellen zur richtigen Gesetzgebung fähig machen soll. Informell ist der Legislateur, weil sich das Volk nicht der Kompetenz zur Gesetzgebung entledigen kann, ohne sich selbst zu versklaven. Da Rousseau das Rationalitätsdefizit des Volkes aber für eine Tatsache hält und diese Defizite darin bestehen, dass es unfähig ist, komplexe Argumente zu verstehen und kurzfristige Interessen zugunsten langfristiger Vorteile sowie sittlicher Entscheidungen zu opfern, kann der Legislateur nicht auf rationale Argumente zurückgreifen, um es zur Mündigkeit erziehen. Er kann »also weder Stärke noch Vernunftschlüsse anwenden«, muss daher »notwendig auf eine Autorität anderer Art zurückgreifen, die ohne Gewalt mitzureißen vermag und zu überreden, ohne zu überzeugen« (Rousseau 1981a, 303). Diese Autorität sei die suggestiv und manipulativ eingesetzte Religion, die dazu diene, die eigene Weisheit des Legislateurs als die Gottes auszugeben, der unbedingt zu gehorchen sei (303). Der ethisch-politischen Autonomieforderung ent-

spricht also eine »radikal heteronome Lösung« des Problems ihrer Realisierung (Kersting 2002, 167), die Verwirklichung der Aufklärung mit den Mitteln der Gegenaufklärung.

18.7 Vernunftrechtlicher Kontraktualismus: Kant Ebenso wie Hume macht auch Immanuel Kant die Legitimitätsprüfung normativer Ordnungen von allen empirischen Zustimmungsakten unabhängig. Ebenso wie bei Hume ist der Vertrag bei Kant nur noch Anzeichen für das Vorliegen von guten Gründen. Anders als Hume vertraut Kant aber nicht der empirisch-praktischen Vernunft, sondern radikalisiert den Anspruch auf universelle Gültigkeit moralisch-rechtlicher Normen, indem er den von Rousseau als volonté générale in die Regierungsweise des Staates verlängerten allgemeinen Zustimmungsakt vernunftrechtlich ausformuliert. Legitime moralisch-rechtliche Normen sind Kant zufolge daher allgemein nicht im Sinne bloß genereller Geltung; nicht im Sinne klugheitstheoretischer Interessenkonvergenz; nicht als Summe empirischer Willensakte und nicht als geteilte Sittlichkeit partikularer, nationaler Ordnungen. Die Legitimität einer staatlichen Ordnung beruhe nicht auf Zwang oder geteilten empirischen Präferenzen für bestimmte Grundgüter, sondern auf ihrer Übereinstimmung mit dem allgemeinen Rechtsgesetz, welches wiederum Anerkennung verlange, weil es die äußere Existenzform der inneren Selbstgesetzgebung durch reine praktische Vernunft sei. Recht aus reiner praktischer Vernunft Die praktische Vernunft Kants besteht nicht in einem Set von Regeln zur Realisierung einer der Vernunft heteronom vorgegebenen Materie des Willens. Solche Regeln seien niemals universell gültig, weil sie von kontingenten Zwecksetzungen abhängig seien. Eine allgemeingültige Lebensführungsregel könne daher nicht aus dem Material des Willens, sondern nur aus der intelligiblen, gesetzgebenden Form des Willens selbst stammen, wobei absolute Willensfreiheit vorausgesetzt ist, da nur eine Willkür, die frei von jedem sinnlichen Antrieb bestimmbar ist, Kant zufolge durch die nichtempirische Form des Willens bestimmt werden kann. Das Sittengesetz als reine gesetzmäßige Form des Willens gebietet unbedingt, dass die Maxime des Willens »jederzeit zugleich als Prinzip einer all-

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gemeinen Gesetzgebung« (Kant 1998b, 140) soll gelten können. Nichtverallgemeinerbare, d. h. bei ihrer Verallgemeinerung selbstwidersprüchliche Maximen gelten demnach als unmoralisch: »Kannst Du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? wo nicht, so ist sie verwerflich, und das [...] nicht um eines dir, oder auch anderen, daraus bevorstehenden Nachteils willen« (Kant 1998c, 30). Kant umgeht damit das Problem einer klugheitstheoretischen Fundierung des Kontraktualismus, das darin besteht, aus konvergenten Motiven eigeninteressierter Akteure eine stabile, universell gültige, rechte-egalitäre Normordnung zu deduzieren, die Rücksicht auf einen jeden nimmt und nicht nur auf potentielle Kooperationspartner. (vgl. dazu Tugendhat 2010, 74–77) Freilich hat der kategorische Imperativ bereits bei Hegel die Kritik auf sich gezogen, aufgrund seines formalen Charakters als Normbegründungsfundament zu versagen (vgl. Hegel 1989, 253; Hoerster 2003, 108–112). Das allgemeine Rechtsgesetz ist nun die Anwendung des kategorischen Imperativs auf das äußere Handeln, dessen Regelung gemäß verallgemeinerungsfähiger Normen, ohne dass die Befolgung dieser Normen selbst das primäre Motiv sein muss. Während die ethische Gesetzgebung auf der freiwilligen Unterwerfung unter die Nötigung der praktischen Vernunft beruht, ist »die Art der Verpflichtung« in der juridischen Gesetzgebung eine andere, auch äußerliche (Kant 1998a, 326), d. h. ich kann von anderen verpflichtet werden, allerdings nur dann, wenn diese Nötigung mit der Freiheit eines jeden vereinbar ist. In diesem Fall ist die »heteronome Pflichterfüllungsmöglichkeit [...] moralisch zulässig« (Kersting 2007, 140). Und so lautet das allgemeine Rechtsgesetz: »handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne« (Kant 1998a, 338), was Kant zufolge im Falle der Nichteinhaltung dieser Regel mit der Befugnis der Zwangsausübung einhergeht, die als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen legitim sei. Die Pflicht zum (Welt-)Staat Allerdings diagnostiziert Kant ein Problem des wechselseitig kompatiblen Freiheitsgebrauchs im Naturzustand, vor allem hinsichtlich der Verfügung über Sachgüter (zur Kritik an Kants Deduktion des Privateigentums vgl. Deggau 1983; Klar 2007): Aufgrund des von Kant dogmatisch konfliktanthropologisch

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unterstellten Antagonismus der Willen und der subjektiven Interpretationsmöglichkeit der allgemeinen Rechtsprinzipien (vgl. Kant 1998a, 378, 430) ist die Errichtung eines Rechtssetzungs- und -durchsetzungsmonopols erforderlich. Erst der Staat implementiere die realen Geltungsbedingungen des allgemeinen Rechtsgesetzes. Dabei sei der Gesellschaftsvertrag, der zum Staat führt, »keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig«, sei nicht zeitlich ›uranfänglich‹, sondern geltungslogisch »ursprünglich[...]« (Kant 1998d, 151), d. h. Geltungsgrund, »Probirstein der Rechtmäßigkeit« und »praktische Realität« staatlicher Gesetzgebung, weil er als Norm das gesetzgebende Handeln des Souveräns derart anleiten soll, dass »er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können« (153). Das allgemeine Rechtsgesetz wird damit in eine Prozedur zur Hervorbringung gerechter Gesetze transformiert. Auch Kant verlängert also den Gedanken des nichtempirisch verstandenen Gesellschaftsvertrags in die Gesetzgebungsweise des Staates hinein, anders als Rousseau entkoppelt er ihn aber vollständig von den empirischen Willensbekundungen der Bürger, womit Republikanismus in monarchischer Form möglich wird, wenn der empirische Wille des Fürsten vom allgemeinen Rechtsgesetz geleitet wird – eine Als-ob-Demokratie (vgl. 153 f.; Kant 1998e, 364 f.) Trotz der vernunftrechtlichen Bindung des Souveräns an verallgemeinerbare Rechtsprinzipien und der gewaltenteiligen Organisation des Staates lehnt Kant den Lockeschen Topos eines Widerstandsrechts bei Zuwiderhandlung des Souveräns gegen die vernunftrechtliche Basis des Staates ab. Ein Widerstandsrecht sei ein widersprüchlicher Gedanke: »Denn um zu demselben befugt zu sein, müsste ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volkes erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein« (Kant 1998a, 440). Auch das Hobbessche Argument eines infiniten Regresses der Souveräne findet sich bei Kant wieder: Im Streit zwischen Volk und Souverän müsste es »ein zweites Staatsoberhaupt [geben], welches die Volksrechte gegen das erstere beschützte, [...] dann aber auch ein drittes, welches zwischen beiden, auf wessen Seite das Recht sei, entschiede« (Kant 1998d, 160). Die Maxime eines Widerstandsrechts des Volkes würde Kant zufolge, »den Zustand, worin allein Menschen im Besitz der Rechte überhaupt sein können, vertilgen« (156). Auch diese Annahme, wonach nicht Tyrannei, sondern Anarchie das größte politische Übel sei, teilt Kant mit Hobbes (vgl. Kant

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1998f, 234). Dabei ist Kant der Gewaltgrund der Staatsgenese und die ungerechte Verfasstheit der Staaten seiner Zeit zwar gegenwärtig, er versucht die Lücke zwischen rechtloser Gewalt und Rechtszustand nach verallgemeinerbaren Prinzipien aber rechts- und geschichtsphilosophisch zu schließen: Was bleibe, sei die moralische Selbstbindung des empirischen Souveräns und das Recht des Volkes auf Meinungsfreiheit bezüglich der Beurteilung des positiven Rechts am Maßstab des Vernunftrechts (vgl. 161 ff.). Kant stellt jeder faktischen Ordnungsmacht einen ungedeckten transzendentalen Vernunftscheck aus, indem er den ›rechtlichen‹ Zustand aus gewaltgestützter Unterwerfung als empirisches Zeichen des rechtmäßigen republikanischen Verfassungsideals gleicher Freiheit deutet. Die Rechtssetzungsakte der Staatsgewalt seien a priori gültig, weil der Staat, egal welcher, als Verwirklichungsbedingung einer durch allmähliche Reform zustande kommenden republikanischen Verfassung betrachtet wird (vgl. Kersting 2007, 386–396). Aufgrund der kategorialen Verunmöglichung moralischen Wollens und Handelns durch den anthropologisierten Antagonismus der Willen kippt aber seine Hoffnung letztlich in die heteronome geschichtsphilosophische Zuversicht, dass dieser »Erfolg« der Reformation des Gewaltzustands in ein republikanisches Gemeinwesen »nicht sowohl davon abhängen werde, was wir tun (z. B. von der Erziehung, die wir der jüngeren Welt geben) [...]; sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden« (Kant 1998d, 169; vgl. zur Kritik: Klar 2007, 220–236; Zotta 2014). Eine zentrale Modifikation des Kontraktualismus gelingt Kant schließlich mit der Idee des ewigen Friedens: Die bisherigen Vertragstheorien hatten das zentrale logische Problem, ohne Angabe von Gründen vom universalistischen Modus der Normbegründung (›die Menschen im Naturzustand schaffen durch einen Vertrag den Staat‹) in die partikulare nationalstaatliche Empirie der Neuzeit zu wechseln. Plötzlich gab es Franzosen, Engländer etc., ohne dass die Prämissen der Ableitung dies hergaben. Damit einher ging das normative Problem, dass die nationale Form der Beendigung des Naturzustands unter den Individuen einen zwischenstaatlichen Naturzustand als potentiellen Kriegszustand konstituierte, der, wie Rousseau diagnostizierte, die Wirkungen des Krieges eines jeden gegen jeden um ein Vielfaches potenzieren konnte (vgl. Rousseau 2005, 94). Die Errichtung eines gesetzlichen Zustands, so zieht Kant die Konsequenz aus

diesem Gedanken, fordert daher: »Es soll kein Krieg sein« (Kant 1998f, 478) und damit den Weltstaat oder zumindest einen »Völkerbund« (467). Literatur

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18 Kontraktualismus Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf [1795]. In: Ebd. 1998f. Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994. Kersting, Wolfgang: Jean-Jacques Rousseaus ›Gesellschaftsvertrag‹. Darmstadt 2002. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Paderborn 2007. Klar, Samuel: Moral und Politik bei Kant. Eine Untersuchung zu Kants praktischer und politischer Philosophie im Ausgang der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Würzburg 2007. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung [1689]. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1998. Ludwig, Bernd: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes’ philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640–1651. Frankfurt a. M. 1998. Macpherson, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke [1962]. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1980. Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1: Die Neuzeit: Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen. Stuttgart/Weimar 2006. Rousseau, Jean-Jacques (1981a): Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts [1762]. In: Ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981.

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Ingo Elbe

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19 Repräsentationsideen 19.1 Einleitung Das Verständnis der politischen Repräsentation kann sehr unterschiedlich sein. Wer politischer Repräsentant sein darf, wer repräsentiert werden soll, und die Art und Weise, wie repräsentiert wird, verändern sich in der geschichtlichen Entwicklung und sind immer umkämpft. In der Frühen Neuzeit durchliefen diese drei Komponenten der politischen Repräsentation mehrere Umstrukturierungen, so dass die Vorstellungen und die Auffassungen, die von Repräsentanten, Repräsentierten und Formen der Repräsentation kursieren, sich sehr stark wandelten. Damit verbunden waren auch Transformationen der politischen Legitimationsbegründung und der Organisation der Macht und politischen Institutionen. Einerseits reflektieren politische Denker diese Transformationen, doch sind sie andererseits auch Akteure, die zur Konfigurierung neuer Rahmen des Machbaren und Sagbaren in der Politik sowie zu neuen Legitimitätsbegründungen beitragen. Allerdings sind politische Denker nicht nur mit den zirkulierenden Ideen ihrer Zeit konfrontiert, sie erleben auch die Veränderungen von sozialer Struktur, politischer Ordnung und symbolischen Praktiken und teilen mit ihren Zeitgenossen einen Vorstellungsraum sowie ein Repertoire an Bildern, Symbolen, Mythen und Emotionen. Dieser Vorstellungsraum ist das politische Imaginäre. Will man die politischen Ideen nicht nur rekonstruieren, sondern auch ihre Entstehung und Wirkung verständlich machen, muss man daher das politische Imaginäre, in dem sie entstehen, miteinschließen. Methodisch verlangt diese Herangehensweise nach einer Erweiterung des Materials. Die politische Ideengeschichte wird nicht auf die Rekonstruktion relevanter Werke oder auf die Auseinandersetzung mit signifikanten Denkern eingeschränkt, sondern schließt auch Repräsentationspraktiken und ihre Symbolik sowie politische und sozio-kulturelle Veränderungen mit ein. Denn diese Faktoren geben wichtige Hinweise auf die Vorstellungen von Repräsentierten, Repräsentanten und politischer Legitimität ihrer Zeit. In der Frühen Neuzeit erlebte Europa schwerwiegende Transformationen des Politischen, die zwei Grundpfeiler der modernen Demokratie setzten: die Abkoppelung der politischen Legitimationsbegründung von der Idee Gottes und die Vorstellung der Volkssouveränität. Der erste Grundpfeiler markiert den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, mit

dem zweiten wird die Frühe Neuzeit verabschiedet und man tritt in die Moderne ein. Der folgende Beitrag setzt sich mit den Ideen und Vorstellungen von politischer Repräsentation in dieser Zeit auseinander. Er kontextualisiert diese und bringt sie mit den Repräsentationspraktiken in Verbindung. Der erste Abschnitt diskutiert den Begriff der Repräsentation und zeigt, dass es sich hier um eine komplexe Struktur handelt, die sich geschichtlich verändert. Um diese Veränderungen geht es im zweiten Abschnitt. Der dritte Abschnitt des Textes widmet sich der göttlichen Legitimitätsbegründung und ihrer Wirkung auf die politische Repräsentation im Mittelalter. Der Abschnitt Die Zwei Körper des Königs und die Verbindung zu Gott im Mittelalter stützt sich auf Ernst Kantorowicz’ Darstellung der Zwei-Körper-Lehre, um die Rolle des Königs als politischen Repräsentanten und seine göttliche Legitimation darzustellen. Genau diese Auffassung von politischer Repräsentation geriet in der Aufklärung in die Krise. Die Wirkung dieser Erosion sowie das Aufkommen der Idee eines modernen Staates vor allem durch Jean Bodin und Thomas Hobbes steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Abschnitts. Der französische Hof erlebte einen Prozess der Zentralisierung der Macht in der Person von Ludwig XIV., den ›Prototypen‹ des absolutistischen Königs, der die Macht verkörperte. Dem widmet sich der Abschnitt »L ’Etat c’est moi«: Die Zentralität des Königs im französischen Absolutismus. Doch die Erosion der göttlichen Legitimität brachte auch die Vorstellung eines dem König übergeordneten Parlaments mit sich, die einen zweiten Weg der Repräsentation im modernen Staat bezeichnete. Der zweite Bruch, von dem in diesem Text die Rede ist, ist der Bruch mit der verkörpernden Repräsentation des Absolutismus. Er geht Hand in Hand mit dem Aufkommen der Idee der Volkssouveränität und mit den Ereignissen der Revolutionen des 18. Jahrhunderts. Die Französische Revolution bringt diesen Bruch am deutlichsten hervor. Jean-Jacques Rousseaus Schrift Vom Gesellschaftsvertrag und ihre Interpretation durch die Revolutionäre stehen hier im Mittelpunkt. Der Beitrag endet mit einer Reflexion dieser beiden Brüche und der frühneuzeitlichen Transformationen mit Blick auf die moderne Demokratie.

19.2 Politische Repräsentation Der Ursprung des Repräsentationsbegriffs geht auf die Idee der Präsenz zurück. Repräsentieren ist »making present again«, es bedeutet, jemanden oder etwas prä-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_19

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sent zu machen (Pitkin 1972; Schmitt 1928). Allerdings impliziert das Wort ›Repräsentation‹ ein Paradoxon (Pitkin 1972): Es zeigt den Prozess, durch den etwas Abwesendes von einem Dritten, einem Repräsentanten, anwesend gemacht wird. Der Repräsentierte ist daher präsent und abwesend zugleich. Wenn V den Platz von A einnimmt, symbolisiert oder handelt V an der Stelle von A, als ob V A wäre. Diese Formel zeigt, dass die Repräsentation von A durch V auch immer eine Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten ist. Doch die Repräsentation von A durch V kann auf unterschiedliche Weisen geschehen. Das liegt daran, dass Repräsentation mehrdimensional ist und ein sehr großes Wortfeld – v. a. in der deutschen Sprache – mobilisiert, dass die Bedeutungen ›Vorstellung‹, ›Darstellung‹, ›Abbild‹, ›Bild‹ sowie ›Vertretung‹ bzw. ›Stellvertretung‹ miteinschließt (Diehl 2015: 43f). Dementsprechend verweist das Wort ›Repräsentation‹ auf vielfältige Prozesse, die nicht nur politisches Handeln im engeren Sinne, sondern auch Symbolisierung und Imagination erfassen. Das aktuelle politiktheoretische Verständnis von politischer Repräsentation ist vor allem durch das Werk von Hanna Pitkin geprägt. Pitkins Buch The Concept of Political Representation von 1967 ist bis heute der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der politischen Repräsentation. Pitkin beschäftigt sich mit der politischen Ideengeschichte auch in der Frühen Neuzeit, um die unterschiedlichen Verständnisse der politischen Repräsentation darzustellen. Sie hat eine methodische Herangehensweise entwickelt, die man kumulative Theoriebildung nennen könnte. Zuerst werden vier Konzepte der Repräsentation formuliert, unter denen die unterschiedlichen Sichtweisen der politischen Denker gruppiert sind: (1) Repräsentation als »acting for« oder Vertretung, (2) formalistische Repräsentation, (3) deskriptive Repräsentation und (4) symbolische Repräsentation. Anschließend stellt Pitkin diese Konzepte in eine Hierarchie, die von innen nach außen geht: je zentraler, desto wichtiger, je peripherer desto irrelevanter das Konzept für das Verständnis der politischen Repräsentation. Im Zentrum dieser Hierarchie steht die Vertretung bzw. Repräsentation als »acting for«. Politische Repräsentation ist in diesem Sinne: »acting in the interest of the represented, in a manner responsive to them« (Pitkin 1972, 209) und bildet den Kern des Konzepts – Pitkin beschreibt die Aktivität des Repräsentanten mit dem deutschen Wort ›Vertretung‹. Repräsentation ist demnach das Ergebnis des Einsatzes eines oder mehrerer Repräsentanten für die Repräsentierten und hat

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eine praktische Wirkung auf die Politik. In den Vordergrund tritt das, was der Repräsentant durch seine Handlung produziert. Die formalistische Repräsentation ist dagegen keine Aktivität, sondern eher die Voraussetzung für das Handeln der Repräsentanten, denn sie findet vor oder nach dem Handeln statt. Die Grundvoraussetzung für jede moderne Repräsentationsbeziehung ist nach Pitkin die Autorisierung, die vor dem Akt der Repräsentation stattfinden muss. Hauptautor dieses Ansatzes ist Thomas Hobbes. Damit kann der Repräsentant an der Stelle des Repräsentierten handeln, die Autorisierung gibt ihm dafür die Befugnis (Pitkin 1972, 39). Doch Pitkin erinnert daran, dass Repräsentation als reine Autorisierung problematische Konsequenzen für die Demokratie hat, denn es wird nicht dafür gesorgt, dass der Repräsentant im Sinne der Repräsentierten handeln muss, da es keine Kontrollinstanz gibt, die dies verlangen könnte. Um legitim zu sein, braucht Repräsentation ein zweites formalistisches Kriterium: Accountability (Pitkin 1972, 41), also die Möglichkeit für die Repräsentierten, dem Repräsentanten Rechenschaft abzuverlangen, ihn kontrollieren und im Fall von Fehlverhalten sanktionieren zu können. Accountability schränkt die Handlungen der Repräsentanten ein, während Autorisierung ihre Handlungsräume öffnet (ebd.). Schließlich kommt Pitkin zu Repräsentation als »standing for others« oder »Darstellung«, wie sie auf Deutsch schreibt. Repräsentation als »standing for« kann deskriptiv oder symbolisch sein, sie ist Darstellung, da für Pitkin keine Aktivität stattfindet. Der Repräsentant handelt nicht an der Stelle des Repräsentierten, sondern steht bloß für ihn. Deswegen können bei »standing for« nicht nur Personen repräsentieren, sondern auch Dinge, wie etwa die Nationalfahne für die Staaten (Pitkin 1972, 11). Repräsentation als »standing for« steht am äußersten Rand des Konzepts und ist für Pitkin am wenigsten relevant. In der deskriptiven Repräsentation ist das Verhältnis zwischen Repräsentierten und Repräsentanten durch Ähnlichkeit oder Widerspiegelung – »by resemblance or reflection« – geprägt (Pitkin 1972, 11). Es wird angenommen, dass durch die Zugehörigkeit zur selben Gruppe, etwa Hautfarbe, Geschlecht, geografische oder soziale Herkunft, die gemeinsamen Erfahrungen als Zugehörige derselben Gruppe eine Orientierung für das Handeln der Repräsentanten stiften. Es geht eher darum, was der Repräsentant ist, als um das, was er tut (Pitkin 1972, 61). Die Idee, dass Repräsentation durch das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen

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Repräsentierten und Repräsentanten legitimiert werden soll, ist allerdings keine moderne, sondern, wie zu sehen sein wird, typisch für die Repräsentation des frühneuzeitlichen Parlamentarismus (Stollberg-Rilinger 2016, 150). Das letzte Repräsentationskonzept, das Pitkin mobilisiert, ist die symbolische Repräsentation. Auch hier erkennt sie keine Handlung des Repräsentanten an der Stelle des Repräsentierten. Doch anders als deskriptive Repräsentation herrscht bei der symbolischen Repräsentation kein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Die ästhetische Verbindung zwischen ihnen ist arbiträr und erfordert keine gemeinsame Erfahrung. Symbolische Repräsentation beruht auf der Wirkung der Symbole, wobei die Symbole mehrdeutig sind, nicht allein rational entschlüsselt werden können, und Emotionen mobilisieren. Deswegen betrachtet sie Pitkin als nicht kompatibel mit dem deliberativen Demokratiemodell. Inzwischen ist diese Sicht auf die symbolische Repräsentation mehrfach korrigiert und ergänzt worden. Symbolische Repräsentation wird als komplementär zur Vertretung betrachtet (Göhler 1997) und als performativer Akt verstanden, um die politische Realität mitzukonstruieren (Diehl 2015). Emotionalität wird nicht mehr zwingend als antidemokratisch gesehen, sondern auch als Teil von politischen Prozessen und somit auch der Repräsentation. Warum ist Pitkin für das Verständnis der politischen Repräsentation in der Frühen Neuzeit wichtig? Zuerst beschreibt Pitkin politische Repräsentation als mehrschichtiges Phänomen, selbst wenn sie Vertretung oder ›acting for‹ privilegiert. Ihr gelingt es, ergänzende Dimensionen der politischen Repräsentation in einem Schichtenmodell – Vertretung, formalistische, deskriptive und symbolische Repräsentation – zu integrieren. Repräsentation als ein Modus des ›making present again‹ enthält mehrere Vorgänge des Repräsentierens. Die Art und Weise, wie diese Vorgänge miteinander verbunden werden und in welcher politischen Konfiguration sie auftreten, ist für das Verständnis politischer Repräsentation im historischen Wandel grundlegend. In der internationalen Forschung fand in den 2000er Jahren ein Paradigmenwechsel statt, der vor allem Pitkins Konzept der symbolischen Repräsentation als Ausgangspunkt für einen »representative turn« (Näsström 2011) wählte. Damit wurde politische Repräsentation als vielfältiger Prozess erkannt, der unter anderen Ästhetisierung, Inszenierung und

Diskursivierung beinhaltet, also Verfahren als repräsentativ anerkennt, die Darstellungen, Bilder und Vorstellungen produzieren. Politische Repräsentation wird in der politischen Theorie zunehmend als ein Verfahren erkannt, das mit dem Symbolischen und dem Imaginären verknüpft ist (Diehl 2015). Damit können die unterschiedlichen Konfigurationen der politischen Repräsentation besser verstanden werden. Allerdings variieren nicht nur die Verfahren der politischen Repräsentation, sondern auch ihr Gegenstand und die Vorstellung von dem, was repräsentationswürdig und was repräsentationsfähig ist. Menschen, Interessen, Institutionen und sogar Prinzipien können von unterschiedlichen Repräsentanten auf unterschiedliche Weise repräsentiert werden. So können die Nation und der Staat durch den König, einen Präsidenten oder eine Kanzlerin repräsentiert werden. Dies findet sowohl als Symbolik – etwa durch die Selbstinszenierung oder im Bild des Repräsentanten – als auch als Handlung statt, wenn also der Repräsentant Entscheidungen trifft und Regeln für das Zusammenleben festlegt. Repräsentiert wird nach innen und nach außen. In den internationalen Beziehungen zwischen Staaten werden diese beiden Bereiche deutlich. Das diplomatische Protokoll codiert die mobilisierte Symbolik – die Gestaltung des Raumes, Reihenfolge der Reden, Kleider der Beteiligten, Rangordnung der Akteure und sogar die Geschenke, die von ihnen ausgetauscht werden –, während durch Abkommen und Verträge die Handlungsdimension zum Vorschein kommt. Ferner kann die Rolle der politischen Repräsentanten unterschiedlich definiert werden. Könige, gewählte Repräsentanten und diplomatische Gesandte haben nicht dieselbe Rolle und Befugnisse. Das liegt daran, dass Repräsentation als die »Vergegenwärtigung von A durch V [...] nur eine Form [ist], wesentlich ist, wie das verstanden wird, welchen Sinn es hat, unter welchen Umständen und Voraussetzungen es möglich ist, und wie es gerechtfertigt wird« (Wolff 1968, 131). Aus dem Zusammenspiel von Repräsentationsverfahren, Gegenstand der Repräsentation und Rolle des Repräsentanten entstehen unterschiedliche Figurationen der politischen Repräsentation, die im Laufe der Geschichte auf Transformationen des Politischen hinweisen. Die Vorstellungen, die man sich über die Politik, politischen Prinzipien, Repräsentanten und Repräsentierten macht, die Organisation der politischen Institutionen, die Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten sowie die Legitimierung der

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Macht können daher anhand der Analyse der politischen Repräsentation rekonstruiert werden. Voraussetzung dafür ist, dass diese Rekonstruktion nicht nur die Texte der Denker ihrer Zeit berücksichtigt, sondern auch den Kontext und die Vorstellungswelt, also das politische Imaginäre, miteinschließt, in denen dieses Denken entsteht.

19.3 Politische Repräsentation im ­ historischen Wandel In der Geschichtswissenschaft bezeichnet die Frühe Neuzeit oder ›Early Modern Period‹ die lange Periode vom 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum fanden die wichtigsten Umwälzungen des Politischen statt, die zur heutigen Auffassung der Demokratie führten. Die Bedeutung der Frühen Neuzeit für das Verständnis der demokratischen Repräsentation, der Konzeption des Staates und der Etablierung der modernen Gesellschaft kann daher nicht überschätzt werden, denn in dieser Zeit veränderten sich mehrmals Gegenstand, Legitimitätsbegründung und Verfahren der politischen Repräsentation. Im historischen Verlauf wandelt sich nicht nur die Art und Weise, wie politisch repräsentiert wird, auch die Gegenstände der politischen Repräsentation sind nicht mehr die gleichen. So war z. B. das Volk, wie wir es heute kennen, kein Gegenstand der politischen Repräsentation im Mittelalter, sondern die communitas, die christliche Gemeinschaft, die erst durch die Bindung zu Gott entstehen konnte (Kantorowicz 1990). Mit der Aufklärung erfuhr die Vorstellung, dass die politische Ordnung göttlich gegeben sei, einen Erosionsprozess. Den Menschen wurde es zunehmend bewusst, dass die politische Ordnung ein Produkt menschlicher Entscheidungen ist. Für den Philosophen Marcel Gauchet (2005) mündet diese Entwicklung in einen Bruch mit der göttlichen Begründung der weltlichen Ordnung, die die Basis der mittelalterlichen Repräsentation bildete. Gauchet spricht vom Ende der Heteronomie, also vom Ende einer politischen Legitimation und Ordnung, die außerhalb der menschlichen Sphäre steht. Der Prozess, der zum Bruch mit der Heteronomie führte, entwickelte sich vorwiegend während der Frühen Neuzeit. Die christliche Gemeinschaft und die göttliche Legitimation des Königs traten immer stärker in den Hintergrund der politischen Repräsentation, während andere Gegenstände, wie etwa die Nation, zunehmend repräsentiert wurden. Thomas Hobbes’ Werk Der Leviathan von

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1651 ist die Schrift, die diesen Bruch am deutlichsten markiert. An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert fand eine zweite grundlegende Transformation statt, die bis heute die moderne Demokratie prägt: Das Volk wurde zum politischen Akteur und zum Souverän. Diese Transformation markiert politisch das Ende der Frühen Neuzeit. Mit der Vorstellung des Volkes als Souverän wurde die moderne Demokratie begründet. Damit verbunden sind auch neue politische Prinzipien, die sich im Zuge der Amerikanischen und der Französischen Revolution etablierten. Gleichheit, Freiheit, Menschenrechte und vor allem die Volkssouveränität revolutionierten die gesamte Struktur des Politischen. Der Bruch mit der Heteronomie im 16. Jahrhundert und das Aufkommen des Volkes als Souverän im 18. Jahrhundert haben schwerwiegende Konsequenzen für die politische Repräsentation. Beide verändern die Rolle der politischen Repräsentanten. Nach dem Bruch mit der Heteronomie fanden Handeln und Inszenierung politischer Repräsentanten eine weltliche Legitimitätsquelle: die Staatsräson. Der zweite Bruch ist ebenso stark und leistet nicht weniger als die Einführung der Bürger (zu der Zeit nur männliche Individuen) als Akteure in die Politik. Damit wird die Legitimitätsbegründung der Macht nochmals modifiziert, denn jetzt geht sie vom Volke aus. Viele Autoren sprechen deshalb vom »politischen Wandel« in der Frühen Neuzeit (Sabatier 2005: 260). Angesichts dessen strukturierte sich die politische Repräsentation neu. Die Brüche, die die Politik und das politische Imaginäre in der Frühen Neuzeit veränderten, fanden nicht urplötzlich statt, sondern entstanden aus einem Erosionsprozess des alten Denkens. Man könnte diese Entwicklung mit einem Baugerüst vergleichen, das langsam verfällt und eines Tages in sich zusammenbricht. Die Ereignisse, welche die vormoderne Struktur der politischen Repräsentation zum Einsturz brachten, waren die der Amerikanischen und Französischen Revolutionen. Auf beiden Seiten des Atlantiks besiegten die Revolutionäre nicht nur die Vorstellung der göttlichen Macht, sondern führten auch die Idee der Volkssouveränität als zentrale Begründung der demokratischen Ordnung ein. Doch bevor das alte politische Gerüst zu Boden ging, waren viele Elemente seiner Erosion bereits am Werk gewesen. Die politische Ideengeschichte und die Geschichte politischer Symbolik liefern dafür die wichtigsten Zeugnisse.

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19.4 Die Zwei Körper des Königs und die Verbindung zu Gott im Mittelalter Im Mittelalter war die politische Repräsentation mit der kirchlichen Repräsentation eng verwoben. Dies prägte auch die Symbolik von Politik und Kirche, die von gegenseitigen Anleihen gekennzeichnet war: »Der Papst zierte seine Tiara mit einer goldenen Krone, legte sich den kaiserlichen Purpur um und ließ sich bei Prozessionen in Rom das Reichsbanner vorantragen. Der Kaiser trug unter der Krone eine Mitra, zog sich päpstliche Schuhe und andere Stücke aus der Kleidung des Pontifex an; auch ließ er sich wie ein Bischof bei der Krönung einen Ring reichen.« (Kantorowicz 1990, 205).

Beide, Papst und König, bezogen ihre Legitimität von Gott, bzw. Gottes Wille und Gnade. Die politische Macht und Autorität des Königs waren heteronom begründet, während die Kirche weltliche Elemente in ihrer Repräsentation durch den Papst heranzog. Die Könige inszenierten sich in Verbindung zu Gott, sei es als Inkarnation Christi, als seine Darsteller oder als seine Stellvertreter. Die Legitimität der Macht stand außerhalb der weltlichen Sphäre und war heteronom. Um diese spezifische Konfiguration der politischen Repräsentation zu verstehen, schlägt der Historiker Ernst Kantorowicz vor, die Zwei-Körper-Lehre der Elisabethanischen Juristen näher zu betrachten. Damit fasst Kantorowicz die Ideen, Begründungen und Symbolik der Repräsentation zusammen, die dem König zwei Körper zusprechen und die Rolle des politischen Repräsentanten im Mittelalter auf den Punkt bringen. Demnach verfügt der König über einen natürlichen und einen symbolischen Körper. Während der natürliche Körper ein physischer und deshalb sterblicher ist, wird der symbolische Körper des Königs im Anschluss an die christologische Repräsentation der Kirche mystisch verstanden. Als solcher ist der symbolische Körper die Repräsentation des Göttlichen und zugleich des Politischen. Während der natürliche Königskörper sterblich ist und menschliche Schwächen hat, kann der symbolische Körper des Königs nicht sterben, er kennt kein Alter und kein Geschlecht, ist unfehlbar und makellos (Kantorowicz 1990, 31 ff.). Kantorowicz beschreibt eine performative Dynamik, bei der der symbolische Körper den physischen Körper des Königs umhüllt. Die symbolische Repräsentation hat die Funktion, den natürlichen Körper des Königs zum Träger des politisch-symboli-

schen Körpers zu machen. Damit fungiert der sterbliche Körper des Königs als Hauptort der göttlichen Legitimation (Diehl 2015, 157). Diese Dynamik setzt eine theologische Auffassung von Macht voraus. Im Zentrum dieses Modells steht die Repräsentation als ›Inkarnation‹. In der Inkarnation wird der natürliche Körper des Königs mit der »ewige(n) Wesenheit oder göttliche(n) Natur des Monarchen« versehen (Kantorowicz 1990, 38). Die Inkarnation hat in diesem Fall zwei Implikationen: zum einen dient der König als Mediator zwischen Dies- und Jenseits. Rituale wie die Heilung der Kranken durch das Berühren durch den König (royal touch) sollten dies bestätigen. Zum anderen verweist die Inkarnation auf eine überzeitliche Instanz der Macht, die außerhalb des natürlichen Körpers des Königs existiert. Symbolische Repräsentation garantiert durch Bilder, Rituale und Inszenierungen den Anschluss an die Transzendenz im religiösen Sinn. Im Laufe der Zeit wird diese göttliche Instanz zunehmend als Institution materialisiert. Die Idee, dass das Königtum mit dem Tod des natürlichen Körpers des Königs nicht stirbt, sondern auf den nächsten König übertragen wird, deutet darauf hin. Das Wort, das im Fall des Todes verwendet wird, ist ›demise‹, also eine Absetzung des symbolischen Königskörpers und nicht der Tod des Königs. Beim Tod des Königs wird »der politische Körper von dem nun toten oder von der königlichen Dignität abgeschiedenen natürlichen Körper auf einen anderen natürlichen Körper übertragen«, den des Nachfolgers auf dem Thron (Kantorowicz 1990, 37). Der politisch-symbolische Körper des Königs steht in Verbindung mit dem Jenseits und bildet zugleich die Institution des Königtums. Die Architektur der politischen Repräsentation im Mittelalter ist zu komplex, um hier vollständig dargestellt zu werden. König, Bischöfe, Königsgesandte und die communitas als christliche Gemeinde bilden ein komplexes Gefüge an Repräsentationsbeziehungen, bei dem neben der Inkarnation durch den König auch die deskriptive Repräsentation der Stände gegenüber dem König durch Ritter und Fürsten gewährleistet wurde – die Französische Revolution wird später die deskriptive Repräsentation der Stände abschaffen und stattdessen das egalitäre Versprechen als Repräsentation des Volkes hervorbringen. Die Fokussierung auf die Inkarnation zeigt aber, dass mit ihrer Abschwächung die signifikantesten Transformationen der politischen Repräsentation angesichts des aufklärerischen Denkens der Frühen Neuzeit stattfanden, diese führten zum Bruch mit der heteronomen Struk-

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turierung der Macht. Eine solche Destabilisierung des Inkarnationsgedankens hinterlässt nicht nur in den Befugnissen und im Handlungsspielraum des Königs ihre Spuren, auch die symbolische Repräsentation, ihre Rituale, Bilder und Inszenierungen machen den Bruch mit der Legitimität der Macht durch Gott sichtbar (Diehl 2015, 187)

19.5 Die Erosion der Heteronomie und der Absolutismus Hanna Pitkin bemerkt, dass in der Frühen Neuzeit der Begriff der Repräsentation zunehmend mit dem Handeln des Repräsentanten für die Repräsentierten, also Repräsentation als ›acting vor‹, assoziiert wurde. In englischsprachigen Quellen nimmt das Wort ›representation‹ zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Bedeutung von ›to take or fill the place of another (person), substitute for‹ ein, und am Ende des 16. Jahrhunderts bekommt der Repräsentationsbegriff die zusätzliche Bedeutung von »acting for someone as its authorized agent or deputy« (Pitkin 1972, 243). Vielleicht kann man auch sagen, dass das Handeln des Repräsentanten expliziter in den Vordergrund rückte, je wichtiger Rationalität und Vernunft für das politische Denken der Frühen Neuzeit erschienen. Am Ende des Mittelalters verlor die theologische Legitimierung der Macht angesichts ihrer rationalen Begründung an Bedeutung. Die Aufklärung stellte jetzt den Menschen zunehmend ins Zentrum ihres Denkens, während neue wissenschaftliche Entdeckungen das politische Imaginäre nachhaltig veränderten. Die weltliche Ordnung konnte nicht mehr als ausschließlich göttliches Werk akzeptiert werden. Einer der ersten und radikalsten frühneuzeitlichen Denker in dieser Hinsicht war der Florentiner Niccolò Machiavelli. In Il Principe / Der Fürst führt Machiavelli einen Bruch mit der theologischen Legitimation der Macht ein: Macht und Herrschaft werden nicht mehr heteronom, sondern weltlich begründet. Das Manuskript Der Fürst wurde 1513 verfasst und zirkulierte zuerst in Abschriften. Es widmet sich der Mechanik der Macht ohne eine göttliche Instanz miteinzuschließen und fokussiert auf das Handeln der politischen Repräsentanten. Politische Ordnung und politisches Handeln beurteilt Machiavelli allein aus ihren Effekten heraus. Hintergrund waren die immer wieder schwierigen Verhältnisse in der Republik Florenz, bei denen mehrere Fürsten ihre Macht verloren. Machiavelli erlebte die Veröffentlichung von Der Fürst im

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Jahr 1532 nicht mehr. Von Bedeutung für das politische Denken und für die Legitimation der politischen Repräsentation in der Frühen Neuzeit ist aber die Art und Weise, wie Machiavelli die Macht begründete: An die Stelle von theologischen Normen trat die Staatsräson (Diehl 2015, 125). Damit reformulierte der Florentiner Berater die Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten neu. War im theologischen Konzept der König der Vermittler zwischen Gott und weltlicher Sphäre, sind Fürsten bei Machiavelli allein im Diesseits verortet und handeln autonom und nicht mehr heteronom. Doch die heteronome Repräsentation ging nicht linear zu Ende. Viele Denker der Zeit versuchten, Altes und Neues miteinander zu verbinden. Jean Bodins Auffassung von politischer Repräsentation kann als Antwort auf die Erosion der Heteronomie gelesen werden, die den Staat, die Repräsentationsrolle und Befugnisse des Königs neu konfiguriert ohne mit der Idee Gottes für die Legitimation der Macht zu brechen. Bodin war nicht so radikal wie Machiavelli. Für ihn stand die politische Macht immer noch in Verbindung zu Gott, ihre Durchführung knüpfte er aber an die menschliche Vernunft. Doch dafür entwarf er ein Bild des modernen Staates und des Absolutismus, das die politische Repräsentation grundlegend veränderte. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass die Situation in Italien mit der in Frankreich und England vergleichbar wären. Bodins Staats- und Herrschaftskonzepte entstanden in einem ganz anderen Kontext als Machiavellis Ratschläge für die florentinischen Fürsten. Hintergrund seiner Vorstellungen von politischer Repräsentation waren die Religionskriege und die Verfolgung der Calvinisten in Frankreich. In Sechs Bücher über den Staat (1576) konfigurierte Bodin die politische Repräsentation als absolute Herrschaft. Er sah die Notwendigkeit der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung durch einen höchsten souveränen Willen, der einheitlich, ewig, unteilbar, unveräußerlich und absolut sein müsste. Als Mittel gegen die Anarchie sollte der Einheitswille des Monarchen über allen anderen Instanzen stehen. Wissenschaft und Vernunft erkannte Bodin als wichtige Legitimitätsquelle für das Handeln des Königs. Die Könige werden zwar immer noch als Stellvertreter Gottes auf Erden gesehen, aber diese Argumentation dient dazu, sie mit unbeschränkter Befehlsgewalt auszustatten und damit Macht zu konzentrieren. Der Staat gewinnt mit der absolutistischen Auffassung stärkere institutionelle Konturen, wird als Gestaltungsmacht und Befehls-

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gewalt gedacht und bekommt einen bürokratischen Apparat. Für diese Art der Herrschaft und für die politische Repräsentation im Absolutismus ist das Konzept der Souveränität grundlegend. Denn Souveränität wird als absolute Gewalt des Staates verstanden und vom König verkörpert. Die personalisierte Herrschaft von Ludwig XIV. und seine Machtkonzentration liefern dafür den Prototypen. Ludwig XIV. hat die Souveränität an seine Person gebunden, den Handlungsspielraum der Herrschaft erweitert und die Macht in institutionelle Formen gegossen. Die geografische Zentralisierung des französischen Hofs in Paris und später in Versailles, die Schaffung eines modernen zentralen Steuersystems, die Gründung von Akademien und die Festlegung einer allgemeinen Französischen Sprache durch ein offizielles Wörterbuch sind dafür wichtige Elemente. Ludwig XIV. berief sich auf das Gallische Recht, das über dem Recht der Kirche stünde und erkannte die Autorität des Papstes nur in Bezug auf religiöse Angelegenheiten an. Der wichtigste Denker dieser Art von Legitimation war der Bischof Jacques Benigne Bossuet. Bossuet kam 1662 zum Hof, wurde Berater von Ludwig XIV. und 1670 Erzieher des späteren Ludwig XV. Sein Werk Politique tirée des propres paroles de l’écriture (1690) legitimiert die absolute Souveränität des Königs mit der biblischen Geschichte, in der der König selbst an die Stelle Gottes tritt (Baker 1996, 1334; Diehl 2015, 188). Seine berühmte Aussage ›Könige sind Götter‹ ist dafür paradigmatisch. Sicherlich ist diese Begründung eine Reaktivierung der Idee Gottes in der politischen Repräsentation (Podlech 1984, 515). Doch die Konfiguration der politischen Repräsentation ist bei Bossuet eine andere. Denn die Berufung auf Gott dient der Entbindung der Königsmacht von jeglicher Kontrollinstanz zugunsten seiner absolutistischen Macht. Die Vorstellung, die Könige seien Götter, ist etwas anderes als die mittelalterliche Begründung der Inkarnation und bildet vor allem einen Gegensatz zur Zwei-Körper-Lehre. Für Bossuet hatten die Könige ›Anteil an Gottes Macht‹. Das impliziert, dass die Könige nicht nur Mittel des Willens Gottes waren, sondern an diesem Willen selbst teilhatten. Hier gehen natürlicher und symbolischer Körper des Königs keine Symbiose ein. Vielmehr findet bei Bossuet eine Vereinigung des natürlichen und des symbolischen Körpers des Königs statt, bei der der Staat und die Person des Königs eins werden. Es gibt daher keine Unterscheidung zwischen dem Willen des natürlichen und dem des symbolischen Körpers. Lud-

wigs XIV. Satz: ›Der Staat bin ich‹ resümiert diese Vereinigung. Mit der absolutistischen Konfiguration der politischen Repräsentation bekamen auch die Symbolik, Rituale und Bilder eine neue Funktion. Denn der König wurde zum Ursprung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Ludwig XIV. etablierte ein umfassendes Symbolsystem, das die Funktion hatte, seine ›göttliche‹ Macht ins Zentrum des Universums zu stellen. Sinnbild dafür waren die zahlreichen Selbstdarstellungen in Bild und Inszenierung und vor allem das Ballett als Apoll, bei dem Ludwig persönlich den griechischen Sonnengott darstellte. Angesichts des Paradigmenwechsels in der Astronomie bekam eine solche Inszenierung eine zusätzliche Bedeutung, denn z. Zt. Ludwigs XIV. stand bereits fest, dass die Erde um die Sonne, und nicht die Sonne um die Erde kreist. Bossuets Vorstellungen der göttlichen Natur der Könige wurden von den Inszenierungen Ludwigs XIV. als Sonnengott überlagert. Man kann hier eine Zentripetalkraft erkennen, bei der der König nicht nur im Zentrum steht, sondern alles in sich einschließt. Für Bossuet können gesellschaftliche Ordnung und politische Einheit nur dank der Person des Herrschers existieren und seinem Willen entspringen. »Der König ist souverän, weil der Staat nur in und durch seine individuelle Person besteht« (Baker 1996, 1335). Repräsentation wird zur Verkörperung des Staates durch den Souverän. Der Gedanke der Souveränität und die Idee, dass Repräsentation als Verkörperung des Staates fungiert, wurde am deutlichsten von Thomas Hobbes formuliert. Hobbes befand sich im Asyl in Frankreich als er 1651 Der Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates in englischer Sprache veröffentlichte, die Übersetzung auf Lateinisch kam 1668 heraus. Das Buch fasste die Hauptmerkmale des modernen Staates und des Absolutismus zusammen. Anders als Bossuet oder Bodin, lehnt Hobbes die göttliche Legitimation des Souveräns ab. Anstatt dessen begründet er die Macht durch einen Vertrag. Dafür zeichnet Hobbes einen Naturzustand, in dem Krieg aller gegen alle herrscht – Hintergrundfolie war der Bürgerkrieg in England. Um dem Naturzustand zu entkommen, so Hobbes, entscheiden sich die einzelnen, auf ihre Gewaltausübung zugunsten einer zentralen Instanz zu verzichten. Diese Instanz ist der Souverän. Der Vertrag wird von jedem einzelnen mit dem Souverän abgeschlossen. Damit wird der Souverän autorisiert, im Namen und an Stelle der Einzelnen zu handeln, als ob sein Handeln das des Auto-

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risierenden wäre. Wenn der Repräsentant handelt, haften alle, die ihn autorisiert haben, »als hätte ihn dieser selbst abgeschlossen, und er unterwirft ihn ebenso allen sich daraus ergebenden Folgen« (Hobbes 1966, 124). Hobbes’ Repräsentationsauffassung kann deshalb als reine Autorisierung bezeichnet werden, bei dem der Repräsentierte, in der Sprachwahl Hobbes’ der Autor, keine Möglichkeit hat, die Handlungen des Repräsentanten zu korrigieren oder zu revidieren (Pitkin 1972, 4). Dies ist die Basis der absolutistischen Repräsentation, die auch bei Bodin und später bei Bossuet in Erscheinung tritt. Dieselbe zentripetale Kraft, die bei Bossuets Repräsentationsvorstellungen vorhanden war, ist auch bei Hobbes zu erkennen. Der Souverän verkörpert zugleich den Staat und umfasst alle Gegenstände der Repräsentation. Die Metapher und die Ikonografie des Leviathans verdeutlichen diese absorptive Repräsentation, die buchstäblich als Verkörperung durch den Souverän dargestellt wird. Das Frontispiz des Buches zeigt einen großen Mann, der eine Krone trägt, in der rechten und führenden Hand hält er ein Schwert, in der linken einen Bischofsstab, der in der traditionellen Darstellung als Zeichen Gottes und der Kirche in der rechten Hand getragen wurde – der Wechsel zur linken Hand ist ein weiteres Zeichen der Erosion der politischen Heteronomie. Der Körper des Leviathans aber ist das Signifikanteste an diesem Bild, er ist mit den unzähligen Körpern der Einzelnen gefüllt (Bredekamp 1999, 79). Im Text heißt es: »Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht. Denn es ist die Einheit des Vertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die bewirkt, daß eine Person entsteht. Und es ist der Vertreter, der die Person, und zwar nur eine Person, verkörpert – anders kann Einheit bei einer Menge nicht verstanden werden.« (Hobbes 185, 187)

Das, was geschaffen wird, ist die ›künstliche‹ Person des Staates, die nur mittels der Autorisierung des Souveräns und der Repräsentation durch den Souverän existieren kann. Zu bedenken ist, dass Hobbes den Begriff Volk nicht verwendet. Die Vorstellung, dass es ein Volk vor der Repräsentation gibt, ist ihm fremd. Er spricht deswegen von »multitudo« vor der Repräsentation und vom »common wealth« nach der Repräsentation.

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19.6 Antworten auf die absolutistische Repräsentation und ›Der König im ­ Parlament‹ Die absolutistische Konzentration der Macht rief durchaus Gegenreaktionen der Zeitgenossen hervor, am stärksten in England. John Locke und Henry Parker gehören zu den Autoren, die die Gegenposition am deutlichsten artikulierten. Locke war wie Hobbes Vertragstheoretiker. Seine Zwei Abhandlungen über die Regierung von 1690 war wie Hobbes’ Leviathan das Ergebnis einer Reflektion des Bürgerkriegs in England, und Locke floh wie Hobbes ins Ausland – in das heutige Holland. Auch Locke sah einen Vertrag vor. Doch hier handelt es sich um einen Gesellschaftsvertrag von allen mit allen, mittels dessen ein politischer Körper bzw. der ›common wealth‹ geschaffen werden sollte. Anders als bei Hobbes ist die Autorisierung bei Locke nicht bedingungslos und von einem Mehrheitsbe­ schluss abhängig. Repräsentation geschieht in Lockes Auffassung als ›treuhandschaftliche Verwaltung‹ der den Repräsentanten ›anvertrauten Macht‹. Macht wird durch eine Vertrauensbeziehung übertragen (Brocker 2007, 269). Es handelt sich noch nicht um Pitkins Auffassung von Accountability. Doch um Machtmissbrauch zu verhindern, sah Locke vor, dass die Staatsgewalten getrennt wurden, und beeinflusste damit Montesquieus Konzept der Gewaltenteilung. König und Parlament sollten gemeinsam die gesetzgebende Gewalt ausüben (Brocker 2007, 267). Während des englischen Bürgerkrieges traten manche Parlamentarier und politische Denker entschieden gegen den König auf und beriefen sich dafür auf das Konzept des Königs im Parlament. Henry Parker war einer davon. In seinen Observations (1642) trat er entschieden für eine Repräsentation von unten auf, bei der das Parlament das Volk und seine Rechte vertrat. Für Parker war das Volk ›the free voluntary Author‹ der Handlungen von Parlament und König. Das Parlament wiederum beanspruchte die Repräsentation des gesamten Königreichs – es war schließlich seine Miniatur und inkludierte den König. Als Konsequenz wurde es dem Parlament auch möglich, notfalls gegen den König vorzugehen. Infolgedessen war die politische Repräsentation durch eine doppelte Autorisierung – des Königs und des Parlaments – gesichert (nach Brito Vieira/Ruciman 2008, 20). Die Auffassung vom ›König im Parlament‹ etablierte eine völlig andere Konfiguration der politischen Repräsentation als die des Absolutismus. Denn sie band den König an Gesetze. Dieser Schritt ist grund-

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III Denkströmungen – C Frühe Neuzeit

legend für das Verstehen der politischen Repräsentation in der Moderne. Er bringt nicht nur die Idee der Vernunft zum Ausdruck, sondern führt auch die legalen Mittel des Parlaments ein, um den König zu kontrollieren (Podelech 1984, 519). Damit verbunden war die Idee, dass der König im Parlament verortet ist. Das gesamte Parlament wiederum verkörpert das Königreich und steht zugleich im Spiegelverhältnis zu allen unterschiedlichen Teilen, die im Parlament deskriptiv, also mimetisch, repräsentiert werden (Brito Vieira/ Ruciman 2008, 17). Eine solche Auffassung geht Hand in Hand mit der Idee einer Trennung des natürlichen vom politischsymbolischen Körper des Königs und damit auch der Trennung von Person und Amt. Dieses Repräsentationskonzept mündet im England des 17. Jahrhunderts in eine Wettbewerbssituation zwischen König und Parlament (Brito Vieira/Ruciman 2008, 20). Der Fall von Charles I. und des Bürgerkriegs zeigen aber einen Sieg des Parlaments über den König. Denn das Parlament stellte sich als Vertreter des gesamten englischen Volkes dar und bekämpfte den König. 1649 wurde er wegen Hochverrats exekutiert. Der Satz »We have to fight the king to defend the King« (Kantorowicz 1990, 42) zeigt die Konsequenzen. Die Exekution der Person des Königs war das Mittel, den institutionellen Königskörper zu retten. Dieser Akt war beides, ein legaler Schritt und zugleich ein symbolisches Ereignis zur Markierung der Überlegenheit des Parlaments über den König, eben weil das Parlament seine Legitimation von unten und nicht von oben bekam. Nicht der Wille Gottes orientierte die politische Entscheidung, sondern die Verbindung und die Verpflichtung des Parlaments gegenüber dem Königreich.

19.7 Das Volk als Souverän und die Revolution Am Ende der Frühen Neuzeit stürzten sowohl die letzten Träger der vormodernen Repräsentation als auch die des Absolutismus. Die Idee, dass das Volk der Souverän ist, brachte sowohl die heteronome Legitimierung der Macht als auch die absolutistische Repräsentation radikal zum Zusammenbruch. Denn sie zwang zu neuen Vorstellungen und Konzeptionen von Macht, veränderte den Gegenstand und die Art und Weise der Repräsentation und modifizierte nachhaltig die Rolle der politischen Repräsentanten. Vordenker dieses Bruches ist Jean-Jacques Rousseau. Rousseau veröffentlichte 1762 sein revolutionä-

res Werk Vom Gesellschaftsvertrag, das als Reaktion auf Hobbes’ absolutistisches Repräsentationskonzept verstanden werden kann. Bezeichnend für das Werk ist die Postulierung, dass das Volk der Souverän ist. Rousseau fasst den Souverän als ein Kollektiv auf und bezeichnet ihn als Körper. Im Kapitel sieben des ersten Buches spricht er von einem »Akt des Zusammenschlusses«: »Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.« (Rousseau 2011, 18)

Wie Hobbes ist Rousseau ein Vertragstheoretiker, doch der Vertrag entsteht hier aus anderen Prämissen und schafft eine Konfiguration der Macht, die Hobbes’ absolutistischem Modell widerspricht. Schon die Partner, die den Vertrag abschließen, sind anderer Natur als bei Hobbes. Bei Rousseau schließt nicht jeder Einzelne einen Vertrag mit dem Souverän ab, sondern alle gehen mit allen einen Gesellschaftsvertrag ein. Der Souverän besteht aus »den Einzelnen, aus denen er sich zusammensetzt« (Rousseau 2011, 21). Es geht ihm um die Herstellung einer »sittlichen Körperschaft«, die aus vielen Gliedern besteht (Rousseau 2011, 18). Das Bild dafür ist das eines Körpers, dessen Organe und Teile funktional und effektiv zusammenarbeiten. Auch die Körpermetapher ist eine andere als die von Hobbes. Es gibt bei Rousseau kaum Hierarchien zwischen den Körperteilen, stattdessen geht er von einem holistischen Prinzip aus. Souveränität ist nicht im Haupt konzentriert wie beim Leviathan, sondern über den ganzen Körper verteilt (Diehl 2015, 197). Damit wird die Personifizierung der Macht und die Verkörperung des Staates durch den Repräsentanten verhindert. Anstatt eines absolutistischen Modells hat Rousseau die Republik vor Augen – auch wenn er in manchen Passagen eine Monarchie für eine mögliche Alternative hält. Rousseau sieht keine Machtübertragung auf einen Repräsentanten vor und spricht sich deshalb gegen das Prinzip der Repräsentation aus. Repräsentation und Volkssouveränität sind für ihn Widersprüche. Denn ein Wille – in dem Fall der des Volkes – kann nicht übertragen werden. Allerdings konzediert Rousseau, dass die administrativen Geschäfte an Repräsentanten übergeben werden. Man kann sagen, dass für Rousseau das Volk sich selbst repräsentiert und zwar als Präsenz in der Volksversammlung. Rousseaus Ideen sind Produkte eines politischen

19 Repräsentationsideen

Imaginären, das dabei war, sich neu zu konstituieren. Zu dieser Transformation gehörte zum einen der Abschied von der Heteronomie, also der Machtlegitimierung durch Gott. Zum anderen wurde das neue politische Imaginäre von der Idee der Volkssouveränität geprägt, deren Verbreiter Rousseau selbst war. Die Auffassung der Volkssouveränität markiert die moderne Demokratie bis heute. Ihr Einfluss auf das revolutionäre Denken, Handeln und symbolische Praktiken kann nicht überschätzt werden. Hier vermischen sich Philosophen, Propagandisten und politische Denker in denselben Personen. Der Abt Emmanuel-Joseph Sieyès ist ein solcher Protagonist. Er ist der Verfasser von Was ist der Dritte Stand? und prägte nachhaltig die post-revolutionäre Konfiguration der politischen Repräsentation. Bereits der Gegenstand der Repräsentation wird von Sieyès neu definiert. Im Absolutismus waren die Stände – Klerus, Aristokratie und der Dritte Stand der Bauern, Handwerker und Bourgeoisie – deskriptiv gegenüber dem König repräsentiert. Die Gesellschaft war von institutionalisierter Stratifizierung gekennzeichnet. In seinem Pamphlet vom Januar 1789, Was ist der Dritte Stand? schlägt Sieyès die Auflösung der Ständerepräsentation zu Gunsten des dritten Standes vor. »Der dritte Stand ist eine vollständige Nation«, hieß es in der Schrift (Diehl 2015, 203). Allerdings verwendete Sieyès den Begriff der Volkssouveränität nicht. Auch der Gegenstand der Repräsentation wurde in dessen Rekonfiguration nicht das Volk, sondern die Nation. Für Sieyès entsprach die Repräsentation im Parlament einer organischen Arbeitsteilung der Gesellschaft (Diehl 2015, 139). Als im Sommer 1789 Beschwerdebriefe der Stände vorgelesen wurden, schlug Sieyès als Abgeordneter des Dritten Standes vor, eine Nationalversammlung zu konstituieren, die dann an der Stelle der stratifizierten Repräsentation der Stände diskutieren sollte. Damit verbunden war auch ein Aufbegehren in Bezug auf die Entscheidungsmacht durch die Nationalversammlung. Mit dem Sturm auf die Bastille und der eminenten Krise wurde der König gezwungen, eine Verfassung zu akzeptieren und seine absolute Macht mit der Nationalversammlung zu teilen. Das Design der Repräsentation veränderte sich hiermit grundsätzlich. Doch es dauerte noch einige Jahre, bis das Volk als der Souverän anerkannt und repräsentiert werden konnte. Erst nach dem Prozess gegen den König wegen Hochverrats und mit der Verfassung von 1793 konnte das Volk als Souverän repräsentiert werden. 1793 wurde Ludwig XVI. hingerichtet. Die Vernichtung seines Körpers war zugleich die Vernichtung

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der Institution, die er repräsentierte, die Monarchie (Diehl 2015, 209). Die Inszenierung seiner Hinrichtung, die Exposition seiner Körperteile und der Spruch ›Der König ist tot, es lebe die Republik‹ waren die symbolische Markierung des Sturzes eines Repräsentationsgebäudes, das endgültig nicht mehr als legitim gelten konnte. Literatur

Bredekamp, Horst: Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates. Berlin 1999. Brito Vieira, Mónica/Ruciman, David: Representation. Polity, Cambridge 2008. Brocker, Manfred: John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690). In: Ders. (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 2007, 258–272. Diehl, Paula: Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie. Eine Theorie der politischen Repräsentation. Baden-Baden 2015. Gauchet, Marcel: La Démocratie contre elle-même [1984]. Paris 2002. Göhler, Gerhard: Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation. In: Ders. u. a. (Hg.): Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden-Baden 1997, 11–62. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt a. M. 1966. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [1956]. Frankfurt a. M. 1990. Näsström, Sofia: Where is the Representative Turn Going? In: European Journal of Political Theory 10/4 (2011), 501– 510. Pitkin, Hanna F.: The Concept of Political Representation. Berkeley 1972. Podlech, Adalbert: Repräsentation. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart 1984, 509–547. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Stuttgart 2011. Sabatier, Gérard: Ikonographische Programme und Legitimation der königlichen Autorität in Frankreich im 17. Jahrhundert. In: Asch, Ronald G./Freist, Dagmar (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2005, 255–289. Stollberg-Rilinger, Barbara: Vormoderne politische Repräsentation als Abbildung und Zurechnung. In: Diehl, Paula/Steilen, Felix (Hg.): Politische Repräsentation und das Symbolische. Historische, politische und soziologische Perspektiven. Wiesbaden 2016, 133–156. Wolff, Hans J.: Die Repräsentation. In: Rausch, Heinz (Hg.): Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung. Darmstadt 1968 (1943), 116–208.

Paula Diehl

D Moderne 20 Liberalismus Liberalismus hat sich als parteipolitischer Richtungsbegriff in den wichtigsten europäischen Ländern bis um ca. 1830 durchgesetzt. Sonderwege sind hier nicht zu verzeichnen. Im britischen Kontext war allerdings häufiger von »Whigs« die Rede, weil sich dies als Parteibezeichnung gegenüber den konservativen »Tories« durchgesetzt hatte. Gemeint war aber das gleiche: eine sich als progressiv verstehende politische Bewegung für mehr individuelle Freiheit, insbesondere Meinungsfreiheit, für die Überwindung alter Privilegien und Zunftordnungen, für den freien Handelsaustausch und natürlich für Religionsfreiheit. Diese Bewegung beruhte auf einem bürgerlichen, meist mittelständischen Selbstbewusstsein, was zugleich bedeutete, dass man für ein an Besitz oder Bildung gebundenes, nicht notwendigerweise gleiches Wahlrecht plädierte. Die radikalere Forderung nach einem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht wurde in Abgrenzung zu liberalen Forderungen »demokratisch« genannt. Liberale in Europa traten durchweg für konstitutionelle Monarchien ein, Demokraten tendierten eher zur Republik. Liberale setzten sich also einerseits als moderne ideengesteuerte Bewegung von traditionellen Strukturen ab, andererseits, und das mindestens genauso entschieden, von weitergehenden, als ebenso radikal wie abschreckend empfundenen Konzeptionen, wie sie vor allem in der jakobinischen Phase der französischen Revolution aufgetreten waren. Wortgeschichtlich relevant ist das Auftreten des Adjektivs libéral auf breiter Front im Frankreich des 18. Brumaire (1799), als Napoleon Bonaparte die idées libérales ins Feld führte, um die revolutionäre Phase für beendet zu erklären. Die persönlichen und ökonomischen Freiheiten, die gegenüber dem ancien régime gewonnen worden waren, sollten erhalten bleiben, auch wenn Napoleons charismatische Herrschaftsform in ihrer Praxis ganz und gar nicht liberal genannt werden kann. Auch deshalb hat sich der Begriff in Europa erst zögernd durchgesetzt. Der positive und freiheitliche

Klang war aber dann doch verlockend genug, um eine wohlwollende und reformbereite Forderungswelt und Regierungsrichtung zu bezeichnen (Vierhaus 1982, 744–774; Langewiesche 1988, 12–38). Die theoretischen Grundlagen: John Locke und Adam Smith. Die politischen Ideen und Konzepte des Liberalismus lagen um 1830, ohne dass der Begriff selbst dort schon verwendet worden wäre, längst in als klassisch empfundenen Formulierungen vor. Gemeint sind für den politischen Liberalismus John Lockes Second Treatise on Government aus dem Jahre 1688, verbunden mit seinen verschiedenen Essays und Briefen zur Toleranz, sowie für den ökonomischen Liberalismus Adam Smiths Wealth of Nations von 1776. John Locke geht von der Dreiheit Leben, Freiheit und Eigentum aus. Das Recht auf Leben ist ein Naturrecht. Aus ihm folgt die freie Entfaltung jedes einzelnen, sofern nicht Rechte anderer berührt sind, und damit auch das Recht auf das, was man durch seine Arbeit erwirbt. Da der Naturzustand, in dem jeder sich und sein Eigentum selbst würde schützen müssen, vielerlei Unzuträglichkeiten und Streitpotentiale mit sich bringt, ist es sinnvoll, durch Vertrag einen Rechtsstaat zu begründen, der kein anderes Ziel hat als die Erhaltung des Eigentums (Locke 1992, 259). Dieser Staat darf keine absolute Herrschaftsgewalt haben – das ist die Spitze des liberalen Denkens gegen den europäischen Absolutismus, wie er noch dreißig Jahre vorher in der Theorie von Thomas Hobbes in einer strukturell vergleichbaren naturrechtlichen Argumentation entwickelt worden war. Gegen Hobbes entwickelt Locke seine Konzeption der konstitutionellen Gewaltenteilung und der gegenseitigen Austarierung durch checks and balances, so dass keine der einzelnen Gewalten zur dominanten werden kann. Das System soll aber genügend Flexibilität behalten, um tatsächliche Entscheidungen zu ermöglichen. Insbesondere die Trennung von Legislative und Exekutive hat ihren Grund in der Schwäche der menschlichen Natur, weil es eine zu große Versuchung wäre, »wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_20

20 Liberalismus

auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken« (ebd., 291). Gewaltenteilungsund Gewaltenkontrollkonzepte in ihrem charakteristischen Konstitutionalismus sind bis heute für alle liberalen Denkformen charakteristisch geblieben und machen den wesentlichen Unterschied aus zu staatskritischen Formen insbesondere des modernen kapitalistischen Antietatismus und Anarchismus aus, wie er sich im 20. Jahrhundert als Gegenbewegung zur zunehmenden Staatstätigkeit entwickelt hat. Lockes Naturrechtsdenken impliziert ein Widerstandsrecht des Volkes bzw. der Gesellschaft gegen ungerechtfertigte Staatsgewalt, insbesondere in solchen Fällen, in denen die Exekutive die Zusammenkunft der Volksvertretung zu verhindern sucht oder aber die Gesetzgebung bestrebt ist, dem Volk sein Eigentum wegzunehmen: »Die Macht fällt an das Volk zurück, das dann das Recht hat, seine ursprüngliche Freiheit wiederaufzunehmen und durch die Errichtung einer neuen Legislative (wie sie ihm selbst für geeignet erscheint) für seine eigene Wohlfahrt und Sicherheit zu sorgen, denn zu eben diesem Zweck haben sie sich zu einer Gesellschaft verbunden« (ebd., 338). Die Gefährlichkeit dieses Widerstandsrechts schätzt er als gering ein, da das Volk zu diesem äußersten Mittel nur dann greifen werde, wenn die Fehler der alten Gewalt wirklich gravierend sind. Kleinere Fehler und Versehen dagegen wird man ohne Murren und Aufsässigkeit hinnehmen. Diese Lehren sind nicht nur für die Amerikanische Revolution bestimmend geworden, sondern haben auch die Formulierung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes angeleitet. Schon die Betonung des Eigentumsrechts bei Locke macht deutlich, dass das liberale Denken immer auch einen ökonomischen Kern hat. Der linke Ideenhistoriker Crawford B. Macpherson hat dies als Besitzindividualismus gekennzeichnet (Macpherson 1980). Adam Smith hat die liberale Wirtschaftstheorie dann detailliert ausgearbeitet. Aller Reichtum entsteht durch produktive Arbeit. Aus den produktivitätssteigernden Effekten der Arbeitsteilung folgt alles Weitere, nämlich die Notwendigkeit des freien Austauschs und möglichst weltweiten Handels ohne künstliche merkantilistische, zollmäßige oder politische Beschränkungen. Die lokale Arbeitsteilung im kleinen Maßstab der Manufaktur kann durch den Einsatz von Maschinen und grenzübergreifende, heute globale Zulieferung von Vorprodukten und Teilen immer weiter gesteigert werden. Wachsender Wohlstand bei sinkendem Herstellungsaufwand ermöglicht immer

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größeren Reichtum derjenigen Nationen, die bereit und offen sind, sich an diesem Austausch zu beteiligen: »Wenn wir uns alle diese Gegenstände vor Augen halten und bedenken, welch eine Vielfalt von Arbeit auf jeden Einzelnen von ihnen verwandt ist, wird uns bewusst, dass ohne Mithilfe und Zusammenwirken Tausender von Menschen in einem zivilisierten Land nicht einmal der allereinfachste Mensch selbst mit jenen Gütern versorgt werden könnte, die wir gewöhnlich, fälschlicherweise, grob und anspruchslos nennen« (Smith 1990, 15). In einer einfachen Subsistenzökonomie könnten alle diese Dinge nicht produziert werden. Entscheidend ist, dass die Aktivitäten so vieler Menschen und Fähigkeiten koordiniert werden können, ohne dass es eine zentrale lenkende Instanz gibt. Arbeitsteilung funktioniert durch die Selbstorganisation derjenigen Menschen, die von ihrem individuellen Eigeninteresse getrieben sind. Dieses Motiv, die Profitgier, wirkt als die unsichtbare Hand, die so viele positive Effekte auf unsere Güterversorgung ausübt. Mit Theologie hat diese unsichtbare Hand nichts zu tun, obwohl Smith in polemischer Absicht gern ein religiöser Kern seiner Lehre unterstellt wird. Es geht alles auf der Basis von ganz säkularen Motiven zu. Dies ist die entscheidende theoretische Innovation Smiths: Weder die Idee der Gerechtigkeit noch eine höhere Instanz sorgen für die Versorgung mit und die Verteilung von Gütern, sondern allein das marktmäßige Zusammenwirken des rationalen Eigeninteresses, also etwas, was in der Sicht herkömmlicher Moralphilosophie als das Böse galt. Staatliche Regulierung und Steuerung, auch eine solche zum Zweck der Wirtschaftsförderung, lehnt Smith ganz massiv ab, weil dadurch die Erwerbstätigkeit eines Landes in weniger ertragreiche Gebiete gelenkt würde. Zwar kann der Staat im Einzelfall einen Bereich eventuell rascher entwickeln, aber um den Preis, dass anderswo weniger Kapital investiert wird. Staatsaufgaben sollen allein die Landesverteidigung, ein eigentumsschützendes Rechtswesen sowie die Errichtung solcher Anlagen und Einrichtungen, die zwar für alle nützlich sind, aber nicht so organisiert werden können, dass sie einen lohnenden Privatertrag abwerfen, wie z. B. Brücken- und Straßenbau. Aber auch hier kann er sich genauso gut eine Maut vorstellen. Darüber hinaus fordert Smith die Schulpflicht für alle, unter anderem deshalb, weil zunehmende Arbeitsteilung zu recht mechanischen und daher verdummenden Tätigkeiten führen kann, so dass dem wenigstens durch Grundbildung entgegengewirkt werden muss.

