Handbuch des Strafprozesses: Zweiter Band. Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft. Neunte Abtheilung, vierter Theil, zweiter Band. Hrsg. von Karl Binding [1 ed.] 9783428561513, 9783428161515

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German Pages 615 Year 1885

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Handbuch des Strafprozesses: Zweiter Band. Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft. Neunte Abtheilung, vierter Theil, zweiter Band. Hrsg. von Karl Binding [1 ed.]
 9783428561513, 9783428161515

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Handbuch des Strafprozesses Von Julius Glaser

Zweiter Band

Duncker & Humblot reprints

Systematisches Handbuch der

Deutschen Rechtswissenschaft. Unter

Mitwirkung

der Professoren Dr. H. Brunner in Berlin, Dr. E. Brunnenmeister in Halle, Dr. 0. Bülow in Leipzig·, Dr. H. Degenkolb in Tübingen, Dr. V. Ehrenberg in Rostock, Dr. A. Franken in Jena, des General-Procurators Dr. J. Glaser in Wien, der Professoren Dr. A. Grawein in Czemowitz, Dr. A. Haenel in Kiel, Dr. R. Heinze in Heidelberg, Dr. A. Heusler in Basel, Dr. R. v. Jhering in Göttingen, Dr. P. Krüger in Königsberg, Dr. P. L&band in Strassburg, Dr. F.V.Martitz in Tübingen, Dr. E. Meier in Halle, Dr. Th. Mommsen in Berlin, Dr. F. Regelsberger in Göttingen, Dr. W. v. Rohland in Dorpat, Dr. A. Schmidt in Leipzig, Dr. R. Sohm in Strassburg, Dr. A. Wach in Leipzig, Dr. R. Wagner in Leipzig, Dr. B. Windscheid in Leipzig herausgegeben

von

Dr. K a r l B i n d i n g , Professor in Leipzig.

Nennte A b t h e i l u n g , v i e r t e r T l i e i l , z w e i t e r Hand:

G l a s e r , H a n d b u c h des Strafprozesses.

H a n d II.

Leipzig, V e r l a g

v o n

D u n c k e r 1S85.

&

H u m b 1 ο t.

H a n d b n c h . des

Strafprozesses. Yon

Dr. J u l i u s Glaser.

Zweiter

Verlag

Band.

Leipzig, von Duncker 1885.

& Hu m blot.

Das Recht der Uebersetzung bleibt vorbehalten.

Pierer'sche Hofbuchdruckerei.

Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

V o r w o r t .

Der vorliegende zweite Band bringt das Werk nicht, wie geplant war, zum Abschluss. Buch.

Er enthält nur das dritte, vierte und fünfte

Ein sechstes Buch muss noch die Abweichungen von dem als

das regelmässige anzusehenden Verfahren vor den Strafgerichten mittlerer Ordnung, ein siebentes die Rechtsmittel mit Einschluss der Wiederaufnahme zur Darstellung bringen, achten Buche vorbehalten bleiben.

der Rest einem kurzen

Wären auch diese Materien im

zweiten Bande behandelt worden, so hätte derselbe an Umfang den ersten Band mindestens um so viel, als er jetzt hinter demselben zurückbleibt, übersteigen müssen, und dies trotzdem, dass ich eifrig bemüht

war,

es zu vermeiden und

hauptsächlich

deshalb

einige

wichtige und schwierige Untersuchungen zunächst in selbständig erschienenen Abhandlungen veröffentlichte, diesem Werke dagegen nur das Ergebniss derselben einverleibte. Allein nicht das Raumverhältniss war für den gefassten Beschluss in erster Linie maassgebend, sondern der Umstand, dass die noch ausstehenden Bücher theilweise wichtige Bestimmungen der deutschen Reichsjustizgesetze zum Gegenstande haben, deren unveränderter Fortbestand eben jetzt in Frage gestellt ist.

Ich hatte also zu besorgen,

dass meine Arbeit, wenn sie jetzt diese Gebiete betrat, vielleicht schon zur Zeit ihrer Veröffentlichung durch neue Gesetze ihrer Verwendbarkeit beraubt sein könnte, oder dass ich sie, um dieses Schicksal abzuwenden, im letzten Augenblick einer Umarbeitung auf Grund neuer, von der Literatur und Praxis noch nicht genügend beleuchteter Gesetze unterwerfen müsste.

Hätte ich dagegen die jetzt schon vollen-

Vorwort.

VI

deten Partien des Werkes durch unbestimmte Zeit zurückgehalten, so ging jener Zusammenhang mit dem neuesten Stande der Literatur und Rechtsprechung (verloren, welcher durch blosse Nachträge und Nachbesserungen nie ganz befriedigend aufrecht erhalten werden kann. Es schien daher unvermeidlich, mit den im vorliegenden Bande enthaltenen drei Büchern schon jetzt hervorzutreten, das übrige aber auf einen dritten Band zu verweisen, dessen Erscheinen hoffentlich nicht allzulange wird verzögert werden müssen. Dem zweiten Bande ist ein auch den ersten mit umfassendes Register der besprochenen Bestimmungen der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes des Deutschen Reiches beigegeben. So weit dies während des Druckes überhaupt möglich ist, wurde auch die neueste Literatur noch berücksichtigt.

So ist namentlich

Olshausens

für

Commentar zum Strafgesetzbuch

Reich bereits nach der zweiten Auflage angeführt.

das Deutsche

Die zweite Auf-

lage von S c h w a r z e s „Reichspressgesetz" konnte nur auf den letzten Bogen berücksichtigt werden; wo dies nicht bemerkt ist, gelten daher die Anfuhrungen der ersten Auflage. — Wo H é l i e , Traité de l'instruction criminelle und T r é b u t i e n ,

Cours de droit criminel ohne

weiteren Beisatz blos mit Angabe einer Nummer angeführt sind, bezieht sich das Citat auf die zweiten pariser Auflagen dieser Werke, bei T r é b u t i e n auf Band I I . W i e n , am 4. November 1885.

Glaser.

Inhaltsverzeichniss. Drittes Buch. Der Stoff des Strafprozesses als Gegenstand juristischer Würdigung: Strafklage und Strafsache. Seite

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage § 63. Die Erhebung der Strafklage und ihre Wirkung . . . § 64. Bedingungen und Hindernisse der Erhebung und Durchführung der Straf klage § 65. Der Verbrauch der Straf klage § 66. Gegenseitige Beziehungen mehrerer Strafsachen . . . . § 67. Beziehungen zwischen Straf- und anderen Rechtssachen

3— 26 27— 45 46— 62— 76— 86—

61 76 86 96

Viertes Buch. Die am Strafprozess theilnehmenden Personen und die Formen ihres Zusammenwirkens. Erstes Kapitel. § § § § §

68. 69. 70. 71. 72.

S 73.

Die am Strafprozess theilnehmenden Behörden.

Die am Strafprozess theilnehmenden Behörden . . . . Das Gericht Ausschliessung und Ablehnung von Gerichtspersonen. . Die Staatsanwaltschaft Zuständigkeit der Strafgerichte und der Staatsanwaltschaften

99—101 101—105 106—132 132-148 148—176

Gerichtsstand des Thatortes

177-191

Inhaltsverzeichniss.

Vili

Seite

Zweites Kapitel. § § § § §

74. 75. 76. 77. 78.

personen und deren Beistände. Die am Strafprozess theilnehmenden Privaten Der Beschuldigte Der Privatkläger Der Nebenkläger Vertheidiger, Beistände und Vertreter des Beschuldigten

Drittes Kapitel. § § § § §

79. 80. 81. 82. 83.

Die am Strafprozess theilnehmenden Privat191—194 194—204 204—211 212-220 220—251

Die Prozessthätigkeit.

Verkehr zwischen den am Strafprozess Theilnehmenden 251—264 Gerichtliche Entscheidungen 264—273 Die richterliche Zwangsgewalt 273—279 Macht des Gerichtes, sich Beweismittel zu verschaffen . 279—295 Schmälerung der Freiheit cles Beschuldigten 295—307

Fünftes Buclu Der Gang des Verfahrens vor den Strafgerichten mittlerer Ordnung. Erstes Kapitel.

Das Vorverfahren.

§ 84. Ermittelungsverfahren und Voruntersuchung in ihrem Verhältniss zu einander und zum ganzen Verfahren. § 85. Anlass und Beginn des Strafprozesses § 86. Ablehnung der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft § 87. Das Ermittelungsverfahren § 88. Die Voruntersuchung Zweites Kapitel.

311—320 321—339 339—359 359—381 381—402

Richterliche Entscheidung über die Ergebnisse des Vorverfahrens.

§ 89. Gestaltung des Uebergangsverfahrens 403 —409 § 90. Vorbereitung der richterlichen Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens 409—422 § 91. Entscheidung zur Sache 422—444 § 92. Wirkung der gefassten Beschlüsse 444—455 Drittes Kapitel.

Das Hauptverfahren.

§ 93. Die juristische Grundlage des Hauptverfahrens : Anklageschrift und Eröffiiungsbeschluss § 94. Vorbereitung der Hauptverhandlungl § 95. Gericht und Gerichtsvorsitzender in der Hauptverhandlung § 96. Die Hauptverhandlung § 97. Das Urtheil Quellenregister zu Band I und I I

456—476 476—485 485—490 490—542 542—595 596—602

Erlänternng der Abkürzungen. A = Archiv. A A = Altes Archiv des Criminalrechts. Halle 1799—1807. ANF = Archiv des Criminalrechts. Neue Folge. 1834-1857. Ann = Annalen, insbesondere = Annalen des Reichsgerichts, hrsg. von Braun und Blum. AV = Ausführungsverordnung. Β Bern Ber BGBl

= = = =

Band. Bemerkung. Bericht. Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes.

CA = Archiv für civilistischePraxis. CCC = Constitutio criminalis Carolina. C. d'I. = Code d'instruction criminelle. CGO = Criminalgerichtsordnung. CH = Cassationshof. CH E = Cassationshof-Erkenntniss. CO = Criminalordnung. CPO = Civilprozessordnung. CR = Criminalrecht. (1. == deutsch. E — Erkenntniss bei Gerichtshöfen. = Entwurf bei Gesetzesstellen. EG = Einführungsgesetz. EGVG = Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz. Entsch = Entscheidungen des Reichsgerichts (in Strafsachen), hrsg. von den Mitgliedern des Gerichtshofes.

Entw = Entwurf. EStGB = Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch. EStPO = Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung. G GA Ges GewO Grünhut

= = = = =

Gesetz. Goltdammers Archiv. Gesetz. Gewerbeordnung. Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, hrsg. von Grünhut. GS = Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Strafrecht, Strafprozess u. s. w. GY = Gerichtsverfassung. GYG = Gerichtsverfassungsgesetz. GZ = Gerichtszeitung.

HEnc = HoltzendorfFs Encyklopädie der Rechtswissenschaft. HH = HoltzendorfFs Handbuch des Strafprozesses. HH d. StR = HoltzendorfFs Handbuch des Strafrechts. HRLex = HoltzendorfFs Rechtslexikon. J JMB1 JMR JMV

= Jahrbuch, Jahrbücher. = Justizministerialblatt. = Justizministerialrescript. = Justizministerialverordnung.

KrlJ = Kritische Ueberschau der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung. KrV = Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung u. s. w., hrsg. von Pözl.

Abkürzungen.

χ Mag — Magazin. Mot = Motive. NA =

Neues Archiv des Criminalrechts. 1817—1833. NF = Neue Folge.

Ordnung. österreichisch. Oberappellationsgericht. Oppenhoff, Die Rechtsprechung des Obertribunals in Strafsachen. OTr = Obertribunal.

Ο ö. OAG ORspr

= = = —

Ρ = Prozess. PGO — Peinliche Gerichtsordnung. Prot = Protokolle. RAO RG RGBl RG E Rspr

= Rechtsanwaltsordnung. = Reichsgericht. = Reichsgesetzblatt. = Reichsgerichtserkenntniss. = Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen, hrsg. von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft. RtC = Reichstagscommission. RY = Reichsverfassung.

StA = Staatsanwaltschaft. StG = Strafgesetz. StGB = Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, vom 26. Februar 1876.

StP = Strafprozess. StPO = Strafprozessordnung ; insbesondere = deutsche Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877. StR = Strafrecht. StPR = Strafprozessrecht. StRZ = Allgemeine deutsche Strafrechtszeitung, herausg. von Holtzendorff. Y = Verordnung. Y d. d. JT = Verhandlungen des deutschen Juristentags. VG = Verfassungsgesetz. WRLex = Weiskes Rechtslexikon. Ζ = Zeitschrift. Ζ f. CR u. Ρ = Zeitschrift für Civilrecht und Prozess. Ζ f. DR = Zeitschrift für deutsches Recht. Ζ f. d. Strafv. = Zeitschrift für deutsches Strafverfahren. Ζ f. GG u. EP = Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege Ζ f. RG — Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Ζ f. vgl. RW — Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. Ζ f. StRW = Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft.

Sonstige Abkürzungen bei Citateli: Commentare zu der deutschen oder österreichischen Strafprozessordnung werden durch einfache Nennung des Namens des Verfassers angeführt, der v o n B o m h a r d und K o l l e r blos mit B o m h a r d . — Geyer § . . . verweist auf G e y e r s Lehrbuch des gemeinen Strafprozessrechts. Leipzig 1880. — U l i m a n n § . . . auf U l i m a n n , Lehrbuch des österreichischen Strafprozessrechts. 2. Aufl. Innsbruck 1882. — D o c h o w = Γ) oc h o w , Der Reichsstrafprozess. 3. Aufl. Berlin und Leipzig 1880.

Berichtigungen zu Band I und II. B a n d I. S 195 Ζ. 13 ν. ο. lies: Beschuldigte (statt Beschädigte). S 195 Ζ. 2 v. u. lies: § 136 (statt § 137). S 196 Ζ. 3 ν. ο. lies: § 160 (statt § 161). S 196 Ζ. 5 ν. ο. lies: § 193 (statt § 194). S 197 Ζ. 16 v. u. lies: § 99 (statt § 112). S 197 Ζ. 14 v. u. lies: § 148 (statt § 149). S 197 Z. 12 v. u. lies: § 170 (statt § 171). S 197 Ζ. 11 v. u. lies: § 490 (statt § 492). S 197 Z. 9 v. u. lies: § 499 (statt § 501). S 197 Z. 9 v. u. lies: § 505 (statt § 507). S 202 Anm 11 Z. 3 v. o. lies: wurden diese (statt wurde dieser). S 203 Ζ. 2 v. u. lies : nur (statt nun). S 215 Anm 2 Ζ. 5 v. ο. ist vor sagt einzuschalten: S t e p h e n . S 224 Anm 14 Z. 10 v. o. lies: 1862 (statt 1852). S 229 Anm 18 Ζ. 1 v. o. lies: § 47 (statt § 27). S 233 Ζ. 13 v. ο. lies: § 451 (statt § 431). S 240 Ζ. 5 v. u. lies: § 379 (statt S 374). S 241 Z. 13 v. o. lies: § 399 (statt § 344). S 254 Z. 14 v. o. lies: § 232 (statt § 233). S 271 Z. 17 v. u. lies: StPO (statt GVG). S 271 Z. 3 v. u. lies: StPO (statt GVG). S 282 Z. 7 v. o. lies: EStPO (statt StPO). S 282 Z. 13 v. u. lies: Z. 3 (statt Ζ. 1). S 293 Anm 30 Z. 2 v. u. lies: StPO (statt GVG). S 298 Ζ. 1 v. o. lies: EGVG (statt GVG). S 298 Z. 5 v. o. lies: § 11 (statt § 6). S 299 Ζ. 1 v. o. lies: EGVG (statt GVG). S 305 Ζ. 1 v. o. lies: Wenn (statt Wann). S 310 Anm 14 Z. 14 v. u. lies: ECPO (statt EStPO). S 343 Z. 13 v. u. lies: rechtlicher (statt rechtliche). S 350 Ζ. 15 v. u. lies: § 34 (statt § 33). S 352 Ζ. 21 v. u. lies: § 266 (statt § 366). S 379 Anm 4 Z. 6 v. u. lies: 2. Die (statt Die). S 394 Anm 18 Z. 2 v. o. lies: Abs. 1 (statt Abs. 2). »S 401 Ζ. 9 ν. ο. lies: vorgeladenen (statt vorgeschlagenen). S 404 Ζ. 12 ν. ο. lies: Abs. 4 (statt Abs. 3). S 409 Anm 21 Z. 10 v. u. lies: § 245 (statt § 250). S 421 Ζ. 10 v. u. lies: Abs. 3 (statt Abs. 2). S 428 Anm 4 Ζ. 1 v. o. lies: Vergi, (statt And. Mein.). S 445 Ζ. 8 v. u. lies: § 240 (statt S 241). S 447 Ζ. 12 ν. u. lies: § 249 (statt § 248). S 450 Ζ. 4 ν. o. lies: § 222 (statt § 272). S 472 Ζ. 13 ν. ο. lies: § 237 (statt § 239). S 486 Anm 4 Z. 2 v. u. lies: § 179 (statt § 170). S 485 Anm 3 Ζ. 1 v. o. lies: Bem 3 b (statt Bern 36). S 494 Z. 11 v. o. lies: Falles in der (statt Falles der).

Berichtigungen zu Band I u. II. S S S S S S S S S S S S S S S S S S S

507 517 544 564 574 595 597 598 620 626 628 628 642 694 696 701 701 701 702

Anm 20 Ζ. 2 ν. Ζ. 10 ν. Anm 19 Anm 42 Ζ. 4. v. Ζ. 1 v. Ζ. 1 ν. Ζ. 4 ν. Ζ. 1 ν. Ζ. 6 v. Z. 2 v. Z. 4 v. Z. 7 v. Ζ. 6 v. Ζ. 9 ν. Ζ. 7 v. Ζ. 2 ν. Z. 4 v.

Ζ. ο. o. Ζ. Z. o. u. ο. ο. o. u. u. u. o. u. ο. u. u. u.

1 v. lies: lies: 3 ν. 7 v. lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies: lies:

u. lies: § 250 (statt § 240). zur (statt nicht zur). § 251 (statt § 257). ο. lies: StGB (statt StPO). u. lies: § 160 (statt § 164). § 69 (statt § 66). bejaht (statt verneint). verneint (statt bejaht). diejenige (statt die ganze). § 190 (statt § 140). g 177 (statt g 170). g 177 (statt g 170). g 256 (statt g 216). Abs. 3 (statt Abs. 2). Abs. 2 (statt Abs. 1). g 75 (statt g 77). rechnen, (statt rechnen 29.). 60) 2 9 . (statt 60).). g 75 (statt g 76).

B a n d II. S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S S

84 110 126 127 132 140 143 152 193 206 226 237 244 244 254 260 264 284 284 291 293 297 359 368 376 377 380 382

Z. 6 v. u. lies: g 269 (statt g 264). Anm 4 Z. 7 v. o. lies: g 178 (statt g 187). Z. 14 v. o. lies: StPO (statt GVG). Z. 7 v. u. lies: § 377 (statt § 344). Z. 4 v. u. lies: g 193 (statt g 192). Z. 11 v. o. lies: g 45 (statt g 15). Anm 17 Z. 2 v. o. lies: Abs. 2 (statt Abs. 1). Ζ. 10 v. u. lies: § 27 (statt g 21). Z. 17 v. o. lies: f. (statt if.). Z. 5 v. o. lies: Abs. 3 (statt Abs. 2). Anm 6 Z. 8 v. o. lies: g 139 (statt g 138). Z. 2 v. u. lies: Abs. 2 (statt Abs. 1). Ζ. 9 ν. o. lies : g 238 (statt g 227). Z. 14 v. o. lies: g 364 (statt g 273). Z. 9 v. o. lies: g 100 Abs. 2 (statt g 98 Abs. 1). Z. 15 v. o. lies: g 51 (statt g 41). Z. 10 v. o. lies: Abs. 1 (statt Abs. 2). Ζ. 11 v. u. lies: Abs. 1 (statt Abs. 2). Anm 11 Ζ. 1 v. u. lies: f. (statt ff.). Ζ. 2 v. u. lies: g 103 (stâtt g 102). Anm 29 Ζ. 1 v. u. lies: g 97 (statt g 96). Z. 7 v. u. lies: g 337 (statt g 336). Anm 2 Z. 8 v. u. lies: g 185 (statt g 183). Z. 4 v. o. lies: g 157 (statt g 158). Z. 6 v. o. lies: g 125 (statt g 123). Anm 33 Z. 4 v. o. lies: Abs. 3 (statt Abs. 2). Ζ. 12 ν. ο. lies: Abs. 1 (statt Abs. 2). Ζ. 10 ν. o. lies: g 177 (statt g 178).

Drittes Buch. Der Stoff des Strafprozesses als Gegenstand juristischer Würdigung: Strafklage und Strafsache.

§ 62.

Wesen und A r t e n der

Strafklage 1.

I. Die Aufgabe jedes einzelnen Strafprozesses ist die Anwendung der strafgesetzlichen Bestimmungen auf einen einzelnen Fall. Diese 1 L i t e r a t u r : M a n g i n , Traité de l'action publique et de Paction civile en matière criminelle. 3. éd. Paris 1876 (hier wird citirt nach der Brüsseler Ausgabe 1839). O r t o l a n , Eléments de droit pénal. 4. éd. Paris 1874. Titre V I c. 1 Nr 1647 ss. B o i t a r d , Leçons de droit criminel. 12. éd. Paris 1880. Nr 514 ss. H é l i e , Traité de l'instruction criminelle, livre I I : cle l'action publique et de l'action civile, Nr 390—1115. H é l i e , Pratique I Nr 6—28. L e S e l l y e r , Traité de l'exercice et de l'extinction des actions publique et privée etc. 2. éd. Paris 1874. 2 vol. T r é b u t i e n , Cours élémentaire de droit criminel. 2. éd. Paris 1884. Titre I Nr 7 ss. Die Commentare zu Art. 1—5 Code d'instr. criminelle. — Belgisches Ges vom 17. April 1878 (enthaltend den Titre préliminaire du code de la procédure pénale) Art. 1—5 und dazu Ν y p e l s , Commentaire du code de procédure pénale. 1. livraison Brüx. 1878. — Art. 1—4 des italienischen Regolamento di procedura penale und die Commentare dazu. B o r s a n i e C a s o r a t i libro I cap. 1—6. Luigi B o r s a r i , Della azione penale. Torino 1866. N i c c o l i n i , Della procedura penale pel R. delle due Sicilie. Livorno 1843. Nr 687 ss. ρ 196 ss. C a r r a r a , Programma, p. gener. §§ 891—900. C a r r a r a , Opuscoli V I ρ 141 ss. Brus a, Sistemi legislativi intorno alla parte civile nel giudizio penale, in Ferri, Annuario 1882. B r u s a, Saggio eli una dottrina generale del reato. Torino 1884. §§ 325—328. 343-349. Bue e l l at i, Istituzioni di diritto e proc. pen. Milano 1884. Nr 882 ss. 897 ss. B e n e v o l o , La parte civile nel giudizio penale. 2. ed. Roma, Torino, Napoli 1883. Co ci t o , Chi possa costituirsi parte civile. Bologna 1879. Ferner Rivista penale I 556 ( P a o l i ) , I I I 555 ( C a r r a r a , Azione pen.), V I 5—103 ( A s c h e t t i n o ) , V i l i 367, IX 294 ( G i u l i a n i ) , XV 161 (Vacca). — G ο de fro i , De iis delictis, quae nonnisi ad laesorum querelam vindicantur. Amst. 1837. — H e f f t e r , Lehrb. §§ 578 if. P l a n c k , Syst. Darstellung des deutschen Strafverfahrens §§ 48 ff. Z a c h a r i ä , Handb. § 65 I. §§ 70.71.73. O p p e n h o f f , Die preussischen Gesetze über das . . Verfahren in Strafsachen . . Berlin 1860. S 2—19. L ö w e , Der preussische Strafprozess. Breslau 1861. §§ 28. 30. H a s e n b a l g , Zur Strafprozessordnung. Hannover 1854. S t e l l i n g , Ueber Anklagebesserung. Göttingen 1866. S 1—43. v . B a r , Recht und Beweis im Geschwomengericht. Hann. 1865. S 58—172. E b m e i e r , Die preussische Strafprozessordnung von 1867 1*

4

§ 62.