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III Denkströmungen – D Moderne

Der entscheidende Schritt in Smiths Theorie ist die einheitliche Erklärung von Wirtschaft und Gesellschaft aus dem nutzenbezogenen Interessenprinzip. Viele späteren theoretischen wie analytischen Fortschritte liberalen Denkens wie die moderne Public Choice Theorie werden auf einer konsequenten Weiterführung dieses Ansatzes beruhen. Die antagonistische Kooperation aus dem Eigeninteresse heraus führt in einer wohlgeordneten Gesellschaft – und das ist eine, die nach dem marktwirtschaftlichen Konkurrenzprinzip geordnet ist – zu ständigen Verbesserungen und damit zum Wohlstand für alle. Zwar verfolgt jeder nur sein Eigeninteresse, aber als unbeabsichtigter Nebenfolge ergibt sich eine Produktionssteigerung durch Austausch und zunehmende Arbeitsteilung und damit ein Vorteil für alle. Mit wachsendem Reichtum steigert sich auch das allgemeine Kulturniveau, so dass eine Milderung der Sitten eintreten kann. Vor allem geht es um die Anwendung des einfachen und natürlichen Prinzips der persönlichen Freiheit in der Wirtschaft und in der Politik, welches diese Früchte hervorbringt. Smiths Lehren wurden weltweit folgenreich, nicht zuletzt auch als Leitgedanken der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen ab 1806, die als Antwort auf die Niederlage Preußens gegen Napoleon konzipiert wurden. Der Kern der preußischen Reformen ist im zivilen Bereich gewiss in Hardenbergs Formulierung aus der Rigaer Denkschrift 1807 erfasst: »Bei der Handelspolizei beherzige man ja vor allen Dingen das Laissez faire« (Winter 1931, 332). Hardenbergs Biograph Hans Haussherr kommentiert: »Seinen vollen Sieg erhielt Hardenbergs Freiheitsgedanke im Wirtschaftsliberalismus, der den Merkantilismus des vergangenen Jahrhunderts endgültig beseitigte. In Hardenbergs Preußen erfocht die Theorie Adam Smiths einen volleren Sieg, unbedingter als in der Wirtschaftspraxis des Inselreiches« (Haussherr 1965, 237). Als Modus der Durchführung des Veränderungsprogramms stellt Hardenberg sich natürlich ebenfalls weder ein Parlament noch Kommissionen vor, sondern: »Wenige einsichtsvolle Männer müssen die Ausführung leiten. Einzelne Unzufriedene werden sich finden, aber sie werden von der Menge der Zufriedenen und Vernünftigen gewiss sehr leicht verdrängt werden, und vor dem Segen dieser letzteren wird ihre Stimme bald verstummen« (ebd., 320). Hier zeigt sich, dass die Etikettierung des preußischen Projekts als ›Reform von oben‹ keineswegs einem Vorurteil entspringt, sondern genau den Intentionen der Macher entspricht. Legitimität soll vom Ergebnis her erzielt werden, nicht durch Bürgerbeteiligung am Zu-

standekommen von Entscheidungen. In der Sprache der heutigen Politikwissenschaft handelt es sich um eine Output-Legitimation statt einer Input-Legitimation. Gewerbefreiheit und ein liberales Verständnis von polizeilicher Zurückhaltung, das »nicht von Staats wegen die Vormundschaft des einzelnen da übernimmt, wo der einzelne selbst wirken kann« (ebd., 331) sind Mittel zum Zweck des Wohlstands, nicht Selbstzweck. Diese Liberalität von oben ließ bis zu den restaurativen Karlsbader Beschlüssen von 1819 durchaus ein erhebliches Maß an Meinungsfreiheit zu, konnte diese jedoch dann als Reaktion auf ein politisches Attentat ohne Systembruch wieder entschlossen zurückdrehen. Da sich ähnliche begrenzte Formen von Wirtschaftsliberalismus, verkoppelt mit obrigkeitlichen und autoritären Regimes sich bis heute beobachten lassen, scheint das frühliberale Beispiel der Stein-Hardenbergschen Reformen analytisch bis heute besonders interessant. Smiths Gedanke des Freihandels, von David Ricardo weiter ausdifferenziert, hat seit 1834 den deutschen Zollverein, ab etwa 1846 die britische und ab 1860 auch die französische Handelspolitik maßgeblich bestimmt. Was die weltweite Wirkung angeht, gehört in diesen Kontext auch die erzwungene Öffnung der japanischen Häfen durch amerikanischen Druck im Jahre 1853. Die Freihandelsperiode wurde ab 1870 aus verschiedenen Gründen immer stärkeren Kritiken und Einschränkungen ausgesetzt, ist aber erst 1914 mit Beginn des Weltkriegs wirklich zusammengebrochen. Man kann festhalten, dass das 19. Jahrhundert im Großen und Ganzen durch eine ausgesprochen wirtschaftsliberale Politik vor allem der wirtschaftlich führenden Länder gekennzeichnet war. Es war eine Phase erheblichen Wohlstandsgewinns, zugleich wurden dem liberalen Denk- und Gesellschaftsmodell aber auch alle Elends- und Proletarisierungserscheinungen, also die Schrecken des Frühkapitalismus der Massenindustrialisierung angelastet. In der öffentlichen Diskussion wurden Liberalismus und »Manchestertum« geradezu identifiziert, z. B. in den großen Reden Ferdinand Lassalles und der weltweiten sozialistischen Publizistik.

20.1 Liberalismus und demokratische Mehrheiten Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts behielt seinen demokratiekritischen Kurs konsequent bei. Eines der großen Probleme der amerikanischen Demokratie –

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und zugleich ein generelles Problem demokratischer politischer Systeme – hat Alexis de Tocqueville in der »Tyrannei der Mehrheit« erkannt. Die Mehrheit hat das Recht, alles zu entscheiden und zu tun, ohne durch Gegengewalten, ohne durch intermediäre Kräfte darin eingeschränkt zu sein. Im politischen System der USA fehlen nach Tocquevilles Ansicht Kontrollinstrumente nicht nur gegen Entscheidungen der Mehrheit, sondern auch schon gegen deren Meinungen, die das Denken trotz aller Freiheit im Einzelnen »mit einem erschreckenden Ring« umgeben: »Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als in Amerika« (Tocqueville 1987, 382). Die Tyrannei übergeht in dieser demokratischen Republik sozusagen den Körper und zielt direkt auf die Meinungen und die Seelen: »Die Mehrheit lebt also in einer ständigen Selbstbewunderung; nur den Ausländern oder der Erfahrung gelingt es, gewissen Wahrheiten bei den Amerikanern Gehör zu verschaffen« (ebd., 384). Alexis de Tocquevilles Idee von der ›Tyrannei der Mehrheit‹ wurde von John Stuart Mill aufgenommen (Mill 1974, 9 f.). Zugleich wechselte bei Mill die Freiheits- und Liberalismusbegründung von der klassischen naturrechtlichen zu einer utilitaristischen. So überzeugend sein Argument aus Über die Freiheit auch sein mag, dass Diskussionsfreiheit deshalb unabdingbar ist, weil Widerspruch für die Richtigkeit der eigenen Entscheidungsfindung nützlich ist und durch den Begründungsdruck gegenüber anderen dogmatische Erstarrung auch des eigenen Denkens verhindert – es handelt sich um eine Nützlichkeitsbegründung (ebd., 18). Diskussionsfreiheit ist im Grunde nicht mehr ein Wert an sich. Mill gehört deshalb nur eingeschränkt in die liberale Tradition. Friedrich August von Hayek, anfangs ein Anhänger Mills, kommentiert aus späterer Sicht: »Durch seine Befürwortung der distributiven Gerechtigkeit und seine im ganzen positive Haltung zu sozialistischen Bestrebungen bereitete er die langsame Hinwendung vieler liberaler Intellektueller zu einem gemäßigten Sozialismus vor« (Hayek 1996, 226). In der britischen liberalen Partei, die eine ganze Reihe von Regierungschefs stellt, wandelte sich die Wirtschaftspolitik immer stärker in Richtung auf einen sozial motivierten Interventionismus. Die Ausweitung des Wahlrechts legte eine Annäherung an die Gewerkschaftsbewegung nahe – jedenfalls so lange, bis die Labour Party Fuß fasste: »Sozialpolitiker der Liberalen Partei begannen nach deren Wahlsieg von 1906 verstärkt mit großangelegten Wohlfahrtsprogrammen. Dazu zählten die Ein-

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führung eines staatlichen Pensionssystems, einer verpflichtenden Sozialversicherung und kostenloser Schulmahlzeiten. Nach und nach wurden die Möglichkeiten der Gewerkschaften zur Erzwingung kollektiver Lohnverhandlungen ausgeweitet, der Trade Disputes Act gewährte ihnen gar eine weitreichende Immunität gegen Schadens- und Haftungsansprüche. Im Gegenzug enthielten sich die Gewerkschaften offen revolutionärer Agitation, unterstützten weiter das taktische Bündnis mit der liberalen Regierung und unterdrückten sogar anfangs das Aufkommen einer unabhängigen sozialistischen Partei« (Plickert 2008, 40). In Deutschland unter Bismarck hatten sich, mit anderer Motivation, seit 1878 neoprotektionistische Tendenzen durchgesetzt, die ostelbische Großgrundbesitzer und Stahlindustrielle bevorzugten. Die liberale Gewerbeordnung von 1869 wurde darüber hinaus durch die Wiedereinführung des öffentlichrechtlichen Charakters der Innungen zu einer schleichenden Rückkehr des Zunftwesens transformiert. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung, die international das größte Aufsehen erregte, konnte ebenso als erster Ansatz eines modernen, alles andere als liberalen Wohlfahrtsstaates gelten. Parallel entwickelte sich in den USA die progressive era mit ihrer Rhetorik gegen trusts und big business. In Deutschland hatten die liberalen Ideen seit 1815 vor allem in der Forderung nach Landesverfassungen und damit einer konstitutionellen Begrenzung der Fürstenmacht einen enormen Aufschwung genommen. Die europäischen Revolutionen von 1848 können als der Höhepunkt und zugleich das Scheitern des klassischen Liberalismus angesehen werden. In Frankreich zeigte sich sehr rasch, dass neben liberalen Forderungen eine sozialistische Massenbewegung in Gang gekommen war, aus deren Sicht die Liberalen sozial eindeutig der Bourgeoisie zugerechnet werden mussten. Für die deutsche Revolution 1848/49 ist festzuhalten: »Das liberale Ideal hieß: mäßiger Zensus, um die ›Aristokratie des Reichtums‹ ebenso wie die ›Ochlokratie der besitzlosen Masse‹ zu verhindern und den ›Mittelklassen den überwiegenden Einfluss im Staat zu sichern.‹ (Gagern). Der Aufstieg der unterbürgerlichen Schichten in den Kreis der politisch vollberechtigten Staatsbürger sollte der Zukunft überlassen bleiben« (Langewiesche 1988, 55). Diese Politik scheiterte, als der preußische König die ihm ganz im Sinne der liberalen Idee einer konstitutionellen Monarchie von der Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone ablehnte und deshalb den liberalen Revolutionären und damit der Mehrheit der Nationalversammlung in

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der Frankfurter Paulskirche keine Handlungsoptionen mehr blieb, wenn sie nicht den Bürgerkrieg riskieren wollten. Schon 1853 setzte aus der postrevolutionären Depression heraus eine radikale Neureflexion des deutschen Liberalismus unter anderem in Ludwig August von Rochaus Band Grundsätze der Realpolitik ein. Von nun an wurde ›Realpolitik‹ zum Schlagwort, das dem Liberalismus eine machtstaatliche Komponente gab und bis weit über konservative Kreise hinaus die deutsche politische Öffentlichkeit bestimmte (Rochau 1972). Friedrich Meinecke sah hier die entscheidende Abkehr von den westeuropäisch-liberalen Ideen und den Übergang zur Bismarckzeit, damit den Absturz von den Höhen der Goethezeit letztendlich in den Sumpf der Hitlerzeit (Meinecke 1969, 378 ff.). Die von den liberalen Revolutionären des Vormärz und der Jahre 1848/49 aus politischen wie aus ökonomischen Gründen ersehnte deutsche Einheit wurde von 1864 bis 1871 in einer Reihe von Kriegen unter preußischer Führung in gänzlich illiberaler Form verwirklicht. Der deutsche Liberalismus spaltete sich 1866/67 in zwei Strömungen, nämlich in die Nationalliberalen, die im neugewählten Reichstag bis 1878 stärkste Partei (um 30 Prozent) wurden und sich als eine Art Regierungspartei und Bismarckanhänger verstanden, und die Deutsche Fortschrittspartei, die wechselnde Stimmenergebnisse in der Schwankungsbreite der heutigen FDP erreichte. Nach 1918 wurden diese Parteien, ohne dass die Bezeichnung »liberal« noch in ihren Programmen auftauchte, als Deutsche Demokratische Partei und als Deutsche Volkspartei weitergeführt.

20.2 Zwischen den Weltkriegen Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war von Zollschranken, Handels- und Devisenkontrollen gekennzeichnet und gehört zu den antiliberalsten Epochen überhaupt. Zwar kann man ideengeschichtlich der amerikanischen Tradition einen hegemonialen Liberalismus attestieren (vgl. Vorländer 1997). In den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 haben sich dort aber die Begriffe noch stärker als in Großbritannien verschoben. Es war wohl zuerst John Dewey, der das Etikett ›liberal‹ jetzt für staatsinterventionistische und sozialstaatliche Konzeptionen so erfolgreich in Anspruch nahm, dass bis heute in den USA ›liberal‹ und ›links‹, abweichend von der Begrifflichkeit überall sonst in der Welt, als weitgehend identisch wahrgenommen werden (Dewey 1963, 54). Gerechterweise wird man zugestehen müssen, dass diese

Entwicklung in Großbritannien vorweggenommen wurde, dort aber mit dem Ausscheiden der Liberalen aus dem Parteienwettbewerb auch wieder verschwand. Der alte Liberalismus hatte im Ersten Weltkrieg sein Ende gefunden: »Die Kriegsmaschinerie hatte scheinbar gezeigt, wie effizient die zentrale, administrative Lenkung von Produktionsfaktoren sein konnte« (Plickert 2008, 47). In allen Ländern war die Staatsquote, die vor dem Krieg um 10 Prozent gelegen hatte, verdoppelt worden, um im Zweiten Weltkrieg schließlich Spitzenwerte von mehr als 60 Prozent zu erreichen (ebd.). In der Sowjetunion wurde unter durchaus positiver publizistischer Begleitung scheinbar kritischer westlicher Intellektueller mit planwirtschaftlichen Experimenten begonnen. Ein anfangs einsamer österreichischer Liberaler, nämlich Ludwig von Mises, hat allerdings schon 1920 eine bis heute standhaltende Widerlegung des Planungsdenkens geschrieben, in der er zeigte, dass nur frei am Markt gebildete Preise den Produzenten die Rückmeldung geben können, welche Waren von den Konsumenten gebraucht, also tatsächlich nachgefragt werden (vgl. Mises 1920). Zentrale Planung durch politische Diskussion oder Festlegung dagegen scheitert an der Informationsfrage. Mises hat seinen Aufsatz später zu einem umfassenden Buch ausgebaut, vor allem aber wurden seine Überlegungen zur Information und Selbststeuerung von Märkten über die Preise durch Friedrich August von Hayek später nobelpreisreif weitergeführt (Hayek 1994). In seinem Buch Liberalismus von 1927 kam von Mises zu der resignierten Feststellung: »Die Welt will heute vom Liberalismus nichts mehr wissen. Außerhalb Englands ist die Bezeichnung ›Liberalismus‹ geradezu geächtet; in England gibt es zwar noch ›Liberale‹, doch ein großer Teil von ihnen sind es nur dem Namen nach, in Wahrheit sind sie eher gemäßigte Sozialisten« (Mises 1993, 2). Der Begriff war zu jener Zeit fast so diskreditiert wie heute der Neoliberalismus. Mises betonte zudem die politisch-organisatorischen Schwierigkeiten, denn alle antiliberalen Parteien seien Vertreter von Sonderinteressen, die ihrer Klientel etwas versprechen könnten. Allein ein wissenschaftlich und theoretisch verstandener Liberalismus mache sich die Vertretung von Allgemeininteressen zu eigen. Aus seiner Sicht wäre es ein grundsätzlicher Fehler, wenn liberale Parteien sich als Sonderinteressenvertreter der Unternehmer, des Kapitals oder der Besserverdienenden begreifen würden, weil freie Märkte gleichermaßen im Interesse der Konsumenten wie der Produzenten und damit der All-

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gemeinheit seien (ebd., 136–163). Allgemeininteressen, das ist das Dilemma dieses Verständnisses von Liberalismus, sind aber sehr viel schwieriger organisierbar als Spezialinteressen. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 sollte sich dieses Problem noch verschärfen, denn diese wurde der ungezügelten kapitalistischen Entwicklung angelastet, weil die klassisch liberalen Rezepte der Rückkehr zum Goldstandard die Krise und die Arbeitslosigkeit noch verschärften und der Ausweg sehr bald in schwedischen, deutschen und amerikanischen Staatsprogrammen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft, finanziert durch staatliche Defizite, gesehen wurden. John Maynard Keynes hat 1936 in seiner General Theory dazu den theoretischen Überbau geliefert (vgl. Keynes 2009). Schon während des Zweiten Weltkriegs wurde 1942 mit dem Beveridge Plan ein von Freund und Feind vielbeachtetes umfassendes wohlfahrtsstaatliches Programm vorgelegt, weil die gemeinsame, durch die gleiche Wehrpflicht für alle getragene Kriegsanstrengung eine Gegenleistung des Staates nahelegte, die ebenfalls unter Gleichheitsgesichtspunkten an alle adressiert war (1942 dem britischen Parlament vorgelegt, 1943 ins Deutsche übersetzt und in der Schweiz verlegt). Ab 1948 hat die Labour Party dies durch umfassende Verstaatlichungen und die Einführung einer für die Nutzer kostenlosen steuerfinanzierten Krankenversicherung umgesetzt, die bis heute weitergeführt und hartnäckig verteidigt wird.

20.3 Liberalismus nach dem Zweiten ­ Weltkrieg Das liberale Denken dagegen musste in England in der Opposition überleben. Friedrich August von Hayek entwickelte 1944 in Der Weg zur Knechtschaft eine Fundamentalkritik an den wohlfahrtsstaatlichen Projekten (Hayek 2003). Im deutschen Sprachraum hatte sich bei einigen Ökonomen, vor allem bei Walter Eucken in Freiburg und Ludwig Erhard in Nürnberg, sowie einigen emigrierten deutschen Wirtschaftswissenschaftlern wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, ein Gegenkonzept herausgebildet. Entscheidende Impulse hierzu werden von späteren Ideenhistorikern wie Michel Foucault auf das Kolloquium Walter Lippmann zurückgeführt, das 1938 in Paris abgehalten worden war, und auf dem zum ersten Mal der Begriff Neoliberalismus aufkam (Foucault 2004, 185–224; vgl. Plickert 2008, 93–97). Neoliberalismus

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meinte hier und in der späteren Freiburger Schule die Abkehr von einem reinen Laissez-faire-Liberalismus zugunsten einer Politik, die gegen monopolistische Entwicklungen und zu starke Verflechtungen zwischen Markt und Staat durch entschlossene Eingriffe wieder für freie Wettbewerbsbedingungen sorgen sollte. Die deutschen und später europäischen Kartellbehörden, welche die marktbeherrschende Stellung von Unternehmen bekämpfen sollten, sind bis heute wirksame Resultate dieser Denkweise. Punktuelle Interventionen und Subventionen des Staates für bestimmte Branchen wurden als wettbewerbsverzerrend abgelehnt. Stattdessen sollte der Staat eine funktionierende und faire Wettbewerbsordnung garantieren. Zur Bezeichnung dieser Denk- und Herangehensweise hat sich in Laufe der Jahre und in Absetzung zu Ludwig von Mises und der Chicagoer Schule, die eine deutlich offenere Haltung gegenüber Monopolen einnahmen, solange nur prinzipiell der Marktzugang für alle offen war, der Begriff Ordoliberalismus etabliert. Mit diesem Konzept der Deregulierung von Märkten, der Aufhebung von Bezugsscheinen und der Freigabe von Preisen unter gleichzeitiger Öffnung des Wettbewerbs hatte es Ludwig Erhard geschafft, eine relativ rasch erfolgreiche Rekonstruktionsperiode der deutschen Wirtschaft einzuleiten, die als Wirtschaftswunder und unter der politisch-propagandistischen Bezeichnung soziale Marktwirtschaft in die Geschichte einging. Ebenso wichtig war die Währungsstabilität, die durch eine gesetzlich festgelegte relative Unabhängigkeit der Bundesbank garantiert wurde. Politisch verband sich dieses Projekt mit der CDU, deren Wirtschaftsminister und späterer Kanzler Ludwig Erhard wurde, teils aber auch mit der nach dem Krieg aus der Zusammenführung von Rechtsund Linksliberalen neugegründeten FDP, die sich als Wächterpartei der Marktwirtschaft in verschiedenen Koalitionen schließlich auch mit der Sozialdemokratie zu profilieren versuchte. Hayek erklärte später Erhards erfolgreiche Wirtschaftspolitik für wichtiger zur Erhaltung und Erneuerung des Wirtschaftsliberalismus als alle intellektuell-theoretischen Anstrengungen (Hayek 1996, 249). Deutschland galt als wirtschaftsliberaler Leuchtturm. Der Ordoliberalismus blieb dann allerdings doch eine deutsche Sonderentwicklung. In den USA wurde staatliche Wettbewerbsregulierung, Kartellverbot und Zerschlagung von Monopolen eher mit Roose­velts Politik des New Deal identifiziert und von den Chicagoer liberalen Ökonomen als willkürliche Formen von Staatseingriffen abgelehnt.

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Zudem gab es zwei neuere Entwicklungen in der ökonomischen Forschung. Erstens konnte Ronald Coase zeigen, dass höhere Konzentration nicht notwendigerweise zu höheren Preisen und geringerer Innovationskraft führt, jedenfalls dann nicht, wenn sie auf technisch bzw. organisatorisch bedingte Größenvorteile zurückzuführen ist. Wenn die Konzentration aber der allgemeinen Wohlfahrt diente, gab es keinen Grund für staatliches Eingreifen (Coase 1937). Zweitens wurde hinterfragt, ob der Staat wirklich als Hüter des Wettbewerbs geeignet war und nicht vielmehr Eigen- und Sonderinteressen der Ausweitung seiner Tätigkeit, des Aufbaus von Kontroll- und Regulationsbürokratien und der Klientelpolitik verfolgen würde. Die Public Choice Theorie, wie sie von George Stigler und anderen vorangetrieben wurde, ging von der Frage aus, ob die Maschinerie und die Macht des Staates entweder eine potentielle Ressource oder aber eine potentielle Gefahr für jede Art unternehmerischer Tätigkeit sei. Er konnte zeigen, »dass Regulierung in der Regel von der Industrie angefordert wird und primär zu deren Vorteil ausgestaltet und gehandhabt wird« (Stigler 1971, 3, 17 f.; vgl. Buchanan 1975; Olson 1991). Deshalb verwarf er die staatsidealistische Sichtweise großer Teile der bisherigen Wirtschaftswissenschaft. Nach und nach entstand eine ganze Schule der kritischen Analyse von Staatstätigkeiten, welche die Vorstellung von dessen Rolle als möglichen neutralen Schiedsrichter über die Einhaltung von Wettbewerbsregeln nachhaltig erschütterte und stattdessen eine rationale Theorie politischen Verhaltens entwickelte. Nicht so sehr die Monopole, als vielmehr der Staat und die Planungsbürokratien begannen nun als Bedrohung der öffentlichen Wohlfahrt zu gelten. Wenn Lobbygruppen niedrige Preise erfolgreicherer Konkurrenten als angebliches ›Dumping‹ diffamierten, obwohl diese sich in Wirklichkeit aufgrund von Größenvorteilen ergeben hatten, und Regulationen zugunsten weniger effizienter Wettbewerber forderten, schadete dies dem Wettbewerb und damit auch dem allgemeinen Wohlstand. Längst hat sich ja auch weltweit gezeigt, dass die Aufhebung von Regulationen in der Luftfahrt zu massiv günstigeren Flugpreisen und zur Ausweitung der Reisemöglichkeiten gerade auch für Geringverdiener führte, während der scheinbar gutgemeinte Regulationismus aus rückblickender Sicht als preistreibend und wachstumsschädlich angesehen werden muss. Die wissenschaftlichen Analysen, die der Luftverkehrsliberalisierung zugrunde lagen, hatten sogar die demokratische Regierung Jimmy Carters überzeugt (Plickert 2008, 375). Es wäre eine

verkürzte und zu sehr auf den vordergründigen politischen Prozess fixierte Darstellung, jenen großen liberalen Öffnungs- und Deregulationsprozess am Ende des 20. Jahrhunderts allein auf die Durchschlagskraft der Thatcher- und Reagan-Reformen zurückzuführen. Das wissenschaftliche wie das politische Klima hatte diese Wandlungen durchaus schon vorher angezeigt. Es waren keineswegs nur konservative Parteien, die sich die liberalen Ideen in einigen entscheidenden Feldern zu eigen gemacht hatten. Die rechts- und sozialphilosophischen Argumente, die bis dahin für ordoliberale Ansätze vorgetragen worden waren, gerieten nun ins Hintertreffen gegenüber solchen theoretisch-empirisch fundierten Analysen. Von den Erben des ordoliberalen Denkens der Nachkriegszeit kamen dagegen kaum noch neue Impulse. Ihr normativistisch-belehrender Argumentationsstil ließ sie in der Öffentlichkeit in die Defensive geraten. Mehr noch, die traditionelle Trennung zwischen politischem Liberalismus und Wirtschaftsliberalismus wurde durch das Ausgreifen der Public Choice Theorie in die politische Sphäre in Frage gestellt. Das liberale Denken konnte damit eher wieder an seiner erfolgreichsten Freihandelsphase Mitte des 19. Jahrhunderts anknüpfen, nachdem diese lange Zeit als längst überholter Paläoliberalismus diffamiert worden war. Im weltweiten sozialdemokratischen Jahrzehnt zwischen 1964 und 1975 hatte liberales Denken im Grunde nur in relativ begrenzten Enklaven überwintern können. In den USA hatte sich seit den frühen 1950er Jahren eine neue konservative Bewegung geformt, die versuchte, eine Art Fusion mit den Wirtschaftsliberalen zu erreichen, so dass eine politisch-moralische Rechte mit einer privateigentumsorientierten Rechten ein wirksames strategisches Bündnis gegen ein eher linkes wohlfahrtsstaatliches Konzept eingehen konnte. Hayek, in den späten 50er Jahren schon lange vor seinem Nobelpreis eine Führungsfigur des ökonomischen Liberalismus, hielt in seinem Vortrag »Why I am not a conservative« noch argumentativ dagegen. Dieser Vortrag wurde schließlich unter leicht verändertem Titel als Schlusswort zu seinem Hauptwerk Die Verfassung der Freiheit (1960) abgedruckt. Obwohl Hayek sich persönlich durchaus als konservativen Menschen sah, kritisierte er die Innovationsfeindlichkeit, den antiwissenschaftlichen Geist und die Staatsgläubigkeit der Konservativen. Liberalismus sei keineswegs als mittlere Position zwischen Konservatismus und Sozialismus anzusehen, weil Konservative seit Bismarck immer wieder den Sozialisten pragmatische Zugeständnisse ge-

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macht hätten und diesen sogar teilweise zuvorgekommen seien. Liberalismus dagegen müsse prinzipientreuer sein und durchaus auf Innovation und damit immer wieder auch auf Aufhebung oder gar Zerstörung von Regulationen bedacht sein, die den Fortschritt hemmen. Ungeachtet dieser prinzipiellen Einwände führte genau diese strategische Fusion zu einem neuen Aufstieg wirtschaftsliberaler Positionen in den USA und zur Öffnung der republikanischen Partei für diese bis hin zum Sieg Ronald Reagans. Zwar verhalf die öffentliche Durchschlagskraft der antisozialistischen und wohlfahrtsstaatskritischen Rhetorik vielen liberalen Ideen zum Durchbruch, aber der Rechtspopulismus konnte sich jederzeit auch wieder mit protektionistischen freihandelsfeindlichen Tendenzen verbinden. Erfolgreiche Freihandelsverträge wurden eher unter demokratischen Regierungen beschlossen. Insofern hat Hayek mit seinem Verweis auf die Unnatürlichkeit und Instabilität einer solchen vielleicht doch eher taktischen als strategischen Koalition zwischen Konservativen und Wirtschaftsliberalen durchaus Recht behalten.

20.4 Die Wende zur liberalen Deregulations­ politik Es kann in der politischen Ideengeschichte selten ganz geklärt werden, ob es solche Ideen oder einfach praktische politische Erfordernisse waren, die zur großen neoliberalen Wende ab 1979/80 führten. In England steuerte die Labour-Regierung James Callahans 1978/­ 79 in den winter of discontent (ein berühmtes Shakespeare-Zitat aus Richard III.) mit massiven Streikwellen der Transportarbeiter, Drucker, Fernsehtechniker und im öffentlichen Dienst. Die Stimmung der Bevölkerung wendete sich von anfänglicher Solidarität immer stärker gegen die zunehmend als Sonderinteressenvertretung wahrgenommenen Gewerkschaften, so dass man dem radikalliberalen Reformprogramm Margaret Thatchers, die eine Hayek-Kennerin und Leserin war, eine Chance gab. Sie beendete die Preis- und Devisenkontrollen, weil diese die Inflation nicht hatten unter Kontrolle halten können, und schränkte die Gewerkschaftsrechte ein. Insbesondere sollte es nicht mehr zulässig sein, externe, nicht in einem Betrieb beschäftigte Streikposten aufzustellen. Erst 1982, nachdem die Regierung einen einjährigen Bergarbeiterstreik überstanden hatte, wurde auch die Immunität von Gewerkschaftsfunktionären bei streikbezogenen Gesetzesverstößen aufgehoben. Außerdem wurden

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seit den frühen achtziger Jahren kommunale Wohnungen in privates Eigentum überführt. Die staatliche Gesundheitsversorgung jedoch wurde trotz immer länger werdender Wartelisten nicht verändert, so dass es aus liberaler Sicht beim Paternalismus steuerfinanzierter Sachleistungen blieb. Insgesamt wurde durch die deregulatorischen Öffnungen über eine ganze Reihe von Jahren ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum deutlich über die Amtszeit Thatchers hinaus erzielt, die Arbeitslosigkeit sank unter 3 Prozent und die Inflation konnte gestoppt werden. In den USA lagen ebenfalls in der Endphase der Regierung Jimmy Carters zweistellige Inflationsraten vor. Als Gegenmaßnahme bestanden die Reaganomics seit 1981 in vier Punkten: vor allem in einer Reduktion der Grenzsteuersätze, im Abbau von Regulierungen, in der Begrenzung von Regierungsausgaben und in einer re­­ striktiven, antiinflationären Geldpolitik, die schon sehr kurzfristig zu wirken begann. Damit wurde über die gesamte Amtszeit Reagans hinweg ein Wirtschaftswachstum um ein damals als sensationell empfundenes Drittel ausgelöst. In der neueren amerikanischen Geschichte ist das nur durch die Wachstumsraten der Ära Bill Clintons übertroffen worden (Niskanen/ Moore 1996). Da zugleich ein Aufrüstungsprogramm gestartet wurde, um die Sowjetunion an ihr Ende zu bringen, ging damit eine erhebliche Neuverschuldung einher. Das entsprach nicht der reinen liberalen Lehre, führte aber immerhin dazu, dass der Kongress zurückhaltender bei der Beschlussfassung über weitere Ausgabenprogramme wurde. In Deutschland gab es mit der christlich-liberalen Koalition seit 1982 trotz entsprechender Rhetorik keine radikale Wende, die Haushaltsdefizite wurden aber reduziert und unter anderem die Ladenöffnungszeiten vorsichtig liberalisiert. Die hohe Arbeitslosigkeit allerdings blieb trotz wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklungen weiter bestehen und wurde erst in den letzten Jahren der sozialdemokratischen Regierung Gerhard Schröders ab 2003 erfolgreich durch die Überwindung von Verkrustungen der Arbeitsmarktpolitik abgebaut. Die oben erwähnte sozialliberale Sonderentwicklung des Liberalismusbegriffs in der US-amerikanischen Diskussion hat dazu geführt, dass man nach einer begrifflichen Alternative suchte. Verbreitet ist die Bezeichnung Libertarians, die allerdings eine ganz andere Extension hat als den klassischen wie modernen Liberalismus, weil damit auch radikale Antietatisten und sogar Vertreter eines kapitalistischen Anarchismus wie Murray Rothbard inkludiert sind. Auch wenn Hayek Ideen einer staatsunabhängigen Wäh-

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rung erwogen hat, halten doch sowohl er selbst wie auch Friedman, Buchanan und andere moderne Liberale an wesentlichen Staatsfunktionen fest, insbesondere der Garantie von Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Ordnung und Verteidigung. Auf der anderen Seite steht die politische Philosophie von John Rawls, an die sich vor allem abstraktnormativistische Umverteilungsdiskussionen ange­ schlossen haben. Sein Denken gehört zwar im weitesten Sinne in das liberale Spektrum, weil er von einem lexikalischen Vorrang der Freiheit ausgeht. Ein lexikalischer Vorrang allerdings ist, verglichen mit den radikalen Naturrechtsargumenten von John Locke bis Robert Nozick, ein eher sanftes und schwaches Argument ohne große politische Durchschlagskraft. Die vor allem umverteilungsorientierte Rawls-Diskussion ist in großen Teilen liberalismusfern, kann aber durchaus als angemessene Rezeption gelten (Rawls 1998; dazu auch Reese-Schäfer 2013, 408–442).

20.5 Fazit Der Liberalismus hatte zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine positiv-wohlwollende Ausstrahlung. Selbstentfaltung und Freigabe der Eigeninitiative gegen einen kalt bevormundenden bürokratischen Staat waren Losungen, die zu jenen Zeiten aus ideellen wie praktisch-interessierten Gründen Begeisterung wecken konnten. Je erfolgreicher liberale Konzepte durchgesetzt wurden, umso mehr traten auch die Elemente schöpferischer Zerstörung, wie Schumpeter das als Konsequenz unternehmerischen Handelns benannt hat, hervor, denn die Freigabe von Firmengründungen und Arbeitsmärkten ruinierte selbstverständlich viele Bereiche des alten Handwerks und alter Industrien und machte im Laufe des Jahrhunderts den Großteil der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte unproduktiv und überflüssig, so dass diese in die Industriegebiete strömten oder auswanderten. Fundamentale sozialstrukturelle Verwerfungen, von der Entmachtung der Zünfte unter den preußischen Reformen bis zur Verdrängung vieler Läden des kleinen Einzelhandels durch Selbstbedienungsgeschäfte, gehören zur Praxis liberaler Deregulationen. Spannungen zwischen Liberalismus und Demokratie hat es, wie oben gezeigt, von Anfang an gegeben. Als das Anfang des 19. Jahrhunderts noch möglich war, traten Liberale für die Begrenzung des Wahlrechts durch Besitz oder Bildung ein. Später wurden andere Rezepte gegen die ›Tyrannei der Mehrheit‹ entwickelt, vor al-

lem in Form des konstitutionellen Schutzes von Individualrechten durch unabhängige oberste Gerichte, Garantie der Geldwertstabilität durch die Unabhängigkeit von Zentralbanken oder ähnliche dem demokratischen Prozess möglichst entzogene Institutionen. Individuelle Freiheit hat im Liberalismus immer den Vorrang vor kollektiven demokratischen Entscheidungsfindungen. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, jene Risiken, Glück und Reichtum entweder zu finden oder aber ins Elend zu geraten, führten zwischen ca. 1880 und 1980 zu einer säkularen Gegenreaktion mit dem langsamen Aufbau sozialstaatlicher Absicherungssysteme bis hin zum revolutionären Sozialexperiment des Staatssozialismus. Liberales Denken erschien nun seinerseits als Verhaltenslehre der Kälte, insbesondere als angesichts von Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit wie ab 1929 das Rezept immer nur lautete: Staatsausgaben kürzen, auf die Selbstheilungskräfte des Marktes warten. Die ordoliberale Reaktionsform auf die verschiedenen Formen von Zentralverwaltungswirtschaften konnte vorübergehend als bundesrepublikanisches Modell Anziehungskraft entfalten, die im Westen unter dieser Agenda erfolgreich etablierte Konsumgesellschaft beflügelte auf jeden Fall das Missbehagen in den osteuropäischen Gesellschaften gegen die bevormundende Mängelwirtschaft des realen Sozialismus. Doch selbst heute werden die Freiheitskonzepte des Liberalismus nur selten einem Wärmestrom des Denkens zugerechnet. Bevormundende Sozialstaatlichkeit und nicht zuletzt auch die politische Mobilisierung von Neidgefühlen gegen diejenigen, die aus ihren Freiheitsoptionen durch Glück oder Können mehr zu machen verstehen als andere, lassen liberale Denkformen trotz des hier geschilderten eindrucksvollen Wiederaufschwungs am Ende des 20. Jahrhunderts doch weiterhin als Minderheitsposition erscheinen. Wegen der Voraussetzung individueller Freiheit stehen Liberalismus und Massendemokratie in einem Spannungsverhältnis. Allein eine adjektivierte liberale Demokratie mit konstitutionell garantierten individuellen Grundrechten, die naturrechtlich und damit letzten Endes auch in einem Widerstandsrecht fundiert sind, entspricht dem liberalen Denken. Die Begeisterung vieler aktueller Theoretiker der Linken für radikaldemokratische, oft auch republikanisch genannte Demokratieformen ist aus liberaler Perspektive ein Rückfall in jakobinische Denkformen, gegen die der Liberalismus einst, wie anfangs dargestellt, entwickelt worden war. Eine der Ursachen dafür ist eine halbierte, nämlich ökonomievergessene und damit

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oberflächliche, vorwiegend politische Liberalismusrezeption auch in Teilen der Politikwissenschaft. (vgl. Reese-Schäfer/Salzborn 2015, 27, 33) Während der Konservatismus immer wieder pragmatische Zweckbündnisse mit liberalen, oft aber auch mit diesem entgegengesetzten kollektiv-wohlfahrtsstaatlichen Konzepten eingeht, ist der Neojakobinismus, so wie er sich nicht nur in der akademischen Welt, sondern politisch sehr wirksam auch in Volksabstimmungen und Kampagnen für Direktdemokratie manifestiert, derzeit eine der Herausforderungen für liberales Denken: Auf diesem Wege können links- wie rechtspopulistische Konzepte die individuellen Freiheitsmöglichkeiten unter Druck setzen. Literatur

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Walter Reese-Schäfer

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21 Konservatismus 21.1 Konservatismus in der Französischen Revolution Konservatismus als politische Bewegung ist eine Antwort auf die Französische Revolution. Konservatismus als Grundhaltung hat es jedoch immer gegeben. Thomas Mann (1920, 608) nannte das Leben selbst eine »konservative Idee«. In allen Kulturen – am wenigsten in China – ließ sich eine Unterscheidung von rechts und links nachweisen. Mit der Französischen Revolution setzte sich gleichsam der binäre Code »konservativ – fortschrittlich« durch – nicht nur in der Hosenbodengeografie der parlamentarischen Sitzordnungen. Vor dem Zerfall der alten ständisch geschichteten societas civilis waren Konservierung und Erneuerung auf der Basis eines fest gefügten Weltbildes stärker auf einander bezogen. Auch damals gab es ein konservatives Lamento über den Niedergang (o tempora, o mores!), aber die Mängel wurden immer wieder korrigiert und auch Traditionalisten empfahlen gelegentlich reformatio und renovatio. Manchmal wurde für die Erneuerung sogar von revolutio gesprochen (Vierhaus 1978, 533). Die Berufung auf eine ursprüngliche Ordnung und Wahrheit war älter als die Forderung nach geplanten Veränderungen der Gesellschaft, die seit der frühen Neuzeit auftauchten; vielfach zunächst als Utopie. Die Französische Revolution hatte die Grundlagen der alten Ordnung unwiderruflich zerstört. Trotz der Berufung auf einen guten status quo ante waren die Vordenker der »Contre-révolution«, wie Bonald in der Théorie du pouvoir (1854, Bd. 1, 121), sich darüber im Klaren, dass mit dem Ruf nach dem Alten etwas Neues geschaffen wurde: »Wenn die konservativen Prinzipien der Gesellschaften erschüttert sind, muss man sie auf ihrer Basis ersetzen«. Selbst der romantische Konservatismus konnte in seinem Gefühlsüberschwang nicht verbergen, dass seine Rekonstruktion des Vergangenen durchaus rationalistische Züge trug, die ohne die Errungenschaften der Aufklärung, die er verurteilte, gar nicht zu denken waren. Rationale Züge zeigte auch eine politische Ordnungslehre, die an eine vorgegebene göttliche Ordnung glaubte, die sich im Bereich von Naturrecht und göttlichen Recht ausdrückte, und rational erkannt werden konnte. Rational schien auch die Gegnerschaft zu einer absolutistischen Herrschaft, die vielen konservativen Bewegungen eigen war, nicht nur in den Ländern, wo die Aristokratie das öffentliche Leben noch dominier-

te. Ein Paradoxon des Konservatismus tat sich auf: je reaktionärer die konservative Theorie auftrat, umso mehr war sie konstruiert, wie in Hallers Restauration der Staatswissenschaften. Nur wo die Herausforderung durch die Revolution eine rein intellektuelle blieb, wie in Großbritannien, konnten Konservative wie Burke sich noch ganz naiv auf das Althergebrachte berufen. Das war umso unproblematischer, als selbst die gemäßigten Liberalen – im Gegensatz zu den Radikalen – diese altenglische Ordnung als Vorbild empfanden. In ganz Europa entwickelte sich von Spanien bis Russland dieser Minimalkonsens zwischen den Konservativen und den ›Gemäßigten‹ unter ihren Gegnern, dass England das Vorbild sein könne. Die Zäsur der Französischen Revolution führte dazu, dass die Literatur vielfach vor 1789 nur Traditionalismus entdeckte. Justus Möser war dafür der typische Repräsentant in Deutschland (Mannheim 1974, 93). Noch nagten nur geringe Zweifel an diesem Urkonservativen, dass die alte Ordnung erhalten werden könne. Damals überwog noch eine gelassene Haltung, ohne Eifer und Militanz, weil keine politische Bewegung die Konfrontation schürte. Dieser Konservatismus oder Traditionalismus war noch kein ideologisierter ›Ismus‹. Es blieb eine Gewohnheit des Konservatismus, alle Ismen abzulehnen, ohne zu bemerken, dass man sich selbst einem ideologisierten Ismus verschrieben hatte. Die Abgrenzung von Karl Mannheim ist als zu germano-zentrisch angegriffen worden. Wo Revolutionen vor 1789 stattgefunden hatten, wie in England, haben sich ganz ähnliche Polarisierungen vollzogen wie später auf dem Kontinent. König James I. hat das ›divine right of the king‹ erst ideologisieren müssen, als es von fortschrittlichen Bewegungen in Frage gestellt worden ist. Die Trennung von Staat und Gesellschaft ließ sich durchaus mit dem konservativen Standpunkt verbinden. Es zeigte sich in einzelnen Ländern – vor allem Frankreich und Deutschland – dass der Konservatismus diese Dichotomie, welche ihnen die Liberalen aufzwangen, übernahmen und denkerisch fruchtbar weiter verarbeiteten (Hegel, Lorenz von Stein). Selbst die staatlich alimentierte konservative Theorie von Gentz und seinen Freunden, welche den Status quo des Wiener Kongresses im Auftrag Metternichs verherrlichte, war ein rationalistischer Konservatismus. Der klassische Altkonservatismus, wie ihn Joseph de Maistre vertrat, hat selbst Metternichs System als nicht-legitimistisches Teufelswerk abgelehnt. Während der Liberalismus universale Prinzipien vertrat, die theoretisch für alle Länder gelten konnten,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_21

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hat der Konservatismus auf länderspezifischen Theorien bestanden. Mit Ausnahme von Burke – und in der frühen Zeit die französischen ›Theokraten‹ Bonald, Maistre und Lamennais – haben die Konservativen weniger internationale Resonanz gehabt als liberale und sozialistische Denker der Politik. Wo vom spanischen, deutschen oder russischen Sonderweg geträumt wurde, blieb die Debatte auf das jeweilige Land beschränkt. Nur Italiens Konservatismus blieb so international, dass er sich rasch den liberalen und nationalen Werten im Risorgimento zuwandte, und daher oft unter ›Liberalismus‹ behandelt wurde. Welch’ ein glückliches Land, das bis zu den Protofaschisten keine konservative Theorie zu haben schien, dachten manche Italiener. Konservative Gedanken konnten am besten international wirken, wenn sie auf hoher Abstraktionsstufe und, mit Luhmann zu sprechen, »doppelt codiert«, auftraten, wie die deutsche Systemphilosophie von Fichte bis Hegel und Schelling, die im Ausland von ganz unterschiedlichen politischen Bewegungen adaptiert worden ist. Im Allgemeinen aber hat konservatives Denken den Einzelfall gegen das ›System‹ gestellt und das ›Ereignis‹ für entscheidender gehalten als eine theoretisierte ›Geschichte‹. Nur einige Varianten eines rationalisierten Konservatismus wie Haller oder Hegel passten nicht in diese schlichten Antithesen zum Liberalismus. Erst nach der Französischen Revolution haben einzelne Denker und politische Gruppen sich selbst als ›konservativ‹ bezeichnet. Der Begriff tauchte in Frankreich um 1795 häufiger auf. In England wurde er um 1830 adaptiert (John Wilson Crooker). Die Juli-Revolution 1830 zwang alle politischen Kräfte erneut zu einer Revolution Stellung zu nehmen und trug dazu bei, die Verortung der Ideologien zu fixieren. Ein Ex-Liberaler wie Viktor Aimée Huber hat in Deutschland 1841 erstmals eine Streitschrift verfasst, die den Konservatismus-Begriff positiv für den eigenen Standpunkt einsetzte (Über die Elemente, die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer konservativen Partei in Deutschland). Hermann Wagener (1856, 15 ff.), eine Zeit lang Redakteur der Kreuzzeitung war und von Theodor Fontane, der unter ihm gearbeitet hat, einmal als »eine Art Nebensonne zur Bismarck« bezeichnet wurde, publizierte anonym 1856 eine Schrift über Grundzüge der conservativen Politik, die als wahrhaft »conservativ« nur Gruppen anerkannte, die das Christentum bewahrten, und die organische Gliederung der Gesellschaft nicht durch einen »administrativen Mechanismus« ersetzen wollten, wie die Liberalen. In Bismarcks System hat der preußi-

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sche Konservatismus sich mit dem Konstitutionalismus ausgesöhnt und ihn geschickt für seine eigenen Zwecke benutzt. Auf dem Kontinent blieb der Begriff seltsam vage. Erst 1867 nannten sich in Preußen die Abgeordneten, die für Bismarck eintraten, eine ›Konservative Partei‹. Funktionale Äquivalente hatte es freilich seit 1814 gegeben wie Antirevolutionäre, Ultras, Reaktionäre, Royalisten oder Hofpartei. Metternich (II, 454) hat in seinen Denkwürdigkeiten viele dieser Feindbezeichnungen wie ›Obskurantismus‹, ›Absolutismus‹ oder ›abstraktes Stabilitätssystem‹ für sich zurückgewiesen. Typisch konservativ war die Behauptung, jenseits der Lagerbezeichnungen zu stehen, da sein Wahlspruch ›Kraft im Recht‹ lautete. Die Verbreitung des Konservatismus-Begriffs wurde durch das Zeitschriftenwesen mächtig gefördert. Chateaubriand gründete 1817 die Zeitschrift Le conservateur. Balmes hat in Spanien in den 1840er Jahren mit dem Conservador polemisiert. Die Statusquo-Konservativen legten Wert auf die Feststellung, dass sie keinen status quo ante wieder herstellen wollten, sondern ihr Anliegen war begrenzter: »Conserver les saines doctrines«, die gesunden Theorien zu bewahren. In Spanien wurde zwar das Wort ›liberales‹ zuerst als Parteibezeichnung entwickelt. Aber die Konservativen wurden von diesen noch als die ›Servilen‹ bezeichnet. Die deutsche Geistesgeschichte war lange besessen vom »deutschen Sonderweg«, zunächst in der Propagierung, später in seiner Bewältigung. Vergleichende Studien zeigten, dass nicht alles deutscher Sonderweg war oder dass in Europa lauter Sonderwege sichtbar wurden. Im Bereich des Konstitutionalismus, auf den Deutschland bis 1918 so stolz war, ist der deutsche Sonderweg stark übertrieben worden. Die dualistische Konzeption mit starken Prärogativen für die Krone und die Ablehnung der parlamentarischen Mehrheitsherrschaft hatte von Schweden bis Italien bis zum Ersten Weltkrieg in der Theoriegeschichte immer viele Anhänger. Frankreichs revolutionäre und überwiegend republikanische Entwicklung war eine Art ›Sonderweg‹. England hat seine freiheitliche Kontinuität stark ideologisiert. Die USA betonen vielfach ihren Exzeptionalismus. Am stärksten war das Sonderwegdenken in den marginalsten Systemen in Europa: Spanien und Russland. Spanien hat durch die Niederlage 1898 einen Dämpfer bekommen. Die 1898er Generation versuchte theoretische Schlüsse aus dem Debakel zu ziehen. Ein westlicher Normalkonstitutionalismus wurde

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III Denkströmungen – D Moderne Ideologie

Frankreich

K Status-quo O Ante-KonserN vative S E

De Bonald De Maistre Der frühe ­ Lamennais

Möser Müller Haller

R V A T

Chateaubriand Burke

Rehberg Gentz Görres Stahl

Minghetti Bonghi Jacini

Comte LePlay

Fichte Arndt Der späte ­ Hegel Rechtshege­ lianer Stein

Der frühe ­ Gioberti Pareto

Der frühe ­ Unamuno

Panslawisten Danilevskij

Christliche und Montalembert Kingsley christlich-­ soziale Konservative

Schelling Baader V. A. Huber

Sturzo

Balmes Der späte ­ namuno

Dostoevskij Solov’ëv Berdjaev Bulgakov Vechi-­Bewe­ gung

Konservative Revolutionäre und Rechts­ extremismus

Nietzsche Moeller van den Bruck Jünger Spengler Schmitt Hitler

der späte Gentile Mussolini Corradini D’Annunzio Rocco

Donoso Cortés Maeztu Primo der ­ Rivera Ledesma Ramos

Katkov Leont’ev Rozanov

Status-quo Konservative

I Reform­ S konservative M U S

Barrès Maurras

Großbritan­ nien

Bagehot Coleridge Bosanquet

Chamberlain Mosley

Deutschland

Italien

Spanien

Russland

Mendéndez Pelayo Ganivet

Slawophile Chomjakov Kireevskij Aksakov Samarin Pogodin Pobedonoscev

Tab. 21.1  Matrix: Konservative Ideologien und nationale Schulen der Politik

gleichwohl nicht erreicht und ein blutiger Bürgerkrieg entschied vorübergehend den Konflikt zwischen den ›zwei Spanien‹. In Russland war diese Auseinandersetzung noch blutiger und scheint selbst nach dem Ende des Kommunismus noch nicht endgültig entschieden. Nur Deutschlands Sonderweg schien anrüchig, weil er in zwei Weltkriege führte, die alle anderen europäischen Systeme in die Auseinandersetzung hineinzogen. Die ›verspätete Nation‹ war stark belastet durch den Umstand, dass im 19. Jahrhundert zwei Großmächte im deutschsprachigen Gebiet operierten, die richtig gefährlich erst wurden, als sie sich nicht mehr im Rahmen des Reiches und später des Deutschen Bundes latent bekriegten, sondern ihre Kräfte vereinten, wie 1914. Auch Italien hat in den Ideen des ›Primato‹ bei Gioberti Sondermissionsrollen theoretisiert. Aber das Risorgimento hat das Land fest an das Zentrum der Entwicklung in Frankreich gebunden. Spanien schien trotz seines manchmal penetranten religiösen Sonderheitswahns in einigen Punkten weniger marginalisiert als Deutschland. Die Cortes von Cádiz

und ihre Verfassung hatten Wirkungen bis nach Italien und zu den russischen Dekabristen. Spanien schien in den Zyklen von Regierungsformen, unter denen die Republik und eine legitimistische (die Carlisten) und eine ›orleanistische‹ Variante (die Cristinos) vorkamen, dem französischen Vorbild nah zu sein. Die Rückwirkungen in der konservativen Theorie waren jedoch umso ›reaktionärer‹ – in des Wortes exakter Bedeutung. Die Reaktion der Theorie auf die revolutionären Ereignisse war nicht präventiv wie in Deutschland, wie von Gentz bis Stahl, sondern beruhte auf der Konfrontation mit konkreten Umstürzen. Wo in Frankreich revolutionäre Massen die jeweilige Herrschaft bedrohten, war es jedoch in Spanien eine Kette von Pronunciamentos, hinter denen nicht selten Offizierscliquen standen. Pronunciamento als Proklamation eines aufrechten Glaubens zeigte an, wie sehr Vieles davon intellektuelle Ersatzhandlung war. Die Universalisierung konservativer Prinzipien war schwerer als die Verallgemeinerung liberaler Grundsätze, weil der Konservatismus von den Gege-

21 Konservatismus

benheiten des Landes ausgehen musste. Zwei Bewegungen erschwerten die Orientierung: die religiöse Bewegung und der Nationalismus. Für den Liberalismus war die Orientierung leichter: Religion wurde zur Privatsache definiert und der Nationalismus wurde, soweit er die Rechtsgleichheit der Bürger förderte, relativ problemlos adaptiert. Der Nationalismus hat in den Ländern, die noch keine staatliche Einheit verwirklicht hatten, eine Herausforderung der Legitimitätsvorstellungen des Konservatismus dargestellt und wurde vielfach abgelehnt. Es war kein Zufall, dass die beiden Denker in Deutschland, die als Vordenker des Nationalismus galten, wie Arndt und der späte Fichte, liberale und sogar radikale Elemente in ihrer nationalen Konzeption eingebracht hatten und keineswegs integrale Konservative sein konnten. Wo der Nationalismus sich in territorial saturierten Staaten entwickelte, wurde er ebenfalls gelegentlich radikal-demokratisch aufgeladen wie bei Barrès in Frankreich. In Deutschland waren einige katholische Denker, wie Görres, durchaus von der nationalen Bewegung erfasst. Vor allem die Konvertiten wie Müller, Gentz, Friedrich Schlegel oder Novalis waren aber eher übernational orientiert und beschworen gelegentlich christliche Reichsideen. Der Nationalismus blieb dieser Gruppe verdächtig, weil er ihr protestantisch und preußisch erschien. Der latente Konflikt der beiden deutschen Großmächte zeigte so seinen Einfluss sogar auf die Bildung der politischen Weltanschauungsgruppen. Neu am Konservatismus des 19. Jahrhunderts war die Mobilisierung der Laientheologen, welche die Religion bedroht sahen und glaubten, die Amtskirche täte nicht genug, um den säkularen Bazillus zu bekämpfen. Das konnte pietistisch und von einem Erlebnischristentum her geschehen wie bei Coleridge. Häufiger waren die Laientheologen im Katholizismus wie Bonald, Baader oder Donoso Cortés. Es gab jedoch auch professionelle Priester wie Lamennais oder Rosmini, die durch ihren Übereifer mit der Amtskirche in Konflikt gerieten. Selbst eher angepasste Priester-Theoretiker wie Balmes waren nicht in allen Positionen kirchenkonform. In Russland war die Orthodoxie dogmatisch so erstarrt, dass sogar Liberale wie Čaadaev oder Pečërin (letzter wurde später katholischer Priester) sich der Theologie annahmen. Die Slawophilen und Neoslawophilen wie Dostoevskij, Solov’ëv oder Leont’ev und Berdjaev haben sich zunehmend ausschließlich den religiösen Fragen zugewandt – gelegentlich mit einer Neigung zum Katholismus, die sich in Russland von Čaadaev bis zu Solov’ëv nachweisen ließ (Masaryk 1913 II, 458).

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Die Dreispaltung der Kirchen in Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie war ein dominantes Thema des Konservatismus. Wiedervereinigungssehnsüchte reichten bis nach Russland. Die deutsche idealistische Philosophie brachte manchen ausländischen Konservativen auf protestantische Gedanken. Andere Konservative haben sie verketzert, weil sie latent pietistisch gefärbt seien – selbst bei Kant. Konservatismus und Liberalismus traten als Erzfeinde auf die politische Bühne und sie haben sich das ganze 19. Jahrhundert hindurch bekämpft. Aber die Feindberührung hat die Positionen verändert. Die Konservativen wurden zwar nicht ›die Brüder‹, aber doch ›Vettern‹ der Liberalen im Kampf, erst gegen den Spätabsolutismus und später gegen den Sozialismus (Klemperer 1961, 11). Die Konservativen haben überwiegend den Konstitutionalismus akzeptiert, auch wenn sie fortfuhren, das ›monarchische Prinzip‹ der ›parlamentarischen Regierung‹ gegenüber zu stellen – von Stahl bis zu Donoso Cortés. Als der Sozialismus zur Herausforderung der beiden ersten Ideologien wurde, sind die ›Vettern‹ noch enger zusammengerückt und es entstanden zahlreiche Mischungen des liberalen und nationalen Konservatismus. Wie in allen drei ideologischen Großfamilien müssen Unterteilungen des Konservatismus vorgenommen werden. Sie sind sogar besonders zahlreich im breiten Spektrum konservativen Denkens, wenn man die christlich-soziale Bewegung und die ›konservative Revolution‹ nicht als eigenständige Cleavage-Pole behandelt. Fünf Gruppen lassen sich unterscheiden: 1. Status-quo-ante-Konservative, denen schon das Metternich-System zu rationalistisch und konstruiert erschien. 2. Der konservative ›Mainstream‹ war in der Regel ›status-quo-orientiert‹. Einige Wandlungen seit der Revolution waren nicht mehr rückgängig zu machen. Es sollte möglichst rational gerettet werden, was noch zu retten schien und vor allem sollte weiteren progressiven Einbrüchen vorgebeugt werden. 3. Reformkonservative haben nach der Devise gehandelt, dass man vieles verändern müsse, wenn man alles bewahren wolle. Diese Gruppe hatte einen wacheren Sinn für die neuen sozialen Herausforderungen als die klassischen Liberalen. 4. Christliche Konservative waren den Reformkonservativen, soweit sie sich als ›christlich-sozial‹ verstanden, eng verwandt. Bei dieser Gruppe gab es jedoch die größten Widersprüche zwischen einem religiösen Traditionalismus und einer sozial

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III Denkströmungen – D Moderne

progressiven Radikalität. Lamennais war das klassische Beispiel. 5. Konservative Revolutionäre hatte es bis zu einem gewissen Grade schon bei den Status-quo-anteTheoretikern gegeben, die sich mit den Veränderungen der Französischen Revolution nicht abfinden wollten. Die Ähnlichkeit bezog sich jedoch nicht auf die christliche Grundlage des Denkens, sondern nur auf die Methoden im politischen Kampf, die empfohlen wurden. Die mittlere Generation der Konservativen um die Zeit der 1848er Revolution, wie Balmes oder Donoso Cortés entwickelten bereits Gedanken über eine Königsdiktatur. Sie waren aber von der traditionellen Kirche noch nicht so losgelöst wie später Barrès oder Maurras. Diese Gruppe ist wiederum in sich stark heterogen. Seit ein militanter Spätmarxismus die gesamte extreme Rechte unter dem Etikett ›Faschismus‹ zusammengewürfelt hat, wurden von ihren Gegnern starke Differenzierungen vorgenommen. Die angelsächsische Literatur, die von der neomarxistischen Welle weniger erfasst worden ist, hat immer ganz unbekümmert »Faschisten« zusammengefasst – unbekümmert von der deutschen Debatte zwischen Nolte, Bracher und der Linken. Diese Debatte muss hier nicht erneut referiert werden. Ein Oxford-Reader faschistischer Texte (Griffin 1995) hat Jünger oder Spengler als »Non-Nazi German fascism« eingeordnet. Gottfried Benn stand neben Goebbels und Carl Schmitt sogar unter »Nazi-Faschismus«. Die Grenzen zwischen der ›konservativen Revolution‹ und dem heimischen ›Faschismus‹ lassen sich allenfalls in Deutschland säuberlich ziehen, weil der Nationalsozialismus sie selbst mit totalitärer Unduldsamkeit gezogen hat. In Italien haben Faschismus und Nationalismus zum nationalfascismo fusioniert. In Spanien wurde die Falange zum adoptierten Faschismus einer Militärdiktatur, dem auch noch die Fusion mit dem Traditionalismus verordnet wurde. Neu an der konservativen Revolution war das Vorherrschen einer vitalistischen Philosophie, die nicht mehr religiös gestimmt war. Selbst dort, wo die katholische Religion noch ein Eckstein des Selbstverständnisses der extremen Rechten war, wie bei Maeztu in Spanien, mischten sich bereits heidnische Elemente in das Denken. Der Faschismus hat diese nichtchristlichen Bruchstücke der Legitimation noch ausgebaut – bis hin zum Rassenkult. Extreme Bewegungen wie der Faschismus haben die scharfe analytische Definitionsarbeit stärker he-

rausgefordert als ein Allerweltsphänomen wie der Konservatismus. Autoritäres Gedankengut hatte den Konservatismus in vielen Ländern durchdrungen, längst ehe faschistische Bewegungen aufkamen. Am stärksten war dies in Deutschland der Fall, am wenigsten in Großbritannien, wo der britische Konservatismus die ultra-reaktionären Theorien eher dem lunatic fringe zuordnete (Blinkhorn 1990, 4). Autoritäre Tendenzen haben sich in England häufig auf den Imperialismus und die Kolonialpolitik ableiten lassen, wo man sich mit »der Bürde des weißen Mannes« (R. Kipling) beweihräuchern konnte. In anderen Ländern waren die autoritären Tendenzen entweder theokratisch-religiös verbrämt, wie in Russland, oder wenigstens mit einer religiös gefärbten Blut-und-BodenMystik aufgeladen, wie bei Barrès in Frankreich und bei den konservativ gewordenen Mitgliedern der Generation von 1898 in Spanien. Konservative hatten es leichter, sich dem Faschismus anzunähern, wo dieser kleriko-faschistisch auftrat wie in Österreich oder Portugal. Konfliktreicher war das Verhältnis von Konservatismus und Faschismus in Ländern, wo die Modernisierungs- und Technisierungsmythologie mit einer paganen A-Religiosität verbunden wurde, wie bei der ›konservativen Revolution‹. Die spanische CEDA fühlte sich nicht als faschistisch, hat aber wie andere erzkonservative Parteien milizförmige Jugendorganisationen und paramilitärische Organisationsformen gepflegt, die an den Faschismus erinnerten. Klerikofaschisten haben sich gelegentlich dem aufsteigenden Faschismus angepasst, wie im März 1924 in Italien, als viele Ex-Popolari (Christdemokraten) die Faschisten mit Wahlaufrufen unterstützten. Der entschiedene Kern der Christdemokraten war andererseits – neben einigen Linksliberalen – in den meisten Ländern die einzige Gruppe des bürgerlichen Lagers, die standhaft gegen die faschistische Flut blieb.

21.2 Konservatismus und Religionen in der Entwicklung der Parteiensysteme Die Parteienentwicklung des Konservatismus war quantitativ wenig aufschlussreich und konnte meist nur selten Beziehung zur Bedeutung konservativer Theorien im Land haben. In Deutschland vor allem mussten Konservative und Christdemokraten zusammengezählt werden, um die Stärke des überwiegend konservativen Lagers zu ermitteln. Der Konservatismus in seinen Schattierungen in der politischen Theorie war aber stärker als der Niederschlag, den das kon-

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servative Denken und der politische Katholizismus im Parteiensystem fanden. Am stärksten war die konservative Partei in Großbritannien, wo sie in der Rechten weitgehend konkurrenzlos blieb und wo die Stellung der beiden Lager durch ein relatives Mehrheitswahlrecht institutionell abgesichert war. Angesichts der Hegemoniestellung war eine starke konservative politische Theorie kaum nötig. Aber auch die liberale Theorie in Großbritannien blieb unterentwickelt, nachdem die großen Konflikte des Chartismus und Utilitarismus einmal durchgestanden waren. Schon immer standen die Briten in dem Ruf, dass sie ihr System trefflich zu praktizieren verstanden, aber die Analyse des Systems lieber den Franzosen überließen. Der Konservatismus hat sich nicht nur nach dem Stand der Machtverhältnisse im Verfassungssystem ausdifferenziert, sondern war vor allem durch die Stärke der Konfessionen bestimmt. In katholischen und gemischt konfessionellen Ländern (Deutschland, Schweiz, Niederlande) kam es vielfach zu einem ›Kulturkampf‹ zwischen gläubigen Katholiken und dem laizistischen Staat. Im Gegensatz zu den Differenzierungen unter Liberalen schienen die ›Ultramontanen‹ von einer Art ›Internationale‹ unterstützt, obwohl der politische Katholizismus vielfach – wie ihr Vordenker Lamennais – in Konflikt mit der Kirche lag. Den sozialen Impetus des politischen Katholizismus konnte die Kirche eher akzeptieren (z. B. Rerum novarum, 1891), als die Tendenzen zur parlamentarischen Regierung und zur Demokratie, die lange in päpstlichen Enzykliken kritisiert wurden (Immortale Dei, 1885; Au milieu des sollicitudes, 1892). Es wurde vom Vatikan vielfach versucht, die frühe Christdemokratie in ein möglichst unpolitisches sozial-karitatives Fahrwasser zu lenken – mit begrenztem Erfolg. In gemischt-konfessionellen Ländern war der politische Katholizismus in fundamentalen Fragen weiterhin ultra-konservativ, in Verfassungs- und Institutionenfragen hingegen vielfach ziemlich progressiv, was die Konflikte zwischen den Gruppen vorprogrammierte. In keinem politischen Bereich ist die Abgrenzung der Parteien so schwer, wie bei Bewegungen im Umfeld des Konservatismus. Der größte Unterschied liegt bei den säkularen und den religiösen konservativen Parteien. Es lassen sich jedoch nicht alle Christdemokratischen Gruppen als ›konservativ‹ einordnen, auch wenn sie durch Konzentration auf christliche Wähler, vor allem in katholischen Regionen, durch lange Regierungspraxis oder durch die Dynamik im Lager der ›bürgerlichen Parteien‹ gelegentlich in eine konservative Haltung gedrängt wurden. Franz von

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Baader (1834/1957, 209) hat in seiner Schrift über Evolutionismus und Revolutionismus erstmals das »christlich-soziale Prinzip« propagiert. Es wurde zu einem Vorteil christdemokratischer Gruppen gegenüber den Konservativen, dass sie konservative Grundtheorien mit fortschrittlichen Ideen in einigen sozialen Bereichen wie der Wohlfahrtspolitik verbinden konnten, und auch nicht vor Kritik an den Amtskirchen zurückschreckten. Im 19. Jahrhundert gab es nicht nur bei Lutheranern Bestrebungen, welche die Religion verteidigten und die Kirche angriffen. Die evangelische soziale Bewegung seit Johann Hinrich Wichern, dem Begründer der Inneren Mission, hatte mehr Einfluss im Luthertum. In einigen Erweckungsbewegungen kam es auch zu einem Pathos der Kirchenkritik. Landeskirchen sollten eine Art religiöses Erziehungsinstitut werden. Wicherns Arbeit blieb politisch nicht folgenlos, als König Friedrich Wilhelm IV eine Reform der Gefängnisse anregte. Wichern hat 1854–56 an der Reorganisation des ›preußischen Mustergefängnisses Moabit‹ mitgewirkt. Diese Nähe zum Staat wurde jedoch nicht nur in der Kirche zunehmend scharf kritisiert und passte eigentlich auch wenig zu den Anfängen der Erweckungsbewegung. Die ›Rechristianisierung des Volkslebens‹ setzte sich in Gegensatz zum Konservatismus, obwohl Wichern durch den Einfluss von Friedrich Julius Stahl in der Betonung zweier Institutionen, wie ›weltliche Obrigkeit‹ und ›Kirche Christi‹ – die noch bei Friedrich Naumann (Werke, Bd. 1, IV, 3) in abgeschwächter Form Wichtigkeit erlangten – sich dem preußischen Konservatismus näherte. Andererseits blieb die christlich-soziale Bewegung zwischen Kirche und Proletariat, Kapitalismus und Sozialismus in einer schwankenden Mittelstellung (Wendland 1962, 13 ff. und 19), die keine politische Identifikation mit dem Konservatismus erlaubte. Diese prekäre Mittelstellung hat sich im 20. Jahrhundert in der ›ökumenischen Bewegung‹ wieder gefunden. Friedrich Naumann (Werke Bd. 1, 1964, 343) hat 1892 ein »christlich-soziales Zeitalter« ausgerufen, dass er nach dem Triumph der Sozialdemokratie kommen sah. 1895 propagierte er plötzlich das ›Nationalsoziale‹. Das Ende der evangelisch-sozialen Bewegung schien eingeleitet, nach dem Kaiser Wilhelm II. ›Christlich-sozial‹ für Unsinn erklärte und Hofprediger Stöcker aus dem Evangelisch-sozialen Kongress austrat (Kuhn 1972, 820). Als Geburtsstunde der christdemokratischen Bewegung im Katholizismus wurde vielfach die päpstliche Enzyklopädie Rerum Novarum des Papstes Leo XIII. von 1891 angesehen. Der Vatikan hat sich in ihr

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als Reaktion auf die Industrialisierung erstmals mit der Lage der Arbeiterschaft auseinandersetzen müssen. Das Oberhaupt der Katholischen Kirche orientierte sich stark an dem Buch des Bischofs Wilhelm Emmanuel Kettler von 1864 über Die Arbeiterfrage und das Christentum. Als in Frankreich die Reformbewegung zu radikal erschien, hat der gleiche Papst jedoch diese christliche Demokratie in der Enzyklika Graves de communi re von 1901 auf die ›soziale Wohlfahrt‹ beschränkt und weiterreichenden politischen Ansprüchen einen Riegel vorzuschieben versucht. Als die totalitären Ideologien die Freiheit des Einzelnen einschränkten hat Papst Pius XI. in der Enzyklika Quadrogesimo anno 1931 die christliche Haltung im ›Subsidiaritätsprinzip‹ zusammengefasst. Danach rangiert die Verantwortung des Einzelnen vor der Staatsintervention. Der Staat sollte möglichst dezentral organisiert werden und hatte die Pflicht nach dem Subsidiaritätsprinzip kleineren schwachen Einheiten sozial zu helfen. Mit dem Prinzip der ›Solidarität‹ sollte die kapitalistische Wirtschaft in einer sozialen Marktwirtschaft gebändigt werden. Fundamentalistische Gruppierungen haben aber gelegentlich auch eigene kleinere Parteien gegründet, wie die Anti-Revolutionäre Partei in den Niederlanden, die sich erst spät 1980 mit anderen Parteien nach deutschem CDU-Vorbild förmlich zu einer christlichdemokratischen Partei unter dem Namen Christen Democratisch Appèl zusammenschloss. In Frankreich hat die volksrepublikanische Partei MRP als links-christdemokratische Gruppe nur in der Vierten Republik eine wichtige Rolle gespielt, die bald von den nationalkonservativen Gaullisten überflügelt wurde. Die Namensgebung der Parteien ist in keinem ideologischen Bereich so irreführend wie bei konservativen Gruppen: •• Nur eine Minderheit der Parteien führt noch das Epitheton ›konservativ‹ im Parteinamen, wie in Großbritannien, Kanada und Rumänien – trotz der gewaltigen Vorbildwirkung Englands. •• Weit häufiger ereignete sich die Aufnahme des Wortes ›liberal‹ (Japan: Liberal-demokratische Partei), ›sozial-liberal‹ (Kroatien, Litauen, Moldawien). In Ost- und Südosteuropa, wo die lange Herrschaft des Kommunismus die Deklarierung als christlich nicht recht duldete, dominierte auch nach dem Kommunismus die Bezeichnung ›demokratisch‹ für konservativ eingestufte Parteien (Albanien, Bulgarien, Indonesien, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, Ungarn, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn).

•• Die Bezeichnung ›national‹ (Finnland, Israel), oder ›Volkspartei‹ (China, Japan, Lettland, Mazedonien, Montenegro, Österreich) kam immer wieder vor. •• In der Vergangenheit kam es auch zur Kumulierung der Epitheta wie bei der Deutschnationalen Volkspartei in der Weimarer Republik, die im Januar 1933 eine Koalition mit Hitler schloss. •• Nur in Norwegen nannte sich eine Konservative Partei ›Rechte‹. Die meisten Gruppen versuchen durch Zusätze wie ›Volk‹, ›Sammlung‹, ›Bürgerpartei‹ relativ progressiv zu erscheinen und beanspruchten, eher Parteien der Mitte zu sein. •• Einmalig sind die Republikaner in den USA mit einer Bezeichnung, die in Europa eher linksliberale Parteien bevorzugten. Auf internationaler Ebene sind diese Gruppierungen in der Christlich-Demokratischen Internationale zusammengeschlossen und in Europa firmieren sie als Europäische Volkspartei. Die EVP (engl. EPP) ist seit 1976 ein Zusammenschluss von christlich-demokratischen und konservativ-bürgerlichen Parteien in der Europäischen Union. Unter den fast 50 Mitgliedsparteien gibt es höchst unterschiedliche Namen, von Konservativer Volkspartei (Dänemark) bis zur fehlbenannten Partido Social Demokrata in Portugal. Neuerdings wird in den gewandelten konservativen Ideologien vielfach der Wertkonservatismus betont und der Strukturkonservatismus abgelehnt. Selbst die Grünen, die 2012/13 in der verfrühten Wahlpropaganda eine Koalition mit den Christdemokraten überwiegend nicht anstrebten, weil sie diese als »zu konservativ« einschätzten, hielten »grün« für »links, liberal und wertkonservativ« – wie ein Parteivorsitzender wie Cem Özdemir in einem Interview formulierte (Kienzle 2012, 251). Auch ein technokratischer Konservatismus in der Tradition von Denkern wie Hans Freyer oder Helmut Schelsky wurde allenfalls in der ideologischen Praxis konservativer Parteien einflussreich. Mit der rasanten Entwicklung von Wirtschaft und Technik haben konservative und christlich-soziale Parteien den technologischen Fortschritt akzeptiert und betont, aber mit sozialen Wertvorstellungen zu verbinden gesucht. Kein Begriff für eine politische Ideologie oder Bewegung ist so stark ausgehöhlt worden, wie das Epitheton ›konservativ‹. Einige Analytiker (Kondylis 1986, 507) gehen jedoch zu weit, wenn sie behaupten, es sei einfach unsinnig, zeitgenössische westliche politische Programme noch als ›konservativ‹ zu bezeichnen. Die Kritiker sind freilich selbstkritisch genug, zu

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antizipieren, dass der Begriff ›konservativ‹ unausrottbar ist, weil die Gegner der konservativen Parteien in der politischen Auseinandersetzung nicht auf das Etikett verzichten können – sowohl die Liberalen als auch die Sozialisten. Literatur

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Klaus von Beyme

22  Sozialismus und Kommunismus

22 Sozialismus und Kommunismus 22.1 Zwischen Emanzipation und auto­ ritärer Herrschaft Der Beitrag bietet einen Überblick über die Hauptströmungen der sozialistischen und kommunistischen Ideen von der Französischen Revolution 1789 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Hierzu wird die Ideengeschichte des Sozialismus und Kommunismus in zwei Perioden eingeteilt: In die Epoche des Frühsozialismus im Anbruch der Moderne und in die des modernen Sozialismus und Kommunismus etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei steht das Wirken von Karl Marx und Friedrich Engels an zentraler Stelle, weil sie die Ideen des Sozialismus und Kommunismus wie keine anderen Theoretiker/innen geprägt haben. Ihre Bedeutung in der Geschichte dieser politischen Ideen leitet sich aus einem historischen Zufall ab: Sie erlebten das politische Ende des Frühsozialismus und die Entstehung des modernen Sozialismus, die sie biografisch, theoretisch und politisch begleiten konnten (Hobsbawm 2014, 35). Seit dem Wirken von Marx und Engels lässt sich die Ideengeschichte des Sozialismus und Kommunismus wiederum in zwei Epochen einteilen: Zum einen in den unmittelbaren zeitgenössischen Kontext der beiden Theoretiker, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zahlreiche Schriften, darunter berühmte Agitationsschriften wie das Manifest der Kommunistischen Partei, veröffentlichten; zum anderen in die darauffolgende Rezeption ihrer Schriften durch Marxist/innen verschiedenster Prägung (Hobsbawm 2014, 174–180). Diese Rezeption kann in mindestens drei Strömungen differenziert werden. So lässt sie sich erstens in den unaufhaltsamen Aufstieg des traditionellen Marxismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts untergliedern (Elbe 2010, 13). Dieser erreichte mit dem Erfolg der sozialistischen Revolution in Russland 1917, in deren Folge der Marxismus-Leninismus zur Staatsdoktrin erhoben wurde, seinen politischen Höhepunkt. Die Theoretiker/innen der zweiten Strömung, des westlichen Marxismus, waren oftmals sozialistische oder kommunistische Parteimitglieder oder -funktionär/ innen, die aber in den 1920er Jahren in der einen oder anderen Hinsicht eine Revision marxistischer Grundtheoreme vornahmen (Anderson 1978, 44–47). Und schließlich lässt sich mit der Formkritik und der Kritischen Theorie eine dritte Strömung ausmachen, die einen Bruch mit wesentlichen Theoremen des traditionellen Marxismus vollzog. Sie zeichnet sich im Wesent-

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lichen durch eine kritische Rekonstruktion der Hegelschen Dialektik im Marxschen Denken aus (Elbe 2010, 27). Zudem führte insbesondere die Vermittlung von psychoanalytischer Subjekt- und Marxscher Gesellschaftstheorie die Kritische Theorie weg von der Klassenfixierung, die im Anschluss an den Frühsozialismus für die Geschichte des Sozialismus und Kommunismus prägend gewesen war. Die ideengeschichtliche Auseinandersetzung führt also zunächst zum Frühsozialismus und damit in die Epoche der Französischen Revolution.

22.2 Frühsozialismus – Zwischen Utopis­ mus und Bewegung Der linke Flügel der Französischen Revolution Im Frühsozialismus des endenden 18. Jahrhunderts nahmen die vormodernen Heilsversprechen abtrünniger Geistlicher mit den Ideen des Sozialismus und Kommunismus eine neue Gestalt an. Dies ist maßgeblich an die entstehenden Formen moderner politischer Öffentlichkeit geknüpft (Salzborn 2012, 29). Die Utopien verbanden sich nun mit sozialen Bewegungen, die nach gesellschaftlicher Partizipation strebten. Dabei trat der Frühsozialismus im Übergang zur Moderne »am linken Flügel der Französischen Revolution« in Erscheinung (Hobsbawm 2014, 34). Die in Zirkeln und Salons diskutierenden Frühsozialist/innen kritisierten, dass die Losung ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ durch die Revolution nicht verwirklicht würde; sie galt ihnen darum als unvollendet. Insbesondere François Noël Babeuf (1760–1797) gehörte zu den »Revolutionären der ersten Stunde« (Fritzsche 2000, 5), die stark vom Philosophen JeanJacques Rousseau (1712–1778) und dessen Egalitarismus beeinflusst waren (Hobsbawm 2014, 33). Vor diesem Hintergrund zählten die Abschaffung des Privateigentums und die Verwirklichung umfassender sozialer Gleichheit zu den Kernforderungen der Verschwörung der Gleichen, einem revolutionären Zirkel, dem auch Babeuf angehörte (Fritzsche 2000, 5). Für Babeuf nahm in der aufkommenden, auf Privateigentum ruhenden Klassengesellschaft, die von der Ständegesellschaft hervorgebrachte soziale Ungleichheit eine qualitativ neue Form an, die er erstmals im Sinne einer Klassentheorie deutete. (Hobsbawm 2014, 34). Die Kritik, die die Verschwörung der Gleichen gegen die aufkommende bürgerliche Gesellschaft vorbrachte, beruhte sozialtheoretisch auf der Gegenüberstellung von einem auf Gemeineigentum beruhenden

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_22

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vormodernen Naturzustand auf der einen und gewissermaßen entfremdeter Moderne auf der anderen Seite. Aus dieser Gegenüberstellung entwickelte Babeuf einen Entwurf für eine sozialistische Zukunft, in der die Menschheit wieder mit ihrer ursprünglichen Natur versöhnt werden sollte. Doch diese erste Welle des Frühsozialismus brach infolge des Staatsstreichs durch Napoleon Bonaparte im Jahr 1799. Die sich anschließende zweite Welle des Frühsozialismus war ausdifferenzierter und heterogener; im Gegensatz zur ersten trat sie deutlich weniger revolutionär auf und bewegte sich noch stärker zwischen rationalistischen Idealen der Aufklärung und mystischen Impulsen der Romantik (Birnberg 1995, 189). Bedeutendster Theoretiker dieser zweiten Welle war Charles Fourier (1772–1837). Auch er knüpfte in seinen Schriften an die von Rousseau inspirierten Kerntheoreme der Verschwörung der Gleichen an. Dabei vertrat er die Ansicht, dass »die Menschheit [...] mit der Zivilisation den falschen Weg eingeschlagen« hätte (Hobsbawm 2014, 43). Auch er griff explizit auf die Idee eines ursprünglichen Naturzustandes zurück, der ihm zugleich als Ideal für die Zukunft diente. Dementsprechend waren seine »kommunistische Menschen [...] Männer und Frauen, wie die Natur sie geschaffen hatte« (ebd., 44). Anders als Babeuf ging es Fourier jedoch nicht mehr darum das Privateigentum abzuschaffen. Im Zentrum seiner Kritik stand vielmehr die ungleiche Reichtumsverteilung. So beklagte er die »ungeheure Ballung des Reichtums« der »großen Händler« und »Börsenspekulanten« (Fritzsche 2000, 7). Vergleichbar argumentierte auch Claude-Henri de Saint-Simon (1760–1825). Er propagierte zwar die Chancengleichheit, nicht aber die umfassende soziale Gleichheit. Denn auch er hielt, wie Fourier, nicht das Privateigentum an sich für ein Problem. Vielmehr befand er, dass die »Ungleichheit des Einkommens und des sozialen Status« durchaus ihre Berechtigung hätten und »geradezu notwendig« seien (ebd., 6). Die entscheidende Neuerung in der Theorie von Saint-Simon gegenüber der von Fourier und Babeuf ist, dass er in seinem Werk Du système industriel von 1822 »die zentrale Bedeutung der Industrie« für die Entstehung der Klassengesellschaft hervorhob (Hobsbawm 2014, 40–41). Dementsprechend integrierte er auch erstmals die Rolle des Klassenkampfs systematisch in die politische Theorie des Frühsozialismus (ebd.). Auch wenn weder bei Babeuf, noch bei Fourier oder Saint-Simon der Begriff der Klassengesellschaft ausge­

reift war, stellten sie bedeutende Weichen für die sozialistische und kommunistische Theorie, wie sie von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820– 1895) aufgegriffen und weiterentwickelt werden sollte. Insofern stellt der Frühsozialismus für Marx und Engels einen entscheidenden ideengeschichtlichen Erfahrungshintergrund dar, der Leitmotive, vor allem ihrer politischen Theorie, maßgeblich prägte. Marx war in Trier als Sohn jüdischer Eltern aus bürgerlichem Haus geboren. Die Familie konvertierte nur sechs Jahre nach der Geburt von Marx im Jahr 1824 zum Christentum. Als Jurastudent hatte Marx zunächst in Bonn und Berlin gelebt und in der preußischen Hauptstadt an den Diskussionsabenden im Kreis der Junghegelianier teilgenommen, die sich intensiv mit dem deutschen Idealismus auseinandersetzten. Diesem Zirkel gehörten neben Marx unter anderem auch Edgar Bauer, Max Stirner und Ludwig Feuerbach an, die Marx später in seinen Polemiken scharf kritisieren sollte (McLellan 1974, 14 f.). In dieser Zeit setzte Marx sich umfassend mit der Rechtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels auseinander, die ihn zu einer »langwierige[n] und komplizierte[n] Abrechnung mit dem Liberalismus und der Hegelschen Philosophie« führte (Hobsbawm 2014, 27). Dabei brachte ihn seine Kritik am deutschen Idealismus zunächst in die Nähe des Materialismus Feuerbachs, der mit der Idee, dass der Mensch im Kapitalismus von seinem ursprünglichen Wesen entfremdet sei, an die kulturpessimistischen Überlegungen des Frühsozialismus anknüpfte (McLellan 1974, 125–128). Spätes Ende des Frühsozialismus Im Jahr 1841 lernte Marx mit 23 Jahren über seine beginnende Redaktionstätigkeit bei der Rheinischen Zeitung den Kaufmann Moses Hess (1812–1875) kennen. Mehr noch als andere Frühsozialist/innen zeigte Hess großes Interesse daran, die sozialistische Kritik in »philosophischer Reflexion« zu begründen (Fritzsche 2000, 13), womit zwischen dem Junghegelianer Marx und dem Kommunisten Hess eine enge politische Freundschaft entstand. Sowohl Marx als auch Engels, die sich 1842 in Köln persönlich kennenlernten, bekannten sich erst in den Folgejahren, also »relativ spät zum Kommunismus« (Hobsbawm 2014, 27). 1843 zog Marx gemeinsam mit seiner Genossin und Frau Jenny (geb. von Westphalen) nach Paris. Dort war es Hess, der die drei Kommunist/innen »mit dem Millieu der französischen Sozialisten bekannt« machte (Fritzsche

22  Sozialismus und Kommunismus

2000, 13). Über Hess lernten sie den Bund der Gerechten um den Handwerker Wilhelm Weitling (1808– 1871) kennen, einen 1838 gegründeten revolutionären Zirkel. Darin waren eine Vielzahl, vor allem aus den deutschen Staaten stammender und im Pariser »Exil lebende[r] radikale[r] Handwerker« organisiert (Hobsbawm 2014, 108). Inhaltlich und organisatorisch wies dieser Bund eine direkte Traditionslinie zur Verschwörung der Gleichen von Babeuf auf. Für die KommunistInnen denen Marx und Engels zu Beginn der 1840er Jahre in Paris begegneten galt darum die Forderung nach sozialer Gleichheit als Leitidee und die Philosophie Rousseaus als wichtigster Referenzpunkt (ebd., 33). Auch dies bedingte, dass sich wichtige Argumentationsfiguren des »vormarxschen Sozialismus [...] in den späteren Werken von Marx und Engels« wiederfanden (ebd., 39). So verfasste Marx seine ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 noch maßgeblich in den Bahnen des Frühsozialismus. Doch diese Bewegung hatte im Verlauf der 1840er Jahre seinen politischen Höhepunkt überschritten. Im sozialen Sinne ging er spätestens »durch die sprunghafte Entwicklung zur großen Industrie« und der damit verbundenen Entstehung großer Arbeiter/innenmassen zu Ende (Fritzsche 2000, 15). Auch dadurch entwickelte sich »im Unterschied zum meist kleinbürgerlichen Charakter des utopischen Sozialismus« nun auch ein immer stärkerer »proletarischer Charakter« in der »kommunistischen Bewegung« (Hobsbawm 2014, 35). Ab 1847 arbeitete Engels gemeinsam mit Karl und Jenny Marx am Manifest der Kommunistischen Partei im Auftrag des Bundes der Gerechten (ebd., 108–114). Mit dieser Schrift entstand nicht nur eine programmatische Erklärung, sondern auch ein neuer politischer Ansatz für eine Bewegung, die vor allem mit Blick auf den Klassenbegriff viele Anleihen aus dem Frühsozialismus nahm (ebd., 42). Sein politisches Ende fand der Frühsozialismus schließlich durch die Revolutionen von 1848/1849 (Fritzsche 2000, 15). Dies führte unter anderem zu einer organisatorischen Neuausrichtung der sozialistischen und kommunistischen Bewegung. Aus den fragmentierten Geheimbünden und Zirkeln entwickelten sich sukzessive moderne Formen der politischen Interessenvertretung. Diese Entwicklung ging mit einer Institutionalisierung der internationalen Zusammenarbeit zwischen den aus dem Boden sprießenden sozialistischen Vereinen und Organisationen einher. So wurde im Jahr 1864 in London die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), die später

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auch als Erste Sozialistische Internationale bekannt wurde, ins Leben gerufen. Mit dem Ende des Frühsozialismus und den ökonomischen Krisen der 1840er Jahre gelangte Marx zum Schluss, dass die Analyse der politischen Ökonomie »im Zentrum der kommunistischen Theorie« stehen müsse (Hobsbawm 2014, 46). Deshalb begann er in den 1850er Jahren mit der Verschriftlichung einer ersten Fassung der Grundrisse, der Urfassung der Kritik der politischen Ökonomie. Dabei lässt sich in den Marxschen Schriften dieser Zeit ein zentraler Zwiespalt ausmachen (Elbe 2010, 189). Dieser besteht einerseits in seiner Kritik des Frühsozialismus, indem er die »Kritik einzelner Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft durch eine umfassende Kritik« ersetzte (Hobsbawm 2014, 58). Zentral hierfür ist seine Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie in seinem Londoner Exil, allen voran derjenigen David Ricardos (Marx 1867/1974, 20 ff.). In seinem bekanntesten Werk Das Kapital von 1867 entfaltet Marx auf den verschiedenen Abstraktionsstufen den Fetischismus der Wert-, Waren- und Kapitalform. Demnach erscheint der Kapitalismus verkehrt, als natürliches und nicht als historisches soziales Verhältnis (Marx 1867/1974, 86 ff.). So betont Marx im dritten Band, dass »alle Wissenschaft [...] überflüssig wäre«, wenn »die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen« (Marx 1894/1975, 825). Die dieser Deutung zugrundeliegende Analyse vom Auseinanderfallen von Erscheinung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer wesentlichen Prinzipien geht auf seine Kritik des Idealismus in der Hegelschen Dialektik zurück. Dabei standen vor allem formtheoretische Überlegungen zur kapitalistischen Gesellschaft im Zentrum. So stellte Marx im Laufe seiner Erörterungen zur trinitarischen Formel im dritten Band fest, dass, »wie das Kapital«, auch »Lohnarbeit und Grundeigentum geschichtlich bestimmte gesellschaftliche Formen« seien (Marx 1894/1975, 824). Dies markierte eine deutliche Distanz zur frühsozialistischen Philosophie. Mit dem Wandel in Marxens Erkenntnis- und Gesellschaftskritik ging auch eine grundsätzliche Veränderung im Entfremdungsbegriff einher, womit Marx sich explizit vom Kulturpessimismus der Frühsozialist/innen distanzierte. Diese hatten Entfremdung noch als einen Prozess beschrieben, in dem die Menschen sich zunehmend von ihrer Natur entfernten. Bei Marx nahm die Entfremdung nun jedoch eine für den Kapitalismus spezifische Form an. Der Begriff der Entfremdung beschrieb nun eine historisch-spe-

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zifische Gesellschaft, in der die sozialen Beziehungen den Menschen als fremde, sachlich vermittelte Beziehungen gegenübertreten. Auch sein Herrschaftsbegriff nahm eine neue Qualität an. Demnach bestimmte Marx die Herrschaft im Kapital als verdinglichte und abstrakte Herrschaft des Wertgesetzes (Marx 1867/1974, 16). Insofern lässt sich Das Kapital von Marx als Bruch mit der politischen und ökonomischen Theorie der Frühsozialist/innen deuten. Andererseits besteht der Marxsche Zwiespalt aus einer ungebrochenen Traditionslinie zum Frühsozialismus, die in seiner Fixierung auf die empirischen Klassenbeziehungen als Anknüpfungspunkte für die politische Praxis begründet liegt. So beschrieb Marx das Proletariat im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes von Das Kapital als die Klasse, »deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise« sei (Marx 1867/1974, 22). Ihm zufolge kommt dem Proletariat diese Rolle zu, weil es als kollektives Subjekt Ausdruck des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit sei. Dieser Vorstellung liegt die Idee zugrunde, dass sich Erfahrung unmittelbar in Erkenntnis übersetzt und steht zumindest in einem ambivalenten Verhältnis zu seinen Überlegungen zu Entfremdung und Fetischismus. Dieser Zwiespalt in den Marxschen Schriften war jedoch lange Zeit verschüttet, weil im Marxismus lange Zeit eine Einheit von politischer Theorie des Klassenkampfs und Ökonomiekritik angenommen wurde. Die Marxschen Kommentare zu den politischen Verhältnissen und Ereignissen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie seine Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich, begünstigten diese Interpretation. Nur sieben Jahre nach der Gründung der IAA und vier Jahre nach Veröffentlichung des ersten Bandes von Das Kapital brach der deutsch-französische Krieg aus, in dessen Folge mit der Pariser Kommune von 1871 eine von sozialistischen und kommunistischen Ideen getragene Umwälzung möglich schien. Marx’ Überlegungen dazu, die er auf der Konferenz der Sozialistischen Internationale 1871 vortrug, markierten einen entscheidenden Punkt in der Marxschen politischen Theorie, weil sich darin die Frage nach revolutionärer Umwälzung und Gegengewalt verdichtete (Marx 1871/1973, 331 f.). Diese sollte für den Marxismus der folgenden Jahrzehnte prägend bleiben und für die strategische Ausrichtung der sozialistischen Parteien schwerwiegende Konsequenzen zeitigen..

22.3 An der Wiege des modernen Sozialismus Unaufhaltsamer Aufstieg des Marxismus Trotz der äußerst brutalen Niederschlagung der Pariser Kommune durch französische Truppen entwickelte sich der Sozialismus in den Folgejahren zu einer der einflussreichsten politischen Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Daran hatte die entstehende proletarische Frauenbewegung, die bereits in der Kommune eine tragende Rolle gespielt hatte, einen erheblichen Anteil. Darin kreuzten sich zwei zentrale Motive. Zum einen waren viele der Sozialistinnen gegen die rechtliche Diskriminierung von Frauen aktiv. Dies verband sie unter anderem mit der bürgerlichen Frauenbewegung. So besaßen Frauen im 19. Jahrhundert beispielsweise in England, Frankreich und dem Deutschen Reich weder aktives noch passives Wahlrecht (Gerhard 2009, 52). Zum anderen speiste sich der proletarische Feminismus aus der Arbeits- und Fabrikerfahrung, weshalb die Sozialistinnen neben der sozialen auch die ökonomische Emanzipation anstrebten. Bedeutende Vertreterin dieser Strömung war unter anderem die spätere Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands Clara Zetkin (1857– 1933). Zetkin trat 1878 im Alter von 21 Jahren dem Vorläufer der SPD, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) bei. Aufgrund der von Bismarck im gleichen Jahr verabschiedeten Sozialistengesetze ging sie zunächst nach Zürich und dann nach Paris ins Exil. 1890 kehrte sie jedoch nach Deutschland zurück, wo sie nur zwei Jahre später Chefredakteurin der sozialdemokratischen Zeitschrift Die Gleichheit wurde (Gerhard 2009, 64). Kennzeichnend für Zetkins Position ist, dass sie in Opposition zur bürgerlichen Frauenbewegung auf die Notwendigkeit sowohl der Frauenemanzipation, als auch der proletarischen Revolution pochte. In Abgrenzung von der – in Teilen auch antifeministischen – sozialistischen Bewegung, adressierte sie Frauen explizit als politische und revolutionäre Subjekte (Gerhard 2009, 63 ff.). Auch und gerade vor dem Hintergrund der proletarischen Frauenbewegung konnte sich die sozialistische Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts in Form von Massenparteien zu einer lebendigen politischen Kraft in Europa entwickeln. Diese im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründeten Parteien brachten bemerkenswerte organisatorische Strukturen hervor. Darin waren nun auch die Schriften von Marx nicht mehr wegzudenken (Hobsbawm 2014, 122). Der »entscheidende Ein-

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fluss« seiner Kritik auf die internationale Arbeiter/innenbewegung nahm »nominell betrachtet« in den 1870er Jahren und nach seinem Tod im Jahr 1883 erheblich zu (ebd., 59). Dieser Einfluss wurde vor allem durch die Herausgabe und Edition der beiden letzten Bände von Das Kapital durch Engels befeuert (ebd., 140 f.). Dabei wurde der traditionelle Marxismus durch den »Mythos« einer »Einheit des Marxschen und Engelsschen Werkes« geprägt (Elbe 2007, 92). Insofern handelt es sich beim Marxismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts »in mehrerlei Hinsicht« um »Engels’ Werk« und »daher eigentlich« um einen »Engelsismus« (Elbe 2010, 14). Für die von Engels geprägte Deutung der Marxschen Kritik sind zwei Punkte relevant. Einmal die gesellschaftstheoretischen Implikationen und zum anderen die daraus resultierende politische Praxis (Salzborn 2012, 13 f.). Mit Blick auf die Gesellschaftstheorie des Engelsismus, ist in entscheidendem Maße die historische Lesart des Marxschen Werks prägend. In dieser Lesart erscheinen »die [...] begriffliche[n] Abstraktionsebenen der Darstellung im Kapital« als »idealtypische Modelle und Verlaufsformen historischer Entwicklungen« des Kapitalismus (Elbe 2007, 94). Zentrales Element der traditionellen Lesart ist dabei unter anderem der von Engels geprägte historische Materialismus, der in seinen Schriften eine »ontologisch-deterministische [...] Tendenz« erhält (Elbe 2010, 14). Vor diesem Hintergrund spielte »das Konzept des Fortschritts« eine tragende Rolle (Hobsbawm 2014, 31). Darauf aufbauend gingen viele SozialistInnen und KommunistInnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts davon aus, dass das Proletariat in den kapitalistischen Ländern stetig anwachsen und damit die Mehrheit, die Kapitalistenklasse notwendigerweise eine Minderheit bilden würde. Damit ging auch eine taktische Neuausrichtung innerhalb der sozialistischen Parteien einher, die später als Revisionismus bezeichnet werden sollte. Widersprüche in der Partei vereint Für diese, sukzessive sich in den sozialdemokratischen Parteien durchsetzende, Interpretation steht insbesondere der Name Karl Kautsky (1854–1938), der nach Engels’ Tod die Marxschen Schriften herausgab und kommentierte. Dabei hatte er entscheidenden »Anteil an der Engführung und zugleich Dogmatisierung« der Rezeption der Marxschen Theorie (Fritzsche 2000, 24). Er rückte den »Entwicklungs-

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begriff und die Revolutionsmetaphysik« ins »Zentrum« der Debatte über das Marxsche Werk (Elbe 2010, 16). So waren Kautskys Schriften von »deterministische[n] Vorstellungen« geleitet (Fritzsche 2000, 24). Der Parlamentarismus und die Sozialreform wurden nach und nach zu zentralen Anknüpfungspunkten für die von Engels und Kautsky inspirierte Bewegung (Hobsbawm 2014, 82 f.). Für die politische Praxis der sozialistischen Parteien des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stand also weniger die Theorie vom dialektischen Verhältnis von sozialem Inhalt (Klassengesellschaft) und abstrakter Form (Ware, Wert und Kapital) im Zentrum. Vielmehr stellte das vom Frühsozialismus inspirierte Klassentheorem mit dem Fokus auf die Forderung nach sozialer Gleichheit das Herzstück der politischen Agitation dar. Es war dieses Theorem, das innerhalb der sozialistischen und kommunistischen Bewegung für leidenschaftliche Debatten und Konflikte sorgte. Die Zweite Sozialistische Internationale, die 1889 in Paris tagte und deren Treffen unter anderem von Zetkin organisiert wurde, war zwar noch von einer formellen Einheit geprägt. So sprach auf dem Kongress neben Zetkin auch Eduard Bernstein (1850– 1932), Kopf des nur zwei Jahre später verabschiedeten Erfurter Programms der SPD. Dennoch begannen auch die widersprüchlichen Tendenzen innerhalb der sozialistischen Bewegung manifeste Konturen anzunehmen; sie bezogen sich auf die – aus der Klassentheorie abgeleitete – Frage nach der adäquaten politischen Taktik. Denn resultierend aus dem »Erfolg sozialistischer Massenparteien [...] in verschiedenen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern«, zeichnete sich die reale Möglichkeit »eines unmittelbaren Übergangs zum Sozialismus« ab (Hobsbawm 2014, 83). Die Frage ob Sozialreform oder Revolution? – so spitzte Rosa Luxemburg (1871–1919) die Debatte in ihrer gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1899 zu – führte vor diesem Hintergrund zu einem heftigen Streit innerhalb der sozialistischen Bewegung. Schon 1905, also nur sechs Jahre nach Erscheinen der Schrift Luxemburgs, schien es, als würde die von ihr aufgeworfene Frage mit einer Revolution in Russland, an der die russische Sozialdemokratie maßgeblich beteiligt war, rasch beantwortet. Anders als in Westeuropa operierte diese um die Jahrhundertwende, aufgrund der Repression im Zarismus, noch maßgeblich zerstreut in Form von konspirativen Bünden und Agitationszirkeln (Geyer 1962, 101– 105). Dabei war sie einerseits dem Modell der FrühsozialistInnen nachempfunden, andererseits jedoch

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theoretisch mehrheitlich dem Sozialismus der Zweiten Internationale verpflichtet (ebd., 142). Zu den Begründer/innen der russischen Sozialdemokratie und ihrer Vorläuferorganisation Befreiung der Arbeit im Jahr 1883 gehörten unter anderem die Sozialistin Vera Zasulič (1848–1919), Übersetzerin des Kommunistischen Manifests ins Russische, und Georgij Plechanov (1856–1918). Unter Zasulič und Plechanov hatte sich die sozialdemokratische Partei Russlands zunächst am Fortschrittsdenken Engels’ und Kautskys orientiert (ebd.). Von dieser eingeschlagenen Linie der beiden Parteigründer/innen grenzte sich Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) jedoch 1902, also drei Jahre vor dem Revolutionsversuch in seiner programmatischen Schrift Was tun?, explizit ab. Darin schlägt er einen gegen den Determinismus Kautskys und Plechanovs gerichteten Kurs ein. Dieser führte ihn 1903 zur Gründung der Bolschewiki (Fraktion der Mehrheitler) und damit zu einer grundlegenden Fraktionierung der russischen Sozialdemokratie (ebd., 407 f.). Der darauffolgende Revolutionsversuch von 1905, der mit einem Aufstand in Petersburg ihren Anfang nahm, stellte im Sinne der nun von Lenin vertretenen Programmatik ganz offensiv den Determinismus Kautskys in Frage. Dieser hatte für den Übergang zum Sozialismus Kriterien aufgestellt, wovon das zaristische Russland keines erfüllte: Es handelte sich beim Zarenreich weder um eine Form bürgerlich-parlamentarischer Herrschaft, noch hatte das Industrieproletariat eine vergleichbare Größe, wie in den kapitalistischen Kernländern erreicht (Hildermeier 1989, 14–33). Infolge der Niederschlagung des Petersburger Aufstandes durch den Zaren und der sich verschärfenden Repression, gingen viele der russischen Sozialdemokrat/innen ins Exil. Sie trafen sich in den Schweizer Städten Zürich und Genf wieder, die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu politischen Zentren der Sozialdemokratie entwickelt hatten (Geyer 1962, 17). Dort arbeiteten sie aus dem Exil an ihrer politischen Agitation, etwa indem sie Parteischulen errichteten und Propagandamaterial zur Vorbereitung weiterer Revolutionsanläufe nach Russland schmuggelten. Doch anstelle weiterer revolutionärer Erhebungen nahm in den Folgejahren die Kriegsgefahr zu.

22.4 Bruch des internationalistischen Ver­ sprechens Burgfrieden und Spaltung Die deutsche Sozialdemokratie, die im Kaiserreich inzwischen zur stärksten politischen Kraft im Reichstag avanciert war, votierte am 4. August 1914 mehrheitlich für die »Vaterlandsverteidigung« und damit für die von der Reichsregierung beantragten Kriegskredite (Voigt 2014, 86). Parallel agierten auch in Frankreich die SozialistInnen im Sinne der vom konservativen französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincarré ausgerufenen Union Sacrée – einem nationalistischen Schulterschluss zwischen der größten sozialistischen Partei Section française de l’Internationale Ouvrière und konservativer Regierung (Klär 1981, 96– 99). Die Renationalisierung des Sozialismus ging mit der Aufkündigung internationalistischer Versprechen einher, die noch 1912 auf dem außerordentlichen Baseler Kongress der Zweiten Internationale gegen die aufkommende Kriegsdrohung aktualisiert worden waren. Die Folge war ein unerbittlicher Streit und schließlich die Auflösung der Zweiten Internationale im Jahr 1914 (ebd., 143). Doch nicht nur die Internationale löste sich aufgrund der nun offen zutage tretenden Widersprüche auf. Auch innerhalb der sozialistischen Parteien führte die Kriegsmobilisierung zu folgenschweren Brüchen. So spaltete sich nach der Zustimmung zu den Kriegskrediten durch die Mehrheitssozialdemokratie im Jahr 1914 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) von der SPD ab (Voigt 2014, 86). Vor dem Hintergrund dieser Spaltungen lässt sich der Erste Weltkrieg einerseits als Geburtsstunde der modernen Sozialdemokratie begreifen, in der ein Modell hegemonial wurde, das auf Reformen der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie zielte (Fritzsche 2000, 46). Im Sinne des von Bernstein vertretenen Revisionismus, sollte die soziale Gerechtigkeit nun mit den Mitteln des parlamentarisch-demokratischen Staates verwirklicht werden. So löste die Sozialdemokratie den Widerspruch zwischen Reform und Revolution zugunsten der Reform auf. Aus den Spaltungsprozessen folgte andererseits die Gründung selbständiger kommunistischer Organisationen. Dies hatte sowohl theoretisch als auch praktisch schwerwiegende Folgen für die einst lebhafte politische Debatte innerhalb der sozialistischen und kommunistischen Bewegung. Dabei ist diese – spätestens seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges auch manifeste – Entwicklung vor allem als Konsequenz aus den vorher

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bereits existierenden inhaltlichen Differenzen zwischen SozialdemokratInnen und Kommunist/innen zu deuten. Gegen die parlamentarisch-reformistische Strategie der Sozialdemokratie hatte die Kommunistin Rosa Luxemburg »die ›spontanen Erhebungen der Masse‹«, die sich aus der »›subjektive[n] Erkenntnis der Arbeiterklasse‹« über den Kapitalismus speisen würden, betont (Fritzsche 2000, 36 f.). Bereits 1899 hatte sie den Revisionismus Bernsteins in ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution scharf kritisiert, weil dieser den »Entwicklungsgang [...] der kapitalistischen Gesellschaft« und den »Übergang zur sozialistischen Ordnung« verworfen habe (Luxemburg 1899/2006, 16). Dagegen betonte Luxemburg mit ihrer Schrift Die Akkumulation des Kapitals von 1913 die Notwendigkeit imperialistischer Aggression aus den fundamentalen Krisen des Kapitalismus. Auch Lenin trug im Jahr 1916 mit seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus entscheidend zur Krisen- und politischen Theorie der sozialistischen und kommunistischen Debatte bei. Vor dem Hintergrund der historischen Lesart des Kapital ging Lenin davon aus, dass der Kapitalismus verschiedene Stadien durchlaufe. Er bestimmte die Epoche des Imperialismus in diesem Zusammenhang als letzte Entwicklungsstufe der kapitalistischen Produktionsweise. Im Gegensatz zur liberalen Epoche befinde sich das Kapital im imperialistischen Zeitalter nicht mehr in den Händen vieler, sondern in den Händen einiger weniger Kapitalisten (Lenin 1975, 24). Den Imperialismus selbst fasste Lenin dabei als Folge der politischen Macht in den Händen der Monopole, die sich darüber neue Absatzmärkte für die Kapitalexporte sicherten (ebd., 95). Der in Lenins Theorie zugrundeliegende Herrschaftsbegriff ist maßgeblich in den Bahnen der frühsozialistischen Anleihen in der Marxschen politischen Theorie gefasst. So deutet er die Herrschaft im Kapitalismus als kollektive Herrschaft einer kleinen »Finanzoligarchie« über die Massen (ebd., 94). Den Staat begriff Lenin demnach auch als Instrument der Kapitalisten, den sie zur Unterdrückung des Proletariats nutzten (Elbe 2010, 368 f.). Dementsprechend war auch die Formel von der ›Diktatur des Proletariats‹, die Lenin der Marxschen Kommuneschrift entlehnte, zugespitzt auf die Vorstellung einer homogen proletarischen Mehrheit über die Minderheit einer »Finanzoligarchie«, die sich aus der »Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital« entwickelt hätte (Lenin 1975, 94).

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Aus dieser Analyse entwickelte Lenin eine – auf die realen Bedingungen der Agrargesellschaft im russischen Zarenreich aufbauende – revolutionäre Taktik, wonach sich Bauern und Arbeiter gegen das monopolisierte und in Kartellen zusammengeschlossene Industrie- und Finanzkapital verbünden müssten. Im Sinne des darin angelegten Kollektivismus spielten individuelle politische Freiheitsrechte kaum eine Rolle (Fritzsche 2000, 29). So wollte Lenin im April 1918 auch »keinerlei prinzipiellen Widerspruch zwischen dem sowjetischen [...] Demokratismus und der Anwendung der diktatorischen Gewalt einzelner Personen‹ [...] sehen« (ebd., 35). Diese tief in Lenins politische Theorie verankerten Kerntheoreme stellten die ideengeschichtliche Grundlage für den sich im Realsozialismus auch praktisch durchsetzenden Kollektivismus dar. Durch die Konsolidierung der Oktoberrevolution und der Ausrufung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR, kurz: Sowjetunion) wurde die Linie der Bolschewiki schließlich zu einer staatstragenden politischen Theorie. Die Spaltung zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien zementierte sich endgültig im Jahr 1919 mit der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch – von den Mehrheitssozialdemokraten Friedrich Ebert und Gustav Noske zur Niederschlagung des Januaraufstandes herbeigerufene – rechte Freikorpsverbände. Die Ermordung der beiden KommunistInnen wurde zu einem Symbol für die nunmehr unüberbrückbare Distanz zwischen Sozialdemokratie und kommunistischen Parteien, die sich sukzessive an der bolschewistischen Linie orientierten. Die im März 1919 in Moskau gegründete Dritte Internationale (Kommunistische Internationale, auch Komintern) verfestigte diese Distanz auch auf der internationalen Bühne. Exportschlager aus der Sowjetunion Nach dem krankheitsbedingten Rückzug Lenins aus dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei im Jahr 1921 behauptete sich Josef Wissarionowitsch Stalin (1879–1953) in den parteiinternen Machtkämpfen unter anderem gegen Leo Trotzki (1879–1940). Bereits 1922 wurde Stalin zum Generalsekretär der mittlerweile umbenannten Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ernannt (Fritzsche 2000, 33 f.). Im Verlauf seiner Machtkonsolidierung nach Lenins Tod im Jahr 1924 bewies Stalin, dass er »ein höchst versierter und vollkommen bedenkenlose[r] Praktiker der Gewalt« war (ebd.). Unter ihm wurden »Frei-

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heit und Demokratie« nun auch in der politischen Theorie des sowjetischen Staates explizit »als bürgerlich-konterrevolutionäre Kampfbegriffe verworfen« (ebd.). Dementsprechend ordnete er die Staatsgewalt sukzessive der alleinigen Herrschaft der Exekutive unter. Damit steigerte er den bereits in Lenins Theorie angelegten Kollektivismus zu einer praktischen Liquidierung der Freiheit (ebd., 29). Zur Legitimierung dieser Politik betrieb Stalin eine »Heroisierung und Kanonisierung« der Schriften Lenins, anhand derer er sich und seine Herrschaft »mehr und mehr der Kritik« entzog (ebd., 33). In diesem Sinne proklamierte Stalin den Leninismus zum »Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution« und reduzierte die Marxsche Theorie »auf einen Formelkanon« (Stalin 1924/1951, 10; Fritzsche 2000, 34). In der Folge wurde die durch Lenin popularisierte und durch Stalin zugespitzte Lesart der Marxschen Schriften nun auch mit »schier unbegrenzten Mitteln« finanziell unterstützt (Hobsbawm 2014, 113). So wurden insbesondere die auf die politische Agitation ausgerichteten Texte, wie das Kommunistische Manifest »in der Sowjetunion in einer Vielzahl von Fremdsprachen gedruckt« und exportiert (ebd.). Vor diesem Hintergrund gewann der Antiimperialismus des Marxismus-Leninismus in den 1920er und 1930er Jahren auch international an politischer Relevanz. Dabei knüpfte der antiimperialistische Theorieexport – der oftmals auch mit dem Export finanzieller oder militärischer Unterstützung einherging – an die entstehenden antikolonialen Bewegungen an. Für die Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent war insbesondere der sozialistische Theoretiker des Panafrikanismus George Padmore (1903–1959) ein bedeutender Stichwortgeber. Padmore wurde im Jahr 1903 in der damaligen britischen Kolonie Trinidad geboren. Nach seiner Schulbildung reiste er in die USA, wo er Mitglied der dortigen Kommunistischen Partei wurde (Makalani 2011, 3). In deren Namen war er maßgeblich an den Vorbereitungen für die im Jahr 1929 stattfindende Konferenz der Liga gegen den Imperialismus in Frankfurt beteiligt (ebd., 167) und wurde zum Sekretär des Hamburger Negro Bureau of the Communist International of Labour Unions ernannt. Diese von der Komintern ins Leben gerufene Organisation zielte auf die weltweite Verankerung des leninistischen Antiimperialismus in den antikolonialen Bewegungen (ebd., 3). Nach seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten und anschließender Ausweisung aus Deutschland ging Pad-

more 1933 zunächst nach Paris und schließlich nach London ins Exil (ebd., 167). Dort setzte er seine Arbeit im Sinne der antiimperialistischen Politik fort, indem er die Klassenanalyse auf die koloniale Herrschaft anwandte und die antikoloniale Befreiung zur Bedingung des fortschreitenden Sozialismus machte (ebd., 175). Doch in dieser Zeit entfernte Padmore sich zunehmend von der sowjetischen Außenpolitik, die für seinen Antiimperialismus zunächst prägend gewesen war. Denn das Exekutivkomitee der Komintern machte im Winter 1933 – ein halbes Jahr nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in Deutschland – die Faschismustheorie von Georgi Dimitroff zur Maßgabe für die kommunistischen Parteien weltweit. Dimitroff hatte, aufbauend auf Lenins Antiimperialismus, den Faschismus als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« bestimmt (Dimitroff 1935/1972, 5 f.). Aus dieser Definition leiteten die kommunistischen Parteien die antifaschistische Volksfronttaktik ab, wonach die Arbeiter/innen Bündnisse mit kleinbürgerlichen und progressiven bürgerlichen Kräften zur Bekämpfung des Faschismus eingehen sollten, wovon jedoch – ausgehend von der ›Sozialfaschismusthese‹ von 1924 – die sozialdemokratischen Parteien ausgeschlossen waren (Hobsbawm 2014, 227–249). Die antifaschistische Taktik hatte für die antikolonialen Bestrebungen Padmores schwerwiegende Folgen, denn sie führte auf der internationalen Bühne zu einer Befriedungspolitik mit den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien. Darum warf Padmore der Komintern vor, dass sie ein bloß taktisches aber kein ernsthaftes Interesse an den antikolonialen Bewegungen hätte (Padmore 1956, 289 f.). Aufgrund dieser bereits 1933 öffentlich vorgebrachten Kritik wurde Padmore schließlich aus der Komintern ausgeschlossen (Makalani 2011, 167). Trotz seines Ausschlusses hielt er an den Grundtheoremen des leninistischen Antiimperialismus fest, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Theorie Franz Fanons niederschlagen sollten. Parallel zu den sich entwickelnden antiimperialistischen und antikolonialen Befreiungsmarxismen verschiedener Prägung entwickelten sich mit dem westlichen Marxismus in einer anderen Hinsicht kritische Revisionen des Marxismus-Leninismus (Anderson 1978). Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie einige Kerntheoreme des sowjetischen Theorieexports erweiterten, ihre zugrundeliegende Fixierung auf das

22  Sozialismus und Kommunismus

Proletariat als revolutionäre Klasse jedoch weitestgehend beibehielten. Exemplarisch lassen sich für diese Revision des Marxismus-Leninismus unter anderem die Schriften von Antonio Gramsci (1891–1937) heranziehen. Dieser stellte den Herrschaftsbegriff des traditionellen Marxismus und darin vor allem das Theorem vom bürgerlichen Staat als Instrument der bürgerlichen Klasse zur Unterdrückung des Proletariats in Frage (Buckel 2007, 11). Gramsci begann seine Auseinandersetzung mit den Marxschen Schriften als Student in Turin, wo er auch der sozialistischen Partei, einer Vorgängerorganisation der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) beitrat (Fiori 1970, 89 ff.). Mit 33 Jahren wurde er zum Vorsitzenden der KPI gewählt. Doch unter der faschistischen Herrschaft Benito Mussolinis wurde er nur zwei Jahre später, im Jahr 1926, verhaftet (Anderson 1978, 53). Während dieser Haft entstanden mit den Gefängnisheften, die seine Schwägerin Tatiana Schucht aus dem Gefängnis schmuggelte und posthum veröffentlichte, seine bis heute bekanntesten Schriften (Fiori 1970, 244 f.). Darin deutete Gramsci die Kapitalistenklasse nicht länger als einen homogenen Block, der seine Interessen über den Staat unmittelbar in Politik übersetzt. Gramsci zufolge sei sie vielmehr in Fraktionen zergliedert, die wiederum um die Hegemonie im Staat ringen würden (Buckel 2017, 27). Vor dem Hintergrund der Theorie Gramscis ist der Staat also nicht als einheitlicher Block zu verstehen. Vielmehr fasste er den Staat als Teil der Gesellschaft und als solchen auch als Ausdruck von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen. Vor diesem Hintergrund rückte er die Konsolidierung der Kräfteverhältnisse mit dem Begriff der ›Zivilgesellschaft‹ ins Zentrum seiner Überlegungen. Diese beschrieb er als eine Kombination verschiedenster Faktoren und Institutionen, wie Kirchen, Schulen und Gewerkschaften, aber auch Kultur und Alltag. Auch wenn also Gramsci noch grundsätzlich an der politischen Theorie des Leninismus festhielt, erweiterte er den Staatsbegriff des traditionellen Marxismus und fasste ihn nicht mehr als schlichtes Instrument, sondern als »Hegemonie gepanzert mit Zwang« (Buckel 2007).

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22.5 Im Schatten des Leninismus Dissidente Strömungen Etwa zeitgleich zu Gramsci kritisierte der Kommunist Georg Lukács (1885–1971) sowohl den Bernsteinschen Revisionismus der Sozialdemokratie, als auch die Lehren des Marxismus-Leninismus. Entscheidend ist dabei, dass er als einer der ersten Theoretiker den bis dahin im traditionellen Marxismus gepflegten Mythos von der Identität des Marxschen und Engelsschen Denkens in Frage stellte (Elbe 2010, 25). Lukács wurde als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Ungarn geboren. Er studierte zunächst in Budapest, dann in Berlin und Heidelberg Philosophie. Während des Ersten Weltkriegs kehrte er nach Budapest zurück und trat 1918 der kommunistischen Partei Ungarns bei, um in der kurzen Lebensdauer der ungarischen Räterepublik als Volkskommissar für Unterricht zu arbeiten. 1922 veröffentlichte er sein bekanntestes Werk Geschichte und Klassenbewusstsein. Darin bürstet er den Marxismus-Leninismus gegen den Strich, indem er das Verhältnis der Marxschen Kritik zur Dialektik bei Hegel rekonstruiert. Damit trug er maßgeblich zur Wiederentdeckung zweier wichtiger Elemente in den Marxschen Schriften bei: Zum einen betonte er gegen die von Engels geprägte historische Lesart des Kapital, dass es in dieser Schrift von Marx um die Anwendung »der dialektischen Methode« ginge (Lukács 1922/1967, 11). Zu dieser Methode gehöre, dass »die falschen Begriffe«, die Marx im Kapital einführt, im Verlauf der Darstellung »zur Aufhebung« gelangten (ebd.). Die einfache Wertform im Kapital ist laut Lukács demnach nicht als historische Epoche, sondern als logische Entwicklungsstufe in der Marxschen Darstellung zu deuten. Zum anderen verfolgt Lukács die Spuren der Marxschen Kritik der Entfremdung und Verdinglichung. So hebt er insbesondere das Fetischkapitel im Marxschen Kapital hervor, das bis dahin nur wenig Beachtung gefunden hatte (ebd., 94). In dem Zusammenhang betonte Lukács, dass »der fetischistische Charakter der Wirtschaftsformen, die Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen [...], die Phänomene« sowie ihre unmittelbaren Erscheinungsformen verstellen würden (ebd., 18 f.). Damit stellte er zentrale Annahmen des Leninismus offen in Frage. Dennoch bestimmte auch Lukács den »Klassenstandpunkt des Proletariats« im Sinne das traditionellen Marxismus noch als erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, »von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar« würde (ebd., 34).

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Die bislang in Deutschland kaum rezipierte Kommunistin Raya Dunayevskaya (1910–1987) weist mit ihren Überlegungen in vielerlei Hinsicht Parallelen zu den Schriften Lukács’ auf. Die als Raya Shpigel geborene Dunayevskaya wuchs als Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine auf. Nach ihrer frühen Emigration in die USA, trat sie mit 18 Jahren der Kommunistischen Partei der USA bei, aus der sie jedoch Anfang der 1930er Jahre geschasst wurde, weil sie den Ausschluss Trotzkis aus der KPdSU kritisierte. Trotzki hatte 1924 den parteiinternen Machtkampf gegen Stalin verloren (Service 2012, 396), woraufhin er ins Exil in die Türkei und dann über Frankreich nach Mexiko ging (ebd., 475, 527–535). Nach ihrem Parteiausschluss reiste Dunayevskaya 1937 nach Mexiko, wo sie mit Trotzki an der Verschriftlichung seiner Staatskapitalismusthese arbeitete (Makalani 2011, 224). Dabei kritisierte sie dessen Einschätzung, dass es sich bei der Sowjetunion um einen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat handelte, scharf. Denn Dunayevskaya zufolge sei die Oktoberrevolution keineswegs erfolgreich gewesen. Vielmehr sei die Bürokratie an die Stelle der Kapitalisten getreten (Dunayevskaya 1941/1992, 6). Sie vertrat gegen Trotzki die These, dass auch der Realsozialismus eine Form des Staatskapitalismus sei. Nach der Ermordung Trotzkis durch den russischen Geheimdienst im Jahr 1940 kehrte Dunayevskaya in die USA zurück. In diesem Zusammenhang nahmen ihre Überlegungen zur Verknüpfung von Feminismus und materialistischer Gesellschaftstheorie schärfere Konturen an und sie widmete sich einer intensiven Auseinandersetzung mit den Marxschen Frühschriften (Dunayevskaya 2002, 4). Dabei hob sie ähnlich wie Lukács das Hegelsche Erbe in den Schriften von Marx hervor und betonte die Theorie der Entfremdung und Verdinglichung in der Kritik der politischen Ökonomie (Dunayevskaya 2002, XX). Vor dem Hintergrund dieser Re-Lektüre legte Dunayevskaya in ihren Veröffentlichungen einen Entwurf für eine Gesellschaftstheorie vor, die wieder an den Zwiespalt in den Marxschen Schriften anknüpfte. In diesem Sinne vertrat sie eine Interpretation, die auch bemerkenswerte Parallelen zur Kritik des traditionellen Marxismus in der Formkritik und der Kritischen Theorie aufweist. Unabgegoltene Versprechen der Aufklärung Deutlich lassen sich diese Parallelen unter anderem an den rechtstheoretischen Schriften Franz L. Neumanns (1900–1954) nachvollziehen. Neumann wurde 1900

in Kattowitz als Sohn jüdischer Eltern in einen kleinbürgerlichen Haushalt geboren. Als Mitglied des Leipziger Arbeiter- und Soldatenrates nahm er aktiv an der Novemberrevolution teil, in dessen Folge er sich der SPD anschloss (Söllner 1978, 9). Neumann musste bereits 1933 nach einer kurzen Verhaftung vor weiterer Verfolgung durch die Nationalsozialisten fliehen und ging ins Exil (ebd., 10). Er migrierte zunächst nach London, wo er an seiner materialistischen Rechtstheorie The Governance of the Rule of Law arbeitete. Bereits 1923 hatte Neumann, ausgehend von seiner marxistisch inspirierten Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie, Ansätze einer dialektischen Theorie der Rechtsform entwickelt, wie sie zeitgleich auch etwa vom sowjetischen Rechtstheoretiker Jewgeni Paschukanis entworfen wurde. Etwa ab den 1940er Jahren löste Neumann sich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Leninismus und Stalinismus von den Paradigmen des traditionellen Marxismus. Er arbeitete in diesem Zusammenhang an einer politischen Theorie, die »der Dialektik von sozialer und politischer Demokratie« Rechnung tragen sollte (Söllner 1978, 23). Dies öffnete den Weg zu einer anspruchsvolleren Subjekttheorie, die ihn kurz vor seinem Tod im Jahr 1954 auch in die Nähe der Ideologiekritik im Sinne Kritischen Theorie rückte (Salzborn 2009, 11 f.). Grundzüge einer solchen psychoanalytisch vermittelten Ideologiekritik hatten Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) 1944, also zehn Jahre zuvor in ihrer Schrift Dialektik der Aufklärung entworfen. Dabei spielte auch in ihren Schriften der von Lukács rekonstruierte Zusammenhang von Verdinglichung und Entfremdung eine wichtige Rolle. Horkheimer wuchs in einem bürgerlichen Haushalt als Sohn jüdischer Eltern in der Nähe von Stuttgart auf und ging zum Studium der Philosophie nach Frankfurt am Main. Dort lernte er den acht Jahren jüngeren Adorno kennen, der ebenfalls als Sohn jüdischer Eltern, jedoch im großbürgerlichen Milieu Frankfurts, aufgewachsen war (Klein 2011, 1 f.). In ihren Arbeiten knüpften Horkheimer und Adorno zunächst noch an die dialektische Klassentheorie an, wie sie unter anderem von Lukács vertreten wurde. Doch die Machtübertragung an die Nationalsozialisten, die damit verbundene, staatlich geförderte Verschärfung des Antisemitismus und die ausbleibende Revolution, stellten den Determinismus und die Klassenfixierung des traditionellen Marxismus offen in Frage. Denn der Massencharakter des Autoritarismus erforderte neue theoretische Zugänge,

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deren Entwicklung sich Adorno und Horkheimer im Exil unter anderem in den 1936 veröffentlichten Studien über Autorität und Familie und den 1950 veröffentlichten Studien zum autoritären Charakter widmeten. Im Rahmen ihrer konkreten ökonomischen Analyse stützten sie sich im Wesentlichen auf das Theorem des Staatskapitalismus von Friedrich Pollock (1894– 1970), der ebenfalls im amerikanischen Exil am Institut für Sozialforschung arbeitete. Dieses Theorem war allerdings in großen Linien in der historischen Lesart des Kapital gefasst. So ging Pollock davon aus, dass der Kapitalismus sich über verschiedene Stadien entwickle. So sei es Pollock zufolge im »Staatskapitalismus gelungen« die liberal-kapitalistischen »Krisenfaktoren auszuschalten und die widerstrebenden Kräfte zu integrieren« (Lenhard 2016, 164). Vor diesem theoretischen Hintergrund entwickelten Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung eine Theorie der bürgerlichen Vergesellschaftung, wonach diese eine innere Tendenz zu Regression und autoritärer Transformation aufweist. (ebd., 173). In ihren Erörterungen zum »Rückfall von Aufklärung in Mythologie« spielen die Kategorien des Tauschs und des Warenfetischismus von Marx eine zentrale Rolle (Adorno/Horkheimer 1944/2004, 3 f.). Diese dienten ihnen als Grundlage für ihre Überlegungen zur »verwalteten Welt« und der »Kulturindustrie« (ebd., 159–167). Dabei lösten sich Adorno und Horkheimer in den 1940er Jahren mit Blick auf ihre politische Theorie sukzessive von der traditionell-marxistischen Fixierung auf den ›klassentheoretischen Rahmen‹ – ohne freilich ihre Analyse vom Kapitalismus als Klassengesellschaft preis zu geben. Stattdessen rückten sie, als Reflexion auf den Nationalsozialismus und die Shoa, »psychologische, ideologische und gesellschaftliche Aspekte in den Vordergrund« ihrer Überlegungen (Lenhard 2016, 68). Ihr begriffliches Instrumentarium stützte sich dabei im Wesentlichen auf eine Synthese ihrer von Hegel inspirierten Interpretation der Marxschen Theorie des Fetischismus und der Psychoanalyse Sigmund Freuds (Sassmannshausen 2016, 195 ff.). An zentraler Stelle stand dabei die theoretische Reflexion des Antisemitismus. So entwickelten sie in ihrem Werk Dialektik der Aufklärung, insbesondere in ihrem Kapitel »Elemente des Antisemitismus«, Grundzüge eines auf die psychoanalytischen Begriffe der Verdrängung und Projektion aufbauenden, Ideologiebegriffs (ebd.). Vor diesem Hintergrund legten Adorno und Horkheimer die Grundsteine für eine Vermittlung ihrer Gesellschaftstheorie des Subjekts mit der Marxschen Formtheorie, die bis Dato aus-

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einandergefallen waren und sie nun zu einer negativen Theorie der Gesellschaft führten.

22.6 Dialektik von Freiheit und Gleichheit Der auf den Niedergang des Frühsozialismus aufbauende unaufhaltsame Aufstieg des traditionellen Marxismus war das Resultat eines historisch einmaligen Bündnisses zwischen sozialistischen und kommunistischen Intellektuellen und einer emporsteigenden Arbeiter/innenbewegung im endenden 19. Jahrhundert. Im Sinne dieses Bündnisses vermochten es die Intellektuellen der Arbeiter/innenbewegung »konkrete und abstrakte Momente der Analyse und Interpretation« miteinander zu verknüpfen (Salzborn 2015, 14, Herv. i. Orig.). Doch nicht zuletzt bedingt durch die Kombination aus einer beginnenden politischen Krise des Marxismus in den 1950er und 1960er Jahren, dem Abebben der Arbeiter/innenbewegung als politischer Bewegung und den ökonomischen Umwälzungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, verlor dieses Bündnis an Substanz. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor schließlich der Marxismus-Leninismus auch seinen institutionellen Anker. Insofern markiert 1989 das Ende der propagandistischen Erfolgsgeschichte des – am Kollektivismus des Frühsozialismus orientierten – traditionellen Marxismus. Dieser hier vertretenen Deutung liegt die Systematisierung der sozialistischen und kommunistischen Ideen in traditioneller Marxismus, westlicher Marxismus und Kritik des traditionellen Marxismus in der Formkritik und der Kritischen Theorie zugrunde. Doch bei dieser ideengeschichtlichen Systematisierung handelt es sich um eine rückblickende Kategorisierung. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die dissidenten Strömungen nur durch ihre lebendige Auseinandersetzung mit ihrem theoretischen und praktischen Unbehagen am traditionellen Marxismus entstehen konnten. Dennoch bietet dieser Zugang zur Ideengeschichte des Sozialismus und Kommunismus die Möglichkeit den im Marxschen Werk angelegten Zwiespalt zu entschlüsseln. Dieser ließe sich zum einen als »Methodenstreit zwischen logischer und historischer Lesart« des Kapital deuten (Elbe 2010, 189 f.). Einerseits spiegelt sich dieser Streit im traditionellen Marxismus und in Teilen des westlichen Marxismus wider. Vertreter/innen dieser Strömung fokussierten ihre Analysen auf Fragen der politischen Praxis, die sie über die politische

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Theorie der Klassengesellschaft und des Klassenkampfs zu beantworten suchten. Auch darum wurde die Suche nach der richtigen Taktik in diesen – über lange Zeit hegemonialen sozialistischen und kommunistischen Strömungen – zum Dreh- und Angelpunkt politischer Debatten. Andererseits findet der Methodenstreit seinen Ausdruck in und durch die kritische Rekonstruktion der Hegelschen Dialektik in den Marxschen Schriften und der formanalytischen Abstraktion, wie sie in der Formkritik und der Kritischen Theorie vorgenommen wurde. Zum anderen ließe sich dieser Zwiespalt in den Marxschen Schriften und daraus abgeleitet auch in der Marxrezeption entlang der Dialektik von Freiheit und Gleichheit beschreiben. So bestand der historische Fortschritt der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert darin, die Ideen des Sozialismus und Kommunismus semantisch mit dem kollektiven Kampf um soziale Gleichheit zu verknüpfen. Doch die sozialistische und kommunistische Bewegung löste ihre Forderung nach der Aufhebung der sozialen Gleichheit zugunsten des Kollektivismus hin auf – zunächst theoretisch, dann auch praktisch im Stalinismus. Darin wurde die formale Freiheit als bürgerlicher Schein diffamiert; ihr wurde die sozialistische Freiheit als kollektivistische Freiheit gegenübergestellt. Die dissidenten sozialistischen und kommunistischen Theoretiker/innen hingegen, auch und gerade mit Blick auf ihre Kritik des Kollektivismus in der Sowjetunion, pochten auf den Begriff der individuellen Freiheit. Damit verwiesen sie auf das emanzipatorische Moment, das in der Dialektik von Freiheit und Gleichheit aufscheint. In diesem Sinne formulierte Adorno das Diktum, wonach sich der bessere Zustand nur als solchen denken ließe, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 1966/1984, 130 f.). In diesem Aphorismus richtete er sich einerseits gegen den sozialistischen Kollektivismus, der in der Tradition des Frühsozialismus steht. Dagegen verweist Adorno auf das Glücksversprechen einer auf Pluralität und Heterogenität gründenden Gesellschaft jenseits des kapitalistischen Tausch- und Identitätsprinzips. Zweitens aber wendet sich Adorno gegen die Halbwahrheit des bürgerlichen Glücksversprechens auf bloß abstrakter Freiheit und Gleichheit, das historisch-logisch mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln verknüpft ist. Es ist dieser von Adorno kritisierte immanent widersprüchliche Zusammenhang von »Freiheit, Gleichheit, Eigentum« (Marx 1867/1974, 189 f.),

der in der Ideengeschichte des Sozialismus und Kommunismus bis heute als Emanzipationsversprechen aufscheint. Literatur

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Felix Sassmannshausen

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III Denkströmungen – D Moderne

23 Anarchismus Der Anarchismus ist eine im Kontext der Arbeiter*innen-Bewegung des 19. Jahrhunderts entstandene politische Ideologie. Sie beruht auf der sozialrevolutionären Idee der Freiheit von allen Herrschaftsformen und jeder Hierarchie. Mit der daraus geborenen Feindschaft gegen den Kapitalismus und den Staat reagieren Anarchist/innen auf die sozialen Verwerfungen der Klassengesellschaft sowie die tiefgreifende Umwälzung jener Verhältnisse, die die industrielle Revolution verursacht hat. Nicht zuletzt wegen ihrer Verwurzelung im rationalistischen Denken der Aufklärung beabsichtigen Anarchist/innen außerdem die Befreiung des menschlichen Verstandes aus der Einhegung durch das Dogma der Religionen. Vor der Entstehung des modernen Anarchismus ist es möglich, eine autoritätskritische Sensibilität auszumachen, die bis ins antike China (z. B. Bao Jingyan, 405–466 v. u. Z.) und Griechenland (z. B. Diogenes von Sinope, ca. 410–323 v. u. Z.) sowie in den Frühhumanismus (z. B. Étienne de La Boétie, 1530–1563) zurückreicht. Diese Sensibilität bereitet den Anarchismus aber nur ideengeschichtlich vor. Sie ist keinesfalls mit ihm identisch, da dieser erst im Zuge der Französischen Revolution emporkommt und sich ab 1864 im Rahmen der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) zur libertären Strömung des Sozialismus formiert. Von Europa breitet sich der Anarchismus in die Amerikas sowie nach Asien und Afrika aus. Heute belebt der Anarchismus als politische Kultur die netzwerkartig organisierten sozialen Bewegungen des 21. Jahrhunderts in ihrem gemeinsamen Anliegen, eine gerechte Alternative zur kapitalistischen Globalisierung aufzubauen (vgl. Gordon 2010). Weder der ältere noch der jüngere Anarchismus geben ein starres Programm vor. Beide sind besser zu verstehen als eine Ansammlung politischer Ideen, die sich um eine ethische Überzeugung gruppieren, welche Rio Reiser in seinem 1972 geschriebenen Ton Steine Scherben-Song »Keine Macht für niemand« verewigt hat: »Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n«.

23.1 ›Anarchie‹, ›Anarchist‹ und ›Anarchis­ mus‹ in der Ideengeschichte Der begriffsgeschichtliche Wandel der Worte Anarchie und Anarchist erzählt wesentliche Aspekte der Vor- und Frühgeschichte des Anarchismus. Seitdem das altgriechische αναρχία (Zügellosigkeit, Herr-

schaftslosigkeit) und ᾰνᾰρχος (ohne Oberhaupt, führerlos) in der Mitte des 17. Jahrhunderts vermehrt in westeuropäische Sprachen eingeht, wird der Begriff Anarchie zum Synonym für Unruhe und Gesetzlosigkeit. In diesem Sinne schreibt der englische Poet John Milton in seinem epischen Gedicht Paradise Lost (1667) von »the waste Wide Anarchie of Chaos« (Book 10, Verse 280 ff.). Generell die Abwesenheit einer Regierung meinend, konstatiert John Locke in § 198 seiner Second Treatise of Government (1690): »the anarchy is much alike, to have no form of government at all«. Ein Jahrhundert später setzt Immanuel Kant die »Anarchie« ausdrücklich gleich mit »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt« (zit. nach Seyferth 2015, 10), ohne sie aber positiv zu bewerten. Denn die »Anarchie« zählt, neben »Despotism«, »Barbarei« und der »Republik«, zu jenen vier Verfassungsformen, die Kant einer mathematischen Gleichung ähnelnd aufstellt und von denen er eindeutig letztgenannte favorisiert, weil nur sie das Gesetz durch die Staatsgewalt forcieren könne. Aus heutiger Sicht kann solch negative Konnotation der Anarchie als Ausdruck einer tief sitzenden Vorurteilsstruktur gegenüber der Vorstellung des Zustandes der Menschheit ohne Herrschaft gewertet werden. Dieses Vorurteil hat sich über zwei enorm einflussreiche Denkfiguren in unsere Gegenwart vererbt. Niccolò Machiavelli kreierte die erste Denkfigur, nach der es ohne Gesetze keine Tugend und Tüchtigkeit (virtù) geben könne. Überließe man den Menschen selbst die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten, würden sie zur Faulheit und Korruption neigen. Um dem entgegenzuwirken, bedürfe es der Sinngebung und Führung durch eine starke Person, die das Beste in den Menschen zum Vorschein bringt und sie zum tugendhaften Leben erzieht. Die zweite Denkfigur geht auf Thomas Hobbes zurück. In dessen vom Englischen Bürgerkrieg (1642–1651) geprägter Vorstellungswelt ist alles gesellschaftliche Leben durch Dauerkonflikte gekennzeichnet, da die Menschen stets ihre egoistischen Interessen verfolgen würden. Wegen der daraus resultierenden permanenten Unsicherheit, wird dieser Zustand als unerträglich empfunden. Der einzige Ausweg bestehe darin, eine zentralisierte Gewalt zu erschaffen, die das Recht festlegt und durch das Mittel des physischen Zwangs verbindlich durchsetzt. Auf diesen zwei Denkfiguren beruhend, gerät das Wort Anarchist zum bis heute wirksamen Schmähbegriff. Schon zwanzig Jahre vor Miltons oben zitiertem Gedicht verfluchen etwa die Royalisten die Widersacher der Monarchie in dieser Weise. Aber auch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_23

23 Anarchismus

ein Anhänger Oliver Cromwells verunglimpft zur gleichen Zeit die frühdemokratische Reformbewegung der Levellers als »Switzerizing anarchists« wegen ihrer Forderung nach politischer Teilhabe und religiöser Toleranz. Eine ironische Fußnote besteht darin, dass damals schon kleinere Gruppen protestantischer Radikaler existierten, die von der heutigen Geschichtsschreibung zu den Vorläufern des Anarchismus gezählt werden (Woodcock 1983, 41–46). Während z. B. die Ranters die Freie Liebe praktizierten und sich gegen Privateigentum aussprachen, setzten die Diggers ihren urchristlichen Kommunismus in die Tat um. Sie bauten in St. George’s Hill, Surrey, Agrarkommunen auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums auf, verweigerten jeder weltlichen Herrschaft die Loyalität und folgten der Überzeugung von Gerrard Winstanley (1609–1676), wonach »everyone that gets an authority into his hands tyrannizes over others« (zit. nach Marshall 2010, 99). Winstanleys Auslegung des Neuen Testaments, niedergeschrieben in seinem Pamphlet The New Law of Righteousness aus dem Jahr 1649, nach der die Lehre Jesu vernunftgleich in und durch alle Menschen wirkt, ohne von kirchlichen Autoritäten abhängig zu sein, nimmt Leo Tol­ stois später berühmt gewordene Gewaltkritik aus Das Reich Gottes ist inwendig in euch (1894) vorweg. Tolstoi seinerseits bemerkte würdigend, »[d]ie Anarchisten haben in allem Recht«, lehnte aber gewalttätige Revolutionskonzepte seiner Zeitgenoss/innen als »groben Irrtum« vehement ab (Tolstoi 1907, 631). Zur Zeit der Französischen Revolution wandelt sich nicht nur die Bedeutung der Worte Anarchie und Anarchist allmählich. Gleichsam entsteht hier der Anarchismus avant la lettre als radikale Antwort auf die Frage »What went wrong?«, wie Colin Ward (2004, 1) treffend bemerkt hat. Denn statt ihre Versprechen auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität einzulösen, mündete die Revolution in der Terrorherrschaft der Jakobiner, der Etablierung einer neuen Elite sowie der Krönung von Napoleon Bonaparte. Zum ersten Mal in der modernen Ideengeschichte bildet sich daraufhin der anarchistische Grundgedanke, der besagt, dass jede Art hierarchischer Machtausübung eine verführerische Eigendynamik entfaltet, die ihre Träger/innen korrumpiert und mit einem Überlegenheitsgefühl blendet. »That is what also explains why and how the most extreme of democrats, the most raging rebels, become the most cautious of conservatives as soon as they attain power« (zit. nach Graham 2005, 88), schrieb Michail Bakunin (1814–1876), ein zentraler Autor des Anarchismus. Bakunin argumentierte da-

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mit gegen die in sozialistischen Kreisen weitverbreitete Hoffnung auf das Wahlrecht und der damit verbundenen Absicht, den Sozialismus über das parlamentarische Repräsentationssystem einzuführen. Jeder Staat, möge er auch noch so revolutionär sein, wird deshalb nach anarchistischer Auffassung zum Erhalt der Privilegien des Regierungspersonals stets alle bekannten Gewaltmittel einsetzen, zuvörderst Geheimdienste, Polizei und Militär. Vertreten wird dieser Grundgedanke bereits durch die Enragés, einer eher losen Gruppe Revolutionäre um Jacques Roux (1752–1794) und Jean Varlet (1764– 1834). Sie forderten ein direktdemokratisches System aus Bezirksversammlungen und kritisierten die Terrorherrschaft der Jakobiner sowie deren Unfähigkeit, die sozialen Probleme der Massen zu lösen. Aus dem Gefängnis heraus veröffentlichte Varlet im Oktober 1794 ein Pamphlet, in dem er die revolutionäre Regierung als »social monstrosity« und »a masterpiece of Machiavellianism« verurteilt und schließlich erklärt, das Prinzip der Regierung und das Prinzip der Revolution seien grundsätzlich »incompatible«, weil die Privilegien der Regierenden stets den Bedürfnissen der Regierten zuwiderlaufen würden (zit. nach Graham 2005, 24). Zwar haben sich die Enragés keineswegs als Anarchisten bezeichnet, was jedoch den führenden Girondisten Jacques Pierre Brissot (1754– 1793) nicht davon abhielt, sie als solche zu diffamieren (vgl. Woodcock 1983, 8). Trotz ihrer Kritik am diktatorischen Vorgehen der Revolutionsregierung, ignorierten die Enragés das Problem der Gewalt. Erst der englische Philosoph William Godwin (1756–1836) leistete die notwendige Kritik. Godwins bekanntestes Werk Enquiry Concerning Political Justice (1793) steht am Anfang der anarchistischen Ideengeschichte. Es ist, ähnlich wie Thomas Paines Rights of Man (1791) und Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France (1790), zwar auch eine Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich, jedoch eine, die sich nicht an der Diskussion aktueller Tagespolitik beteiligt, sondern den Versuch unternimmt, an universalistischen Prinzipien radikaler Aufklärung festzuhalten. Für Godwin, noch in der Tradition des Utilitarismus stehend, besteht das Ziel der Gerechtigkeit darin, der größtmöglichen Anzahl an Menschen ihr Glück zu ermöglichen und zwar durch die Vollentwicklung von Vernunft und politischer Urteilskraft des Individuums (vgl. Marshall 2010, 191–219). Nicht nur, doch gerade in hitzigen Revolutionszeiten, lehnt Godwin jede Form des Zwanges und der Gewalt über den Einzelnen ab, weil

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III Denkströmungen – D Moderne

das daraus abgeleitete Prinzip von Befehl und Gehorsam, von Angst und Ressentiment, jede wahrhafte politische Auseinandersetzung unterbinde. Nur graduell und nicht per Dekret könne sich gesellschaftlicher Fortschritt einstellen. Nach Godwin würden schließlich alle Irrationalitäten der Gegenwart, vorrangig die Regierung, das positive Recht, das Straf- und Gefängnissystem, die Religion, das Eigentum, der Patriotismus, die Ehe etc., nach vernunftgeleiteter Prüfung des eigenen Gewissens aufgelöst werden. Unter dem Gesichtspunkt des semantischen Wandels ist Godwins folgende Relativierung des Begriffes Anarchie wichtig: »Sie ist zweifellos ein schreckliches Unheil, aber sie ist weniger schrecklich als Despotismus. Wo die Anarchie hunderte erschlagen hat, hat der Despotismus Millionen über Millionen geopfert, mit dem einzigen Ergebnis, dass die Unwissenheit, die Schlechtigkeiten und das Elend der Menschen verewigt wurden« (Godwin 2004, 501). Diese Äußerung ist umso interessanter, als dass Percy Bysshe Shelley (1792–1822), ein Bewunderer Godwins und junger Dichter der Romantik, sich an dem Bedeutungswandel beteiligen sollte. Shelley hatte 1816 Godwins Tochter geheiratet. Mary Shelley (1797–1851), später selbst erfolgreiche Schriftstellerin (Frankenstein, 1818), war das gemeinsame Kind von William Godwin und Mary Wollstonecraft (1759–1797), der Autorin von A Vindication of the Rights of Woman (1792). Das von einer Kavallerieeinheit im englischen Manchester zu verantwortende Peterloo-Massaker im August 1819 hatte Shelley noch im gleichen Jahr zur Niederschrift von The Masque of Anarchy (1832 posthum veröffentlicht) bewegt. Obgleich »Anarchy« weiterhin negativ konnotiert ist, personifiziert sie in diesem Gedicht plötzlich jenes typische Angriffsziel zukünftiger Anarchist/innen: Last came Anarchy; he rode On a white horse, splashed with blood; He was pale even to the lips, Like Death in the Apocalypse. And he wore a kingly crown; And in his grasp a sceptre shone; On his brow this mark I saw – »I am God, and King, and Law!«

Die Umkehrung der bisherigen Bedeutungslogik steigert Shelley noch dadurch, dass er »Anarchy« die titelgebende Maske aufsetzt, hinter der sich ebenjene Autoritäten verbergen, deren Existenz und eben nicht

deren Abwesenheit zum blutigen Chaos führt. Die letzten neun Verse des Gedichts rufen die Menschen dazu auf, allein durch den moralischen Druck konzertierter Aktionen der Brutalität der Angreifer entgegenzutreten, diese öffentlich zu beschämen und damit die Unterdrückung zu beenden. Rise like Lions after slumber In unvanquishable number – Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you – Ye are many – they are few.