Wesen und Arten der Strafklage.

wird bewirkt durch das U r t h e i l , den Richterspruch, welcher erklärt, welcher Sachverhalt als bewiesen anerkannt sei und welchen juristischen Charakter derselbe trage. Naturgeinäss geht die Feststellung des Sachverhaltes der juristischen Würdigung desselben voraus und es scheint daher die letztere erst beginnen zu können, wenn erstere vollzogen ist. Allein diese Sonderung ist nicht durchführbar. Die Yergleichung der juristischen Anforderungen mit dem Thatbestand zeigt erst mit voller Deutlichkeit, auf welche Thatumstände, auf welche Beschaffenheit derselben es ankommt, und sie präcisirt daher oft erst die Thatfragen, deren Lösung nur durch Zurückgreifen auf das Beweisverfahren und die Beweiswürdigung erfolgen kann. Umgekehrt aber muss das Beweisverfahren sich von Anfang an der zu erwartenden juristischen Würdigung dienstbar machen; es soll alles, aber auch nur das herbeischaffen, was dazu nöthig ist. Daher muss schon vom Anfang des Prozesses an der Blick auf das zu gewärtigende Urtheil gerichtet sein, und eben dadurch der Stoff, mit welchem der einzelne Strafprozess sich zu beschäftigen hat, der Gegenstand desselben, bestimmt werden. D e r G e g e n s t a n d des k ü n f t i g e n U r t h e i l s i s t d e r G e g e n s t a n d des V e r f a h r e n s v o n A n b e g i n n . Dieser Gegenstand aber ist die an einen bestimmten Vorfall geknüpfte strafrechtliche Verantwortlichkeit eines bestimmten Menschen. Das Urtheil hat die Frage zu beantworten, ob dieser bestimmte Mensch sich durch seine Betheiligung an einem bestimmten Vorfall einer strafbaren Handlung schuldig gemacht habe und welchen strafrechtlichen Charakter dieselbe an sich trage. Alle vorausgehende Prozessthätigkeit hat die Aufgabe, diese Entscheidung herbeizuführen und vorzubereiten. Sie muss daher auf einer Grundlage beruhen, welche ihr von Anfang an diese Richtung vorzeichnet und sie von S 34—36. P u f e n d o r f , Die öffentliche Klage der Staatsanwaltschaft bei Verbrechen und Polizeivergehen. Verden 1857. K. F u c h s , Anklage und Antragsdelicte. Breslau 1873, bes. S 3—47. S eh Avar ζ e, Comment, zur sächs. StPO von 1855 I 75. S a m u e l y , Zur Lehre von den Antragsdelicten, GS 1880 S 1 if. und die dort reichlich angef. Literatur; s. überhaupt die Gommentare zu §§ 61 ff. 188. 199. 231. 233 StGB, dann die Literatur zur Lehre von den Antragsdelicten, Uebersicht derselben bei B i n d i n g , Grundr. d. StR § 44; G e y e r , Grundr. d. StR § 66; B e r n e r , Lehrb. vor § 172; H ä l s c h n e r , Handb. des StR I § 278; v. L i s z t , StR §43; S c h ü t z e § 50 Anm 1; H. M e y e r § 62 Anm 1; F u c h s , HR Lex I 126. Ferner F u c h s in HH I 425 ff.; D o c l i o w das. I I 353 ff. 370 ff.; L ö w e , Bemerkungen vor § 151 StPO und überhaupt die Commentare zu §§ 151 ff. 414 ff. 435 ff. D o c h o w , Reichsstrafprozess §§ 33—38. § 44 Nr 1. G e y e r § 107 I. §§ 251—257. B i n d i n g , Grundr. d. StP § 98. S. M a y e r zu § 2 österr. StPO. Schanze, Ζ f. StRW IV 438. Vgl. auch unten § 76 : Der Privatkläger. § 77 : Der Nebenkläger.

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

den gleichartigen auf andere Aufgaben gerichteten Thätigkeiten sondert, ihr ihre Individualität giebt. Diese Grundlage kann sich dem Richter nicht von selbst darbieten, sondern muss das Ergebniss von Wahrnehmungen sein, die er, da jene die Voraussetzung seiner Befassung mit der Sache ist, nicht selbst, wenigstens nicht als mit dieser Sache befasster Richter gemacht haben kann. Sie setzt aber nicht blos Wahrnehmungen, sondern auch eine, wenn auch nur vorläufige Beurtheilung ihres Ergebnisses voraus, welche ihrerseits zu einem Beschluss (auf Herbeiführung des Prozesses), also zu einem Willensakt fühlt. Ueber die objective Berechtigung dieses Willensaktes soll eben der Verlauf des Prozesses und das Urtheil des Richters entscheiden. Wenigstens im Gedanken des Richters entsteht daher ein Widerstreit zwischen einander entgegenstehenden Behauptungen, und es fällt ihm dann die Aufgabe zu, abwechselnd bald den Standpunkt der einen, bald den der andern einzunehmen, bis er sich, sei es vorläufig, sei es endgiltig, für eine derselben entschieden hat. Das entspricht selbst dem völlig entwickelten i n q u i s i t o r i s c h e n P r o z e s s . Auch dieser kann sachlich jene Verrichtungen nicht entbehren; er macht nur auch sie zu richterlichen Aufgaben, sei es nun dass er sie verschiedenen einander folgenden Richtern überträgt, sei es dass er verschiedene Thätigkeiten desselben Richters in Anspruch nimmt. Der nach a c c u s a t o r i s c h e m T y p u s geformte Strafprozess gestattet solche Häufung der Aufgaben in derselben Person nicht. Er giebt dem Angeklagten ein Recht nicht blos auf eine Stellung, welche ihm selbst möglich macht, sein berechtigtes Interesse zu wahren, sondern auch darauf, dass er nicht in die Lage kommt, gegen seinen Richter zu kämpfen, sondern den gegen ihn erhobenen Anspruch als den eines Prozessgegners bekämpfen kann. Dazu gehört aber, dass der wider den Angeklagten gerichtete Anspruch von einer Person ausgehe und vertreten werde, die in Wahrheit ein berechtigtes Interesse daran hat: von einem Träger oder selbständigen Vertreter des R e c h t e s a u f S t r a f V e r f o l g u n g . Eben darum liegt in jeder Klage zugleich der Anspruch auf die vorläufige Zuerkennung einer Prozessstellung; diese ist das Mittel, die Durchführung des erhobenen Klaganspruches der Zweck ; um letzteren zu erreichen, fordert der, der ihn geltend macht, die Rechte und übernimmt die Pflichten einer Prozesspartei. Mit dieser Erklärung tritt er in den Strafprozess ein und beginnt ihn mit der Bezeichnung des Gegenstandes desselben: das ist d i e E r hebung der S t r a f k l a g e . Die Strafklage ist daher die vor dem Richter abgegebene Erklärung eines zur Strafverfolgung Berechtigten, dass er von diesem

6

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

seinem Rechte gegenüber s t i m m t e n Vorfalles

einer bestimmten Person wegen eines be-

Gebrauch mache ( I n i t i a t i v e

der

Strafver-

f o l g u n g ) , z u diesem Zwecke i n den Prozess als Partei eintrete und ein U r t h e i l darüber i n Anspruch nehme. II. theils,

Die

Straf klage

enthält

das der A n k l ä g e r

demnach den E n t w u r f

v o m Richter

verlangt.

In

des ihrer

UrVoll-

ständigkeit müsste sie e n t h a l t e n : 1. die Bezeichnungen des Anklägers u n d des Angeklagten, sowie des angerufenen Gerichtes; 2. die

Angabe

Fundament

des

der T h a t ,

welche festgestellt

werden s o l l ,

das

Klaganspruches;

3. die Bezeichnung des der Thatsache beigemessenen juristischen Charakters,

der strafbaren

Handlung,

welche i n

der T h a t

erblickt

werden s o l l ; 4.

den A n s p r u c h ,

den

der A n k l ä g e r

erhebt,

das

petitum.

Dieser Anspruch geht a. dahin dass der Angeklagte der i h m zur Last

gelegten

straf-

baren H a n d l u n g schuldig e r k l ä r t werde, b. auf alle F o l g e r u n g e n , den Schuldiggesprochenen

die sich nach den Gesetzen hieraus für

ergeben u n d

welche

geltend

zu

machen

der A n k l ä g e r i n seinem Interesse (beziehungsweise i n seiner Pflicht) gelegen e r a c h t e t 2 . 2

Darauf, dass der Anspruch der Straf klage in erster Linie auf die Schuldigerklärung geht, glaube ich, vermöge des Hauptzweckes des Strafverfahrens (s. Bd. I § 3, vgl. S c h u l t z e , Privatrecht und Prozess. 1883. S 25 Anm 1) Gewicht legen zu sollen. Mitunter ist die Schuldigerklärung dasjenige, was den Verurtheilten am härtesten trifft, härter als jede Strafe. Für den verfolgenden Staat ist in noch höherem Grade die Schuldigerklärung die Hauptsache, die Strafe nur als Folge derselben von Bedeutung. Während ζ. B. S t ü b e l , Crim.-Verf. § 1366 jedes Crirninalverfahren für „zwecklos, mithin unzulässig" erklärt, „wo verwirkte Strafen nicht vollzogen werden", und ebenso M a n g i n , Action publique Nr 458 sagt: toutes les fois que l'auteur . . . cesse d'être punissable, l'action publique n'a plus d'objet, — behauptet dagegen H é l i e , Instr. crim. Nr 1092. 1093, dass selbst Deliete, wegen deren eine Bestrafung nicht mehr erfolgen kann, weil bereits für concurrirende Verbrechen das höchste zulässige Strafinaass erschöpft ist, verfolgbar seien, und sagt zur Begründung: Est-il inutile de flétrir hautement le délit et les agents qui l'ont commis? Toute la puissance de la justice est dans ses jugements; c'est par eux qu'elle enseigne . . . et qu'elle exerce son action la plus efficace . . . Ueber die hier besprochene specielle Frage, die durch § 208 der deutschen StPO indirect entschieden ist, vgl. auch T r é b u t i e n Nr 297; O p p e n h o f f , Bern 71 zu § 1 preuss. V vom 3. Januar 1849, wo auf die Nothwendigkeit der Begründung einer künftigen Rückfallstrafe hingedeutet wird; B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 155 ss. Man kann sich aber auch sonst Strafprozesse denken, deren Ausgang ein „schuldig"

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage. I n dieser Vollständigkeit

aber ist die Strafklage ein I d e a l ,

i n keiner der wiederholten E r k l ä r u n g e n , zu welchen der A n k l ä g e r Laufe des Strafprozesses berufen ist, v e r w i r k l i c h t

wird;

das im

am nächsten

k o m m t i h m noch die prozessualisch unbedeutendste, der Schlussvortrag des Anklägers i n der H a u p t v e r h a n d l u n g ; am weitesten davon entfernt ist die prozessualisch Strafprozesses

veränderlichen K e r n wähnten

wichtigste E r k l ä r u n g ,

abgegebene.

Angaben,

Diese

enthält

der Straf k l a g e , nicht

selten i n

die zur Eröffnung

gewöhnlich

die oben unter ziemlich

nur

un-

1 und 2

er-

formloser

Ausführung.

Das übrige k a n n auf spätere Stadien des Prozesses verschoben, wenn ausgesprochen abgeändert

werden,

des

den

oder

theilweise w o h l auch ohne

Verletzung wesentlicher Prozessvorschriften aus den Parteierklärungen ganz wegbleiben. Strafprozesses

Der

Grund

für diese wichtigste Abweichung

vom Civilprozess liegt i n der i n B a n d I

legten Eigenart

des ersteren,

in

der

dadurch

§ 3

bedingten

des

darge-

grösseren

Unabhängigkeit des Richters von Behauptungen u n d E r k l ä r u n g e n der ohne Verhängung einer Strafe ist, wie ζ. B. wenn im Fall des § 199 StGB der Richter einen der Beleidiger oder beide „straffrei" spricht, oder im Falle des § 233 „keine Strafe eintreten lässt" (hierauf ist unten in der Lehre vom Urtheil zurückzukommen), oder wenn das gleiche Resultat sich bei Anwendung des § 7 StGB (Anrechnung einer im Auslande vollzogenen Strafe auf die wegen derselben Handlung im Inlande zu erkennende) oder bei Anwendung des § 74 StGB auf eine nachträgliche Verfolgung wegen einer geringfügigen Handlung ergiebt. Ein Strafverfahren, das lediglich auf die Verhängung einer Xebenstrafe und nur um deswillen auch auf Schuldigerklärung abzielt, ist im § 37 StGB für zulässig erklärt. Vgl. übrigens in Bezug auf Urtheile, die auf schuldig lauten, ohne Strafe zu verhängen, Glaser, Kl. Sehr. S 640 Anm 99; M e v e s , HH I I 504 und dagegen M i t t e r b a c h e r Bern 1 zu § 389 österr. StPO. Für sog. o b j e c t i v e Erkenntnisse der Strafgerichte, welche die Schuld einer nicht näher bestimmten Person zur Voraussetzung haben, bietet namentlich das Verfahren in Presssachen (und zwar nicht blos in Oesterreich, wo es nach §§ 492 u. 493 StPO eigenartig entwickelt ist) Beispiele ; s. darüber §§ 477. 478 der deutschen StPO. (Vgl. O p p e n h o f f , Bern 8 a. a. 0.) Ganz eigenartig ist das prozessuale Verhältniss, das sich ergiebt, wenn ein Angeklagter ob Mangels der erforderlichen Einsicht wegen jugendlichen Alters freizusprechen ist; das f r e i s p r e c h e n d e Urtheil kann hier eine erhebliche Schmälerung der persönlichen Freiheit ausdrücklich anordnen (§ 56 Abs. 2 StGB), die eben weil sie eine Freisprechung zur Voraussetzung hat, keine Strafe sein kann. Schliesst man sich der herrschenden Meinung an ( O l s h a u s e n Bern 17 und dagegen S c h w a r z e Bern 6 zu § 56 StGB, s. auch die Literatur bei letzterem), dass nämlich die Entscheidung bezüglich der Ueberweisung an die Familie u. s. w. nur im Urtheil ergehen, also wegen Mangels der Einsicht nicht Einstellung des Strafverfahrens erfolgen kann: dann hätte man einen Strafprozess, in welchem der Anspruch möglicherweise von vornherein auf Freisprechung unter Verhängung einer Polizeimaassregel gerichtet wäre. Vgl. RG E vom 30. Sept. 1882 Rspr IV 720.

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

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Parteien und in der Stellung des Staates als regelmässiger Ankläger. Dieser kann in der Regel am Ausspruch des Richters kein anderes Interesse haben, als dass geschehe, was dem Gesetze entspricht, nicht aber dass dieser Ausspruch gerade auf dieses oder jenes gehe, — dass den Schuldigen die dem Gesetze entsprechende Strafe, nicht dass ihn ein Strafübel von dieser bestimmten Art oder diesem bestimmten Umfang treffe 8 . Umgekehrt ist es Recht und Pflicht des Gerichtes, das Gesetz, so wie es selbst dasselbe auffasst, auf die als wahr erkannten, von der Strafklage umschlossenen Thatsachen anzuwenden. Es besteht daher keine N o t h w e n d i g k e i t , dass die Straf klage mehr als diese letzteren bezeichne; den übrigen oben erwähnten Inhalt der Straf klage vorzutragen mag zweckmässig sein, zumal in späteren Stadien des Strafverfahrens, wo sich dessen Ergebnisse deutlicher übersehen lassen, unentbehrlich ist es nicht und weder nach der einen noch nach der andern Seite bindend. Dennoch mussten auch die anderen Punkte schon hier erwähnt werden; denn den Anstoss zum Strafprozess kann nicht jede beliebige Angabe von Thatsachen geben: stets muss sich auch erkennen lassen, dass der auf diese gebaute Strafprozess zu einem Urtheil mit dem oben angegebenen Inhalt führen könne; die Straf klage muss der Keim sein, aus dem sich das Urtheil entwickeln kann. Man hat es also hier mit v e r ä n d e r l i c h e n und u n v e r ä n d e r l i c h e n Elementen zu thun; die letzteren müssen in jeder der Erklärungen, die der Ankläger im Laufe des Strafprozesses über den Gegenstand desselben abzugeben hat, wiederkehren; die anderen richten sich nach der Prozesslage und der besonderen prozessualen Aufgabe der einzelnen Erklärung: je nachdem diese auf Eröffnung der Voruntersuchung und des Hauptverfahrens oder auf das zu fällende Endurtheil abzielt. Es ist darum sehr wichtig, dass zwischen dem w e s e n t l i c h e n Inhalte der Strafklage und den Erfordernissen dieser einzelnen auf sie Bezug nehmenden, einer bestimmten prozessualischen Theilaufgabe dienenden Erklärungen stets unterschieden werde. HI. Aus der strafbaren Handlung erwächst dem Schuldigen die Pflicht, deren rechtliche Folgen über sich ergehen zu lassen, und dieser Pflicht entspricht das Recht des daran Interessirten, die Ver3

Eben darum schliesst die ihrem Inhalt nach vollständigste Anklageschrift, die einen regelrechten Syllogismus bildende s c h o t t i s c h e folgendermaassen: A l l which or part thereof being found proven . . . you ought to be punished with the pains of law („wird all dies . . . bewiesen erfunden, so sollt Ihr mit der gesetzlichen Strafe belegt werden") to deter others from committing the like crimes in all times coming.

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

hängung dieser Folgen in Anspruch zu nehmen. Dem Hauptinhalt nach sind diese Folgen Strafen, und das Interesse an deren Yerhängung fällt mit dem an die Aufgabe der Strafrechtspflege überhaupt geknüpften Interesse der Erhaltung der öffentlichen Rechtsordnung, oder wie immer der Zweck der Strafrechtspflege theoretisch gefasst wird, zusammen. Dieses Interesse ist ein Interesse des Staates und eben darum die Geltendmachung desselben, die S t r a f v e r f o l g u n g , eine staatliche Function. Auf dieses immer gleichbleibende, an jeden Akt der Strafrechtspflege geknüpfte staatliche Interesse bezieht sich das oben über den Strafanspruch und die Notwendigkeit seiner Formulirung gesagte. Mit der Strafe kann aber neben jenem allgemeinen Zweck, welcher mit dem aller Strafrechtspflege verbunden ist, noch ein Nebenzweck verfolgt werden; das im Gesetz für zulässig erklärte Strafübel kann deshalb gewählt sein, weil durch dessen Verhängung noch ein anderer Vortheil für den Staat erzielt wird, den er ohne das Arorhandensein der strafbaren Handlung sich nicht durch Schmälerung von Rechtsgütern eines Privaten verschaffen dürfte. Dieser Vortheil besteht in der Abwendung der Gefahren, welche dem Staate oder der bürgerlichen Gesellschaft von der Person des Schuldigen oder von den diesem zugänglichen Mitteln zur Verübung strafbarer Handlungen oder von den Ergebnissen derselben drohen; mitunter handelt es sich auch um die Verhinderung der Fortwirkung oder selbst Fortsetzung der strafbaren Handlung. Diesen Vortheil zu sichern, sind hauptsächlich gewisse Nebenstrafen an E h r e , F r e i h e i t oder V e r m ö g e n bestimmt. — Andererseits kann das Strafübel m i t t e l b a r anderen öffentlichen Zwecken dienstbar gemacht werden, insofern der positive Ertrag von Vermögensstrafen ihnen gewidmet wird. — Endlich ist die Strafverfolgung und der Strafvollzug für den Staat unter allen Umständen ein Nachtheil, welchen gut zu machen derjenige, der ihn durch seine strafbare Handlung verursacht hat, verpflichtet ist; dies gilt vom E r s a t z d e r K o s t e n des S t r a f v e r f a h r e n s u n d S t r a f v o l l z u g e s . Aus all dem ergiebt sich, dass der mit der Strafklage geltend gemachte Anspruch ein sehr mannigfaltiger sein, dass es Fälle geben kann, wo das an einen bestimmten Anspruch geknüpfte Interesse ausdrücklich betont, die demselben entsprechende Strafart geradezu begehrt werden, der für den Umfang des Anspruches maassgebende Sachverhalt dem Richter angedeutet werden muss 4 . Endlich zeigt sich schon hier, 4

Nothwendig ist dies allerdings nicht ; auch diese Nebenzwecke kann das Gesetz unbedingt sichern; so ist es in der That Regel im deutschen Strafrecht, dass auch

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§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

dass an den Strafanspruch Nebeninteressen geknüpft sein können, deren Geltendmachung ihren zunächst berufenen Vertretern (ζ. B. Verwaltung^- oder Steuerbehörden, Polizeibehörden u. s. w.) überlassen werden kann; ja es kann vorkommen, dass das Interesse am Nebenzweck das am eigentlichen Strafzweck so sehr überwiegt, dass die Vertretung des letzteren mit der des ersteren verbunden wird. Ein ähnliches Verhältniss kann aber auch bezüglich des durch die strafbare Handlung in seinen Rechten V e r l e t z t e n eintreten. Die strafbare Handlung verletzt stets die öffentliche Rechtsordnung und eben darum das Interesse Aller; allein sie verletzt sehr häufig in noch höherem Grade das rechtliche Interesse eines Einzelnen. Es liegt daher der Gedanke nahe, dass letzterem auch ein besonderes Recht darauf zugesprochen wird, dass die Bestrafung, welche im öffentlichen Interesse gelegen ist, auch wirklich erfolge. Je nachdem dabei das gegenseitige Verhältniss der beiden Interessen sich gestaltet oder je nachdem es von der Gesetzgebung gewürdigt wird, kann dies dahin führen, dass dem Verletzten, also einem Privaten als solchem, ein Antheil an dem Recht der Strafverfolgung gewährt oder dass dieses ihm geradezu überantwortet wird. Aus den Thatsachen, welche die strafbare Handlung ausmachen, kann ein civilrechtlicher (privatrechtlicher) Anspruch erwachsen, der in der Regel dem durch die strafbare Handlung Verletzten zusteht und der bald aus den nackten Thatsachen erwächst, bald dagegen an die Bedingung geknüpft ist, dass diese eine strafbare Handlung oder dass sie diese bestimmte strafbare Handlung begründen. Genaueres Eingehen auf diese Verhältnisse 5 ergiebt, dass die Strafklage folgende Arten bilden kann: auf Nebenstrafen, die unter diesen Gesichtspunkt fallen, der Richter erkennen muss, ohne dass es eines ausdrücklich hierauf abzielenden Antrages bedarf : d e r bezügl i c h e A n s p r u c h i s t i n dem A n t r a g auf S c h u l d i g e r k l ä r u n g s c h o n m i t e n t h a l t e n . Er kann aber auch selbständig werden, wie aus der Bestimmung des § 477 StPO über den Antrag auf „Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung von Gegenständen" sich ergiebt, ein Antrag, von welchem L ö w e Bern 4 das. mit Recht sagt, dass er sich „als eine besondere Form der Erhebung der Straf klage charakterisirt". Selbst wenn die ausdrückliche Stellung des Antrages nicht nothwendig ist, um einen Ausspruch des Gerichtes herbeizuführen, kann es doch durch die Zweckmässigkeit geboten sein, den in der Straf klage enthaltenen ausdrücklich hervorzuheben. 6 Es können hauptsächlich drei Arten von Einrichtungen aus der Berücksichtigung dieser Verschiedenheit hervorgehen: 1. Unbedingte Sonderung des vom öffentlichen und des vom Privat-Interesse geforderten. 2. Berücksichtigung der

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

1. Die r e i n ö f f e n t l i c h e Straf klage: hier liegt Erhebung und Durchführung cler Klage ausschliesslich in den Händen der Staatsorgane, der S t a a t s a n w a l t s c h a f t . 2. Die P r i v a t - S t r a f k l a g e , welche Privat a η klage genannt werden sollte, um sie von der auf Erhebung eines Civilanspruches beschränkten Privatklage zu unterscheiden: die von einem Privaten zu erhebende und durchzuführende Strafklage. 3. Mischungen beider Formen, wobei zwar dem Träger der öffentlichen oder der privaten Strafklage die Hauptstellung angewiesen wird, dem Vertreter des in die zweite Linie gestellten Interesse aber die Möglichkeit gewährt wird, neben jenem oder statt desselben auf die Erhebung oder Durchführung cler Straf klage einzuwirken: in diesem Sinne kann man von einer a c c e s s o r i s c h e n oder s u b s i d i ä r e n Staats- oder Privatklage sprechen. IV. Das deutsche Strafprozessrecht hat nun zu diesen verschiedenen Möglichkeiten derart Stellung genommen, dass es in möglichst weitgehender Weise die Strafklage als öffentliche Klage, den Strafprozess als Verhandlung und Entscheidung lediglich über die Straf klage behandelt : „die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung ist durch die Erhebung einer Klage bedingt44 (§ 151); „zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen 44 (§ 152 Abs. 1). Reine Civilansprüche, selbst wenn sie aus den die strafgerichtliche Verurtheilung begründenden Thatsachen erwachsen, ja selbst wenn sie davon abhängig sind, dass eine strafbare Handlung begangen wurde, sind der Regel nach nicht Gegenstand der Verhandlung im Strafprozess; der Adhäsionsprozess als entwickelte Form ist ausgeschlossen. Diese Lösung der Principienfrage ist indess Ausnahmen unterworfen, die durch beschränkte Zulassung der Privatklage, durch die Nebenklage und durch eine mit letzterer im Zusammenhange stehende eigentümliche Einrichtung — welche die Wirkungen der subsidiären Privatklage mit der Wahrung der Form der rein öffentlichen Strafklage verbinden soll — charakterisirt sind. Alles dies Privatansprüche im Strafprozesse, a. durch regelmässige Zulassung eines förmlichen Anschlusses des Trägers dieser Ansprüche als einer N e b e n p a r t e i : der Civilanspruch wird im Strafprozess nebenher verhandelt, aber diese Verhandlung ist ein Theil des Strafprozesses und an dessen Formen gebunden (Adhäsionsprozess); b. durch ausnahmsweise Zulassung eines beschränkten Adhäsionsprozesses; c. dadurch, dass dem Strafrichter die Berücksichtigung gewisser Privatansprüche von Amtswegen aufgetragen wird. 3. Dem verletzten Privaten wird ein Recht gewährt, selbst unmittelbar oder subsidiär Träger der Straf klage zu werden, den Strafanspruch als solchen zu verfechten.