Shelley antizipiert damit spätere Ansätze des gewaltfreien Widerstandes von Henry David Thoreau (1817–1862) bis zu Mohandas K. Gandhi (1869– 1948). Letzterer erwog, nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner Korrespondenz mit dem holländischen Anarcho-Pazifisten Bart de Ligt (1883–1938), explizit das Modell einer »aufgeklärten Anarchie« (zit. nach Bartolf 1998, 85), worunter Gandhi eine basisdemokratische Republik föderalisierter Gemeinden verstand, welche politische Macht in Form des Repräsentationsprinzips weitestgehend abgebaut haben. Die erstmalig positive Selbstetikettierung ›Anarchist‹ unternimmt Pierre-Joseph Proudhon (1809– 1865) in seinem Werk Qu’est ce que la propriété? (1840). Einem Ratespiel gleichend versucht ein junger Leser, Proudhons Auffassung zur wünschenswerten Staatsform der Zukunft herauszufinden. An der entsprechenden Stelle heißt es: »Sie sind doch Republikaner« – Republikaner, ja, aber das Wort sagt nichts genaues. Res publica ist die öffentliche Sache. Wer nun also für die öffentliche Sache ist, unter welcher Regierungsform auch immer, kann sich Republikaner nennen. Auch die Könige sind Republikaner. – »Also gut! Sie sind Demokrat!« – Nein. – »Nicht? Also müssen sie Monarchist sein!« – Nein. – »Konstitutionalist?« – Gott bewahre. – »Sie wollen eine gemischte Regierungsform?« – Noch weniger. – »Was sind sie denn also?« – Ich bin Anarchist. – »Ich verstehe. Sie spotten, dies ist an die Regierung gerichtet.« – Überhaupt nicht. Sie haben soeben ein ehrliches und reiflich überlegtes Glaubensbekenntnis gehört. Obwohl ich ein Freund der Ordnung bin, bin ich – im wahrsten Sinne des Wortes – Anarchist. (Proudhon 2014, 307)

Um das Spiel mit diesem Terminus zu verstehen, hätte der nun vollends verwirrte fiktive Leser vermutlich

23 Anarchismus

Proudhons Buch in Gänze lesen müssen. Von diesem zeigten sich Karl Marx und Friedrich Engels zunächst als »der ersten entschiednen [sic], rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung« (Engels/Marx 1962, 33) des Privateigentums beeindruckt, bevor sie selbst eine eigene Ökonomiekritik entwickeln würden, u. a. durch die gegen Proudhon in Marxens Das Elend der Philosophie (1847) niedergeschriebene Verteidigung der materialistischen Geschichtsauffassung. Marx arbeitete sich buchstäblich nicht nur an Proudhon ab, sondern richtete den Großteil seiner Deutschen Ideologie (1845/46) gegen Max Stirner (1806–1856). Stirner – von Engels (1962, 271) im Jahr 1886 als »Prophet des heutigen Anarchismus« verachtet – war ein Junghegelianer aus dem Berliner Philosophiezirkel Die Freien, an deren Diskussionen auch Marx und Engels teilnahmen. Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844) wurde ab 1890 tatsächlich von einigen sozialistischen Anarchist/innen wie Robert Reitzel (1849–1898), Herbert Read (1893– 1968) oder Emma Goldman (1869–1940) wegen der darin vorgetragenen Attacken auf das Christentum positiv rezipiert, doch gerade die anti-solidarischen Tendenzen Stirners stießen im anarchistischen Spektrum auf Ablehnung, z. B. bei Gustav Landauer (1870–1919). Heute erfahren Stirners Ideen eine Renaissance im Postanarchismus (vgl. Rousselle/Evren 2011). Seinen Haupteinfluss aber entfaltete der philosophische Egoismus des Einzigen bei Personen aus der individualistischen Strömung, darunter John Henry Mackay (1864– 1933), Benjamin R. Tucker (1854–1939), Voltairine de Cleyre (1866–1912) und Dora Marsden (1882–1960). Sie alle faszinierte Stirners radikaler Anspruch auf die maximale Autonomie des Individuums von externen und internen Autoritäten, egal ob diese als weltliche Institutionen (Staat, Kirche) oder als metaphysische Ideen (Moral, Gott) auftreten. Den Atheismus eines Ludwig Feuerbach noch übertreffend erklärt Stirner, dass an die Stelle Gottes lediglich die abstrakte und ultimativ normierende Idee von dem Menschen an sich getreten sei. Erst wenn solch essenzialistische Vorstellungen entsorgt würden, könnte sich das moderne Individuum endlich befreien. In dieser Manier attackiert Stirner auch Proudhon, denn dieser und »die Kommunisten, kämpfen gegen den Egoismus. Darum sind sie Fortsetzungen und Konsequenzen des christlichen Prinzips, des Prinzips der Liebe, der Aufopferung für ein Allgemeines, ein Fremdes« (Stirner 2011, 277). Jedoch besteht die anfängliche Einigkeit zwischen Marx und Proudhon allein in ihrem Protest gegen die bürgerliche Vergötzung des Privateigentums, welches

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dem systematischen »Diebstahl« (Proudhon 2014, 22) gleichkomme. Der größte Anteil des durch Arbeit generierten Mehrwerts würde stets den Arbeitenden vorenthalten. Da diese Ausgebeuteten zudem keine andere Wahl hätten, als ihre Arbeitskraft zum Überleben zu verkaufen, führe das Eigentumsprinzip zu autoritären Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft. Diese soziale Unordnung werde unter dem Schutz des Staates, dem »Räuberhauptmann« (Proudhon 2014, 60), aufrechterhalten, weshalb er abgeschafft gehöre. Konsequenterweise richtete Proudhon nach seiner Beteiligung an der Revolution im Jahr 1848 und seiner dreijährigen Inhaftierung wegen Majestätsbeleidigung, eine auf Staat, Kapital und Kirche abzielende Losung: »NO MORE AUTHORITY!« (zit. nach Graham 2005, 57). Den Staat ersetzen sollten selbstverwaltete, demokratische Kooperativen in allen Bereichen der Land- und Industriewirtschaft, die auf einem freien Markt ihre produzierten Waren tauschen. Proudhons eigenwilliger Antikapitalismus, der u. a. auf frühsozialistischen Gedanken von Charles Fourier und Robert Owen fußt und später auf Moses Hess und Wilhelm Weitling wirkt, sieht außerdem die Etablierung von Fonds und Assoziationen zur gegenseitigen Unterstützung der Lohnabhängigen (Mutualismus) vor. Während sich Proudhon in den 1860ern von seinem früheren Anti-Etatismus entfernt, nachzulesen in Du principe Fédératif (1863) und De la capacité politique des classes ouvrières (1865), beeinflussen vor allem seine Warnungen vor jeglicher Zentralisierung politischer Macht und seine Befürwortung eines freiwilligen und auf Vertragsbasis ruhenden Föderalismus die spätere anarchistische Ideengeschichte. Bis heute sind Proudhons Vorschläge über einen freien konkurrenzbasierten Markt sowie zur Reform des Banken- und Kreditsystems umstritten. Proudhons patriarchales und sexistisches Weltbild steht zudem der universalistischen Emanzipationsidee entgegen und wurde bereits von Zeitgenoss/innen wie Joseph Déjacque (1821–1864) und der Feministin André Leo (1824–1900) verurteilt (vgl. Graham 2005, 68–71; Schrupp 2016). In jüngster Zeit werden verstärkt auch Proudhons antisemitische Ressentiments problematisiert (vgl. Wolf/Mümken 2013). Nichtsdestotrotz bleibt Proudhon eine wichtige Bezugsfigur für jenen antiautoritären Flügel der sozialistischen Bewegung, der während des Konflikthöhepunkts innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation im Jahr 1872, zunächst zögerlich, dann selbstbewusst die Bezeichnung »anarchistisch« für sich akzeptiert (vgl. Eckhardt 2016, 374–377).

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III Denkströmungen – D Moderne

Bis heute überwiegt die negative Bedeutung des Begriffs ›Anarchie‹. Sie ist zu beobachten u. a. in Reportagen aus Kriegsgebieten, aus denen berichtet wird, dort herrschten (!) Anarchie und Chaos. Auch der politikwissenschaftliche Gebrauch des Terminus in den Internationalen Beziehungen verweist auf die Gewaltproblematik, z. B. wenn das Fehlen eines globalen Souveräns beklagt wird, der auf intra- und interstaatlicher Ebene ein verbindliches Regelwerk durchsetzen soll. Hingegen befasst sich die politische Ideengeschichte mit einem utopischen Verständnis der Anarchie als Zielvorstellung des Anarchismus. Unter Verweis auf ein Bonmot des Historikers George D. H. Cole hat Ruth Kinna angemerkt, dass die etymologische Herangehensweise den meisten Darstellungen voransteht, weil sie die Schwierigkeit erklären hilft, welche Anarchist/innen haben, ihre Positionen öffentlich vorzutragen: »the Anarchists [...] were anarchists because they did not believe in an anarchical world« (zit. nach Kinna 2009, 6).

23.2 Die Anarchismusforschung und ihr (unsicherer) Gegenstand Zwar gibt es in der Forschung keinen Konsens über eine einheitliche Definition des Anarchismus, wohl aber darüber, dass diese politische Ideologie notorisch schwierig zu definieren ist, schwerer noch als andere (vgl. Loick 2017; Miller 1984). Eine der Hauptursachen für diese Schwierigkeit liegt darin begründet, was die Synthesen-Hypothese genannt werden kann. Sie bezeichnet die sowohl von Aktivist/innen wie Rudolf Rocker (2004, 11), Colin Ward (2004, 1) oder Cindy Milstein (2010, 13) ausgesprochene, als auch in der Forschung (Marshall 2010, 639; Kinna 2009, 41–47) aufgegriffene Annahme, dass der Anarchismus das Ideal der Freiheit mit dem Ideal der Gleichheit verquickt. Insofern hebt er ideologische Elemente des Liberalismus und des Sozialismus in einer neuen Konstellation auf. Aus der je unterschiedlichen Betonung dieser Elemente sowie aus der Konfrontation immer neuer zeitgenössischer Herausforderungen haben sich inzwischen eine große Anzahl an Strömungen des Anarchismus herausgebildet, die in der Regel durch folgende Adjektive angezeigt werden: philosophisch, individualistisch, mutualistisch, kollektivistisch, kommunistisch, syndikalistisch, plattformistisch, religiös, feministisch, pazifistisch, ökologisch, queer, primitivistisch, postmodern etc. Wegen der enorm heterogenen Erscheinungsfor-

men des Anarchismus ist es sinnvoll, stets von Anarchismen auszugehen. Definitorisch bemerkenswert ist, dass sich die Strömungen bezüglich ihrer philosophischen Prämissen, ihrer ökonomischen Ansätze und Revolutionsvorstellungen sowie ihres Verhältnisses zum Recht derart stark voneinander unterscheiden, dass ihr Minimalkonsens allein in der prinzipiellen Negation des Staats besteht. Dieser Befund geht zurück auf Paul Eltzbachers einflussreiche Studie Der Anarchismus (1900) und wird bestätigt durch die neuere Forschung (Kinna 2009, 3–53). Dennoch ist die Debatte um die Möglichkeit, den Anarchismus durch eine vereinheitlichende Idee zu definieren, nicht beendet. Selbst ein naheliegendes Merkmal wie »skepticism towards authority« (McLaughlin 2007, 29) ist schwerlich exklusiv anarchistisch. Zur daraus ableitbaren Staatsfeindschaft kehren alle diese Vorschläge zurück. Jede Beschränkung auf dieses Minimalkriterium manövriert sich in eine paradoxe Situation, die als Reduktionismus-Problem bezeichnet werden kann. Erstens müssten einander diametral entgegengesetzte Akteure wie die kommunitäre Anarchistin Emma Goldman und der selbsternannte »Anarcho-Kapitalist« Murray Rothbard (1926–1995) damit zur gleichen Ideologiefamilie gezählt werden. Zweitens legen selbst urmarxistische Dokumente wie das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) oder Lenins Staat und Revolution (1917) das Ziel einer staatsfreien Gesellschaft fest. Diese Fälle belegen die analytische Unschärfe des anti-etatistischen Minimalkriteriums zur Bestimmung des Anarchismus. Jüngst begegnen Anarchismusforscher/innen diesem Problem auf unterschiedliche Weise. Ein kontroverserer Lösungsvorschlag, der sich explizit gegen Eltzbacher richtet, ohne aber dessen Differenziertheit zu erreichen, besteht in dem historisierenden Versuch, den Anarchismus auf dessen klassenkämpferisch-syndikalistischen Exponent/innen einzuengen und andere Strömungen wie Godwins Utilitarismus, Stirners Egoismus oder auch den Tolstoianismus vom anarchistischen Kanon auszuschließen (vgl. van der Walt/Schmidt 2013). Vielversprechender, wenngleich noch am Anfang stehend, erscheint der Ansatz, sich an der strukturalistischen Methode nach Michael Freeden (Ideologies and Political Theory: A Conceptual Approach, 1998) zu orientieren. Dabei wird anarchistisches Schriftgut im weitesten Sinne, z. B. Flugblätter, Pamphlete, Monografien und vor allem Zeitschriften aus der Bewegung, mit dem Ziel ausgewertet, repräsentative Kern-, Nachbar- und Peripheriekonzepte zu

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identifizieren, welche über einen langen Zeitraum relativ stabil nachzuweisen sind, ohne dabei die ideengeschichtliche Dynamik des Anarchismus zu verfälschen. Benjamin Franks (2013) hat darauf hingewiesen, dass individualistische und soziale Anarchismen zwar beide den Anti-Etatismus beherbergen, dieser jedoch durch eine völlig andere Haltung zum Eigentum modifiziert wird, weshalb diese Strömungen jeweils der liberalen bzw. sozialistischen Ideologiefamilie zuzuordnen wären. Nicht zuletzt in Bezug auf die Abgrenzung zum Marxismus übersieht Franks’ korrekte Beobachtung allerdings, dass es sich strenggenommen beim Anti-Etatismus und Anti-Kapitalismus lediglich um Prinzipien handelt, die aus echten politischen Konzepten wie Freiheit, Gerechtigkeit etc. abgeleitet werden. Insofern gehören zu den weiterhin von der Forschung zu untersuchende Fragen: Gibt es einen genuin anarchistischen Freiheitsbegriff? Welche de­ mokratietheoretischen Prämissen liegen dem Anarchismus zugrunde und welche Probleme, vor allem in Bezug auf repräsentationskritische Vorstellungen, ergeben sich daraus? Wie präzise lässt sich der Anarchismus von anderen politischen Theorien abgrenzen? Ansätze in diese Richtung, die auch sozialgeschichtlich vorgehen, harren noch der Vertiefung, was jedoch bisher ernsthaft allein in englischsprachigen Publikationen versucht wird (vgl. Jun 2017). Eine seit Eltzbacher kaum bearbeitete, doch besonders drängende Frage liegt in dem Verhältnis von Recht und Anarchismus, z. B. in Bezug auf den Schutz von Minderheiten oder in der Durchsetzung von Menschenrechten, zu denen auch soziale Rechte zählen. Selbst die anarchistische Forderung nach einer Vergemeinschaftung der Produktionsmittel entbehrt einer konkreten Vorstellung davon, wie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums allgemeinverbindliche Geltung erlangen würde und greift deshalb ähnlich kurz wie die unverbindliche Empfehlung des Grundgesetzes aus Artikel 14, Abs. 2: »Eigentum verpflichtet«.

23.3 Drei Merkmale anarchistischer Theorien Der Anarchismus wird üblicherweise folgendermaßen systematisiert. Erstens, die Extrahierung von Kernbegriffen aus den Schriften kanonisierter ›Klassiker‹ oder zweitens, aus dem Vergleich unterschiedlicher Strömungen. Drittens, die historiographische Erforschung der anarchistischen Ideen- und Bewegungsgeschichte (vgl. Kinna 2009, 12–48). Während

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das rein theoretische Vorgehen, welches sich alleine auf repräsentative Ideen des Anarchismus (Freiheit, Herrschaftslosigkeit etc.) beschränkt, dazu tendiert, unhistorisch vorzugehen und diese Ideen als ewiggültige zu behandeln, gleicht das rein historische Vorgehen hingegen rasch einer teleologischen Erzählung. Da die vorliegende kursorische Darstellung nicht der Ort sein kann, um definitive Kernbegriffe festzulegen und sie außerdem beabsichtigt, ebengenannte Probleme zu umgehen, zieht sie sich auf den formalen Rahmen aller anarchistischen Theorien und deren drei idealtypische Merkmale zurück. Anarchismen zeichnen sich im Allgemeinen aus durch: 1. ein positives Ideal: Die Anarchie bezeichnet eine dezentralisierte, föderal strukturierte und auf Kooperation sowie direkter Demokratie basierende Gesellschaft, die sich durch universale Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auszeichnet. In einer solchen Gesellschaft sollen alle Menschen ihr volles Potenzial entfalten können. Zwar vermeiden Anarchist/innen bewusst eine allzu präzise Ausformulierung einer zukünftigen Gesellschaftsordnung, doch allein die ebengenannten Attribute verleihen der Idee der Anarchie zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt eine positive Bedeutung. 2. einen herrschaftskritischen Diskurs: In Abgrenzung zur jeweils bestehenden Ordnung opponieren Anarchist/innen gegen Ausbeutung, Hierarchie und Herrschaft in ihren variablen Erscheinungen – ökonomisch, politisch, sozial, religiös, kulturell etc. Sie beziehen eine skeptische Position, die von allen institutionellen und personalen Autoritäten verlangt, deren eigene Existenzberechtigung nachzuweisen. Prinzipiell wird dies nicht gelingen, vermuten die Anarchist/innen, doch ihnen deshalb eine naive Ablehnung jeglicher Autoritätsoder Zwangsformen zu unterstellen wäre ein Fehler. Gewisse rational begründbare Fälle können davon ausgenommen sein, z. B. elterliches Eingreifen bei selbstgefährdendem Verhalten von Kindern. Ebenso verhält es sich mit der fachlichen Expertise einer Ingenieurin oder eines Handwerkers wie Bakunin (1919, 35) in einer häufig zitierten Passage aus seinem 1871 verfassten Werk Gott und der Staat klarstellt. 3. die Mittel zur Erreichung der Anarchie: Anarchistische Theorie und Praxis zeugt von vielfältigen Organisationsformen und Strategien für den sozialen Wandel. Während z. B. syndikalistische Anarchist/innen sich in Gewerkschaften organi-

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sieren und Streiks, Boykotte und Sabotageaktionen zur unmittelbaren Verbesserung der Lebensum­ stände befürworten, ziehen kommunitäre Anarchist/innen die Gründung kleinerer Bezugsgruppen (affinity groups) vor, welche zur Keimzelle ihrer Politik werden. Allen gemeinsam ist ihnen die Beteiligung an direkten anstelle von repräsentativen Politikformen, also solchen, die möglichst basis- oder rätedemokratisch und nach dem Konsensprinzip funktionieren. Neben strikt gewaltfreien Aktionsformen, heute in Deutschland durch die Zeitschrift graswurzelrevolution popularisiert, stehen militante Aufstände (Insurrektionalismus) glorifizierende Aktivisten, zumeist Männer wie Alfredo M. Bonanno (* 1937). Letztere Strömung wurzelt einerseits im ›Illegalismus‹, ausgelebt z. B. durch die Banditenbande um Jules Bonnot (1876– 1912), andererseits in dem mehrdeutigen Schlagwort der ›Propaganda der Tat‹ (vgl. Kellermann 2016). Ursprünglich die Verbreitung anarchistischer Ideen durch Praxisexperimente und Pamphlete bezeichnend, fallen darunter gemeinhin die seit den 1870ern über mehrere Dekaden weltweit verübten Morde an Staatsoberhäuptern und Justizrepräsentanten. Ihr eigentliches Ziel, nämlich die Bevölkerung zum revolutionären Handeln zu bewegen, verfehlten diese Attentate vollends und resultierten in der Kriminalisierung und Desavouierung des Anarchismus. Solche Gewalttaten waren schon damals umstritten und wurden aus strategischen und ethischen Beweggründen abgelehnt, z. B. durch die französische Anarchistin Rirette Maîtrejean (1887–1968). Obgleich der moderne Anarchismus keineswegs per se gewaltfrei ist, verfügt er doch über einen immanent gewaltkritischen Impetus, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt und heute unter dem modischen Begriff ›präfigurative Politik‹ firmiert. Diese pocht auf die Notwendigkeit, dass die gewählten Mittel mit den zu erreichenden Zielen übereinstimmen. Gerichtet vor allem an die marxistischen Rivalen, haben Anarchist/innen seit jeher den Widerspruch entlarvt, über autoritäre Organisationsformen (›Diktatur des Proletari­ ats‹) zu einer freiheitlichen Gesellschaft gelangen zu wollen. Dem entgegen setzt anarchistische Politik auf die bis heute geltende und 1905 in der Präambel der Industrial Workers of the World (IWW) festgehaltene Absicht, »die Strukturen der neuen Gesellschaft in der Schale der alten« aufzubauen.

Im pazifistischen Anarchismus geht diese Betonung der Zweck-Mittel-Konsistenz vor allem auf Tolstois Wiederentdeckung des subversiven Essays Discours de la servitude volontaire, verfasst um 1549 von Étienne La Boétie, zurück. Der im Discours enthaltene Gedanke, wonach Menschen jede Herrschaft, auch eine tyrannische, selbst beenden können, indem sie ihre eigene Vor- und Anteilnahme daran entziehen, gehört zur Voraussetzung von Aktionen wie dem zivilen Ungehorsam und der Kriegsdienstverweigerung. La Boéties Erbe vor dem Vergessen bewahrt zu haben, ist Gustav Landauer zu verdanken. »Dieser Essay«, heißt es in seiner wegweisenden Schrift Die Revolution (1907), »verkündigt, was in andern Sprachen später Godwin und Stirner und Proudhon und Bakunin und Tolstoj sagen werden: In euch sitzt es, es ist nicht draußen; ihr selbst seid es; die Menschen sollten nicht durch Herrschaft gebunden sein, sondern als Brüder verbunden. Ohne Herrschaft; An-archie« (Landauer 2017, 109). Ob gesellschaftliche Transformation allmählich und durch Bildung, mit einem Schlag und durch Propaganda, durch Reform oder Revolution erfolgen soll, hängt von der Strömungszugehörigkeit und dem jeweiligen Kontext ab. »Methods must grow out of the economic needs of each place and clime, and of the intellectual and temperamental requirements of the individual. The serene, calm character of a Tolstoy will wish different methods for social reconstruction than the intense, overflowing personality of a Michael Bakunin or a Peter Kropotkin. [...] Anarchism does not stand for military drill and uniformity; it does, however, stand for the spirit of revolt«, betont Emma Goldman (1983, 74). Unabhängig von den gewählten Mitteln, sind anarchistische Vorstellungen vom sozialen Wandel generell voluntaristisch, d. h. im Gegensatz zu marxistischen Revolutionstheorien muss nicht erst eine bestimmte Entwicklungsstufe abgewartet werden, bevor mit der Umstrukturierung der Gesellschaft begonnen werden kann.

23.4 Von der Internationalen Arbeiter­ assoziation bis zu Occupy Wall Street Aus einer globalen Perspektive betrachtet und gemäß der Einschätzung des renommierten Nationalismusforschers Benedict Anderson, verkörpert der Anarchismus »the dominant element in the self-conscious-

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ly internationalist radical Left« (2005, 2) in der Zeit seit der Gründung der IAA im September 1864 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Französische Mutualisten und britische Gewerkschafter hatten die IAA als Forum zur weltweiten Interessensvertretung der Arbeiter/innen ins Leben gerufen. Erwartungsgemäß entbrannten auf den folgenden Kongressen heftige Richtungskämpfe der verschieden sozialistischen Strömungen. Bei aller ideologischen Heterogenität der einzelnen Ländersektionen polarisierte besonders der Konflikt zwischen dem föderalistischen und dem zentralistischen Flügel. Ersterer wurde anfänglich repräsentiert durch Anhänger Proudhons, der zweite durch jene von Louis-Auguste Blanqui, dann, ab 1868 personalisiert durch Bakunin und Marx, geführt abermals durch deren jeweilige Anhänger. In diesen Auseinandersetzungen entstehen die strategischen und theoretischen Differenzen, die den Anarchismus fortan als Ideologie konturieren und zum »feindlichen Bruder« (vgl. Kellermann 2011) des Marxismus werden lassen. Auf theoretischer Ebene wenden sich Anarchist/innen gegen das deterministische Dogma des Historischen Materialismus und akzeptieren weder das teleologische Stufenmodell der Geschichte noch den daraus abgeleiteten Klassenbegriff, den sie als elitär und ökonomistisch abqualifizieren. Zwar bezweifeln die Anarchist/innen keineswegs den massiven Einfluss ökonomischer Faktoren auf den Lauf der Geschichte, doch, um die Menschen nicht ihrer realen Handlungsfähigkeit zu berauben, betonen sie weitere gewichtige Sphären wie Religion, Recht, Bürokratie, Kultur und nicht zuletzt Politik. Im Unterschied zum marxistischen geht der anarchistische Klassenbegriff über den rein ökonomischen Widerstreit zwischen den jeweiligen Produktionskräften und -verhältnissen hinaus. Der anarchistische Blick auf die Kategorie ›Klasse‹ bezieht auch andere, autonom wirkende Unterdrückungsquellen, z. B. personellen, administrativen und kulturellen Zwang, mit ein. Zudem berücksichtigen anarchistische Revolutionskonzepte auch einfache Arbeiter/innen, Bauern und Bäuerinnen und generell alle Nichtprivilegierten als potentiell für den gesellschaftlichen Wandel zu gewinnende Menschen, nicht nur das vom orthodoxen Marxismus gepriesene Industrieproletariat. Auf strategischer Ebene lehnen die Anarchist/innen den Aufbau revolutionärer Parteien ab, welche, nach Erringung der politischen Macht im bürgerlichen Staat ebendiesen für ihre Zwecke gebrauchen sollten. Sie befürchten, dass eine hierarchisch organisierte Partei notwendigerweise zur Elitenherrschaft

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neigt und stets auf die Verteidigung der eigenen Privilegien abzielt. Bezogen auf den Staat werfen die Anarchist/innen ihren marxistischen Gegnern eine reduktionistische Sicht auf diese zentralistische Institution vor, die die sich darin verselbstständigen Kräfte, z. B. der Bürokratie und des Militärs, ignoriert. Den werkzeugartigen Gebrauch des Staates für den sozialen Wandel schließen die Anarchist/innen von vornherein aus. Der Staat sei keine neutrale Entität, die nach sozialistischem Personalwechsel zur Emanzipation führen würde, sondern das institutionalisierte Prinzip von Befehl und Gehorsam, das unweigerlich zur Unterdrückung der Menschen beitrage. Sobald der Staat in marxistische Hände gelange, werde sich eine vom ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ legitimierte Führungskaste bilden. Sie verdamme die von ihr regierten Menschen zum Leben in einer staatskommunistischen Dystopie, prophezeite Bakunin: »For the proletariat this will, in reality, be nothing but a barracks: a regime, where regimented working men and women will sleep, wake, work, and live to the beat of a drum« (zit. nach Miller 1984, 11). Konsequentermaßen deuteten der zentralistische und der föderalistische Flügel der IAA die revolutionäre Erhebung der Pariser Bevölkerung im Jahr 1871 aus ihrer jeweiligen Perspektive. »For the Marxists, the Commune was a classic example of a proletarian revolution directed by the Internationale. For the anarchists, it was a pattern of a future society« (Joll 1964, 114). In der Tat sahen anarchistische Kommunard/innen wie Louise Michel (1830–1905), Elisée Reclus (1830–1905) und Eugène Varlin (1839–1871) einige ihrer Ideen in die Tat umgesetzt, darunter die Föderalisierung der städtischen Verwaltungsstruktur, die Einführung des imperativen Mandats für gewählte Repräsentanten der Bezirke und die Kollektivierung einzelner Betriebe durch die Arbeiter/innen. Das Ringen um eine zentralistische oder föderalistische Ausrichtung der IAA spitzte sich dramatisch zu, als der brutale Angriff französischer Regierungstruppen auf die Hauptstadt das sozialistische Praxisexperiment der Kommune beendete. Nachdem die föderalistischen Sektionen der IAA im Zirkular von Sonvilier die Beschränkung der Kompetenzen des Londoner Generalrats auf rein administrative Funktionen eingefordert hatten, erhob Marx dubiose Vorwürfe gegen Bakunin und James Guillaume (1844–1916) und stellte ihren Ausschluss auf dem 5. Kongress der IAA in Den Haag im Jahr 1872 zur Abstimmung. Die positive Mehrheitsentscheidung, welche außerdem dem Generalrat die Ausweitung seiner Befugnisse zu-

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gestand und den einzelnen Sektionen die Pflicht zum Aufbau von Arbeiterparteien in den jeweiligen Ländern auferlegte, hatte die Abspaltung der föderalistischen Sektionen und die Gründung der Antiautoritären Internationalen (1872–1877) im schweizerischen St. Imier zur Folge. Ihr erster Kongress bekräftigte, es sei die oberste Pflicht des Proletariats, alle politische Macht zu zerstören und nicht diese zu erobern, ferner, eine auf Freiheit, Solidarität und Gleichheit beruhenden Föderation aller Arbeitstätigen der verschiedensten Berufsgruppen aufzubauen und den Streik als »a precious weapon in the struggle« (zit. in Graham 2005, 100) gegen das Kapital einzusetzen. Diese Resolution legte die programmatische Grundlage für die Weiterentwicklung libertärer Ideen und der Herausbildung des kommunistischen und syndikalistischen Anarchismus, zwei seiner wichtigsten Strömungen. Die Ideen des kommunistischen Anarchismus erhalten ihren einflussreichsten Ausdruck in den Werken von Peter Kropotkin (1842–1921). Sie wurden über Europa und die USA hinaus auch in Lateinamerika sowie in Japan, China und Korea rezipiert (vgl. Graham 2005, 319–389), z. B. durch die japanische Anarcha-Feministin Itō Noe (1895–1923). Kropotkin geht weiter als seine kollektivistischen Vorgänger, denen noch ein geldbasiertes Entlohnungsmodell vorschwebte. In seinem 1892 erschienenen Die Eroberung des Brotes betont er, dass die Produktion und Verteilung von Gütern bedürfnisorientiert geschehen müsse und nicht nach geleisteten Arbeitsstunden, zumal solche Bemessungsversuche in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft schlicht absurd seien. Besonders erwähnenswert sind dabei die Beiträge des anerkannten Geographen Kropotkin zur Evolutionstheorie, die er im Jahr 1902 unter dem Titel Mutual Aid veröffentlicht. Entwickelt als wissenschaftlich fundierter Protest gegen die rassistisch motivierte und kapitalistische Konkurrenzverhältnisse legitimierende Rezeption der Ideen Charles Darwins, dem Sozialdarwinismus, postuliert Kropotkin die Faktoren Kooperation und Reziprozität in der Tier- und Menschheitsentwicklung, welche Darwin zugunsten des Konkurrenzprinzips übersehen habe. Seither grundiert das Theorem der Gegenseitigen Hilfe die meisten anarchistischen Ethikentwürfe. Kropotkin setzte sein internationales Renommee außerdem für die Rettung der Duchoborzen (russ. ›Geisteskämpfer‹) vor der zaristischen Verfolgung ein. Die Duchoborzen, eine christliche Sekte, wurden wegen ihrer Verweigerung im Militär zu dienen und der öffentlichen Verbrennung aller ihrer Waffen zwei Jahre später, 1895, von Tolstoi als

Kandidaten für die erstmalige Verleihung des Friedensnobelpreises nominiert. Die Vermittlung zwischen syndikalistischen und anarchistischen Ideen geht zurück auf Fernand Pelloutier (1867–1901), der seine Prinzipien in expliziter Abgrenzung zu den terroristischen Anschlägen anarchistischer Attentäter formulierte. Zur unmittelbaren Verbesserung der ökonomischen Lage aller Lohnabhängigen empfahl Pelloutier ihnen, sie sollten sich in Betriebs- und Berufsgruppen solidarisch organisieren. Diese Syndikate sollten zwei Funktionen erfüllen. Sie sollten als Kampforganisation durch direkte Aktionen wie Streiks, Sabotage, Boykott oder der Kennzeichnung der Produkte aus syndikalistischer Produktion das Kapital schwächen. Gleichzeitig sollten die Syndikate in Zusammenarbeit mit angegliederten Arbeiterbörsen (bourses du travail) Orte der Vorbereitung einer zukünftigen Gesellschaft sein und zwar durch Arbeitsvermittlung, Schaffung von Diskussionsforen, Einrichtung von Bibliotheken und Bildungsangeboten sowie der Erprobung demokratischer Produktionsplanung. Das in der Charta von Amiens (1906) festgehaltene Prinzip der Unabhängigkeit von politischen Parteien und vom Staat hat seine Relevanz behalten. Für die syndikalistischen und kommunistischen Strömungen engagierten sich zahlreiche Feministinnen, welche zwar die Forderung der bürgerlichen Suffragetten auf das Wahlrecht nicht ablehnten, aber ihre Emanzipationsziele keineswegs darauf begrenzen wollten. In einer Rede vor Mitgliedern der IWW urteilte Lucy E. Parsons (1853–1942): »You men have made such a mess of it in representing us [...] Whenever wages are to be reduced [the capitalist class] use women to reduce them, and if there is anything that you men should do in the future it is to organize the women« (zit. nach Shone 2013, 62). In den (versuchten) Revolutionen des jungen 20. Jahrhunderts, angefangen 1905 in Russland mit dem Generalstreik und dem 1910 in Mexiko folgenden Aufstand unter Anleitung von Ricardo Flores Magón (1874–1922) gegen die Díaz-Diktatur, spielten anarchistische Ideen eine wichtige Rolle. Ebenso in der russischen Oktoberrevolution von 1917, welche Anarchist/innen wie Alexander Berkman (1870– 1936, Emma Goldman und Wsewolod M. Eichenbaum (»Voline«, 1882–1945) zunächst enthusiastisch begleiteten. Alsbald sahen sie aber ihre Kritik am autoritären Sozialismus bestätigt, spätestens als die Rote Armee sowohl den Matrosenaufstand in Kronstadt 1921 als auch die unter dem Kommando des Anar-

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chisten Nestor Machno (1888–1934) stehende Revolutionäre aufständische Armee der Ukraine niederschlug. Nicht zuletzt Lenins Hinwegsetzen über die Einforderung grundlegender Rechte wie Meinungs-, Presse-, und Versammlungsfreiheit, selbst gegen Kropotkins persönlichen Protest, veranlasste Anarchist/innen weltweit zur Hochhaltung ihres liberalen Erbes, welches besonders die individualistischen Strömungen nachdrücklich vertreten haben (vgl. Kinna 2009, 41–46). Ähnliche Erfahrungen mit blutiger Repression machten Landauer, Erich Mühsam (1878– 1934) und Ernst Toller (1893–1939) bei dem von der sozialdemokratischen Regierung befohlenen und durch rechtsextreme Freikorps ausgeführten Angriff auf die kurzlebige Münchner Räterepublik im April 1919. Allein in Spanien gelang es der Confederación Nacional del Trabajo und der Federación Anarquista Ibérica, nach jahrzehntelanger Organisierung, anarchistische Ideen großflächig in die Praxis umzusetzen. Ihre erfolgreiche Teilnahme an der Abwehr des Militärputsches von General Franco im Juli 1936 nutzten sie zur Kollektivierung der Wirtschaft Kataloniens. Zermürbt durch die Angriffe der von Mussolini und Hitler unterstützten Faschisten und durch interne Kämpfe mit anderen antifaschistischen Republikanern wurden die Anarchosyndikalist/innen und deren Milizen im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) besiegt. Ihre sozialrevolutionären Aktivitäten hat der beeindruckte George Orwell in seinem Augenzeugenbericht Homage to Catalonia (1938) geschildert. Totalitäre Herrschaftsformen und die von NaziDeutschland zu verantwortende Zerstörung Europas bedeuteten das Ende des ›klassischen‹ Anarchismus. Einer seiner wichtigsten deutschen Vertreter, Erich Mühsam, wurde von der SS im Konzentrationslager Oranienburg ermordet. Andere wie Rudolf Rocker (1873–1958) überlebten den Krieg im Exil oder blieben unter großer Gefahr für das eigene Leben im Land, zum Beispiel Otto Weidt (1883–1947). Er beherzigte bei seinem Widerstand gegen die NS-Herrschaft die anarchistische Maxime, sich niemals dem Zwangskollektiv ›Nation‹ unterzuordnen (vgl. Kain 2017, 520) und wurde für die Rettung verfolgter Jüdinnen und Juden postum als ›Gerechter unter den Völkern‹ geehrt. Anarchistische Ideen sind nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verschwunden. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts, der planetaren Bedrohung durch die Atombombe und der zunehmenden Teilhabe westlicher Arbeiter/innen an wirtschaftlicher Prosperität kommt es vielmehr zu einer Schwer-

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punktverlagerung inhaltlicher und strategischer Art (vgl. Woodcock 1983, 452–463; Miller 1984, 114; Kinna 2009, 3–5; Marshall 2010, 540). Zwar verbleibt der antistaatliche und antikapitalistische Anspruch im Ideologiekern des Anarchismus, doch an die Stelle des massenbasierten Klassenkampfs tritt verstärkt die Auseinandersetzung mit kulturellen, ökologischen und psychosozialen Fragen. Von einem kontinuitätslosen Bruch auszugehen, wäre jedoch falsch, denn seit Anbeginn umfasst anarchistische Gesellschaftskritik mehr als die Gegnerschaft zu Staat, Kapital und Religion. Befördert von der Bürgerrechtsund Friedensbewegung in den USA, den Kampagnen gegen nukleare Aufrüstung und der 1968er Revolte der Studierenden von Berkeley bis Berlin knüpfen anarchistische Autor/innen an frühere Ideen an. Die Kritik einer Emma Goldman an patriarchalen Geschlechterverhältnissen, sexueller Ausbeutung und dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie wird in der zweiten und dritten Welle des Feminismus aktualisiert (Carol Ehrlich, Peggy Kornegger, Miriam Simos). Die Gay-Liberation-Movement (Alex Comfort, Allen Ginsberg) kann sich auf anarchistische Vorkämpfer wie Alexander Berkman berufen. Das Konzept der non-autoritären, säkularen Erziehung wie sie der anarchistische Reformpädagoge Francisco Ferrer (1859–1909) praktiziert hat, inspiriert die Kritik am modernen Bildungssystem (Colin Ward, Paul Goodman, Ulrich Klemm). Kropotkins und Reclus’ Gedanken zu einem bewussten Umgang mit der Natur fließen ein in die Soziale Ökologie (Murray Bookchin), einer Fusion anarchistischer Ideen mit jenen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung angestellten Überlegungen zur Naturbeherrschung. Die schon von Landauer vertretene Trennung des sozialen vom politischen Prinzip sowie seine kommunitär-genossenschaftlichen Entwürfe sind formativ für Martin Bubers Pfade in Utopia (1950). Der wiederbelebte pazifistische Anarchismus (George Woodcock, Paul Goodman, Dorothy Day, Audrey Goodfriend, Bernd Drücke) steht im Erbe der Aktivitäten von Personen wie Clara Wichmann (1885–1922) oder Ernst Friedrich (1894– 1967), dem Autor des in viele Sprachen übersetzten Buches Krieg dem Kriege (1924) und Gründer des weltweit ersten Anti-Kriegs-Museums in der Weimarer Republik, das heute wieder in Berlin besichtigt werden kann. Nach dem Ende des Kalten Krieges fundieren anarchistische Ideen die organisatorische Praxis jener sozialen Bewegungen, die sich als Gegengewicht zur ka-

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pitalistischen Globalisierung positionieren. Solche Versuche, Politik jenseits von Parteien zu betreiben, spiegeln sich in zivilgesellschaftlichen Kampagnen »from highly publicized protests against animal vivisection, militarization and nuclear arms, to less wellknown programmes for urban renewal, the development of alternative media, free education, radical democracy and co-operative labour« (Kinna 2009, 4). Als Auftakt des neu entfachten Interesses am Anarchismus gilt die martialisch als »Battle of Seattle« erinnerte Blockade des G8-Gipfels im Jahr 1999. Die Konfrontation der Polizei durch militante Taktiken nicht-hierarchisch organisierter Bezugsgruppen und des Schwarzen Blocks gehört dabei ebenso dazu wie gewaltfreie Massendemonstrationen und dezentrale Aktionen des zivilen Ungehorsams. In jüngster Zeit vertritt vor allem der Anthropologe David Graeber (*1961) die Auffassung, dass die Protestbewegung Occupy Wall Street im Grunde anarchistische Ideen umgesetzt hat. »Die Weigerung, Forderungen an den Staat zu stellen, die konsensorientierte Diskussion und basisdemokratische Entscheidungsfindung in assemblies, die führerlose Organisationsstruktur, das Ethos der Selbstorganisation und gegenseitigen Hilfe« (Loick 2017, 36). Im 21. Jahrhundert entwickelt sich der Anarchismus auch auf theoretischer Ebene weiter. Repräsentationskritische Ideen mit dem französischen Poststrukturalismus kombinierend, fordert z. B. der Postanarchismus dazu auf, die ontologischen Grundannahmen von Bakunin, Goldman und anderen zu überprüfen, etwa durch den Vorwurf, diese ›Klassiker‹ würden ein essenzialistisches Menschenbild vertreten. Schon in einem 1940 verfassten Essay entgegnet jedoch der anarchistische Kunsthistoriker Sir Herbert Read: »modern anarchism [...] is based on analogies derived from the simplicity and harmony of universal physical laws, rather than on any assumptions of the natural goodness of human nature« (Read 1951, 43). Reads lapidare Anmerkung darf als Anhaltspunkt dafür gelten, dass das postanarchistische Urteil ein vorschnelles und keins von der historischen Kenntnis des älteren Anarchismus belehrtes ist. In Anbetracht dessen steht die Forschung noch vor einer gründlich historisch kontextualisierten Aufarbeitung anarchistischer Ideen. Literatur

Anderson, Benedict: Anarchism and the Anti-Colonial Imagination. London 2005. Bakunin, Michael: Gott und der Staat. Leipzig 1919. Bartolf, Christian (Hg.): Wir wollen die Gewalt nicht: Die Buber-Gandhi-Kontroverse. Berlin 1998.

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Dominique Miething

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III Denkströmungen – D Moderne

24 Republikanismus Unter dem Stichwort des ›Republikanismus‹ firmiert eine große Bandbreite an Modellen und Denk­ strömungen, die je nach ideengeschichtlicher Verankerung, Entstehungszeitraum, Entstehungskontext, zeitgenössischen Leitdebatten und konzeptionellen Gegenbewegungen erheblich variieren. Dennoch lässt sich ein Kernprofil republikanischer Politiktheorie identifizieren. Der Republikanismus weist der genuinen Bindung des Individuums an das kollektive Leben große Bedeutung zu und gewinnt dadurch seinen basalen Gegenstandsbereich. Er hebt die Bedeutung aller Formen des bürgerschaftlichen Zusammenhalts hervor, er würdigt die gemeinschaftlichen Bindungskräfte, und er unterstreicht den Stellenwert der kooperativen Rahmenordnung. Damit tritt der Republikanismus immer wieder in den Gegensatz zu einer weiteren großen Denkströmung, dem Liberalismus. Während der Liberalismus die Spannungen zwischen kollektiven Zwängen und individueller Freiheit in den Mittelpunkt rückt und zugunsten der Unabhängigkeit des Individuums aufzulösen versucht, betrachtet der Republikanismus das kollektive Handeln als ein sinn- und identitätsstiftendes Element menschlicher Existenz, das die Freiheitspotentiale genau umgekehrt im gemeinsamen Handeln, in der politischen Interaktion und im öffentlichen Leben ansiedelt. Die politische Sphäre wird nicht als unvermeidliches Übel kollektiver Zwänge und staatlicher Eingriffe betrachtet, sondern als eine integrative gemeinschaftliche Praxis. Dementsprechend richtet sich der Republikanismus auf die Fragen nach den moralischen Ressourcen gemeinschaftlichen Handelns, nach den Grundmerkmalen der politischen Sphäre sowie nach dem Volk und seinen Kohärenzmerkmalen. Er widmet sich dem Verhältnis zwischen Bürgerschaft und politischen Organen und damit der konstitutiven Rolle der Demokratie sowie der komplementären Funktion staatlicher Herrschaft und rechtlicher Regulierung. Analytisch ist der Republikanismus auf die klassifizierende Beobachtung der politischen Praxis gerichtet, normativ auf die theoretische und praktische Modellierung von kollektiven Interaktionsformen, die seinem Politikverständnis entsprechen. Bis in die Gegenwart hinein existieren jedoch sehr eingeschränkte Vorstellungen des Republikanismus, die darunter lediglich eine konstitutionelle Regierungsform verstehen, aus der die Kohärenz eines politischen Herrschaftsverbandes und das Leistungsver-

mögen institutioneller Ordnungsbildung erwachsen. Ein solcher Republikanismus umfasst kaum mehr als das Ideal einer republikanischen Staatsform. Das genuin moderne Profil des Republikanismus erwächst hingegen erst aus einer konzeptionellen Erweiterung, die historisch vor allem aus den gegenabsolutistischen Vorstellungen republikanischer Politikgestaltung hervorgeht. In dem im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzenden Aufbegehren gegen die Erbmonarchie, gegen dynastische Herrschaft und gegen den vom Volk abgeschiedenen Hofstaat kündigen sich solche umfassenden Verständnisse des Republikanismus an. Ein von der herkömmlichen, göttlichen Legitimationsgrundlage abrückendes Verständnis von politischer Herrschaft und Ordnung greift Platz. Die politische Sphäre wird ganz ›weltlich‹ als Raum der Kooperation unter Menschen betrachtet, die durch die gemeinsame Lebensbewältigung miteinander verbunden sind. In aufrührerischem Gestus wird gefordert, dass die Zusammengehörigkeit unter kooperativ miteinander verflochtenen, gleichrangigen Individuen zu einer substanziellen kollektiven Handlungsvollmacht, zu konkreter politischer Teilhabe und zu einer für den Einzelnen erfahrbaren, egalitären Inklusion in das Gemeinwesen führen muss. Entsprechende Vorstellungen werden explizit als ›republikanisch‹ tituliert und dezidiert mit der Vorstellung demokratischer Legitimation und Partizipation verknüpft. Es kommt mithin zu einer konzeptionellen, sehr modern anmutenden Erweiterung und Bereicherung und damit auch zu einer Polarisierung innerhalb der republikanischen Modellbildung: Institutionalismus und Ordnungsfixierung verblassen gegenüber der Hervorhebung des Interaktionismus, dem politischen Handelns unter Bürgerinnen und Bürgern und der daraus erwachsenden demokratischen Praxis. Anhand der Spannung zwischen dem Republikanismus als Regierungsform und einer republikanischen Theorie demokratischen Handelns lässt sich im Folgenden zunächst ein kursorischer, systematisierender Durchgang durch die Ideengeschichte des Republikanismus entwickeln. Im Anschluss daran wird der Republikanismus anhand seines modernen konzeptionellen Profils als eine Theorie portraitiert, die durch ein bestimmtes Verständnis von Freiheit und Gleichheit und durch eine spezifische Relation zwischen ihnen gegen den konzeptionellen Gegenspieler, den Liberalismus, an Gestalt gewinnt. In einem kurzen Fazit wird der aktuelle politische Stellenwert des Republikanismus hervorgehoben.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_24

24 Republikanismus

24.1 Republikanische Ideengeschichte: Das umstrittene Element der par­ tizipativen Demokratie Bei der Betrachtung der republikanischen Ideengeschichte ergibt sich die Schwierigkeit, dass entsprechende Modelltheorien nicht immer unter dem Signum des ›Republikanismus‹ rubriziert worden sind. Das gilt bereits für eine republikanisch ausgerichtete Politiktheorie der Antike, die schon vor mehr als zweitausend Jahren gehaltvolle demokratische Implikationen des Republikanismus aufscheinen ließ. Die Rede ist von Aristoteles, der in seinen im 3. Jahrhundert v. Chr. entstehenden Schriften die republikanische Grundfigur ausgearbeitet und sie mit einer dezidierten Vorstellung von Demokratie verknüpft hat (Aristoteles 1973; vgl. Gröschner 2004, 380 ff.; Richter 2012, 157 ff.). Für Aristoteles ist die Politik als kollektive Lebensform ein Aspekt der Selbstverwirklichung des Menschen als dem einzigen sprach- und vernunftbegabten Lebewesen. Menschliches Leben führt zu kooperativen Praktiken, zur Lebensform des bios politikos. Da die individuelle Einbindung in die Gemeinschaftlichkeit der Lebensführung eine so große Rolle spielt, müssen die Individuen in der Politik möglichst präsent sein können. Für Aristoteles gilt: Bürger (er hat allerdings nur mit materiellem Besitz ausgestattete Männer vor Augen) ist, wer am Richten und Regieren gleichrangig teilhat (Aristoteles 1973, Drittes Buch, 105, 110). Die Bürger üben angesichts der unmöglichen Dauerpräsenz im öffentlichen Leben einen Rollentausch, um einmal als Regierte und einmal als Regierende in Erscheinung zu treten. Das führt ihn zur Demokratie: »Dass alle über alles beraten, ist demokratisch, denn eine solche Gleichheit erstrebt die Demokratie« (ebd., 157). Wenn die Bürger ihre Rollenerwartungen hinsichtlich der demokratischen Praxis durchdenken, werden sie auf die normativen Implikationen des Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv stoßen. Sie werden ihren Status als gleichwertige Mitglieder der kollektiven Lebensbewältigung erkennen wie auch pflegen, und sie werden der Bindung von Politik an Tugenden und Werte Ausdruck verleihen. So breitet Aristoteles ein Politikverständnis aus, das in gewisser Weise bereits sehr ›moderne‹ Elemente einer republikanischen Politiktheorie enthält. In der römischen Variante des antiken Republikanismus, für die paradigmatisch das Werk von Cicero steht, scheint der Impetus zur aktiven politischen Teilhabe nur in abgeschwächter Form auf. Mit Aristoteles teilt Cicero zunächst den Verweis auf die gemein-

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schaftliche Bindung unter den Menschen, die politische Konsequenzen nach sich zieht. In seiner wörtlich auf den Republikanismus bezogenen Schrift De re publica schreibt er: »Es ist also [...] das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist. Ihr erster Beweggrund aber zusammenzukommen, ist nicht so sehr die Schwäche als eine sozusagen natürliche Geselligkeit des Menschen [...]« (Cicero 1979, Erstes Buch, 131). Diese Geselligkeit macht die Menschen untereinander gleich. In der Krisenphase der römischen Politik etwa fünfzig Jahre vor der Zeitenwende aber, in der Cicero seine Schrift erstellt und in der er die Bestandsfähigkeit der Republik – vorausschauend – massiv gefährdet sieht, geht es ihm vordringlich um den Erhalt des Gemeinwesens und nicht um eine möglichst umfassende demokratische Teilhabe. Deshalb hebt er die Bedeutung der institutionellen Rahmung des Gemeinwesens hervor, insbesondere die stabilisierende Funktion des Rechts und der politischen Institutionen, und er betont die paternalistische, aber tugendhafte Steuerungsfunktion politischer Führungseliten. Das republikanische Erbe Ciceros lebt in den jüngsten Varianten republikanischer Modellbildung wieder auf, die später noch zu erörtern sein werden. Vielfach ist in den republikanischen Modellen der Gegenwart die Rede von einem »neorömischen« Republikanismus, der sich auf die Argumentation Ciceros in der Krisenphase der römischen Republik bezieht (Hölzing 2014b, 14 f.). Die Attribuierung ›neorömisch‹, die etwa für Philip Pettits Arbeiten verwendet wird, deutet aber unversehens auf ein problematisches Demokratieverständnis hin, denn sie verweist auf den von Cicero ausgearbeiteten Vorrang der bedachten Führung und Steuerung durch die Eliten gegenüber der Bürgerbeteiligung sowie auf das Erfordernis des Bestandserhalts von Institutionen anstelle einer unkalkulierbaren demokratischen Verfügungsgewalt über die Regierungsgeschäfte. Der ursprüngliche ›römische‹ und der darauf zurückgreifende ›neorömische‹ Republikanismus zeigen sich reserviert gegenüber umfassender Partizipation, weil sie den repräsentativen Mechanismen und den institutionellen Arrangements mehr vertrauen als der unmittelbaren Einflussnahme des Volkes auf die politischen Entscheidungsprozesse. Die Renaissance und die Frühe Neuzeit in Europa tragen gleichermaßen die an die athenische wie auch

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III Denkströmungen – D Moderne

an die römische Antike angelehnten Verständnisse des Republikanismus fort. In verschiedenen Teilen Europas entsteht eine Reihe von Stadtstaaten, die sich explizit als ›Republiken‹ titulieren, obwohl sie monarchische Elemente aufweisen – aber Distanz beziehen gegenüber dynastischer Alleinherrschaft und despotischer Machtfülle (Mager 1984, 584 f.). In Italien, in der Schweiz, in Flandern, Brabant und auf deutschem Territorium breiten sich jedenfalls insbesondere seit dem 15. Jahrhundert städtische Organisationsformen aus, die durch republikanische Merkmale gekennzeichnet sind: Deren Bewohner besitzen den gleichen Status rechtlich und politisch integrierter Stadtbürger, sie erlangen Schutzgarantien durch die Magistrate und Herrscherhäuser. Sie haben Pflichten in Gestalt der Steuerentrichtung und der Verteidigung ihres Gemeinwesens, aber sie haben auch die Möglichkeiten zur Teilhabe am öffentlichen Leben und zur Übernahme politischer Ämter (Münkler 1999, 54). Das politisch geförderte und geforderte Bewusstsein kollektiver Zusammengehörigkeit im städtischen Gemeinwesen und die Ausrichtung auf eine gleichrangige bürgerschaftliche Inkorporation hat dieser Variante die Kennzeichnung als civic republicanism oder ›Bürgerhumanismus‹ eingebracht. »Der Begriff ›bürgerlicher Humanismus‹ bezeichnet einen bestimmten Denkstil, der davon ausgeht, dass die Entwicklung des Individuums zu einer vollen Selbstverwirklichung nur dann erfolgen kann, wenn das Individuum als Bürger, also als bewusstes und autonomes Mitglied einer autonomen, handlungsmächtigen politischen Gemeinschaft, der polis oder der Republik, agiert« (Pocock 1993, 39). Die Expressivität dieser Zusammengehörigkeit und die Verknüpfung des Freiheitsverständnisses mit der Integration in die politische Kooperationsgemeinschaft kann sicherlich als ein sehr ›modernes‹ Element des Republikanismus gewertet werden. Deren institutionelle Rahmung weist allerdings Charaktermerkmale auf, die wiederum an die erwähnte ›neorömische‹ Variante des Republikanismus erinnern. Es gilt der Vorrang einer restriktiven rechtlichen Zwangsgewalt vor der Freiwilligkeit moralgesteuerter Integrationsbereitschaft, und es wird die Akzeptanz von paternalistischen Führungseliten vorausgesetzt. Betrachtet man die Bindung der Individuen an ihre Stadtrepublik vornehmlich als eine Art nutzenorientiertes Tauschgeschäft, das dem Einzelnen die Freiheit vor Willkür und dem Kollektiv die Bestandsfähigkeit nach innen und vor allem nach außen verschafft, dann geht die aristotelische Pointe eines Republikanismus der naturwüchsigen Zusammengehörigkeit verloren. In einer

solchen neorömischen Einfärbung der Modellbetrachtung hat beispielsweise Quentin Skinner diese historische Phase republikanischer Politikgestaltung gewürdigt (Skinner1998; vgl. Hölzing 2014b, 14 f.). Eine herausragende Stellung in den Fragen nach der Legitimation und Leistung von fürstlich regierten Stadtrepubliken nimmt Niccolò Machiavelli zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein. Er schildert die Logik des republikanischen Zusammenhalts sowohl aus dem Blickwinkel der Erfüllung kooperativer Vergemeinschaftung wie auch aus der Perspektive des Bestandserhalts von Kollektiven und des Austarierens von Machtungleichgewichten. Ein ›Fürst‹ muss dort autoritativ in Erscheinung treten, wo die natürlichen Bindungskräfte verlorengegangen sind. Sobald das Bewusstsein von der urwüchsigen Zusammengehörigkeit und der Tugendorientierung schwindet, ist die fürstliche Prärogative gefragt, die aber – in guter republikanischer Manier – dem Erhalt des Stadtstaates und der Freiheit seiner Bürger zu dienen hat (Machiavelli 1978). Für ein modernes, demokratisches Verständnis des Republikanismus erscheint Machiavelli deshalb bedeutsam, weil er die gemeinschaftlichen Bezüge und das kollektive Handeln im Kreis der Bürgerschaft hervorhebt, deren Zusammenhalt immer wieder neu organisiert und austariert werden muss. Machiavelli hat eine Vorstellung von der Inklusion der Bürger entwickelt, die mit einem bewussten und regen kooperativen Handeln verbunden ist und damit demokratische Qualitäten aufweist (McCormick 2011). Deshalb hat Machiavellis Politikverständnis insbesondere auf die Theoretiker einer ›Radikalen Demokratie‹ große Faszination ausgeübt (Richter 2016). Miguel Abensour würdigt die demokratischen Elemente, die Machiavelli in die Klassifikation der Stadtrepublik einführt und rühmt sie als »Machiavellian Moment« (Abensour 2012, 49 ff.). Dabei handelt es sich um jenes berühmte Attribut der Bürgerzentrierung, das John Pocock 1975 dem durch Machiavelli eingebrachten Ideal eines republikanischen Bürgerhumanismus zugesprochen hatte (Pocock 1975). In den republikanischen Vorstellungen von John Milton im 17. Jahrhundert oder den Levellers in England finden sich Theoriebausteine, die dieser demokratischen, auf das gemeinsame Handeln in der Bürgerschaft abhebenden Variante des Republikanismus ähnlich sind (vgl. Richter 2004, 85). Für die Entwicklung einer spezifisch republikanischen Demokratietheorie werden aber vor allem die Theorieentwürfe des 18. Jahrhunderts bedeutsam. Sie spalten sich auf in Modelle eines kleinräumigen, republikanisch gestalte-

24 Republikanismus

ten Gemeinwesens, vertreten von Montesquieu und Rousseau, und in Modelle der großräumigen Republik, verfochten in den Federalist Papers, die zugleich den Grundstein für den amerikanischen Bundesstaat gelegt haben. Die Kleinräumigkeit gilt Montesquieu in seinem Werk Vom Geist der Gesetze (Leipzig 1891) und Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag (1762) als Garant für eine Inklusion, die aktive Teilhabe ermöglicht und die politische Identitätsstiftung fördert. Die Federalist Papers dagegen binden die demokratischen Qualitäten des großräumigen Gemeinwesens, das sie in Gestalt der angestrebten Vereinigung der aufständischen Kolonien an der amerikanischen Ostküste vor Augen haben, ausdrücklich an repräsentative Mechanismen. Rousseaus Kleinraumideal bewerten sie geringschätzig als Modell einer ›pure democracy‹, die den Anforderungen an politische Komplexitätsbewältigung nicht gerecht zu werden vermöge, während die wahre ›Republik‹ parlamentarische und föderale Repräsentativstrukturen aufweise, die aber selbstverständlich auf demokratischen Wahlakten zu beruhen hätten (Federalist Papers 1961, Nr. 10, 81; Nr. 14, 100). Die ›Demokratie‹ wird also in den Federalist Papers begrifflich verunglimpft, aber substantiell mit veränderten Inhalten als republikanisches Herrschaftsideal bewahrt. Das spezifisch ›moderne‹ des Republikanismus sehen die Federalist Papers gerade in der Konzeptionalisierung eines großräumigen Staatsmodells verwirklicht, das sich nicht in einem hehren, aber unrealistischen Ideal erschöpft, sondern das die konkrete Möglichkeit einer bundesstaatlichen Ordnung auf der Grundlage demokratischer Legitimationsprozesse aufzeigt. Der Republikanismus wird zum Masterplan eines modernen Regierungssystems erhoben, das neben aller politischen Identitätsstiftung vor allem eine stabile, gewaltenteilige Organstruktur und effiziente Entscheidungsinstanzen aufweist. Die Demokratie ist inkorporiert, aber wird nicht mit einer lebhaften Partizipationskultur verbunden. Das Gegenstück dazu entwickelt sich zeitgleich auf dem europäischen Kontinent. Die partizipativen Impulse eines modernen Republikanismus leiten sich von den politischen Entwicklungen und Idealen rund um die Ereignisse der Französischen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert ab. Es kann nicht verwundern, dass dabei Rousseau als wichtiger Ahnherr entsprechender republikanischer Ideale reklamiert wird. Als ›republikanisch‹ gilt zunächst einmal der Aufstand gegen den absolutistischen Monarchen und den Hofstaat, der sich in gewaltsamen revolutionären Erhebungen niederschlägt. Der Republikanismus sta-

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chelt zur Auslöschung der Königsherrschaft an und reklamiert eine Verfassungsgebung, in der die Souveränität des Volkes ihren Ausdruck findet. Die Republik gilt als ein einheitliches und unteilbares Staatsganzes; sie begründet die französische Nation, der sich alle Bürgerinnen und Bürger voller Patriotismus als vollkommen Gleiche zugehörig fühlen können (Grab 1973, 153). Im ersten revolutionären Aufruhr wird eine schrankenlose Demokratie gepredigt: Es gibt keine politische Repräsentation, alle dürfen über alles unmittelbar mitbestimmen. Gleichzeitig entfaltet sich ein missionarischer Eifer und Emanzipationsdrang, der alle Gleichgesinnten zu einer Art grenzenlosen ›Weltrepublik‹ vereinen soll. Der revolutionäre Republikanismus strebt danach, die Freiheit mit der Gleichheit auf Basis einer assoziativen, voller Empathie betriebenen Brüderlichkeit zu versöhnen, wie Robespierre immer wieder mit großem Pathos hervorhebt (Robespierre in Grab 1973, 143, 231). Der Proklamation unbeschränkter direkter Demokratie und eines erdumspannenden Versöhnungsideals macht allerdings schnell der revolutionäre Terror ein Ende, dem Robespierre schließlich selbst zum Opfer fällt. Das Aufscheinen des Ideals einer Weltrepublik, in der alle zur beständigen, gleichrangigen Partizipation ermuntert sind, wird durch den erschreckten Widerstand europäischer, monarchischer Großmächte mit aller Gewalt unterbunden und schließlich konterkariert durch das kurz darauf folgende napoléonische Kaisertum, das stattdessen imperiale Weltbeherrschung anstrebt. Aber das Stichwort der ›Weltrepublik‹ als Bezugspunkt einer schier grenzenlosen Zusammengehörigkeit ist seitdem im Fundus republikanischer Modellbildung präsent. Immanuel Kant, der den revolutionären Ereignissen in Frankreich mit Erstaunen und Faszination begegnet, stellt dementsprechend klar das Doppelgesicht der republikanischen Modellbildung heraus: Den intersubjektiven Kern des Republikanismus identifiziert er in einer erdumspannenden Gleichheit aller Menschen hinsichtlich ihres Autonomieanspruchs, ihrer Rechte und ihrer Pflichten. Daraus erwachse ein regulatives Prinzip für alle Interaktionen und für die normativen Regelungen dieser Interaktionen, die »res publica noumenon«, wie Kant in seiner Schrift Der Streit der Fakultäten (1798) hervorhebt. In Hinblick auf die daraus abgeleiteten Formen politischer Gestaltung folgt für Kant daraus die Gewaltenteilung, aber auch die ›regulative Idee‹ einer immer weiter expandierenden Assoziation unter Gleichrangigen, die schließlich eine ›Weltöffentlichkeit‹ hervorbringe. Diese muss freilich

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III Denkströmungen – D Moderne

vorerst durch eine friedlich kooperierende Staatenassoziation ersetzt werden. Im besten Fall, so Kant in Die Metaphysik der Sitten oder in der Schrift Zum ewigen Frieden, gehe daraus die föderale, friedensstiftende Kohärenz einer ›Weltrepublik‹ hervor, die zwar die staatliche Autonomie nicht tilge, aber durchaus auf einer geradezu erdumspannenden Gemeinschaftlichkeit eines in gegenseitiger Anerkennung verbundenen ›Weltbürgertums‹ fuße. Der Republikanismus im Weltmaßstab wird zum Sinnbild einer buchstäblich grenzenlosen Entfaltung politischer Vernunft. Seit den politischen Ereignissen und Modelltheorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert wird demnach die polarisierende Entgegensetzung zwischen der Republik als Staatsform und dem Republikanismus als Handlungstheorie deutlich erkennbar. Auf der einen Seite steht die Welle des Konstitutionalismus, die monarchische Herrschaftssysteme teilweise gewaltsam beerbt und ›republikanische‹ Staaten etabliert, die auf Verfassungsrecht, Grundrechten, Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Öffentlichkeit beruhen. Zahllose Staaten tragen seitdem – bis heute – die Etikettierung ›Republik‹. Die verhaltenen demo­kratischen Implikationen solcher republikanischen Staatsformen konzentrieren sich auf individuelle und körperschaftliche Rechtsgarantien, auf Sicherheitsleistungen gegenüber den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern nach innen und nach außen, auf wohlfahrtsstaatliche Leistungsansprüche, bürgerschaftliche Wahlverfahren, öffentliche Kontrollmöglichkeiten der repräsentativen Organe und teilweise auf komplementäre direktdemokratische Partizipationsangebote. Eine solche ›Republik‹ indiziert zunächst nicht viel mehr als eine integrative nationalstaatliche Verfassungsordnung, die eine Gruppe von Menschen mit objektiven oder willkürlich bestimmten Homogenitätsmerkmalen politisch zu einem ›Volk‹ zusammenfügt. Auf der anderen Seite stehen republikanische Modelle, die im aristotelischen Impetus die dem Menschen eigene kooperative Verbundenheit in den Vordergrund rücken und daraus die Bedeutung des Republikanismus als plausibler Theorie einer gelingenden Sozialintegration ableiten. Sie weisen hinsichtlich ihres Politikverständnisses eine Verwandtschaft mit einigen jüngeren gesellschaftstheoretischen Modellen auf. So ergibt sich die Nähe zum amerikanischen Pragmatismus, insbesondere zu John Dewey und seiner Betonung der gemeinsamen, in kollektive Lernprozesse einmündenden Erfahrungen, oder zu Hannah Arendt und ihrer fundamentalen Rollenzuschrei-

bung an das gemeinsame Handeln, das zur gleichrangigen öffentlichen Begegnung und Beratung führt. Selbst Jürgen Habermas, der prominente Repräsentant einer von der Sprachpragmatik inspirierten Kritischen Theorie, steht den demokratischen Implikationen eines solchen Republikanismus insofern nahe, als er die deliberative Demokratie ebenso wie den Republikanismus als Theorien begreift, die den öffentlichen Raum nicht nach Ordnungs- oder Marktgesichtspunkten betrachten, sondern ihn als Träger einer »verständigungsorientierten öffentlichen Kommunikation« begreifen (Habermas 1997, 282). Habermas konzediert dem Republikanismus eine Auffassung von Politik, bei der diese »als Reflexionsform eines sittlichen Lebenszusammenhangs« begriffen werde, in der sich »die Angehörigen naturwüchsiger Solidargemeinschaften ihrer Angewiesenheit aufeinander innewerden« (Habermas 1997, 277 f.).

24.2 Jüngere Varianten: »Liberal republica­ nism« und Philip Pettit Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich in den USA eine Variante des Republikanismus ausgeprägt, die ihn nachhaltig um das Modell einer partizipativen Demokratie bereichert hat. Die entsprechenden Autoren wie Frank Michelman, Cass Sunstein und Richard Dagger sind unter dem selbstgewählten Etikett des liberal republicanism aufgetreten (Michelman 1988; Sunstein 1988; Dagger 1997; vgl. Richter 2012). Sie verweisen einerseits auf einen liberalen Pluralismus durchaus widerstreitender, sich wechselseitig ausschließender Normen und Interessen, den es zu bewahren gilt. Sie verwerfen andererseits die von Jürgen Habermas diskurstheoretisch verteidigte Unterscheidung zwischen unhintergehbaren, normativ wirksamen Rationalitätskriterien und konkreten Handlungsnormen. Die bei Habermas als abstraktes Merkmal von Interaktion vorgestellte Verständigungsorientierung wird gewissermaßen aus ihrer rein geltungslogischen Verankerung gelöst und als ein Prinzip von gelebter Wechselseitigkeit vorgestellt, das sowohl – sprachliche – Verständigung als auch gemeinsames, auf die Herstellung von Gleichheit gerichtetes, politisches Handeln einschließt. Insofern wird die praktizierte Kooperation zu einem Bereich aufgewertet, in dem durchaus auch die Prinzipien der Normengeltung generiert werden können. Vehement setzen sich die Repräsentanten dieses Republikanismus damit von einer republikanischen

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Traditionslinie ab, die das soziale Leben mit einem paternalistisch reklamierten Tugendkanon überzieht und damit weitreichende, dem politischen Handeln vorgelagerte normative Wertorientierungen in die Politik einbringt. Im Bild des liberal republicanism versichern sich die Individuen über die öffentliche Begegnung und Auseinandersetzung in der politischen Sphäre der Plausibilität jener normativen Grundlagen, auf deren Basis sie interagieren. Der Bezug des kollektiven Handelns auf das Gemeinwohl wird als das »Resultat der Interaktion von Akteuren« begriffen (Niederberger 2008, 91). Mit ihrer Einbindung in die öffentliche Sphäre verbindet sich für die Bürgerinnen und Bürger die Erwartung, dass sie zunehmend besser in der Lage sind, ihre eigenen Präferenzen genauer zu reflektieren und die der anderen gründlicher zu prüfen. Damit erwerben sie die Fähigkeit, sich intensiv und kompetent als politische Akteure betätigen zu können. Aus dieser Bedeutung der Interaktion im öffentlichen Raum resultiert das Plädoyer für eine »aktive Bürgerschaft«, womit der Republikanismus zum dezidierten Modell einer partizipativen Demokratie stilisiert wird (Sunstein 1993; Dagger 1997, 98 ff.). Die öffentliche Wachsamkeit der partizipierenden Individuen und ihre Bereitschaft zu Kontrolle oder Intervention schlagen sich gleichzeitig in einer misstrauischen, herrschaftskritischen Attitüde gegenüber den bestehenden politischen Strukturen und Entscheidungsabläufen nieder (Sunstein 1988, 1573). Eine solche Stoßrichtung republikanischer Politikgestaltung führt deutlich von dem Institutionenvertrauen der ›neorömischen‹ Variante weg. Das neorömische Modell markiert jedoch die eigentlich prominente Variante im Republikanismus der Gegenwart. Sie wird repräsentiert von Philip Pettit und seinem mittlerweile umfangreichen, intensiv und kontrovers diskutierten Werk. Den Schlüsselbegriff seines republikanischen Modells bildet der Begriff der ›Freiheit‹. Pettit betont die Notwendigkeit, neben dem dichotomischen Verständnis der Freiheit als einer Freiheit ›von‹ (kollektiven Zwängen) oder einer Freiheit ›zu‹ (politischer Teilhabe) eine dritte Variante ins Spiel zu bringen: die Freiheit von Beherrschung, Zwang und Willkür, von »domination« und »mastery« durch den Staat (Pettit 1997, 22). Damit will Pettit die Freiheit ›von‹ stützen, ohne die Möglichkeit einer Freiheit ›zu‹ preiszugeben. Eine willkürliche Herrschaftsposition des Staates schränke jedenfalls die Wahlfreiheit eines Individuums durch offen ausgeübte oder verdeckte staatliche Verfügungsgewalt, durch die Beeinträchtigung der Willensfreiheit oder durch

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die offene Manipulation des individuellen Verhaltens ein. Die von Pettit gepriesene Alternative der ›non-domination‹ bedeutet, dass von jeglicher Willkürherrschaft offen und erklärtermaßen Abstand genommen wird. Der Staat wird vornehmlich als eine politische Agentur mit der Aufgabe begriffen, die Freiheit des Individuums zu befördern und sie vor Willkürherrschaft zu schützen. Für diese auf Freiheit gerichtete staatliche Regulation reserviert Pettit den Begriff der ›interference‹, eine Art freiheitsverbürgende Intervention des Staates. Es kann also durchaus staatliche Eingriffe geben, ohne dass es zu einer Beeinträchtigung von individueller Freiheit kommt (ebd., 23 ff.). Pettit führt Differenzierungen ein, die den Freiheitsbegriff einer einseitigen liberalen Vereinnahmung entreißen sollen. Mit seinem Verständnis von Freiheit verbindet er aber auch eine Polemik gegen jene republikanischen Varianten, die ›bürgerhumanistisch‹ die Freiheit zur politischen Teilhabe als das wichtigste Merkmal der politischen Sphäre betrachten. Pettit misstraut den deliberativen Qualitäten einer interventionsfreudigen Bürgerschaft. Er verweigert sich einer stärkeren Akzentuierung der bürgerschaftlichen Zusammengehörigkeit und ihrer Funktion für die Auseinandersetzung mit politischen Fragen, was vielfach kritisiert und als »unrepublikanisch« qualifiziert worden ist (vgl. Bruegger 2011; McCormick 2013). Pettit verortet die demokratischen Gehalte seines Republikanismus im öffentlichen Disput über staatliche Gesetzgebung und Exekutivgewalt, der die Begründungspflicht gegenüber der Bürgerschaft und die Anfechtbarkeit durch sie einschließt, insbesondere dann, wenn sie in Hinblick auf die Ziele der Freiheitsgarantie zweifelhaft erscheinen. Die Basis dafür sieht Pettit in einer »deliberative republic« gelegt (Pettit 1997, 185 ff.). Sie fordert dazu auf, immer auch die Stimme des Anderen, im politischen Raum etwa die Position von Minderheiten, zu hören und allen Argumenten möglichst ungehinderten Zugang zu einer möglichst breiten öffentlichen Debatte zu ermöglichen. Aber immer wieder steht bei Pettit die Abwehr staatlicher Dominanz im Vordergrund, nicht der Selbstzweck der Inklusion (Pettit 2015, 157; Pettit 2012, 22). Pettit misstraut den politischen Lerneffekten, die durch die politische Betätigung im Kreis der Bürgerschaft erzielt werden können. Als den legitimen Hütern des Gemeinwohls schweben ihm eher dem öffentlichen Meinungskampf entzogene, von ihm selbst provokant und missverständlich als Elemente einer ›Depolitisierung‹ begriffene Institutionen wie the-

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III Denkströmungen – D Moderne

menspezifische Räte, Expertengruppen oder Untersuchungsausschüsse vor (Pettit 2004, 53). Mit dem irritierenden Postulat der ›Depolitisierung‹ zielt Pettit darauf, die politische Entscheidungsfindung vor einem emotionsgeladenen, moralisierenden und auf klischeehafte Vorurteile rekurrierenden Meinungskampf zu bewahren. Pettit begreift die Entpolitisierung nicht als einen Verlust republikanischer Zusammengehörigkeit, sondern genau umgekehrt als eine Zähmung des geradezu gefürchteten Volkswillens durch eine von Experten ausgeübte Rationalitätsprüfung der Argumente, die im öffentlichen Meinungskampf kursieren und aufeinandertreffen (Pettit 2004, 63). John P. McCormick bescheinigt daher Pettit in dieser Hinsicht despektierlich einen demokratievergessenen, institutionenzentrierten »senatorial move« und die Tendenz, den Problemhorizont der demokratischen Inklusion zum Zwecke der Pflege und Schärfung von politischer Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger zu vernachlässigen (McCormick 2013, 108). Immer wieder ist Pettit dementsprechend mit dem Vorwurf konfrontiert worden, in den Schlussfolgerungen aus seiner Theorie der Nichteinmischung bei einem – eigentlich von ihm bekämpften – liberalen Leitbild des Gemeinwohls zu landen, das den Respekt für die Freiheit des Individuums an die erste Stelle rückt, dabei aber keine bündige republikanische Neuinterpretation der kollektiven Bindungen und Interaktionen der Individuen im Rahmen ihrer politischen Zusammengehörigkeit hervorbringe (Laborde/ Maynor 2008, 9). Pettits prominent gewordenes Modell legt die überraschende Schlussfolgerung nahe, das republikanische Grundanliegen nähere sich bis zur Ununterscheidbarkeit der Stoßrichtung einer genuin liberalen Politiktheorie an. Diesem Eindruck sind jedoch die Werke zahlreicher Autoren entgegenzuhalten, die teilweise sehr explizit einer republikanischen Politiktheorie zuarbeiten, indem sie in Büchern und Fachzeitschriften eine gründliche, zeitgemäß aufbereitete Auseinandersetzung betreiben mit den Bindungen zwischen Individuum und Politik, mit den Rollen- und Funktionsverständnissen des ›Bürgers‹, mit den möglichen moralischen Ressourcen politischen Handelns, mit den Quellen bürgerschaftlicher Urteilskraft oder mit der Funktionsbestimmung des Verhältnisses zwischen Recht und Politik. Zu den entsprechenden Autoren zählen Richard Bellamy, James Bohman, Cécile Laborde, John Maynor, John P. McCormick, Marcus Llanque, David Miller, Thomas Pangle oder Maurizio Viroli (vgl. Niederberger/Schink 2013; Thiel/Volk 2016).

Zudem treten die in jüngster Zeit intensiv rezipierten und diskutierten Werke der sogenannten ›Radikaldemokraten‹ aus dem frankophonen Raum mit exponierten Demokratieverständnissen hervor, die durchaus Anschlussstellen an das republikanische Erbe liefern, obwohl die entsprechenden Autoren selbst die Verbindung zum Republikanismus negieren oder offen abstreiten (Richter 2016). Zu ihren Protagonisten zählen Autoren wie Miguel Abensour, Alain Badiou, Marcel Gauchet, Claude Lefort und Jacques Rancière, im weiteren Umfeld der radikaldemokratischen Argumentation auch Étienne Balibar, Jean Baudrillard, Cornelius Castoriadis, Jacques Derrida, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jean-Luc Nancy oder Pierre Rosanvallon (vgl. Flügel-Martinsen/Martinsen 2016). Bei den Radikaldemokraten geht es um die Bestimmung der Rolle des Politischen für das Selbstverständnis des Menschen als einem auf Interaktion angewiesenem Wesen. Sie setzen sich in einer beeindruckenden, republikanisch anmutenden Deutlichkeit mit den Bindungskräften und Hindernissen gleichrangiger Interaktion und bürgerschaftlichen Zusammenhalts auseinander. Demokratie ist für sie die wechselseitige Wahrnehmung und kollektive Aktion gleichrangiger Interaktionspartner im öffentlichen Raum, die vor allen institutionellen Festschreibungen demokratischer Legitimationsformen angesiedelt ist und die sich damit geradezu als Störung der politischen Ordnung manifestiert. Das allerdings treibt sie zunächst in einen massiven Vorbehalt gegenüber dem Ordnungsmodell der ›Republik‹. Jacques Rancière etwa argumentiert, die Republik sei immer schon von einer Ordnungsvorstellung her konzipiert und gehe von der voraussetzungsreichen wie zweifelhaften Vorannahme aus, sie bilde die natürliche Ungleichheit in der Gesellschaft in Gestalt von repräsentativen Formen des Regierens, also hierarchisch gegliederten Formen politischer Teilhabe, bloß ab (Rancière 2014, 64, 68). Für ihn verkörpert die Republik den vergeblichen Versuch einer institutionalisierten Korrektur an der »demokratischen Faktizität«, nämlich der unerreichbaren Formgebung für die Demokratie (Rancière 1996, 100). Pierre Rosanvallon stimmt mit ihm insofern überein, als dass er nachdrücklich an die jakobinischen Vorstellungen zur Republik in den ersten Jahren der Französischen Revolution erinnert, die in der Gegenwart in tragischer Weise verblasst seien. Damals sei die Politik als »reines Handeln« verstanden worden, »als unvermittelter Ausdruck eines unmittelbar empfundenen Willens« – eine Perspektive, die in der republikanischen Staatsformenlehre verloren-

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gegangen sei (Rosanvallon 2010, 155). Insofern habe die ›Republik‹ in dieser Phase als Ausdruck für einen permanenten Aufstand gegolten. Rosanvallon ruft das darauf gemünzte Aperçu des Marquis de Sade in Erinnerung: »Der Aufstand muss der Dauerzustand einer Republik sein« (De Sade, La Philosophie dans le boudoir, zit. nach Rosanvallon 2010, 155). Die republikanische Dynamik kommt in diesem Argumentationsmuster also erst dadurch zum Ausdruck, dass sie zu einer regen demokratischen Auseinandersetzung darüber anregt, wie die Konturen einer Republik, in der man sich zum Zwecke der gemeinsamen Lebensbewältigung zusammenfinden soll, aussehen könnten. Andreas Niederberger hat diese Modellvariante treffend als »Republikanismus jenseits der Republik« tituliert (Niederberger 2009). Insofern stehen die Radikaldemokraten einem der republikanischen Kernanliegen ganz nahe: Das kollektive Handeln der Bürgerschaft als ein Symbol der Inklusion und Zusammengehörigkeit erweist sich für sie als wichtigster Bestandteil des Politischen.

24.3 Ein republikanisches Verständnis von Freiheit und die Inklusion unter Gleichen Der kursorische Gang durch die Ideengeschichte hat gezeigt, dass die Kategorie der Freiheit einen wichtigen Bezugspunkt für den Republikanismus bildet. Sie wird allerdings im republikanischen Lager aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und kann nicht plausibel zum alleinigen Bezugspunkt republikanischer Modellbildung erhoben werden. Steht bei der Freiheit nur der Gewährleistungsanspruch freier Selbstentfaltung im Mittelpunkt, dann gehen die republikanischen Pointen verloren, und das republikanische Profil löst sich in der Zugehörigkeit zu den Modellvarianten eines Liberalismus auf. Die genuin republikanischen Konturen zerfließen und nähern sich der konventionellen Vorstellung eines liberalen Verfassungsstaats an, der in der Gestalt eines repräsentativen Regierungssystems den Individuen Unabhängigkeit und Freizügigkeit garantiert – aber keine Dynamiken zur Bewusstmachung, Entfaltung und Pflege der gemeinschaftlichen Bindungskräfte mehr freisetzt. Gerade vor dem Hintergrund eklatanter Krisen demokratischer Legitimation und repräsentativen Regierens in der Gegenwart sind jedoch genau umgekehrt jene Komponenten der Freiheit klärungsbedürftig, die die Freiheit in der Zugänglichkeit der öffentlichen

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Sphäre für jedes Individuum, in der Garantie von Freiräumen zum gemeinsamen Handeln, zur Teilhabe und zur Mitwirkung am politischen Entscheiden ansiedeln. Diese Problemhorizonte markieren das Aufgabenfeld eines ›modernen‹ Republikanismus, der gerade in diesem Bereich ein Alleinstellungsmerkmal aufweisen kann, weil er aus dem reichhaltigen ideengeschichtlichen Fundus einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Bindungen zwischen Individuum und politischem Kollektiv schöpft. Dafür erscheint die ausschließliche Auseinandersetzung mit der Freiheit unzureichend. Es kommen vielmehr Fragen der Gleichheit ins Spiel. Ihr erstes Bedeutungsfeld erschließt sich aus dem schwierigen Wechselspiel zwischen den Ausgangsbedingungen natürlicher und sozialer Ungleichheit im Verhältnis zur egalitären Gleichrangigkeit aller in Hinblick auf ihren Anspruch auf politische Inklusion. Darüber hinaus zeigt sich ihre Relevanz in der umstrittenen Profilierung einer Gleichheitspolitik des Staates, der unerlässlich eine ›Ungleichbehandlung‹ praktizieren muss, um egalitär ausgerichtete Fördermaßnahmen für Ausgeschlossene und Benachteiligte erzielen zu können. Schließlich werden Fragen nach dem Verhältnis zwischen regulativer Gleichheitspolitik und der Legitimation der damit einhergehenden Freiheitsbeschränkungen aufgeworfen – ein Leitthema von Pettit (vgl. zur Gleichheit Christiano 2008; Rosanvallon 2013; Atkinson 2016). Ein moderner Republikanismus muss jedenfalls unweigerlich zur Auseinandersetzung mit dem komplizierten Wechselspiel zwischen Freiheit und Gleichheit vorstoßen. Auf der einfachsten Ebene der Verschränkung von Freiheit und Gleichheit ergibt sich aus der republikanischen Perspektive der basale Anspruch, den freien, gleichrangigen Zugang zur öffentlichen Sphäre zu garantieren. Zumindest der Absicht nach dürfen weder individuelle, noch gruppenspezifische Ausschlusskriterien wirksam werden, weil sie die Gleichrangigkeit torpedieren und Freiheitsbeschränkungen einführen. Cass Sunstein, einer der Repräsentanten des ›liberal republicanism‹, betont: »Political equality, in republican terms, is understood as a requirement that all individuals and groups have access to the political process; large disparities in political influence are disfavored« (Sunstein 1988, 1552). Damit bezieht ein republikanisches Verständnis von Gleichheit Stellung gegen den mächtigsten Opponenten gesellschaftlicher Gleichheit im Sinne der gleichrangig ermöglichten Teilhabe an der Politik – die ökonomische Produktion von Ungleichheit, die hierarchisch gestaffelte

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Einfluss-, Macht- und Gestaltungschancen hervorbringt (vgl. Sunstein 1988, 1553). Für die Nivellierung ökonomischer Disparitäten sind natürlich staatliche Eingriffe erforderlich, die einer Ausgleichspolitik unter ungleich verteilten Teilhabechancen dienen. Die Garantie gleicher Teilhabechancen legt eine komplizierte und filigrane staatliche Gleichheitspolitik nahe, die ungünstige Ausgangspositionen und fehlende Chancengleichheit so weit wie möglich tilgt. Dieses Bemühen kann auch tiefe Eingriffe in die ungehinderte materielle Selbstentfaltung besonders begünstigter Staatsbürger umfassen, also gruppenspezifische Beschränkungen von Freiheit erforderlich machen. Die Durchsetzung von Gleichheit bedeutet nicht individuelle Wahlfreiheit in jeder Hinsicht – das ist eine dezidierte Differenz gegenüber einem kruden liberalen Freiheitsverständnis. Dabei kommt erneut die Demokratie als Raum kollektiver Erfahrungen und Lerneffekte ins Spiel. Denn die Beurteilung dessen, wer einen Anspruch auf Zugehörigkeit hat, wem die gleichrangige Zugänglichkeit zur öffentlichen Sphäre ungerechtfertigter Weise verschlossen bleibt, wem eine Ungleichbehandlung zum Zwecke einer Angleichung zu Teil werden muss oder wem Freiheitsbeschränkungen in Gestalt von Restriktionen zum Zwecke von Niveauangleichungen aufzuerlegen sind – alle diese Fragen sind aus republikanischer Perspektive Gegenstand eines kollektiven Verständigungsprozesses im Kreis der Bürgerschaft. Durch die Konfrontation mit den Problemstellungen ihres kooperativen Handelns werden die Bürgerinnen und Bürger in die kollektive Handlungsgemeinschaft integriert und lernen, plausible Lösungen zu finden und politisch umzusetzen. Damit ist auch die demokratische Neuformulierung jenes traditionellen Bestandteils des Republikanismus angezeigt, der einstmals im Begriff der ›Tugend‹ seinen Ausdruck fand. Die Tugendhaftigkeit wurde vielfach als eine der politischen Sphäre vorgelagerte Moralorientierung betrachtet, die aus einer guten Erziehung und aus bildungsbürgerlichen Wertorientierungen erwächst und die als ›Bürgerpflicht‹ eine Art vorpolitisches Zertifikat für die Berechtigung zur Teilhabe am öffentlichen Leben bereitstellt. Schon Aristoteles hatte dementsprechend die Klugheit, den Mut, die Mäßigung und die Gerechtigkeit als ›Kardinaltugenden‹ identifiziert, die politisch entfaltet werden müssten und könnten (vgl. Richter 2004, 54). In der Perspektive einer Bürgerschaft aber, die sich über das kooperative Handeln ein Problembewusstsein für die gemeinsamen Belange und für die gemein-

schaftsorientierten Lösungen aneignet, wird die Moralerziehung in die politische Sphäre transferiert und als Produkt des interaktiven Handelns betrachtet – demokratisches Handeln macht in einem modernen republikanischen Verständnis Menschen zu kompetenten Bürgerinnen und Bürgern. Darin äußert sich das teilweise in den modernen Republikanismus integrierte Erbe des Pragmatismus, der auf den Wert der kollektiven Erfahrung für die individuelle Urteilskraft verweist (vgl. Dewey 2001). Nur von Seiten der radikaldemokratischen Denker heftet sich an diese Erwartung kollektiver Lernerfahrungen große Skepsis, die dann zum Grundsatzvorbehalt gegen den Republikanismus insgesamt führt. Jacques Rancière beispielsweise opponiert massiv gegen die bildungsbürgerliche Vorstellung eines ›republikanischen Bürgeruniversalismus‹, der nicht nur Aufstieg durch Bildung verspricht, sondern damit auch den Erwerb politischer Kompetenz. Er wittert darin ein staatlich verordnetes Erziehungsideal, das keineswegs der Förderung von Gleichheit und Gleichrangigkeit diene, sondern gerade umgekehrt nur bestimmte Bevölkerungskreise anspreche und diesen exklusive Einfluss- und Aufstiegschancen in Aussicht stelle. Damit werde nicht Gleichheit geschaffen, sondern eine asymmetrisch angeordnete Ungleichheit fortgeschrieben. Am Ende stehe die Gleichheit unter den Herrschaftsunterworfenen der Gleichheit unter den Mächtigen unvermittelt gegenüber (Rancière 2014, 29). Es droht also die Konstellation einer ungleich verteilten Gleichheit. Tatsächlich ist damit ein realpolitisches und ökonomisches Problem benannt, das eine verbreitete Fehlwahrnehmung von Gleichheitsproblemen anzeigt. Denn in der politischen Ökonomie wird durchaus die ungleiche Verteilung von – gruppenspezifischer – Gleichheit als plausibler Ausgangspunkt und als Standardmaß für die Ermittlung ›gleicher‹ Lebensverhältnisse betrachtet (Atkinson 2016). Das Argument im Hintergrund lautet: Eine maßvolle Ungleichverteilung sei erstens der Normalfall. Zweitens sei sie sogar produktiv, weil sie die Individuen zum Streben nach einer nur sie selbst begünstigenden, vor allem materiell zum Ausdruck kommenden Gleichheit im exklusiven Kreis von Privilegierten anrege. Ein solcher, auf Distinktion angelegter Geltungsdrang steht dem republikanischen Grundimpuls einer gleichrangigen Präsenz im kollektiven Leben entgegen. Gleichheit ist nicht mit dem unterschiedlich gelingenden Streben nach Statusgewinnen kompatibel, sondern relativiert dieses vielmehr durch Reflexionen über die Bedingungen der Zusammengehörig-

24 Republikanismus

keit und vor allem durch eine nivellierende Gleichheitspolitik. Die zeitgenössische republikanische Politiktheorie nimmt sich dieses Problemhorizonts unter den Stichworten des »civic minimums« und der »civic economy« an (Laborde/Maynor 2008, 21; Gaus 2003; Dagger 2006). Die basale Gleichrangigkeit der Menschen und die Realisierung ihrer wechselseitigen Bindungen im öffentlichen Raum gehen nicht im fieberhaften Bemühen um kompetitive Marktfähigkeit und individuelle Wettbewerbsvorteile auf. Die Individuen erweisen sich nicht bloß als egozentrische, auf den eigenen Vorteil bedachte ›Unternehmer‹ und empathielose, genusssüchtige Verbraucher, sondern sie sind als durchaus zu gemeinwohlorientierter Reflexion und zu solidarischem Handeln befähigte Wesen anzusehen. Die ökonomischen Rahmenbedingungen und die staatliche Regulierung müssen allerdings sehr dezidiert auf die entsprechende Sensibilisierung für die kollektive Gleichrangigkeit ausgerichtet sein. Daraus sei eine genuin republikanische Gleichheitspolitik abzuleiten, die konkrete Elemente wie ein Mindesteinkommen, Gleichbehandlung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz sowie deliberative Foren zur öffentlichen Debatte über ökonomische Prinzipien und Missstände einschließt (Dagger 2006, 163). Die gegenwärtigen konzeptionellen Herausforderungen republikanischer Politiktheorie korrespondieren somit eng mit realpolitischen Problemstellungen, die sich aus gravierenden sozialen Ungleichheiten ergeben, insbesondere aus den wachsenden Diskrepanzen zwischen armen und reichen Bevölkerungskreisen. Der Republikanismus ruft zur Besinnung auf die basalen Bindungskräfte und auf kooperativen Bindungsverpflichtungen auf, bevor sich deren Vernachlässigung in resignativer Politikverdrossenheit oder in zornigem Radikalismus der Benachteiligten niederschlägt. Denn solche Dynamiken der Desintegration höhlen jenen gesellschaftlichen wie politischen Zusammenhalt aus, der doch das zentrale Anliegen des Republikanismus darstellt. Der Republikanismus fordert eine rege demokratische Teilhabe, die einen intensiv genutzten öffentlichen Raum zur Klärung der schwierigen Fragen nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit schafft.

24.4 Fazit Der Republikanismus ist als eine sehr zeitgemäße Modelltheorie herausgefordert, die die Spannungen zwischen der Modellierung von Postulaten der Gleich-

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rangigkeit und einer performativen Gleichheitspolitik plausibel reformuliert und mit Vorstellungen einer Freiheit verknüpft, die neue bürgerschaftliche Handlungspotenziale erschließt. Starke Imaginationen verwirklichter Gleichrangigkeit sind gefragt. Entsprechende Desiderate unterstreichen die Bedeutung der Demokratie. Denn die kollektive Herausforderung besteht darin, die Beeinträchtigungen gleichrangiger Inklusion in den politischen Entscheidungsprozessen zu erkennen und der Tendenz zur Politikverdrossenheit ebenso entgegenzuarbeiten wie den ›postdemokratischen‹ Substanzverlusten der politischen Sphäre. Ganz im Sinne der republikanischen Grundintention bleibt immer wieder neu danach zu fragen, wie die wechselseitigen Bindungskräfte zwischen den Menschen unter den schwierigen Rahmenbedingungen aktueller politischer Systemdynamiken entfaltet werden können. Das spezifisch Moderne besteht aus der Verlagerung entsprechender Klärungsprozesse in die öffentliche Begegnung, Beratung und Entscheidung unter den Betroffenen. Wer aber die Betroffenen und damit die Angehörigen einer Kooperationsgemeinschaft sind, untersteht unter den Bedingungen der transnationalen Diffusion von staatsbürgerlicher Zugehörigkeit und der globalen Vernetzung wiederum einem weitgreifenden öffentlichen Klärungsprozess. Ein moderner Republikanismus erweist sich deshalb unweigerlich als eine starke Theorie des demokratischen Handelns und als nachdrücklich reklamiertes Verfahren der öffentlichen Prüfung von Ansprüchen auf Inklusion und Teilhabe auf allen politischen Ebenen. Er findet im politischen Kleinraum ebenso sein Anwendungsfeld wie in den großen Fragen weltpolitischer Herausforderungen. Die damit angezeigte gegenwartskritische Positionierung des Republikanismus bedeutet wiederum, dass mehr denn je die Verschränkung zwischen dem explanatorischen und dem normativen Leistungsvermögen republikanischer Modellbildung in den Vordergrund tritt. Der Republikanismus steht vor der Aufgabe, die Funktionsstörungen in der Bindung zwischen Individuum und kollektiver Lebensbewältigung zu identifizieren und gleichzeitig über die möglichen Strategien ihrer Bewältigung aufzuklären. Die republikanische Politiktheorie muss in krisenhaften politischen Ausgangskonstellationen plausible Vorschläge zur Wiederherstellung einer Inklusionsdynamik unterbreiten, die trotz sozialer Spaltungsprozesse und ökonomischer Verwerfungen zum möglichst gleichrangigen Zugang zur öffentlichen Sphäre und zu einer

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intensiven demokratischer Teilhabe führt, und die eine konzeptionell plausible und politisch tragfähige Neubestimmung des gesellschaftlichen und politischen Zusammenhalts hervorbringt. Literatur

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Emanuel Richter

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25 Antikolonialismus Als Antikolonialismus wird keine bestimmte einheitliche Ideologie oder politische Idee bezeichnet, sondern eine Fülle an unterschiedlichen Ideen und politischen Strömungen und Bewegungen, die sich gegen die verschiedenen Formen des Kolonialismus richteten und richten. Die Geschichte des Kolonialismus war dabei von Anfang an von Kritik und Widerstand begleitet. Die Kolonialisierung der beiden Amerikas durch Spanien traf auf entschiedenen bewaffneten – allerdings: erfolglosen – Widerstand, der auch nach der Zerschlagung der großen Reiche der Azteken und Inkas andauerte. Insbesondere im Inka-Reich (Tawantinsuyu) leisteten Heerführer wie Rumiñahui und die von Vilcabamba aus regierenden 15. bis 18. Inka, Manco Cápac II., Sayri Túpac, Titu Cusi Yupanqui und Túpac Amaru. Vor allem letzterer wurde bis in 20. Jahrhundert hinein zu einer Ikone antikolonialer Bewegungen in Peru, was u. a. auf seiner angeblichen Aussage basiert, wiederzukehren und den Kampf gegen die Kolonisatoren wieder aufzunehmen. Noch die 1984 gegründete linke Guerilla Movimiento Revolucionario Túpac Amaru trug dessen Namen. Auch wenn der bewaffnete Widerstand kolonialisierter Bevölkerungsgruppen in den Amerikas ebenso wenig von Erfolg gekrönt war, wie später in den meisten Teilen Afrikas, Asiens und Ozeaniens, so bildeten frühe antikoloniale Widerstände immer wieder Bezugspunkte für spätere antikoloniale Befreiungsbewegungen.

25.1 Frühe Kolonialismuskritik Kritik am Kolonialismus wurde jedoch nicht nur von den Unterworfenen formuliert, sondern auch in den Gesellschaften der Kolonisatoren. Eine wichtige Rolle spielten dabei einige katholische Geistliche, die sich gegen die – zunächst auch von der Amtskirche mitgetragenen – Auswüchse der Kolonisierung Amerikas stellten. Die erste diesbezügliche Kritik ist vom Dominikaner Antonio de Montesinos überliefert, der am vierten Adventsonntag 1511 in der Kathedrale von Santo Domingo – der heutigen Hauptstadt der Dominikanischen Republik – die Frage stellte: »Sagt, mit welchem Recht und welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft? Wer hat Euch Vollmacht gegeben, so verabscheuungswürdige Kriege gegen

diese Menschen zu führen, die ruhig und friedlich ihre Heimat bewohnten, von denen ihr unzählige durch unerhörte Mord- und Gewalttaten ausgelöscht habt?« (zit. nach Gründer 2004, 37)

Einer der Geistlichen, denen Montesinos die Absolution verweigerte, weil sie selbst indigene Sklaven hatten, war der spanische Theologe Bartolomé de Las Casas, der noch selbst als Konquistador an der Eroberung Kubas teilgenommen hatte, sich allerdings nicht zuletzt unter dem Einfluss Montesinos zu einem der wichtigsten Kritiker der Kolonialisierung der Amerikas entwickelte. In seine Geschichte der westindischen Länder (Casas 1875) und seinem kurzgefassten Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder (Casas 1552) schilderte und kritisierte er das Verhalten der spanischen Konquistadoren gegenüber den Kolonisierten und wurde damit zu einem wichtigen historischen Zeugen für das koloniale Unrecht. Las Casas hielt jedoch zugleich lange den transatlantischen Sklavenhandel für gerechtfertigt, was ihm den Vorwurf einbrachte diesen als Alternative zu den indigenen Sklaven propagiert zu haben. Neben dem spanischen Kolonialreich, sind auch im portugiesischen Kolonialreich frühe kritische Stimmen dokumentiert, die wie in Spanien vielfach von Geistlichen der katholischen Kirche stammen. So gehörte im 17. Jahrhundert der Jesuit António Vieira zu den schärfsten Kritikern des portugiesischen Kolonialismus in Brasilien. Die Jesuiten waren es auch. Die im 17. Jahrhundert in den heutigen Grenzregionen zwischen Paraguay, Argentinien und Brasilien mit den sogenannten Jesuitenreduktionen, die aufgrund ihrer Autonomie oft auch als Jesuitenstaaten bezeichnet wurden, autonome Schutzgebiete für die indigene Bevölkerung schufen, die zugleich allerdings auch missioniert und in das Koloniale Wirtschaftssystem integriert wurden. Obwohl die indigene Bevölkerung dort Schutz vor Sklaverei und Massakern fand, waren die Reduktionen keine antikoloniale Alternative, sondern blieben im spanischen und portugiesischen Kolonialreicht integriert. Trotz vieler »Sonderrechte blieben die Jesuitenreduktionen den staatlichen Provinzialgouverneuren unterstellt, die als Vertreter des Königs in den Siedlungen feierlich empfangen wurden und die Wahlen zum Gemeinderat der Reduktionen bestätigten« (Reinalter, 1996: 208). So wichtig kritische Chronisten unter den Kolonisatoren für die historische Dokumentation der Verbrechen des Kolonialismus auch waren und so sehr

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die später zum ›heiligen Experiment‹ stilisierten Jesuitenreduktionen die konkreten Lebensbedingungen der Betroffenen verbessert haben mögen, so bildeten diese allerdings keine wirkungsmächtigen politischen Bewegungen, die gegen den Kolonialismus gerichtet waren. Vielmehr richtete sich die frühe Kolonialismuskritik gegen bestimmte Auswüchse des Kolonialismus und forderte in paternalistischer Weise Verbesserungen ein. An einem Bruch mit dem Kolonialismus als solchem waren die meisten dieser frühen Kritiker nicht interessiert, sondern vielmehr an einer Veränderung desselben. Das grundsätzliche Recht des christlichen Europas Mission zu betreiben und andere Gesellschaften mehr oder weniger zu unterwerfen stellten sie nicht in Frage.

25.2 Kreolischer und indigener Anti­ kolonialismus Die erste Welle der Entkolonialisierung, jene die die beiden Amerikas von Kolonien zu selbstständigen Staaten verwandeln sollte, wurde nicht von den Kolonialisierten, sondern überwiegend von den Nachkommen der Eroberer erwirkt, wobei letztere in einem Prozess der Kreolisierung sich einigen Staaten auch mit den Kolonialisierten vermischt hatten. Zwar kennen wir durchaus auch indigen geprägte Aufstände gegen die spanische Kolonialherrschaft, wie den Aufstand von José Gabriel Condorcanqui Noguera um 1780, der sich später nach dem letzten Inka Túpac Amaru, als Túpac Amaru II. benennen sollte, allerdings brachten diese Rebellionen nicht die Unabhängigkeit der Staaten Amerikas mit sich. Die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 wurde in der amerikanischen Revolution durch die weißen Eliten der Kolonien erzwungen, hatte allerdings keine Entkolonialisierung der Kolonisierten im Sinne. Im Gegenteil: Der überwiegende Teil dessen was heute die USA ausmacht, wurde erst durch die unabhängige USA kolonialisiert. Der Großteil des Landraubs indigenen Territorium Nordamerikas fand nach 1776 statt. Eine Reihe von indigenen Bewegungen in den USA kämpft deshalb bis heute für eine Dekolonisierung. Die 1968 von Russel Means, Dennis Banks und John Trudell gegründete Befreiungsbewegung American Indian Movement (AIM) kämpfte in den 1970er Jahren als militante antikoloniale Bewegung gegen die Kolonisierung indigenen Landes durch die USA und bis heute gibt es innerhalb der verschiedenen indigenen Gruppen der USA poli-

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tische Strömungen, die für eine Entkolonialisierung indigenen Landes kämpfen. Obwohl der indigene Bevölkerungsanteil einiger lateinamerikanischer Staaten deutlich höher liegt, als in Nordamerika, wurden auch die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege, die zwischen 1809 und 1825 unter Antonio Amador José de Nariño, Simón Bolívar, Antonio José Sucre, Bernardo O’Higgins Riquelme und José de San Martín und geführt wurden, von den kreolischen Eliten geführt, also den Nachkommen der Spanier, die in Südamerika geboren wurden und nicht den Nachkommen der Kolonisierten. Im Gegenteil: In einigen Regionen stellten sich viele der indigenen Gruppen sogar gegen die kreolischen Eliten. In den Anden stellten sich große Teile der indigenen Bevölkerung auf die Seite loyalistischer Kräfte gegen die Truppen von Bolívar und San Martín (Thurner 1997, 4). Auch die Dekolonialisierung Zentralamerikas und die Errichtung der Republik der Vereinigten Provinzen Zentralamerikas 1823, aus der 1839 Guatemala, El Salvador, Honduras und Costa Rica hervorgehen sollten, wurde von einer Koalition kreolischer Gruppen herbeigeführt (Soria 1993, 78). Ein Sonderfall bildete hier Haiti das 1804 durch eine Revolution der Sklaven aus der französischen Kolonie Saint-Domingue hervorging. 1791 hatten Sklavenaufstände unter François-Dominique Toussaint Louverture begonnen (Regis 1818), die schließlich zur ersten von ehemaligen Sklaven regierten Republik Amerikas führen. Einen eigenen Weg nahm auch die Nationsbildung Mexikos, dessen erste Unabhängigkeitsbewegung unter Miguel Hidalgo zwar auch von Kreolen getragen wurde, allerdings seit der Revolution von 1910, die stark von indigenen Bewegungen getragen wurde, das Konzept der mestizaje, als ein Konzept einer hybriden mestizischen Kultur verfolgte, das auch Einfluss auf Bolivien und Peru nehmen sollte (Blum 2001, 93). Trotz dieser beiden Sonderfälle muss auch für Mexiko und Haiti festgestellt werden, dass bislang kein einziger Staat in den beiden Amerikas entstanden wäre, der tatsächlich von jener Bevölkerung getragen wurde, die durch den Kolonialismus Spaniens, Portugals und Großbritanniens unterworfen worden wäre. Was der guatemaltekische Historiker Carlos Guzmán Böckler als »Reproduktion des kolonialen Modells« (Böckler 1986, 143) durch die guatemaltekische Republik analysierte, lässt sich auch auf andere Staaten Lateinamerikas übertragen, die trotz Dekolonialisierung weiter diesem »kolonialen Modell« entsprechen.

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Neben den Staaten Amerikas, bildeten auch die Entkolonialisierung Australiens und Neuseelands keine Dekolonialisierung der Kolonisierten, sondern nur eine Unabhängigkeit der weißen Eliten. Auch wenn in Neuseeland die indigene Bevölkerung eine deutlich stärkere Rolle spielt als in Australien und deren Sprache, das Māori, seit 1987 gleichberechtigte Amtssprache ist, sind letztlich beide Staaten nicht das Resultat antikolonialer Bewegungen, sondern eher einer Entkolonialisierung von Oben.

25.3 Antikolonialismus: Asien und Afrika Während die neuen Eliten beider Amerikas also weitgehend aus den Siedlergesellschaften der Kolonisatoren hervorgingen, bildeten die Träger antikolonialer Bewegungen in Afrika und Asien überwiegend die Eliten der kolonialisierten Bevölkerungsgruppen. Der britische Kolonialismus in Indien stieß bereits im 18. Jahrhundert auf Widerstand. Viele der frühen Aufstände blieben allerdings lokal, regional und tribal. Überregional organisierte antikoloniale Bewegungen entwickelten sich Ende des 19. Jahrhunderts und wurden nach dem Ersten Weltkrieg zu einem bedeutenden Machtfaktor, wobei von Anfang an rivalisierende ideologische Vorstellen und Staatskonzepte zu Spaltungen der indischen Unabhängigkeitsbewegungen führten. Der 1885 gegründete Indische Nationalkongress war von Hindus und Muslimen gemeinsam gegründet worden und bildete mit Mohandas Karamchand Gandhi, Jawaharlal Nehru und Subhash Chandra Bose zunächst eine gemeinsame Plattform der antikolonialen Kampfes, die auch mit der 1906 von Muhammad Ali Jinnah gegründeten All-indischen Muslimliga eng zusammenarbeitete, die später für einen eigenen säkularen muslimischen Staat plädierte, der schließlich als Pakistan umgesetzt wurde. Bose, der im Gegensatz zu Gandhi und Nehru allerdings auf den bewaffneten Kampf setzte, floh 1941 aus Indien und baute mit der Indischen Legion und der Indian National Army bewaffnete Einheiten auf, die sich mit Deutschland und Japan gegen Großbritannien am Zweiten Weltkrieg beteiligten (Kuhlman 2003) und damit auch mit Gandhis und Nehrus Nationalkongress rivalisierten. Viele der antikolonialen Bewegungen, die Widerstand gegen das französische Kolonialreich übten, standen hingegen im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Alliierten im Kampf gegen Deutschland und Ja-

pan. Französische Kolonialgebiete in Asien Zentralafrika stellten sich im Gegensatz zu jenen in Westafrika dem Kollaborationsregime von General Pétain entgegen und schlossen sich dem Freien Frankreich an. Indochina stand unter japanischer Besatzung, wogegen sich die vietnamesischen Kommunisten mit Unterstützung der Alliierten wehrten. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geplante Wiedererrichtung der französischen Kolonialherrschaft in Indochina wurde durch den Việt Minh verhindert, der schon gegen die japanische Besatzung gekämpft hatte und 1945 die Demokratische Republik Vietnam gründete. Algerische Veteranen der französischen Armee, wie der spätere algerische Präsident Ahmed Ben Bella die in Zweiten Weltkrieg in den Reihen des Freien Frankreichs an der Seite Charles de Gaulles kämpften, wurden in den 1950er-Jahren Träger des antikolonialen Widerstands in Algerien. Mit Ben Bella, Krim Belkassem und Abane Ramdane, gehörten gleich mehrere ehemalige Soldaten der französischen Armee zu den ersten Führungskadern der 1954 gegründeten algerische Front de Libération Nationale (FLN). Algerien war allerdings einer der letzten arabischen Staaten, der erst nach einem blutigen Krieg 1962 die Unabhängigkeit erreichen konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatten in vielen anderen arabischen Staaten bereits unterschiedliche arabisch-nationalistische Strömungen die Macht ergriffen, die vielfach auch die Träger des Antikolonialismus in der arabischen Welt waren. Gamāl ʿAbd an-Nāṣir in Ägypten, Muʿammar al-Qaḏḏāfī in Libyen und die von Michel ’Aflaq, Zakī al-Arsūzī und Salah ad-din al-Bitar gegründeten Arabischen Sozialistischen Partei der Wiedererweckung (hizb al-ba’th al-’arabī al-ischtirākī), kurz oft als BaathPartei bezeichnet, die in Syrien und im Irak an die Macht kommen sollte, stehen für unterschiedliche Strömungen dieses antikolonial ausgerichteten arabischen Nationalismus, die ins 21. Jahrhundert die Politik der meisten arabischen Staaten dominieren sollten. Allerdings basierten auch viele panislamische und politisch-islamische Bewegungen auf ähnlichen antikolonialen Mobilisierungen, die statt in der ›arabischen Nation‹ die ›islamische Ummah‹ als Bezugspunkt der Entkolonialisierung sahen: Von der 1928 in Ägypten gegründeten Muslim Bruderschaft (alikhwān al-muslimūn) über die für die Wiedererrichtung eines Khalifats kämpfenden Ḥizb at-taḥrīr bis hin zu verschiedenen Strömungen des schiitischen Politischen Islams im Iran und im Libanon, sahen sich politisch-islamische Bewegungen immer auch als antikoloniale Bewegungen zur Befreiung der Muslime.

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Der Arabische Nationalismus bildete also nur eine Speerspitze einer viel breiteren und heterogeneren antikolonialen Bewegung in der arabischen Welt, zu der auch verschiedene Strömungen des politischen Islam und verschiedene marxistische Strömungen zu rechnen sind, die sich im Irak, Syrien, Ägypten und anderen Staaten ebenfalls stark im Kampf gegen den Kolonialismus einbrachten, teilweise mit arabischen Nationalisten zusammenarbeiteten, von diesen allerdings auch immer wieder bekämpft wurden. Der arabische Nationalismus erlitt erst im Krieg gegen Israel 1967 eine schwere Niederlage, die vor allem den Nasserismus traf, da dies auch »das Ende des Traums von einer geeinten Arabischen Welt unter Führung Ägyptens« (Rüdiger/Schlicht 2010, 16) bedeutete. Eine explizit linke Befreiungsbewegung konnte dauerhaft lediglich im Südjemen die britische Protektoratsherrschaft besiegen. Die Unabhängigkeit des Südjemens Ende 1967 gelang allerdings erst nach der Niederlage des arabischen Nationalismus im Krieg gegen Israel 1967 und ist bereits im Kontext des Kalten Krieges und einer späteren Phase der Dekolonialisierung zu sehen. Auch die Kolonisierung des subsaharischen Afrikas war vielfach vom Widerstand der lokalen Bevölkerung geprägt. Auch wenn es in allen Kolonialgebieten zur Ausbeutung von Ressourcen und Bevölkerung kam so galt doch die Privatkolonie Leopold II. von Belgien, der spätere Belgisch-Kongo, als besonders brutale Gewaltherrschaft. Innerhalb von 20 Jahren wurde die Bevölkerung des Kongo unter Leopold II. von 25 Millionen auf 15 Millionen reduziert, wobei angesichts des natürlichen Bevölkerungswachstums von deutlich mehr als 10 Millionen Toten ausgegangen werden muss. Selbst in Europa sprachen Kritiker deshalb von den sogenannten ›Kongogräuel‹. Im antikolonialen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft Belgisch spielten schließlich in den 1920er Jahren religiöse prophetische Kulte, wie die Kimbanguisten eine wichtige Rolle, die die Situation im Kongo mit dem alttestamentlichen Israel gleichsetzten und ein ›Königreich Gottes auf Erden‹ anstrebten. Ein schlechter Ruf eilte auch den Deutschen voraus. Bewaffneter Widerstand wurde vom Deutschen Reich brutal unterdrückt. In der deutschen Kolonie Kamerun kam es zwischen 1884 und 1910 zu neun Aufständen. Der deutsche Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1904 wurde erst 2015 vom deutschen Auswärtigen Amt als Völkermord bezeichnet. Auch der Maji-MajiKrieg von 1905 bis 1907 in Deutsch Südostafrika gilt

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heute zu Recht als schweres Kolonialverbrechen des Deutschen Reiches (Becker/Beez 2005). Antikoloniale Bewegungen im subsaharischen Afrika wurden vielfach von Studenten und jungen Intellektuellen getragen, die in Europa studiert hatten und von Afro-Amerikanischen Aktivisten getragen. Die panafrikanische Bewegung entstand schließlich auch nicht in Afrika, sondern unter schwarzen Intellektuellen in der Karibik. Intellektuelle wie Henry Sylvester Williams aus Trinidad der aus Jamaica stammende Marcus Garvey oder der auf den Virgin Islands geborene Edward Wilmot Blyden standen an der Wiege der Ideologie des Panafrikanismus. Der erste Pan-African Congress fand schließlich 1900 in London statt und führte zur Gründung der ersten länderübergreifenden panafrikanischen Dachorganisation, der Pan-African Association (PAA) (Schmidinger 2011). Aus dieser gingen verschiedene Befreiungsbewegungen hervor oder wurden von dieser inspiriert. Namen wir Patrice Émery Lumumba (Kongo) und Julius Kambarage Nyerere (Tansania) standen für einen sozialistisch orientierten Antikolonialismus, der im Falle Lumumbas im Kalten Krieg vom Westen als dermaßen bedrohlich wahrgenommen wurde, dass dieser durch einen von Belgien und den USA gestützten Putsch gestürzt und am 17. Januar 1961 nach brutaler Folter unter einem belgischen Kommando ermordet wurde (De Witte 2001). Die Ideen dieser afrikanischen Sozialisten wurden auch später noch z. B. vom Afrikanischen Nationalkongress ANC in Südafrika oder von Thomas Sankara in Burkina Faso auf verschiedene Art aufgegriffen. Erst nach der Dekolonisierung der britischen und französischen Kolonien gelang es auch den ehemaligen portugiesischen Kolonien Afrikas nach der Nelkenrevolution von 1974 ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Angola und Mosambik wurden beide 1975 nach einem blutigen Befreiungskrieg, der von linken antikolonialen Bewegungen geführt worden war, in die Unabhängigkeit entlassen. Sowohl die Movimento Popular de Libertação de Angola (MPLA) als auch die Frente de Libertação de Moçambique (FRELIMO) orientierten sich im Kalten Krieg an der Sowjetunion, was den Westen zur Unterstützung militärischer Gegenbewegungen in darauffolgenden Bürgerkriegen motivierte. Als letzte Kolonialgebiete, die allerdings nicht mehr von Europa, sondern von lokalen weißen Eliten regiert wurden, verblieben noch Rhodesien, Südwestafrika und schließlich Südafrika. Nach einer Phase ei-

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ner einseitig erklärten Unabhängigkeit durch einen weißen Siedlerstaat unter Ian Smith gelang es in Rhodesien mit Robert Mugabe einen friedlichen Übergang zu einer echten Unabhängigkeit einzuleiten. In der ehemals deutschen Kolonie Südwestafrika, die seit dem Ersten Weltkrieg von der Südafrikanischen Union verwaltet wurde, gelang es mit der South-West Africa People’s Organisation (SWAPO) einer linken bewaffneten Befreiungsbewegung das Land 1990 in die Unabhängigkeit zu führen. Und schließlich bedeutet das Ende der Apartheit in Südafrika und die ersten freien Wahlen 1994 den vorläufigen Abschluss der Entkolonialisierung Afrikas.

25.4 Antikolonialismus als ideologische Strömung(en) Die hier nur angerissenen unterschiedlichen antikolonialen Bewegungen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens hatten nie eine gemeinsame ideologische Basis. Sie reichen von völkisch-nationalistischen Bewegungen, die auch keine Hemmungen hatten mit den Nazis zu kollaborieren über bürgerlich-liberale Elitenbewegungen bis zu linken und marxistischen Befreiungsbewegungen. Sie unterscheiden sich stark in ihren wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Einstellungen. Vereinfacht lassen sich aber unterschiedliche Phasen antikolonialer Bewegungen festmachen: 1. Liberale Phase: Der antikoloniale Kampf in beiden Amerikas wurde im Wesentlichen von bürgerlichen Liberalen geführt, die aus kreolischen Bevölkerungsgruppen kamen und nicht aus der Kolonisierten Bevölkerung. Die daraus hervorgegangenen Regime bildeten oligarchische Republiken heraus, die die Hierarchien und Rassismen der Kolonialgesellschaft nicht überwanden, sondern innerhalb der neuen Nation reproduzierten. 2. Nationalistische Phase: Der antikoloniale Kampf in Indien und in einigen früh dekolonialisierten Staaten Afrikas und des Nahen Ostens, wurde im Wesentlichen durch unterschiedliche nationalistische Strömungen geführt, die oft aus prekären Koalitionen zwischen eher liberalen, völkischen, sozialdemokratisch oder sogar religiös orientierten Flügeln bestanden. Die daraus hervorgegangenen Regime bildeten in pluralistischen Staaten entweder demokratische Mehrparteiensysteme (Indien) oder autoritäre Nationalstaaten, die vielfach wiederum andere Minderheiten unterdrück-

ten (z. B. Kurden im Irak und Syrien oder Tubu und Berber in Libyen). 3. Marxistische Phase: Die Antikolonialen Kämpfe der 1960er und1970er Jahre fanden bereits im globalen Kontext des Kalten Krieges bzw. des Systemkonflikts zwischen der Sowjetunion und den USA statt. Dies trug mit dazu bei, dass Gruppierungen, die gegen westliche Kolonialmächte rebellierten auf Unterstützung durch die Sowjetunion – in einigen Fällen auch durch die Volksrepublik China – zählen konnten, wenn diese sich in diesem Systemkonflikt entsprechend positionierten. Nicht allein aus dieser strategischen Überlegung heraus, sehr wohl aber auch deshalb nahmen viele der späten antikolonialen Bewegungen Afrikas oder etwa im Südjemen eine prosowjetische Haltung ein und definierten sich nicht nur als antikolonial sondern auch als marxistisch oder gar leninistisch. Die daraus hervorgegangenen Regime brachen nach dem Ende des Systemkonflikts entweder zusammen (Südjemen) oder machten eine graduelle Wandlung durch. Dieses Schema vereinfacht komplexe globale Entwicklungen und zu jeder dieser Phasen lassen sich Ausnahmebeispiele finden, die nicht in eine solche chronologische Abfolge passen würden. Diese Darstellung sollte trotzdem deutlich machen, dass die Entwicklung antikolonialer Bewegungen nicht nur mit lokalen bzw. regionalen Besonderheiten zu tun hat, sondern auch mit globalen politischen und ökonomischen Entwicklungen, die jeweils verschiedene politische Optionen ermöglicht oder eben verschlossen haben. Viele Antikolonialismen der zweiten und dritten Phase führten nach ihrem Erfolg zur Etablierung verschiedener Formen von regionalen Sozialismen (arabischer Sozialismus, afrikanischer Sozialismus, etc.), die andere antikoloniale Bewegungen unterstützten und sich gegen postkoloniale Verhältnisse wehrten. Insgesamt stellten antikoloniale Bewegungen aber auch in diesen verschiedenen Phasen oft sehr heterogene Bewegungen dar, die vielfach widersprüchliche Strömungen in sich vereinten oder zumindest für kurze Zeit zu gemeinsamem Agieren zusammenbrachten. Antikolonialismus konnte damit »gleichermaßen republikanische und sozialistische, aber auch konservative Züge haben.« Die »gemeinsame Erfahrung von Unterdrückung, Diskriminierung und Leid« führte »zu theoretisch ausgesprochen differenten Reaktionsbildungen« (Salzborn 2017: 80).

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25.5 Antikolonialismus heute Auch wenn heute keine großen Territorien mehr unter direkter Kolonialherrschaft europäischer Staaten stehen, so haben sich die Themen antikolonialer Bewegungen damit nicht automatisch erübrigt. Einerseits vertreten vor allem linke Bewegungen und Parteien des globalen Südens vielfach die These, dass viele sozialen und ökonomischen Probleme ihrer Staaten auf Nachwirkungen des Kolonialismus zurückzuführen sind. Ansätze der Dependenztheorie basieren hier auf früheren antikolonialen Strömungen und führen diese gewissermaßen als intellektuelle Strömung fort. Auch in der postkolonialen Theorie wurden manche Ansätze antikolonialer Bewegungen aufgegriffen. Allerdings wirken auch antikoloniale Bewegungen selbst bis heute in manchen Regionen fort. Indigene Bewegungen in den beiden Amerikas, wie die bolivianische Movimiento Indígena Pachakuti von Felipe Quispe, die Mapuche-Bewegung Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) in Chile oder der American Indian Movement (AIM) in den USA, sehen in der Unabhängigkeit der kreolischen Eliten im 18. und 19. Jahrhundert keine Dekolonialisierung und sehen sich weiterhin in einem antikolonialen Kampf. Im Falle der Mapuche wurde seit 2017 von der Resistencia Ancestral Mapuche (RAM) sogar ein bewaffneter Befreiungskampf begonnen, der explizit für die Befreiung des Mapuche Territoriums und eine eigene Mapuche Nation kämpft. In ihrem Gründungsmanifest von 2014 erklären sie den »Wiederaufbau und die Nationale Befreiung der Mapuche Nation« zum Ziel. Im Nahen Osten sehen sich Teile der kurdischen Nationalbewegung – insbesondere die von Abdullah Öcalan geführte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) – und viele palästinensische Bewegungen bis heute in einer politischen Tradition antikolonialer Bewegungen. Auch wenn heute – abgesehen vom Russischen Kolonialreich in Sibirien und im Nordkaukasus – nur noch wenige Territorien unter der Herrschaft der alten europäischen Kolonialmächte stehen, so gibt es doch noch immer kleinere französische und britische Überseegebiete. Während es in den verbliebenen vierzehn British Overseas Territories, wie die ehemaligen Kronkolonien heute bezeichnet werden, kaum antikoloniale Bewegungen gibt und man nur unter den Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre aus den Inseln des British Indian Ocean Territory (BIOT) vertriebenen Chagossianer bzw. Îlois, von denen viele seit damals um ihre Rückkehr kämpfen, antikolonialen

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Widerstand vorfindet, sind antikoloniale Bestrebungen in einigen französischen Überseegebieten deutlich stärker ausgeprägt. Auf dem französischen Überseegebiet Neukaledonien (Nouvelle-Calédonie) führte von 1975 bis 1988 die Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung (Front de libération nationale kanak et socialiste, FLNKS) einen bewaffneten antikolonialen Kampf, der mit einem Waffenstillstand und einer größeren Autonomie für die Inselregion im Südpazifik endete. Die FLNKS wandelte sich darauf zu einer politischen Partei, die ihren antikolonialen Kampf seither politisch weiterführt. Teil des damaligen Abkommens war auch, dass es 2018 eine Volksabstimmung über die völlige Unabhängigkeit der Region geben soll, die von den Befürworter/innen der Unabhängigkeit als Kanaky bezeichnet wird. In Tahiti kämpfte der von Pouvanaa a Oopa gegründete Rassemblement démocratique des populations tahitiennes (RDPT) bereits in den 1960er Jahren gegen die französische Kolonialherrschaft. Bei den Wahlen für das Parlament Französisch-Polynesiens erlangen Parteien, die für eine vollständige Entkolonialisierung Französisch-Polynesiens kämpfen regelmäßig sehr starke Ergebnisse. Andere französische Überseeterritorien weisen weit schwächere antikoloniale Bewegungen auf, allerdings greifen auch in Guadeloupe, Martinique und Réunion immer wieder soziale Bewegungen auf antikoloniale Argumentationen zurück. Das Thema der Entkolonialisierung ist damit auch im 21. Jahrhundert kein rein historisches. Antikoloniale Bewegungen kämpfen weiterhin in französischen Überseegebieten für die Dekolonisierung ihrer Regionen oder als indigene Bewegungen gegen die Fortsetzung kolonialer Verhältnisse durch jene Staaten, die sich in der ersten Phase antikolonialer Bewegungen durch kreolische Eliten von der spanischen und englischen Kolonialherrschaft befreit hatten. Literatur

Becker, Felicitas/Beez, Jigal (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika. 1905–1907. Berlin 2005. Blum, Volkmar: Hybridisierung von Unten. Nation und Gesellschaft im mittleren Andenraum. Berlin/Münster/ Wien 2001. Böckler, Carlos Guzmán: Donde enmudecen las conciencias. Crepúsculo y aurora en Guatemala. Mexico D. F. 1986. Casas, Bartolomé de las: Historia general de las Indias. Madrid 1875. Casas, Bartolomé de las: Brevísima relación de la destrucción de las Indias. Sevilla 1552.

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Thomas Schmidinger

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26 Feminismus Was bedeutet Feminismus heute? Die aktuelle gesellschaftspolitische Debatte um den Stellenwert und die Zukunft von Feminismus zeigt vor allem eines: Es gibt keine einheitliche Definition von Feminismus und der Begriff erscheint als eine normativ-politische Vokabel, die je nach Selbst- oder Fremdbeschreibung ganz unterschiedliche Assoziationen und Deutungsgehalte hervorruft. In der distanzierenden Fremdbeschreibung, wie sie aktuell nicht nur von rechtspopulistischer Seite formuliert wird, erscheint der Feminismus als ein längst obsolet gewordenes oder bereits gestorbenes gesellschaftspolitisches Projekt (vgl. Köttig u. a. 2017). Solchermaßen vereinheitlicht dient der Begriff vor allem einer polemischen Abwehrstrategie, welche die Akteur/innen feministischer Politik zugleich als ewig gestrig und ideologisch fehlgeleitet diffamiert. Auch die aktuellen Angriffe gegen die akademische Geschlechterforschung folgen unter dem Stichwort des ›Antigenderismus‹ einem ähnlichen Muster. Sie zielen auf Vereinheitlichung und Polarisierung und stellen die Wissenschaftlichkeit und die Wissensbestände der Geschlechterforschung grundsätzlich in Frage (vgl. Schmincke 2018, 32 f.). Angesichts der historischen Vielfalt und der bis heute bestehenden Kontroversität feministischer Ansätze und Projekte (von der lokalen bis zur globalen Ebene) können diese Formen der Attribuierung allenfalls als Ausdruck von stereotyper Vereinfachung angesehen werden. Zum Verständnis der historischen Entwicklung und des aktuellen Standes von Feminismus tragen sie nur insofern bei als sie das historische Wechselspiel von Feminismus und Antifeminismus erneut fortschreiben. Von Beginn an waren feministische Bewegungen und Reflexionen nicht nur antifeministischen Reaktionen ausgesetzt, sondern auch geprägt von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und politischen Handlungsstrategien. Vom Feminismus zu sprechen, heißt demnach grundsätzlich Pluralität zu denken und die Vielstimmigkeit und Kontroversität (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2001, 6) als ein konstitutives Definitionsmerkmal zu betonen. Auch auf der Ebene der Selbstbeschreibung von Feminismus und feministischen Projekten herrscht demnach keineswegs Einigkeit über den Begriff. Aufgrund der anhaltenden selbstreflexiven Erweiterung von feministischen Forschungsperspektiven kann, wie die britische Soziologin Sylvia Walby betont, weder von der Antiquiertheit des Feminismus (»Feminism is not dead«,

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Walby 2011, 1 ff.) noch sinnvollerweise von einer universell gültigen Bestimmung des Feminismus oder der feministischen Bewegung ausgegangen werden. Walby plädiert hingegen für eine inklusive Definition von Feminismus, welche alle Projekte und Denkströmungen einschließt, die dem Ziel der Geschlechtergleichheit und der Gleichstellung von Frauen auf der Grundlage der Transformation traditioneller Geschlechterbeziehungen verpflichtet sind (Walby 2011, 5). Etwas stärker auf die theoretische Ebene fokussiert, aber nicht weniger inklusiv, versteht auch die Soziologin Ute Gerhard, unter Feminismus nicht nur die »sozialen Bewegungen von Frauen« sondern vor allem »die politische Theorie, die [...] die Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse im Blick hat, also einen grundlegenden Wandel der sozialen und politischen Ordnung – auch in den intimsten und vertrautesten Verhältnissen der Geschlechter – anstrebt und gleichzeitig Deutungen und Argumente zu ihrer Kritik anbietet« (Gerhard 2018, 6 f.) Beide Definitionen verweisen bereits auf das historisch enge Verhältnis von feministischer politischer Bewegung und Theoriebildung und betonen den normativen gesellschaftskritischen und –transformativen Impetus feministischer Ansätze. Ausgehend von diesen Begriffsbestimmungen wird im Folgenden zunächst auf die aktuellen Forschungen zu den Herausforderungen und Problemen feministischer Narrative hingewiesen. Hier steht die Frage im Zentrum, wie sich die Geschichte feministischer Bewegungen und Theorien adäquat erfassen lässt, ohne die Pluralität aus dem Blick zu verlieren. Daran anschließend werden die historischen Entwicklungslinien und Verhältnisbestimmungen zwischen der ersten und zweiten Frauenbewegung als sozialen Bewegungen und den damit verbundenen feministischen Denkströmungen kursorisch nachgezeichnet, bevor dann auf die unterschiedlichen theoretischen Ansätze ausführlicher eingegangen wird. Erst auf dieser Grundlage soll abschließend die Ausgangsfrage nach dem heutigen Stellenwert und der Zukunft von Feminismus erneut aufgegriffen werden.

26.1 Feministische Narrative zu Frauen­ bewegung und Feminismus Die Frage, wie die Geschichte feministischer Theorie und Praxis zu fassen ist, welche zentralen Etappen, Entwicklungslinien und Denkströmungen für sie prägend sind, wird in der Geschlechterforschung in den

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letzten Jahre verstärkt thematisiert (vgl. Hark 2005; Hemmings 2011; Lenz 2010; McRobbie 2009). Weitgehende Einigkeit herrscht dabei zunächst darüber, dass die Geschichte der feministischen Bewegungen als eine herausragende Erfolgsgeschichte der Moderne zu bewerten ist (Lenz 2010, 12). Seit dem Beginn der ›ersten‹ Frauenbewegung Ende des 18. Jahrhunderts in den USA und Europa sind bis heute nicht nur zentrale Forderungen nach formaler politischer und rechtlicher Gleichstellung in weiten Teilen der Welt verwirklicht worden, sondern feministische Bewegungen und Diskurse haben unbestritten auch zu einem »fundamentalen Bewusstseinswandel« hin zu mehr Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit (Lenz 2010, 30) beigetragen. Umso erstaunlicher erscheint die in der Geschlechterforschung immer wieder artikulierte These von einer bis heute zu konstatierenden Verfallsgeschichte feministischer Bewegungen und Theoriebildungen. Die im Zuge der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre entstandene zweite Frauenbewegung sei, so eine gängige Lesart, ebenso wie die von ihr ausgehende feministische Theoriebildung, letztlich an den »eigenen Erfolgen gescheitert« (Hark 2005, 29). Diese These beruht auf einer verbreiteten Chronologie feministischer Bewegung und Theoriebildung, die von drei Phasen bzw. Wellen jeweils unterschiedlicher Verhältnisbestimmungen von feministischer Politik und Theoriebildung ausgeht. Sie reichen von der Begründung der ersten Frauenbewegung Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Konstituierung und Etablierung der zweiten feministischen Bewegung von Ende der 1960er bis Ende der 1990er Jahre, bis hin zum Niedergang feministischer sozialer Bewegungen in den 1990er Jahren bzw. in die aktuelle Phase postfeministischer globaler Fragmentierung (vgl. Walby 2011; Lenz 2010). Damit wird eine Geschichte feministischer Bewegungen akzentuiert, die von einer hochgradigen Mobilisierung und Politisierung der neuen/ zweiten Frauenbewegung als einer sozialen Bewegung in den 1970er Jahren ausgeht und die Auflösung der feministischen Bewegungen vor allem mit der Institutionalisierung frauen- und gleichstellungspolitischer Forderungen sowie einer damit einhergehenden Entpolitisierung von unten erklärt. Dieser verbreiteten Lesart der zweiten Frauenbewegung ist in jüngster Zeit allerdings vermehrt widersprochen worden. So weist Ilse Lenz für die »neue Frauenbewegung in Deutschland« darauf hin, dass gerade die Phase der Professionalisierung und institutionellen Integration

feministischer Forderungen bis zum Beginn der 1990er Jahre durchaus mit einer breiten sozialen und politischen Mobilisierung einherging (Lenz 2010, 23 ff.). Für die aktuelle Frauen- und Geschlechterpo­ litik widerspricht u. a. Sylvia Walby aus einer internationalen Perspektive der These einer postfeministischen Entpolitisierung bzw. eines Endes feministischer Bewegungen (Walby 2011, 52 ff.). Sie betont stattdessen die anhaltende Vielfalt feministischer Projekte innerhalb und außerhalb von politischen Institutionen und auf allen Ebenen der politischen Meinungs- und Entscheidungsbildung. Auf ähnliche Weise wie für die soziale Bewegungsforschung werden auch die gängigen Narrative und Kategorisierungen feministischer Theoriebildung und Forschungsentwicklung aktuell hinterfragt. Wie kann das komplexe Verhältnis von feministischer politischer Bewegung und professionalisierter akademischer Geschlechterforschung adäquat erfasst werden? Haben sich feministische Theoriebildungen und Forschungen, so lautet die zentrale Frage, tatsächlich von einer zunächst »unterkomplexen« essentialistischen Frauenforschung unter der »Dominanz des Politischen« (Holland-Cunz 2003a, 15) zu einer zunehmend professionalisierten und damit notwendigerweise entpolitisierten Geschlechterforschung entwickelt? Und, haben sich die institutionalisierte akademische Geschlechterforschung bzw. die etablierten Gender Studies heute ihres feministischen Erbes endgültig und notwendigerweise entledigt? (Hark 2005, 259; Jung 2016, 158 ff.). Die Beantwortung dieser Fragen hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Geschichte feministischer Wissenschaft und Theoriebildung tradiert wird und wie die selbstreflexive forschungspolitische Verortung innerhalb dieser Geschichtsschreibung jeweils erfolgt (vgl. Hemmings 2011). Feminismus bleibt damit auch innerhalb der gegenwärtigen geschlechtertheoretischen und wissenschaftlichen Debatte ein ›umkämpftes Terrain‹. Die eigene Standortbestimmung, sei sie einem dezidiert herrschaftskritischemanzipatorischen Anspruch verpflichtet oder auch nicht, kann damit immer auch als eine politische Positionierung im Rahmen kontroverser Narrative gesehen werden kann (Jung 2016, 163 ff.). Eine trennscharfe Differenzierung zwischen Feminismus und Geschlechterforschung erscheint angesichts der anhaltenden Deutungsvielfalt kaum möglich. Eines bleibt allerdings für die Bestimmung feministischer Theorien und Praxen grundlegend: ihr herrschaftskritischer und emanzipatorisch-politischer Anspruch (vgl. auch Althoff/Apel 2017, 3 f.).

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26.2 Uneingelöste Moderne – Entstehung und Entwicklung der ersten und zweiten Frauenbewegung Die Entstehung der »ersten« Frauenbewegung kann als Teil eines seit der Frührenaissance entstehenden gesellschaftlichen und politischen Emanzipationsprozesses gesehen werden (vgl. Gerhard 2018; HollandCunz 2003). Im Zuge der Aufklärung und der französischen Revolution traten erstmals, zunächst in Frankreich, England, den USA und ab den 1830er Jahren auch in Deutschland, Frauen vor allem aus dem sich entwickelnden Bürgertum mit politischen Forderungen an die Öffentlichkeit. Sie reklamierten die universalistischen Versprechen der aufgeklärten Moderne nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität auch für Frauen und forderten neben dem Recht auf Bildung und verbesserten Arbeitsbedingungen bzw. Erwerbsmöglichkeiten vor allem die politische Gleichstellung und umfassende rechtliche Gleichstellung. In ihrer bahnbrechenden Schrift Déclaration des droits de la femme setzte sich etwa die französische Schriftstellerin Olympe de Goughes 1791 für die Anwendung der Menschen- und Bürgerrechte für Frauen ein und proklamierte gleiche Rechte in Privatsphäre und Öffentlichkeit. Was die Forderungen nach einer rechtlichen und politischen Gleichstellung von Frauen angeht, so kann bereits die erste Frauenbewegung als eine international vernetzte Bewegung aufgefasst werden. Ihr größter Erfolg lag neben der Entwicklung eines »neuen feministischen Bewusstseins« (Gerhard 2017, 48) im erfolgreichen Kampf um die Einführung des Frauenwahlrechts. Mit ihren Forderungen machten die Aktivistinnen der ersten Frauenbewegung auf zwei zentrale Widersprüche der sich entwickelnden modernen bürgerlichen Gesellschafts- und Geschlechterordnung aufmerksam: Erstens auf den fundamentalen Widerspruch zwischen dem universell gültigen individualistisch begründeten Befreiungs-und Emanzipationsversprechen der Moderne und der gleichzeitigen Legitimation des Ausschlusses von Frauen; zweitens auf den Widerspruch zwischen einer naturalistisch legitimierten neuen bürgerlichen Geschlechterordnung als gesellschaftlicher Norm und der sozialen und gesellschaftlichen Lebensrealität der überwiegenden Mehrheit von Frauen. Von Beginn an stand die Frauenbewegung damit »in der Tradition von Aufklärungs- und Befreiungsbewegungen« und hat gleichzeitig »erheblich zur Des-

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illusionierung der Konzepte von Aufklärung, Befreiung, Fortschritt usw. beigetragen.« (Klinger 1998, 244)

Bereits innerhalb der ersten Frauenbewegung gab es unterschiedliche Strömungen und Zielsetzungen. Sie kann historisch betrachtet nicht als eine homogene soziale Bewegung gesehen werden. Vielmehr unterschieden sich die frauenpolitischen Positionen und Forderungen zwischen der konservativ-bürgerlichen Frauenbewegung, wie sie u. a. von Louise Otto Peters, Gertrud Bäumer, Helene Lange oder Marianne Weber vertreten wurden, deutlich von den radikal-bürgerlichen Ansätzen, u. a vertreten von Hedwig Dohm, Anita Augspurg oder Helene Stöcker, oder von sozialistischen Emanzipationsansätzen, wie sie prominent von August Bebel, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg oder auch Ottilie Baader und Lily Braun erhoben wurden. Hier zeigten sich bereits die unterschiedlichen theoriegeschichtlichen Bezüge und Denkströmungen, die für weitere feministische Theoriebildung im Zuge der zweiten Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre bestimmend wurden: Liberalismus, Kommunismus und Sozialismus als die zentralen Fortschrittsund Emanzipationserzählungen der Moderne (Klinger 1998). Über das Ziel nach formalrechtlicher Gleichstellung hinausgehend formierte sich seit Ende der 1960er Jahre die ›zweite‹ Frauenbewegung als eine neue soziale Bewegung. Im Rahmen von Bürgerrechts- und linken Protestbewegungen zunächst in den USA und dann in Westeuropa erfolgte eine radikale Kritik an den nach wie vor bestehenden geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Die Initialzündung für die Entwicklung einer autonomen Frauenbewegung ging in Westdeutschland von einem ›legendären Tomatenwurf‹ gegen die als ignorant empfundenen männlichen Mitglieder auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes im September 1968 aus (Gerhard 2018, 111; Holland-Cunz 2003, 139 ff.). In ihrer Grundsatzrede hatte Helke Sander auf das besondere Ausbeutungsverhältnis von Frauen hingewiesen und die geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung auch innerhalb der linken Studentenbewegung angeprangert. In der Folge gründeten sich autonome Frauengruppen und sogenannte ›Weiberräte‹, die zunächst weitgehend im studentischen Milieu verhaftet blieben. Erst mit der nach französischem Vorbild initiierten Kampagne für die Streichung des § 218 StGB (Abtreibungsverbot) entwickelte sich die Frauenbewegung ab Anfang der 1970er Jahre zu einer breiteren sozialen Bewe-

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III Denkströmungen – D Moderne

gung. Unter dem von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung propagierten Slogan ›das Private ist politisch‹ wurde die bestehende strukturelle Benachteiligung von Frauen, die geschlechtsspezifische Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit und die herrschenden Geschlechterhierarchien und -zuschreibungen eingehender feministischer Kritik unterzogen. Auch die zweite Frauenbewegung muss als eine internationale Bewegung verstanden werden und war von Beginn an von unterschiedlichen Strömungen geprägt (Gerhard 2018; Lenz 2010). Zu differenzieren sind hier grob vereinfacht, drei zentrale Ansätze, die jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Emanzipationsvorstellungen verfolgten: der sozialistische Feminismus, der liberale Gleichheitsfeminismus sowie der radikale Differenzfeminismus (vgl. Lenz 2010, 357 ff.). Die zentrale Gemeinsamkeit bestand zunächst in der Kritik an der strukturellen Benachteiligung von Frauen und der bewussten Gründung von autonomen feministischen Gegenöffentlichkeiten als neue Form der politischen und intellektuellen Selbstverständigung (Holland-Cunz 2003, 141 ff.). Bis Anfang der 1980er Jahre differenzierte sich die feministische Bewegung weiter aus und erreichte mit dem Aufgreifen von zentralen Forderungen (Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sexuelle Selbstbestimmung, gleicher Lohn für gleicher Arbeit, gleiche Teilhabechancen ...) durch Parteien und Verbände sowie mit der Institutionalisierung von Frauenförderung und Gleichstellungspolitiken einen beachtlichen politischen Erfolg. Die Etablierung der universitären Frauen-und Geschlechterforschung seit Mitte der 1980er Jahre führte nicht nur, wie Sabine Hark treffend formuliert hat, zu einem grundlegenden feminist turn der Wissenschaft – einer kritischen Infragestellung des vorherrschenden, androzentrischen Wissenschaftsverständnisses (vgl. Althoff/ Apel/Bereswill 2017, 40 ff.). Sie brachte darüber hinaus einen »academic turn« feministischer Wissenschaft und Theoriebildung (Hark 2005, 12 ff.) mit sich. Auf letzteren wird im Folgenden näher eingegangen.