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§ 62.

Wesen und Arten der Strafklage.

ist bereits früher (Band I §§ 20. 21) ausführlich dargestellt worden. Hier wird es genügen, folgende Einzelheiten noch hervorzuheben. 1. Schon oben (Anm 4) wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Strafklage stillschweigend alle öffentlichen Nebenansprüche mitumfasst. Es gilt dies aber auch von solchen Nebenstrafen, deren Verhängung offenbar zunächst im Interesse eines Privaten liegt; nur ausnahmsweise müssen sie ausdrücklich beantragt werden. So ist ζ. B. nach § 200 StGB dem Beleidigten „die Befugniss zuzusprechen, die Verurteilung auf Kosten des Schuldigen öffentlich bekannt zu machen" ; begehrt braucht dies nicht zu werden. Auch der im Abs. 2 das. erwähnte Antrag ist nicht vor dem Urtheil zu stellen ; es handelt sich vielmehr um eine Maassregel, die im Urtheil nicht erwähnt zu sein braucht und ebensowohl nach wie vor demselben beantragt werden kann 6 . Ebenso heisst es im Abs. 2 des § 17 des Ges über den Markenschutz vom 30. Nov. 1874, „es sei dem Verletzten die Befugniss zuzusprechen, die Verurteilung öffentlich bekannt zu machen", wie M e v e s 7 bemerkt, „von Amtswegen", „als ein Theil der dem Veru r t e i l t e n angedrohten Strafe". — Dagegen wird z. B. im 1. Abs. desselben Paragraphen ein ausdrücklicher Antrag gefordert, wenn auf Vernichtung der Zeichen auf der Verpackung u. s. w. erkannt werden soll. Ebenso bezüglich der „Einziehung der Nachdrucksexemplare" im § 26 des Ges v. 11. Juni 1870 betreffend das Urheberrecht. 2. Speciell hervorzuheben sind zwei Aufgaben des Strafrichters, welche privatrechtliche Interessen des durch die strafbare Handlung Verletzten betreffen ; bei beiden ist es in erster Linie auf die Wiederherstellung des verletzten Rechtes abgesehen und wird dem einer strafbaren Handlung Schuldigen cler Nachtheil auferlegt, dass ihm der Schutz, welchen er sonst in den Regeln des Civilrechtes und Civilprozesses vielleicht gefunden hätte, wesentlich geschmälert wird — also immerhin auch eine Art von Strafübel: a. Nach § 111 sind „Gegenstände, welche durch die strafbare Handlung dem Verletzten entzogen wurden, falls nicht Ansprüche Dritter entgegenstehen, nach Beendigung der Untersuchung (d. h. des Strafprozesses) und geeignetenfalls schon vorher v o n A m t s w e g e n dem Verletzten zurückzugeben, ohne dass es eines U r t e i l s hierüber bedarf". Diese Verfügung kann namentlich auch vom Beschuldigten 6 O l s h a u s e n Bern 13 zu § 200 StGB; vgl. aber S t e n g l e i n , GS 1883 S 271 und unten Anm 19. 7 Strafrechtliche Nebengesetze. Erlangen 1877. Bern 10 zu § 17 des Markenschutzgesetzes.

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

nur auf dem Civilrechtswege angefochten werden. Diese Erzwingung der dem Schuldigen obliegenden Zurückstellungspflicht durch den Strafrichter ist also ganz unabhängig von einem Antrag des Beschädigten, sie gehört daher zu den Folgen, deren Herbeiführung als von der Strafklage mit beansprucht anzusehen i s t 8 . b. Wenngleich die juristische Natur der B u s s e Gegenstand vielfacher Erörterungen i s t 9 , so kann doch vom prozessualen Stand8

Die Bestimmung des § 111 hing ursprünglich mit denjenigen Partien des 1. Entwurfes der StPO zusammen, welche den Adhäsionsprozess betrafen; letztere wurden später ausgeschieden (vgl. Bd. I § 17 II), und so blieb jene als ein kaum merkbarer Rest des Adhäsionsprozesses zurück. (Uebrigens enthält auch die österr. StPO, die den Adhäsionsprozess beibehielt, eine ähnliche Bestimmung.) Man war von Anfang an geneigt, den Umfang, in dem sie Geltung haben soll, auszudehnen. Schon bei den Berathungen (Prot S 123) war angeregt worden, dass hier der Satz: pretium succedit in locum rei Anwendung finden könnte. Von der einen Seite ward das bestritten, andererseits sagte auch Regierungsvertreter Arnsberg: „er bezweifle nicht, dass der beschlagnahmte Erlös entwendeter Sachen dem Bestohlenen auszufolgen sei". Das RG hat es für unzulässig erklärt, dass § 111 auf mit gestohlenem Gelde vom Angeklagten angeschaffte Gegenstände, oder auf den Erlös der gestohlenen in Geld umgewechselten Banknote angewendet werde (s. dag. J o h n , StPO I 836), andererseits aber die Ausfolgung von Pfandzetteln, welche über die entzogenen Gegenstände ausgestellt wurden, für zulässig erklärt (RG E vom 12. Jan. 1880, 3. Juni, 5. Juli 1880 Rspr I 217 I I 20. 162). 9 S. hierüber die Commentare hauptsächlich zu § 188 StGB, ferner Β er η er § 134; H ä l s c h n e r § 243; W ä c h t e r , Deutsches Strafrecht § 29 S 69. § 104 S 342: d e r s e l b e , Die Busse. Leipzig 1878; H. M e y e r § 55 Nr 7. D o c h o w in HH d. StR I I I 372 ff.; d e r s e l b e , Die Busse im Strafrecht und Strafprozess. Jena 1875; K. F u c h s , Anklage und Antragsdelicte § 56 ff.; v. L i s z t , Strafrecht § 72 I I ; S c h ü t z e § 78 B; B i n d i n g , Grundr. il. StR § 98 mit ausführlicher Literaturangabe; ebenso G e y e r , Grundr. d. StR § 48 Nr 4. Vgl. auch noch W e i n r i c h , Haftpflicht wegen Körperverletzung u. s. w. S 122, wo das Wesen der Busse in der clem Beschädiger auferlegten Pflicht gesehen wird, „statt des civilrechtlichen Schadensersatzes einen bestimmten Geldbetrag als Abfindung zu gewähren" (angef. nach Ζ f. StRW IV 327). — Ueber die prozessuale Seite der Busse s. ausser den o. a. Monographien v. W ä c h t e r s u. D o c h o w s namentlich Η e i n ζ e, Verhältniss des Reichsstrafrechts zum Landesstrafrecht. 1871. S 54. AVahlberg, Kritik des Entwurfes S 38 ff. S. M a y e r , Der Entwurf einer deutschen StPO S 408. S c h w a r z e in der sächs. GZ 1870 S 270 ff. O r t i ο f f in GA 1874 S 480. Motive zum Entwurf der StPO S 235 ff., insbesondere S 236 zu § 445 StPO. Prot d. K. S 682 ff. G e y e r , Lehrbuch § 257. D o c h o w in HH I I 373 f. — GS 1872 S 325 ff. (Stenglein), 1875 S 191 ff. u. 1877 S 417 ff. (Herzog), 1883 S 282 ff. 314 ff. (Stenglein). — Die Fälle, in welchen auf Busse erkannt werden kann, sind : Beleidigungen, strafbar nach §§ 186. 187 StGB, „wenn die Beleidigung nachtheilige Folgen für die Vermögensverhältnisse, den Erwerb oder das Fortkommen" mit sich bringt, — Körperverletzung § 231 das. — Verletzungen des Rechtes auf ausschliessliche Ausnutzung geistiger Arbeit, des Urheberrechts an Schriftwerken und

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§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

punkt und mit Rücksicht auf die Bestimmungen der StPO daran kein Zweifel sein, dass es sich dabei um einen aus der strafbaren Handlung a l s s o l c h e n erwachsenden C i v i l a n s p r u c h handelt: das Fundament des Anspruches ist strafrechtlicher, der Gegenstand desselben civilrechtlicher Natur. Die Geltendmachung dieses Anspruches ist a b h ä n g i g in materieller Hinsicht von der Qualität, in formaler von der Behandlung der Hauptsache, d. h. von dem Schicksal der S t r a f k l a g e : die Busse kann nur im Strafprozess begehrt und erlangt werden, und nur dann, wenn eine Verurtheilung wegen einer strafbaren Handlung dieser bestimmten Art ausgesprochen w i r d 1 0 ; dem Träger des Anspruches kommt eine Parteirolle im Strafprozess zu und diese ist so entschieden an die Person des durch die strafbare Handlung Verletzten geknüpft, dass der Anspruch auf Busse von dessen Erben nicht erhoben, ja nicht fortgesetzt werden kann (§ 444 Abs. 4). Die Beendigung des Strafprozesses auf andere Weise als durch Verurtheilung schafft den Anspruch auf Busse stillschweigend aus der Welt („der Antrag gilt ohne weitere Entscheidung für erledigt", § 444 Abs. 3). Die Gesetze bestimmen ferner ein Höchstmaass der zuerkennbaren Busse in ganz gleicher Weise wie das Höchstmaass der Strafe bestimmt wird, und es lässt sich die Analogie nicht ablehnen, welche dadurch offenbar zu dem Vorgang bei der StrafWerken der bildenden Kunst (§ 18 Ges vom 11. Juni 1870 u. § 16 Ges vom 9. Jan. 1876), an Photographien (§ 9 Ges vom 10. Jan. 1876), des Markenschutzes (§ 15 Ges vom 30. Nov. 1874), der Patente (§ 36 Ges vom 25. Mai 1877). 10 Die gesetzliche Regel geht dahin, dass nur „n eben der Strafe" Busse eintreten kann. Nur K. F u c h s a. a. 0. S 58 ff. behauptet, die Busse werde „durch die Unmöglichkeit der öffentlichen Strafe" nicht von selbst aufgehoben, also ζ. B. nicht durch den Tod des Angeschuldigten. S. dagegen W ä c h t e r , Busse S 46 Anm 30. G e y e r , Grundr. d. StR S 155 folgert andererseits aus jenen Worten, dass „der für schuldig aber straffrei erklärte Beleidiger oder Körperverletzer" nicht zu einer Busse verurtheilt werden kann. Geyer gehört zu denjenigen, welche die erwähnte Urtheilsform in ziemlich weitem Umfange zulassen (Lehrbuch § 197 II), in einem Umfange, welcher jedenfalls die völlige Bestreitung seines angeführten Satzes unzulässig machen würde. Schränkt man den Gebrauch dieser Formel auf Fälle ein, wo wenigstens ideell eine Strafabmessung stattfindet (s. darüber unten bei (1er Lehre vom Urtheil), dann scheint es mir fraglich, ob der Satz dem Geiste des Gesetzes entspricht. Der Hauptfall ist hier nämlich die sog. Compensation der Beleidigungen, und da ist nicht einzusehen, warum es nicht gerecht erscheinen kann, das Gleichgewicht der beiderseits gebührenden Genugthuung durch eine Busse herzustellen. W ä c h t e r a. a. 0. und B i n d i n g , Grundr. d. StR § 98 I I I Nr 3 sprechen ebenfalls davon, dass auf „Strafe erkannt sein" muss, ohne diese Frage ausdrücklich zu entscheiden. Ebenso wenig scheinen D ο c h ο w in HH I I 374 unter Y und S t e n g l e i n , GS 1883 S 322 dies tliun zu wollen, indem sie von einem „verurteilenden Urtheil" sprechen.

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

zumessung hergestellt wird: der Richter wird gewissermaassen angewiesen, sich so wie bei dieser mit den Grundlagen zu begnügen, welche, bei Gelegenheit der Prüfung der Schuldfrage gewonnen, zu einer Schätzung in Bausch und Bogen ausreichen, ohne dass ihm verwehrt ist, solche Verhältnisse auch zum Gegenstande besonderer Beweisaufnahme zu machen 1 1 . Die c i v i l r e c h t l i c h e Natur des Anspruches zeigt sich am deutlichsten darin, dass die Zuerkennung 11

Vgl. Bd. I § 36 V I ; s. ferner S t e n g l e i n , GS 1883 S 318 ff. Es gehört sicher zu den Nachtheilen, welchen sich der Schuldige durch Verübung der strafbaren Handlung als solchen aussetzt, dass er zu einer Entschädigung verurtheilt werden kann, bei welcher die Grundlage der Entscheidung sowohl als die letztere selbst — und zwar, ob sie ergeht und w i e sie lautet — völlig in die billige Beurtheilung des Gerichtes gelegt ist. Andererseits kommt es dem Angeklagten aber auch wieder zu statten, dass der Strafrichter bei der ihm überlassenen Strafzumessung auch vor Augen hat sowohl den Schaden, den der Angeklagte sich gewissermaassen selbst zugefügt und den er neben der Strafe zu leiden hat, als auch die durch seinen gleichzeitigen Spruch gesicherte Vergütung des aus der That entsprungenen materiellen Schadens. — Es ist auch richtig, dass die Verhandlung über die Busse nur als Nebenpunkt angesehen werden darf, der die Verhandlung der Hauptsache nicht erheblich verzögern darf; allein wie weit geht dies? Den Abs. 1 des § 438, wo es heisst, dass der Fortgang des Verfahrens durch den Anschluss nicht aufgehalten werden darf, beziehen L ö w e Bern 3 zu § 444 StPO u. O l s h a u s e n Bern 7 Abs. 2 zu § 188 StGB auch auf den Umfang der Beweisaufnahme ; das bestreitet zwar S t e n g l e i n a. a. O. S 321 ff., der dabei das Schwanken der Anschauungen des RG darlegt; allein dieser stellt die Sache so dar, dass das Gericht sich des Spruches über die Busse nicht lediglich deshalb entschlagen könne, weil kein specieller Nachweis über die Höhe des Schadens geboten sei. M. E. soll der Richter sich fragen, ob er guten Grund habe, anzunehmen, eine bestimmte Summe, die er im Sinne hat, werde so ziemlich das rechte treffen; ist dies nicht der Fall, dann ist die nächste Frage, ob bessere Grundlagen für seine Entscheidung leicht und ohne Aufschub zu erlangen sind. Ist dies so, dann muss die Beweiserhebung stattfinden, welche, da sie ein Element des Strafprozesses bildet, sich ganz nach dem für diesen geltenden Beweisrecht richtet, insbesondere auch darin, dass es keine f o r m e l l e Beweislast giebt, wohl aber eine f a c t i s c h e (vgl. Bd. I § 36 VIII). Sind von der Beweisaufnahme Weiterungen zu erwarten, so muss für das Ermessen des Richters m. E. folgendes maassgebend sein : Auf eine als u n g e n ü g e n d e r k a n n t e Grundlage hin darf der Richter einen Ausspruch nicht stützen, durch den er entweder dem Angeklagten oder dem Beschädigten unwiederbringlichen Schaden zufügen könnte; er muss dann den Ausspruch über die Busse unterlassen, ausgenommen er findet es im Interesse auch einer r i c h t i g e n S t r a f z u m e s s u n g gelegen, dass er selbst um den Preis von Weiterungen die für nöthig erachteten Beweiserhebungen eintreten lässt. Im wesentlichen hat hier wohl zu gelten, was die ersten Entwürfe der StPO (§ 326 bez. § 332) für den Umfang der Beweisaufnahme im Adhäsionsprozess vorgeschrieben hatten („insoweit, als sie zugleich für das Strafverfahren erforderlich sind, oder die Erledigung der Strafsache durch sie nicht aufgehalten wird"). Nur ist bei der Busse zu beachten, dass die Zuerkennung einer ungenügenden den Verletzten endgiltig verkürzt.

16

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

der Busse die Geltendmachung eines weiteren Entschädigungsanspruches ausschliesst (§ 188 Abs. 2 StGB), wodurch eben auch ausgesprochen ist, dass die Busse Entschädigung enthält und nur demjenigen gebührt, dem die strafbare Handlung Schaden zugefügt h a t 1 2 . Prozessualisch äussert sich das darin, dass Busse nicht ohne Antrag und zwar nicht ohne Nennung eines bestimmten Betrages und nicht über diesen hinaus zuerkannt werden kann (§ 444 Abs. 1, § 4 4 5 ) 1 3 12 Und zwar, wird man hinzufügen müssen, einen noch nicht ersetzten Schaden ; ob der volle Umfang des Schadens ersetzt sei, dafür wird weder das etwa ergangene civilrichterliche Urtheil maassgebend sein noch ein Vergleich, sofern dieser nicht den Verzicht auf Busse unzweifelhaft enthält ( S t e n g l e i n , GS 1883 S 317 hält den Verzicht auf Busse überhaupt für unwirksam, was m. E. zu weit geht). Die Gewährung des Anspruches auf Busse hat ja eben den Zweck, auch durch Erleichterung der prozessualen Durchsetzung die Lage des Verletzten gegenüber dem Schuldigen zu verbessern ; es kann daher sein, dass ein Vergleich geschlossen ward, weil die strafrechtliche Natur der Verletzung nicht erkannt war, oder dass ein Civilurtheil auf mangelhaften Beweisergebnissen beruhte, während im Strafprozess die Sache klargestellt ist. W ä c h t e r , Busse S 71 lässt daher den Antrag auf Busse auch dann zu, wenn der Beschädigte mit seiner Klage bei dem Civilrichter nicht obsiegte. And. Mein. H e r z o g in GS 1875 S 195 ff. 1877 S 424; er lässt den Anspruch auf Busse durch den Civilprozess stets untergehen, sofern nicht die Klage blos angebrachtermaassen abgelehnt wurde. Trotzdem hält er andererseits den Einwand der Rechtshängigkeit für ausgeschlossen und legt erst der auf dem einen Wege ergangenen Entscheidung maassgebende Bedeutung im anderen Prozess bei, ohne dabei den Fall zu behandeln, wo das zweite Urtheil ergeht, ehe das erste rechtskräftig geworden ist. M. E. stehen die Dinge in der That so, dass beide Prozesse von einander unabhängig bleiben; liegt dem Straflichter ein rechtskräftiges Civilerkenntniss vor, so wird er auf Busse nicht erkennen, wenn er die zugesprochene Entschädigung genügend findet. Ist dies nicht der Fall, so spricht er die volle Busse ohne Rücksicht auf das Civilerkenntniss aus, soweit dasselbe nicht bereits vollstreckt ist. Der Angeklagte wird gegen doppelte Zahlung in diesem Falle, so wie auch in dem oben angedeuteten Falle, wo das Civilurtheil erst nach dem Strafurtheil rechtskräftig wird, dadurch geschützt, class „eine erkannte Busse die Geltendmachung" (also auch die Eintreibung) „eines weiteren Entschädigungsanspruches ausschliesst" (§ 188 Abs. 2). Im Civilprozess wird übrigens das Schweben des Anspruches auf Busse einen genügenden Grund geben, die Verhandlung bis zur Entscheidung über diesen zu vertagen. 13 Es ist nicht nöthig, dass der Antrag auf eine bestimmte Summe früher gestellt werde, als in den der Urtheilsfällung vorausgehenden Schlussvorträgen. Ward eine Summe früher genannt, so kann der Anspruch später immer noch erhöht werden (RG E vom 28. Sept. 1881 Rspr I I I 544), natürlich auf die Gefahr hin, dass der Richter, wenn er besorgt, dass dem Angeklagten auf diese Weise seine Vertheidigung unbillig erschwert wurde, von Zuerkennung der Busse absieht. Ward der ziffermässig erhobene Anspruch ermässigt, was eben so wie die Zurücknahme des Antrags überhaupt bis zur Verkündung des Urtheils zulässig ist (Löwe Beni 1 zu § 445; K e l l e r Bern 2 zu § 445: „Veränderung erleidet"), so kann,

§ 62.

Wesen und Arten der Strafklage.

und dass der Antrag auf Busse — jedoch nur in unwiderruflicher Weise — bis zur Verkündung des Urtheils zurückgenommen werden kann (§ 444 Abs. 2 ) 1 4 . Die Vollstreckung des Spruches über die Busse erfolgt zwar nach den Vorschriften über die Vollstreckung der Civilurtheile; dies ist aber nicht von principieller Bedeutung, weil das gleiche auch von der Vollstreckung der Geldstrafen gilt (§ 495) 1 δ . 3. Aber auch abgesehen von solchen Nebenansprüchen berührt die Strafklage vielfach ein von der Gesetzgebung ausdrücklich anerkanntes Interesse des durch die strafbare Handlung Verletzten; dieses Interesse ist an die Anwendung oder Nichtanwendung des Strafgesetzes auf den bestimmten Fall, an die Geltendmachung oder Unterlassung des Strafanspruches als solchen geknüpft. Je nach der Verschiedenheit dieser Verknüpfung des Privat- mit dem öffentlichen Interesse ist das erstere durch Aufstellung von Regeln gewahrt, vermöge welcher der Vertreter desselben neben dem Vertreter des öffentlichen Interesse zu einer Rolle im Strafprozess berufen ist: a. Die s u b s i d i ä r e P r i v a t a n k l a g e als solche hat zwar nicht Eingang in den deutschen Strafprozess gefunden : der durch die strafbare Handlung Verletzte kann die Straf klage nicht selbst erheben; eben weil hierin eine theilweise Zurücknahme des Antrages liegt, später der Anspruch nicht wieder erhöht werden (a. M. S t e n g l e i n , GS 1883 S 315). — H e r z o g , GS 1875 S 197. 202, 1877 S 421 behauptet mit Unrecht, der Antrag auf Busse sei hinsichtlich der Personen u n t h e i l b a r ; S t e n g l e i n , GS 1872 S 354 beschränkt dies auf Körperverletzungen. S. dagegen W ä c h t e r S 55; O l s h a u s e n Bern 5; R ü d o r f f - S t e n g l e i n Bern 6 zu § 188; v. Schwarze Bern 9 das. und Bern 9 zu § 231. Natürlich k a n n der Strafrichter, in dessen Ermessen die Zuerkennung der Busse gestellt ist, von letzterer absehen, wenn er Grund hat, in der Beschränkung des Antrags auf einzelne Angeklagte eine die justitia distributiva beeinträchtigende Unbilligkeit zu erblicken. 14 RG E vom 31. März 1880 Rspr I 520 sagt: „Wenn § 444 StPO die Er· neuerung eines zurückgenommenen Antrages auf Zuerkennung einer Busse verbietet, so wird dabei ein an und für sich wirksamer Antrag unterstellt." (Vgl. übrigens RG E vom 13. Jan. 1882 Rspr IV 42.) Die Behauptung L o w e s (Bern 4 zu § 444), dass die Zurücknahme des Antrages auch nach Verkündung des Urtheils erster Instanz erfolgen könne, bis die Rechtskraft eintritt, hat den Wortlaut des Gesetzes gegen sich ; m. E. ist nur richtig, dass wenn in Folge der Ergreifung des Rechtsmittels die Sache in das Stadium der Verhandlung erster Instanz zurücktritt, auch die Widerruflichkeit des Antrages wieder auflebt. Vgl. S t e n g l e i n , GS 1883 S 316 Anm **. 15 Die Bestimmung des § 444 Abs. 4 über die Unzulässigkeit der „Fortsetzung" des Anspruches auf Busse durch die Erben erstreckt sich natürlich nicht auf die Vollstreckung eines bei Lebzeiten des Angeklagten rechtskräftig gewordenen Urtheiles. L ö w e Bern 7. 8 zu § 444. Binding, Handbuch. I X . 4. I I :

G l a s e r , Strafprozess. I I .

2

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§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

allein er kann (vgl. oben § 20) auf einem Umweg erzielen, dass das Gericht den Staatsanwalt zur Erhebung der öffentlichen Strafklage anhält. I n solchem Falle beruht der Strafprozess thatsächlich darauf, dass der Verletzte ein i h m zustehendes Recht ausgeübt hat; man kann nicht sagen, dass er lediglich den Anstoss zur Ausübung eines Rechtes des Gerichtes gegeben hat, da das Gericht nur eingreifen kann, wenn der von ihm als hiezu berechtigt Erkannte dies verlangt. Auch sind die aus solchem Einschreiten des Privaten entspringenden Folgen damit nicht erschöpft, dass das Gericht dessen Antrag stattgiebt und darum die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage erhebt; denn neben dieser nimmt derjenige, der die letztere thatsächlich in Bewegung gesetzt hat, in dem auf ihr beruhenden Strafprozess eine Stellung als P a r t e i ein: er ist N e b e n k l ä g e r (unter der § 435 Abs. 2 bezeichneten Voraussetzung) und haftet innerhalb bestimmter Grenzen für die Kosten, welche aus seinem Vorgehen der Staatscasse und dem Beschuldigten erwachsen. Hier besteht also eine N e b e n k l a g e , welche nicht einen von dem der öffentlichen Klage verschiedenen Anspruch, sondern nur den letzteren ausser durch seinen natürlichen Träger auch noch durch eine Nebenpartei geltend macht. b. Das umgekehrte Verhältniss tritt bezüglich der überwiegenden Mehrzahl der sog. A n t r a g s d e l i c t e ein. Die Pflicht und das Recht der Staatsanwaltschaft, die Strafklage zu erheben, sind hier an das Vorhandensein einer darauf abzielenden Willenserklärung des Antragsberechtigten geknüpft. Selbst da, wo der Antrag widerruflich ist, beruht der durch ersteren veranlasste Strafprozess, so lange er überhaupt geführt werden kann, auf einer rein öffentlichen Strafklage ; letztere geht, wenn sie erhoben wird, aus der freien, pflichtmässigen Prüfung des Falles durch die Staatsanwaltschaft hervor; der Antragsteller als solcher hat die der Staatsanwaltschaft sonst kraft ihres Amtes zukommende L e g i t i m a t i o n z u r S a c h e ihr verschafft und dadurch eine Vorbedingung des Strafprozesses erfüllt, diesen m ö g l i c h gemacht, aber er hat die Strafklage nicht erhoben und hat an ihrer Durchführung keinen Antheil. Selbst da, wo er durch seinen Rücktritt letztere zum Stillstand bringen, für den Angeklagten eine ihr entgegentretende p e r e m t o r i s c h e E i n r e d e begründen kann, hat er i m Prozess keine Stellung. c. Nur bei zwei Antragsdelicten : Beleidigung und Körperverletzung (§ 414), verhält es sich anders; zwar k ö n n e n auch diese gleich allen andern Antragsdelicten den Gegenstand der öffentlichen Strafklage bilden; allein dies ist, den Antrag vorausgesetzt, vermöge einer im § 416 aufgestellten Ausnahme vom Legalitätsprincip der Beurtheilung

§ 62.

Wesen und Arten der Strafklage.

der Staatsanwaltschaft überlassen. Erachtet sie nicht, dass die Erhebung der öffentlichen Klage „im öffentlichen Interesse liegt", so unterbleibt die Strafverfolgung, sofern nicht der Verletzte kraft eigenen Rechtes die Straf klage erhebt, welche in diesem Fall, im Gegensatz zur öffentlichen Strafklage, als P r i v a t k l a g e (eigentlich ist sie PrivatStrafklage, Privatanklage) bezeichnet wird. Demnach ist die Privatklage im deutschen Strafprozess der Idee nach eine subsidiäre, in praktischer Verwirklichung eine principale ; sie tritt nur auf, wo nicht die öffentliche Klage erhoben ist, und wo letztere hervortritt, schrumpft sie zur Nebenklage ein, ja sie kann, soweit darin nicht eine das Verfahren endigende Zurücknahme des Antrages liegt, auch ganz verschwinden, ohne den Gang des Verfahrens zu beeinträchtigen; ihr principaler Charakter aber beruht darauf, dass sie erhoben werden kann, ohne dass entschieden zu sein braucht, dass die öffentliche Klage nicht erhoben wird. Eben darum haben Privat- und öffentliche Strafklage denselben Anspruch zum Gegenstande, sie unterscheiden sich nur durch die Person, die ihn geltend macht, und durch die Folgerungen, die aus der Verschiedenheit dieser Person sich ergeben, und nicht ohne Grund konnte daher D o c h o w sagen: „Der Privatkläger ist ebenso wie die Staatsanwaltschaft nur (?) ein Werkzeug des Staates." V. Man hat daher im deutschen Strafprozess folgende Unterscheidungen bezüglich der Strafklage zu machen: 1. Die Straf klage ist entweder H a u p t - oder N e b e n k l a g e . — Die Hauptklage ist entweder ö f f e n t l i c h e Klage, ausgeübt von der Staatsanwaltschaft, oder P r i v a t klage, ausgeübt von dem durch die strafbare Handlung Verletzten. Eine eigenthümliche Art von Privatklage entsteht daraus, dass die Staatsanwaltschaft nicht so sehr als Vertreterin des öffentlichen Interesse im Strafprozess als vielmehr als Vertreterin des an die Strafrechtspflege als solche geknüpften Interesse angesehen wird ; demgemäss hat man es einerseits für möglich erkannt, dass neben ihr noch andere Vertreter öffentlicher Interessen auftreten, andrerseits für unzulässig, diesen die Verrichtungen der Staatsanwaltschaft zu übertragen, es vielmehr vorgezogen, diese Vertreter eines öffentlichen Interesse auf den Weg der Privatklage zu verweisen. Dies tritt nach §§ 464—466 dann ein, wenn die Verwaltungsbehörde „einen Strafbescheid nicht erlassen", sondern in Angelegenheiten, wo ein solcher ergehen könnte, an die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Verfolgung gerichtet hat, den diese ablehnt. Die Verwaltungsbehörde erhebt hier die Anklage, auf welche die über die Privatklage ertheilten Vorschriften Anwendung finden. Analog 2*

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§ 62.

Wesen und Arten der Strafklage.

der Stellung, die der zur Privatklage Berechtigte e i n n i m m t , wenn d i e öffentliche K l a g e erhoben i s t , ist der Verwaltungsbehörde das Recht eingeräumt, i n dem nicht auf ihre Anklage geführten Prozess sich der „ V e r f o l g u n g anzuschliessen", wobei die Bestimmungen über die Nebenklage A n w e n d u n g

finden 16.

2. D i e N e b e n k l a g e

bietet die F o r m e n d a r , vermöge welcher

neben der die öffentliche Klage vertretenden Staatsanwaltschaft 1 7 eine Privatperson i h r an die Durchführung

des Hauptanspruches

mittelbar

oder u n m i t t e l b a r geknüpftes Nebeninteresse 1 8 zur G e l t u n g b r i n g t ; sie 16

StPO § 467. Meves in HH Π 432 legt Gewicht darauf, dass die Verwaltungsbehörde nicht Nebenkläger sei, was zur Folge habe, dass es einer ausdrücklichen Entscheidung über die Zulassung des Anschlusses nicht bedürfe. Hier wird also das öffentliche Interesse als solches neben dem Staatsanwalt durch ein Organ der Behörde vertreten. — Es kann andererseits vorkommen, dass öffentliche Behörden einen Anspruch auf B u s s e haben; ζ. B. bei Nachdruck und Verletzung der Patentgesetzgebung. Es ergiebt sich aber aus den im Text erwähnten Einrichtungen, dass die Staatsanwaltschaft nicht berufen ist, Interessen geltend »zu machen, welche ausserhalb des Strafzweckes liegen (eine Ausnahme macht der regelmässig wiederkehrende Anspruch auf Prozesskosten); sie hat daher mit dem Anspruch auf Busse sich nicht zu befassen (vgl. L ö w e Bern 5 zu § 443, Meves a. a. 0.) und muss es den Vertretern des betheiligten Verwaltungszweiges überlassen, den Anspruch auf dem Wege der Nebenklage geltend zu machen. 17 Es giebt keine Nebenklage neben der Privatklage, oder vielmehr: wer im Sinne des § 415 Abs. 2 der Privatklage beitritt, wird hierdurch Mitkläger; vgl. S t e n g l e i n , GS 1883 S 272 Anm **. Der von diesem vermisste legislative Grund hierfür scheint mir darin zu liegen, dass kein Privatkläger vor dem anderen eine Vorzugsstellung einzunehmen hat, wie sie dem Staatsanwalt zukommt, und dass, wenn man einen solchen Vorzug auf das Zuvorkommen gründen wollte, jedenfalls nicht einzusehen wäre, warum der Rücktritt des zuvorkommenden Privatklägers auch dem Einschreiten dessen, der sich ihm anschloss, ein Ende machen soll, wie dies in der Natur der Nebenklage läge. 18 Vgl. D o c h o w in HH I I 370 f.; Meves das. S 432; S t e n g l e i n , GS 1883 S 271 ff.; G e y e r § 50 Π Ι letzter Abs. ( Z i m m e r m a n n , GS 1884 S 497 ff. hat nur die Frage der Zeugnissfähigkeit der Nebenkläger vor Augen, vgl. Bd. I S 475). Die Natur der Nebenklage und die Stellung des Nebenklägers ist stets die gleiche, welches immer der Grund sein mag, auf welchem die Zulässigkeit der Nebenklage beruht. Die Berechtigung, eine Busse (künftig) zu begehren, genügt, um den Anschluss als Nebenkläger, d. h. die Erhebung der Nebenklage, zu rechtfertigen, ohne dass dieser Anspruch schon erhoben ist, und die Nichterhebung des letzteren macht die Nebenklage jedenfalls nicht rückwirkend ungiltig. (Vgl. RG E vom 13. Januar 1883 Rspr IV 42, wo vielmehr angenommen wird, dass derjenige, der berechtigt ist, eine Busse zu verlangen, sich auch noch zu einer Zeit als Nebenkläger anschliessen kann, wo er die Busse nicht mehr verlangen kann.) Wo die Nebenklage nicht auf dem Anspruch auf Busse beruht, ist ohnehin der in ihr geltend gemachte Anspruch der gleiche, wie der der öffentlichen Strafklage, und nach dem eben gesagten gilt das für alle Fälle der Nebenklage: der Nebenkläger

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage. k o m m t daher i m m e r n u r einem P r i v a t e n (vgl. oben A n m 16) zu u n d giebt diesem stets die Stellung einer N e b e n p a r t e i a u f S e i t e

der

A n k l a g e ; sie beruht auf dem „Anschluss" an das Hauptverfahren u n d i s t davon abhängig,

dass eine öffentliche Straf klage erhoben u n d i m

Gange i s t ;

„der Anschluss k a n n behufs E i n l e g u n g von R e c h t s m i t t e l n

auch nach

ergangenem

Urtheile

geschehen"

(§ 435).

Sie

kommt

nur zu: a. demjenigen, berechtigt w ä r e ,

welcher z u r Privatklage

wegen welcher

wegen einer H a n d l u n g

die öffentliche Klage i m Gange ist

(§ 435 Abs. 1 ) ; b. demjenigen, „welcher durch einen A n t r a g auf gerichtliche E n t scheidung (§ 170) die Erhebung der öffentlichen K l a g e herbeigeführt hat, w e n n die strafbare H a n d l u n g gegen sein Leben, seine Gesundheit, seine F r e i h e i t ,

seinen Personenstand oder seine Vermögensrechte ge-

richtet w a r " (§ 435 Abs. 2 ) ; c. demjenigen, „welcher berechtigt ist, die Z u e r k e n n u n g einer Busse zu verlangen" ; i n einem auf erhobene öffentliche Klage anhängigen V e r fahren k a n n die Zuerkennung der Busse n u r erfolgen, w e n n sie v o n einer Person gefordert w i r d , welche „sich z u diesem Zweck der K l a g e als Nebenkläger anschliesst"

19

.

ist berechtigt, neben dem Staatsanwalt darauf hinzuwirken, dass die öffentliche Klage erfolgreich durchgeführt werde, und wer erklärt, dass er Nebenkläger sein wolle, nimmt eben diese für alle Arten der Nebenklage gleiche Stellung in Anspruch, welche ihm übrigens alle Freiheit lässt, sich auf dasjenige zu beschränken, was n u r dem Nebenkläger zukommt: Stellung des Antrages auf Busse. Mit Recht tritt daher L ö w e Bern 2 zu § 443 dem Versuche P u c h e Its Bern 4 das. entgegen, eine Unterscheidung zwischen nothwendigem und freiwilligem Anschluss zu machen und dem Nebenkläger, der es auf Busse abgesehen hat, ein Recht auf einen beschränkten Anschluss zuzuerkennen. Sonderbar ist allerdings die Redewendung L o w e s , nach welcher „in der auf Zuerkennung einer Busse gerichteten Nebenklage die Nebenklage auf Bestrafung kraft des Gesetzes mit enthalten", also die Hauptklage Nebenklage der Nebenklage sein soll; die Nebenklage ist ja unter allen Umständen Anschluss an die „auf Bestrafung kraft des Gesetzes" gerichtete Hauptklage.— S t e n g l e i n hingegen GS 1883 S 271. 295 bestreitet der Nebenklage die Eigenschaft als Klage, lediglich aus dem Grunde, der sie zur N e b en klage macht, dass sie nämlich eine Klage bereits als gegeben voraussetzt, in der Erklärung des Anschlusses an diese besteht und nur darum einer Substantiirung nicht bedarf, weil sie vermöge der Natur des Anschlusses an den entsprechenden Inhalt der Hauptklage gebunden ist. Von der oben S 4 f. erwähnten doppelten Function der Straf klage : Bezeichnung des G e g e n s t a n d e s des Prozesses und Erklärung des B e i t r i t t e s als Prozesspartei, erfüllt die Nebenklage die letztere ausdrücklich, die erstere durch Hinweisung auf die Hauptklage, an die sie sich „anschliesst". 19 Eine eigentümliche Bewandniss hat es mit dem Recht des Verletzten auf

22

§ 62.

Wesen und Arten der Strafklage.

3. Der Begriff der W i d e r k l a g e ist dem deutschen Strafprozess insofern fremd, als man etwa darunter die Geltendmachung eines privatrechtlichen Anspruches des Angeklagten gegenüber dem Anspruch auf Busse verstehen w o l l t e 2 0 . Wohl aber kennt die StPO eine s t r a f r e c h t l i c h e Widerklage in dem Sinn, dass der Angeklagte gegen den wider ihn als Privatkläger Auftretenden seinerseits eine Privatklage und zwar bis zur Beendigung der Schlussvorträge in erster Instanz erheben kann: diese Privatklage wird ausdrücklich als Widerklage bezeichnet (§ 428). Die Widerklage ist sonach die Privatklage des durch eine Privatklage Verfolgten („Antrag auf Bestrafung des Klägers"); sie kann daher nur einen Gegenstand betreffen, der an sich durch Privatklage zu verfolgen ist und wegen dessen der Angeklagte kraft eigenen Rechtes selbst oder durch einen gesetzlichen Vertreter gegen den ihn verfolgenden Privatkläger auch ohne Gebrauch der Widerklage Privatklage erheben könnte 2 1 . Die Widerklage bewirkt, dass die zwei durch die Haupt- und die Widerklage veranlassten Strafprozesse vor dem für erstere zuständigen Gerichte einheitlich verhandelt und gleichzeitig entschieden werden müssen („über Klage und öffentliche Bekanntmachung der ihm durch das Urtheil gewährten Genugthuung: § 200 StGB, § 35 PatGes vom 25. Mai 1877. (Vgl. oben Anm 6.) Es ist nicht Aufgabe der Nebenklage, die Verwirklichung dieses Rechtes herbeizuführen, und dazu bedarf es auch der Nebenklage nicht, weshalb auch aus der Berechtigung an sich nicht das Recht auf Anschliessung als Nebenkläger folgt ( L ö w e Bern 7 zu § 443, s. dagegen S t e n g l e i n S 271, wo davon die Rede ist, dass die Publication des Urtheils gemäss § 200 Abs. 2 StGB „mittels der Nebenklage verlangt werden könne oder müsse"). Die Regel ist, dass der Richter dem Beleidigten die Befdgniss der Bekanntmachung von Amts wegen unter Regelung der Modalitäten zuzusprechen hat, sobald er überhaupt verurtheilt, gleichviel ob der Beleidigte als Privat- oder Nebenkläger erscheint oder nicht, ob er sich auf diesen Antrag beschränkt oder ihn auch ganz unterlässt. Dass der Beleidigte darüber gehört werden muss, wenn er es verlangt, liegt in der Natur der Sache ; die Anschliessung als Nebenkläger ist aber nicht Vorbedingung dafür, wie bezüglich der Busse. — Im Abs. 2 des § 200 wird ein ausdrücklicher „Antrag des Beleidigten" verlangt; auch dies ändert nichts an dem Gesagten, zumal der „Antrag" auch erst im Stadium der Vollstreckung gestellt werden kann. RG E vom 14. April 1880 Rspr I 598. Vgl. O l s h a u s e n Bern 12. 13 zu § 200 StGB. 20 Vgl. L ö w e Bern 4 zu § 437. 21 L ö w e Bern 1, K e l l e r Bern 3 zu § 428; D o c h o w in HH I I 357 ff. 367. And. Mein. F r e u d e n s t e i n , System des Rechtes der Ehrenkränkungen. Hannover 1880. § 36. Schon hier darf bemerkt werden, dass andererseits der gesetzliche Vertreter nicht auf diese seine Eigenschaft eine Widerklage gegen eine wider ihn selbst erhobene Anklage stützen kann. — Ueber W i d e r k l a g e überh. s. M e n z e l , Die Privatklage. Erlangen 1880. S 97—99; F r e u d e η s t e i n , System § 36; S c h e r e r , GS 1876 S 69 ff.

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

Widerklage ist gleichzeitig zu erkennen", § 428 Abs. 2). Diese wenigen Worte überschreiten schon fast den Umfang des im Gesetz ausdrücklich darüber gesagten ; aus dieser Wortkargheit bei Regelung einer ganzen Institution sind aber um so mehr Zweifel erwachsen, als auch das Verhältniss zu den entsprechenden Stellen des Strafgesetzes zu berücksichtigen war. Es dürfte daher zweckmässig sein, den Details der Lehre von der Widerklage gleich hier Platz zu gönnen, statt dieselben an die verschiedenen Stellen zu vertheilen, wo die Hauptfragen, zu denen sie gehören, zu behandeln sind. a. Gegenstand der Widerklage sind nur „wechselseitige Beleidigungen oder Körperverletzungen", soweit solche an sich Gegenstand der Privatklage sein können. Die Wechselseitigkeit beruht auf der Gleichheit der P e r s o n e n (Gegenseitigkeit); es ist nicht nöthig, dass sie bis zur „sofortigen Erwiderung" gehe, da dies eine Unterart der wechselseitigen Beleidigung ist, die § 199 StGB besonders hervorhebt. Weiter zu gehen und auch zu behaupten, dass die „gegenseitigen" Verletzungen nur durch Herauswachsen aus der gleichen Ursache zu „wechselseitigen" werden, dafür finde ich weder im Wortlaut der Gesetze noch in der Natur der Sache genügende Gründe 2 2 . Ob die Widerklage zulässig sei wegen Beleidigungen gegenüber einer Anklage wegen Körperverletzung und umgekehrt, das hängt von der Auslegung der streitigen Frage des materiellen Rechtes ab, ob in solchem Falle die Bestimmung des § 198 StGB anwendbar sei. Bejaht man dies, wofür m. E. schon die Fassung des § 233 StGB zu sprechen scheint, so ist 22

StGB und StPO sind auch nach meiner Meinung in einer Weise auszulegen, dass sie möglichst genau zusammenstimmen, und es ist daher die Frage zunächst eine Frage des materiellen Rechtes und deshalb hier auf die Erörterungen des letzteren zu verweisen; s. S c h w a r z e Bern 2, R i i d o r f f - S t e n g l e i n Bern 2, R u b o Bern 1, O l s h a u s e n Bern 1 Abs. 2 zu § 148 StGB und die namentlich bei letzterem angeführte weitere Literatur; ferner S c h w a r z e in GA 1874 S 7 if. Der im Text ausgesprochenen Ansicht entsprechen RG Ε ν. 4. Juni 1880 Entsch I I 87; v. L i s z t , Reichsstrafrecht § 61 I I I Nr 2 (vgl. StR § 89 II); L ö w e Bern 2a zu § 428 StPO; K e l l e r Bern 1; P u c h e l t Bern 2 Abs. 2. And. Mein, namentlich D o c h o w in HH I I 367 und Schwarze a. a. 0., während dieser Erörter. I 33, welche Stelle K e l l e r im entgegengesetzten Sinne anführt, die Frage nicht behandelt. Man muss sich klar machen, dass die Bestimmungen der §§198 StGB und 428 StPO im Interesse einer möglichst gerechten Behandlung beider Theile gegeben sind, daher zu einer einengenden Auslegung gar kein Grund vorliegt und dass das Causalverhältniss als Element der Wechselseitigkeit nur selten mit Zuversicht zu verneinen sein wird. Eben darum sehe ich auch keine genügenden Gründe, solche Beleidigungen auszuschliessen, „deren sich jemand erst nach dem auf seinen Antrag eröffneten Verfahren schuldig gemacht hat". Vgl. O l s h a u s e n Bern 2, R ü d o r f f - S t e n g l e i n Bern 3 Abs. 2, S c h w a r z e Bern 2 Anm 4 zu § 198 StGB.

24

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

kein Grund vorhanden, die Widerklage auszuschliessen ; letztere hätte aber allerdings, wenn man jenes verneint, nur dann einen Zweck, wenn § 233 StGB anwendbar i s t 2 3 . b. Nach § 198 StGB m u s s bei wechselseitigen Beleidigungen der bereits Angeklagte den Antrag auf Bestrafung des Verletzten „spätestens vor Schluss der Verhandlung in erster Instanz" stellen „bei Verlust seines Rechtes", und zwar einen Antrag auf Bestrafimg, nicht blos auf Berücksichtigung der ihm widerfahrenen Unbill bei der Beurtheilung seiner eigenen Strafbarkeit ; und dies gilt auch für Fälle der Körperverletzung. Nach § 428 StPO kann „die Bestrafung des Klägers" in den Formen der Widerklage „bis zur Beendigung der Schlussvorträge (§ 257) in erster Instanz" beantragt werden. Wie weit decken sich die beiden Bestimmungen? M. E. lässt sich nicht behaupten, dass die Widerklage nunmehr die einzige Form ist, in welcher der dazu Berechtigte den Antrag auf Bestrafung stellen k a n n 2 4 . Wohl aber scheint es die klare Absicht gewesen zu sein, zu erzwingen, dass über die wechselseitigen Delicte in e i n e m Verfahren verhandelt und entschieden werde, und man darf daher annehmen, dass es nicht die Absicht war, für die Anstellung der Privatklage einen anderen Endtermin zu bezeichnen als für die Stellung des Strafantrages, dass daher die StPO nur einen bestimmteren Ausdruck an die Stelle des bei Vorhandensein verschiedener Strafprozessgesetze unbestimmter gehaltenen Ausdruckes des Strafgesetzbuches setzt, so dass § 428 StPO jetzt allerdings auch für die Auslegung des StGB in dieser Richtung maassgebend i s t 2 5 . 23 O l s h a u s e n Bern 7 zu § 198 findet das Princip des § 198 und daher auch die Widerklage selbst beim Eintreffen der Voraussetzungen des § 233 unanwendbar; ebenso S c h ü t z e § 84 Anm 21, v. L i s z t a. a. Ο.; s. dag. S c h w a r z e Bern 6 zu § 232 StGB und die das. angef. Literatur; D o c h o w in HH d. StR Ι Π 371, B e r n e r S 516 Nr 4, R ü d o r f f - S t e n g l e i n Bern 4, H ä l s c h n e r I I § 35, welche die Compensation von Beleidigungen und Körperverletzungen ohne jene Unterscheidung zulassen (letzterer nicht ohne Bedenken), ferner L ö w e Bern 2a, T h i l o Bern 2, K e l l e r Bern 2 Abs. 2 zu § 428 StPO. 24 So D o c h o w in HH I I 369 und P u c h e l t Bern 4 zu § 428, allerdings natürlich nur für den Fall, wo eine Privatklage erhoben ist; allein § 198 StG unterscheidet nicht zwischen diesem Fall und den anderen und § 428 StPO weiss wieder nichts von einer obligatorischen Widerklage. Der wegen Beleidigung u. s. w. Beschuldigte hat also in jedem Fall die Wahl zwischen der Form des blossen Antrages und der Widerklage, natürlich mit der aus ersterer sich ergebenden Folge des Rechtsverlustes für den Fall, dass der Staatsanwalt die Verfolgung ablehnt und die Zeit zur Anstellung der Widerklage inzwischen verstrichen ist. 25 v. S c h w a r z e , Erörterungen I 33 und Bern 1 zu § 428; K e l l e r Bern 4 das.; O l s h a u s e n Bern 4a zu § 198 StGB, welch letzterer unter Hinweis auf § 264

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage. c. D i e W i d e r k l a g e werden, ihr

kann nur

der öffentlichen Klage

einer Privatklage

also

selbst dann n i c h t ,

ein Nebenkläger angeschlossen h a t

einmal erhoben,

so k a n n sie weder

entgegengesetzt

26

.

durch

Ist aber die

w r enn sich Widerklage

die Zurückziehung

der

Privatklage (§ 428 Abs. 3 ) , noch durch die Uebernahme der H a u p t klage durch die Staatsanwaltschaft beseitigt w e r d e n 2 7 , wenngleich die Staatsanwaltschaft Verfolgung der

dies dadurch b e w i r k e n k a n n ,

dass sie auch

die

den Gegenstand der W i d e r k l a g e bildenden H a n d l u n g

übernimmt28. d. D i e Bestimmung der W i d e r k l a g e ist die Vereinigung der V e r preuss. StPO von 1867 sich darauf beruft, dass nach preussischem Sprachgebrauch „Schluss der Verhandlung" gleichbedeutend war mit „Beendigung der Schlussvorträge"; S eher er, GS 1879 S 69. And. Mein, mit mancherlei verschiedenen Nuancen D o c h o w in HH H 369, L ö w e Bern 9, P u c h e l t Bern 5, D a l c k e Bern 3 zu § 428. 26 RG E vom 17. October 1881 und 5. Mai 1883 Rspr I I I 627 V 317; L ö w e Bern 4 zu § 437; S t e n g l e i n , GS 1883 S 313. And. Mein. Z i m m e r m a n n , GS 1884 S 515. 27 L ö w e Bern 4 zu § 437; dag. v. S c h w a r z e , Erörterungen I 35 und S t e n g l e i n a. a. Ò. Anm ***. Für die Ansicht L o w e s scheint mir zu sprechen, dass wenn selbst der freiwillige Rücktritt des Privatklägers nach § 428 Abs. 3 „ohne Einfluss" bleibt, dies um so mehr von der factischen Herabdrückung desselben auf die Rolle des Nebenklägers gelten müsste. Natürlich bleibt der Gegner auch hier der letztere, weshalb Schwarzes Bemerkung nichts beweist: „Die Widerklage bezweckt die Bestrafung des Gegners; dieser Gesichtspunkt passt nicht auf die Staatsanwaltschaft." S t e n g l e i n dagegen macht geltend, dass das Einschreiten des Staatsanwaltes die Competenz verschieben kann (§ 27 Z. 3 GVG), was die Widerklage vor das Landgericht bringen würde. Allein daraus könnte höchstens eine Ausnahme für solche Fälle abgeleitet werden ; es wäre nicht die einzige, die aus Gründen der Competenz zu machen ist. (Vgl· unten Anm 29.) Ueberdies fühlt S t e n g l e i n selbst, dass es in unserem Falle mit der blossen Verneinung nicht gethan ist ; nach ihm soll „im Fall nachträglicher Uebernahme der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft die Widerklage zur gesonderten Aburtheilung" gewiesen werden ; aber als was ? Als Widerklage soll sie nicht möglich sein ; als Hauptklage ist sie nicht erhoben und eine gesetzliche Bestimmung, welche sie in eine solche von selbst übergehen Hesse, besteht nicht. Dadurch aber, dass sie Gegenstand abgesonderter Beurtheilung wird, hört die Widerklage nicht auf, als solche zu existiren; das zeigt sich ja bei der Zurücknahme der Haupt-Privatklage. 28 Uebernimmt die Staatsanwaltschaft beide Verfolgungen, so gehen die Privatund Widerklage von selbst in Nebenklagen über; letzteres geschieht auch dann, wenn die Staatsanwaltschaft nur die durch die Widerklage eingeleitete Verfolgung übernimmt; K e l l e r Bern 3 Abs. 2 zu § 428. P u c h e l t Bern 6 Abs. 8 das. ist der Ansicht, dass die Staatsanwaltschaft nach erhobener Widerklage die „Uebernahme der Sache" immer nur mit der Wirkung erklären kann, dass sie beide Klagen vertritt, und dass Kläger und Widerkläger zu Nebenklägern werden. Für ersteres fehlt aber jeder gesetzliche Anhaltspunkt.