26.3 Gleichheit, Differenz und Differenzen – Entwicklung und Stand femi­ nistischer Theoriedebatten Den gemeinsamen Ausgangspunkt für feministische Theoriebildungen, wie sie sich seit Mitte der 1970er Jahre im Anschluss an die Frauenbewegung entwickelten, bildete die Kritik am Androzentrismus der modernen Geschlechterordnung und damit an einer

naturalistischen Begründung hierarchischer Geschlechterverhältnisse. In ihrem bereits 1949 erschienenen Werk Le deuxième sexe (dt.: Das andere Geschlecht, 1968) formulierte die französische Philosophin Simone de Beauvoir den wohl bis heute meist zitierten Satz feministischer Reflexion: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« (Beauvoir 1968, 265). Gegen die vorherrschenden biologistischen Begründungen von Weiblichkeit und weiblicher Geschlechterrolle vertrat sie die These einer historischen und sozialen Konstruktion von Geschlecht. Das soziale Geschlecht, die geschlechtlichen Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, werden demzufolge nicht einfach als Ausdruck biologischer Unterschiede sondern als historisch konstituierte und damit veränderbare gesellschaftliche Normen begriffen. Die in der Folge u. a. von Ann Oackley und Gayle Rubin weiter ausgeführte Unterscheidung von biologischem Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht bzw. der sozialen Geschlechtsidentität (gender) bleibt für die feministische Theoriebildung bis heute grundlegend (Kerner 2007, 6 f.). Ideengeschichtliche Androzentrismuskritik Von dieser Prämisse ausgehend konzentrierten sich feministische Forschungen zunächst auf die kritische Analyse der ideengeschichtlichen Traditionsbestände des westlichen Denkens. Seit Ende der 1970er Jahre bildet die kritische Dekonstruktion der politischen Ideengeschichte, wie die Philosophin Cornelia Klinger hervorgehoben hat, die notwendige Voraussetzung für feministische Rekonstruktionen innerhalb der politischen Theorie (Klinger 1986). Aus feministischer Sicht stellt sich dabei immer wieder die Frage nach der Geschlechtsblindheit und vermeintlichen Geschlechtsneutralität zentraler Konzepte und Kategorien in der politischen Ideengeschichte sowie der Konzeptualisierung von Geschlechterdifferenzen und der damit verbundenen Legitimation maskulinistischer Konzepte politischer Herrschaft. Grundkategorien wie Staat, Politik, Macht, Herrschaft, Freiheit oder Gleichheit werden auf ihren ausschließenden Charakter hin befragt und androzentrische Muster innerhalb der politischen Theorien aufgedeckt. Als kontinuierliche Legitimationsmuster für die Inferiorität des Weiblichen und den Ausschluss von Frauen aus Öffentlichkeit und Politik innerhalb des philosophisch-politischen Denkens von der Antike bis zur Neuzeit konnten in wesentlichen drei immer wiederkehrende stereotype Deutungen herausgearbeitet

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werden: erstens die Begründung der Geschlechterhierarchie mithilfe einer imaginierten biologischen Differenz; zweitens die daraus abgeleitete Einschätzung, dass sich Frauen als Frauen aufgrund ihrer Natur außerhalb des politischen Raums bewegen, der weibliche Lebenszusammenhang wird dementsprechend nicht als Bestandteil der öffentlichen bzw. politischen Sphäre begriffen und schließlich drittens die fortwährende Imagination einer ›natürlichen‹ Überlegenheit des Mannes, der zum Inbegriff des Menschlichen verallgemeinert wird. Das Politische und das Männliche werden somit als identisch gedacht und konstituieren sich durch den Ausschluss von Frauen (Benhabib/Nicholson 1987, 513 ff.). Über die Analyse von ideengeschichtlichen Kontinuitätslinien hinaus beschäftigten sich die feministische Ideengeschichtsforschungen seit Mitte der 1980er Jahre verstärkt mit Veränderungen, Brüchen und Widersprüchen insbesondere in den neuzeitlichen und modernen politischen Theorien (vgl. hierzu insbesondere die von Nancy Tuana hg. Reihe »Re-reading the Canon«, Penn State Press 1994 ff.) So standen nicht mehr nur die expliziten ideengeschichtlichen Äußerungen über Frauen und Weiblichkeit, sondern vielmehr die Verhältnisbestimmungen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Zentrum. Dabei wurde die These von einer überzeitlich und universell wirkenden patriarchalen Ordnung als zu vereinfachend zurückgewiesen und die Perspektive auf Wandel und Veränderungen gelenkt. Beispielhaft für diese Herangehensweise sei hier die Studie von Carole Pateman The Sexual Contract (1988) hervorgehoben. Pateman wandte sich in ihrer Analyse über die neuzeitlichen Vertragstheorien gegen die bis dahin verbreitete feministische These einer überzeitlichen universellen Gültigkeit patriarchaler Geschlechterordnung. Sie hält dieser Sichtweise die These von der Besonderheit der Begründung eines neuzeitlichen Patriarchats entgegen. Die moderne bürgerliche Gesellschaft sei keine klassisch-patriarchal, das heißt väterlich organisierte Gesellschaft, sondern gerade als eine Gesellschaft der rebellierenden Söhne gegen die väterlichen Autoritäten entstanden. Die Söhne schließen sich demzufolge gegen eine patriarchale Begründung der Vorrangstellung des Vaters und der väterlichen Herrschaft als Brüder zusammen. Der Gesellschaftsvertrag der freien und gleichen, männlichen Bürger sei jedoch mit einem Geschlechtervertrag verkoppelt. Letzterer begründe die Herrschaft von Männern über Frauen und zwar in doppelter Hinsicht: Er sichere zum einen »men’s political right over women« (Pateman 1988, 2)

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und zum anderen garantiere er die Herrschaft der Männer über die Körper der Frauen. Der moderne, bürgerliche Begriff des Individuums sei somit keineswegs geschlechtsneutral, sondern erhebe männliche Vorstellungen zum Maßstab. Über den scheinbar neutralen Begriff des Vertrages, so lautete Patemans Fazit, konstituiere sich die moderne bürgerliche Gesellschaft durch die geschlechtsspezifische Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Diese beruhe auf dem Widerspruch zwischen dem vertragstheoretischen Postulat universeller Freiheit als individueller Autonomie und der Realität geschlechtsspezifischer Unterordnung und Herrschaft. Dem neuzeitlichen Vertragsdenken seien damit die Unterdrückung von Frauen und ihre Ausgrenzung von den postulierten Idealen von Freiheit und Gleichheit immanent. Die für die feministische Theoriebildung zentrale Frage nach möglichen Anknüpfungen und Rekonzeptualisierungen beantwortete Pateman eindeutig negativ. Feministische Theoriebildung setze vielmehr die vollständige Ablehnung des neuzeitlichen Vertragsdenkens voraus – eine These, die innerhalb der feministischen Theoriedebatte überaus kontrovers diskutiert worden ist. Gleichheits- und Differenzfeminismus Bestand über die Notwendigkeit einer umfassenden Androzentrismuskritik weitgehende Einigkeit, so differenzierte sich die feministische Theoriebildung insbesondere über die Frage nach der jeweiligen Verortung innerhalb der bestehenden politischen Theorietraditionen und deren Anschlussfähigkeit bereits seit Anfang der 1970er Jahre aus. Prägend wirkten zunächst gleichheits- und differenztheoretische Ansätze, die in sich keineswegs einheitlich waren (Maihofer 1998, 155 ff.). Aus gleichheitstheoretischer Perspektive, wie sie bereits von Simone de Beauvoir vertreten worden war, geht es vor allem um die kritische Auseinandersetzung mit dem liberalen und marxistischen bzw. sozialistischen Denken. Für liberale Gleichheitsfeministinnen sind die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern vor allem aus der traditionell-hierarchischen gesellschaftlichen Rollenzuschreibung und aus der androzentrischen Vereinseitigung der universalistisch gültigen Ideen von individueller Freiheit und Gleichheit zu erklären. Der Ausschluss von Frauen wird als ein grundlegender innerer Widerspruch liberalen Denkens kritisiert. Feministische Theoriebildung bedeutet demzufolge die geschlechtsneutrale

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Vervollständigung des Liberalismus. Die zentralen Kategorien liberalen Denkens, wie Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung werden als normative und universell gültige Grundlagen feministischer Theorie reformuliert (vgl. List 1989, 18 f., Eisenstein 1981). Daraus folgt ein Emanzipationsverständnis, das auf die Inklusion von Frauen und ihre formalrechtliche Gleichstellung in Gesellschaft und Politik setzt. Für marxistische bzw. sozialistische Theorieansätze reicht dieses degendering zentraler Kategorien liberaler politischer Theorie nicht aus. Sie betonen vielmehr den »ungebrochenen Patriarchalismus« (List 1989, 17) liberalen Denkens und kritisieren die immanente geschlechtsspezifische Trennung von Privatheit und Politik. Die bereits von August Bebel und Clara Zetkin konstatierte doppelte Unterdrückung von Frauen in der Familie und im Produktionsprozess bildete den Ausgangspunkt für eine bis heute anhaltende feministische Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie bzw. mit den herrschafts- und gesellschaftskritischen Ansätzen im Rahmen der kritischen Theorie. Eine Befreiung von Frauen erscheint aus Sicht marxistisch-feministischer Theorieansätze nur durch eine radikale Veränderung der bestehenden Ordnung und die Vergesellschaftung von Produktion und Reproduktion überhaupt möglich. Die zentrale Frage nach der genauen Verhältnisbestimmung von kapitalistischer und patriarchaler Unterdrückung wurde von Beginn an überaus kontrovers diskutiert. Bemerkenswert ist, dass die in der aktuellen Debatte um Intersektionalität (s. u.) immer wieder angemahnte ›Relationalität‹ von Geschlecht und sozialer Klasse die feministische Auseinandersetzung um mögliche Erweiterungen marxistischer und sozialistischer Theorieansätze durchgängig bestimmte – auch wenn die geschlechtsspezifische Unterordnung zunächst weitgehend als der materiellen Ausbeutung nachgeordnet verstanden wurde (vgl. Becker-Schmidt/Knapp, 2001, 47 ff.; Klinger 1998, 179 f.). Weiterführend in der Debatte um Geschlecht als sozialer Strukturkategorie ist hier die von Regina Becker-Schmidt formulierte These der »doppelten Vergesellschaftung des weiblichen Geschlechts« (Becker-Schmidt 1985). Der aus gleichheitsfeministischer Perspektive vertretenen These einer möglichen Anschlussfähigkeit und Reformulierung (jeweils spezifischer) politischer Theorietraditionen stellen differenzfeministische Theorieansätze das Postulat einer konsequenten Abgrenzung entgegen. Ausgehend von der fundamentalen Abwertung und Unterordnung von Frauen und Weiblichkeit betonen sie die Notwendigkeit einer

selbstbestimmten Reartikulation der Geschlechterdifferenz bzw. die Aufwertung der weiblichen Geschlechtsidentität und spezifisch weiblicher Lebenszusammenhänge (vgl. u. a. aus der Perspektive eines gynozentrischen Feminismus Daly 1980 oder aus Sicht einer differenzfeministischen Ethik Gilligan 1982). Trotz aller Unterschiede in Bezug auf die Begründung und Erklärung der Geschlechterdifferenz als kulturell oder biologisch fundiert besteht die zentrale Gemeinsamkeit differenztheoretischer Ansätze in der Forderung nach einer positiven Neubestimmung von Weiblichkeit und eines spezifisch weiblichen Subjektstatus (regendering). Dementsprechend bedeutet Emanzipation hier nicht egalitäre geschlechtsneutrale Inklusion von Frauen, sondern vielmehr »die gesellschaftliche Anerkennung der sexuellen Differenz« (Maihofer 1998, 162). Damit verbunden wurde u. a. die Forderung nach einem geschlechtsdifferenzierten Recht (vgl. Irigaray 1990). Sowohl gleichheits- als auch differenztheoretische Theorieansätze sind innerhalb der feministischen Debatte eingehender Kritik unterzogen worden. Dabei wurde vor allem auf die Gefahren von »Ontologisierung, Essentialisierung und Homogenisierung« verwiesen (ebd., 173 f.). So leiste die differenztheoretische Aufwertung der Geschlechterdifferenz letztlich einer Fortschreibung und Verfestigung traditioneller Rollenzuschreibungen und essentialistischer Identitätskonstruktionen Vorschub, während gleichheitsfeministische Ansätze vor dem Dilemma einer einseitigen Anpassung von Frauen an androzentrische Normierungen stünden. Auf je unterschiedliche Weise, so lautete die zentrale Kritik, gründen gleichheits- und differenzfeministische Ansätze damit auf der Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit der Lebens- und Erfahrungswelten bzw. der geteilten Diskriminierungserfahrungen und daraus abzuleitenden Interessengleichheit von Frauen. Feministische Dekonstruktion und Pluralisierung Bereits seit Mitte der 1970er Jahre sind solchermaßen vereinheitlichende bzw. essentialistische Bestimmungen der Kategorie Geschlecht im Rahmen der internationalen Frauenbewegung grundlegend hinterfragt worden. Pointiert zum Ausdruck gebracht wurde diese Grundsatzkritik durch die Frage »Ain’t I a Woman?«, ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes Zitat der schwarzen Frauenrechtlerin und ehemaligen Sklavin Sojourner Truth. Hiermit machten schwarze Feministinnen auf den ausschließenden Begriff von

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der Frau bzw. auf das hegemoniale Verständnis von »globaler Schwesternschaft« (global sisterhood) aufmerksam. Der feministische Ungleichheitsdiskurs, so lautete die zentrale Kritik, sei geprägt von den Erfahrungen weißer, gut gebildeter Mittelschichtsfeministinnen, die andere Ungleichheits- und Unterdrückungserfahrungen konsequent ausblendeten oder als vernachlässigbar marginalisierten (vgl. Degele/ Winker 2009, 11 ff.; hooks 2015). Von dieser Kritik ausgehend entwickelte sich ab Mitte der 1980er Jahre eine geschlechtertheoretische Debatte, in der die Differenzen zwischen Frauen (und zwischen Männern) stärker in den Vordergrund gerückt werden. Aus poststrukturalistischer Perspektive erfolgte eine Neubestimmung auf der Grundlage eines entnaturalisierten Verständnisses des körperlichen Geschlechts (sex) eine Neubestimmung des Verhältnisses von sex und gender. Die grundsätzliche Frage, wie die Geschlechterdifferenz aus feministischer Perspektive dekonstruiert werden kann, ohne dabei einer Essentialisierung und Homogenisierung Vorschub zu leisten, ist insbesondere von der amerikanischen Historikerin Joan W. Scott methodisch ausdifferenziert worden. Der Gefahr einer fortgesetzten Perpetuierung essentialistisch begründeter Geschlechtsidentitäten auch innerhalb der feministischen Forschung lasse sich nur durch eine genaue Analyse der jeweiligen historischen Bedingungen geschlechtlicher Differenzierung begegnen. Hierbei muss, Scott zufolge, von drei zentralen erkenntnistheoretischen Prämissen ausgegangen werden: erstens von der Nichtvoraussetzung einer ahistorischen Begriffs binärer Geschlechtsidentitäten, zweitens von der grundlegenden Annahme, dass die Kategorien Frau/Mann immer als Normierungsideale fungieren und folglich nicht einfach als Ausdruck empirischer Realität aufzufassen sind und drittens von der Prämisse der inneren Differenz und Widersprüchlichkeit kultureller Normen und Rollenzuschreibungen (Scott 2001, 41 ff.). Davon ausgehend wird Geschlecht als ein konstitutives Element von gesellschaftlichen Beziehungen und als wesentlicher Ausdruck von historisch veränderbaren Machtbeziehungen begriffen, welche von inneren Widersprüchlichkeiten ebenso geprägt sind wie von normierenden Begrenzungen und Ausschlüssen (Scott 1994). Für feministische Analysen bedeutet dies eine jeweils spezifische Analyse und Deutung von historisch genau zu kontextualisierenden Einzelfällen. Die grundsätzliche Infragestellung eines essentialistischen Verständnisses von Geschlechtsidentität bildet

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auch für die amerikanische Rhetorikprofessorin Judith Butler den Ausgangspunkt ihrer bahnbrechenden Kritik und Neubestimmung feministischer Theorie. In ihrem 1990 erschienenen Werk Gender Trouble (dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) tritt sie für eine konsequente Entnaturalisierung von Geschlecht und Geschlechtsidentität ein. Butler zufolge greift die Annahme eines ahistorischen, universell gültigen patriarchalen Unterdrückungsdiskurses zu kurz, weil dadurch die bestehenden Ungleichheitslagen zwischen Frauen verdeckt werden. Zudem sei »nicht davon auszugehen, dass es notwendigerweise eine Gemeinsamkeit zwischen Frauen gibt, die ihrer Unterdrückung vorausgeht« (Butler 1991, 19). In Anlehnung an Foucault und in Auseinandersetzung mit den Theorieansätzen von Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Monique Wittig wendet sich Butler gegen eine biologistische Fundierung von Geschlecht und Geschlechtsidentität. Der bis dahin vorherrschenden Unterscheidung von einem natürlichen, biologischen Geschlecht (sex) und einer sozialen Geschlechterrolle (gender) stellt sie die Auffassung entgegen, dass es keine ›natürliche‹ biologische Fundierung des Geschlechts gibt. Geschlecht bzw. geschlechtliche Identität ist demnach nicht einfach naturgegeben, sondern wird in historischen und gesellschaftlichen Kontexten diskursiv hervorgebracht. Die biologische und die soziale Geschlechterdifferenz erscheinen folglich gleichermaßen als ein Effekt des normierenden Diskurses über das Geschlecht und als Ausdruck der vorherrschenden binären Geschlechterordnung. Geschlechtliche Identifizierung, wie Butler wiederum in Übereinstimmung mit Foucault ausführt, erfolgt performativ, das heißt als eine fortlaufende Wiederholung und Zitation diskursiv erzeugter Normen. Damit stellt Butler die Materialität des Körpers oder die anatomischen Geschlechtsunterschiede nicht in Frage. Sie kritisiert vielmehr ihre als vorgängig vorausgesetzte ›Natürlichkeit‹ und geht von einer diskursiven und historischen Materialisierung des körperlichen Geschlechts aus – in Butlers Worten: »dass das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist« (Butler 1991, 26). Schon mit dem ersten Blick auf den Körper und dem Satz ›Es ist ein Mädchen‹ bzw. ›Es ist ein Junge‹ wird demzufolge die soziale Geschlechterordnung hergestellt, die Butler als eine moderne zwangsheterosexuelle Ordnung begreift. Die Ausbildung ›intelligibler Geschlechtsidentitäten‹ setzt damit innere Kohärenz von biologischem Geschlecht, sozialer Geschlechterrolle und sexuellem Begehren als notwendig voraus. Die Zuschreibung der biologischen

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Geschlechtszugehörigkeit Frau/Mann bedeutet folglich die Ausbildung einer weiblichen/männlichen Geschlechtsidentität und damit einer heterosexuellen Begehrensstruktur. Erst durch diese binäre Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter bzw. durch ihre Subjektivierung im Rahmen der heteronormativen Ordnung werden Frauen und Männern zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft. Die zweigeschlechtliche Ordnung konstituiert sich demnach in ihrer ›vermeintlichen Natürlichkeit‹ als ein sozial konstruiertes Macht- und Herrschaftsverhältnis, dem der Ausschluss und die Diskriminierung von als ›widernatürlich‹ verworfenen geschlechtlichen Identitäten, wie Homo-, Bi-, Inter- und/oder Transsexualität, eingeschrieben sind. Die moderne Gesellschaft erweist sich folglich als eine fortlaufend diskursiv hervorgebrachte regulierende und normierende Ordnung. In der sprachlich-diskursiven Konstituierung des Subjekts und Notwendigkeit der ständigen Wiederholung von geschlechtlicher Subjektivierung und Identitätsbildung sieht Butler zugleich den Raum für politische Handlungsfähigkeit. Sie verortet damit das »Politische gerade in jenen Bezeichnungspraxen [...] durch die Identität gestiftet, reguliert und dereguliert wird« (Butler 1991, 216). In diesem Sinne gelte es die zwangsheterosexuelle Ordnungsstruktur durch »performative Subversion und Reterritorialisierung« – genauer gesagt durch parodistische Umkehrung, Verschiebung und Wiederaneignung zu durchkreuzen (Butler 1991, 209 ff.). Für ihre dekonstruktive Lesart der Kategorie Geschlecht ist Judith Butler innerhalb der feministischen Forschung vehement kritisiert worden. Wie kann von individueller Handlungsfähigkeit gesprochen werden, wenn sich das Subjekt als Effekt diskursiv hervorgebrachter Macht- und Herrschaftsverhältnisse konstituiere? Und, werde mit der Infragestellung von essentialistischen Identitätskategorien nicht jede Form feministischer Identitätspolitik und kollektiver politischer Handlungsfähigkeit verunmöglicht (vgl.zu dieser Debatte Benhabib/Butler/Cornell/Fraser 1993)? Was bedeuten demnach die Ent-Essentialisierung und Enthomogenisierung der Kategorie Geschlecht für feministische und emanzipative Politiken? Wegweisend für die weitere Debatte wurde in dieser Hinsicht das von Gayatri Chakravorty Spivak formulierte Konzept des ›strategischen Essentialismus‹, das von einer strategisch notwendigen Artikulation vereinheitlichter Interessenpolitik ausgeht – allerdings auf der Grundlage fortwährend neu zu konstituierender fragiler Bündnisse einer Vielzahl von differenten Akteur/in-

nen und einer anhaltenden Reflexion damit unweigerlich verbundener Ausschlüsse und Hierarchisierungen (vgl. Spivak 1984/85). Trotz aller Kritik bildete Judith Butlers »poststrukturalistische Verunsicherung der Kategorie Geschlecht« (Sauer 2015, 35) den Ausgangspunkt für eine bis heute andauernde Pluralisierung und Ausdifferenzierung geschlechtertheoretischer/feministischer Ansätze. Zu nennen sind hier insbesondere die Queer Theory, die Männlichkeitsforschung, die Intersektionalitätsforschung und postkoloniale feministische Theorien. Dabei ist die Frage, »wer gehört aufgrund welcher Eigenschaften« zu sozial unterdrückten und marginalisierten Gruppen von zentraler Bedeutung (Degele/Winker 2009, 11). Die unterschiedlichen Machtbeziehungen und Hierarchisierungen zwischen und innerhalb der Geschlechter werden damit verstärkt in den Blick genommen. So greifen queertheoretische Ansätze Butlers Kritik an einer naturalistischen Begründung heteronormativer Identitätszuschreibungen auf und fordern die Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Sinne einer »VerUneindeutigung und Destabilisierung« binär strukturierter »Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse« (Engel 2002, 14 f.). Demokratisierung bedeutet in diesem Sinne die Aufhebung von Hierarchisierung und Ausschluss in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie die ständige Infragestellung und Kritik von sexueller und geschlechtlicher Normierung und Normalisierung. Mit dem von Robert Connell entwickelten Konzept der »hegemonialen Männlichkeit« analysiert die Männlichkeitsforschung (Connell 1999, 97 ff.) die historische und soziale Konstruktion von »männlichen Dominanzverhältnissen« gegenüber Frauen und auch zwischen Männern. In der bestehenden Geschlechterhierarchie setzt sich demnach eine »patriarchale Dividende« fort. Gleichzeitig konstituiert sich »hegemoniale Männlichkeit« durch die Ab- und Ausgrenzung von gesellschaftlich untergeordneten Männlichkeiten. »Es gibt schließlich«, so Robert Connell, »auch schwarze Schwule und effeminierte Fabrikarbeiter, Vergewaltiger aus der Mittelschicht und bürgerliche Transvestiten« (ebd.). Erst aus einer »relationalen Betrachtungsweise« kann demnach die Vielfalt der Geschlechterverhältnisse adäquat erfasst werden und eine vereinheitlichende Sicht auf die hegemonial männliche Geschlechternorm vermieden werden. Für die gegenwärtige Debatte um Intersektionalität ist die Frage nach den zentralen Dimensionen sozialer Ungleichheit und ihren Wechselwirkungen zentral.

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Erstmals formuliert wurde das Konzept von der USamerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw, die am Beispiel der Arbeits- und Gewalterfahrungen schwarzer Frauen deutlich machte, dass »intragroup differences«, die Differenzen zwischen Frauen, in juristischen Entscheidungen nur ungenügend berücksichtigt worden sind (Crenshaw 1989, 139 ff.). Im Rahmen des US-amerikanischen Entstehungskontextes sind im Hinblick auf die Mehrdi­ mensionalität von sozialer Ungleichheit vor allem die Strukturkategorien race, class und gender problematisiert worden (der engl. Begriff race wird in der deutschsprachigen Debatte zumeist als Rasse/Ethnie übersetzt und auf die Problematik der deutschen Begriffsverwendung verwiesen). Fragen von Differenz und Ungleichheit werden sowohl innerhalb der jeweiligen Kategorien analysiert als auch die Wechselwirkungen zwischen den Kategorien verdeutlicht. Nach Leslie McCall lassen sich methodologisch drei Ansätze intersektionaler Analysen unterscheiden: anti-kategoriale Ansätze, die aus dekonstruktivistischer und poststrukturalistischer Perspektive die Kategorien selbst als Ausdruck von diskursiven Machtverhältnissen hinterfragen; intra-kategoriale Zugänge, die die Differenzen und Differenzierungen innerhalb einer Kategorie problematisieren; und schließlich inter-kategoriale Ansätze, die Verhältnisbestimmungen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Kategorien analysieren (McCall 2001). Im Rahmen des Theoriekonzeptes der Intersektionalität soll demnach ein differenziertes Verständnis der Mehrdimensionalität von Ungleichheit gewonnen und die Gefahr einer Privilegierung und Hierarchisierung von bestimmten Ungleichheiten vermieden werden (Degele/Winker 2009, 15 ff.). Damit ist »das umfassende Programm einer integralen Analyse strukturierter Ungleichheit und kultureller Differenz« anvisiert (Klinger/Knapp 2007, 34). Die zentrale Frage allerdings, wie der propagierte Anspruch gesellschaftstheoretisch und methodisch einzulösen ist, wird bis heute kontrovers diskutiert. Dabei geht es nicht nur darum, welche und wie viele Kategorien auf welche Weise Berücksichtigung finden sollen, sondern vor allem auch um die Problematik, wie die Überschneidungen und Wechselwirkungen der einzelnen Kategorien zu erfassen sind (ebd.). Hiermit ist die Verhältnisbestimmung von gesellschaftstheoretischer Begründung und empirischer Analyse angesprochen. Ohne eine gesellschaftstheoretische Fundierung sehen Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp die Intersektionalitätsforschung entweder ei-

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ner analytischen Überforderung oder einer kontigenten Auswahl und Zuordnung von immer neuen Kategorien von Ungleichheit und Differenz ausgesetzt (Klinger/Knapp 2007, 37 ff.). Sie plädieren deshalb dafür, zunächst die Kategorien »Klasse, Rasse und Geschlecht« als grundlegende Strukturkategorien gesellschaftstheoretisch zu bestimmen und ihre Wechselwirkungen zu verdeutlichen. Erst auf dieser Grundlage erscheint ihnen eine weitergehende Analyse von jeweils spezifischen weiteren Kategorien von Ungleichheit und Differenz sinnvoll. Für eine Mehrebenenanalyse von Intersektionalität schlagen Degele/ Winker vor, die Mikroebene der individuellen Identitätsbildung mit der Meso- und Makroebene gesellschaftlicher Sozialstrukturen und symbolischer Repräsentationen in Relation zu setzen. Während es für die Analyse von individuellen Diskriminierungserfahrungen methodisch um ein »induktives Offenhalten von Kategorien« ginge, gelte es für die Analyse von Herrschaftsverhältnissen auf der Struktur- und Repräsentationsebene von vier zentralen Strukturkategorien auszugehen: Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper (Degele/Winker 2009, 141 f.). Damit verbinden sie in ihrem ›praxeologischen Intersektionalitätsansatz‹ eine gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse struktureller Herrschaftsverhältnisse mit der empirischen Realität von vielfach widersprüchlichen und vielfältigen individuellen Identitätsbildungen und Diskriminierungserfahrungen. Die mit Intersektionalität verbundene verstärkte Sensibilisierung für die Mehrdimensionalität und Komplexität von Ungleichheit und Diskriminierung bedeutet demnach keineswegs die Aufhebung der Kategorie Geschlecht als einer zentralen Strukturkategorie von Ungleichheit, sondern verweist auf die Notwendigkeit einer differenzierten und fortgesetzten Reflexion von hegemonialen Hierarchisierungen und Ausgrenzungen. In der postkolonialen feministischen Theorie wird die komplexe Wechselwirkung von Geschlecht, Klasse und race einer vertieften Analyse unterzogen. Anknüpfend an die Studien postkolonialer Theorie von Edward Said und Stuart Hall steht die Kritik an den ethnozentrischen Engführungen westlicher feministischer Theoriebildung im Vordergrund (vgl. Kerner 2012, 64 ff.). Neben der grundlegenden Dekonstruktion eines vermeintlich universell gültigen Begriffs der (westlichen) Moderne und des Feminismus problematisieren feministische Theoretikerinnen, wie Chandra Talpade Mohanty und Gayatri Chakravorty Spivak, vor allem die (post-)koloniale Differenzsetzung von hegemonial-westlichen und marginalisier-

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ten nicht-westlichen Identitätszuschreibungen und Subjektpositionen. Für Mohanty ist »der westliche Feminismus«, trotz aller Vielfalt, durch einen »ethnozentrischen Universalismus« (Mohanty 2003, 19) geprägt. Dieser gründe auf einer impliziten diskursiven Homogenisierung und Viktimisierung von »DritteWelt-Frauen«, die vereinheitlichend als machtlose, abhängige und unterdrückte Opfer männlicher Herrschaftsverhältnisse wahrgenommen würden. Erst durch diese diskursive Fremdrepräsentation von »Frauen in der dritten Welt« konstituiere sich die Selbstrepräsentation des westlichen Feminismus als fortschrittlich, säkular und emanzipatorisch (Mohanty 2003, 41). Damit reproduzierten westliche Feministinnen die koloniale Differenzsetzung zwischen Nord und Süd bzw. zwischen der westlichen Moderne und dem zu modernisierenden globalen Süden. Gegen eine Fortschreibung kolonialer Denkmuster unter feministischen Vorzeichen fordert Mohanty radikal kontextualisierte Analysen, in denen es auf der Grundlage eines multiplen Begriffs von Moderne zunächst um die Perspektive und Selbstwahrnehmung von sozial marginalisierten Gruppen von Frauen geht. Anders als Mohanty geht Spivak in ihrer dekonstruktivistischen Lesart nicht von einer möglichen authentischen Selbstrepräsentation marginalisierter, subalterner Gruppen aus. In ihrem für die postkoloniale feministische Theorie zentralen Essay Can the subaltern speak (dt. 2008) nimmt sie eine grundlegende Kritik an den globalen postkolonialen Machtverhältnissen vor, die es subalternen Gruppen verunmöglichten sich Gehör zu verschaffen bzw. sich selbst erfolgreich zu repräsentieren. Hieraus leitet Spivak die Forderung nach transkultureller Verständigung unter Aufgabe privilegierter Positionierungen ab (vgl. Spivak 1998, 2008). Die Dekolonisierung von Geschlecht beinhaltet dementsprechend eine fortgesetzte Kritik an bestehenden globalen Machtverhältnissen und privilegierten Standpunkten sowie den damit einhergehenden hierarchisierenden Selbstund Fremdzuschreibungen. Damit bedeutet die Dekonstruktion postkolonialer Geschlechterverhältnisse die Infragestellung jeder Form von Homogenisierung und Privilegierung zugunsten einer radikalen Kontextualisierung, Historisierung und Pluralisierung (vgl. Kerner 2012, 97 ff.). In diesem Sinne konkretisieren und erweitern postkoloniale Theorieansätze die grundlegenden feministischen Kritiken an den bestehenden geschlechtsspezifischen Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnissen und den damit verbundenen Diskriminierungen. Mit ihrer um-

fassenden Problematisierung der ethnozentrischen Engführungen des ›westlichen Feminismus‹ schreiben sie die fortgesetzte Ausdifferenzierung feministischer Kritik und Theoriebildung fort. Ob damit allerdings die Aufgabe universalistischer feministischer Forderungen oder gar die Verabschiedung der normativen Grundlagen der westlichen feministischen Theoriebildung unweigerlich verbunden ist, erscheint mehr als fraglich. Als normative Maßstäbe feministischer Kritik bleiben die Gleichstellung der Geschlechter und gleiche gesellschaftliche und politische Teilhabechancen in allen gesellschaftlichen und politischen Kontexten grundlegend. Die notwendige Generierung (kontext-)spezifischen Wissens über die Pluralität von Geschlechterverhältnissen sollte nicht in eine kulturrelativistische Infragestellung universell gültiger feministischer Forderungen münden. Die Notwendigkeit transkultureller Verständigung und die anhaltende Kritik an jeder Form geschlechtsspezifischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse kann vielmehr als gemeinsame Grundlage feministischer Theoriebildung und Politik verstanden und fortgeschrieben werden. In diesem Sinne bedeutet die zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung feministischer Ansätze einen Erkenntniszugewinn und markiert eben nicht das Ende des Feminismus.

26.4 Fazit und Ausblick Auf der Grundlage der hier kursorisch wiedergegebenen Pluralität feministischer Bewegungen und Theorieansätze kann Feminismus vor allem als ein gesellschafts- und herrschaftskritisches emanzipatorisches Projekt charakterisiert werden. Die umfassende Kritik an den androzentrischen Vereinseitigungen der aufgeklärten Moderne und dem damit verbundenen Ausschluss von Frauen aus Öffentlichkeit und Politik bildete den zentralen Ausgangspunkt für die Begründung der feministischen Bewegung und Theoriebildung. Feminismus, das bedeutete von Beginn an nicht nur die gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen, sondern auch die selbstreflexive Debatte innerhalb einer Vielzahl von politischen Strömungen und kontroversen theoretischen Ansätzen. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Ansätze ist die Analysekategorie Geschlecht als soziale Strukturkategorie gesellschaftlicher Ungleichheit keineswegs obsolet, sondern vielmehr genauer ausgeleuchtet worden. Die konsequente Entna-

26 Feminismus

turalisierung von Geschlecht (sex und gender) hat in der politischen Theoriedebatte zu einer differenzierten Infragestellung binär strukturierter Geschlechterhierarchien und zu vertieften kontextabhängigen und intersektionalen Analysen von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten geführt. Die Produktivität feministischer Theoriebildung zeigt sich dabei in der fortgesetzten (selbst-)reflexiven Auseinandersetzung über ihre zentralen Analysekategorien und gesellschaftstheoretischen Grundlagen. Die eingangs aufgeworfene Frage, ob Feminismus heute als theoretisches und politisches Projekt in die (Ideen-)Geschichte zu verabschieden ist, lässt sich klar verneinen. Nicht nur die aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten über (Alltags-)Sexismus und Machtmissbrauch (#metoo, #aufschrei) bestätigen dies. Auch die weiterhin bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in Bezug auf gesellschaftliche, ökonomische und politischen Teilhabe zeigen, dass das grundlegende Ziel von Feminismus – die Verwirklichung von Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit – auch heute noch nicht erreicht ist. Das Verhältnis von feministischer Theorie und Politik kann sicherlich nicht mehr mit dem »früheren Anspruch direkter politischer Intervention« (Althoff 2017, 440) bestimmt werden. Allerdings bleibt der gesellschafts- und herrschaftskritische normative Anspruch feministischer Wissenschaft auf eine enge Verbindung mit der politischen Praxis angewiesen. Dazu gehört neben der fortgesetzten Reflexion des Verhältnisses von wissenschaftlicher Erkenntnis und emanzipatorischer Politik auch die weitere Auseinandersetzung mit den Engführungen feministischer Forschung im Rahmen von jeweils spezifischen gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten. Gerade in jüngster Zeit ist auf mögliche neoliberale Vereinnahmungen institutionalisierter Geschlechterforschung und die Gefahr postfeministischer Entpolitisierung verstärkt hingewiesen worden (Fraser 2013; Gill 2017). Der Verweis auf die zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung feministischer Forschungs- und Theorieansätze reicht für eine nach wie vor notwendige feministische Politik gegen herrschende Diskriminierungen und Stereotypisierungen nicht aus. Hier gilt es aus der Geschichte des Feminismus insofern zu lernen als erfolgreiches politisches Handeln ein Mindestmaß an Solidarität und gemeinsamer Interessenartikulation voraussetzt.

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Beate Rosenzweig

27  Nationalismus und Antisemitismus

27 Nationalismus und Antisemi­ tismus 27.1 Nationalismus und Antisemitismus als ideengeschichtliches Paar Das Vorhaben, einen ideengeschichtlichen Überblick über Nationalismus und Antisemitismus zu schreiben, bedarf einer klärenden Vorbemerkung, die zugleich schon eine Einleitung in die zu besprechenden Phänomene ist. Nationalismus ist ein höchst ambivalentes Phänomen, das historisch in stark variierenden Formen in Erscheinung getreten ist. Zu seiner Erklärung bedarf es sowohl sozial- wie kulturgeschichtlicher Faktoren sowie subjektiver und politisch-ideologischer Dimensionen. Wegen der stark divergierenden Bedeutungsgehalte des Nationalismus und unterschiedlichen Konnotationen hat sich in der Forschung kaum eine einheitliche Begriffsdefinition herausgebildet. Es gilt jedoch als weitgehend unstrittig, dass der Bezug auf ›Staat‹ und ›Nation‹ zentrale Eckpunkte von Nationalismus sind (vgl. Salzborn 2011) und Nationalismus der Legitimation moderner politischer Herrschaft sowie der »Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt)« dient (Wehler 2001, 13). Der »Nationalstaat mit einer möglichst homogenen Nation« ist zentrales Ziel des Nationalismus (ebd.). Unter Nationalismus können antikoloniale Auseinandersetzungen, nationale Befreiungsbewegungen und der Widerstand gegen ein auswärtiges Besatzungsregime, Kritik der Europäischen Union, Formen des »Nationalismus des Südens«, die sich in der abhängigen Peripherie des kapitalistischen Weltsystems regen (Löwy 1999, 137 ff.), oder der protektionistische Schutz nationaler Wirtschaftsstrukturen und Märkte gefasst werden. Des Weiteren kann Nationalismus völkisch-rassistische Gewalt gegen Minderheiten sowie diskriminierende Ausschlüsse von Menschen umfassen, die als der Nation nicht zugehörig erachtet werden. Alle diese verschiedenen Phänomene sind unterschiedlich zu bewerten, was die Definition der Bezeichnung ›Nationalismus‹ zudem noch erschwert. Phänomenen der Unterdrückung im Namen der Nation stehen Phänomene der Befreiung im Namen der Nation entgegen, was die politischideologische Ambivalenz und »Janusköpfigkeit des Nationalismus« (Nairn 1978) grundsätzlich ausdrückt. Für die ideengeschichtliche Rekonstruktion ist sowohl der historische Wandel, dem der Nationa-

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lismus unterworfen ist, von Bedeutung als auch der Tatbestand seiner philosophischen Dürftigkeit und Widersprüchlichkeit, die stark mit seiner Wirkungsmächtigkeit kontrastiert. Dies hat der Politikwissenschaftler Benedict Anderson wie folgt auf den Punkt gebracht: »nationalism has never produced its own grand thinkers: no Hobbeses, Tocquevilles, Marxes, or Webers« (Anderson 1983, 8). Die Geschichte des Antisemitismus sowie dessen (zeitgenössische) Ausprägungen ist ebenso komplex und wird durch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und analytische Zugänge beforscht; auch hier gibt es divergierende Begriffsdefinitionen und konkurrierende theoretische Ansätze. Dennoch kann Antisemitismus als eine Weltanschauung, Ideologie und »Machtkommunikation« (Holz 2001, 41) aufgefasst werden, die Juden/Jüdinnen, das Judentum oder das Jüdische als fremd und/oder Feind im Innern und Außen bestimmt. Antisemitismus drückt sich gesellschaftlich etwa in Mythen, Folklore, Erzählungen, Ikonografien und individuell in Haltungen und Einstellungen aus, die auf Ausgrenzung, Ausschluss und/oder die physische Vernichtung abzielen. Schon der vorwiegend religiös begründete Antijudaismus, der spätestens seit der Spätantike aufkam, legitimierte die wirtschaftliche, gesellschaftliche und rechtliche Schlechterstellung, Isolierung und Vertreibung von Juden/Jüdinnen. Die Vorgehensweise, beide Phänomene in ihrer Ideengeschichte eng aufeinander zu beziehen, ist keine notwendige und lässt ein anderes Bild von Nationalismus entstehen, als dies beispielsweise die Schwerpunktsetzung auf das Verhältnis von Nationalismus und Aufklärung täte. Die nationalistischen Bewegungen und entstehenden Nationalstaaten in Europa begründeten sich nicht nur durch konstruierte äußere, sondern auch durch ›innere Feinde‹, zu denen insbesondere Juden/Jüdinnen erklärt wurden. Die Emanzipation und Integration der jüdischen Minderheiten in die Gesellschaften Europas, die antisemitischen Bewegungen, die unterschiedlichen Ausprägungen des Nationalismus sowie die Herausbildung der Nationalstaaten hingen über einen langen Zeitraum immer wieder zusammen (vgl. Salzborn 2015a, 89 ff.; Holz 2001, 12 ff.; Mosse 1999, 15). Im Folgenden gehen wir weitgehend chronologisch auf verschiedene Epochen und unterschiedliche Regionen ein, in denen sich antisemitische und nationalistische Vorstellungen und Bewegungen miteinander verbanden und sich teilweise verstärkten.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_27

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III Denkströmungen – D Moderne

27.2 Die Entstehung des spanischen Nationalismus im Kontext von Rassismus und Antisemitismus Am Beispiel der Herausbildung der spanischen Nation zeigt sich, wie eng nationalistische Bestrebungen, eine homogene Gesellschaft zu etablieren, mit Rassismus und Antisemitismus zusammenhängen. Die Etablierung einer nationalen, spanisch-katholischen Gemeinschaft basierte auf einer Verschränkung von Rassismus und Antisemitismus, die Juden/Jüdinnen aus der Gesellschaft ausgrenzte und ausschloss. Die Wiedereroberung der iberischen Halbinsel durch die Kräfte der christlichen Königreiche fand 1492, während der Herrschaft von Königin Isabel I. de Castilla (1451–1504), ihren offiziellen Abschluss. Zuvor hatte die iberische Halbinsel mehrere Jahrhunderte unter dem Einfluss der islamisch-maurischen Herrschaft gestanden. Schon vor Ende der sogenannten ›Reconquista‹, der Wiederherstellung der territorialen Einheit unter dem Banner des Katholizismus, kam es zur schrittweisen Rekatholisierung der Bevölkerung, in der zuvor die jüdische, muslimische und christliche Kultur koexistiert hatten. Die politische Neuordnung sah nun neben der Ausweisung der 80 bis 100.000 Juden/Jüdinnen (1492) und Mauren/ Maurinnen (1502) aus Spanien die Zwangskonversion der Verbliebenen vor. Schon vor Abschluss der Reconquista wurden Juden/Jüdinnen zur Konversion gedrängt, weswegen sich zahlreiche auf der iberischen Halbinsel lebende Juden/Jüdinnen schon weit vor 1492 taufen ließen. Die jüdischen Neuchristen hielten teilweise heimlich an ihrem jüdischen Glauben fest und gaben sich nur nach außen hin als zum Christentum Konvertierte. Die vermeintlich oder tatsächlich ›verborgenen Juden‹ wurden verächtlich auch ›marranos‹ (Marranen) genannt und waren mit dem Verdacht konfrontiert, weiter heimlich ihren Glauben auszuüben. In der Exil- und Diasporageschichte des Judentums wurde der Marrane eine bedeutende Figur, die später auch Antisemiten als beliebte Metapher diente (vgl. Poliakov 1981). Der Konversionszwang sowie die Vertreibung nicht konversionswilliger kulturell-religiöser Minderheiten hatte eine kulturelle Homogenisierung nach innen zur Folge und ging mit der Herausbildung einer spanischen-nationalen Identität einher, die stark an den Katholizismus gebunden war. Diese begann sich nun in dem durch die Union der Königreiche Kastilien und Aragon vereinheitlichten politischen Territorium zu etablieren. Der Philosoph

Étienne Balibar stellt die Verschränkung der Entstehung der spanischen Nation und der Unterdrückung religiöser Minderheiten fest: »Die Verfolgung der Juden nach der Reconquista, ein unerläßlicher Hebel für die Erhebung des Katholizismus zur Staatsreligion, ist auch ein Hinweis auf die ›multinationale‹ Kultur, gegen die sich die Hispanisierung (oder besser: Kastilianisierung) richtet.« (Balibar 1992a, 251)

Die ›cristianos viejos‹ (die sog. Altchristen) versuchten zugleich die kulturell-religiösen Differenzen aufrechtzuerhalten, die sich durch Taufe und Konversion der ehemaligen Juden/Jüdinnen einzuebnen drohten. Als Reaktion auf die Konversionen führten die ›cristianos viejos‹, die ihre Privilegien bedroht sahen und die Konkurrenz der aufstrebenden ›conversos‹ fürchteten, eine neue diskriminierende Regelung ein: Mittels des Nachweises der sogenannten ›limpieza de sangre‹ (›Reinheit des Blutes‹) sollten »angesichts der unsicher gewordenen Kriterien der Zugehörigkeit zum Christentum« Spuren des Judentums aufgespürt werden, um die ›Reinheit‹ und Einheit der spanischkatholischen Nation zu gewährleisten und das ›Unreine‹ auszuschließen (Geulen 2011, 34). Zur Ausübung öffentlicher und kirchlicher Ämter und zum Zugang in anerkannte Institutionen war dieser genealogische Nachweis, der die ›Reinheit‹ des christlichen Blutes bestätigte, teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein erforderlich. Aus der Bestrebung, die katholische Lehre ›rein‹ zu halten, wurde so die Forderung der ›Reinheit des Blutes‹, die Frage der Abstammung verwandelte sich zur zentralen Kategorie von Zugehörigkeit. Es kam zu einer »Transponierung des theologischen Antijudaismus im Spanien der Reconquista in eine auf der ›Reinheit des Blutes‹ basierende genealogische Ausgrenzung, zu einer Zeit, als sich die raza anschickte, die Neue Welt zu erobern« (Balibar 1992b, 67, Herv. i. Orig.). Der Begriff der ›Rasse‹ wurde im frühneuzeitlichen Spanien der (post-)Reconquista zum ersten Mal auf Menschen angewendet, und zwar zur Kennzeichnung der auszugrenzenden jüdischen und maurischen Minderheit im Spanien (vgl. Geulen 2011, 32 ff.). Der Schritt von einem rein religiös motivierten Antijudaismus hin zu einem auf dem Rasse- und Blutgedanken fußenden Antisemitismus, wie er sich später in der Geschichte des modernen Antisemitismus durchsetzte, war in der frühneuzeitlichen Herausbildung der spanischen Nationen, dem »Prototyp des

27  Nationalismus und Antisemitismus

europäischen Nationalismus« (Balibar 1992a, 251), bereits vorweggenommen.

27.3 Aufklärung, Französische Revolution und nationalistisch-antisemitische Bewegungen in Europa Der Antisemitismus war eine Bewegung gegen jene Formen des Nationalismus und der nationalen Integration, die Juden/Jüdinnen als kulturell-religiöse Minderheit gleichberechtigt in die Gesellschaft integrieren wollten. Zuvor schon in verschiedenen historischen und sozialen Kontexten verwendet, beginnt der Begriff der Nation mit der Französischen Revolution zu einem bedeutenden Bestandteil des politischen Imaginären zu werden. Er wird zur Grundlage der politischen Ideologie des Nationalismus, in der die Nation zum zentralen Bezugspunkt der Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat wird. ›Nationalisme‹ wurde als neues Wort und neue Vorstellung geprägt, und zwar erstmalig 1789 in den Memoires pour servir a l’histoire du Jacobinisme des in England exilierten antijakobinischen Priesters Augustin Barruel, der ›Nationalismus‹ in negativer Hinsicht verwendete. Barruel sah im Nationalismus gefährliches revolutionäres Potenzial und kritisierte ihn als Ausdruck des Freimaurertums, der Aufklärung und des Egoismus (vgl. Kamenka 1986, 592 f.). Im geistesgeschichtlichen Kontext der Aufklärungsphilosophie wie der Französischen Revolution wurde ein republikanisches Konzept der Staatsbürgernation entwickelt, in dem die Nation als politische Willensgemeinschaft begründet und dem dynastischen Prinzip der Monarchie entgegengestellt wurde. Dieser revolutionäre Gehalt der Nation steht in der Tradition des politischen Denkens Jean-Jacques Rousseaus, der mit seiner Konzeption der ›volonté générale‹ das Volk zum Grunde der politischen Autorität erhob. Das Konzept der Volkssouveränität ist die Basis des politischen Nationenkonzepts, das die Übereinstimmung von Territorium, Staat und Volk als administrative, demokratisch-republikanische Entität vorsah, wie sie 1789 von Abbé Sieyès in der Flugschrift Qu’est-ce que le tiers état? (Was ist der Dritte Stand?) bestimmt wurde. Er definierte die Nation als »Einheit von Individuen, die von einem Gesetz regiert und von derselben gesetzgebenden Versammlung repräsentiert werden« (Sieyès 1789/1988, 34). Sowohl die Ideen der Aufklärung als auch das Ideal des säkularen Staates beeinflussten europaweit die He-

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rausbildung der modernen Staatlichkeit und stellten wichtige Voraussetzungen für die rechtliche, politische und gesellschaftliche Gleichstellung von Juden/ Jüdinnen mit den übrigen Staatsbürgern dar (vgl. Volkov 2000a, 5 ff.). Die rechtliche Gleichstellung deutscher Staatsbürger sollte unabhängig von ihrem Glauben sein. Juden sollten gleichgestellte Staatsbürger werden und nicht weiter rechtlichen Diskriminierungen unterworfen sein, wie es in den frühneuzeitlichen Staaten der Fall gewesen war. Die rechtliche Emanzipation der Juden zielte auf die Befreiung aus der diskriminierenden Rechtslage sowie auf politische und wirtschaftliche Freiheiten (wie etwa Wahlrecht, Niederlassungs- und Gewerbefreiheit); wobei jüdische Frauen – wie andere Frauen auch – andere Erfahrungen machten als jüdische Männer (vgl. Schüler-Springorum 2014, 50–109). Frauen hatten kein Wahlrecht und waren u. a. aus der Gesetzgebung, Verwaltung und politischen Repräsentation ausgeschlossen (vgl. Planert 1998, 24). Die politische Durchsetzung der Integration fand – zumindest im Deutschen Reich – in einer Phase wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche und Krisen statt, verstärkte antisemitische Bewegungen und beförderte so zugleich die gesellschaftliche Exklusion von Juden/Jüdinnen (vgl. Erb/Bergmann 1989, 7 ff.). Antisemitische Gegner/innen der rechtlichen Emanzipation kämpften gegen die Ideen der Aufklärung, wie das Postulat der Gleichheit und die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte. Sie wandten sich gegen den Individualismus und die »Zerstörung traditioneller Ordnungen« und wollten die »ausschließlich christliche Natur aller gesellschaftlichen und politischen Institutionen« beibehalten (Engels 2007, 83). ›Die Juden‹ verkörperten für sie das Prinzip der Gleichheit und den menschenrechtlichen Universalismus, sie wurden als »Nutznießer« der neuen sozialen und kapitalistischen Ordnung diffamiert (vgl. Diner 2015, 273). Die europäischen Bewegungen gegen die »Verbesserung der Rechtsstellung« und gesellschaftliche Zugehörigkeit von Juden drückte sich in den gewalttätigen Ausschreitungen im Sommer und Herbst 1819 aus, den sogenannten Hep-Hep Unruhen (Erb/Bergmann 1989, 251). Sie waren der »handgreifliche Ausdruck der Ablehnung« einer Emanzipation von Juden (Rohrbacher 1999, 42). Die antijüdischen Krawalle, die im Deutschen Staatenbund ihren Ausgang nahmen, überzogen ganz Europa und ereigneten sich in zahlreichen Städten, darunter Würzburg, Bayreuth, Regensburg, Frankfurt a. M., Hamburg, Prag, Krakau, Wien, Danzig, Kopenhagen, Helsinki und Amster-

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dam. Konkret richteten sich die Angriffe etwa gegen die dort ansässige jüdische Bevölkerung, deren Wohnungen, Häuser, Geschäfte, Warenbestände, aber auch Synagogen. Die Trägerschichten waren besonders Handwerker, Kleinbürger und der gewerbliche Mittelstand, die den sozialen Aufstieg, die wirtschaftliche Konkurrenz und rechtliche Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit ablehnten (vgl. Bein 1980, 158 ff.). Aber auch die nationalistisch gesinnten Gebildeten grenzten sich von ›den Juden‹ ab und sahen sie als »Fremde in der eigenen Mitte« der bürgerlichen Gesellschaft, die für sie mit der nationalen Gemeinschaft in eins fiel (Rohrbacher 1999, 37). Christlichnationale Akteure sprachen ›den Juden‹ kollektiv die Fähigkeit und den Willen ab, sich in die jeweiligen Gesellschaften Europas integrieren zu können, Bekenntnisse und Selbstidentifikationen seitens der Juden/Jüdinnen selbst übergingen sie dabei. Vielmehr behaupteten sie, Juden würden nationale Verpflichtungen und Werte wie Wehrpflicht, Loyalität und die Anerkennung der Nation nicht erfüllen (vgl. Erb/Bergmann 1989, 8). Doch nicht nur in Mitteleuropa, auch in Osteuropa, so z. B. im Königreich Rumänien, wandte sich die Bevölkerung gegen die Einbürgerung und Integration der Juden. In Bukarest fanden 1866 Demonstrationen statt, die von Plünderungen im jüdischen Viertel begleitet waren, wobei auch die neue Synagoge zerstört wurde. Einzig Personen mit christlicher Religionszugehörigkeit sollten rumänische Staatsbürger werden und Bodeneigentum erwerben können. Juden galten als gefährliche Feinde des Staates und Gefahr für die rumänische Wirtschaft (vgl. Hausleitner 2008, 292). Im westeuropäischen Königreich Großbritannien konnte im 19. Jahrhundert keine dezidiert antisemitische Bewegung größere Bedeutung erlangen, dennoch wollten reaktionäre Akteure den christlichen Staat vor vermeintlich gottlosen Juden ›schützen‹, während Liberale forderten, dass Juden/Jüdinnen ihre jüdische Kultur und Traditionen aufgeben sollten. Auch hier wurden Juden »als ein negatives Ferment für die Nation wahrgenommen« (Terwey 2010, 70). Im nordeuropäischen Norwegen verbot Artikel 2 der Verfassung von 1814 Juden einen Aufenthalt im Land. Es hieß »Juden sind ferner vom Zugang ins Reich ausgeschlossen«. Dieser Satz wurde, nach mehrjähriger Debatte, erst 1851 gestrichen. 1910 lebten in Norwegen etwa nur 1000 Juden/Jüdinnen.

27.4 Deutsch-nationale Reaktionen auf die Französische Revolution und die Entwicklung des ›völkischen Natio­ nalismus‹ Jenseits des Rheins, auf dem Gebiet der deutschen Staaten, haben von der (Früh-)Romantik inspirierte Schriftsteller und Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Johann Gottfried Herder (1744– 1803) und Johann Georg Hamann (1730–1788) schon vor der Französischen Revolution ein zur Aufklärungsphilosophie entgegengesetztes, alternatives Konzept der Nation geprägt. Nation wurde hier als Organismus gedacht und das Individuum als dessen untergeordneter Teil. Später hat jenes Konzept in der Reaktion auf die Revolutionsprozesse und vor allem als Reaktion auf die Expansion des französischen Modells unter Napoleon seine Weiterentwicklung erfahren, so bei Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg (Novalis), Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher und bei Friedrich Karl von Savigny (vgl. Kamenka 1986, 594). Herder störte sich an der vermeintlichen kulturellen Vorherrschaft der Franzosen und forderte aus jener imaginierten Bedrohungssituation heraus Schutz für die deutsche Kultur und die Förderung der deutschen Tradition und Sprache. Für Herder ist das Volk eine natürliche und organische Einheit, die vor-politisch und vor jeglicher politischen Organisation und Gemeinwesen existiert. Er schuf den Begriff des ›Volksgeistes‹, der eine romantisch-organizistische Vorstellung von Volk bzw. der Nation zum Ausdruck bringt, und der später auch jenseits des deutschen Nationalismus eine bedeutende Rolle spielte. Der Volksgeist impliziert eine ursprüngliche, natürliche und auf Abstammung beruhende kulturelle und politische Gemeinschaft und behauptet eine »kollektive, mit Sprache, Seele und Charakter begabte Individualität« (vgl. Brunner/Conze/Koselleck 1992, 150). Die politische Form der staatlichen Organisation habe sich dieser organisch-kulturellen Entität anzupassen: »[D]er natürlichste Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter. Jahrtausende lang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden: denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen.« (Herder 1989, 369, Schreibweise i. Orig)

Während die Gründung des politischen Gemeinwesens im westlich-aufklärerischen Modell durch den

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politischen Willen gekennzeichnet ist, wurde sie in der völkischen Ausprägung des deutschen Nationalismus naturalisiert oder in eine mythische Vorzeit verlegt. Die Nation erscheint hier organologisch als homogener ›Volkskörper‹, der Einzelne nicht als Individuum, sondern als Teil des Gesamtkörpers. Dieses Konzept steht dem einer ›civic nation‹ entgegen, wie es die in Frankreich wirkmächtig gewordene republikanische Variante vorsieht. Ihr zufolge wurde die französische Nationalität mit der französischen Staatsangehörigkeit weitestgehend gleichgesetzt. Die französische Staatsbürgerschaft war zu jener Zeit lediglich Männern vorbehalten. »Ethnische Zugehörigkeit, Geschichte, Sprache oder der in der Familie gesprochene Patois [war] für die Definition der ›Nation‹ ohne Bedeutung« (Hobsbawm 1991, 106). Die ethnisch-ontologisierende Konzeption einer ethnic nation hat hingegen, beeinflusst von der Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung, auch im gesamteuropäischen Rahmen weitere Ausprägungen der mystischen Verklärung von Volk und/oder Nation hervorgebracht. Die deutsche Romantik lässt sich freilich nicht auf diese ethnizistischen Ideologeme reduzieren, die durch antijüdische Töne geprägt waren, wurde doch die für die Romantik wichtige Salonkultur auch von jüdischen Protagonistinnen betrieben. Die Ambivalenzen im Kontext der Romantik zeigen sich an den Integrations- und Assimilationsbestrebungen der »deutschen Jüdin aus der Romantik« Rahel Varnhagen, deren Leben Hannah Arendt eine ausführliche Studie widmete (Arendt 1959). In Deutschland spielte die Romantik seit den Anfängen des deutschen Nationalismus in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts eine prägende Rolle. Sie bildete sich im Kontext der napoleonischen Besatzung heraus, als der deutsche Nationalismus unter dem Einfluss Ernst Moritz Arndts (1769–1860) und des ›Turnvaters‹ Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) einen aggressiveren Grundton erhielt. Jahn, Initiator der nationalistischen Turnbewegung, der ebenfalls Einfluss auf die entstehende Burschenschaftsbewegung hatte, propagierte in Deutsches Volksthum (1810) in feindlicher Abgrenzung zu Frankreich ein deutsches Nationalbewusstsein. Jahn sprach ausfällig und an zahlreichen Stellen gegen die »Ausländerei« (325), die es zu verbannen gelte, wenn die deutsche Kultur nicht »volkstumlos« werden wolle. Diese Akteure gingen weit über Herders Konzeptionen hinaus und führten deutsches Überlegenheitsdenken und Hasstiraden gegen Kosmopolitismus und »jüdischen Internationalismus« in das nationalistische Denken ein.

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Arndt integrierte in Geist der Zeit von 1813 zugleich auch religiöse Erweckungsmotive in das nationalistische Denken und trat als »dichtender Nationalprediger und selbsternannter Prophet einer erneuerten Religion« auf, für den der Kampf um die Befreiung vom französischen Joch »untrennbar mit einer religiösen Erneuerung verbunden« war (Berghoff 2001, 183). Der Einsatz von Blut könne die Schande abwaschen und die Ehre erwecken. Arndt propagierte einen einmütigen Einsatz im Verbund mit Gott und gegen die Franzosen: »Zusammen! Zusammen! für Recht und Freiheit! für Gott und das Volk! zu den Waffen! zu den Waffen! gegen die Wälschen, die Franzosen, die Tyrannen« (Arndt 1813, 430 f.). Das deutsche Überlegenheitsdenken erfuhr auch in Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808), die im Hass auf die napoleonischen Invasoren geschrieben wurden, ihren Ausdruck. Die deutsche Nation sei die beste, vielleicht sogar die einzige Nation: »[U]nter allen neueren Völkern [seid] ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt, und denen der Vorschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen ist. Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zu Grunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesammten Menschengeschlechts auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zu Grunde.« (Fichte 1808/1846, 498, Schreibweise i. Orig.)

Das deutschnationale Überlegenheitsnarrativ, das die ›deutsche Nation‹ in der internationalen Konfliktsituation aufwertete, war wiederum mit antisemitischem Denken, Fühlen und Handeln verbunden. Insgesamt waren die Lebensbedingungen für Juden/ Jüdinnen in den einzelnen deutschen Staaten unterschiedlich. Nicht nur im Zuge der Revolution von 1848 wurden Gleichstellungsgesetze und Verordnungen eingeführt und in den 1850er Jahren weitgehend wieder zurückgenommen. Erst mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurden die diskriminierenden Gesetze gegenüber der jüdischen Minderheit im gesamten Staatsgebiet aufgehoben und Juden gleichberechtigte Staatsbürger (vgl. Volkov 2000a, 41 ff.). Unmittelbar nach der Reichsgründung wurden deutsche Juden/Jüdinnen erneut Ziel antisemitischer Kampagnen, die durch den Börsenkrach 1873 verstärkt wurden. Antisemit/innen machten Juden für die ökonomische Krise verantwortlich und identifizierten sie mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen. Es gründeten sich antisemi-

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tische Parteien und Bewegungen. Mit Blick auf die Verbreitung des Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert in den deutschen Staaten und im Deutschen Kaiserreich ist das publizistische Schaffen des in Magdeburg geborenen Kaufmanns, Publizisten und Politikers Wilhelm Marr (1819–1904) von zentraler Bedeutung. Gemeinsam ist Marr mit weiteren antisemitischen Akteuren, wie etwa Édouard Adolphe Drumont oder Houston Stewart Chamberlain, dass sie europäisch vernetzt waren. Marr lebte nicht nur in Hamburg, Wien, Zürich, Lausanne, sondern zwischen 1852 und 1859 auch in Costa Rica. Dort kam er in Kontakt mit einer rassistisch segregierten Gesellschaft und kolonialem Rassismus, was seine antiliberale Grundhaltung beförderte, die die Ablehnung der Judenemanzipation beinhaltete (vgl. Bruns 2016, 306). In der 1879 veröffentlichten Broschüre Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, die bereits im ersten Jahr in zwölf Auflagen mit einer Gesamtauflage von 20.000 Exemplaren erschien, entfaltete er seine kulturpessimistische, rassistische und antisemitische Anschauung: Die Judenfrage sei keine religiöse, sondern eine »social-politische« Frage (Marr 1879, 21). Das gerade gegründete Deutsche Reich habe sich geistig nicht vor »der Verjudung« schützen können und sei »das eigentliche Centrum [...] für den Semitismus geworden« (ebd., 14). Durch die politische Gleichstellung habe das Judentum »factisch [...] eine dominierende, tonangebende Stellung errungen« (ebd., 21) und übe »die sociale und politische Herrschaft« aus (ebd., 28). Zugleich betont Marr in seiner kulturgeschichtlichen Skizze, er »hege nicht die geringste Feindschaft gegen ›die Juden‹« (ebd., 39). Dennoch legte er eine antisemitische Lösung der ›Judenfrage‹ vor, indem er die Ausweisung von Juden/Jüdinnen forderte. Mit den abschließenden Worten finis Germaniæ verweist Marr darauf, dass die Niederlage seines »Vaterlandes« und des Germanentums unvermeidlich sei (ebd., 48). Wenngleich dieser prognostizierte Niedergang für Marr unausweichlich schien, versuchte er ihn durch sein politisches Engagement in der ›Antisemiten-Liga‹ aufzuhalten. Auf Marrs Schrift antworteten zahlreiche Autoren, die ihn zum Teil unterstützten, zum Teil auch historisch und sachlich widerlegten. Ende des 19. Jahrhunderts gründete sich etwa der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Er war überkonfessionell und überparteilich ausgerichtet, um möglichst viele Menschen im Kampf gegen Antisemitismus zu vereinen. Insgesamt war die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches tief gespalten, es

gab ein antisemitisches und ein anti-antisemitisches politisches Lager (vgl. Volkov 2000b, 13 ff.). Die antisemitischen Ausdrucksformen waren einerseits eine Bewegung gegen den Prozess der rechtlichen und politischen Gleichstellung von Juden/Jüdinnen und lassen sich andererseits auch als Kontinuität der christlichen Judenfeindschaft begreifen (vgl. Volkov 2000a, 47). Der moderne und nationale Antisemitismus entstand in einem Transformationsprozess aus dem religiös begründeten Antijudaismus oder der traditionellen Judenfeindschaft. Ein Teil der Christ/innen gingen nunmehr weniger von einem Gegensatz zwischen den religiösen und kulturellen Traditionen des Christentums und des Judentums aus, sondern erklärten das Jüdisch-sein »kulturell« und »biologisch« über eine unveränderbare »Rasse« und/oder einen unveränderbaren »jüdische[n] Geist« (Braun 1997, 9). Große Teile von Wir-Gruppen in Europa politisierten und säkularisierten sich. Für die kollektiven Selbstverständnisse waren nicht mehr nur die Bezüge zu Religion und Kirche bedeutsam, sondern auch der Bezug zu Volk, Nation und Staat; letztere wurden zu Kollektivsymbolen hinsichtlich der Generierung politischer Ordnung, weshalb der Nationalismus auch unter dem Aspekt des Religionsersatzes diskutiert wird (Berghoff 2001). Die Legitimation der politischen Souveränität verschob sich von Gott auf das Volk (zunächst auf Bürger mit Eigentum; vgl. Holz 2017, 4). Wer zum jeweiligen Volk gehörte, bestimmten die christlichen Mehrheitsgesellschaften Europas. Spezifisch für jene Phase des deutschen Nationalismus war die Konzeption der ›Kulturnation‹, die der Historiker Friedrich Meinecke 1908 in idealtypischer Weise dem der ›Staatsnation‹ entgegen stellte. In der ›Kulturnation‹ wurde die Nation vorpolitisch anhand vermeintlich objektiver Kriterien wie Sprache, Territorium, Geschichte und kultureller Besonderheiten definiert. Die Sprache wurde in dieser Version von Nationalismus zum »entscheidende[n] Kriterium der Nationalität« (Hobsbawm 1991, 114). Im Anschluss daran bildete sich die Spielart des völkischen Nationalismus heraus, in dem die Nation zunehmend auch rassistisch begründet wurde. Die vermeintlich objektiven Merkmale der Nation wie Sprache, Kultur, Territorium wurden etwa unter dem Einfluss des Denkens von Joseph Arthur Gobineau, der als Begründer der modernen Rassentheorien gilt, durch den Rassebegriff ergänzt. Gobineau beschrieb in seiner Abhandlung Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (von 1853 bis 1855 in vier Bänden veröffentlicht) die

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Konflikte zwischen »Rassen« als die treibende Kraft der menschlichen Geschichte und trug zur völkischen Begründung und Radikalisierung des Nationalismus bei (vgl. Geulen 2004, 59 ff.). Er lieferte darüber hinausgehend auch eine Rechtfertigungsstrategie für die expansiv-aggressive Außenpolitik der europäischen Kolonialmächte. Insbesondere am Beispiel des Deutschen Reiches zeigt sich also, dass der völkische Nationalismus nicht getrennt vom Antisemitismus betrachtet werden kann (vgl. Salzborn 2015a, 90).

27.5 Französischer Rechtsnationalismus und Antisemitismus Ende des 19. Jahr­ hunderts Als Kontrast zur Tendenz der Naturalisierung und Dehumanisierung im völkischen Nationalismus unter der intellektuellen Federführung von Joseph Arthur Gobineau gelten die Kernaussagen der berühmten Rede Ernest Renans (1823–1892), Qu’est-ce qu’une nation?, gehalten am 11. März 1882 an der Pariser Sorbonne. Renan hebt die subjektiven und mentalen Dimensionen von Nationalität hervor: »Une nation est une âme, un principe spirituel.« Dieses »geistige Prinzip« der Nation bestehe vor allem in dem Bewusstsein, zusammen eine »große Solidargemeinschaft« (»une grande solidarité«) zu bilden und dies auch zu wollen. Für die Konstitution dieser Gemeinschaftlichkeit spiele ein gemeinsames historisches Bewusstsein ebenso eine große Rolle wie auch der Wille, schmerzhafte Erinnerungen an vergangene interne Konflikte zu vergessen: »Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation« (Renan 1882/1995, 45). Diese subjektive Faktoren hervorhebende Definition der Nation hebt sich dezidiert von naturalisierenden Nationenkonzeptionen ab: »Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erschafft ein Moralbewusstsein, welches sich eine Nation nennt.« (Renan 1882/1995, 59)

Die Nationendefinition mittels ethnisch-primordialer Faktoren und die Annahme, dass die Nationen auf rassische, sprachliche oder geografische Determinati-

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on zurückzuführen seien, wies Renan in jener für die Ideengeschichte des Nationalismus bedeutende Rede zurück. Zugleich ist kritisch anzumerken, dass auch Renan in seinen religionshistorischen Arbeiten oftmals auf rassische Erklärungsmuster zurückgriff, so, wenn er die Überlegenheit des europäischen Okzidents herausstellte, von der »Inferiorität der mahomedanischen Länder« sprach oder selbst ein hierarchisches System der »Rassen« entwarf, in dem er behauptete, dass die ›germanische Rasse‹ der lateinischen, slawischen und jüdischen überlegen sei und letztere mit negativen Eigenschaften beschrieb (vgl. Tanner 2001, 54 f.). Zur gleichen Zeit regten sich aber auch in Frankreich völkische Ausprägungen des Nationalismus, wofür das Wirken des Romanciers und Publizisten Maurice Barres (1862–1923) steht. Er brachte die nationalistische Leidenschaft, die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Frankreich ausbrach, in seinem literarischen wie publizistischen Schaffen zum Ausdruck und betonte kulturelle Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland (vgl. Kamenka 1986, 614). Barres bezog in der die französische Gesellschaft spaltenden Dreyfus-Affäre Position auf der Seite der antisemitischen Anti-Dreyfusards, sein Nationalismus wurde zudem zum Vorläufer der faschistischen »Action française« (Sternhell 1985). Die antisemitische Bewegung in Frankreich besaß während der Dritten Französischen Republik zu verschiedenen Anlässen gesellschaftliches Mobilisierungspotenzial, der Antisemitismus stellte ein wichtiges Bindeglied zwischen der nationalistischen und der klerikalen Opposition gegen die säkularisierte und kapitalistische Dritte Republik dar. 1886 veröffentlichte der in Paris geborene Schriftsteller Édouard Adolphe Drumont (1844–1917) seine zweibändige Schrift La France juive, die sich innerhalb einiger Monate 60.000 Mal verkaufte und 1887 mit dem Titel Das verjudete Frankreich in deutscher Übersetzung erschien. Bis 1945 wurde die Schrift 200 Mal neu aufgelegt und war einer der größten buchhändlerischen Erfolge (vgl. Joly 2008, 253 ff.). Drumont wendete sich gegen die verwirklichte rechtliche Gleichstellung der Juden, die bereits im Zuge der französischen Revolution 1791 stattgefunden hatte und bis auf die Zeit zwischen 1808 und 1818 durchgängig bestand. Er sah die ›Arier‹ und ›edlen Rassen‹ durch die kapitalistischen Juden und deren ›Handelsgeist‹ geschwächt und beherrscht. Der antikapitalistische Reflex richtete sich dabei gegen die Finanzsphäre des kapitalistischen Gesamtprozesses, die mit dem Judentum identifiziert wurde. Dieser

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Gestus wiederholt sich im 20. Jahrhundert in der faschistischen Ideologie, etwa bei Pierre Drieu la Rochelle, der die Einheit der ›Arbeiter aller Klassen‹, d. h. inklusive der ›bürgerlichen Arbeiter‹, forderte. Die Arbeiter aller Klassen sollten sich – so die faschistische Feindbildkonstruktion – als Nation und Einheit gegen den Bank- oder den Hyperkapitalismus wenden (vgl. Sternhell 1976, 353). In der sogenannten Dreyfus-Affäre, die im Herbst 1894 ihren Ausgang nahm und bis 1906 andauerte, agitierte Drumont in der Zeitung La Libre Parole, die in hunderttausendfacher Auflage erschien, gegen ›jüdische Verräter‹ und gegen Alfred Dreyfus. Der jüdische Hauptmann Dreyfus wurde zu Unrecht wegen Landesverrats verurteilt. Der Justizskandal, der ein Kulminationspunkt des Antisemitismus war, spaltete die französische Gesellschaft in zwei Lager: die Dreyfusards und die Anti-Dreyfusards, zu denen viele katholische, konservative und rechte Akademiker, Studenten und Journalisten gehörten (vgl. Engels 2007, 84). Auswirkungen hatte die politische Affäre auch auf die französische Kolonie Algerien. Dort kam es in Algier und anderen Städten zu Ausschreitungen gegen Juden/Jüdinnen. In Frankreich wiederum sammelten sich die Anti-Dreyfusards neben der von Drumont gegründeten Ligue antisémitique de France besonders in der 1899 gegründeten Action française, der wichtigsten Organisation der extremen Rechten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Dreyfus-Affäre beschäftigte auch jüdische Intellektuelle, wie etwa Theodor Herzl, der in den 1890er Jahren als Korrespondent der Wiener Zeitung in Paris war. Er schrieb über die Affäre, seine Überlegungen flossen wiederum in seine 1896 veröffentlichte Schrift Der Judenstaat ein. Auch das Beispiel Frankreich zeigt, dass Antisemitismus in nationalistischen Mobilisierungen zentral war und dazu beitrug, große Bevölkerungsteile mit unterschiedlichen Interessen, wie beispielsweise die Arbeiter/Arbeiterinnen, aber auch das Kleinbürgertum, in die nationale Gemeinschaft einzubinden (Sternhell 1985, 217 ff.).

27.6 Nationalbewegungen im Europa des ›Jahrhunderts des Nationalismus‹: ­ Zionismus und Katalanismus Im Folgenden werden zwei verschiedene Ausprägungen des politischen Nationalismus erwähnt, die unter anderem in Reaktion auf nationalistische Bewegungen des 19. Jahrhunderts entstanden.