26

§ 62. Wesen und Arten der Strafklage.

handlung über eine Privatklage des Angeklagten mit der über eine gegen diesen gerichtete seines Gegners; wo diese Vereinigung nicht stattfinden kann, ist die Widerklage zwecklos, wenngleich der in ihr enthaltene Antrag für die materiell-rechtlichen Zwecke, welche § 198 StGB vor Augen hat, ausreichen mag. Die erste Wirkung der Widerklage ist daher, dass sie die Zuständigkeit des mit der Privatklage befassten Gerichtes begründet, und eben darum ist die Widerklage an sich unzulässig, wenn schon zur Zeit ihrer Erhebung klar ist, dass diese Zuständigkeit nicht begründet werden kann; dies ist der Fall beim Mangel der Gerichtsbarkeit über den Privatkläger (Exterritorialität, Privilegium der landesherrlichen Familien, Militärgerichtsbarkeit), ferner wenn für die Privatklage ausnahmsweise das Schwurgericht zuständig ist (§ 6 E G V G ) 2 9 . e. Die Widerklage ist eine Privatklage, deren Anbringung das Gesetz wesentlich erleichtern wollte; ihre Erhebung ist also an keine der Förmlichkeiten und äusseren Bedingungen gebunden, welche das Gesetz für die Privatklage vorschreibt, während andrerseits die Staatsanwaltschaft und der Widerbeklagte ein Recht auf Beobachtung alles dessen haben, was zu ihren Gunsten vorgeschrieben ist, so weit es eben nicht mit der Begünstigung unvereinbar ist, welche das Gesetz bezüglich der Zeit und Form der Erhebung der Widerklage zugestand. Man ist daher darüber einig, dass auf den Widerkläger die Bestimmungen über Sühneversuch und Sicherheitsleistung nicht anwendbar sind; ebenso wenig gelten für ihn die Vorschriften über die äussere Einrichtung der Privatklage (§ 421); es genügt ein Straf-Antrag, verbunden mit der Erklärung, dass hierdurch die Widerklage erhoben werden soll; diese Erklärung kann auch mündlich in der Hauptverhandlung abgegeben werden. Die Mittheilung an den Angeklagten und an die Staatsanwaltschaft und die abgesonderte Beschlussfassung über die Zulässigkeit der Widerklage unterbleiben nur dann, wenn die Widerklage erst in der Hauptverhandlung erhoben wird und das Gericht diese nicht aussetzt 30 . 29

O l s h a u s e n Bern 46 zu § 198 StGB, D a l c k e Bern 1 zu § 428. Aus § 27 Z. 3 GVG geht die Absicht klar hervor, Privatklagen nur vor dem Schöffengericht verhandeln zu lassen; in dem oben Anm 27 erwähnten Falle der Uebernahme der Hauptklage allein durch die Staatsanwaltschaft muss daher die den Gegenstand der Widerklage bildende Strafklage ausgeschieden und abgesondert verhandelt werden. 30 Vgl. D o c h o w in HH I I 367; v. S c h w a r z e , Erörter. I 35; S c h e r e r , GS 1879 S 69 ff.; K e l l e r Bern 4, P u c h e l t Bern 6, D a l c k e Bern 4, T h i l o Bern 3—5, L ö w e Bern 6 zu § 428. Dabei bestehen im einzelnen mannigfaltige Meinungsverschiedenheiten. P u c h e l t verlangt, dass mit der Erhebung der Wider-

27 § 63.

Die E r h e b u n g der S t r a f k l a g e und i h r e

Wirkung1.

I. Es hat sich gezeigt, dass die ö f f e n t l i c h e K l a g e weitaus die vorherrschende Form der Straf klage ist; es ist daher erklärlich, dass man regelmässig, von den anderen Formen der letzteren absehend, die beiden Ausdrücke fast als gleichbedeutend gebraucht, oder vielmehr, dass auch Lehren, welche von der Strafklage als solcher zu gelten haben, in specieller Beziehung auf die öffentliche Klage vorgetragen werden 2 . Der Sache, nicht aber dem Ausdruck nach wird klage die Angabe der Beweismittel verbunden werde. K e l l e r bestreitet, dass irgend ein Beschluss über die Zulässigkeit selbst der vor der Hauptverhandlung erhobenen Widerklage zu fassen sei, während L ö w e mit Recht bemerkt, es sei nur der eigentliche Eröffnungsbeschluss hier deshalb gegenstandslos, weil über die einmal als zulässig erklärte Widerklage durch das über die Hauptklage ergehende Urtheil entschieden werden muss. L ö w e gewährt dem Privatkläger einen unbedingten Anspruch auf die dem durch Privatklage Verfolgten zukommende Ladungs- und Erscheinungsfrist (§ 216 und § 425 Abs. 4). Allein von diesen Bestimmungen hat § 428 den Widerkläger entbunden; das Gesetz kann m. E. nicht so verstanden werden, dass das Gericht g e z w u n g e n ist, eine bis ans Ende der Schlussvorträge gediehene Verhandlung auszusetzen und zu wiederholen, weil der Angeklagte in diesem Augenblick eine (vielleicht als völlig unhaltbar erkannte) Widerklage erhebt. Vielmehr hat das Gericht frei zu beurtheilen, ob es möglich ist, auch über die Widerklage sofort zu entscheiden; wo das nicht möglich ist, bleibt allerdings nur die Aussetzung der Verhandlung und die Rückkehr zur Regel bezüglich der Vorbereitung der Verteidigung des Angeklagten übrig. S. dag. S c h e r e r , GS 1879 S 69 ff. (wo indess von einer Widerklage gegen einen als Z e u g e n Geladenen die Rede ist). 1 Literatur s. oben § 62 Anm 1. 2 Dies geschieht auch in der deutschen StPO, die einen die beiden Unterarten der Strafklage: öffentliche und Privat-Klage umfassenden Ausdruck nicht kennt. Es ist aber das Verdienst B e r n e r s , zuerst den bezeichnenderen Ausdruck „Strafklage" in Gebrauch gesetzt zu haben, welchen auch einzelne der der RStPO vorangegangenen deutschen Gesetze (Oldenburg, Bremen) sich aneigneten. (Vgl. O p p e n h o f f , Bern 2 zu § 1 preuss. V von 1849; L ö w e Bern 2b vor § 151.) Die österr. StPO gebraucht für Strafklage den Ausdruck „Anklage" (im Gegensatz zu der die Grundlage des Civilprozesses bildenden Klage), und spricht daher nur, wo ein Gegensatz zu betonen ist, von öffentlicher und Privat-An klage, von öffentlichem und Privat-Ankläger (vgl. namentlich § 2 das.). Bei Berathung der deutschen StPO war von G η e i s t der Wunsch geäussert worden, einen Ausdruck zu wählen, welcher „die Einmengung der Begriffe Klage und actio in den Strafprozess" nicht mit sich bringe; darauf entgegnete der Regierungsvertreter: „Der Staatsanwalt thue im wesentlichen dasselbe, was der Kläger im Civilprozess: er erhebe eine Klage." Hier handelte es sich also um einen Begriff und hierin blieb G η e i s t allein, zumal man sonst auch nicht von Privat- und Nebenklage sprechen könnte. Daneben aber ging der Streit um die Ausdrücke „Anklage" ( S t r u c k m a n n ) und „Strafklage" (Marquardsen). Ausschlaggebend für die Terminologie „öffentliche Klage"

28

§ 6.

W u n

der Strafklage.

hier der gleiche Vorgang eingehalten, indem zunächst von der Strafklage im allgemeinen gehandelt und späteren Theilen des Werkes die Darstellung desjenigen vorbehalten wird, was speciell von den nicht unter den Begriff der „öffentlichen Klage" fallenden Arten der Strafklage zu bemerken ist. I I . Da die Strafklage nur die Anrufung des Strafrichters durch den berechtigten Ankläger zur Ausübung seines Amtes bezüglich eines bestimmten Vorfalles ist, so liegt die Erhebung der Straf klage eben in dieser Anrufung. Sie muss nicht mehr, sie darf nicht weniger enthalten. Sie darf keinen Zweifel lassen an der Persönlichkeit des Anklägers, des Anzuklagenden und des Richters, an dem Willen des ersteren, als Ankläger aufzutreten, und an dem Gegenstande der Anklage. Erklärungen, bei welchen es sich um die Vorbereitung für eine erst zu erhebende Anklage, um die Anrufung des Gerichtes zur Mitwirkung bei der Erforschung eines noch unbekannten Thäters, bei der Aufklärung eines verdächtigen Vorfalles, kurz um die Vornahme solcher richterlichen Akte handelt, welche schon zu dem Zwecke vorgenommen werden können und müssen, damit ein als wahrscheinlich ins Auge gefasster Strafprozess nicht vereitelt, vielmehr die Erreichung seines Zweckes möglichst bald gesichert werde, enthalten noch nicht die Erhebung der Straf klage; ja wenn eine Erklärung auch nur einen Zweifel darüber lässt, ob sie nicht in diesem Sinn gemeint sei, so reicht sie nicht aus, um die Wirkung der Erhebung der Straf klage zu erzielen 3 . Man muss eben unterscheiden scheint gewesen zu sein, einerseits, dass die seither aufgehobenen 2. Absätze der §§ 176 und 177 StGB von der Erhebung der „förmlichen Anklage" sprachen und damit jedenfalls etwas anderes als die Ergreifung der Initiative der Strafverfolgung bezeichnen wollten (vgl. GA von 1871 S 561 [Spahn], 1875 S 161 [ T e s s e n d o r f ] und 1872 S 325 [ G r u n e r ] ; F u c h s , Antragsdelicte S 137—149), ferner dass man den Ausdruck Angeklagter für denjenigen aufsparen wollte, wider welchen das Hauptverfahren eröffnet ist, endlich die Gewöhnung der rheinischen Juristen an den französischen Sprachgebrauch, welcher das Wort accusé auf Schwurgerichtsfälle beschränkt, sonst durch prévenu ersetzt. Prot S 193—195. 3 Ganz unzulässig und mit dem Anklageprincip unvereinbar wäre ζ. B. eine Erklärung des Staatsanwaltes, wie sie Oppen h o f f , Bern 4 zu § 1 preuss. Y von 1849 dann empfiehlt, wenn „der Staatsanwalt bei zweifelhaften Fragen Bedenken trägt, ohne weiteres von der Erhebung der Anklage abzusehen, selbst wenn er persönlich sie nicht für gerechtfertigt hält . . . , er deshalb die Sache dem Gerichte zur Beschlussfassung mit dem Antrage vorlegt, die Untersuchung nicht zu eröffnen. Auch ein solcher Antrag ist dann als Anklage aufzufassen. u Mit Recht sagt dagegen derselbe Schriftsteller (Bern 19 das.), dass Erklärungen des Staatsanwaltes, welche darauf abzielen, „durch Vorbehalte oder sonstige der Anklage hinzugefügte Maassgaben" „das Richteramt auf die Beurtheilimg eines einzelnen Punktes oder einer

§ 63. Wirkung der Strafklage.

29

zwischen ihr selbst und Akten der Strafverfolgung, welche ihr ebenso wohl vorausgehen, als nachfolgen können, weil durch sie die Sicherung des ungestörten Ganges des Verfahrens und der thatsächlichen Vollstreckbarkeit des zu erwartenden Urtheils erzielt werden soll und dafür oft schon auf Grund einer noch nicht erhobenen, sondern nur erwarteten, v e r m u t h e t e n Straf klage gesorgt werden muss. Andrerseits darf man die in der Strafklage liegende Hinweisung auf einen bestimmten Vorfall als Gegenstand des dadurch eröffneten Strafprozesses nicht verwechseln mit demjenigen, was in thatsächlicher Hinsicht der Träger der Strafklage im Verlaufe des Prozesses vorbringt, sei es dass er die ursprüngliche Erzählung ändert oder ergänzt. Damit macht derselbe nur von seinem Parteirecht Gebrauch, dem Richter alles vorzutragen, was die richtige Entscheidung dieser Strafsache erleichtern kann. Die Grenze ist erst da erreicht, wo diese Erklärungen eine Ausdehnung der Strafklage auf eine von ihr nicht umfasste That enthalten würden. — Was den Willen, die Strafklage zu erheben, betrifft 4 , so findet er in der Regel seinen Ausdruck in dem Prozessantrage, welcher mit der Erklärung verbunden wird und welcher das nunmehr einzuleitende Verfahren betrifft (vgl. oben § 62 II). Die Erhebung der Straf klage erfolgt nämlich (s. StPO § 168 Abs. 1) in diesem Sinne: 1. durch Stellung des Antrages auf Eröffnung der Voruntersuchung (§ 176); 2. durch Einreichung der Anklageschrift (§ 197); 3. durch Ausdehnung der am Schluss der Voruntersuchung überreichten Anklageschrift auf eine That, wegen welcher die Eröffnung oder Ausdehnung der Voruntersuchung nicht beantragt worden war, und wäre es auch nur durch Erhebung der Anschuldigung unter gleichzeitiger Stellung des Antrages auf einstweilige Einstellung des Verfahrens nach § 208 ; 4. durch den in der Hauptverhandlung gestellten Antrag, eine andere That des Angeklagten, als wegen welcher das Hauptverfahren wider ihn eröffnet worden, zum Gegenstande sofortiger Aburtheilung zu machen 5 ; 5. durch die im Sitzungsprotokoll bestimmten Seite derjenigen Thatsachen zu beschränken, um deren rechtliche Beurtheilung es sich handelt", „durchaus wirkungslos und als nicht geschehen anzusehen" sind. 4 Dieser ist z. B. nicht zum Ausdruck gebracht, wenn der Staatsanwalt etwa in dem Schlussvortrage in der Hauptverhandlung gegen einen Zeugen die Beschuldigung des Meineides erhebt oder wenn er den Antrag auf Unterlassung der Beeidigung eines Zeugen damit begründet, dass er denselben als Theilnehmer an der den Gegenstand der Verhandlung bildenden That bezeichnet. 5 Die Erhebung der Strafklage hat hier allerdings nur eine beschränkte Wirkung oder vielmehr eine von der sofortigen Verhandlung und Aburtheilung be-

30

§ 6.

W u n

der Strafklage.

des Amtsrichters oder Schöffengerichtes einer U e b e r t r e t u n g waltschaft richters

nach § 2 1 1 ;

niedergelegte Anklage

wegen

6. durch den A n t r a g der Staatsan-

auf Erlassung eines schriftlichen

Strafbefehles

des Amts-

(§ 447) ; 7. dadurch, dass i n Folge des Antrages auf gericht-

liche Entscheidung über eine polizeiliche Strafverfügung (§ 454) oder über einen Strafbescheid der Verwaltungsbehörde (§ 460) die Staatsanwaltschaft dem Gericht die A k t e n v o r l e g t 6 . Π Ι . D i e E r h e b u n g der Strafklage muss nach Vorstehendem i m m e r mit

einem der Lage

schreitens

der Sache u n d der gewählten F o r m

entsprechenden Prozessakte

k a n n auch ein solcher sein, welcher

i n Verbindung

des E i n -

stehen;

dieser

nicht nothwendig auch die E r -

hebung der Straf klage enthalten muss; aber auch wo dies der F a l l ist, muss er zugleich u n d zunächst seinem unmittelbaren Zwecke angepasst sein.

Es ergeben sich daraus Anforderungen

zelnen A k t , welche, wenn er

an diesen ein-

die E r h e b u n g der Strafklage bezweckt,

dingte; versagt der Angeklagte seine Zustimmung, erachtet das Gericht selbst die Ausdehnung der Hauptverhandlung auf die neue That nicht für zulässig oder zweckmässig, so ist der Antrag als solcher endgiltig erledigt. Die Untersuchung ist nicht eröffnet, die Straf klage kann daher zurückgenommen werden (§ 154); das Gericht, bei welchem der Antrag angebracht ist, hat nicht nur keine Verpflichtung, die Sache weiter zu betreiben, sondern es ist nicht einmal berufen, dieselbe vor das nach seiner Ansicht zuständige Gericht zu verweisen (vgl. RG E vom 2. März 1881 Rspr I I I 91, wo allerdings eigentlich nur die Frage zu erörtern war, ob eine solche Verweisung die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem zuständigen Gericht in sich schliesse). Es ist also in solchem Fall die Staatsanwaltschaft berufen und vermöge des Legalitätsprincips (§ 152) allerdings in der Regel auch verpflichtet, den ersten erfolglos gebliebenen Schritt durch einen anderen zu ersetzen, welcher sich als wirkliche Erhebung der Strafklage darstellt und auf welchem allein dann der daraus erwachsende Strafprozess beruht. Dass hierin keine Anomalie liegt, wird sich unten zeigen, wo der Fall erörtert wird, dass ein Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung oder eine unmittelbar überreichte Anklageschrift wegen Unzuständigkeit oder aus formellen Gründen abgelehnt wird. 6 L ö w e Bern 2 zu § 168 rechnet zu den „aussergewohnlichen Arten" der Erhebung der Strafklage die im Text unter 7 erwähnte Vorlegung der Akten nicht, wohl aber den nach § 477 gestellten Antrag auf Einziehung u. s. w., ein Antrag, welcher allerdings mit der Straf klage das gemein hat, dass das Gericht an die in ihm liegende Initiative gebunden ist, allein als Straf klage nicht angesehen werden kann, weil dem durch ihn begründeten Verfahren ein wesentliches Merkmal jedes Strafprozesses, die „Verfolgung einer bestimmten Person", fehlt. Hier wird kein Strafprozess geführt, sondern eine ihrer Natur nach polizeiliche Function ausgeübt, welche wegen ihres regelmässigen Zusammenhanges mit strafbaren Handlungen und zur Erhöhung des Schutzes des Privatrechtes den Strafgerichten selbst für den Fall übertragen ist, dass kein Strafprozess gefühlt wird. Vgl. G l a s e r , Kl. Schriften S 363, Gutachten für den VI. deutschen Juristentag über die Behandlung der Presssachen.

§ 63.

Wirkung der Strafklage.

31

nothwendig auch die Erreichung dieses Zweckes bedingen; eben darum sind aber umgekehrt

die Anforderungen,

die an den die E r h e b u n g

der Strafklage enthaltenden A n t r a g geknüpft sind, nach Verschiedenheit dieses Antrages verschiedene.

Diese Anforderungen werden daher

i n den späteren, der Darstellung des Ganges des Verfahrens i m einzelnen gewidmeten B ü c h e r n bei der Besprechung der einzelnen Prozessakte zu erörtern sein.

H i e r k a n n nicht mehr gesagt werden, als dass

der Antrag, m i t welchem die E r h e b u n g der Strafklage bezweckt w i r d , einerseits die oben (§ 62 I I , § 63 I I ) betonten unerlässlichen Elemente cler

Strafklage

Anforderungen

enthalten

und

andrerseits

zugleich den

besonderen

entsprechen muss, die sich aus seiner sonstigen pro-

zessualen Aufgabe e r g e b e n 7 . — U n t e r diesen letzteren ist n u r eine, welche

bei

jedem Prozessakt

dieser A l i :

gleichmässig

wiederkehrt:

die Forderung, dass der A n t r a g an das zur Entgegennahme desselben z u s t ä n d i g e Gericht gerichtet s e i 8 . 7

Aus diesem Grunde können Untersuchungen, wie sie in Bezug auf das Wesen und den Inhalt der Straf klage, über die Substantiirung derselben, über die Frage, ob das Fundament der Strafklage in der nackten Thatsache oder in der Behauptung eines juristisch beurtheilten Thatbestandes liege u. dgl. vielfach angestellt werden, hier ihren Platz nicht finden. Genauere Erwägung zeigt, dass es sich dabei fast immer um die Frage handelt, welche Beschaffenheit das die Grundlage der Hauptverhandlung bildende Schriftstück haben soll, also im ö s t e r r . Strafprozess die Anklageschrift, im d e u t s c h e n der Gerichtsbeschluss, womit das Hauptverfahren eröffnet wird. Dieser letztere enthält natürlich niemals die Erhebung der Strafklage, sondern hat sie zur Voraussetzimg, während die österreichische Anklageschrift dieselbe enthalten kann, aber nicht enthalten muss, und andererseits Anforderungen zu entsprechen hat, welche an den Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung, der stets die Erhebung der Strafklage enthält, nicht gestellt werden können. 8 Die Wirkung der Anbringung des die Erhebung der Straf klage enthaltenden Aktes bei einem nicht zuständigen Gerichte ist hier nicht näher zu erörtern; es genügt, darauf aufmerksam zu machen, dass sowohl der Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung als die unmittelbar überreichte Anklageschrift wegen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichtes zurückgewiesen werden kann und muss (§ 178 u. § 199 Abs. 3), und dass andererseits § 21 dem (örtlich) unzuständigen Gericht die Verpflichtung auferlegt, sich denjenigen innerhalb seines Bezirkes vorzunehmenden Amtshandlungen zu unterziehen, in Ansehung deren Gefahr im Verzug obwaltet. Von einer Verpflichtung, ja selbst von einer Berechtigung, den wegen Unzuständigkeit abgelehnten Antrag an das für zuständig erachtete Gericht abzutreten, ist in der deutschen StPO nicht die Rede (wogegen die österr. StPO diese Verpflichtimg im § 212 ausdrücklich ausspricht, im § 65 indirect anerkennt; vgl. auch das im § 65 der österr. Vollzugsvorschrift vom 19. November 1873 eingeführte Formular des Jahresgeschäftsausweises der Gerichtshöfe erster Instanz Nr X I I Abth. 11 „abgetretene Straffälle"). Unter diesen Umständen ist es also Sache des Staatsanwaltes, dessen die Strafklage erhebender Antrag wegen Unzuständigkeit rechtskräftig zurückgewiesen ist, in analoger Anwendung des § 144 Abs. 2 GVG

32

§ 6.

W u n

der Strafklage.

Die Erhebung der Strafklage erfolgt daher dadurch, dass einer (1er hierzu geeigneten Anträge (s. oben) unter der Beobachtung der Formen und Bedingungen, von welchen die Zulässigkeit eines Antrages dieser Art abhängig ist, und daher auch mit den vermöge des Wesens der Strafklage geforderten unerlässlichen Angaben, bei dem zuständigen Gerichte angebracht wird. IV. Die unmittelbare Wirkung eines solchen Antrages besteht lediglich darin, dass für den Richter, an welchen er gelangt, die Pflicht begründet ist, ihn entgegenzunehmen, zu prüfen, und ihm, sofern er gehörig angebracht ist, so weit stattzugeben, dass er auf Grund desselben das weitere gesetzliche Verfahren veranlasst, wozu auch die S i c h e r u n g ungestörten Ganges desselben und des Vollzugs des zu gewärtigenden Urtheils gehört. Hält der Antrag schon jener ersten Prüfung nicht Stand, wird er rechtskräftig zurückgewiesen, so ist der unternommene Schritt wirkungslos; es ist, als wäre die Strafklage überhaupt nicht erhoben worden, oder vielmehr sie ist in rechtlicher Hinsicht nicht als erhoben anzusehen9. — Im entgegengesetzten Falle ist in der Regel mit der Annahme des Antrages die „Eröffnung der Untersuchung" unmittelbar verbunden oder sie folgt ihr auf dem Fusse 1 0 . D a s i s t d a h e r d e r Z e i t p u n k t , i n w e l c h e m d i e S t r a f k l a g e r e c h t s g i l t i g e r h o b e n i s t 1 1 . Jetzt erst treten in vollem Maasse die Wirkungen der Erhebung derselben ein. die entsprechende Mittheilung an den nunmehr für zuständig erachteten Staatsanwalt zu machen, welcher sodann den Schritt zu wiederholen hat. 9 Sowohl nach deutschem als nach österreichischem Recht wird die Verjährung nur durch Handlungen des R i c h t e r s unterbrochen; auf die Frist für den Strafantrag hat nach deutschem Recht der Zeitpunkt der Erhebung der Strafklage keinen Einfluss. Anders steht es allerdings nach österr. Recht mit der Frist zur Erhebung der Privatanklage ; doch kann darauf hier nicht näher eingegangen werden. 10 In dem Falle, wo eine Anklageschrift unmittelbar überreicht wird, liegt zwischen der Einbringung derselben und clem Beschluss über die Eröflnung des Hauptverfahrens ein hauptsächlich der Mittheilung der Anklageschrift an den Beschuldigten gewidmeter Zwischenraum, in welchem allerlei erst bei der Besprechung dieses Prozessstadiums zu erörternde Zwischenfälle eintreten können, welche die reine Anwendung der im Text erwähnten Regel beeinträchtigen. 11 Die Sache hat praktische Bedeutung fast nur für die im Gesetze ausdrücklich entschiedene Frage der Widerruflichkeit der Straf klage; für die Mehrzahl der Fälle (s. Anm 10) trifft daher der Zeitpunkt, wo nach deutschem Strafprozessrecht die Strafklage erhoben ist, mit demjenigen zusammen, wo sie unwiderruflich wird. Vom Standpunkte des hannoverschen Strafprozesses war Hase η b a l g , Zur Strafprozessordnung S 42 ff. 55 ff. theilweise zu entgegengesetzten Resultaten gelangt und diese werden von S t e l l i n g , Anklagebesserung S 32 ff. bekämpft. H a s e n b a l g thut den durchgreifenden Ausspruch, dass die Ablehnung der öffentlichen

§ 63. Ihre W i r k u n g

besteht aber i m allgemeinen d a r i n , dass dieses

bestimmte Gericht m i t Strafklage

begründet

33

Wirkung der Strafklage.

der Aufgabe

befasst i s t , zu p r ü f e n ,

sei, u n d darüber

zu entscheiden.

Zu

ob

die

diesem

Zwecke ist ein Strafprozess zu führen, der die Entscheidung über diese Strafklage herbeiführen muss.

D i e letztere ist ihrerseits

die G r u n d -

lage u n d bildet den Gegenstand dieses Strafprozesses, welcher i n seiner einfachsten Gestalt die Frage z u m Austrag z u bringen h a t ,

ob

der

i n der Strafklage bezeichnete V o r f a l l sich w i r k l i c h zugetragen hat u n d ob die i n derselben bezeichnete Person dafür Handlung begründenden Weise verantwortlich

i n einer eine ist.

Der

strafbare

Gegenstand

der Strafklage als Gegenstand eines bestimmten Prozesses angesehen ist die S a c h e ,

die S t r a f s a c h e

das Gericht befasst ist.

(causa, causa c r i m i n a l i s ) ,

womit

So viele selbständige (d. h. nicht blos ideell

concurrirende) strafbare Handlungen einer bestimmten Person zur Last gelegt werden, so vielen Personen eine strafbare H a n d l u n g i n solcher Weise i m p u t i l i ; w i r d : so viele S t r a f s a c h e n

sind zu e n t s c h e i d e n 1 2 .

Klage durch das zunächst angerufene Gericht, gleichviel ob wegen sachlicher oder örtlicher Incompetenz, nichts daran ändere, dass der Strafprozess als durch jene eröffnet angesehen werde. So wie schon P l a n c k , Syst. Darst. § 53 Anm 7 sein Bedenken dagegen andeutet, dass der Angeklagte das Recht haben soll, nach einer Incompetenzerklärung Fortsetzung der erhobenen Klage vor dem zuständigen Strafgericht zu verlangen, so steht auch S t e l l i n g , welcher mehr andere Gebrechen als die Incompetenz, namentlich die ungenügende Substantiirung der Strafklage vor Augen hat, auf dem entgegengesetzten Standpunkt. Solche Klagen sind ihm „blosse Versuche, den Richter in Action zu bringen, aber missglückende". „Der Richter wird, sobald er sich von dem Mangel überzeugt hat, erklären, dass der unzulässige Versuch ihn weder zum Instruiren, noch zum Freisprechen oder Verurtheilen veranlassen könne — es ist dieses eine Abweisung in angebrachter Weise." Daraus folgt nothwendig die Uebereinstimmung mit dem im Text gesagten. S. auch RG E vom 29. Januar 1884 Rspr V I 61. 12 Dass etwa auf Grund einer Mehrheit strafbarer Handlungen nur e i n e Strafe zu verhängen ist, ändert nichts daran, dass eine Mehrheit von S t r a f s a c h e n vorliegt; das beweist schon die trotzdem mögliche abgesonderte Verhandlung über einzelne der zusammentreffenden strafbaren Handlungen. Da wo diese nicht möglich ist, bei (1er idealen Concurrenz, handelt es sich dagegen darum, dass d e r s e l b e n T h a t ein mehrfacher verbrecherischer Charakter beigelegt wird; es bliebe hier die Beurtheilung der That, welche nur eins der concurrirenden Delicte als vorhanden erklärt, eine mangelhafte, ja unrichtige; der die Anerkennung des fehlenden anstrebende zweite Prozess hätte doch die Beurtheilung desselben Sachverhaltes zur Aufgabe, hätte also dieselbe Strafsache zum neuerlichen Austrag zu bringen. Uebrigens beweist alles dieses neuerdings, dass im Strafprozess der Hauptanspruch auf den Spruch über die Schuld des Angeklagten gerichtet ist, nicht wie im Civilprozess auf den materiellen Zustand, auf die aus der Feststellung des juristisch gewürdigten Sachverhaltes zu ziehenden Folgerungen (s. oben § 62 Anm 2). Binding, Handbuch. IX. 4. II :

G l a s e r , Strafprozess.

II.

3

34

§ 6.

W u n

der Strafklage.

Dass die Strafklage gehörig erhoben ist. hat also die Wirkung, dass bei diesem Gerichte eine S t r a f s a c h e a n h ä n g i g wird, dass sie daselbst anhängig bleibt, dass in ihr die erhobene Strafklage ihre volle Erledigung finden ( e r s c h ö p f t w e r d e n ) muss, dass dieselbe Sache nicht noch anderweitig, weder gleichzeitig noch später, weder vor demselben noch vor einem anderen Strafgerichte verhandelt werden darf, und dass zwischen dem so mit der Sache befassten Gericht, der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten ein concretes Prozessrechtsverhältniss vorhanden ist, aus welchem beiden letzteren gegen einander und gegenüber dem Gericht die aus ihrer Stellung als P r o z e s s p a r t e i e n sich ergebenden Rechte und Pflichten erwachsen. V. Die hauptsächliche Wirkung der Erhebung der Strafklage, welche eben darum das ganze Strafverfahren, wenngleich ganz vorzugsweise das Endurtheil beherrscht, besteht darin, dass die Strafklage maassgebend ist für den Gegenstand, über welchen das Gericht entscheiden und zu dessen Entscheidung es sich daher im Strafprozess in den Stand setzen muss : Prozess und Urtheil müssen sich auf den Inhalt der Straf klage b e s c h r ä n k e n , aber sie müssen ihn auch e r s c h ö p f e n 1 3 . 13 Die folgenden Ausführungen geben die Hauptresultate meiner Untersuchung dieser schwierigen Materie wieder, deren Ergebnisse in meiner Abhandlung: „Das Verhältniss des Urtheils zur Strafklage" GS 1884 S 81 ff. niedergelegt sind. Bezüglich der Begründung, der Einzelausführungen und der Literaturangaben muss hierauf und insbesondere auf die ohne Zuthun des Verfassers „Belegstellen" benannten Anmerkungen verwiesen werden. Zunächst muss hier die Literaturübersicht eingefügt werden: Ausführliche Angaben über die Literatur bei M i t t e r m a i er, Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren § 36 S 494 ff.; Z a c h a r i a e , Handbuch § 156; S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO von 1855 I I 99; ders., Die deutsche StPO S 422; G A 1862 S 238. 241; G l a s e r in HRLex I I I 982 Art. „Urtheil im Strafprozess" und oben § 22 Anm 1. — S. insbesondere ausser den eben Angeführten P l a n c k , Syst. Darst. §§ 48 ff. 114 ff. ; B r a u e r , Schwurgerichtsgesetze S 222 ff.; v. W u r t h , Oesterr. StPO von 1850 S 475 ff.; W a l t h e r , Bayer. StPR S 330. 331. 351—353; Materialien zur preussischen Verordnung vom 3. Januar 1849 u. s. w. Berlin 1852. S 88. 89. 418 ff.; O p p e n h o f f , Strafverfahren, zu Art. 30; G o l t da mm er in seinem A 1862 S 238 ff.; L ö w e , Der preuss. StP § 83; Z a c k e , Fragestellung §§ 6. 8—14; S c h w a r z e im ANF 1853 S 37 ff; ders. in Schletters J IV 30 ff.; ders. in WRLex X 96 ff; M i t t e r m a i e r a. a. 0. S 409 ff. 494 ff.; ders. im ANF 1852 S 413 ff.; S t e n g e l in der Ζ f. Bayern I I I 284 ff., V 365 ff; R ü t t i m a n n in der Ζ f. schweizerisches Recht X I I 55 ff.; StRZ IX 560 ff.; G e r a u im Beilageheft zum ANF 1853 S 147 ff.; H. M e y e r , That- und Rechtsfrage. Berlin 1860. S 182 ff; ders., Mitwirkung der Parteien im StP. Erlangen 1873. S 48 ff.; W a h l b e r g , Kritik des Entwurfs der deutschen StPO. Wien 1873. S 44 ff.; v. B a r , Recht und Beweis. Hannover 1865. S 125 ff; ders. im Mag f. hann. Recht 1862 S 326 ff.; W i a r d a das. 1864 S 347 ff.; H e i n z e in GA 1876 S 282; S t e l l i n g , Ueber Anklage-

§ 63. Die Zurückweisung

Wirkung der Strafklage.

der A n k l a g e ,

35

die Freisprechung des Ange-

klagten (oder ein dieser gleichkommender Beschluss i n dem der H a u p t verhandlung vorausgehenden Verfahren) muss n a t ü r l i c h erfolgen, das Gericht die Anklage für unbegründet erachtet.

wenn

A l l e i n die Straf-

klage befasst ihrem wahren Sinne nach das Gericht m i t der Aufgabe, den Gegenstand derselben i n thatsächlicher u n d juristischer Hinsicht z u prüfen u n d das Ergebniss dieser Prüfung auch dann auszusprechen, wenn dasselbe darin besteht, dass zwar gleich

lautendes,

aber

doch

ein den

nicht ein m i t

der A n k l a g e

Angeklagten einer

strafbaren

H a n d l u n g schuldig erklärendes U r t h e i l der Sachlage gemäss i s t 1 4 .

Hat

das Gericht sich auf ersteres beschränkt, hat es einen Ausspruch der letzteren A r t , gebnisses hätte

den es nach richtiger Auffassung des Verhandlungserfällen können und sollen, nicht

gefällt,

U r t h e i l die Anklage nicht vollständig erledigt, nicht Vollständige Erledigung

der A n k l a g e ,

des Sachverhaltes u n d der sich hieraus für geklagten

wegen

des Gegenstandes

der

so hat das

erschöpft. allseitige

Prüfung

die S t r a f b a r k e i t des A n -

Anklage

ergebenden

Con-

besserung, Göttingen 1866; H a s e n b a l g , Zur StPO. Hannover 1854; Motive und Commentare zu §§ 153 u. 162 der d e u t s c h e n und §§ 92. 262. 267. 320 der ö s t e r r . StPO; U l i m a n n , Lehrbuch § 129; S. M a y e r , Handb. des österr. StPR I I 9 ff.; F u c h s in HH I I 84 ff.; G e y e r , Lehrb. § 213; G l a s e r in HRLex Art. „Fragenstellung" I 887 ff.; J o h n , Das deutsche StPR § 44; R i n t e l e n , System. Darstellung des gesammten neuen Prozessrechtes 3. Bd. 2. Abth. Breslau 1883. § 347; V a r g h a , StPR §§ 139. 140; R u l f , Oesterr. StPR §§ 154. 155. — Bezüglich des e n g l i s c h e n Rechtes: M i t t e r m a i er, Das englische . . . Strafverfahren. Erlangen 1851. S 439 ff.; G l a s e r , Anklage, Wahrspruch etc. Erlangen 1866. §§ 3—5. 8 - 1 0 ; ders. im GS 1871 S 1 ff. (Kleine Schriften, 2. Aufl. 1883, S 603 ff.). — Bezüglich des f r a n z ö s i s c h e n Rechtes: ders., GS 1871 S 30 ff. (Kleine Schriften S 623 ff.). D a l l o z , Répertoire verb. Instruction criminelle Nr 2486-2559. 2559-2630, vol. X X V I I I ρ 621—639. 648-654; H é l i e , Instr. crim. § 514 (vol. V I I ρ 458), §§ 660—662. 664 (vol. IX ρ 16 ss.), 2. éd. Nr 2947. 3624-3629. 3632—3637. 3650 — 3657, éd. Brüx. Nr 3900. 5067 — 5073. 5076 bis 5080. 5089—5096; ders., Pratique I Nr 812-814. 815. 817—826; R o l l a n d de V i l l a r g u e s Art. 241 Nr 3 9 - 4 1 , Art. 337 § 2 Nr 15—97. 144—184, Art. 338; T r é b u t i e n , Cours de droit pénal. Paris 1853. I I 423 ss., 2. éd. 1884 Nr 616. 621. — Italien. Regol. di proced. pen. Art. 494 (in einer 1865 und 1874 modificirten Fassung); B o r s a n i e C a s o r a t i § 1806. 14 Eben darum ist es nicht richtig, wenn die Abweichung von der Klage in die Form gekleidet wird, dass die Verurtheilung wegen der vom Gericht vorgefundenen strafbaren Handlung mit der Freisprechung von der in der Anklage bezeichneten verbunden wird, so dass über denselben Gegenstand zwei einander widersprechende Aussprüche ergehen, welche aussehen, als seien zwei Anklagen erhoben und erledigt worden. S. die Ausführung GS 1884 S 149 Anm 49. Vgl. noch M a y e r Bern 32—34 zu § 2 österr. StPO; G e r n e r t h , Oesterr. GZ 1885 Nr 5 ff. 3*

36

§ 6.

W u n

der Strafklage.

Sequenzen ist nach dem heutigen Stande unserer Gesetze (§ 153 Abs. 2 r §§ 204. 260. 263 d. und § 262 ö. StPO) 1 5 die unzweifelhafte Pflicht des Gerichtes; ebenso aber auch die B e s c h r ä n k u n g a u f d e n G e g e n s t a n d d e r A n k l a g e (§ 153 Abs. 1, § 260 d. StPO; vgl. ö. StPO §§ 262. 267). VI. I n sehr vielen Fällen muss sich der Ausspruch des Gerichtes über das Ergebniss des Verfahrens als Z u l a s s u n g oder Annahme der Straf klage unter gleichzeitiger B e r i c h t i g u n g derselben darstellen. Diese Berichtigung kann den Sachverhalt oder dessen juristische Beurtheilung betreffen. Letzteres wird nur selten eintreten, ohne dass gleichzeitig auch die thatsächlichen Angaben, die die Straf klage enthält oder umschliesst, eine Veränderung erleiden 1 6 . Meinungsverschiedenheiten über die Beurtheilung eines beiderseits richtig und vollständig dargestellten Sachverhaltes würden am wenigsten Schwierigkeiten machen: dass das Gericht nach s e i n e r Rechtsansicht, nicht nach der des Anklägers urtheilt, liegt ja zu klar in der Natur der Sache. Ebenso wenig Bedenken erregen vom entgegengesetzten Standpunkt offenbare V e r s e h e n der Straf klage; hier handelt es sich nur um die A u s l e g u n g d e r S t r a f k l a g e 1 7 , und es wäre überflüssig, 15 S. ausser den Commentaren zu den angeführten Gesetzesstellen G e y e r § 213 I I nach grundsätzlicher Bekämpfung de lege ferenda a. a. Ο. I ; F u c h s in HH I I 84 ff. ; H . M e y e r das. I I 154. 155; J o h n , StPR§§44. 45; U l i m a n n §129; M a y e r , Handb. I I 10 ff.; G l a s e r in HRLex Art. „Fragestellung" I 88 ff., Art. „Urtheil" I I I 987 ff.; Motive zum Entw der deutschen StPO S 152 ff. In der Judicatur des RG (Uebersichten bei F u c h s b e r g e r S 227—229. 235. 236. 245 bis 247; N i p p o l d , Wegweiser S 110—113) sind insbesondere die RG E vom 19. Dec. 1881 Rspr I I I 811 und vom 28. März 1881 Entsch IV 34 wichtig. Aus der Judicatur des Wiener Cassationshofes (Uebersicht bei M i 11 e r b a c h e r und bei G i an ne l i a , Regolamento, Innsbruck 1885, zu § 262) seien hier nur die E vom 16. Oct. und 1. Dec. 1875 Sammlung Nr 85 und 91 hervorgehoben. 16 Selbst ganz abgesehen von Thatbestandsmerkmalen kann in den rein beschreibenden Angaben der Strafklage ein technischer Ausdruck gebraucht werden, dessen Unanwendbarkeit auf den dadurch bezeichneten Gegenstand entweder auf Ungenauigkeit des Ausdruckes oder auf einer thatsächlichen Verschiedenheit beruht. Zahlreiche Belege aus der englischen Praxis bei G l a s e r , Anklage u. s. w. S 189 ff. 17 Darüber, dass selbst in dem so formstrengen englischen Recht diese N o t wendigkeit erkannt wurde, s. G l a s e r , Anklage S 57 ff. 79 ff. 182 ff; für Frankreich H é l i e , Instr. Nr 3624. 3631. 3652; D a l l o z , Répertoire X X V I I I 674 ss. verb. Instr. crim. Nr 2718 ss.; R o l l a n d Art. 337 § 2 Nr 15 ss., Art. 338 Nr 93 bis 96. — Für das reformirte deutsche Strafverfahren s. P l a n c k S 318. 323. (Gestattung von Aenderungen, wo die Weigerung des Gegners „als eine offenbare Chicane sich darstellen würde", falsa demonstratio non nocet). Zachariae, Handb. I I 509 Anm 2; O p p e n h o f f Art. 81 Bern 9; Z a c k e , Fragestellung § 8; H. M e y e r , That- und Rechtsfrage S 182 ff; B a r , Recht und Beweis S 155.

§ 63. Wirkung der Straf klage.

37

davon zu sprechen, wenn nicht einerseits die Zulässigkeit selbst solcher Richtigstellungen oft bestritten worden w ä r e 1 8 , und wäre es andererseits nicht oft zweifelhaft, ob es sich um solche Richtigstellungen handelt oder um eine sachliche A b w e i c h u n g des U r t h e i l s v o n d e r S t r a f k l a g e 1 9 . Jede s o l c h e Abweichung stellt also der Darstellung des Gegenstandes in der Strafklage eine andere gegenüber, welche sich als Berichtigung eines sachlichen Mangels der Strafklage (gleichviel ob derselbe vermieden werden konnte oder nicht) giebt: verglichen mit der im Urtheil angenommenen Darstellung erscheint dann die in der Straf klage enthaltene als an U n b e s t i m m t h e i t , U n r i c h t i g k e i t oder U n v o l l s t ä n d i g k e i t leidend. Das Ergebniss einer solchen Berichtigung der Strafklage kann nun sein: 1. Verurtheilung wegen desselben Strafgrades derselben strafbaren Handlung, also unter juristisch unerheblicher Abweichung von den Angaben der Anklage, welche wieder in folgendem bestehen kann: a. Aenderung einer juristisch unerheblichen Modalität der That, ζ. Β. Ort, Zeit, einer blos zum Zweck der Individualisirung angegebenen Eigenschaft des angegriffenen Rechtsguts oder der \ r erübungsweise der That : b. Ersetzung des Objectes oder eines Thatbestandsoder Strafbarkeitsmerkmales durch ein anderes, juristisch gleichwerthiges; c. Einschränkung oder Erweiterung der Gegenstände des Verbrechens oder der Angriffe auf dieselben unter Umständen, wo von dem Vorhandensein einer Mehrheit derselben nicht das einer Mehrheit strafbarer Handlungen abhängt. 2. Verurtheilung wegen einer anderen Modalität desselben Verbrechens im weiteren Sinn ( V e r s u c h , T h e i l n a h m e , T h ä t e r s c h a f t , B e g ü n s t i g u n g ) 2 0 , ferner w e g e n e i n e s a n d e r e n V e r 18

Es geschieht dies namentlich in Fällen, wo die Anklageformel unverkennbar auf eine bestimmte Stelle des Strafgesetzes Bezug nimmt, aber ein constitutives Element nicht oder nicht vollständig erwähnt; s. die Anführungen GS 1884 S 151 Anm 53 und dazu S. M a y e r Bern 47—49 zu § 2 österr. StPO. 19 In der That hat die Unterscheidung nur die Bedeutung, dass die Berechtigung der Gestattung solcher Abweichungen von der Anklage dadurch einleuchtender wird; sich ihnen zu widersetzen, macht den Eindruck der Chicane; allein es ist klar, dass — Abweichungen von der Anklage einmal zugegeben — die Wichtigkeit derselben so wenig durch das innerliche Verhalten des Verfassers der letzteren zu ihr geändert wird, als andererseits die scheinbare Geringfügigkeit für die Zulässigkeit der Abweichung allein entscheidend sein kann. 20 Der Zusammenhang wird in solchen Fällen für so einleuchtend gehalten, dass darüber nicht leicht Meinungsverschiedenheiten auftauchen; gewöhnlich gestatten die Gesetze die Abweichung von der Anklage ausdrücklich, wenigstens so-

38

§ 6.

W u n

der Strafklage.

b r e c h e n s oder einer anderen Strafabstufung wobei folgende Abweichungen zu Grunde eines

Thatbestands-

desselben Verbrechens,

liegen k ö n n e n :

oder Strafbarkeitsmerkmales,

und

a. Wegfall

zwar

wegen

N i c h t b e w ä h r u n g einer darauf bezüglichen thatsächlichen Angabe oder w e i l dem als erwiesen angenommenen Thatumstande der i h m i n der Anklage

beigemessene juristische

H i n z u t r i t t eines i n

der A n k l a g e

Charakter

abgesprochen

wird;

b.

nicht erwähnten oder nicht als sol-

ches geltend gemachten Thatbestands- oder

Strafbarkeitsmerkmales 21;

c. V e r b i n d u n g der u n t e r a u n d b erwähnten Abweichungen. weit es sich um das Herabsteigen auf einen geringeren Grad handelt. Dies gilt selbst vom englischen Recht und zwar selbst in Fällen, wo ein förmlicher Rollenwechsel zwischen den Angeklagten eintritt, der als Thäter Angeklagte als Gehilfe erscheint und umgekehrt. Ebenso im französischen Recht und nach den deutschen Gesetzen aus der ersten Zeit des reformirten Strafverfahrens (die Nachweise bei G l a s e r im GS 1884 S 154 Anm 59). Ausdrücklich hervorzuheben ist namentlich Art. 25 des EG zum preuss. StG von 1851, welcher gestattet, in Schwurgerichtsfällen eventuelle Frage zu stellen, um festzustellen, ob der Angeklagte nicht „ w e n i g s t e n s des Versuches, der Theilnahme, der Begünstigung oder der Hehlerei schuldig sei". Obgleich die deutsche StPO die Frage nicht ausdrücklich entscheidet, erklärt es doch das RG E vom 8. December 1880 Entsch I I I 95 für zulässig und eventuell pflichtmässig, dass statt der Thäterschaft Anstiftung, — das RG E vom 29. April 1881 Entsch I V 116, dass statt der Beihilfe Thäterschaft, das vom 19. December 1881 Rspr I I I 811, dass statt Diebstahls Hehlerei (und auch umgekehrt RG E vom 23. October 1884 Rspr V I 644) angenommen wird. 21 Natürlich treten hier am schroffsten die Ansichten über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Abweichung vom Wortlaut der Anklage einander gegenüber. Durchaus verneint wird sie, auch abgesehen von den in Anm 20 besprochenen Fällen, jetzt wohl kaum mehr auch nur de lege ferenda. Am wenigsten Bedenken flösst es ein, wenn ein Thatbestands- oder Strafbarkeitsmerkmal einfach in Wegfall kommt. Wie die Logik und das Interesse der Verteidigung schrittweise weiter führten, darüber s. G l a s e r im GS 1884 S 155 Anm 60. Dieser Impuls war aber maassgebend für die principielle, jede Unterscheidung bezüglich der Verwandtschaft der Delicte und des Grades ihrer Schwere abschliessende Fassung der §§ 263. 264 der StPO, wie denn in dieser Hinsicht die §§ 262. 267 und 320 der österr. StPO übereinstimmen. Nach der bisherigen Judicatur des Reichsgerichtes zu urtheilen, ist es nicht so sehr die Zulässigkeit solcher Abweichungen von der Anklage, was in der Praxis zu Zweifeln Anlass giebt, als die Anwendung der Vorschriften über die Motivirung und über den Schutz des Angeklagten gegen Ueberraschung. Schon die Mot S 153 ff. zu § 263 StPO hatten folgende Abweichungen des Urtheils von der Anklage erwähnt : Unterschlagung statt Betrugs, Diebstahl statt Unterschlagung, Raub statt Diebstahls, schwerer statt einfachen Diebstahls. Aus der Praxis des RG stellen L ö w e Bern 3a und K e l l e r Bern 3 zu § 263 folgende Beispielsammlung zusammen : fahrlässige That statt vorsätzlicher Verübung derselben (RG Ε v. 20. Mai 1880 Rspr I 798), speciell bei Meineid (RG Ε ν. 13. Oct. 1880 Entsch I I 361), Unterdrückung des Personenstandes statt Kindesaussetzung (RG E vom 24. Juni 1880 Entsch I I 15), Unterschlagung statt Untreue (RG E vom 22. Juni

§ 63. Wirkung der Strafklage.