Erstens der Zionismus, der auch als Antwort von Juden/Jüdinnen auf Antisemitismus verstanden werden kann und in seiner Vorstellung der nationalen Gemeinschaft keine antisemitischen Denkweisen aufweist. Der Zionismus bildete sich als Nationalbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts heraus und forderte die Selbstbestimmung der Juden und die Unabhängigkeit in Palästina, dem historischen Land Israel (vgl. Avineri 1986, 622). Innerhalb des politischen Zionismus haben sich verschiedene Strömungen herausgebildet, in denen sich die großen politisch-ideologischen Orientierungen manifestierten. Neben dem Begründer des politischen Zionismus Theodor Herzl sind als einflussreiche Vordenker des Zionismus Moses Hess und Leo Pinsker zu nennen (vgl. Salzborn 2015b, 9 ff.). Die zionistische Nationalbewegung kann zugleich als Beispiel für die Wirkmächtigkeit literarischer Imaginationen in der Herausbildung nationalistischer Vorstellungen gelten. Denn zwar war für die Entstehung des Zionismus die programmatische Schrift Der Judenstaat (1896) von Herzl, der damit die Bewegung begründete und sichtbar machte, von großer Bedeutung. Jedoch war sein utopischer Roman Altneuland (1902) weitaus einflussreicher. In diesem Roman entwarf er die Vorstellung einer unabhängigen jüdischen Nation, die auf den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, einer modernen industriellen Organisation und kooperativen Prinzipien beruhte, und beflügelte dadurch die Phantasie einer ganzen Generation junger jüdischer Intellektueller in Europa (Avineri 1986, 625). Dieses enge Verhältnis von Nation und Narration lässt sich vor allem in den Frühphasen von Nationalbewegungen feststellen (Hroch 1998), in denen die intellektuellen und imaginativen Tätigkeiten und die Entwicklung nationaler Vorstellungswelten im Vordergrund stehen. Der Zionismus erfuhr in Strömungen des europäischen, aber auch außereuropäischen Judentums zunehmend Rückhalt, nicht zuletzt angesichts der sich verstärkenden antisemitischen Stimmungen internationalen Ausmaßes. Am Zionismus lässt sich nachzeichnen, wie Nationalbewegungen als defensive Reaktion gegen erfahrene Diskriminierung entstehen können: »[D]er Nationalismus geht in dem Sinn aus dem Rassismus hervor, daß er sich nicht als Ideologie einer ›neuen‹ Nation bilden würde, wenn der offizielle Nationalismus, auf den er reagiert, nicht zutiefst rassistisch wäre: so erwächst der Zionismus aus dem Antisemitismus.« (Balibar 1992b, 68)

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Die jüdischen Reaktionen auf den Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben neben dem politischen Projekt des Zionismus noch weitere ideengeschichtliche Realitäten geschaffen, insofern jüdische Wissenschaftler Erklärungs- und Theoretisierungsversuche des Antisemitismus schufen, unter ihnen Arnold Zweig, Constantin Brunner oder Felix Goldmann (vgl. Krah 2016, 113, 128). Brunner setzte sich 1918 etwa mit der Frage auseinander, in welchem Verhältnis Nationalismus und Antisemitismus zueinanderstehen. Er betonte, der religiöse Begründungszusammenhang des Antisemitismus habe in dessen Entwicklungsgeschichte in dem Maß abgenommen, in dem die Religion an gesellschaftlicher Bedeutung verlor. Die Überhöhung der Nation sei an ihre Stelle getreten. Im Zuge dieser Entwicklung sei der »Rassenhass« an die Stelle des Religionshasses getreten. Das Wesen des Hasses sei hingegen gleichgeblieben (Krah 2016, 129). Zudem hatten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts europaweit Abwehrvereine gegen den Antisemitismus gegründet, darunter der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die amerikanische Anti-Defamation League und die britische Jews’ Defence League. Sie leisteten intensive Öffentlichkeitsarbeit gegen die antisemitischen Verleumdungen und strengten mitunter sogar eine juristische Strafverfolgung an. Die 1860 in Frankreich gegründete Alliance Israélite Universelle ist eine internationale jüdische Hilfsorganisation, die sich jüdischer Gemeinschaften annahm, denen die Bürgerrechte verweigert wurden. Sie gründete Schulen, um das Bildungsniveau anzuheben, agierte auf der diplomatischen Ebene für eine Verbesserung der Lage der Juden/Jüdinnen, verfasste Appelle, Eingaben und Protestbriefe an Regierungen und unterstützte in Not geratene Emigrant/innen finanziell (vgl. Arnold 2010, 53 ff.). Ein zweites Beispiel für die Expansion nationalistischer Politikformen und Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert (statt vieler anderer möglicher in Europa) ist die Entstehung des katalanischen Nationalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert. Generell steht in dieser Form von Binnennationalismus die Auseinandersetzung mit dem politischen Ordnungskonzept der spanischen Nation im Vordergrund, antisemitische Feindbilder spielten dabei keine bedeutende Rolle. Die katalanische Nationalbewegung ist in verschiedenen Hinsichten eine Reaktion auf Stimmungen und Entwicklungen in Europa. In besonderem Maße ist ihr Erstarken gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Antwort auf die Schwäche der spanischen Krone, die 1898 ihre letzten Überseekolonien

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(Kuba, Philippinen) verloren hatte. Dies löste spanienweit eine nationale Krisenstimmung aus, die in der sogenannten ›generación del 98‹ und dem Regenerationismus ihren kulturellen Ausdruck fand, in dessen Zentrum ein nationaler spanischer Erneuerungs- und Modernisierungsdiskurs stand (generell: Eser 2013, 119–178). Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon auf kultureller Ebene entstandene katalanische Sonderbewusstsein konnte im Rahmen der Krise zunehmend an Bedeutung gewinnen. Zudem ließen nicht gelöste interne Entwicklungsprobleme im spanischen Staat die Option einer weitreichenden katalanischen Autonomie attraktiv erscheinen. Das politische Programm der katalanischen Nationalbewegung war durch katholisch-konservative, aber auch durch liberale ideologische Elemente geprägt (Brunn 1978). Zunächst als regionalistischer Diskurs der Rückbesinnung auf katalanische Traditionen seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, radikalisierte sich der katalanische Identitätsdiskurs, und eine explizite Nationalbewegung entstand. Der Bischof Josep Torras i Bages (1846–1916) prägte unter dem Einfluss des Herderschen Volksbegriffs einen Begriff von der katalanischen Nation, demzufolge diese eine organische, historisch gewachsene Gemeinschaft darstelle, die durch ein Territorium, eine gemeinsame Sprache, eine eigene Geschichte und einen eigenen Volkscharakter gekennzeichnet sei (vgl. Brunn 1978, 331). Enric Prat de la Riba (1870–1917) legte mit dem Compendi de la Doctrina Nacionalista (1894) ein politisches Programm der nationalen Emanzipation vor, in dem er ebenfalls organizistische Nationsvorstellungen entwickelte sowie die Vorstellung einer natürlichen, auf der Sprache fußenden historischen Gemeinschaft der katalanischen Nation verbreitete. Auf der Grundlage der Anerkennung Kataloniens als ›pàtria‹ sollte eine föderative Reorganisierung Spaniens angestrebt werden (vgl. Eser 2013, 135 ff.). Die katalanische Sprache war ein zentrales Element in der nationalistischen Ideologie, was in der zentralen Schrift Prats La Nacionalitat Catalana (1906) nochmals betont wurde. Hier bezog sich Prat ebenfalls auf Herders Volksgeistkonzeption und fasst die Nation als Einheit aus Territorium, ›Rasse‹, Sprache, Recht und Kunst. Die Sprache stelle eine natürliche, organische Einheit dar, die sich wie ein Lebewesen ganzheitlich entwickele. Obwohl antisemitische Feindbilder keine konstitutive Rolle für den Katalanismus spielten, ist zu erwähnen, dass das politische Pamphlet von Prat, La question catalane, 1898 in Paris mit der Unterstützung des Funktionärs der Ligue antisémitique Louis Guérin

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III Denkströmungen – D Moderne

veröffentlicht wurde. Zudem propagierte der föderalistisch gesinnte Theoretiker des Katalanismus, Valentí Almirall (1841–1904), schon vor dem Aufleben der Bewegung eine politische Differenz, die später für den Katalanismus zentral werden sollte: die Vorstellung zweier unterschiedlicher ›Rassen‹, die sich in einem ewigen Konflikt gegenüberstünden: auf der einen Seite die ›arischen Katalanen‹, auf der anderen Seite die ›semitischen Kastilier‹ (wobei allerdings mit ›Semiten‹ ›Araber‹ gemeint waren). Diese Unterscheidung wurde zu einer der grundlegenden Ideen des Katalanismus, die vor allem nach 1898 und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von der nationalistischen Presse wie La Veu de Catalunya häufig wiederholt wurde (vgl. Marfany 1996, 126 f.). Während der Dreyfus-Affäre stellte sich der klerikale Katalanismus auf die Seite der Anti-Dreyfusards. Die Berichterstattung in der entsprechenden katalanischen Presse trug offen rassistische und antisemitische Züge. Die konstitutive ideologische Frontstellung des Katalanismus ist jedoch durch den politischen Gegner ›Spanien‹ und die mit ihm assoziierten Vorstellungen markiert. Dies zeigt sich am Beispiel des katalanischen Nationalfeiertags der diada am 11. September, an dem an die katalanische Niederlage im spanischen Erbfolgekrieg 1714 erinnert wird. Hieran lässt sich veranschaulichen, was Renan in seiner Rede betonte: Die Schaffung einer historischen Schicksalsgemeinschaft, die das gemeinsame historische Leid hervorhebt, ist ein zentrales Motiv der nationalistischen Ideologie. Im Vergleich zur zentralen politischen Differenzmarkierung gegenüber ›Spanien‹ – vorgestellt als ›(semitisches) Afrika‹ im Gegensatz zum ›europäischen Katalonien‹ – spielte antisemitisches Denken keine besondere Rolle in der ideologischen Grundierung des Katalanismus.

27.7 Antikoloniale Nationalbewegungen und Nationalismus/Antisemitismus im post-kolonialen Kontext Ausgehend von der Expansion der europäischen Kolonialreiche breitete sich auch das in Europa hegemoniale politische Ordnungskonzept der Nation und die Ideenwelt des Nationalismus in den Kolonien aus. Auch wenn über die genaue Bestimmung dieses Transferprozesses in postkolonialen Debatten Kontroversen (über die Beziehung zwischen einem metropolitanen und kolonialen Nationalismus) existieren, ist der europäische und zumindest protonationalisti-

sche Einfluss auf die Strukturierung der (nationalen) Zeitordnung und des nationalen Territoriums in den Kolonien nicht abzustreiten. Benedict Anderson, der die Entstehung des Nationalismus an kulturelle und technologische Entwicklung rückgebunden hat, ist auf den Einfluss der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonialreichen eingegangen. Er argumentiert, dass diese Abspaltungsbewegungen und die ›creole pioneers‹ in den Kolonien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gar zentral waren für die Entwicklung des Nationalismus in den »kolonialen Zentren« Europas (Anderson 1983, 47 ff.). Der Antikolonialismus seit dem 19. Jahrhundert kann als zweite Welle des Nationalismus gelten. In den abhängigen Kolonien wollten sich Teile der Bevölkerung von der kolonialen Herrschaft ablösen und eigene Nationen gründen. Historischer Startpunkt der antikolonialen nationalen Befreiungsbewegungen war die haitianische Revolution, die 1791 mit einem Sklavenaufstand ausbrach und 1804 in der nationalen Unabhängigkeitserklärung endete. Die haitianische Revolution hatte beflügelnde Wirkung auf den gesamten lateinamerikanischen Kontinent, auf dem sich bis 1825 nahezu sämtliche Unabhängigkeitsbewegungen von den iberischen Kolonialreichen loslösen konnten. Diese Dekolonisierungs- und Nationalbewegungen waren ideologisch heterogen und wurden von den kreolischen lateinamerikanischen Oberschichten, den sogenannten ›criollos‹, geprägt, die die politische Kontrolle über die kolonialstaatlich geprägten und rassistisch strukturierten Gesellschaften übernahmen. Sie waren zugleich beeinflusst von modernen nationalstaatlichen Modellvorstellungen aus Europa und den USA. Der Befreiungskämpfer Simón Bolívar bündelte in seinem Aufruf A los Venezolanos die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen der einzelnen »pueblos« (Völker), die es im antikolonialen Kampf gegen »la tirania española« zu vereinen gelte. Der frühe antikoloniale Nationalismus verband somit eine abstrakte moderne Freiheitsidee mit der Vorstellung, die nationalen Gesellschaften trotz der vehementen Klassen- und ›Rassengrenzen‹ zu vereinen. Die Kreolenschicht, welche die Unabhängigkeitsbewegungen anführte, hatte ein Gespür dafür, dass Mechanismen der nationalen Integration und ein effizientes Nation-building für die neu entstehenden Staaten nötig sind: Bolívar meinte, dass »ein Sklavenaufstand tausend mal schlimmer sei als eine spanische Invasion«, und der weiter südlich agierende »Befreier« San Martín beschloss 1821, dass »in der Zukunft alle Ureinwohner nicht mehr ›indios‹

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oder ›Ureingeborene‹ genannt werden sollten, sondern Kinder und Bürger von Peru und Peruaner« (zit. nach Anderson 1983, 49). In diesem Kontext entstanden nationale Liebesromanzen als zentrale »foundational fictions« (Sommer 1991) und nationale Gründungserzählungen, in denen die amouröse Überwindung der sozialen und rassistischen Ungleichheiten die Imagination nationaler Gemeinschaftsgefühle im 19. Jahrhundert ermöglichte. Diese imaginäre integrative Seite des lateinamerikanischen Nation-building ging einher mit der Reproduktion der sozialen und politischen Hierarchien, für (ehemalige) Sklaven und die indigenen Bevölkerungen war oftmals kein Platz in den neu entstandenen Nationen. Im Gegenteil, in einigen der jungen postkolonialen Nationalstaaten, wie z. B. in Argentinien, wurde nach innen sogar eine repressive genozidale Politik gegen indigene Minderheiten lanciert. Wie auch im postkolonialen Nation-building der USA hat sich die argentinische Nation durch einen »konstituierenden Genozid« (Feierstein 2007, 59, 99) herausgebildet, der zur vermeintlichen Zivilisierung der Nation durchgeführt wurde. Julio Argentino Roca, der die ›Wüstenkampagne‹ anleitende General, rief 1878 in einem Zeitungsartikel zu einer in moralischer Überlegenheit begründeten Auslöschung der »raza indigena« (»indigenen Rasse«) auf (Quijada 1999, 688). Der antikoloniale Nationalismus weist neben dem Befreiungspathos Züge der inneren ›Reinigung‹ des neu zu schaffenden nationalen ›Körpers‹ auf. Zu beobachten ist eine Dialektik von Befreiung und Unterdrückung, in die auch bald schon der Antisemitismus Einzug erhält. Dies kann vor allem am Beispiel Argentiniens gezeigt werden, des lateinamerikanischen Landes mit der größten jüdischen Gemeinde. Das argentinische Nation-building war widersprüchlich (Carreras/Potthast 2010, 95–154). Dem Motto ›civilizar es poblar‹ (Regieren heißt bevölkern) folgend, wurde die Einwanderung aus Europa durch eine eigene Einwanderungsgesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefördert. Dies geschah parallel zur Auslöschung indigener Bevölkerungsgruppen, die als rückständig und nichtzivilisiert angesehen wurden und nicht in das europaorientierte Leitbild des modernen Argentinien passten. Die antisemitischen Pogrome 1881/82 im russischen Zarenreich führten zu einer Massenauswanderung, circa 70.000 Juden/Jüdinnen flohen in der Folgezeit nach Argentinien. Diese Auswanderung wurde durch die Aktivitäten der ›Jewish Colonization Association‹ des Baron Maurice de Hirsch gefördert. Später wanderten zudem sephardische Juden/Jüdinnen aus

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Nordafrika und dem osmanischen Reich nach Argentinien ein, 1925 lebten dort bereits 162.000 jüdische Einwohner/Einwohnerinnen. Im Zuge der drastischen Wirtschaftskrise von 1890 wurden in der argentinischen Literatur zahlreiche Krisenromane veröffentlicht. Einer der erfolgreichsten unter ihnen war der 1890 erschienene Roman La bolsa von Julián Martel, der zahlreiche jüdische Figuren enthielt, die mit der Krise ursächlich in Verbindung gebracht und zudem durch antisemitische Klischees gezeichnet wurden. Martel zitierte großzügig aus der antisemitischen Schrift La France juive von Drumont. Als 1910 der jüdische Anarchist Simon Radovitzky während eines Streiks einen Polizisten erschoss, kam es zu antisemitischen Ausschreitungen. Juden/Jüdinnen wurden fortan mit ›Kommunismus‹ und ›Revolution‹ in Verbindung gebracht – tatsächlich wurden linke Organisationen, Parteien und Gewerkschaften stark von jüdischen Einwanderern/Einwanderinnen getragen, in manchen Organisationen war Jiddisch die Verkehrssprache –, was sich während der Semana trágica (1919) vollends manifestierte. Im Kontext einer starken linksrevolutionären Mobilisierung und der weitverbreiteten Furcht vor Kommunismus entluden sich im Zuge der staatlichen Zerschlagung eines Generalstreiks weitere Repressionen gegen Juden/Jüdinnen. Diese wurde von ›patriotischen‹ Milizen unterstützt, die vor allem in jüdisch geprägten Wohnvierteln pogromartige Ausschreitungen gegen die vermeintlichen ›rusos judíos‹ (jüdische Russen) veranstalteten. Der Nationalismus im postkolonialen Kontext trug zuweilen eindeutige rassistische oder auch antisemitische Züge, letztere waren jedoch zumindest in der Phase des Kampfes um Unabhängigkeit und dem folgenden Nation-building weniger ausgeprägt als in Europa. Für die politische Semantik der Nationalismen sind in jenen Fällen andere politische Oppositionen von zentralerer Bedeutung (Zentrum-Peripherie, lokale Unterdrückungsstrukturen).

27.8 Nationalistische und antisemitische Radikalisierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Antisemitismus hat sich in Europa seit 1870 in den nationalen politischen Kulturen etabliert und ist in unterschiedlichem Ausmaß virulent geworden. Im Zuge der kolonialistisch-aggressiv ausgerichteten Außenpolitiken der europäischen Großmächte erfuhr natio-

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III Denkströmungen – D Moderne

nalistisches, rassistisches und antisemitisches Denken und Handeln eine weitere Radikalisierung. Ein wichtiger Akteur dieser Phase ist der Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), der im britischen Portsmouth in eine Offiziersfamilie geboren wurde. Er lebte und studierte unter anderem in Cannes, Montreux, Florenz, Genf, Dresden, Wien und Bayreuth. Sein rassentheoretisches Werk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts erschien erstmals 1899, verkaufte sich über 100.000 Mal und erreichte bis 1938 28 Auflagen. Chamberlain proklamierte, nicht Individuen, sondern »Rassen« seien die »Träger der Geschichte«, Jesus Christus wurde zum Anhänger der »reine[n] Rasse«, er sei »kein Jude« gewesen (Chamberlain 1912, 257, 266). Eine »Rassenmischung« sei schädlich, da sie zum Zerfall der »Rasse-Nationen« führe. Chamberlain stellte die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur (ebd., 825) der »jüdische[n] Rasse« (ebd., 441, 304) gegenüber, die Minderwertiges und Schädliches in die Welt gebracht hätte. Darüber hinausgehend steht für ihn die ›Rasse‹ im Kern der Nationenkonzeption: »Nicht also aus Rassentum zur Rassenlosigkeit ist der normale, gesunde Entwickelungsgang der Menschheit, sondern im Gegenteil, aus der Rassenlosigkeit zur immer schärferen Ausprägung der Rasse.« (Chamberlain 1912, 347)

Zur Legitimation einer aggressiven Außenpolitik sowie der kolonialen Unterwerfung wurde im Zeitalter des Imperialismus die Ideologie des völkischen und rassistischen Nationalismus aktualisiert und angewandt. Politische, teils kriegerische Spannungen zwischen den imperialistischen Staaten waren eine Folge. Der völkische und rassistische Nationalismus richtete sich nach innen, gegen oppositionelle Kräfte im eigenen Land wie auch gegen die jüdischen Minderheiten, sowie aggressiv nach außen. Im 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei von 1920 verkündete Punkt 4: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.« Die liberalen Züge, die den Nationalismen in seinen frühen Phasen noch zu eigen waren, bildeten sich zunehmend zurück. Das kurzfristige Bündnis von Nationalismus und Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Erringung von Befreiung und Emanzipation löste sich auf, die Orientierung

an demokratisch-universalistischen Werten wurde durch eine neue Spielart des Nationalismus in Europa verdrängt. »Das Blut als das nach innen verbindende und nach außen abgrenzende Element – das war die Botschaft des neuen rassistisch begründeten Nationalismus. Damit war nun die gesamte Tradition von bürgerlicher Aufklärung und Menschenrechten über Bord geworfen und die Idee der Nation voll den Bedürfnissen des Imperialismus dienstbar gemacht.« (Kühnl 1986, 74)

Demokratie und Menschenrechte wurden zum Feindbild, wie der Politikwissenschaftler Zeev Sternhell an protofaschistischen nationalistischen Akteuren in Italien und Frankreich aufzeigt, die zudem eine Frontstellung gegen den Materialismus und Marxismus aufwiesen (vgl. Sternhell 1976, 325 ff.). Die Radikalisierung der völkischen Elemente des Nationalismus ging einher mit Reaktionen auf die erstarkenden Arbeiterbewegungen und die von deren Organisationen mutmaßlich repräsentierten Werte (›Materialismus‹; ›Marxismus‹). Gegenüber der Politisierung des Klassenkampfes zwischen Arbeiter/innen und Bourgeoisie stellten faschistische Akteure nationalistische Rhetoriken und die nationale Einheit in den Vordergrund. Diese politischen Bewegungen, die unter Einbezug ideologischer Impulse des Sozialismus eine nationale Einheit aller Arbeiter/innen propagierten, fanden im Antisemitismus ein »perfect tool for the integration of the proletariat within the national community and had the advantage of rallying the petty bourgeoisie in danger of proletarisation. Anti-Semitism gave the new radical right popular foundations and provided it with an instrument with which to appeal to the working classes and to arouse the masses: the anti-Jewish riots of the closing years of the century bear a curious resemblance, by their violence and their scale, to the riots of the Nazis.« (Sternhell 1976, 327)

›Nation‹ statt ›Klasse‹ war die Losung der nationalistischen Akteure, die im Rückblick auch als Vordenker der »faschistischen Ideologie« (ebd.) gelten können. Die Verschärfung des Nationalismus im Kontext des imperialen Zeitalters kann als ein europaweites Phänomen begriffen werden. Mit dem Ausbruch und im Verlauf des Ersten Weltkriegs erreichte die Bannkraft des Nationalismus, die in den Jahren zuvor schon stark an Dynamik gewonnen hatte, ihren Höhepunkt.

27  Nationalismus und Antisemitismus

In der turbulenten politischen Situation gerieten auch linke Parteien und Organisationen in den Taumel von aggressivem Nationalismus (die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten im Rahmen der Burgfriedenpolitik war hiervon nur ein Ausdruck) und Antisemitismus. So gab es innerhalb der SPD wie auch der KPD Strömungen, in denen sich antisemitische Stimmungen – so in der SPD gegen die Parteilinke und Jüdin Rosa Luxemburg – regten und teils auch die politische Rhetorik bestimmten. Die KPD befürwortete im Rahmen des Ruhrkonflikts eine nationalistische Politik und bediente zu dieser Zeit partiell auch antisemitische Stereotype. Berühmt geworden sind die Äußerungen von Ruth Fischer, deren Vater selbst Jude war, die gegen das »Judenkapital« agitierte (zit. nach Kessler 2005, 226). Ein weiteres Beispiel für solche ideologischen Radikalisierungsprozesse ist die Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Politikerin Käthe Schirmacher (1865– 1930). Sie lebte in Danzig, Paris, Liverpool, Zürich und Marlow und war eine der ersten Frauen, die – in der Romanistik – promovierte und von ihrer publizistischen Tätigkeit lebte. Zunächst war sie Teil der deutschen wie internationalen Frauenbewegung, beteiligte sich in den 1890er Jahren am internationalen Frauenkongress in Chicago und Paris und war Gründungsmitglied des 1899 etablierten Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine. Anschließend engagierte sie sich ab 1904 im antipolnischen und völkisch-rassistischen Deutschen Ostmarkenverein und trat in ihren Reden für ein »gehärtetes Deutschtum« ein, »das im Gegensatz zu einem [...] minder zivilisierten Volke« ein »starkes Herren- und Überlegenheitsbewußtsein« habe. In den Jahren 1919 bis 1920 war Schirmacher Abgeordnete der Deutschnationalen Volkspartei in der Nationalversammlung in Weimar und gehörte dem völkisch-radikalen Flügel an. Sie kämpfte gegen die Demokratie der Weimarer Republik, gegen die Sozialdemokratie und die moderne kapitalistische Geldwirtschaft, die durch Juden verkörpert sei. In ihren Lebenserinnerungen, die 1921 unter dem Titel Flammen erschienen, schrieb sie, »Juda« trachte »nach der Vorherrschaft« und übe die »Diktatur über das Proletariat der Welt« aus (Schirmacher 1921, 63). Bis zu ihrem Tod engagierte sie sich im Vorstand der Partei und versuchte, weitere Frauen für die völkische Bewegung zu begeistern. Die Faschismen in Europa, in deren ideologischem Zentrum ein virulenter Nationalismus stand, der nach innen die eigene kollektive Selbstüberhöhung als Nation sowie nach außen eine aggressive Haltung gegen

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andere ›Nationen‹ propagierte, rekurrierten in unterschiedlichem Ausmaß auf die antisemitische Ideologie. Im Nationalsozialismus radikalisierten sich nationalistische Volkstums- und Rassenideologie sowie der Antisemitismus. Literatur

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Patrick Eser / Dana Ionescu

28 Faschismus/Nationalsozialismus

28 Faschismus/Nationalsozialismus Die Bezeichnung ›Faschismus‹ leitet sich vom italienischen Wort fascio (pl. fasci) ab, das zumeist mit ›Bund‹ übersetzt wird. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange klar bleibt, dass darunter durchaus heterogene Gebilde zu verstehen sind: Zweckvereine, die auf die Verfolgung materieller Interessen ausgerichtet sind, wie die Ende des 19. Jahrhunderts auf Sizilien entstandenen fasci aus Bauern, Arbeitern und städtischen Intellektuellen, die eine Reform der Agrarverträge sowie eine Aufteilung der Latifundien anstrebten; wertrational motivierte Gesinnungsvereine wie der im Herbst 1914 gegründete Fascio rivoluzionario di azione internazionalista, der auf eine Intervention Italiens gegen die Mittelmächte drängte; oder auf Verbrüderungs- und Statuskontrakten beruhende Vergemeinschaftungen wie die mit den Fasci di combattimento liierten, aber nicht identischen Kampfbünde (squadre d’azione), die seit dem Sommer 1920 in Oberitalien aus dem Boden schossen und eine terroristische Gewaltpraxis gegen die politische Linke entfalteten (Reichardt 2002). Die Fasci di combattimento selbst, im März 1919 von Mussolini ins Leben gerufen, waren eine Mischung aus all diesen Formen. Zunächst vor allem sachliche und ideelle Interessen aggregierend, wurden sie 1920/21 von den bürgerkriegsartigen Aktionen des squadrismo mitgerissen, bis sich im November 1921 mit der Gründung des Partito Nazionale Fascista der Schwerpunkt wieder in Richtung Vergesellschaftung verschob, freilich aufgrund der Ausrichtung auf den Typus der Führerpartei unter Beibehaltung einer charismatischen, auf Vergemeinschaftung beruhenden Komponente, die sich immer wieder geltend machte. Diese heterogene, auch für den Faschismus außerhalb Italiens typische Zusammensetzung hat einseitige Deutungen begünstigt, die den Faschismus von jeweils einem dominanten Faktor her deuten. Marxistische Autoren rekurrieren dabei überwiegend auf materielle Motive, indem sie den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals, der Großagrarier oder der Kleineigentümer präsentieren. Andere betonen ideelle Faktoren und verweisen auf die handlungsleitende Wirkung eines ›palingenetischen‹ Mythos (Roger Griffin) oder einer politischen Religion und stufen das Regime als ›Ideokratie‹ ein (Ernst Nolte). Wieder andere heben vor allem die gewaltbestimmte Performanz hervor, durch die sich der Faschismus von vielen anderen Parteien unterscheidet (Sven Reichardt). Auch wenn dadurch jeweils wichtige Aspekte beleuchtet wurden,

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ist doch klar, dass ein sachgerechtes Bild nur unter Berücksichtigung aller Dimensionen zu gewinnen ist. Unter diesem Vorbehalt steht auch, was aus ideengeschichtlicher Sicht über die beiden historisch bedeutendsten Erscheinungsformen des Faschismus in Italien und Deutschland zu sagen ist.

28.1 Italien: Revolutionärer Syndikalismus, Futurismus, Rechtsnationalismus Einen für die Ideengeschichte des Faschismus in Italien wichtigen Hinweis gab Mussolini 1932 in einem Artikel für die Enciclopedia Italiana, in dem er auf die Impulse aufmerksam machte, die vom revolutionären Syndikalismus ausgegangen seien (in: Nolte 1979a, 210). Gemeint war damit eine Strömung innerhalb des sozialistischen Milieus, die kurz nach der Jahrhundertwende aus der doppelten Initiative von Intellektuellen und Organisatoren der Arbeiterbewegung entstanden war. Beeinflusst durch aktuelle Strömungen wie die Grenznutzentheorie und die Lehren Paretos und Sorels, aber auch durch ältere, vormarxistische Traditionen der Linken (vom Saint-Simonismus über Mazzini bis zu Proudhon), engagierten sich die Syndikalisten zunächst in der Sozialistischen Partei (PSI), zu deren Mitbegründern sie z. T. zählten. In ihren Augen konnte allein eine von den ›Produzenten‹ geführte sozialistische Revolution die Hindernisse beseitigen, die sie für die Stagnation des Landes verantwortlich machten: den Zentralismus in Wirtschaft und Politik; das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen dem industrialisierten Norden und dem agrarischen, ›feudalen‹ Süden; den giolittianischen trasformismo in der Politik, der keine klaren Richtungsentscheidungen zuließ usf. Die Revolution sollte all dem ein Ende machen und den Syndikaten, den Kommunen, den einzelnen, die Initiative zurückgeben; und sie sollte dies gestützt auf die Gewerkschaften tun, in direkter Aktion und speziell mit dem Mittel des Generalstreiks, da sich der Parlamentarismus und die auf ihn ausgerichtete Parteipolitik als korrumpierbar erwiesen habe (Roberts 1979; Sternhell u. a. 1999, 169 ff.). 1908 trennte sich der PSI vom revolutionären Syndikalismus und erklärte ihn für unvereinbar mit den Hauptzielen des Sozialismus. Da auch auf gewerkschaftlicher Ebene die Resonanz ausblieb, sah sich der revolutionäre Syndikalismus in den Jahren vor 1914 auf ein publizistisches Phänomen reduziert, dessen Stärke in seinen Zeitschriften lag, darunter Il divenire sociale, Pagine libere oder La lupa. Abgeschnitten von

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_28

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ihrer ursprünglichen Bezugsgruppe verlagerten viele syndikalistische Intellektuelle in der Folgezeit ihre revolutionären Hoffnungen zunehmend auf die Nation. Waren es 1911 nur erst einige, die den Libyen-Krieg als eine Art Vorschule der Revolution bejahten, als ein willkommenes Mittel zur Überwindung der allgemeinen Dekadenz, so sah der Erste Weltkrieg die Syndikalisten geschlossen auf der Seite derjenigen, die eine Intervention Italiens an der Seite der Entente anstrebten. Obwohl sich daraus eine Konvergenz mit dem weiter unten zu erörternden Rechtsnationalismus ergab, blieb diese doch nur partiell. Im Hinblick auf die internationalen Beziehungen hielten die Syndikalisten an Mazzinis Ideal einer föderalen Ordnung fest, die eine harmonische Konkurrenz unterschiedlicher nationaler Kulturen gewährleisten sollte, freilich den Erwerb von Kolonien nicht ausschloss (Roberts 1979, 119 ff.; Perfetti 1984, 54). Nach innen entsprach dem die Beibehaltung sozialrevolutionärer Forderungen, die sich gegen den Großgrundbesitz oder das nur auf kurzfristige Spekulationsgewinne ausgehende Finanzkapital richteten. In diese Richtung zielte bspw. Sergio Panunzios Aktionsprogramm vom März 1919, das unter dem Titel einer conservazione rivoluzionaria das individuelle Eigentumsrecht in eine soziale Funktion umwandeln, das Erbrecht beseitigen und alle diejenigen, die nichts erzeugten, enteignen und dem Staat ein umfassendes Zuteilungsrecht für den Boden und alle anderen Produktionsmittel zuweisen wollte. Die sozialen Klassen sollten Korporationen bilden, denen die Verwaltung der sozialen Sicherheit obläge; aus ihnen sollten auf regionaler Ebene ›technische‹ und ökonomische Parlamente hervorgehen, die auf nationaler Ebene durch »un Parlamento politico nazionale composto aristocraticamente« zu ergänzen seien – ein System der doppelten Repräsentation, wie es im September 1920 von Alceste De Ambris in Zusammenarbeit mit Gabriele d’Annunzio zur Grundlage der Verfassung von Fiume, der Carta del Carnaro, gemacht wurde. Auch dieser Text lag noch ganz auf der Linie eines von Mazzini geprägten Linksnationalismus und wurde entsprechend als Vollendung und Gipfelpunkt der risorgimentalen Tradition gefeiert (Sternhell u. a. 1999, 235 ff.). Das Scheitern des Fiume-Unternehmens und die ausgeprägte Abneigung gegen den Bolschewismus veranlassten viele Syndikalisten, sich nach neuen Bündnispartnern umzusehen. Schon im Weltkrieg hatten sich manche von ihnen Mussolini genähert und sich dann im März 1919 den Fasci di combatti-

mento angeschlossen, woraus sich in vielen Fällen Karrieren im späteren faschistischen Regime ergaben. Mussolini selbst, bis zu seinem Ausschluss im Herbst 1914 Führungsmitglied des PSI, gehörte nicht zum syndikalistischen Flügel, war aber von dessen Ideen stark beeindruckt und verschaffte ihm Publikationsmöglichkeiten (Milza 1999, 114). Es war auch diesem Einfluss zuzuschreiben, wenn er bald nach Kriegsbeginn die internationalistische Perspektive abstreifte und zu einem nationalen Sozialisten wurde, der nach außen für ein starkes Italien im Rahmen einer vom Völkerbund geprägten Ordnung eintrat, nach innen auf politische und wirtschaftliche Demokratisierung und Steigerung der Produktion setzte (Milza 1999, 172). Bis zur verheerenden Wahlniederlage seiner fasci Ende 1919 schwamm Mussolini im Strom des revolutionären Syndikalismus, und erst mit dem 1920 vollzogenen Rechtsruck, der außenpolitisch eine Annäherung an den imperialistischen Rechtsnationalismus, innenpolitisch den Schulterschluss mit den Agrariern implizierte, öffnete sich eine Kluft, die einige Wortführer des Syndikalismus veranlasste, ins Exil zu gehen (De Felice 1965, 587 ff.). 2. Die zweite Strömung, die in den Faschismus Eingang fand und besonders in den unmittelbaren Nachkriegsjahren prägend war, war der ›Modernismus‹ (Adamson 1993; Griffin 2007, 191 ff.), wie er in Zeitschriften wie Leonardo, La Voce und Lacerba sowie vor allem von der Bewegung des Futurismus vertreten wurde. Das 1909 von Filippo Tommaso Marinetti publizierte Manifest des Futurismus war kein bloßes Kunst-, sondern ein Lebensprogramm, ein umfassendes Konzept zur Modernisierung einer Nation, von der man glaubte, sie drohe unter der Last der Vergangenheit – dem ›Passatismus‹ – zu ersticken. Es forderte in militanter Sprache dazu auf, »dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare zu befreien«, Feuer an die Bibliotheken, Museen und Akademien zu legen und die Vorherrschaft von Moralismus und Feminismus zu brechen. Wie in der Kunst, so erläuterte Marinetti wenig später, gelte es auch in der Politik und jedem anderen Lebensbereich die »Religion der Vergangenheit und den Respekt vor allem, was alt ist«, zu bekämpfen. Abgelehnt wurden der internationale Sozialismus, der klerikale Konservatismus, der liberale Parlamentarismus und das demokratische Gleichheitsprinzip, dem man vorwarf, das Genie an seiner Entfaltung zu hindern (Marinetti 1998, 11 f., 248 f.). Nachgerade kultische Verklärung dagegen erfuhren die modernen Naturwissenschaften, die auf ihnen be-

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ruhende Technik und vor allem die schnellen Verkehrsmittel wie Automobil und Flugzeug, die eine völlig neue Welt versprachen (Baumgarth 1966, 133). Dass dieses Lebenserneuerungsprogramm im Zeichen gesteigerter Modernität zugleich ein begeistertes Ja zu Krieg und Zerstörung war, zeigte sich schon während des Libyenkrieges, der von Marinetti als »große futuristische Stunde Italiens« gefeiert wurde (ebd., 78 f.). Nach Ausbruch des Weltkrieges organisierten Futuristen die ersten antineutralistischen Demonstrationen im September 1914, machten mit spektakulären Aktionen auf ihre Ziele aufmerksam und agitierten gemeinsam mit anderen Interventionisten, die sich vom Kriegseintritt eine Beschleunigung des revolutionären Prozesses erhofften und zu diesem Zweck im Januar 1915 die Fasci di azione rivoluzionaria gründeten. Bei diesen Demonstrationen lernte Marinetti auch Mussolini kennen, den er bald als Beispiel für die Ausbreitung der Ideen des Futurismus präsentierte und als »einen unserer wärmsten Sympathisanten« bezeichnete (Berghaus 1996, 79). Dem Einsatz für den Krieg folgte das Engagement im Krieg, das einige der Futuristen bis in die Reihe der Elitetruppen, der Arditi, führte. Ein Resultat dieser Verbindung war der sogenannte ardito-futurismo der Jahre 1918/19, bei dem Arditi und Futuristen gemeinsam dafür kämpften, den ehemaligen Kombattanten einen herausragenden Platz in der Nachkriegsordnung zu verschaffen. Beide Gruppen hatten maßgeblichen Anteil an den im März 1919 von Mussolini ins Leben gerufenen Fasci di combattimento. Marinetti, der ins Zentralkomitee gewählt wurde, konnte in seinem Tagebuch befriedigt den nicht unerheblichen Einfluss verzeichnen, den der Futurismus auf das Programm der neuen Bewegung gehabt habe. Futuristischer Provenienz waren etwa das sozialpolitische Programm (Achtstundentag, Mindestlöhne, soziale Sicherung), die Forderung nach Abschaffung des Senats und nach Einführung technischer Arbeitsräte, war auch die von Mussolini wenig später hinzugefügte Parole der ›Entvatikanisierung Italiens‹. Schließlich entsprach auch das Auftreten der Faschisten, das gewalttätige und herrschsüchtige Agieren einer selbstbewussten Minderheit, weitgehend dem vom Futurismus praktizierten politischen Stil (Gentile 1996, 181, 186). Das änderte freilich nichts an der durchaus chaotischen Natur, die der politische Futurismus in der folgenden Zeit an den Tag legte. Mario Carli, der in Fiume für die Bildung von Sowjets in ganz Italien eintrat (De Felice 1965, 541 ff.), bekehrte sich schon bald nach dem Ende des Fiume-Abenteuers zu einem

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schwärmerischen Monarchismus mit scharf antibolschewistischem Akzent, ähnlich wie Emilio Settimelli, mit dem er ab April 1922 die Zeitschriften Il principe und L ’ impero herausgab. Marinetti trat im Mai 1920 aus dem Zentralkomitee aus, da der Faschismus es in seinen Augen an aktiver Sympathie gegenüber den Streikaktionen wie an Radikalität gegenüber der Monarchie und dem Klerikalismus fehlen ließ (Berghaus 1996, 154 f.). Gleichzeitig setzte er sich scharf vom Kommunismus ab. Eine Revolution sei gewiss nötig, aber eine Revolution der Kunst; nicht das Proletariat schlechthin solle regieren, sondern ›das große Proletariat der Genies‹, das, gestützt auf die moderne Technik, ein Höchstmaß an Löhnen und ein Mindestmaß an Handarbeit möglich machen werde, das allen intelligenten Menschen die Freiheit gewähren werde, »zu denken, zu schaffen und künstlerisch zu genießen« (Marinetti 1998, 485 f.). Das war zwar, in seiner Insistenz auf dem »anarchistischen Individualismus« und der Abschaffung aller repressiven Institutionen wie Armee, Gerichte, Polizei und Gefängnisse (ebd., 473), nicht nur dem Bolschewismus entgegengesetzt, sondern auch dem Faschismus. Jedoch dem ersteren mehr als dem letzteren, gehörte der Affekt gegen die Gleichheit doch zu den stärksten Antrieben von Marinettis politisch-künstlerischen Bestrebungen (Berghaus 1996, 262). Als nach dem Marsch auf Rom im politischen Feld nur noch der Faschismus zur Verfügung stand, um dies zu realisieren, gehörte Marinetti zu den ersten, die Mussolini zu seiner Ernennung zum Regierungschef beglückwünschten und widmete ihm sein Manifest über das italienische Imperium. In einem weiteren Beitrag führte er aus, dass die Machtübernahme durch den Faschismus das futuristische Minimalprogramm erfüllt habe (Marinetti 1998, 569 ff., 562). Im November 1924, mitten in der Matteotti-Krise, ließ er den futuristischen Kongress in Mailand einer Erklärung akklamieren, die Mussolini aufforderte, »dem Faschismus und Italien die wunderbare, uneigennützige, kühne, antisozialistische, antiklerikale und antimonarchische Seele von 1919« wiederzugeben und die Opposition der Klerikalen und der Sozialisten zu zerquetschen (Marinetti 1998, 614). Obwohl der Futurismus zu keinem Zeitpunkt Einfluss auf das Regime und schon gar nicht auf seine Kulturpolitik zu gewinnen vermochte, hielt Marinetti doch stets an seinen Hoffnungen fest und blieb bis in die Repubblica di Salò ein getreuer Gefolgsmann des Duce (Ialongo 2015, 241 ff., 279 ff.). 3. Prägten der revolutionäre Syndikalismus und der Futurismus besonders die Anfangsphase des italie-

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nischen Faschismus, so wurde für die Regimephase eine weitere Strömung bestimmend: der Rechtsnationalismus (De Grand 1978; Papadia 2006). Vorbereitet durch Publizisten wie Enrico Corradini, der in seiner Zeitschrift Il Regno seit 1903 einen Kult um den Mythos Rom betrieb, scharf den Parlamentarismus kritisierte, der herrschenden, ›demokratisch-sozialistischfeministisch-positivistischen‹ Mentalität den Kampf ansagte und für einen kriegerischen Expansionismus warb, gründeten die Anhänger dieser Richtung 1910 die Associazione Nazionalista Italiana (ANI), die sich für einen neuen, von Liberalismus und Demokratie abgegrenzten Nationalismus einsetzte. 1914 schrieb Alfredo Rocco, der Nationalismus sei für die Italiener die Bejahung der absoluten Präeminenz des Wohlstands, der Macht und der Zukunft der italienischen Nation; weswegen die Nationalisten keine liberalen moderati sein könnten, keine Konservativen, keine Klerikalen, keine Demokraten, keine Radikalen, Republikaner oder Sozialisten (Perfetti 1984, 170, 220 f.). Dem entsprach noch im gleichen Jahr der Kongress in Mailand, indem er die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der ANI mit derjenigen in einer anderen Partei beschloss und damit endgültig die Trennung vom Liberalismus vollzog. Obwohl man den Begriff der Partei wegen seiner Verbindung mit dem parlamentarisch-demokratischen System strikt ablehnte und insofern eher Gesinnungsverein war, beteiligte sich die ANI an Wahlen und meldete damit ihr Streben nach politischer Macht an. Im Februar 1919 schuf sie sich darüber hinaus einen eigenen paramilitärischen Apparat, die Sempre pronti per la Patria e per il re, die bis zum Herbst 1922 auf eine Stärke von rund 80.000 Mitgliedern anwuchsen und den fasci vor allem im Süden ernsthafte Konkurrenz machten (De Grand 1978, 40 ff., 50 ff.). Luigi Salvatorelli hat die ANI als Interessenvertretung eines humanistischen Kleinbürgertums charakterisiert, das gegenüber dem Kapitalismus »ein reaktionäres ideologisches Stadium« verkörpere, wie dies etwa auch für den Nationalismus der Action française typisch sei (in: Nolte 1979a, 136). Daran ist so viel richtig, dass sich die ANI im Wesentlichen aus Intellektuellen rekrutierte, doch ist damit noch nichts über die Weltanschauung gesagt. Prägend war nicht so sehr Charles Maurras mit seinen in ökonomisch-sozialer Hinsicht eher traditionalistischen Vorstellungen als Mario Morasso, der in zahlreichen Artikeln sowie in seinem Buch L ’Imperialismo nel secolo XX (1905) die dynamischen und expansiven Kräfte feierte, die aus der industriellen Revolution und der Mechanisierung

der Produktion erwuchsen. Zweifelte Morasso noch an der Fähigkeit der lateinischen Nationen, diese Kräfte zu meistern, so waren Corradini oder Rocco sicher, dass zumindest Italien imstande war, es den großen Vorbildern England, USA oder Deutschland gleichzutun und an jenem »Überfluss der Vitalität, der Kraft, der Arbeit und der Produktion, der Industrie, des Handels, des Vermögens« zu partizipieren, den der Imperialismus für die moderne Welt bedeutete (Corradini 1980, 137). Die Behauptung, der italienische Nationalismus sei nichts weiter als eine Kopie des französischen, wurde deshalb von Rocco entschieden zurückgewiesen (Perfetti 1984, 235 f.). Die Ideologie der ANI gewinnt weiteres Profil durch den Hinweis Roccos, der italienische Nationalismus zeichne sich durch »un sentimento esclusivo ed esclusivista« aus, das als Anhänglichkeit an die »Rasse« bzw. als »affermazione della propria razza« näher erläutert wird (ebd., 234). Der Rassenbegriff ist hier jedoch nicht im Sinne jenes Rassenaristokratismus zu verstehen, wie er in Deutschland über die »Nordische Bewegung« in den Nationalsozialismus Eingang gefunden hat (s. u.). Rasse meint bei den Nationalisten die Nation als physisch-hereditäre Einheit, als gleichsam organisches Kollektiv, das mit anderen ähnlich beschaffenen Kollektiven in einem – durchaus ›sozialdarwinistisch‹ aufgefassten – Ausle­ sekampf stehen und seinen exklusiven Charakter aus der jahrtausendealten, einzigartigen Qualität der gens italica beziehen soll, welche ihrerseits das Ergebnis vielfältiger, nicht durchweg negativ bewerteter Rassen- und Völkermischungen sei. So verstanden, war razza wohl eine Legitimationskategorie für eine Politik der Diskriminierung, die sich besonders in den Kolonien auswirkte, jedoch nicht unbedingt auch der Ausgangspunkt für eine Exklusion im Mutterland – ein Umstand, der das Aufkommen eines genuinen Rassismus in der faschistischen Bewegung zunächst stark gedämpft hat, allerdings auch keine unüberwindliche Barriere war, wie später die antisemitische Rassengesetzgebung ab 1938 gezeigt hat (Beer 2010). Dass ein so offen autoritär und etatistisch ausgerichteter Verband wie die ANI sich mit Teilen des revolutionären Syndikalismus und des Futurismus unter einem Dach zusammenfinden konnte, wurde durch die Idee eines neuartigen »Parlaments der ökonomischen Produzenten« erleichtert, das sich aus direkten Repräsentanten aller Syndikate, der Arbeiter sowohl als der Unternehmer, zusammensetzen sollte (Corradini 1980, 142 ff.). Wie dies zu verstehen sei,

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führte Rocco 1919 näher aus. Er schlug vor, alle italienischen Industrien, von der Seidenindustrie bis zur Großchemie, in einem einzigen riesigen Unternehmen zusammenzuschließen, die Produktionsleiter, Techniker und Arbeiter in je eigenen Syndikaten zu organisieren und ihnen die Möglichkeit zu bieten, Vertreter in ein zentrales Wirtschaftsparlament zu entsenden, das aus einer Umwandlung des Senats hervorgehen könnte. Vorbedingung dafür sei allerdings, dass die Gewerkschaften ihre revolutionäre und antistaatliche Ausrichtung aufgäben. Sobald dies der Fall sei, könne man sie rechtlich anerkennen, ihnen politische Funktionen übertragen und sie in den Staat integrieren. Als Bezeichnung für diesen sindacalismo nazionale, den er vom herkömmlichen sindacalismo operaio abgrenzte, schlug Rocco den älteren und eingebürgerten Begriff des corporativismo vor (Rocco 1938, Bd. 2, 499, 483 f., 586, 637). Die Stunde dieses neuen Nationalismus schlug bald nach dem Marsch auf Rom, als Mussolini, um die Legitimität seiner Regierung zu erhöhen, die ANI in die Faschistische Partei aufnahm. Ermöglicht wurde diese Fusion durch den Wandel, den die faschistische Bewegung seit dem Frühjahr 1919 durchgemacht hatte. Der Kern des ursprünglichen, ›Mailänder‹ Faschismus hatte sich aus Dissidenten der Sozialistischen Partei und des revolutionären Syndikalismus sowie aus Arditi und Futuristen rekrutiert, denen der Rechtsnationalismus in sozialer Hinsicht zu bürgerlich, in kultureller Hinsicht zu ›passatistisch‹, in politischer zu monarchistisch und in ökonomischer zu protektionistisch war. Sein Wortführer, Benito Mussolini, hatte sich zwar Anfang 1918 vom Sozialismus verabschiedet, nicht aber von seinen revolutionären, »nationaljakobinischen« Zielen, die ihn immer wieder in polemische Kontroversen mit Repräsentanten der ANI verstrickten (Milza 1999, 211, 227). Erst das Aufkommen des Provinzfaschismus im Herbst und Winter 1920 und die damit verbundene Transformation des Faschismus aus einem movimento situazionale in einen partito milizia ermöglichte ein Abrücken von jener »ideologia antistatalista, liberista e libertaria«, wie sie hauptsächlich aus dem Futurismus und dem revolutionären Syndikalismus erwuchs, und bereitete die Annäherung an die Nationalisten vor, die sich zunächst in der Bildung gemeinsamer Listen für die Parlamentswahlen von 1921 niederschlug, um im Februar 1923 durch eine Fusion beider Verbände abgeschlossen zu werden (De Grand 1978, 125 ff.). Da die Nationalisten meist aus der sozialen und kulturellen Elite des Landes stammten, fiel es ihnen nicht

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schwer im Partei- und Staatsapparat wichtige Führungspositionen zu erobern. Unmittelbar nach der Ermordung Matteottis im Juni 1924 wurde mit Luigi Federzoni einer ihrer führenden Repräsentanten von Mussolini zum Innenminister ernannt, um dem Regime wieder Respektabilität zu verschaffen und die staatliche Autorität sowohl gegenüber dem Antifaschismus als auch gegenüber dem faschistischen Extremismus sicherzustellen. Ihm zur Seite stand ab Januar 1925 Rocco als Justizminister, der sogleich eine rege Gesetzgebungsaktivität entfaltete. Die von ihm eingebrachten leggi di difesa etablierten eine neue Form der politischen Justiz, die leggi fascistissime institutionalisierten die Befugnisse des Staatschefs und des Faschistischen Großrats, die leggi costituzionali sociali verankerten die staatliche Kontrolle der Verbände, namentlich des Generalverbandes der faschistischen Staatsangestellten, in dem die Mehrzahl der Angehörigen des öffentlichen Dienstes organisiert waren (Bach/ Breuer 2010, 325 ff.). Obwohl der Nationalismus damit einen erheblichen Teil seines Programms zu realisieren vermochte, wäre es dennoch falsch, mit Salvatorelli von einer Absorption des Faschismus durch den Nationalismus zu sprechen. Mussolini verlor keinen Moment aus den Augen, dass seine Macht auf einem Bündnis sehr unterschiedlicher Gruppen beruhte und hütete sich deshalb, sich allzu eng mit einer einzigen zu liieren. Im weiteren Verlauf seiner Herrschaft mussten nicht nur Federzoni und Rocco ihre Ämter wieder räumen, auch der Nationalismus als solcher büßte an Relevanz ein, gewann doch die Vorstellung zunehmend an Gewicht, dass nicht die Nation den Staat, sondern umgekehrt der Staat die Nation hervorbringe, genauer: dass es der faschistische Staat sei, der eine neue, faschistische Nation schaffe. Definierte sich die die faschistische Partei noch 1921 und 1926 in ihren Statuten als eine Miliz im Dienste der Nation, so wurde die letztere 1929 nicht mehr erwähnt. 1932 hieß es dann: Miliz im Dienste des faschistischen Staates (Gentile 1997, 166). Nimmt man die seit Ende der 30er Jahre vor allem in der jüngeren Generation beobachtbare Überzeugung hinzu, dass sich das Nationalitätsprinzip erschöpft habe und man den Mythos der Nation durch den mito della civiltà imperiale in funzione universale ersetzen müsse, dann kann man nur der Einschätzung Emilio Gentiles zustimmen, dass der Faschismus keineswegs der Kulminationspunkt in der Geschichte des italienischen Nationalismus war, sondern eher das Gegenteil: der Anfang vom Ende des Nationsmythos in Italien (ebd., 201, 186, 149 f.).

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28.2 Deutschland: Völkischer Nationa­ lismus, Neuer Nationalismus, ­ Rassenaristokratismus Nicht erst seit der ›Achse Berlin-Rom‹ von 1936 gelten Faschismus und Nationalsozialismus als Bewegungen und Regime gleichen Typs, wenn nicht gar als Zwillingsbrüder. Das lässt sich allerdings nur hinsichtlich gewisser herrschaftssoziologischer und praxeologischer Gemeinsamkeiten der Bewegungsphase begründen, nicht aber mit Blick auf die Regime, die deutliche Unterschiede in der Organisationsstruktur aufwiesen, und auch nicht in Bezug auf die ideologische Ebene, die abgesehen von einer Präferenz für Ungleichheit durch ein hohes Maß an Divergenz bestimmt ist. Schon die historischen Akteure haben wohl die eine oder andere Gemeinsamkeit eingeräumt, es jedoch vermieden, ihre Unverwechselbarkeit dadurch zu relativieren, dass man sich entweder als deutschen Faschismus oder italienischen Nationalsozialismus auswies. Mussolini sah als Regierungschef in der 1920er und frühen 1930er Jahren deutsche Partner eher im Stahlhelm als in der NSDAP, und auch die letztere neigte zunächst dazu, die Unterschiede zu unterstreichen. Bewundernde Stimmen fand sich eher im Lager der sogenannten Konservativen Revolution, etwa bei Oswald Spengler und Carl Schmitt (Schieder 1996). In dieser Anfangsphase, von der Parteigründung im Januar 1919 bis zum Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, war die NSDAP eine Partei, die sich nur durch ihre organisatorische Struktur (Führerprinzip ab 1921), nicht aber in ihrer Ideologie vom völkischen Nationalismus unterschied. Dieser wurzelte in der antisemitischen Bewegung, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden war, dann einen zeitweiligen Rückgang erlebte, um in der unmittelbaren Nachkriegszeit erneut zu erstarken, ganz besonders in dem durch die Räterepublik und ihre Niederschlagung erschütterten Bayern. Zumal für die Herausbildung von Hitlers Weltbild war die damals hereinbrechende Flut von antisemitischen Broschüren und Hetzschriften kaum zu überschätzen, hatte der Gefreite doch bis zu einer Entlassung aus der Armee Ende März 1920 als Bibliothekar seines Regiments nicht nur umfassenden Zugang zu diesem Schrifttum, sondern auch den Auftrag und die Zeit, es aufzunehmen und propagandistisch umzusetzen (Plöckinger 2013). In die gleiche Richtung wirkten der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund und die Thule-Gesellschaft sowie zahlreiche Publizisten und Agitatoren, die teils

dort mitwirkten, teils über eigene Foren verfügten. Wichtige Impulse gingen etwa von Dietrich Eckart und seiner Zeitschrift Auf gut Deutsch aus, an der auch Alfred Rosenberg mitarbeitete, ferner von Gottfried Feder, der in seinen ökonomischen und politischen Vorstellungen stark von Theodor Fritsch beeinflusst war und 1920 den Deutschen Kampfbund zur Brechung der Zinsknechtschaft ins Leben rief. Spezifisch völkische Züge zeigt vor allem das 25-Punkte-Programm vom 24. Februar 1920, das im Wesentlichen vom Parteigründer Anton Drexler verfasst wurde. Während einige Forderungen wie die nach dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen auch in Programmen von Parteien und Verbänden der politischen Mitte und der nicht-völkischen Rechten erhoben wurden (Punkte 1–3), enthält der Text etliche Postulate, die bestimmten Erscheinungen der ›reflexiven Modernisierung‹ entgegentraten und demgegenüber die Stände- und Klassenharmonie der ›ersten Moderne‹ (Ulrich Beck) zu erneuern versuchten. Dazu gehört, als Angebot an den alten städtischen Mittelstand, die Forderung nach sofortiger Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und nach stärkerer Berücksichtigung des Kleingewerbes bei öffentlichen Aufträgen (16); als Angebot an den alten ländlichen Mittelstand, die Forderung nach einer Bodenreform, nach Unterbindung jeglicher Bodenspekulation und nach Einführung von Stände- und Berufskammern (17, 25). In die gleiche Richtung zielte die Parole von der »Brechung der Zinsknechtschaft« in Punkt 11, die sich nicht nur gegen Banken und Börsen, gegen die nationale und internationale »Plutokratie« richtete, sondern gleichermaßen gegen den modernen Steuerstaat, implizierte sie doch nach Ansicht Gottfried Feders (auf den dieser Punkt zurückging) nicht weniger als »die Aufhebung aller direkten und indirekten Steuern«, um den Millionen Kleingewerbetreibender, Bauern und Rentnern das Leben zu erleichtern. Feder setzte sich wenig später für einen allgemeinen Steuerstreik ein, der sogar eine Gefährdung der Reichseinheit in Kauf nahm, um das Hauptziel zu erreichen: »die radikale Befreiung von einer geradezu tödlichen Form der staatlichen Finanz- und Steuerwirtschaft« (Feder 1933, 124). Die zentrale Rolle der ›Zinsknechtschaft‹ wurde in Feders Schriften primär mit (wie immer auch fragwürdigen) ökonomischen Argumenten begründet. Erst gegen Ende seiner Ausführungen und gewissermaßen hilfsweise kamen die üblichen antisemitischen Stereotype ins Spiel, die den ›Mammonismus‹ auf den Einfluss des Judentums zurückführten. Dietrich

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Eckart meinte deshalb schon im August 1919 das Manifest seines Freundes durch Hinweise darauf ergänzen zu müssen, dass die Besitzer des Leihkapitals wie auch dessen sozialistische Gegenspieler allesamt Juden seien, »d. h. fleischgewordener Geldgeist, glatte Verkörperung der Zinsidee, weiter nichts« (1919a, 387). Auf Eckarts rabiaten und zunehmend ins Paranoide ausgleitenden Antisemitismus geht die Formulierung in Punkt 24 des Parteiprogramms zurück, dass die NSDAP »den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns« bekämpfe; nicht allein auf ihn, aber sicherlich auch auf ihn jener Forderungskatalog, der auf die vollständige Rücknahme der 1871 vollzogenen Judenemanzipation zielte. Punkt 4 verlangte die Koppelung der Staatsbürgerschaft an den Status des ›Volksgenossen‹, der durch das Kriterium des »deutschen Blutes« bestimmt wurde und Juden explizit ausschloss. Punkt 5 stellte die solchermaßen Exkludierten unter Fremdenrecht, Punkt 6 verwehrte ihnen den Zugang zu öffentlichen Ämtern. Der siebente Punkt sah den Ausschluss aus sozialen Rechten vor und erlaubte in Krisensituationen die Ausweisung. Punkt 8 verlangte diese bereits hier und heute für alle seit dem 2. August 1914 eingewanderten Nicht-Deutschen. Weitere Bestimmungen zielten auf den Ausschluss der »Nicht-Deutschen« aus dem Pressewesen und stellten unter bestimmten Bedingungen sogar die Freiheit des religiösen Bekenntnisses in Frage (Punkte 23 und 24). Alles in allem handelt es sich um ein Konzentrat sämtlicher Forderungen des Radikalantisemitismus, wie er sich schon im Kaiserreich entwickelt hatte (Breuer 2008, 47 ff.). Gemessen an dem, was nicht wenige Exponenten des völkischen Flügels in der NSDAP über die Juden dachten, wird man dies freilich nur als Minimalprogramm ansehen können. Für Eckart, Rosenberg und viele andere stand das Judentum nicht einfach nur für eine andere Religion, eine andere Ethnie oder eine andere Nation, zu der es einen Trennungsstrich zu ziehen galt. Es stand vielmehr zugleich für ein Phantasma, an das sich Vorstellungen von äußerster Bedrohlichkeit hefteten, Wahnideen über Ansteckung, Vergiftung, Verschwörung, die teils mit Mustern magischen und abergläubischen Denkens zusammenhingen, teils mit einer mystischen Religiosität, welche sowohl aus deutschchristlichen als auch aus neopaganen Wurzeln hervor wachsen konnte. Waren für Eckart die Juden eine Rasse, »die aus einer anderen, aus einer teuflischen Welt gekommen scheint, um alles Hohe und Große auf Erden wie ein Heuschreckenschwarm zu vernichten« (1919b, 633), so schrieben

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Artur Dinter und Julius Streicher ihnen die Absicht zu, durch Verführung der »arischen« Frauen diese ein für allemal für die Weitergabe arischen Blutes untauglich zu machen (Essner 2002, 21 ff.). Die ebenso paranoiden wie pornographischen Züge dieser Vorstellungswelt kamen dabei nicht allein in Romanen oder Hetzblättern wie dem Stürmer zum Ausdruck, sondern auch in Werken mit programmatischem Anspruch wie Rosenbergs Mythus des Zwanzigsten Jahrhunderts (1930). Eckart und Rosenberg verbanden damit eine Verschwörungstheorie, der zufolge die Juden nicht nur mittels der Zinsknechtschaft die Weltherrschaft anstrebten, sondern auch mittels des vermeintlichen Antagonisten des ›Mammonismus‹, des Bolschewismus. Eckart identifizierte die Führer des internationalistischen Sozialismus allesamt als Juden und unterstellte ihnen den Plan, mit dem Zarismus einen der Eckpfeiler der alteuropäischen Ordnung zu beseitigen. Der in Russland aufgewachsene Rosenberg knüpfte daran weitausgreifende Spekulationen über jüdische und freimaurerische Welteroberungsstrategien, die sich auf die kurz nach der Jahrhundertwende auf Russisch und 1920 in deutscher Übersetzung erschienenen fiktiven Protokolle der Weisen von Zion stützten. Bei Hitler, der in diesem Punkt stark von Eckart und Rosenberg geprägt wurde, verdichtete sich dies zu einem Szenario von derart beängstigenden Dimensionen, dass er zu Maßnahmen greifen zu müssen glaubte, die weit über das Parteiprogramm hinausschossen. So etwa, wenn er von der »Entfernung der Juden überhaupt« sprach und damit ihre Auswanderung oder Ausweisung aus Deutschland nahelegte; oder wenn er, darüber hinaus gehend, die Sammlung der Juden in Konzentrationslagern erwog (März 1921) und gar den rücksichtslosen Einsatz der »gesamten militärischen Machtmittel [...] zur Ausrottung dieser Pestilenz« für denkbar hielt (Hitler 1933, 186). Irgendwelche prinzipiellen Schranken im Umgang mit dem Judentum gab es bei Hitler nicht; allerdings, wie man sogleich hinzufügen muss, wohl zunächst und für längere Zeit auch keine prinzipiellen Überlegungen, welches die geeigneten Methoden seien, um das ›Problem‹ zu lösen. Noch in der vielzitierten Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, in der er für den Fall eines neuen Weltkriegs die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« ankündigte, ist seine Unentschiedenheit daran zu erkennen, dass er gleichzeitig eine Lösung der Judenfrage durch Territorialisierung anvisierte. Erst im Winter 1941/42 dürfte die Entscheidung für den Genozid gefallen sein, die dann zwischen April und

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Juli 1942 in einem ganz Europa umfassenden Mordprogramm umgesetzt wurde (Gerlach 1998, 87). 2. Nach der Neugründung der NSDAP 1925 und ihrer Ausbreitung nach Nord-, Mittel- und Westdeutschland, erhielt der völkische Nationalismus Konkurrenz durch eine zweite Richtung, die sich den Ideen eines ›neuen Nationalismus‹ öffnete, wie er von Moeller van den Bruck und Zeitschriften wie Standarte, Arminius, Deutsches Volkstum u. a. vertreten wurde. Ihre Hauptexponenten waren Gregor Straßer und sein Bruder Otto Straßer, ferner Joseph Goebbels, der sich zwar 1926 der Münchner Richtung anschloss, jedoch in vielem an seinen ursprünglichen Positionen festhielt. Mit den Völkischen teilte man in diesem Kreis die rechtsnationalistische Grundeinstellung, so dass Bezeichnungen wie ›nationalsozialistische Linke‹ irreführend sind. Oberster Wert war und blieb auch hier die Ungleichheit, das Ziel: eine auf Leistung gegründete Rangordnung (G. Straßer 1932, 134). Das zeigte sich auf außenpolitischem Gebiet in einer Sichtweise, die das Verhältnis zwischen Staaten und Nationen gänzlich vom »Kampf ums Dasein« und vom »Recht des Stärkeren« geprägt sah (Goebbels 1992, Bd. 1, 101). Es zeigte sich in ethnopolitischer Hinsicht in der Übernahme radikalantisemitischer Ziele, auch wenn bei Gregor und Otto Straßer (nicht aber bei Goebbels) die Lösung der ›Judenfrage‹ nicht so hoch rangierte wie bei den Völkischen und die konspirationistischen und kontagiösen Phantasmen einen deutlich geringeren Stellenwert einnahmen. Und es zeigte sich in geschlechterpolitischer Hinsicht, wenn Gregor Straßer in den Nationalsozialistischen Briefen (15.6.1926) die sowohl im völkischen wie schon im bürgerlichen Nationalismus vorhandene Misogynie durch den erklärten Willen verschärfte, Politik zu einer ausschließlich männerbündischen Angelegenheit zu machen, etwa indem man die Wahlstimmen aller derjenigen, die freiwillig Wehrdienst leisteten, mit dem Faktor Zehn multiplizierte. Diese rechte Grundorientierung aber ging einher mit einer Erweiterung der Inklusion, wie sie bei den Völkischen eher selten anzutreffen war. Goebbels, der sich 1923 als »deutschen Kommunisten« bezeichnete, hielt den Bolschewismus für »gesund in seinem Kern«, sprach sich für den »sozialen Ausgleich« zwischen den Klassen aus und entschied sich bei der Frage: »National oder sozialistisch! Was geht vor und was kommt nach?« ohne zu zögern: »Zuerst die sozialistische Erlösung, dann kommt die nationale Befreiung wie ein Sturmwind« (Goebbels 1992, Bd. 1, 31, 96, 118, 194). Gregor Straßer erkannte die Berechtigung

der Gewerkschaften an, bejahte das Tarifrecht und sprach sich für einen Ausbau der Sozialgesetzgebung aus (Straßer 1932, 310). Sein Bruder Otto, der 1925/26 einen Entwurf für ein neues Parteiprogramm verfasste, forderte dort eine weitreichende Nationalisierung der Industrie, die allerdings Verwaltung und Leitung nicht berühren sollte. Weitere Forderungen zielten auf eine Teilenteignung des Großgrundbesitzes, langfristige Staatskredite und niedrige Zinsen für die Landwirtschaft sowie eine staatliche Förderung kinderreicher Familien. Die politische Herrschaft im Innern sollte in Form einer Präsidialrepublik mit föderalen und ständischen Strukturen organisiert sein. Außenpolitisch dachte man vornehmlich an eine Allianz mit der Sowjetunion und spielte zeitweise sogar mit dem (antikolonialistischen) Gedanken eines ›Bundes der unterdrückten Völker‹. Weder das eine noch das andere schloss allerdings aus, dass man einen Nationalimperialismus mit dem Ziel kontinentaler Hegemonie verfolgte (Kühnl 1966, 20 ff., 89 ff., 108 ff.). Auf den ersten Blick war dieser Strömung kein Erfolg beschieden. Der Programm-Entwurf der Straßers fand 1926 nicht einmal unter den nordwestdeutschen Gauleitern Zustimmung und wurde daher zurückgezogen. Auf der Bamberger Tagung setzte sich Hitler in relevanten Fragen wie der Fürstenenteignung oder der Ostorientierung so vollständig durch, dass jede innerparteiliche Opposition erstickt schien. Vier Jahre später gelang es Hitler, einen Keil zwischen die Straßer-Brüder zu treiben und Otto Straßer mitsamt seinem Anhang aus der Partei zu drängen. 1932 torpedierte er erfolgreich die von Gregor Straßer in Angriff genommene Organisationsreform, die der Partei ein größeres Eigengewicht gegenüber der Führung verliehen hätte. Gleichwohl war es in nicht geringem Maße auf Ideen und Konzepte Gregor Straßers zurückzuführen, wenn die NSDAP ab 1930 die für völkische Parteien bis dahin unübersteigbaren Grenzen überschritt und zu einer Massenpartei avancierte. In seiner Reichstagsrede vom 10. Mai 1932, die ein breites Echo fand und zur Grundlage des »Wirtschaftlichen Sofortprogramms der NSDAP« vom Juli 1932 wurde, skizzierte Straßer einen Katalog von Maßnahmen, wie die darniederliegende Volkswirtschaft durch umfangreiche staatliche Aufträge für den Eigenheimbau, die Bodenmelioration und den Ausbau der Infrastruktur wieder zu beleben sei. Die Arbeitskräfte sollten dabei zum vollen Tariflohn bezahlt werden, und zwar mit Mitteln, die teils aus der Arbeitslosenunterstützung, teils vom Staat auf dem Wege der ›produktiven Kredit-

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schöpfung‹ bereitzustellen waren. Darüber hinaus waren eine umfassende Kontrolle des Lebensmittelmarktes sowie eine generelle Sicherung der Existenzfähigkeit der deutschen Landwirtschaft durch den Staat vorgesehen. Auch wenn diese Ideen größtenteils nicht von Straßer selbst stammten, vielmehr 1931/32 von einer Reihe von heterodoxen Wirtschaftstheoretikern und Praktikern ventiliert wurden (Kissenkoetter 1978), muß ihm eine beträchtliche Innovationsbereitschaft bescheinigt werden, wurden doch derartige Programme einer antizyklischen Konjunkturpolitik mittels deficit spending von der Mehrheit der Wirtschaftsfachleute in Deutschland damals noch abgelehnt. Nicht unerwähnt bleiben sollte überdies, dass Straßers Variante dieser Politik sich von der nach 1933 betriebenen dadurch unterschied, dass sie statt auf Rüstung ganz auf zivile Produktion setzte. 3. Neben dem völkischen und neuen Nationalismus fand noch eine weitere Strömung der radikalen Rechten Eingang in die NSDAP: die ›Nordische Bewegung‹, der die Nation nur als Mittel zum Zweck galt (Breuer 2008). Obwohl die Ideen dieser von Rassenideologen wie Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß propagierten Bewegung niemals offiziell von der NSDAP adaptiert wurden, wurden sie doch von einigen führenden Mitgliedern der Partei rezipiert, die Schlüsselstellungen im Apparat besetzten: so etwa von Heinrich Himmler, der seit 1929 die SS führte; oder von Richard Walther Darré, der 1930 von der DNVP zur NSDAP wechselte und von Hitler noch im gleichen Jahr mit dem Aufbau des Agrarpolitischen Apparats betraut wurde. Beide waren Mitglieder des Bundschuhs, einer Schwesterorganisation der 1924 gegründeten Artamanen, in der die Ideen Hans F. K. Günthers besonders einflussreich waren; beide teilten dessen Vorstellung, dass die Zukunft Deutschlands nicht so sehr von Inklusion als von einer Stärkung des nordischen Blutsanteils abhing; und beide übernahmen auch Günthers Überzeugung von der Notwendigkeit einer Kulturrevolution, die die geistige Grundlage der rassischen ›Allvermischung‹ wie auch des Bolschewismus zerstören sollte: das Christentum. Darré, mit Günther seit 1929 freundschaftlich verbunden, verfolgte zwar insofern eine eigene Linie, als er den Gegensatz zwischen wertvollen und minderwertigen Rassen mit dem zwischen Bauern und Nomaden gleichsetzte (Kroll 1998, 157 ff.). Wie Günther führte jedoch auch er die »Entnordung« teils auf die Christianisierung, teils auf die Verstädterung zurück und sprach sich dafür aus, »dass das schöpferische Blut in unserem Volkskörper, das Blut der Menschen Nor-

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discher Rasse, erhalten und vermehrt wird«, da hiervon die »Erhaltung und Entwicklung unseres Deutschtums« abhänge (Darré 1930, 190). Zur praktischen Umsetzung dieses Ziels griff er auf ein Rezept des Rassenhygienikers Fritz Lenz zurück. Aus den fähigsten der noch im rassischen Sinne rein nordischen Bauern sollte eine Adelsgenossenschaft gebildet werden, die über eigenen Landbesitz verfügen und daraus Erblehen für sogenannte Hegehöfe vergeben sollte. Unter ständiger Beratung und Kontrolle durch sogenannte Zuchtwarte sollten die Hegehöfe zu »Quellen hochwertigster Blutströme im Volkskörper« werden (ebd., 99, 163, 168). Die nichterbenden Söhne sollten »das Rückgrat der eigentlichen Führerschicht unseres Volkes« bilden, die den übrigen als Auslese-Vorbild dienen sollten. Für die als weniger wertvoll geltenden Mitglieder des Volkskörpers – insbesondere diejenigen weiblichen Geschlechts –, waren Eheverbote und Sterilisation vorgesehen (ebd., 214, 224, 170). Damit hoffte Darré, der »Rassenmischung« entgegenzuwirken und die »deutsche Erbmasse« allmählich von »nichtnordischen Blutsteilen« reinigen zu können (ebd., 195). Als Leiter des 1932 eingerichteten Rasseamtes der SS (später: Rasse- und Siedlungs-Hauptamt, RuSHA) konnte er einige Jahre maßgeblichen Einfluss auf die Definition der Auslesemechanismen nehmen, die der SS eine Vorreiterfunktion bei der Bildung des neuen Adels verschaffen sollten (Heinemann 2003). Die Bildung einer neuen Oberschicht aus nordischgermanischem Blut war auch das erklärte Ziel von Darrés Freund Heinrich Himmler (Kroll 1998, 209 ff.). Wie Darré war auch er stark beeindruckt von Günthers Frühschrift Ritter, Tod und Teufel (1920), in der dieser die rassentheoretische Version des kategorischen Imperativs formulierte: »Handle so, dass du die Richtung deines Willens jederzeit als Grundrichtung einer nordrassischen Gesetzgebung denken könnest!« Nicht weniger nachhaltig dürfte die Lektüre von Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes gewirkt haben, hat Himmler sie doch später ungezählte Male verschenkt. Güntherschen Geistes war seine ständige Klage über den Kulturverfall durch »Blutsverwischung« und Abnahme des nordischen Rassekerns aufgrund von Landflucht und Verstädterung sowie einer damit einhergehenden Zunahme »dekadenter« Erscheinungen wie Homosexualität und Abtreibung, war die schroffe Ablehnung des Christentums als der »größten Pest, die uns in der Geschichte anfallen konnte«, war aber auch die unerschütterliche Überzeugung, den Niedergang aufhalten und die absteigende Bewegung in eine aufsteigende umkehren