39

3. Annahme einer i d e a l e n C o n c u r r e n z 2 2 des in der Strafklage bezeichneten oder auf Grund derselben (unter einer der vorstehend bezeichneten Modificationen) vorgefundenen Verbrechens mit einem in der Anklage nicht erwähnten, und umgekehrt Ablehnung der in der Straf klage behaupteten idealen Concurrenz unter gleichzeitiger Annahme nur e i n e s Verbrechens oder der realen Concurrenz der in der Strafklage als ideal concurrirend bezeichneten Verbrechen, deren jedes allenfalls auch noch anders als in der Anklage qualificirt werden kann. 4. Annahme eines solchen Zusammenhanges der in der Strafklage bezeichneten Thatsachen unter einander oder mit anderen, vermöge dessen ein e i n h e i t l i c h e r D e l i c t s c o m p l e x vorhanden ist, wo die Anklage nur ein minder umfassendes Verbrechen oder eine Mehrheit strafbarer Handlungen annahm, und umgekehrt Auflösung eines solchen in der Strafklage behaupteten Verbrechenscomplexes in seine Elemente. Controversen des materiellen Rechtes möglichst vermeidend, muss man hier doch die Fälle hervorheben, wo der Wille des Thäters eine Anzahl materiell vereinzelter Akte zu einem einheitlichen Verbrechen zusammenschliesst (ζ. B. eine Reihe von Vergiftungs- und Misshandlungsakten zum Zweck der Tödtung eines und desselben Menschen), oder wo dies ein für das Strafgesetz maassgebender Erfolg thut (eine Reihe einzelner Verletzungen desselben Menschen, welche eine schwere Erkrankung oder Verletzung begründen), ferner diejenigen Fälle, wo das Wesen einer strafbaren Handlung in der Verletzung eines idealen Rechtsgutes besteht, die sich in einzelnen Akten manifestirt, deren jeder genügt, den Thatbestand des Verbrechens zu begründen, während die Häufung derselben für sich allein noch nicht eine Verbrechensconcurrenz begründet (Ehebruch, Blutschande, mehrfache unwahre Angaben in derselben Aussage, Fälschung von Geld und Geldzeichen u. dgl.), Fälle, denen sich das g e w o h n h e i t s - oder g e w e r b s m ä s s i g e Verbrechen 23 (das Collectivdelict im engsten Sinne) an1880 Entsch I I 116), fahrlässige Körperverletzung verbunden mit der Verletzung einer Berufspflicht statt fahrlässiger Tödtung (RG E vom 29. März 1881 Entsch IV 34). 22 RG E vom 27. April 1880 Rspr I 681. Gerade hier aber darf nicht übersehen werden, dass die Fälle der r e i n e n Qualificationsänderung, d. i. der abweichenden Beurtheilung völlig gleicher thatsächlicher Angaben im Gegensatz zu der auf Heranziehung anderer Thatmomente beruhenden (Schwarze Bern 5—7 zu § 263) die bei weitem selteneren sind. Die Annahme der in der Anklage nicht erwähnten idealen Concurrenz im Urtheil wird daher meist darauf beruhen, dass ein in der Anklage nicht erwähnter Umstand hervortritt. (S. die Beispiele und Nachweisungen bei G l a s e r , GS 1884 S 158 Anm 61.) 23 Vgl. L ö w e Bern 3e zu § 263 und O p p e n h o f f , Bern 18 zu § 1 preuss.

40

§ 6.

W u n

der Strafklage.

schliesst. In all diesen Fällen können folgende Varianten eintreten: a. die Strafklage lautet auf eine Verbrechenseinheit ohne Angabe bestimmter Einzelakte 2 4 ; b. die gleiche Klage giebt Einzelakte an, allein es treten n o c h andere oder n u r andere hervor; c. umgekehrt die Strafklage ist auf ein einfaches Delict gerichtet, der Gegenstand der Anklage wird aber als Element einer Verbrechenseinheit erkannt. Ueberall ist hier durch die Strafklage die gesammte objectiv vorhandene Verbrechenseinheit, gleichviel ob die Anklage sie erkannte oder verkannte, ob sie alle objectiv vorhandenen Akte aufzählte oder nicht, zum Gegenstand der Verhandlung und Entscheidung gemacht. — Hat die Strafklage umgekehrt als Einzelakte eines einheitlichen Verbrechens Thaten bezeichnet, welche dies nicht sind, sondern selbständige, reell concurrirende Delicte, so gelangen als solche alle so ausdrücklich erwähnten Thaten trotz der Lösung der juristischen Einheit zur Aburtheilung. V I I . Die Strafklage, welche die Aufgabe hat, den Gegenstand des künftigen Urtheils vorzuzeichnen, thut dies nach vorstehendem nicht blos ausdrücklich ; zu dem a u s g e s p r o c h e n e n Inhalt derselben tritt nämlich noch ein weiterer, unausgesprochener, i m p l i ci r t e r hinzu, insofern sie indirect den Anstoss zu allen oben angegebenen Modificationen des Gegenstandes der Verhandlung giebt. 1. Das Ereigniss, welches die Strafklage zum Gegenstand des Verfahrens macht, ist niemals etwas in sich abgeschlossenes; es ist ein Theil der Erlebnisse der daran betheiligten Personen und vermischt mit deren anderen Erlebnissen. Erst die endgiltige Beurtheilung des Vorfalles kann darüber entscheiden, wie weit die Fäden des Gewebes von Thatsachen, von denen die Strafklage immer nur einen Theil unmittelbar vorführt, verfolgt werden müssen, damit der wahre Zusammenhang aller erheblichen Thatsachen erkannt und unrichtige BeV von 1849; dagegen M a y e r Bern 36 zu § 2 österr. StPO, welcher jedoch Eigentümlichkeiten des österr. materiellen Strafrechts vor Augen hat. 24 Die Möglichkeit einer Straf klage, die einfach dahin geht: die A habe mit Β Ehebruch getrieben, wird kaum bestritten werden, wenn man bedenkt, dass die Erhebung der Straf klage nicht erst im Eröffnungsbeschluss erfolgt; für unsere Materie ist aber naturgemäss nur erstere entscheidend. Sind so allgemein gehaltene Anklagen möglich, so zeigt sich gleich, wohin es führt, wenn man, wie öfter geschieht (s. ζ. B. noch das RG E vom 23. Juni 1880 Rspr I I 101), gerade hier mehr als anderswo die Zeitangaben der Anklage für maassgebend ansieht, statt sich zu fragen, ob die in der Anklage nicht erwähnten, aber im Verfahren hervorgetretenen Akte (ζ. B. des Ehebruches) Gegenstand selbständiger Beurtheilung (und daher auch einer späteren Verfolgung) sein können oder nicht? (Vgl. G l a s e r , GS 1884 S 160 Anm 63.)

§ 63.

Wirkung der Strafklage.

41

urtheilung des vorgelegten vermieden werde, und wo dagegen die Linie erreicht ist, jenseits welcher kein anderer Zusammenhang mehr erkennbar ist, als welcher darauf beruht, class neben der incriminirten That das Leben der Betheiligten und ihr von letzterer unabhängiges, gleichviel ob erlaubtes oder unerlaubtes Thun weiter geht. Indem die Strafverhandlung ihre nächste und wichtigste Aufgabe erfüllt, den Sachverhalt klarzustellen, muss nothwendig ein Uebergreifen über den durch die Anklage scheinbar oder wirklich gezogenen Kreis stattfinden, und die Aufeinanderfolge und die Entwickelung der Ereignisse aus einander tritt in einer Art hervor, welche es unmöglich macht, dass ein Theil der letzteren stets blos darum ignorirt werde, weil die Strafklage seiner überhaupt nicht oder doch nicht unter ausdrücklicher Bezeichnung als Anklageelement erwähnt. Es zeigt sich nämlich sehr häufig, dass die Sonderung von B e w e i s m a t e r i a l und A n k l a g e s t o f f schon vom Standpunkt der Auslegung ihre Schwierigkeiten hat, noch mehr aber, wenn es sich darum handelt, das Ergebniss der Beweisaufnahme zu beurtheilen 2 δ . 2. Zerreisst so der specifisch juristische Zweck der Strafklage oft den natürlichen Zusammenhang der Thatsachen, so hat seine Berücksichtigung auch andererseits wieder zur Folge, dass ein juristischer Zusammenhang hergestellt wird, wo der natürliche fehlt. Immer mischen sich Abstractionen in eine zu juristischen Zwecken unternommene Darstellung ein und setzen einen auf verschiedene Arten ausfüllbaren Kreis an die Stelle einer concreten Angabe. Derselbe verbrecherische Vorsatz verbindet oft eine grosse Anzahl von Vorbereitungs-, Versuchs-, Verübungsakten zu einer juristischen Einheit. Bald ist es dasselbe Rechtsgut, das auf verschiedene Arten angegriffen, bald derselbe Angriff, der statt des einen Rechtsgutes gegen ein anderes gerichtet sein kann. Thatsachen, die scheinbar selbständig sind, können als Qualificationsgründe der den Gegenstand der Strafklage bildenden That in Betracht zu ziehen sein. Noch häufiger verbindet der verbrecherische Wille Akte, die physisch weit aus einander liegen, oder es stellt sonst ein juristisches Moment deren Verbindung her; so ζ. B. Akte der Beihilfe, der Begünstigung und Hehlerei, Verbindungen zu gemeinsamer Verübung von Verbrechen 26 . So k a n n es also geschehen, dass sich ein Zusammenhang zwischen dem ausdrücklich bezeichneten Gegenstande der Strafklage und einem Vorfall zeigt, der räumlich und zeit25

Vgl. a. a. O. S 111. 112 und die Anmerkungen dazu, ferner RG E vom 22. Febr. 1884 Rspr V I 290. 26 Vgl. a. a. 0. Anm 72—75.

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§ 6.

W u n

der Strafklage.

lieh ganz von demselben getrennt ist, jedenfalls nicht im natürlichen Sinne zu ihm gehört, aber als in jenem mit enthalten oder zu dessen richtiger Beurtheilung unentbehrlich erkannt wird. 3. Die Strafklage begnügt sich gewöhnlich mit Anführungen, welche das betreifen, was von ihrem Standpunkte aus als w e s e n t l i c h erscheint. Allein sie erwähnt nicht (umfasst aber stillschweigend) die mancherlei in diesem Sinne unwesentlichen, nebensächlichen Erscheinungen, welche der Verlauf der strafbaren Handlung mit sich bringt und welche Elemente des individuellen, den abstracten gesetzlichen Typus verwirklichenden Vorganges bilden: Motive, Pläne, Vorbereitungen, Ansammlung von Mitteln, die nicht zur Anwendung kommen, Anwendung anderer, die noch nicht zum Ziele führen, Verletzungen des angegriffenen Rechtsgutes, welche das im Gesetz vorausgesetzte Minimum, aber nicht das Maximum übersteigen, endlich die i n n e r h a l b d e r s e l b e n G r e n z e n s i c h h a l t e n d e n , also eine besondere Bestrafung nicht rechtfertigenden Betätigungen des Schuldigen, welche auf Ausbeutung seiner That und Sicherung vor Entdeckung und Strafe abzielen. Alles dies fällt unter den Gesichtspunkt des bei Bestimmung des Strafsatzes mitberücksichtigten V e r l a u f e s des Verbrechens, hängt mit dem Gegenstand der Anklage sachlich zusammen, ist daher implicite in dieser mit enthalten und kann auf das Urtheil Einfluss üben, wenn eine Veränderung des Gesichtspunktes einzelnen Momenten eine andere Bedeutung giebt, als welche sie, von dem Gesichtspunkte der Anklage aus betrachtet, hatten. V I I I . Das Urtheil muss d i e s e Straf klage erledigen, darf aber nicht aus Anlass derselben eines ihr fremden Gegenstandes sich bemächtigen. Weicht es nun von der Anklage überhaupt ab, so muss zwischen dem Gegenstande der Strafklage und dem des Urtheils doch entweder ein materieller oder ein juristischer, jedenfalls aber ein solcher Zusammenhang bestehen, welcher bewirkt, dass das Urtheil ein u n r i c h t i g e s wäre, das sich darauf beschränkte, die in der Straf klage dargelegte Gestaltung zu verneinen, ohne zugleich die vom Gericht vorgefundene Gestaltung in sich aufzunehmen. 1. Der m a t e r i e l l e Zusammenhang der beiden Gestaltungen ist allerdings am leichtesten zu erkennen, am schwersten zu demonstriren. Hier handelt es sich immer um eine Frage der Intention des Beschreibenden, der Auslegung der Beschreibung, um eine quaestio facti. Das Urtheil hält sich an den Gegenstand der Strafklage, wenn seine Darstellung unter den Gesichtspunkt gebracht werden kann, dass sich d e r Vorfall, welchen die Anklage beschreiben wollte, nicht so, sondern anders verhielt; den Gegensatz bildet der Ausspruch, dass jener sich

§ 63. Wirkung der Strafklage.

43

gar nicht zutrug, wohl aber etwas ganz anderes. Abstract genommen mögen mitunter die Vorfälle, die die Straf klage und die das Urtheil beschreibt, als solche gedacht werden können, die n e b e n einander bestehen, oder deren einer ebenso wohl wahr als unwahr sein kann, ohne dass darum der andere wahr oder unwahr zu sein braucht. Allein wenn das Urtheil die ihm gesteckte Grenze nicht überschreiten soll, so muss es auf der thatsächlichen Annahme beruhen, dass ein solches Verhältniss n i c h t obwaltet. Der Gegenstand des Urtheils und der der Strafklage sind also identisch, wenn sie nicht zwei Begebenheiten bilden, die entweder überhaupt nicht oder nur in realer Concurrenz neben einander bestehen können. 2. Materiell von einander verschieden, können zwei Thatsachen, eine in der Strafklage behauptete und eine im Beweisverfahren hervorgetretene, j u r i s t i s c h zu einer Einheit zusammengeschlossen sein; das juristische Band muss einen Zusammenhang mit dem Gegenstand der Strafklage, nicht blos mit aus Anlass der Anklage vorgebrachten Thatsachen herstellen. Namentlich genügt es nicht, dass aus demselben Verhältniss heraus die Veranlassung zu sonst von einander unabhängigen Delicten entstand ; selbst dass das bezügliche Verhältniss einen juristisch relevanten Thatumstand der einen Anklage bildet, ändert daran nichts. Ebenso ist bei denjenigen oben V I Nr 3 dargelegten Combinationen, bei welchen die Rechtfertigung für die Heranziehung gewisser Thatsachen darin liegt, dass sie in den natürlichen Verlauf der incriminirten Handlung fallen, sorgfältig alles auszuscheiden, was den Gegenstand eines besonderen späteren Urtheils bilden kann, ohne dass dadurch eine Unrichtigkeit des ersten oder des späteren Urtheils herbeigeführt wird, und nur solche neu auftauchende Thatsachen sind zu berücksichtigen, bezüglich deren sich nicht ohne Voraussetzung der Existenz oder Nichtexistenz der den Gegenstand der Strafklage bildenden That beurtheilen lässt, ob und in welchem Maasse der Angeklagte wegen derselben bestraft werden kann. Der Zusammenhang des neu auftauchenden Thuns oder Unterlassens des Angeklagten mit der in der Strafklage ihm zur Last gelegten That muss vielmehr ein solcher sein, dass diese nicht ohne Rücksicht auf jenes, jenes nicht ohne Rücksicht auf diese eine dem Strafgesetz vollständig entsprechende Würdigung erfahren kann, — dass also weder die in der Anklage vorgetragene, noch die im Urtheil angenommene Gestaltung des Sachverhaltes richtig und vollständig beurtheilt wäre, wenn ihr gegenseitiges Verhältniss nicht erkannt und gewürdigt würde. Die Grenzlinie bildet auch hier der Fall, wo dieses Verhältniss sich auf r e a l e Concurrenz beschränkt ; ein materiell concurrirendes Verbrechen darf das Urtheil

44

§ 6.

W u n

der Strafklage.

nur dann constatiren, wenn es die Elemente desselben nicht etwa blos dem Beweisergebnisse, sondern dem ausdrücklichen Inhalt der Strafklage entnimmt. Letzteres wird geschehen, wenn die Anklage Thatsachen unter den Gesichtspunkt der idealen Concurrenz oder eines einheitlichen Verbrechens bringt, während das Urtheil darin eine Mehrheit von einander unabhängiger Delicte erblickt. 3. Eine sehr wesentliche Hilfe bei der Festsetzung der Grenzen, welche die Straf klage der Wirksamkeit des Gerichtes zieht, ist die Rücksicht auf die unten zu besprechende Regel: Ne bis in idem. Unzulässig ist jede Strafklage, deren Gegenstand der gleiche ist wie der einer früheren; für die Annahme dieser Gleichheit bedarf es nicht der Uebereinstimmung des Wortlautes; sie ist immer vorhanden, wenn ein dem Wortlaut der zweiten entsprechendes Urtheil auf Grund der ersten (vermöge des vorstehend gesagten) hätte ergehen können. Umgekehrt ist es die sicherste Probe dafür, dass die Gegenstände des Urtheils und der Strafklage nicht identisch sind, wenn sich zeigt, dass neben der letzteren eine mit jenem übereinstimmende zweite Strafklage ohne Verletzung der Regel non bis in idem bestehen k a n n 2 7 . 4. Andererseits können sich der an sich zulässigen vollständigen Erschöpfung der unter Anklage gestellten Thatsachen durch allseitige Erforschung und Berücksichtigung des rechtlichen Zusammenhanges, in dem sie mit anderen Thatsachen stehen, Hindernisse rechtlicher Natur entgegenstellen. Es sind hier namentlich folgende Verhältnisse zu berücksichtigen: a. Die Grenzen der Wirksamkeit des inländischen Gesetzes und der Competenz der inländischen Gerichte und die aus den Auslieferungsverträgen erwachsende Verpflichtung, bei der Aburtheilung des Auszuliefernden sich auf bestimmte Thatsachen zu beschränken. b. Dieselbe Wirkung kann die r e l a t i v e R e c h t s k r a f t eines innerhalb desselben Prozesses bereits ergangenen Endurtheils bei einer Berufung oder bei einer infolge Aufhebung der früheren zu wiederholenden Hauptverhandlung haben; das gleiche g i l t , w e n n und sow e i t (was später näher untersucht wird) dem positiven oder negativen Inhalt des Ausspruches des über die Eröffnung des Hauptverfahrens erkennenden Gerichtes definitive Rechtskraft beigelegt wird. c. Sofern nicht die Rechtskraft eines früher ergangenen Urtheils oder die Erlöschung der Strafbarkeit einer Handlung sich selbst der Aburtheilung über clie den Gegenstand der Strafklage bildende That in 27

Vgl. a. a. 0. S 119 ff.

§ 63.

Wirkung der Strafklage.

45

ihrer einfachen, in jener schon dargelegten Gestalt widersetzt, kann darin jedenfalls ein Hinderniss der Heranziehung anderer in solcher Weise der Bestrafung und Verfolgung bereits entrückter Thatsachen liegen. d. Umgekehrt ist mitunter die Frage aufgeworfen worden, ob Thatsachen, welche der S t r a f k l a g e n a c h f o l g t e n , im Urtheil berücksichtigt werden können. Es scheint dies unbestreitbar, sofern nur zwischen den in der Strafklage bezeichneten und den später eingetretenen Thatsachen ein solcher Zusammenhang besteht, welcher überhaupt es rechtfertigt, dass das Urtheil auf letztere ausgedehnt wird. e. Dagegen ist der freien Bewegung des Gerichtes eine unüberschreitbare Grenze da gezogen, wo die allseitige Beurtheilung des Gegenstandes der Anklage dahin führen würde, wegen einer solchen strafbaren Handlung eine Verurtheilung eintreten zu lassen, welche nur auf Antrag gestraft werden kann. Erachtet das Gericht, dass die verfolgte That kein Officialdelict sei, und fehlt der nach Ansicht des Gerichtes erforderliche Antrag, so kann nach deutschem Recht (§ 259 Abs. 2) nur Einstellung des Verfahrens 28 , nach österreichischem Recht nur Freisprechung erfolgen (s. jedoch § 363 Abs. 2 ö. StPO). Geschieht dies nicht, so ist die That endgiltig abgeurtheilt 2 9 . Und das gleiche gilt unzweifelhaft dann, wenn das Gericht die ideale Concurrenz eines Antragsdelictes v e r k e n n t 3 0 . Aber auch wenn das Gericht diese mit Recht als vorhanden ansieht, der erforderliche Antrag aber fehlt, kann meines Erachtens nichts anderes als die endgiltige Aburtheilung über die That mit Ausserachtlassung des ideal concurrirenden Antragsdelictes erfolgen 31 . 28

L ö w e Bern 29e « vor § 151 meint, es sei, wenn jemand des Raubes angeklagt wird, während nur ein auf Antrag zu verfolgender Diebstahl in der That erkannt wird, von der Anklage des Raubes freizusprechen, wegen des Diebstahls einzustellen. Sofern es sich nur um eine That handelt, ist m. E., in Consequenz des oben Anm 14 gesagten, nur e i n Einstellungsbeschluss zu fassen. 29 Nicht hierher gehören die zahlreichen Streitfragen, welche das Verhältniss des Officialdelicts zum Antragsdelicte (s. namentlich H ä l s c h n e r , Das gemeine deutsche StR I 685 § 272) und zur Privatklage erregt, und bei welchen namentlich auch eine Stelle der Motive zu § 429 und die Auslegung des § 415 Abs. 3 StPO eine Rolle spielt(s. ausser den Commentaren zu diesen Gesetzesstellen v. S c h w a r z e , Erörterungen I 63; Geyer § 247 I Anm 1. 2, § 252 V, § 254 I I ; D o c h o w in H H I I 358. 359 und die ausführliche Erörterung in dem RG E vom 3. März 1881 Rspr I I I 100). 30 S. namentlich das eben angeführte RG E vom 3. März 1881. Vgl. auch RG E vom 19. Januar 1883 Rspr V 40. 31 Mit Recht bezeichnet es nämlich H ä l s c h n e r a. a. O. S 686 als eine

46 § 64. der I.