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zu können: durch Förderung der Siedlung, durch Rassentrennung und -hierarchisierung, durch verstärkte »Blutsauslese« und Rückzüchtung reinrassiger Germanen aus den gemischtrassigen Völkern Europas (Longerich 2008, 228, 132 f.). Auch wenn Himmler manchen Essigtropfen in den Wein der Nordizisten mischte, wie etwa die Betonung des ›Germanischen‹ anstelle des ›Nordischen‹ oder die Förderung unehelicher Geburten sowohl in bevölkerungspolitischer Absicht als auch mit dem Nebenzweck einer Zertrümmerung der christlichen Sexualmoral: sein angestrebtes ›Großgermanisches Reich‹ begnügte sich nicht mit einer nationalistisch-imperialistischen Expansions- und Annexionspolitik, sondern folgte einer utopischen Neuordnungsidee, die die nationalstaatliche Gliederung Europas komplett sprengen wollte. Träger und Lenker dieses Prozesses sollte die SS sein, in der von Himmler konzipierten Gestalt eines ›Sippenordens‹, der im Gegensatz zu den Orden der christlichen Kirchen wie auch zu dem von Rosenberg angestrebten ›Partei-Orden‹ Männer und Frauen in festen Sippengemeinschaften verbinden sollte. Für die Aufnahme in diese Einrichtung ließ Himmler einen Kriterienkatalog erarbeiten, der streng nach der Güntherschen Rassenlehre aufgebaut war. Potentielle Kandidaten mussten entweder rein nordischer, vorherrschend nordisch-fälischer oder harmonisch gemischter Herkunft sein, einen rein arischen Stammbaum bis mindestens 1800 aufweisen, über eine Mindestgröße von 170 cm und einen wohlproportionierten Körperbau verfügen. Ähnlich strengen Normen unterlag die Eheschließung, für die neben der genealogischen auch eine erbgesundheitliche Prüfung verlangt wurde. Schon 1932 glaubte die SS in dieser Hinsicht einen solchen Perfektionsgrad erreicht zu haben, dass sie sich stolz als »Verband nordisch-bestimmter Männer« präsentierte (Hein 2012; Harten 2014). Die enge Verbindung, die dieser Rassenaristokratismus mit Bauernverherrlichung und Stadtfeindschaft einging, hat die Forschung immer wieder dazu veranlasst, von einer generell antizivilisatorischen, antiindustriellen und zutiefst regressiven Einstellung zu sprechen. Daran ist so viel richtig, dass das Ziel der Schaffung einer auf Erblichkeit basierenden Oberschicht auf eine Ordnung der Stratifikation hinauslief, die mit einem Bauprinzip der Moderne, der funktionalen Differenzierung, in Spannung stand, wurde doch der Leistung ein bestimmtes Sein vorgeschaltet. Eine grundsätzliche Absage an Funktionalität war darin jedoch nicht eingeschlossen, im Gegenteil. Günthers Rat folgend, sich die Geldmacht zunutze zu machen, un-

ternahm Himmler von Anfang an die größten Anstrengungen, Vertreter des Finanz- und Industriekapitals für seinen von Wilhelm Keppler organisierten Freundeskreis Reichsführer SS zu gewinnen, und selbst Darré ließ sich von seinem Bauernspleen doch zu keinem Zeitpunkt davon abhalten, den Maschineneinsatz in der Landwirtschaft zu forcieren und sich bei den Raumplanungen für das ›Altreich‹ der modernsten soziologischen, betriebswirtschaftlichen und architektonischen Expertise zu bedienen. Das Zusammengehen derart unterschiedlicher Richtungen in ein und derselben Partei ist – nicht anders als im italienischen Fall – mit den Mitteln der Ideengeschichte nicht zu erklären. Aus der Perspektive der Herrschaftssoziologie liegt der Schlüssel für dieses Phänomen im Charakter der faschistischen Partei als einer charismatischen Patronagepartei, die nach Max Weber auf Erlangung der Macht für den Führer und Besetzung der Stellen des Verwaltungsstabes durch dessen Stab ausgerichtet ist und ihre Einheit nicht über Programme, sondern über das Charisma des Führers sowie eine extensive Gewaltpraxis erreicht (Bach/Breuer 2010, 17 ff.). In diesem Falle speiste sich das Charisma nicht nur aus persönlicher Ausstrahlung, rhetorischem Geschick und propagandistischer Inszenierung, sondern auch aus der Fähigkeit seines Besitzers, sich für alle in der Partei vertretenen Richtungen offenzuhalten. Hitler (und das gilt mutatis mutandis auch für Mussolini) konnte je nach Kontext als völkischer Nationalist, als Neonationalist und als Neoaristokrat erscheinen, und dies vermutlich nicht deshalb, weil er mit diesen Einstellungen souverän spielte, sondern weil sie sich in seinem Kopf auf unlösbare Weise mischten. Gewiss: ohne das ›Charisma der Rede‹ hätte Hitler seine Schlüsselstellung in der Partei nicht erringen können. Dass er sie jedoch zu bewahren und sogar ständig auszubauen vermochte, verdankte er weniger der Tatsache, dass er über ein Ideengebäude verfügte, »dessen Folgerichtigkeit und Konsistenz den Atem verschlägt« (Nolte 1979b, 55), sondern weit mehr dem Umstand, dass er allen Gruppen als ihr Mann erscheinen konnte. Für einen Neonationalisten wie Gregor Straßer war Hitler der beste denkbare Partner, auch wenn man in Fragen der Wirtschaftsorganisation sowie einigen anderen Punkten auseinanderlag. À la longue, so konnte Straßer glauben, würden sich schon der Sachzwang und die größere Kompetenz durchsetzen, und nicht zuletzt auch diejenigen, die den Parteiapparat beherrschten. Für die Völkischen war Hitler ebenfalls unersetzlich, schaffte er doch etwas, was sie mit ihrem notorischen

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Sektierertum nie geschafft hatten: Wahlen und damit politische Macht zu gewinnen. Zwar war es irritierend, dass dies mit einer Inklusionsrhetorik und einem Modernitätsenthusiasmus geschah, die ihnen eher anathema waren. Alle diesbezüglichen Ängste ließen sich von Hitler jedoch leicht mit dem Hinweis beruhigen, dass dies alles nur erfolgte, um die Startbedingungen für ein gigantisches Exklusionsprogramm zu schaffen. Rosenberg mit seinem zukünftigen Männerbund, Himmler mit seiner nordisch-germanischen Elite, Darré mit seinem Neuadel aus Blut und Boden, sie alle konnten mit Fug davon ausgehen, dass Hitler genau dies und nichts anderes im Sinn hatte, wenn er in Aussicht stellte, den »allgemeinen Rassenbrei des Einheitsvolkes« aufzulösen (Hitler 1933, 439). So fand ein jeder, was er suchte. Literatur

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Stefan Breuer

IV Ideengeschichtlicher ­ Ausblick

29 Die Zukunft der politischen Ideengeschichte Es gibt prinzipiell keinen sinnvollen Grund, die Rekonstruktion der politischen Ideengeschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnen oder enden zu lassen. Dennoch liegt der Fokus der Darstellung in diesem Handbuch auf dem Zeitraum bis 1945, was mit einer weit verbreiteten, aber eben systematisch nicht begründbaren Praxis zusammenhängt. Ähnlich der Einteilung der historischen Epochen in der Geschichtswissenschaft, bei der es sich etabliert hat, die Zeitgeschichte als denjenigen Teil der Geschichte zu verstehen, der von in der Gegenwart lebenden Menschen noch miterlebt wurde (und damit ihren zeitlichen Fokus relational fortlaufend zu verschieben), gilt die Ideengeschichte in der Darstellung oft auch an der Stelle als beendet, wenn die historische Zeitzeugenschaft endet. Für viele Theoretikerinnen und Theoretiker beginnt in der historischen Phase, die noch unmittelbar Einfluss auf die Gegenwart hat (also in etwa den zurückliegenden 80 Jahren) das, was gemeinhin mit dem Begriff ›politische Theorie‹ gefasst wird: also die aktuelle theoretische Reflexion, die verbunden wird mit zustimmenden oder ablehnenden Adaptionen aus der politischen Ideengeschichte. Wir haben an anderer Stelle argumentiert (vgl. Hidalgo/Höntzsch/Salzborn 2012), dass es aus methodologischen Gründen sinnvoll wäre, politische Ideengeschichte stärker in einem systematischen Verständnis zu fassen und insofern ideengeschichtliche Ansätze als eine grundsätzliche Form des Umgangs mit politischem Denken, gleich welcher epochalen oder zeitlichen Kontextualisierung, zu verstehen und es damit, wenn man so will, als eine fakten- und kontextorientierte Form der Rekonstruktion sozialer und politischer Realität zu begreifen – was letztlich auch ein Plädoyer gegen postmoderne Beliebigkeiten war und ist, in denen das abstrakte Denken sich schleichend verflüchtigt und der für den kontroversen Streit um politischen Ideen und Theorien unverzichtbare Wahrheitsbegriff aufgegeben wird: Denn die Ideengeschichte rekonstruiert den Streit um Wahrheitsansprüche, dessen Grundlage die Annahme bildet, dass es Wahrheit gibt – ganz gleich, ob sie erfassbar und erkennbar

ist und auch jenseits der Frage, ob Menschen sie überhaupt jemals begreifen können. Damit steht die Rekonstruktion der politischen Ideengeschichte methodologisch in ihren grundlegenden Ansprüchen materiell und manifest gegen jede Auflösung von Geschichte und Denken in den Glauben reiner Erzählung, Ideengeschichte rekonstruiert konkurrierende Deutungen und Interpretationen, ist aber damit ein starker Anker gegen die Narration von der ausschließlichen Narration. Man könnte, angelehnt an Marx, auch sagen: Die politische Ideengeschichte wendet sich zwar weitgehend den Varianten und Variationen des Bewusstseins zu, deutet dies aber auf der Basis einer Ergründung des Seins, bei dem nicht nur begriffen wird, das Wesen und Erscheinung different, sondern eben auch beide existent sind. Das Handbuch endet in seiner Darstellung um das Jahr 1945 – was freilich nur die halbe Wahrheit ist, da die Beiträge über die Moderne fast alle Ausblicke oder Hinweise auf die Weiterentwicklung der konservativen, liberalen, sozialistischen bzw. kommunistischen, anarchistischen, republikanischen, anti-/postkolonialen, feministischen, nationalistischen bzw. antisemitischen, faschistischen bzw. nazistischen Theorien enthalten. Der zeitliche Fokus hat seinen Grund auch darin, dass die Rekonstruktion der Ideengeschichte der zurückliegenden 70 Jahre weit unübersichtlicher ist, als die der Jahrhunderte zuvor: das liegt in erster Linie daran, dass ein historisch sehr kurzer Zeitraum von rund 70 Jahren noch lange kein etabliertes Kanonwissen generiert hat, es sind noch längst nicht alle theoretisch relevanten Schriften aus diesen Jahrzehnten editiert, Werk- und Gesamtausgaben entstehen zum Teil gerade überhaupt erst und die Frage, welche Denkerin oder welcher Denker für relevant gehalten wird, verschiebt sich immer wieder (vgl. Reese-Schäfer/Salzborn 2015). Letzteres kann man sehr gut am Beispiel von Hannah Arendt sehen: während sich für Arendt lange Zeit ›nur‹ die (theoretische) Antisemitismus- und Totalitarismusforschung interessiert hat (vgl. Salzborn 2010, 119 ff.), gibt es seit etwas mehr als einem Jahrzehnt ein geradezu exorbitantes Hannah-Arendt-Revival in der politischen Theoriedebatte, unzählige Gedankenfragmente von Arendt werden in Einzelstudien rekonstruiert und selbst in den Einführungen in

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6_29

29  Die Zukunft der politischen Ideengeschichte

die Ideengeschichte, die personenorientiert vorgehen und lange nahezu ausschließlich politische Denker vorgestellt haben, findet eine Rejustierung statt, so dass nun – dem dort verfolgten Ansatz der Orientierung auf Personen und ihre intellektuellen Leistungen – sich immer mehr ein Kanon zu etablieren scheint, der (etwas polemisch formuliert) auf die Formel einer Darstellung des ›Denkens großer Männer und Hannah Arendt‹ gebracht werden kann. Das Beispiel zeigt: die Lesarten der Gegenwart prägen die Rekonstruktion der Vergangenheit, auch und gerade der jüngsten. Ähnlich verhält es sich auch mit der »grünen« politischen Theorie: während diese in Darstellungen zur Ideengeschichte im englischsprachigen Raum mittlerweile einen relativ festen Platz einnimmt, wird sie in der deutschsprachigen Debatte nach wie vor weitgehend ignoriert (vgl. Salzborn 2017, 125 ff.) – und das, obgleich ökologisches Denken nicht nur erheblichen realpolitischen Einfluss ausübt, sondern seit den 1970er Jahren politische Theorien zu Fragen von Umwelt-, Natur- und Tierschutz, damit verbunden des anthropozentrischen Weltbildes und seiner Legitimation sowie des Verstandes- und Vernunftbegriffes in umfangreichem Maße international geführt wurden und werden. Beide Beispiele verdeutlichen, dass die Rekonstruktion von politischer Ideengeschichte in dem Zeitfenster, dass die Geschichtswissenschaft Zeitgeschichte nennt, ungleich schwieriger ist, als in sämtlichen anderen Epochen und auch, dass gerade durch die Verwobenheit mit politischen und sozialen Konflikten, aus denen politische Theorien gleichermaßen hervorgehen, wie sie diese motivieren oder (de-)legitimieren, ihre Rekonstruktion deshalb erst mit erheblichem Zeitabstand realistisch ermöglicht, weil sich erst durch die Vorarbeiten und Vorstudien – unter anderem biografischer, werkgeschichtlicher, zeithistorischer, soziologischer und (partei)politischer Provenienz – das Bild der Wirklichkeit rekonstruieren lässt, das zumindest dem Anspruch einer wahrheitsgemäßen Rekonstruktion nahe zu kommen in der Lage ist. Was zeigt aber dennoch der ideengeschichtlich informierte Blick, wenn er den Rückblick auf die letzten rund 70 Jahre in international-vergleichender Perspektive – denn dies war und ist ja der Gesamtanspruch des Handbuches – unternimmt? Eine Antwort auf diese Frage – die an dieser Stelle ganz bewusst nicht im Sinne einer umfangreichen Rekonstruktion unternommen werden soll, da es sich hier lediglich um einen Ausblick handelt – kann ein Blick auf die

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zentralen Fragen politikwissenschaftlicher Forschung andeuten, der zeigt, dass eine alte Kontroverse in neuer Form nach wie vor präsent ist, eigentlich als die Kontroverse der politischen Ideengeschichte überhaupt: die nach der (guten, richtigen, legitimen, gerechten etc.) politischen Ordnung. Denn politische Theorien entstehen immer überhaupt nur in der Absicht, politische Ordnungen zu verändern – oder sie vor Veränderungen zu bewahren. Ganz gleich, ob die Änderungsabsicht genereller oder punktueller Natur ist oder ob Veränderungen abgewehrt oder rückgängig gemacht werden sollen, bildet stets ein Konflikt um konkurrierende Wahrnehmungen von politischer Legitimität das zentrale Motiv für die Formulierung von politischen Theorien. Denn nur gesellschaftliche Systeme und politische Ordnungen, in denen Legitimitätskonflikte und Interessendifferenzen existieren, generieren die Notwendigkeit zur Reflexion über die Ursachen für Defizitwahrnehmungen durch einzelne gesellschaftliche Gruppen, die über Ein- und Ausschluss in Macht- und Herrschaftskontexten entscheiden (vgl. Jörke 2011). Die Wahrnehmung dieser Ein- und Ausschlüsse sind, wie David Easton (1965, 1975) auf der systemischen und Gabriel A. Almond & Sidney Verba (1963, 1980) auf der kulturellen Ebene gezeigt haben, zentral für die subjektive Bewertung politischer Ordnungen und die daraus resultierende politische (Nicht-) Unterstützung, die nach ihren Objekten (political community, regime, political authorities) und nach ihren Arten (specific support, diffuse support) differenziert werden kann, die wiederum die Basis für multiple Bewertungen der politischen Ordnungen bieten und ihrerseits Grundlage für Fragen von Legitimation wie Delegitimation bilden, wobei die Spannweite sozialwissenschaftlicher Forschung dabei von psychologischen (vgl. im Überblick: Jost/Major 2001) über soziale (vgl. im Überblick: Berger/Zelditch 1998; Berger/Ridgeway/Fisek/Norman 1998) bis zu politischen Dimensionen (vgl. im Überblick: Barker 1990; Cohen/Toland 1988; Muller/Jukan/Seligson 1982; Plasser/Ulram/Waldrauch 1997; Westle 1989) reicht und jede dieser als konflikthaft wahrgenommenen Dimensionen zu sozialen Eruptionen und damit zur Formulierung von politischen Theorien führen kann. In dem Maße, wie ein Ordnungskonzept in der politischen Theorie – zumindest in seinen wesentlichen Grundzügen – vorformuliert werden muss, bevor es realisiert werden kann, ist diese theoretische Konzeptionierung auch Folge von gesellschaftlichen und po-

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IV  Ideengeschichtlicher ­Ausblick

litischen Krisenerscheinungen, sei es in legitimierender oder delegitimierender Absicht der jeweiligen Ordnung. Zur praktischen Realisierung einer theoretischen Ordnungsvorstellung reicht freilich der Gedanke nicht aus, sondern es muss zu einer zur politischen Programmatik verdichteten Idee immer eine gesellschaftliche Elektrisierung kommen: Das Bündnis aus ›Elite‹ und ›Masse‹ ist unausweichlich, soll eine neue Ordnungskonzeption verwirklicht werden oder eine bestehende gegen sie revolutionierende Vorstellungen geschützt werden. Die Frage nach (In-)Stabilität und (De-)Legitimierung wird dabei im diffizilen Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Dimensionen bewusster (vor allem politischer und rechtlicher), vorund teilbewusster (vor allem sozialer) und unbewusster (vor allem psychischer) Strukturen im Interaktionsverhältnis von Individuum, Gruppe und Masse entschieden, die auf multidimensionale Weise Stabilität oder Labilität bestehender politischer Ordnungen und Attraktivität bzw. Unattraktivität gedachter Alternativen beeinflussen. In den Worten von John DeLamater u. a. (1969) kombinieren sich funktionale und normative Motive für eine Bindung an eine politische Ordnung mit symbolischen Elementen. Je nachdem, welche Faktoren im Zusammenspiel mit anderen wirkungsmächtig werden, fällt die weitere Entwicklung aus, wobei neben der systemischen Dimension einer Gesellschaft auch immer außersystemische Faktoren eine Rolle spielen, wie beispielsweise bei Androhung einer militärischen Intervention von Außen und das mit dieser verbundene Potenzial zur Realisierung physischer Gewaltsamkeit (vgl. Voigt 2008; Salzborn/ Zapf 2015). Dass theoretische Konzepte, Entwürfe und Kritiken nicht nur im historischen Kontext diskutiert und damit zeitgenössisch zu relevanten Theorien werden, sondern auch in der Gegenwart fortwährend präsent bleiben, hat seine Ursache vor diesem Hintergrund in der faktischen Wirkmächtigkeit von politischen Theorien, die sich im Zusammenspiel aus einer individuellbiografischen und einer sozialhistorischen Dimension ergibt: Politische Konzepte, die ohne Bindung an soziale Bewegungen als ihre Trägerinnen formuliert werden, verlieren im Zeitenlauf ihre Intensität und verblassen damit zunehmend, bleiben letztlich zwar historisch von Interesse, aber eben nicht mehr politisch. Langfristig wirkmächtige Theorien sind nur jene, die konkrete und abstrakte Momente der Analyse und Interpretation verbinden, also einerseits einen historischen Zeitkern haben und in ihrem konkreten politischen Kontext etwas zur empirischen oder nor-

mativen Aufklärung präsenter Konfliktkonstellationen beitragen, zugleich aber einen überzeitlichen Wahrheitskern inkorporieren, der in seiner Abstraktheit Anschlussfähigkeit für andere räumliche und zeitliche Kontexte bietet. Sind die Texte nur konkreter Natur und analysieren etwa Konflikte im politischen System oder den internationalen Beziehungen, sind sie vor allem historisch von Interesse. Fokussieren sie ohne Referenz auf ihren zeitlich-räumlichen Kontext allein auf abstrakte Probleme, tendieren sie dazu, philosophische Bedeutung zu entfalten. Allein die Verbindung aus abstrakten und konkreten Analyseaspekten macht theoretische Analysen potenziell langfristig wirkmächtig. Denn das Spezifikum von politischen Theorien in ihrer Fortwirkung über ihren sozialhistorischen Kontext hinaus liegt genau darin, erfolgreich wesentliche Struktur- und/oder Funktionselemente ihrer jeweiligen Gesellschaft erkannt und erfasst zu haben und damit kleinere oder größere Teile der politischen Kulturen eines politischen Ordnungskontextes oder einzelner subkultureller Strukturierungen der jeweiligen Gesellschaften zu politischem Handeln motiviert oder, anders herum, dieses (de-)legitimiert zu haben. Interpretiert man die politische Ideengeschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges dann als eine Geschichte des Streites um die ›richtige‹ oder gegen die ›falsche‹ politische Ordnung, dann zeigt sich, dass das Zentrum des politischen Denkens mehr denn je der Staat ist – mehr noch, als man in der antirealistischen Wende, die von vielen als cultural oder linguistic turn beschrieben wurde, eine antistaatliche Gegenbewegung in der Theoriebildung attestieren kann, bei der sich – besonders in französischen Debatten seit den 1970er Jahren – der Gegenstand der politischen Theorie über die Jahrzehnte hinweg faktisch verflüchtigt hat, aufgelöst in radikal-subjektivistischen Moralismus, der den Streit um die Ordnung ersetzen möchte durch den Diskurs über das Symbolische, damit aber jene nicht revidieren oder gar konterkarieren kann, sondern paradoxerweise dadurch, dass die Relevanz der Ordnung so beständig geleugnet wird, diese immer weiter stabilisiert. Diese Soziologisierung der Ideengeschichte hat sie insofern nicht nur entmaterialisiert, sondern im Kern entpolitisiert – so dass heute durchaus soziologische Theorien als politische Theorien gelten, obgleich sie keinen Kern des Politischen aufweisen.

29  Die Zukunft der politischen Ideengeschichte

29.1 Ordnungen des Politischen Klaus Roth (2003) hat in seiner Untersuchung zur Genealogie des Staates herausgearbeitet, dass sich der moderne Staat in einem über Jahrhunderte fortwährenden Prozess aus den mittelalterlichen Herrschaftsverbänden heraus entwickelt hat. Dabei hat er die Gründe für den Aufstieg der auf den Staat fixierten Vorstellungswelt systematisch analysiert und zu diesem Zweck die Vorläufer des Staates (Polis, Reich, Ekklesia) und die in ihrem Rahmen entwickelten Politikvorstellungen untersucht, also zunächst nicht die realhistorische Entwicklung des europäischen Staatensystems, sondern seine konzeptionelle Anbahnung in der Politischen Theorie. Roth geht dabei von der These aus, dass das europäische Politikdenken der Neuzeit um den Begriff des Staates kreiste und folglich der Staatsbegriff das »Gravitationszentrum des neuzeitlichen Politikdenkens« (Roth 2003, 803) darstellt. Der vom italienischen Begriff stato abgeleitete Begriff Staat erlangte im deutschen Sprachraum zunehmend im 17. Jahrhundert Relevanz (vgl. Beyme 2000, 181 f.). Im Übergang des vormodernen Personenverbandsstaates des Mittelalters auf den Anstaltsstaat der Neuzeit entwickelte sich ein Politikverständnis, das eine Herrschaftsordnung begründete, die auf territorial klar umrissene, mit einer monopolisierten Zentralgewalt versehene und einer auf Kontinuität und Dauer hin angelegten Staatbevölkerung basierte. An der Schwelle von Vormoderne zu Moderne kumulierten zahlreiche Entwicklungsstränge in einem Prozess, in dem der moderne Nationalstaat entstand, den Georg Jellinek (1914) staatsrechtlich in seiner Einheit aus Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk charakterisiert hat. Ausgehend von einem relativ weit fortgeschrittenen inneren Konsolidierungsprozess der vormodernen Herrschaftsverbände stellte dabei die revolutionäre Modernisierungskrise denjenigen Rahmen dar, in dem die Zielutopie des Nationalismus einen Orientierungspunkt abgeben konnte (vgl. Wehler 2001, 15 ff.). Dieser Nationalismus bezog seine Attraktivität einerseits aus der Verknüpfung mit den Idealen der Aufklärung und des Liberalismus, griff andererseits und oft zugleich aber auf das Arsenal religiöser Traditionsbestände zurück. Auf diese Weise erhielt der moderne Nationalstaat auch den Nimbus des Mythischen, wobei er dieses religiöse Potenzial – wie Ernst-Wolfgang Böckenförde (1976) gezeigt hat – aus eben dieser Ambivalenz heraus nie wirklich zu garantieren in der Lage war. Diese Entwicklung basierte auf fundamentalen sozialen und ökonomischen Verände-

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rungen, dem Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Produktionsweise, die durch die Herausbildung einer zunehmend marktabhängigen Sozialstruktur, einer wachsenden Mobilität und entstehender mittelbarer, d. h. medialer Kommunikation die Formierung nationaler Bewegung(en) als soziale Bewegung(en) ermöglichte. Die Gründe, aus denen der Nationalstaat unmittelbar mit der Moderne verknüpft ist, sind dabei in erster Linie im ökonomischen Bereich zu sehen. Franz L. Neumann (1937, 31 ff.) folgend basierte die politische Dimension der Emanzipation im modernen Nationalstaat auf seiner ökonomischen Umwälzung. Denn der politische Erfolg des durch das Bürgertum getragenen Liberalismus, die Schaffung eines einheitlichen Rechtssystems unter der Ägide des Vertrags, hatte nicht nur politische Dimensionen der Emanzipation und die Entwicklung demokratischer Strukturen zur Folge. Sie stellte zugleich auch eine unabdingbare Notwendigkeit für die Fortexistenz der Waren produzierenden Gesellschaft dar, weil nur die Form des Vertrags und seine verbindliche Absicherung durch Rechtstaatlichkeit die Gewähr für die dauernde Sicherheit des Tauschhandels bot. Elemente der Willkür, wie sie noch charakteristisch für den vormodernen Herrschaftsverband waren, hätten Tausch wieder in Raub verwandelt und damit die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben. Insofern der moderne Nationalstaat damit eine Bedingung für die Fortexistenz der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, ist er auch erst durch sie entstanden. Max Weber (1980, 29 und 516) hat in diesem Kontext die Frage der Legitimation moderner Herrschaft in den Mittelpunkt seiner Analyse gerückt und die Notwendigkeit eines Monopols legitimer psychischer Gewaltsamkeit betont. Diese legitimatorische Grundlage für einen politischen Herrschaftsverband wurde erst mit der Etablierung des modernen Staates durchgesetzt, da für sie gleichermaßen dauerhafte Relationen zwischen Herrschern und Beherrschten wie auch die auf Rationalität gegründete Formierung der Herrschaft selbst notwendige Voraussetzung bildeten. Eine ebenfalls notwendige Voraussetzung sowohl für die Legitimation wie für die Handlungsfähigkeit des modernen Staates stellte die Souveränität dar, in der sich der moderne Staat von anderen Herrschaftsverbänden fundamental unterschied und die ihn essentiell charakterisierte. Analog der späteren Formulierung von Carl Schmitt (1934, 11), nach der souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, dominierten im deutschen Sprachraum Verständnisse

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IV  Ideengeschichtlicher ­Ausblick

von Staatsräson und Souveränität, die diese als absolut und uneingeschränkt verstanden. Die Staatsgewalt konzeptualisierte sich – als nach innen und außen überlegen und unabhängig – in einem obrigkeitsstaatlichen System, das einerseits von Ordnung und andererseits von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen geprägt war, und zugleich als machtstaatliche Konzeptualisierung mit einem Primat außenpolitischer Entscheidung und einer Betonung des gesetzlichen Zwangscharakters in innenpolitischer Hinsicht. In der Staatslehre wandten sich dagegen die Denker des Liberalismus wie Immanuel Kant oder Georg W. F. Hegel, die das Souveränitätsdenken an die individuelle Freiheit binden wollten. Diese sollte rechtlich garantiert werden, so dass sich der Gedanke des Rechtstaates von dem des Machtstaates abhob und die formelle institutionelle und juristische Dimension von Politik betonte. Politik, so der Einwand des Liberalismus, fände immer dort statt, wo rechtliche Kodifizierungen vorliegen und ein allgemeines gleiches Gesetz begründet wird. Sowohl der machtstaatliche wie der rechtstaatliche Ansatz nahmen dabei den modernen Staat als Herrschaftsverband zum Ausgangspunkt ihrer Analyse und begriffen das Politische als unauflöslich mit dem Staatlichen verbunden. In diesen gegensätzlichen Haltungen lag auch eine staatstheoretische Ambivalenz begründet, da in beiden Fällen der Staat als gesonderte Sphäre jenseits der Gesellschaft begriffen wurde, wenngleich auch mit unterschiedlicher Konnotation, so blieben gesellschaftspolitische und soziale Voraussetzungen politischer Herrschaft außerhalb der Reflexion staatlichen Handelns. Die damit verbundene Seite des politischen Inputs, die Kontrolle staatlichen Handelns und die in der Gesellschaft widerstreitenden Interessen blieben außerhalb der Betrachtung. Die traditionelle deutschsprachige Staatslehre war somit einem Effizienzargument verpflichtet, dem die angelsächsische Tradition bereits in der Begründung moderner Staatstheorie durch ihre Betonung der Bindung von Staatsgewalt an das gesellschaftliche (d. h. zunächst bürgerliche) Interesse auf ein Auftragsverhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung (trust), also zwischen Beherrschten und Herrschenden abstellte, das im Begriff des government voll zum Tragen kam. Besonders deutlich wurde dies staatstheoretisch in den Schriften von John Locke oder John Stuart Mill, in denen die Repräsentativität von Regierung, die Notwendigkeit der Legitimität von Herrschaft und die Teilung von gesellschaftlicher und politischer Gewalt in den Mittelpunkt gerückt wurden. Zugleich erhielt der moderne

Herrschaftsverband sich im Rahmen der Gewaltenteilung aber auch einen funktionalen Handlungsspielraum, der jenseits dieses Kontrollmechanismus lag: der gesamte Bereich der Exekutive blieb zunächst außerhalb legitimatorischer Rückbindung an Kontrollfunktionen. Sowohl die Traditionslinie, die sich am Staatsbegriff orientierte, wie auch die, die stärker auf den Begriff des government abstellte, bildeten den Hintergrund für die in den späten 1940er und 1950er Jahren einsetzende Diskussion um Begriff und Inhalt moderner Herrschaftsordnung. Unter starker Anlehnung an die angelsächsische Tradition wurde nun im Konzept der Regierungslehre bzw. der vergleichenden Lehre von den Regierungssystemen versucht, die obrigkeitsstaatliche Tradition im Rahmen einer vergleichenden Demokratie- und Diktaturforschung zurück zu drängen, wobei den politischen Ordnungen ihr genereller Staatscharakter nicht abgesprochen wurde und ebenso wenig in Frage stand, dass es der Staat ist, der den politischen Handlungsspielraum garantiert. Die systematische Erforschung des Agierens von autoritären und totalitären Regime hatte seinen Ursprung in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: bereits während des NS-Regimes haben Autor(inn)en wie Ernst Fraenkel (1941) und Franz L. Neumann (1944), später dann auch Hannah Arendt (1951) Überlegungen bezüglich des Charakters totalitärer Herrschaft angestellt. Der Totalitarismus, der neben dem Nationalsozialismus oft auch mit dem Stalinismus identifiziert wurde, unterschied sich von frühneuzeitlichen autoritären Regimen mit einer starken und personalisierten Herrschergewalt wie dem Bonapartismus ebenso deutlich, wie von tyrannischen Ordnungen der Antike. Jenseits der Differenzen zwischen den Interpretationsansätzen totaler Herrschaft besteht Konsens darüber, dass der signifikante Unterschied von modernem Totalitarismus und vormodernen Autokratien in der weltanschaulich-ideologischen Gebundenheit des Totalitarismus besteht, die mit Eric Voegelin (1938) als »politische Religion« beschrieben werden kann. Der Totalitarismus ist ein säkularisiertes und manichäisches Glaubenssystem, in dessen Namen und für dessen Durchsetzung die bedingungslose und vollständige Kontrolle des öffentlichen und privaten Lebens erstrebt wird, deren Separierung durch physische und psychische Gewalt rücksichtslos unterbunden wird. Im Zentrum steht somit im Unterschied zu vormodernen Autokratien im Totalitarismus nicht mehr die absolute Macht, sondern die totale Gewalt,

29  Die Zukunft der politischen Ideengeschichte

wobei er mit diesen (als vorstaatlichen, traditionalen Herrschaftsverbänden) gemein hat, Formen staatlicher, d. h. formalrationaler Herrschaft abzulehnen und zu bekämpfen und an ihre Stelle einen »totalitärer Pluralismus« (Bast 1999) mit unmittelbar Gewalt und Terror ausübenden Zwangsinstanzen zu setzen, die keinen rationalen Strukturen folgen. In der Begründung der Autoritarismusforschung seit den 1930er Jahren durch Erich Fromm (1980) und Theodor W. Adorno u. a. (1950) wurde zunächst ein Autoritarismusbegriff entwickelt, der vor dem Hintergrund einer politisch-psychologischen Analyse von Gesellschaft seinen Ausgangspunkt im vergesellschafteten Individuum nahm und von ihm aus Autorisierungsprozesse in demokratischen Regimen begreifbar machen wollte: Autoritarismus galt in dieser Sichtweise als Gegenbewegung zur Demokratie, die aber gleichsam in der Demokratie und ihren ungelösten Widersprüchen ihren Ausgang nahm. So haben historische Studien zum Nationalsozialismus gezeigt, dass seine weltanschauliche Basis im sozialen Milieu der Kleinbürger, Arbeiter und Angestellten lag und die Zerstörung der Demokratie in den Worten von Ralf Dahrendorf (1961, 267) »ein Werk des Mittelstandes« war, also durch Schichten erfolgte, deren Entstehung und Aufstieg sozialstrukturell unmittelbar mit der liberalen Demokratie verbunden war, deren autoritäre Radikalisierung sie aber zugleich auch zu ihren schärfsten Gegnern werden ließ. In dieser Theorietradition wird ein innerer, genealogischer Zusammenhang der Entwicklungslinien zwischen Demokratie, Autoritarismus/Autokratie und Totalitarismus gesehen, bei dem keines der Herrschaftssysteme trennscharf von dem jeweils anderen geschieden werden kann – aus historisch-empirischen Gründen. In der Nachkriegszeit hat sich im Gegensatz zu diesem historisch-empirischen Autokratiebegriff aus idealtypischen Überlegungen über die Unterschiede zwischen demokratischen und diktatorischen Regimetypen heraus ein idealtypisch-systematischer Autokratiebegriff entwickelt, der nicht das Integrierende und Verbindende, sondern das Trennende zwischen Demokratie, Autokratie und totalitären Systemen betonte. Inspiriert vor allem von den Arbeiten von Carl J. Friedrich und Zbigniew K. Brzezinski (1956), Raymond Aron (1970) und später Juan J. Linz (2000) wurden hier Kategoriensysteme entwickelt, die einerseits demokratische von nichtdemokratischen Regimetypen deutlich abgrenzbar machten und insofern eine strukturelle Differenz betonten, andererseits darüber hinaus Differenzierungskriterien zwischen autoritärer

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und totalitärer Herrschaft formulierten. Karl Loewenstein hat als autoritäre Herrschaft eine politische Organisation verstanden, in der »der alleinige Machtträger – eine Einzelperson oder ›Diktator‹, eine Versammlung, ein Komitee, eine Junta oder eine Partei – die politische Macht monopolisiert, ohne den Machtadressaten eine wirksame Beteiligung an der Bildung des Staatswillens zu gestatten. Der alleine Machthaber zwingt der Gemeinschaft seine politischen Grundsatzentscheidungen auf, er ›diktiert‹ sie den Machtadressaten. Der Ausdruck ›autoritär‹ bezieht sich aber mehr auf die Regierungsstruktur als auf die Gesellschaftsordnung. [...] Im Gegensatz zum Autoritarismus bezieht sich der Begriff ›Totalitarismus‹ auf die gesamte politische, gesellschaftliche und moralische Ordnung der Staatsdynamik. Er ist eine Lebensgestaltung und nicht nur Regierungsapparatur.« (Loewenstein 1959, 53 und 55)

Zentral für den idealtypischen Ansatz ist, dass Demokratie und Autokratie als Gegensatzpaar verstanden werden, das sich zunächst dadurch kennzeichnet, dass das eine das ist, was das andere nicht ist. So entsteht eine Folie des Vergleichs von Demokratie und Diktatur, in dem zwar der Radikalisierungs- und Mobilisierungsgrad autoritärer Regime differenziert wird, gleichsam aber Unschärferelationen zwischen Demokratie und Autokratie, schleichende Übergänge und auch Schnittmengen aus dem Blick geraten. Insofern kann der idealtypische Ansatz Differenzen zwischen Demokratie und Diktatur zwar pointiert systematisieren, muss dafür aber immer eine normative Annahme über den ›Normalzustand‹ zugrunde legen und in einem Modell von Norm und Abweichung verbleiben. Überdies liegt in einem idealtypischen Blick auf Autokratien das Risiko, wenig sensibel für historischen Wandel und Prozesse der Transformation und Transition zu sein, aber auch für hybride Regimetypen, die sich auf dem Weg von der Autokratie in die Demokratie – oder vice versa – befinden. Mit Blick auf totalitäre Herrschaft werden dann auch die Differenzen zwischen historischem und idealtypischem Ansatz deutlich: während etwa Neumann oder Arendt von der Diffusion von Herrschaftszentren und damit der Auflösung einer tatsächlichen Zentralgewalt zugunsten von vielen, wechselseitig und durchaus widersprüchlich agierenden Gewaltorten ausgehen, der Totalitarismus also in dieser Perspektive nicht mehr zentralistisch organisiert, sondern dezentral desorganisiert ist und inso-

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IV  Ideengeschichtlicher ­Ausblick

fern in Gestalt der pluralen Unordnung der Demokratie stärker ähnelt, als der Autokratie, sehen Friedrich/Brzezinski oder Linz totalitäre Herrschaft als gekennzeichnet durch eine im Vergleich zur Autokratie weiter gesteigerte Machtintensität mit einem monistischen, hierarchisch klar gegliederten Herrschaftszentrum, das nicht nur über ein weltanschaulichideologisches Deutungsmonopol verfügt, sondern auch eine Monopolisierung von Medien, Waffen und Wirtschaft durchgesetzt hat.

29.2 Das Ende der Geschichte und die Zukunft der Ideengeschichte Nach dem Ende der Systemkonfrontation um das Jahr 1989/90, die Francis Fukuyama schon ebenso enthusiastisch zum Ausrufens eines End of History (1992) wie, 20 Jahre später, zum düster-pessimistischen Widerruf seiner eigenen Thesen und dem Attest einer neuen, geradewegs antidemokratischen Future of History (2012), verleitete, zeigt sich, dass der Kampf um die Frage nach der ›guten‹ und der ›schlechten‹ politische Ordnung virulent ist, wie lange nicht mehr. Viele utopische Annahmen, wie die Hoffnungen auf einen globalen Frieden, der Wunsch nach einer gerechten Weltordnung oder die Sehnsucht nach weltweiten Prozessen der Deliberation erscheinen, angesichts des gigantischen Rollbacks in Form des weltweiten Erstarkens autoritärer und totalitärer Bewegungen, heute noch weiter von jeder Realisierungschance entfernt, als bei ihrer Formulierung. Wichtig in ideengeschichtlicher Perspektive ist insofern die Frage nach dem ›Was bleibt?‹ von der politischen Ideengeschichte, worin bestehen Optionen, die die politische Theorie in ähnlicher Weise wieder zur leitbildgebenden Wissenschaftssubdisziplin machen könnte, wie sie es über Jahrhunderte hinweg – durchaus auch avant la lettre – war? Wenngleich diese Annahme zweifelsfrei streitbar ist, kann konstatiert werden, dass der Begriff Staat im Mittelpunkt des modernen politischen Denkens steht, ganz gleich, ob die analytische Perspektive eine affirmative oder kritische, eine konstruktive oder destruktive, eine kognitive oder emotionale ist, kommt politikwissenschaftliche Analyse nicht um die kategoriale Dimension des Staatlichen umhin (vgl. Benz 2001; Schuppert 2003; Zippelius 2003). Selbst in postmodernen oder komunitaristischen Perspektiven einer diskursiv bzw. moralisch konzeptionierten Welt(informations-)gesellschaft jenseits nationaler

Staatlichkeit scheint der Staat als normative Schablone des Denkens ex negativo unverkennbar auf (vgl. Sassen 1996). Die Frage der manifesten Explikation des Staatlichen ist dabei letztlich eine graduelle, keine prinzipielle: ganz gleich, ob der Staat den zentralen normativ-positiven Bezugsrahmen der Theoriebildung darstellt oder ob Staatlichkeit lediglich als das unhintergehbare negative Fundament für normative Distanzierungen bildet, zeigt sich in beidem die referenzielle Bezogenheit auf den Staat als politische Ordnungsform (vgl. Müller 2009, 221 ff.). Wissenschaftshistorisch bemerkenswert ist dabei, dass die ›klassischen‹ staatstheoretischen Konzepte in aller erster Linie systematische Analysen der empirischen Wirklichkeit von historischer Staatlichkeit waren und insofern erst durch ihren normativen Anspruch zur staatstheoretischen Reflexion wurden, während sie eigentlich zunächst im Feld der politischen Systemanalyse zu verorten gewesen wären (vgl. sehr instruktiv hierzu: Helms 2004, 13 ff.). Die Faszination, die der reale wie der ideale (und damit freilich immer: idealisierte) Staat auslöst, hat ihre Begründung in der Struktur moderner Vergesellschaftung selbst und damit in der Unhintergehbarkeit des Staates als historisches Kontinuum der modernen Gesellschaft. Denn Bildung und der Zerfall politischer Ordnungen können grundsätzlich als Erosionen der Legitimationssysteme beschrieben werden, die den Glauben an den jeweils konkreten Staat mit der Hoffnung an die Funktionsfähigkeit von diesem als Verkörperung des abstrakten Staates (also des Wunsches, wie dieser sein sollte) verbinden – oder eben genau jene Hoffnung mit Referenznahme auf ordnungspolitische Konkurrenzvorstellungen wie das Reich, die ekklesia, das Tiānxià, die umma, die Pan-Ideologien, den Tribalismus oder die Anarchie in Abrede stellen. Der Schlüssel zum Verständnis der Bildung und des Zerfalls von politischen Ordnungen ist also die Legitimationsfrage. Und genau deshalb ist der Staat ›unhintergehbar‹, weil er die moderne Gesellschaftsformation organisiert und diese gleichsam – im Hegelschen Sinn – jenen kontinuierlich reproduzieren muss, um nicht ihrer Existenz verlustig zu gehen. Die weltpolitische Infragestellung des Staates als des einzigen souveränen politischen Akteurs im Zuge von Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung hat die Reflexion über ordnungspolitische Alternativen beflügelt und dazu angeregt, nach neuen Modellen für die systematische Ordnung und Kontrolle von Macht und

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Herrschaft zu suchen, wie dies vor allem die governance-Forschung zu entwickeln versucht hat. Dabei sollte allerdings eines nicht vergessen werden: Die bisherigen Vorschläge für eine poststaatliche Weltordnung ermangeln der empirisch überprüfbaren Praxis, und obgleich ihre Konfrontation mit den Souveränitätsvorstellungen ohne jede Frage auf die normative Herstellung genau dieser diskursiv erwünschten Ordnung zielt, hat ihr Anspruch einen ganz entscheidenden legitimatorischen Mangel: die menschliche Freiheit, die philosophisch allen ethischen und moralischen Gerechtigkeits- und Menschenrechtsvorstellungen implizit oder explizit zugrunde liegt, hat in der Geschichte der Menschheit bisher nur einen Ort gefunden, der ihre Verwirklichung zumindest hypothetisch hat denkbar und praktisch wenigstens partiell hat Wirklichkeit werden lassen: den souveränen Staat (vgl. Benz 2001; Heinze 2009):

»Der Tenor verschiedener Forschungsprojekte zum Thema läuft darauf hinaus, dass sich Politik und Rahmenbedingungen zwar verändert, die grundlegenden Eigenschaften des (westlichen) Staates aber auch nach dem Ende seines ›Goldenen Zeitalters‹ Bestand haben. Er könne noch immer als Territorialstaat und Interventionsstaats gelten, bleibe den normativen Gütern der physischen Sicherheit, der demokratischen Selbstbestimmung und der sozialen Wohlfahrt verpflichtet und sei immer noch aktiv daran beteiligt, ein jedes dieser Güter zu gewährleisten. Neu sei jedoch, dass der Staat kein Monopol mehr auf diese Gewährleistung habe, und auf lange Sicht gefährde die Entwicklung nicht allein den Staat selbst, sondern auch die internationalen Institutionen und ihre Ordnung, wenn es denen nicht gelingen sollte, ihre Verantwortung für die Gewährleistung normativer Güter wirksam nachzukommen.« (Krell 2009, 99)

»Der Staat ist bislang der einzig verlässliche Garant für ein funktionierendes Banken-, Wirtschafts- und Rechtssystem. Er ist sozusagen der letzte Rettungsanker für das auf hoher See treibende Schiff. Wohlstand und Freiheit der Menschen kann nur ein funktionsfähiger Staat, der sich auf Loyalität seiner Bürger (und der Banken und Manager) verlassen kann, garantieren. Von transnationalen Einrichtungen hat er nicht viel Gutes zu erwarten. Die – überaus sympathische – Vorstellung, die Menschenrechte seien vorstaatliches Recht und der Staat gewähre sie nicht, sondern gewährleiste sie lediglich, erweist sich angesichts gefährdeter und gescheiterter Staaten als allzu naiv. Wer, wenn nicht der Staat, soll die Menschen denn im täglichen Leben schützen?« (Voigt 2009, 41)

Insofern ist eine Perspektive auf moderne Herrschaftsordnung, die ausschließlich mit der Kategorie ›Staat‹ operiert, unterkomplex. Zu nachhaltig ist die Kritik an den interaktiven Dimensionen organisierter Herrschaft, zu deutlich die Konturierung von Macht- und Herrschaftsräumen jenseits des Staates – dem Feld, in dem die unterschiedlichen Akteure mit politiktheoretischem Rüstzeug ausgestattet für ihre jeweiligen Wahrheits- und Geltungsansprüche streiten: liberale, grüne, postkoloniale, konservative, anarchistische, feministische, republikanische, sozialistische, kommunistische, nationalistische, islamistische, rechtsextreme, antisemitische und andere. In Aufgreifung des Politikbegriffs von Andrew Heywood (2002, 2004) wird insofern in diesem Wechselverhältnis die segmentale Ausdifferenzierungen eines historisch kontingenten Organisationsrahmens des Politischen für die politische Ideengeschichte jüngerer Vergangenheit fassbar: die Ordnungs-, Hegemonie- und Souveränitätsfunktion des Staates fällt hier zusammen mit der Evidenz- und Kontextualisierungsfunktion der konkurrierenden politischen Theorien. Mit Heywood (2004, 52) argumentiert ist das Politische dabei als soziale Aktivität zu verstehen, die aus der Interaktion zwischen Menschen entsteht und sich auf Widersprüchlichkeit und Antagonismus von Interessen gründet und stets auf konflikthaften Formen von Vergesellschaftung beruht, wobei das Politische letztlich durch eine Dimension der Entscheidung gekennzeichnet ist. Ob dies aus der soliden Retrospektive in 200 oder 500 Jahren auch noch so gedeutet oder komplett ver-

Die Gefahr, durch eine Entsouveränisierung der internationalen Staatenordnung auch die Hoffnung auf das moderne Versprechen der Freiheit (gleichwohl wie klein sie auch sein mag) aufgeben zu müssen, scheint somit das stärkste Argument gegen den Versuch: denn es gibt im Zweifel keine zweite Chance (vgl. Salzborn/ Voigt 2010). Aus normativer Perspektive ist überdies zu ergänzen, dass die Kategorie des Staates für die politische Herrschaftsanalyse unverzichtbar ist, da das theoretische Denken um dieses seismografische Zentrum kreist, alle zentralen modernen Wert- und Normsysteme an ihm ausgerichtet sind und der Staat praktisch die einzige Kategorie ist, die das universelle Versprechen auf individuelle Freiheit auch außerhalb der westlichen Welt zu einer ernsthaften Perspektive werden lassen kann:

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IV  Ideengeschichtlicher ­Ausblick

worfen werden wird, müssen freilich andere beurteilen. Literatur

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29  Die Zukunft der politischen Ideengeschichte retische und ideengeschichtliche Reflexionen. Stuttgart 2010. Salzborn, Samuel: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt a. M./New York 2010. Salzborn, Samuel: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext, 2. akt. Aufl. Baden-Baden 2017. Sassen, Saskia: Losing Control? Sovereignty in an Age of Globalization. New York 1996. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922]. 2. Aufl. München/Leipzig 1934. Schuppert, Gunnar Folke: Staatswissenschaft. Baden-Baden 2003.

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Samuel Salzborn

Autorinnen und Autoren Klaus von Beyme, Dr. Dr. h. c., em. Prof. am Institut

für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg, Prof. h. c. an der Lomonossow-Universität Moskau (21 Konservatismus). Stefan Breuer, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie (i. R.), Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialökonomie, Fachgebiet Soziologie, Universität Hamburg (28 Faschismus/Nationalsozialismus). Paula Diehl, Dr., Gastprofessorin an der Maison de Sciences de l’Homme, Paris und Akademische Oberrätin, Bereich »Theorie, Geschichte und Kultur des Politischen« an der Abteilung Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld (19 Repräsentationsideen). Ingo Elbe, PD Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (18 Kontraktualismus). Patrick Eser, Dr., Dozent am Institut für Romanistik der Universität Kassel (27 Nationalismus und Antisemitismus, zus. D. Ionescu). Karl E. Grözinger, Prof. Dr., em. Prof. für Religionswissenschaft und Jüdische Studien am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam (15 Mittelalter: Jüdisch). Geert Hendrich, Dr., Dozent und Autor, langjähriger Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt (14 Mittelalter: Islamisch). Oliver Hidalgo, PD Dr., Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg (8 Historischer Kontextualismus – Cambridge School). Frauke Höntzsch, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Politische Theorie der Universität Augsburg (2 Philosophischer Zugang zur Ideengeschichte). Dana Ionescu, Dr. des., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Studienfach für Geschlechterforschung,

Universität Göttingen (27 Nationalismus und Antisemitismus, zus. mit P. Eser). Peter Kuhlmann, Prof. Dr., Professor für Lateinische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen, Seminar für Klassische Philologie, Universität Göttingen (11 Antike: Rom). Eun-Jeung Lee, Prof. Dr., Leiterin des Instituts für Koreastudien, Freie Universität Berlin (12 Antike: China/Ostasien). Dominique Miething, Dr., Lehrkraft für besondere Aufgaben am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin (23 Anarchismus). Peter Nitschke, Prof. Dr., Professor für Wissenschaft von der Politik an der Universität Vechta, Sekretär der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (13 Mittelalter: Christlich). Thomas Noetzel, Prof. Dr., Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Philipps Universität Marburg und Leiter des Portals Ideengeschichte (4 Textanalyse/Dokumentenanalyse). Martin Nonhoff, Prof. Dr., Professor für Politische Theorie an der Universität Bremen (5 Diskursanalyse). Walter Reese-Schäfer, Prof. Dr., Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Göttingen (20 Liberalismus). Helmut Reinalter, Prof. Dr. Dr. h. c., em. Professor für Geschichte der Neuzeit und Politische Philosophie an der Universität Innsbruck, Leiter des Forschungsinstituts für Ideengeschichte (17 Rationalismus und Aufklärung). Emanuel Richter, Prof. Dr., Professor im Institut für Politische Wissenschaft der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (24 Republikanismus). Beate Rosenzweig, Dr., Lehrbeauftragte am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg, stellvertretende Institutsleiterin des Studienhaus Wiesneck, Institut für Politische Bildung Ba-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 S. Salzborn (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-04710-6

Autorinnen und Autoren

den-Württemberg e. V., Buchenbach (26 Feminismus). Samuel Salzborn, Prof. Dr., Gastprofessor für Antisemitismusforschung am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin (9 Politische Kulturforschung; 29 Die Zukunft der politischen Ideengeschichte). Felix Sassmannshausen, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin (22 Sozialismus und Kommunismus). Thomas Schmidinger, Dr., Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien (25 Antikolonialismus). Hans-Jörg Sigwart, PD Dr., Vertretung der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Institut für Politische Wissenschaft, RWTH Aachen University (3 Hermeneutik).

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Titus Stahl, Dr., Assistant Professor an der Fakultät

für Philosophie an der Universität Groningen (Niederlande) (6 Ideologiekritik). Grit Straßenberger, Prof. Dr., Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (1 Politikwissenschaftlicher Zugang zur Ideengeschichte). Rüdiger Voigt, Prof. Dr., em. Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität der Bundeswehr München (16 Staatsraisonlehre/Souveränismus). Holger Zapf, Dr., Akademischer Rat, Institut für Politikwissenschaft, Universität Göttingen (7 Theorienvergleich). Barbara Zehnpfennig, Prof. Dr., Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau (10 Antike: Griechenland).

Personenregister A Abd al-Malik 106 Abensour, Miguel  210, 214 Abraham  105, 118 Abravanel, Jehuda (alias Leone Ebreo) 115 Abu Abbas 109 Abubacer, s. Tufail, Ibn Adam 118 Adorno, Theodor W.  192–194, 205, 271 Aflaq, Michel’ 222 al-Arsūzī, Zakī 222 al-Azm  106, 112 al-Azmeh  106, 110 Albertus Magnus 97 al-Biruni 109 al-Bitar, Salah ad-din 222 Albo, Josef 118 al-Chwarizmi 109 Alexander der Große 59 Al-Farabi  97, 107–108, 111 al-Haitham, Ibn 109 Alighieri, Dante 47 Alkalai, David 119 al-Kindi 108 al-Mahdi 109 al-Ma’mun 109 al-Mansur 109 al-Masudi 109 Almirall, Valentí 248 Almond, Gabriel A. 53–54 al-Qaḏḏāfī, Muʿammar 222 Althusius, Johannes 101 Althusser, Louis 36 Ambris, Alceste De 254 Anaximander 59 Anaximenes 59 Anderson, Benedict  239, 248 an-Nafis, Ibn 107 an-Nāṣir, Gamāl ʿAbd 222 Annunzio, Gabriele d’ 254 Apostel Paulus  78, 95 Apuleius 74 Aquin, Thomas von  67, 97–100, 118 Arendt, Hannah  13, 21, 45, 113, 212, 243, 266, 270 Aristoteles  12, 30, 41, 45, 47, 58–59,

61, 65–67, 71, 73–75, 97–98, 100, 107–109, 116, 209, 216 Armitage, David 13 Arndt, Ernst Moritz  177, 243 Aron, Raymond 271 Asbach, Olaf 12 Augspurg, Anita 229 Augustinus, Aurelius  79–80, 92–98 Austin, John L. 46 Avempace, s. Badjdja, Ibn Averroes, s. Rusd, Ibn Avicenna, s. Sina, Ibn Avraham, Ibn 116 B Baader, Franz von  177, 179 Baader, Ottilie 229 Babeuf, François Noël 183–185 Bacon, Francis 133–134 Badiou, Alain 214 Badjdja, Ibn (gen. Avempace) 107 Bages, Josep Torras i 247 Bakunin, Michail  197, 201–203 Balibar, Étienne  214, 240 Ballstaedt, Peter 25 Balmes, Jamie  175, 177–178 Banks, Dennis 221 Barres, Maurice  177–178, 245 Barruel, Augustin 241 Baudrillard, Jean 214 Bauer, Thomas  106–107, 110 Bäumer, Gertrud 229 Bayle, Pierre 136 Beauvoir, Simone de  230–231, 233 Bebel, August  229, 232 Becker-Schmidt, Regina 232 Bellamy, Richard 214 Benjamin, Walter 13 Benn, Gottfried 178 Berdjaev, Nikolai Alexandrowitsch 177 Berg-Schlosser, Dirk 52 Bergsdorf, Wolfgang 27 Berkeley, George 133 Berkman, Alexander 204 Berkovits, Elieser 122 Bermbach, Udo 51 Bernstein, Eduard  187–189, 191

Beza, Theodor von 47 Bismarck, Otto von  167, 175 Blanqui, Louis-Auguste 203 Bloch, Ernst 103 Blyden, Edward Wilmot 223 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 269 Böckler, Carlos Guzmán 221 Bodin, Jean  47, 124–126, 154, 159 Bohman, James 214 Bolívar, Simón  221, 248 Bollenbeck, Georg 148 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de  174–175, 177 Bookchin, Murray 205 Bose, Subhash Chandra 222 Bossuet, Jacques Benigne 160 Braun, Lily 229 Brissot, Pierre 197 Brocker, Manfred 145 Brunner, Constantin 247 Brzezinski, Zbigniew K. 271 Buber, Martin 205 Buchanan, James 172 Burke, Edmund  174–175, 197 Butler, Judith 233 C Čaadaev, Petr Jakovlevic 177 Callahan, James 171 Calvin, Johannes  47, 80 Caritat, Marie Jean Antoine Nicolas, Marquis de Condorcet 131 Carli, Mario 255 Carter, Jimmy 170–171 Castoriadis, Cornelius 214 Chamberlain, Houston Stewart 244, 250 Chateaubriand, Francois-Rene de  175 Chrysipp 68 Cicero  71, 73–78, 97, 209 Clauß, Ludwig Ferdinand 261 Cleyre, Voltairine de 199 Clinton, Bill 171 Coase, Ronald 170 Coleridge, Samuel Taylor 177 Collingwood, Robin G. 45 Comfort, Alex 205

Personenregister Condillac, Ètienne  131, 133 Connell, Robert 234 Corradini, Enrico 256 Cortés, Donoso 177–178 Costa, Uriel da 118 Cotta, Aurelius 73 Crenshaw, Kimberlé 235 Cromwell, Oliver 197 Crooker, John Wilson 175 Cudworth, Ralph 133 Cusanus 101 D Dagger, Richard 212 Dahrendorf, Ralf 271 Daly, Mary 232 Darré, Richard Walther 261–263 Darwin, Charles 204 Da’ud, Ibn 116–117 David, König von Israel 113 Day, Dorothy 205 Degele, Nina 235 Deggau, Hans-Georg 151 dei Rossi, Asarja 119 Déjacque, Joseph 199 Delmedigo, Elija 119 Demokrit  60, 68, 77 Derham, William 121 Derrida, Jacques 214 Descartes, René  131–134, 136 Dewey, John  168, 212 d’Holbach, Paul Henri Thiry 131 Dilthey, Wilhelm  16, 19 Dinter, Artur 259 Diogenes von Sinope 196 Diotima 62 Dohm, Hedwig 229 Dostoevskij, Fedor Michajlovic 177 Drexler, Anton 258 Drücke, Bernd 205 Drumont, Édouard Adolphe 244–245 Dunayevskaya, Raya 192 Dunn, John 47 E Eckart, Dietrich 258–259 Ehrlich, Carol 205 Eltzbacher, Paul 200–201 Empedokles 59 Enden, Franciscus van den 136 Engels, Friedrich  183–185, 187–188, 191, 199 Ennius 71 Epiktet  68, 75–76 Epikur  68, 71, 77 Erasmus von Rotterdam 47 Erhard, Ludwig 169 Euchner, Walter 143 Eucken, Walter 169 Euhemeros 71

F Feder, Gottfried 258 Federzoni, Luigi 257 Ferrer, Francisco 205 Fichte, Johann Gottlieb  177, 242–243 Fiore, Joachim von 101 Fischer, Ruth 251 Fontane, Theodor 175 Foucault, Michel  17, 29, 37–38, 48, 60, 169 Fourier, Charles  184, 199 Fraenkel, Ernst 270 Freud, Sigmund 41 Freyer, Hans 180 Friedman, Milton 172 Friedrich, Carl J. 271 Friedrich, Ernst 205 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 179 Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen (Kaiser Wilhelm II.) 179 Fritsch, Theodor 258 Fromm, Erich 271 Fukuyama, Francis 272 G Gabirol, Salomo Ibn 115 Gadamer, Hans-Georg  16, 19–20, 22, 47, 49 Galilei, Galileo  41, 132 Gandhi, Mohandas K.  198, 222 Garvey, Marcus 223 Gassendi, Pierre  78, 133 Gauchet, Marcel  157, 214 Gaulle, Charles de 126 Gelasius I., Papst 100 Gentz, Friedrich von  174, 177 Gerhard, Ute 227 Geuss, Raymond 36 Giannone, Pietro 136 Gilligan, Carol 232 Ginsberg, Allen 205 Gioberti, Vincenzo 176 Gobineau, Joseph Arthur 244 Godwin, William  197, 200, 202 Goebbels, Joseph  178, 260 Goertz, Gary VII Goldman, Emma  199–200, 202, 204– 205 Goldmann, Felix 247 Goodman, Paul 205 Gorgias 63–64 Görres, Joseph 177 Goughes, Olympe de 229 Graeber, David 206 Graetz, Michael 113 Gramsci, Antonio 191 Greenberg, Irving Yizchak 122 Greiffenhagen, Martin 51 Greiffenhagen, Sylvia 51

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Griffin, Roger 253 Grotius, Hugo  102, 141 Guérin, Louis 247 Guicciardini, Francesco 47 Guillaume, James 203 Gumpel Schnaber-Levison, ­ Mordechai 120 Günther, Hans F. K. 261 Gurion, David Ben 113 H Ha-Am, Achad 113 Habermas, Jürgen  20, 112, 212 Ḥajjim aus Woloschyn 121 Hall, Stuart 235 Haller, Karl Ludwig von 174 Hamann, Johann Georg 242 Hanfeizi  85, 89 Hardenberg, Friedrich Leopold ­ Freiherr von  166, 242 Hark, Sabine 230 Harrington, James 47 Haussherr, Hans 166 Hayek, Friedrich August von 167–171 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 60, 103, 151, 174, 270, 272 Heidegger, Martin  16, 65 Helvétius, Claude Adrien 131 Heraklit 58–59 Herder, Johann Gottfried 242–243, 247 Herzl, Theodor  122, 246 Hesiod 58–59 Hespe, Franz 141 Hess, Moses  113, 122, 184–185, 199, 246 Heywood, Andrew 273 Himmler, Heinrich 261–263 Hindenburg, Paul von 125 Hirsch, Baron Maurice de 249 Hirsch Kalischer, Zwi 122 Hitler, Adolf  180, 258–259, 261–263 Hobbes, Thomas  41, 45–46, 97, 102, 126, 132–133, 142–146, 148–149, 151, 154–155, 157, 160, 196, 239 Hoerster, Norbert  141, 151 Höffe, Ottfried 11 Hoffmann, Nicole 25 Homer 58–59 Horkheimer, Max  192–193, 205 Huber, Viktor Aimée 175 Hume, David  132–134, 136, 146–148, 150 Hüning, Dieter 144 I Irigaray, Luce 233 Isabel I. de Castilla, Königin 240 Iser, Wolfgang 14 Isserles, Moses 121

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Personenregister

J Jahn, Friedrich Ludwig 243 James I., König von Schottland, ­ England und Irland 174 Jehuda Liwaj Ben Bezalel 121 Jesus von Nazareth  104, 250 Jingyan, Bao 196 Jisraeli, Isaak (Jizchak) 115–116 Jonas, Hans 122 Jung, Carl Gustav 41 Jünger, Ernst 178 K Kallikles  61, 63–64 Kant, Immanuel  65, 135, 138–139, 146, 149–152, 177, 196, 211–212, 270 Kantorowicz, Ernst  154, 158 Karam Khella 105 Karl der Große, König 92 Karneades 72 Kautsky, Karl 187–188 Kephalos 64 Kepler, Johannes 132 Kersting, Wolfgang  141–144, 150–152 Kettler, Wilhelm Emmanuel 180 Keynes, John Maynard 169 Khaldun, Ibn  107, 111 Klar, Samuel 151–152 Kleanthes 68 Klemm, Ulrich 205 Klinger, Cornelia  230, 235 Knapp, Gudrun-Axeli 235 Koerbagh, Adriaan 136 Konfuzius  85–88, 90 Kopernikus, Nikolaus 132 Kornegger, Peggy 205 Koselleck, Reinhart 47–48 Kreskas, Ḥasdai 120 Kropotkin, Peter 204–205 Kuhn, Thomas S.  41, 46 L La Boétie, Étienne de  196, 202 Laborde, Cécile 214 Laclau, Ernesto 214 Laktanz 71 Lamennais, Félicité de  175, 177–178 La Mettrie, Julien Offray de  131, 136 Landauer, Gustav  199, 202, 205 Lange, Helene 229 Laozi  85, 87 Laslett, Peter 45–46 Lassalle, Ferdinand 166 Lau, Theodor Ludwig 136 Lefort, Claude 214 Leibniz, Gottfried Wilhelm  101, 131– 134, 136 Leibowitz, Jeschajahu  113–114, 122 Lenin, Wladimir Iljitsch  188–190, 200, 205

Lenz, Fritz 261 Lenz, Ilse 228 Leo, André 199 Leont’ev, Aleksej N. 177 Leo XIII., Papst 179 Leukipp 77 Lévinas, Emanuel 122 Ligt, Bart de 198 Lijphart, Arend 53 Linné, Carl von 121 Linz, Juan J. 271 Lippmann, Walter 169 Llanque, Marcus 214 Locke, John  45, 101–102, 121, 131, 133–134, 136–137, 144–146, 151, 161, 164–165, 172, 196, 270 Loewenstein, Karl 271 Louverture, François-Dominique Toussaint 221 Lovejoy, Arthur Oncken  9–10, 13 Ludwig, Bernd 144 Ludwig XIV., König von Frankreich 125 Luhmann, Niklas  39, 175 Lukács, Georg  36, 191–192 Lukrez  73, 77–78 Lumumba, Patrice Émery 223 Luther, Martin  47, 80 Luxemburg, Rosa  187, 189, 229, 251 M Mably, Gabriel Bonnot de 137 Machiavelli, Niccolò  12, 41, 45–47, 159, 196, 210 Machno, Nestor 205 Mackay, John Henry 199 Macpherson, Crawford B.  142, 165 Maeztu 178 Magón, Ricardo Flores 204 Maharal von Prag 121 Mahoney, James VII Maimonides 120–121 Maistre, Joseph de 174–175 Maîtrejean, Rirette 202 Mann, Thomas 174 Mannheim, Karl 174 Marc Aurel 75 Marinetti, Filippo Tommaso 254–255 Marquis de Sade, Donatien Alphonse Francois 215 Marr, Wilhelm 244 Marsilius von Padua 47 Martel, Julián 249 Marx, Karl  35–37, 60, 183–187, 189– 194, 199, 203, 239, 266 Maurras, Charles  178, 256 Maynor, John 214 Mayring, Philipp 25–27 Mazzini, Giuseppe 254 McCormick, John P. 214

Means, Russel 221 Meinecke, Friedrich  9–10, 13, 168, 244 Mendelssohn, Moses  113, 118–120 Mengzi  85–88, 90 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 174–175 Michel, Louise 203 Michelman, Frank 212 Mill, John Stuart  167, 270 Miller, David 214 Milliken, Jennifer 31 Milton, John  47, 196, 210 Mises, Ludwig von 168–169 Modena, Leone 118 Modi 85 Moeller van den Bruck, Arthur 260 Mohanty, Chandra Talpade 235 Montesinos, Antonio de 220 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de  47, 125, 134, 136–137, 211 Moore, Henry 133 Morasso, Mario 256 Morelly, Étienne-Gabriel 137 Mornay, Philippe de 47 Morus, Thomas 47 Möser, Justus 174 Moses 104 Moses Maimonides 116–117 Mouffe, Chantal 214 Muhammad  103–105, 109 Mühsam, Erich 205 Müller, Max 177 Mussolini, Benito  253–255, 257 N Nancy, Jean-Luc 214 Napoleon, Bonaparte 164 Nariño, Antonio Amador José de 221 Natorp, Paul 65 Naumann, Friedrich 179 Nehru, Jawaharlal 222 Neumann, Franz L.  192, 269–270 Neuwirth, Angelika 104 Newton, Isaac  121, 131–133, 136 Nietzsche, Friedrich  37, 60, 65, 138 Noah 118 Noe, Itō 204 Noetzel, Thomas 25–26 Nolte, Ernst 253 Novalis 177 Nozick, Robert 172 Nyerere, Julius Kambarage 223 O Orwell, George 205 Ottmann, Henning  11, 144 Otto Peters, Louise 229 Owen, Robert 199 Özdemir, Cem 180

Personenregister P Padmore, George 190 Padua, Marsilius von 100 Pagden, Anthony 47 Paine, Thomas 197 Paine, Tom 136 Pangle, Thomas 214 Panunzio, Sergio 254 Pareto 253 Parker, Henry 161 Parmenides 59–60 Parsons, Lucy E. 204 Pateman, Carole 231 Pečërin, Vladimir Sergeevic 177 Pelinka, Anton  51, 54 Pelloutier, Fernand 204 Peripatos  71, 73–74 Petrarca, Francesco 92 Pettit, Philip  209, 213, 215 Philodem 77 Pinsker, Leo 246 Pitkin, Hanna Fenichel  155, 161 Pius XI., Papst 180 Platon  45, 58–61, 63–67, 71–74, 87, 92, 111 Plechanov, Georgij 188 Plutarch 74 Pocock, John G. A.  21, 47–49, 210 Polemarchos 64 Pollock, Friedrich 193 Polos 63–64 Popper, Karl 65 Poseidonios 75 Powell, G. Bingham 54 Prior, Markus 27 Protagoras  60, 63 Proudhon, Pierre-Joseph  198–199, 202 Pseudo Bachja 115 Pseudo-Empedokles 115 Pufendorf, Samuel  76, 132 Pythagoras 60 Q Quintilian 73 R Radicati, Alberto 136 Radovitzky, Simon 249 Rancière, Jacques  214, 216 Rawl, John 172 Read, Herbert  199, 206 Reagan, Ronald 171 Reclus, Elisée  203, 205 Reichardt, Sven 253 Reiser, Rio 196 Reitzel, Robert 199 Renan, Ernest  245, 248 Riba, Enric Prat de la 247 Ricardo, David 166 Riquelme, Bernardo O’Higgins 221

Ritter, Joachim 47 Robert, Anne 136 Robespierre, Maximilien de 211 Roca, Julio Argentino 249 Rocco, Alfredo 256–257 Rochau, Ludwig August von 168 Rocker, Rudolf  200, 205 Roetz, Heiner  82, 90 Rohe, Karl  51, 53 Romanus, Aegidius 99–100 Romulus August 92 Röpke, Wilhelm 169 Rorty, Richard  21, 29 Rosanvallon, Pierre 214 Rosen, Stanley 21 Rosenberg, Alfred  258–259, 263 Rosmini, Antonio 177 Rothbard, Murray  171, 200 Rousseau, Jean-Jacques  45–46, 128, 137, 146, 148–152, 154, 162, 211, 241 Roux, Jacques 197 Rufus, Musonius 76 Rusd, Ibn (gen. Averroes)  97, 103, 107–108, 111 Rüstow, Alexander 169 S Sa‘adja Ga’on, Rabbi  114–115, 117–118 Said, Edward 235 Saint-Simon, Claude-Henri de 184 Salisbury, Johannes von 96 Salomo, König von Israel 113 Salvatorelli, Luigi 256 Salzborn, Samuel  132, 224 San Martín, José de  221, 248 Sander, Helke 229 Saussure, Ferdinand de  30, 46 Savigny, Friedrich Karl von 242 Schelsky, Helmut 180 Schirmacher, Käthe 251 Schlegel, Friedrich 177 Schleiermacher, Friedrich D. E. 16, 18–19, 22, 65, 242 Schlomo Delmedigo, Josef 119–120 Schmidt, Johann Lorenz 136 Schmitt, Carl  126, 178, 258, 269 Schmutzer, Manfred E. A.  104, 106, 109 Schröder, Gerhard 171 Schulze, Reinhard 107 Schütz, Alfred 16 Schwan, Gesine 51 Scott, Joan W. 233 Searle, John 46 Seneca  68, 73–76 Settimelli, Emilio 255 Shelley, Mary 198 Shelley, Percy Bysshe 198 Shi Huang Di  85, 89 Sieyès, Emmanuel-Joseph  163, 241 Simmel, Georg 16

281

Simos, Miriam 205 Sina, Ibn (gen. Avicenna)  97, 103, 107 Siron 77 Skinner, Quentin  12, 35, 38–39, 45, 47–49, 210 Smith, Adam  132, 164–166 Sokrates  58–59, 61–65 Solov’ëv, Vladimir Sergeevic 177 Sorel 253 Spengler, Oswald Arnold ­ Gottfried  178, 258 Spinoza, Baruch de  113, 120, 132–133 Spivak, Gayatri Chakravorty 235 Stahl, Friedrich Julius  177, 179 Stalin, Josef Wissarionowitsch 189– 190, 192 Stein, Lorenz von 174 Stemmer, Peter  141, 147–148 Sternberger, Dolf 10 Stigler, George 170 Stirner, Max  199–200, 202 Stöcker, Adolf 179 Stöcker, Helene 229 Straßer, Gregor  260, 262 Straßer, Otto 260 Strauss, Leo  10, 21, 46, 142 Streicher, Julius 259 Struensee, Johann Friedrich 136 Sturluson, Snorri 71 Suárez, Francisco 47 Sucre, Antonio José 221 Sunstein, Cass  212, 215 T Taylor, Charles 18 Thales 59 Thatcher, Margaret 171 Theresia, Maria 113 Thomasius, Christian 131 Thoreau, Henry David 198 Thrasymachos  61, 64 Tocqueville, Alexis de  167, 239 Toller, Ernst 205 Tolstoi, Leo  197, 200, 202, 204 Trudell, John 221 Truth, Sojourner 232 Tuck, Richard 47 Tucker, Benjamin R. 199 Tufail, Ibn (gen. Abubacer) 107 Tugendhat, Ernst  142, 151 Tully, James 47 Turgot, Anne Robert Jacques 136 U Uthman 106 V Varlet, Jean 197 Varlin, Eugène 203 Varnhagen, Rahel 243

282

Personenregister

Vattimo, Gianni 21 Verba, Sidney 53 Viroli, Maurizio 214 Vitoria, Francisco 47 Voegelin, Eric  10, 270 Voline (d.i. Wsewolod M. Eichenbaum) 204 Voltaire, (d.i. Francois-Marie Arouet) 136 W Wagener, Hermann 175 Walby, Sylvia 227–228 Ward, Colin 205 Weber, Marianne 229 Weber, Max  16, 19, 48, 107, 239, 269

Weidt, Otto 205 Weiß, Ulrich 143 Weitling, Wilhelm  185, 199 Wichern, Johann Hinrich 179 Wichmann, Clara 205 Williams, Henry Sylvester 223 Winker, Gabriele 235 Winstanley, Gerrard 197 Wittgenstein, Ludwig 30 Wittig, Monique 233 Wolff, Christian  131–132, 134 Wolff, Stephan  25, 27 Wollstonecraft, Mary 198 Woodcock, George 205 Wudi 90

X Xenophanes 103 Xunzi  85–86, 88 Z Zasulič, Vera 188 Zehnpfennig, Barbara 12 Zenon 68 Zetkin, Clara  186–187, 229, 232 Zhuangzi  85, 87 Zotta, Franco 152 Zweig, Arnold 247