Bedingungen und

Erhebung Aus

der

und

strafbaren

Hindernisse

Durchführung Handlung

der

erwächst

Strafklage 1. der

Anspruch

des

Staates auf V e r w i r k l i c h u n g der an dieselbe geknüpften Bestimmungen des Strafgesetzes gegenüber dem Schuldigen. Dieser Anspruch ist aber abhängig v o n der richterlichen A n e r k e n n u n g der rechtlichen Zulässigk e i t dieser V e r w i r k l i c h u n g ; die Voraussetzung dafür ist der ordnungsgemäss geführte Strafprozess, dessen Grundlage die Strafklage ist, und zwar — u n d dies allein ist das charakteristische des accusatorischen Prozesses 2



die durch eine hiezu ausschliessend berechtigte

oder

„vom Gesetzgeber schwerlich beabsichtigte Consequenz" aus § 63 StGB, dass der gesammte Delictscomplex straflos bleiben muss, wenn das Antragsdelict das mit der schwersten Strafe bedrohte ist. Vergi, die von H ä l s c h n e r a. a. 0. S 686 Anm 1 angeführte Literatur und dessen Angabe, die herrschende Ansicht gehe dahin, dass in solchem Falle „das Antragsdelict unbeachtet zu lassen" sei. Siehe dagegen OTr E vom 12. October 1876 GA S 479. S. noch F u c h s im GS 1872 S 361; S c h w a r z e das. 1882 S 601; ders., Commentar zum StGB § 61 Bein 9 (5. Aufl. S 266) und die daselbst angeführte Literatur. — Das RG E vom 19. Januar 1883 Rspr V 40 verlangt bei auf Privatklage zu verfolgenden Delicten nicht blos, dass ein Antrag vorliege, sondern dass er schon dem Eröffnungsbeschluss zu Grunde liege. 1 Lit. s. § 62 Anm 1. S. insbesondere S t ü h e l , Crini.-Verfahren §§ 1360 ff. H e n k e , Handb. IV. M ü l l e r , Lehrb. §§ 81 ff. B a u e r , Abhandlungen I I 254 ff. H é l i e , Instr. Nr 730 ss. T r é b u t i e n Nr 278 ss. 775 ss. M a n g i l i , Action publique. Brüx. 1839. Nr 129 ss. O r t o l a n Nr 1649—1681. B o i t a r d Nr 556 ss. di B o r s a r i , Azione penale cap. 9—12. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 27—63. 141 bis 146. 154—209. L e S e l l y e r , Traité de l'exercice des actions publique et privée. 2. éd. Par. 1874. I 460 ss. I I (Verjährung und chose jugée). — P l a n c k , Syst. Darst. §§ 50.52—57. O p p e n h o f f , Bern 32 ff. zu § 1 preuss. V von 1849. D o l l m a n n , Syst. d. bayer. StPR §§ 70 ff. S. M a y e r Bern 50 ff. zu § 2 österr. StPO. L ö w e Einl. zu Abschn. 1, Buch 2 d. StPO. B i n d i n g , Grundr. d. StP § 121 Β Nr 1. 2; ders., Grundr. d. StR §§ 75 — 85. 106—110. v. L i s z t , Strafrecht §§ 42. 79. G e y e r § 197. R i n t e l e n § 336 Nr 2a und Nr 3b. K r i e s , Prozessvoraussetzungen, in Ζ f. StRW V 1 ff. G l a s e r , Oesterr. GZ 1885 Nr 55. 2 Vgl. namentlich P l a n c k , Syst. Darst. S 117. 118 (und schon vorher B a u e r , Abh. I I 275 ff.). Im Gegensatz dazu findet sich vielfach die irreführende Meinung, dass durch Sätze, wie der des § 1 liann. StPO: „Jede Uebertretung des Strafgesetzes erzeugt eine öffentliche, auf Untersuchung und Bestrafung gerichtete Klage" etwas dem Anklageprozess eigenthümliches gesagt sei; s. ζ. B. S t e l l i n g , Anklagebesserung S 1. Ein Anspruch auf Untersuchung und Strafe besteht auch da, wo der reine Inquisitionsprozess gilt ; nur besteht kein vom Richter verschiedenes Organ für die Erhebung desselben. Andererseits tritt auch in jener Definition der falsche Zirkel hervor, der namentlich in der Lehre von den strafrechtlichen Exceptionen eine so grosse Rolle spielt. Die Uebertretung des Strafgesetzes kann nur Grundlage des Strafanspruches, Bedingung seiner Zulassung sein, nicht aber recht-

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

47

doch durch eine von der Person des Richters verschiedene Person erhobene Strafklage. Letztere verhält sich zur Verwirklichung der Bestimmungen des Strafgesetzes wider den Schuldigen, d. h. zu der Schuldigerklärung und Bestrafung desselben, wie Mittel zum Zweck. Die Bestrafung hat sonach eine doppelte Voraussetzung: eine m a t e r i e l l e : das Vorhandensein aller Bedingungen, von welchen das Gesetz sie abhängig macht, und eine f o r m e l l e : die rechtsgiltige Erhebung und Durchführung der Strafklage. Diese wieder setzt voraus : den Bestand des Rechtes der Strafverfolgung, die Ausübung desselben durch die berechtigte Person in der dafür vorgezeichneten Form, einen prozessfähigen Angeklagten (das p a s s i v e Subject des Strafprozesses und den activen Gegner der Strafklage) und ein Gericht, welches mit der erforderlichen Gewalt zur Entscheidung über diese Anklage und über diesen Beschuldigten ausgerüstet ist. Daraus folgt ein doppeltes : die Strafklage kann das Vorhandensein, d. h. praktisch gesprochen die Gewissheit der die Bestrafung rechtfertigenden Schuld nicht zur Voraussetzung haben, da sie erst auf die Herstellung dieser Gewissheit abzielt. Die Berechtigung zur Erhebung der Strafklage erwächst daher schon aus der blossen M ö g l i c h k e i t des Vorhandenseins eines Strafanspruches (vgl. Anm 2). Das lediglich auf diese gestützte K l a g r e c h t (das Recht der gerichtlichen Verfolgung des Anspruchs, der S t r a f v e r f o l g u n g ) ist daher als ein prozessuales Recht von dem Recht auf Bestrafung ( S t r a f a n s p r u c h ) verschieden. Das Recht auf Bestrafung und auf Strafverfolgung, Strafanspruch und Strafklage bedingen sich aber andrerseits gegenseitig, wie sich b e g r i f f l i c h Zweck und Mittel stets bedingen. Ist nämlich das Recht der Strafverfolgung unabhängig von dem Recht auf Bestrafung, weil es auf der blossen Möglichkeit beruht, wo letztere die rechtliche Gewissheit des Vorhandenseins aller gesetzlichen Erfordernisse zur Voraussetzung hat, so wird andrerseits, sobald feststeht, dass eines derselben nicht zur rechtlichen Gewissheit zu erheben ist, die Strafverfolgung zwecklos und das Recht auf dieselbe gegenstandslos. Jede Thatsache, welche bewirkt, dass der Strafanspruch (materiell) liehe Voraussetzung seiner Erhebung durch die Strafklage. Richtiger war es daher, wenn der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit einer strafbaren Handlung als Bedingung cler Zulässigkeit des Strafprozesses bezeichnete (z. B. Stube 1, Crim.-Verf. § 1365). Umgekehrt bewirkt das blosse Vorhandensein der Exception nicht die Unzulässigkeit der Straf klage: jene muss zu rechtlicher Gewissheit erhoben sein; dazu aber bedarf es der Untersuchung, manchmal, z. B. bei der Veijährung, einer sehr tief auf den Gegenstand der Strafklage eingehenden (s. B i n d i n g , Grundr. d. StR § 108 Nr 5; O l s h a u s e n Bern 2 zu § 66 StGB; R i s e l i , GS 1884 S 259 ff. bes. Anm 26).

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§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

nicht zu Recht besteht, ist daher ein Hinderniss nicht blos der Verwirklichung desselben, sondern auch der erfolgreichen Durchführung der Strafklage, und von dem Augenblick an, wo sie festgestellt ist, selbst der Fortsetzung und sogar der Erhebung der Strafklage 3 . Jede Thatsache andrerseits, welche es rechtlich unmöglich macht, dass die Strafklage erhoben oder fortgesetzt werde, ist ein Hinderniss derVerwirk3

Für die Klärung der Begriffe ist trotzdem nichts gewonnen, wenn man mit S a m u e l y , GS 1880 S 18 und R i s eh das. 1884 S 250 die „Actionsfähigkeit" als eine „wesentliche Seite des Strafanspruches, als eine demselben immanente Potenz" erklärt. R i s c h zieht a. a. 0. sofort eine von seinem Standpunkte m. E. unrichtige Folgerung mit den Worten: es könne „ein strafrechtlich verpönter Thatbestand, strafbare Handlung vorliegen, ohne dass ein subjectiv gerichteter Strafanspruch besteht"; denn wenn niemand vorhanden war, gegen welchen ein Strafanspruch wegen eines bestimmten Vorfalles gerichtet werden konnte, so war eben in demselben kein strafrechtlich verpönter Thatbestand gelegen. Dies beweist die Mehrzahl der Beispiele, die R i s c h sofort anführt. Wer in Bezug auf einen Angehörigen begeht, was sonst Diebstahl, Unterschlagung, Begünstigung wäre (§ 247 Abs. 2, § 257 Abs. 2 StGB), hat die strafbare Handlung gar nicht begangen, sie existirt auch objectiv nicht; es liegt nur unsträfliches Thun vor, woran es nichts ändert, dass die gleiche That von anderen begangen strafbar wäre. Die That bleibt unverfolgt, weil sie nicht strafbar ist, nicht aber straflos, weil sie nicht verfolgt werden kann. Man denke, um an ein daneben angeführtes Beispiel anzuknüpfen, an einen Exterritorialen, der nach einer That, welche von einem andern verübt strafbar wäre, seine Exterritorialität verliert; nicht weil er nicht verfolgt werden kann, sondern weil seine That für unsern Staat keinen Strafanspruch begründete, bleibt er straflos. Der Descendent, der im Alter unter 18 Jahren thut, was — abgesehen hiervon — Blutschande wäre, ist nicht blos nicht verfolgbar, er ist nicht strafbar, weil das Gesetz ihm keine Schuld im strafrechtlichen Sinne beimisst; er ist hier in der gleichen Lage, in welcher sonst Personen unter 12 Jahren bei Handlungen sind, welche v o n a n d e r n b e g a n g e n strafbar wären (s. in dieser Hinsicht die wenigstens dubitative Aeusserung von R i s c h a. a. 0. S 248. 249; vgl. auch F r a n c k e , GA 1872 S 24). Es wird gewiss niemand sagen wollen, dass strafrechtliche Schuld im Fall des § 55 StGB angenommen und nur in dem des § 56 das. ausgeschlossen werden sollte; das Gesetz will für beide Fälle erklären, dass wegen Mangels strafrechtlicher Schuld die Strafbarkeit ausgeschlossen sei; wenn es sich dabei verschiedener Ausdrücke bediente,, so ist es klar', dass es im Falle des § 56 nicht die Strafverfolgung völlig ausschliessen konnte, im § 55 aber sich des Ausdruckes zur Betonung des Gegensatzes bediente, der in Bezug auf die N o t wendigkeit näherer Untersuchung, nicht aber in Bezug auf das Vorhandensein der ein wesentliches Element des Verbrechens bildenden Schuld zwischen beiden Fällen besteht. — Mag man auch genöthigt sein, bei abstracter Normirung neben die Bejahung des Verbrechens für den einen dessen Verneinung für einen anderen zu stellen, um das zu bezeichnen, was L i s z t , Strafrecht § 42 I I I 3 subjective Schuldausschliessungsgründe nennt, so kann doch die Frage, ob ein Verbrechen vorhanden sei, nur in Beziehung auf eine bestimmte Person (als desselben schuldig) beantwortet werden; vgl. z. B. § 52 StGB, wo der Ausdruck „ein Verbrechen ist nicht vorhanden" sicher nur in Beziehung auf den Gezwungenen gebraucht ist.

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§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

lichung des Rechts auf Bestrafung, zwar nur ein mittelbares und formelles, aber doch ein Hinderniss von gleicher praktischer Wirksamkeit, wie das Vorhandensein eines materiell-rechtlichen Hindernisses. Der Strafanspruch kann am Mangel oder Untergang der Strafklage scheitern, das Strafverfolgungsrecht verschwindet, sobald sich zeigt, dass der Strafanspruch nicht besteht. Die Geltendmachung einer Thatsache, welche geeignet ist, den Erfolg einer Klage, unabhängig von der Bestreitung der thatsächlichen Grundlage derselben oder der dieser beigemessenen rechtlichen Beschaffenheit, zu vereiteln, ist die Erhebung (Vorschützung) einer E i n r e d e (exceptio). Die Zulässigkeit der Uebertragung dieses Begriffes aus dem Civil- in den Strafprozess ist vielfach bestritten worden 4 . Wenn sich auch nicht verkennen lässt, dass die Einheit aller juristischen Bildung dazu drängt, dass dadurch die Klärung der Begriffe und die gegenseitige Verständigung gefördert wird und dass die durch die Anklageform begünstigte schärfere Formulirung der Strafklage es nahelegt, auch dem Gegensatz bestimmteren Ausdruck zu geben: so bedarf es doch andrerseits, soll der Gebrauch des Ausdruckes und die Rücksicht auf die im Civilprozess üblichen Eintheilungen der Einreden nicht irre führen, wichtiger Vorbehalte und eben darum einer näheren Untersuchung cler Beschaffenheit und der Verschiedenheiten der strafrechtlichen Einreden. Mit diesem Vorbehalt kann man als strafrechtliche Einrede das Vorbringen einer selbständigen „schützenden Thatsache" bezeichnen, d. h. jedes thatsächliche Vorbringen zu Gunsten des Beschuldigten, welches nicht in der Ableugnung (Bestreitung) eines Bestandteiles des (subjectiven oder objectiven) Thatbestandes oder eines gegen den Beschuldigten wirkenden Strafabstufungsoder Strafzumessungsgrundes besteht 5 . 4

So namentlich von Ro s s h i r t , Entwickelung der Grundsätze des Strafrechts. Heidelberg 1828. S 226 ff. angeführt und bekämpft von B a u e r , Abhandlungen I I 271 ff. Andererseits wird jetzt im Anschluss an B ü l o w , Prozessvoraussetzungen und Prozesseinreden (1868) der mit diesem Titel bezeichnete Gegensatz auch für den Strafprozess verwerthet; s. B i n d i n g , Grundr. § 94; J o h n , StPO I 127 ff. K r i e s , Die Prozessvoraussetzungen cles Reichsstrafprozesses: Ζ f. StRW V 1 ff.; L i s z t , Strafrecht § 42 I I I Nr 1. 5 Im Text ist der Ausdruck „Einrede" allerdings nicht im denkbar weitesten Sinne genommen. Wenn von dem Begriff nur die „ u n m i t t e l b a r e " Bestreitung des Klagefundamentes ausgeschlossen wird, umfasst er namentlich auch die Fälle, wo die Verneinung eines der Elemente der schuldhaften That (des subjectiven oder objectiven Thatbestandes) auf der Behauptung einer mit ihm nicht zu vereinbarenden Thatsache beruht; in diesem Sinne hat man von der Einrede der mangelnden

Binding, Handbuch. IX. 4. I i :

G l a s e r , Strafprozess.

II.

4

50

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage. II.

Nach i h r e m U r s p r u n g sind die strafrechtlichen Einreden

terieller

oder

prozessrechtlicher

sich gegenwärtig h a l t e n , entspringt,

Natur.

Man

muss

maindess

dass die Thatsache, aus der eine Einrede

eine prozessuale oder nicht

prozessuale sein k a n n ,

und

dass i n beiden F ä l l e n die Rechtsregel, welche der Thatsache rechtliche Bedeutung g i e b t , Natur

wieder entweder m a t e r i e l l - oder

sein k a n n 6 .

Schon

darum

ist

eine

prozessrechtlicher

strenge Sonderung

der

prozess- u n d materiell-rechtlichen Exceptionen nicht durchführbar;

die

Rechtsgebiete selbst lassen sich nicht strenge sondern, zumal zwischen beiden das des sog. m a t e r i e l l e n P r o z e s s r e c h t e s

liegt,

bezüg-

lich dessen schon ( B a n d I § 26 I I ) hervorgehoben wurde, dass es für Zurechnungsfähigkeit, wohl gar von der exceptio alibi gesprochen. In diesem Sinne wird dann nur auf die Möglichkeit selbständiger Formulirung der schützenden Thatsache, statt auf die selbständige, nicht blos verneinende Bedeutung derselben Gewicht gelegt. Dadurch wird aber in wichtige Erörterungen Verwirrung getragen, namentlich in die mit dem Einredebegriff eng zusammenhängende Regulirung der materiellen Beweislast (s darüber Bd. I § 36 V I I I Nr 2, besonders aber die ausführlichen Erörterungen in G l a s e r , Beiträge zur Lehre vom Beweis S 90 ff.), und es ist daher für gewisse Untersuchungen nothwendig, die materielle Selbständigkeit der das Fundament einer Einrede bildenden Thatsache zu betonen, dass nämlich „neben der das Fundament der Anklage bildenden Thatsache ein ganz selbständiger Sachverhalt vorausgesetzt wird, der die Natur des erstercn in keiner Weise ändert", eine Thatsache, „welche ohne den Bestand und die Natur der den Strafanspruch begründenden in Frage zu stellen oder zu ändern, dennoch bewirkt, dass demselben keine Folge gegeben werden darf". Für andere p r o z e s s u a l e Fragen ist aber diese Begriffsbestimmung wieder zu eng ; die im Text gegebene hält zwischen beiden Extremen die Mitte. In den neuesten Darstellungen des m a t e r i e l l e n Strafrechts tritt der Gegensatz namentlich bei L i s z t hervor, welcher (Strafrecht §§ 23. 42) im Anschluss an B i n d i n g zwischen „schuldhafter Uebertretung einer staatlichen Norm" (Delict) und dem mit Strafe belegten Delict (Verbrechen) unterscheidend, sich den Weg dazu bahnt, von der Existenz der „schuldhaften normwidrigen Handlung" unabhängige „Strafausschliessungsgründe", beziehungsweise ihnen entsprechende „Bedingungen der Strafbarkeit", aufzustellen. An der Hand seiner Darstellung kann man als das Gebiet der strafrechtlichen Exceptionen bezeichnen: 1. S t r a f a u s s c h l i e s s u n g s g r ü n d e (und zwar mit Ausschluss der von ihm sog. subjectiven Strafausschliessungsgründe, welche ja jedenfalls bewirken, dass diesem Beschuldigten keine strafrechtliche Schuld zur Last fällt); dahin sind zu rechnen das Fehlen des Antrages und der Ermächtigung (L i s ζ t macht zwischen beiden Erfordernissen einen Unterschied, vgl. darüber R i s c h , GS 1884 S 252 Anm 10 und hier unten Anm 10), die Bestimmungen der §§ 170. 172. 238 StGB, das Erforderniss der Gegenseitigkeit (§§ 102. 103). 2. S t r a f a u f h e b u n g s g r ü n d e und zwar: a. materiell-rechtliche: Tod, thätige Reue, Begnadigung, Verzeihung, b. prozessuale: Rechtskraft, Rücknahme des Strafantrages und der Privatanklage. 3. Hindernisse der p r o z e s s u a l e n Geltendmachung. 6 B i n d i n g , Grundr. d. StR § 106 I 3.

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Straf klage.

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die wichtige Frage der R ü c k w i r k u n g n e u e r G e s e t z e dem materiellen Rechte gleichkommt 7 . Allein so wie für diese Frage, so ist auch sonst nicht sowohl die theoretische Zuweisung einer Materie in Pausch und Bogen zum Gebiet des einen oder anderen Rechtskreises maassgebend8, als vielmehr die besondere Natur der jeweils zu lösenden Aufgabe; dies wird sich unten des näheren zeigen. Es empfiehlt sich daher für unseren Zweck, die verschiedenen strafrechtlichen Einreden folgendermaassen zu ordnen: A. R e i n m a t e r i e l l - r e c h t l i c h e E x c e p t i o n e n : Grenzen der Anwendbarkeit des Strafgesetzes nach Person, Zeit und Raum, Erlaubtheit der Handlung (Nothwehr, Nothstand, Ausübung eines Specialrechts, Erfüllung einer Rechtspflicht und bindender Befehl, exceptio veritatis), rechtswirksame Einwilligung des Verletzten, Immunität der Thätigkeit der Mitglieder gesetzgebender Versammlungen und der Berichte über dieselbe (§§ 11. 12 StGB), Nichterfüllung specieller Bedingungen der Strafbarkeit einzelner Delicte — vgl. §§ 102. 103 StGB (Gegenseitigkeit), §§ 170. 172. 238 (Auflösung der Ehe), § § 2 1 0 und 237 (Eintritt von nicht als Erfolg der strafbaren Handlung anzusehenden Verletzungen), § 85 Nr 2 Seemannsordnung (Eintragung ins Schiffsjournal) —, Compensation und Retorsion der Beleidigungen und Körperverletzungen, thätige Reue, der Tod des Schuldigen, Strafverbüssung, Erschöpfung des für concurrirende strafbare Handlungen zulässigen Höchstmaasses der Strafe 9 , Begnadigung. B. M a t e r i e l l - r e c h t l i c h e E x c e p t i o n e n , w e l c h e p o s i t i ν o d e r n e g a t i v an s t r a f p r o z e s s u a l e V o r g ä n g e g e k n ü p f t sind: 1. Beschränkungen des staatlichen Strafverfolgungsrechtes durch Unterordnung desselben unter den Willen der verletzten Person oder öffentlichen Körperschaft oder einer anderen als der zur Ausübung des staatlichen Verfolgungsrechtes berufenen Behörde (Antrags- und 7 S. namentlich die Untersuchung über „die materiellen und formalen Vorschriften der deutschen Strafgesetzbücher" bei F r a n c k e , GA 1872 S 22 ff. 8 Reiche Anregung und Belehrung gewährt in dieser Richtung die Abhandlung von R i s c h : „Ueber den rechtlichen Charakter der Crimihalverjährung nach heutigem Recht", GS 1884 S 241 ff., welche weit über die im Titel bezeichnete Aufgabe hinausgeht, s. ζ. B. das. Anm 9 bezüglich der rechtlichen Natur der Antragsdelicte. Im allgemeinen hat der prozessuale Charakter des Vorganges, an welchen sich die rechtliche Folge knüpft, grösseren Einfluss, als die systematische Stellung der maassgebenden Rechtsregel ; man betrachte ζ. B. die verschiedene Behandlung der Strafaufhebungsgründe der thätigen Reue und der Verjährung in § 262 Abs. 2 StPO. 9 Vgl. oben § 62 Anm 2. 4*

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§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

Ermächtigungsdelicte) 10 ; 2. die bei der Erwirkung einer Einlieferung oder Zeugenladung aus dem Auslande gegen einen auswärtigen Staat ausdrücklich oder stillschweigend eingegangene Verpflichtung zur Beschränkung der Strafverfolgung 11 ; 3. die Verjährung, hierher gehörige 10 Das gemeinsame aller hier zusammengefassten Fälle ist, dass in letzter Linie die Geltendmachung des Strafanspruches von Vorgängen abhängt, welche nicht in der Willkür der Staatsanwaltschaft liegen, ζ. B. Stellung und Zurücknahme des Strafantrages des Verletzten. Die Frage : kann ein Strafanspruch wegen dieser That (noch) erhoben werden, hängt also allerdings ab einerseits von der rein m a t e r i e l l - r e c h t l i c h e n Frage, ob die strafbare Handlung ein Antragsdelict u. s. w, ist, und welche Voraussetzungen für Entstehung, Ausübung und Untergang des Antragsrechtes gelten? Andrerseits ist die Frage, ob ein bestimmter Schritt als Erhebung oder Zurückziehung des Antrags seitens der hierzu berufenen Person anzusehen sei, und insofern auch mittelbar die Frage, ob derselbe rechtzeitig geschehen, wesentlich von p r o z e s s u a l e n M o m e n t e n (Art der Vorbringung und Entgegennahme der Erklärung, Erforderniss der Legitimation, Zulässigkeit von Nachträgen, Berichtigungen u. s. w.) bedingt. I n s o f e r n sind die E r m ä c h t i g u n g s d e l i c t e (§§ 99. 101. 197 StGB) den Antragsdelicten hier gleichzustellen, unbeschadet der Verschiedenheiten, welche zwischen beiden bestehen (ζ. B. in Bezug auf die Form der Nachweisung der Ermächtigung, vgl. O l s h a u s e n Bern 3 zu § 99) und ohne dass es nöthig wäre, hier auf den Streit über die Verschiedenheit der rechtlichen Natur von Antrags- und Ermächtigungsdelicten (v. L i s z t , Reichsstrafr. §30 I I I Nr 2; ders., Strafrecht § 42 I I I Nr 1 und R i s c h , GS 1884 S 252 Anm 10) einzugehen. — Im Text sind hier auch noch die Fälle berücksichtigt, wo das verfassungsmässige Recht gesetzgebender Versammlungen zur Ertheilung oder Verweigerung ihrer Zustimmung zur Einleitung oder Fortsetzung einer Strafverfolgung gegen eines ihrer Mitglieder maassgebend ist (s. Art. 31 RV, § 6 Nr 1 EStPO, vgl. GS 1883 S 57 [Cl e ss] und 529 [ F u I d ] ) , wenn sie gleich von den vorstehend erwähnten sich dadurch unterscheiden, dass aus ihnen immer nur ein zeitweiliges Hinderniss der Strafverfolgung erwachsen kann. Nur in einem gewissen Sinne gehört endlich hierher die Anordnung des § 11 EGVG, wonach in manchen Fällen die Verfolgung eines Beamten an die Vorentscheidung darüber gebunden ist, ob der Beamte sich einer Ueberschreitung seiner Befugnisse oder der Unterlassung einer ihm obliegenden Amtshandlung schuldig gemacht habe; denn beim heutigen Stande der Gesetze (vgl. namentlich über das frühere preuss. Recht O p p e n h o f f , Bern 36 und 37 zu § 1 preuss. V von 1849 ; —, Ueber die Befugnisse der ordentlichen Gerichte zur . . . Verfolgung von Staatsbeamten aus Anlass von Amtshandlungen. Berlin 1868; Bespr. dieser Sehr. v. T e i c h m a n n in StRZ 1869 S 286 ff.) handelt es sich eigentlich nur mehr darum, dass eine andere Behörde jene Vorfrage zu beantworten hat (vgl. L ö w e Bern 1 zu § 17 GVG, v. S c h w a r z e zu § 6 EStPO). O p p e n h o f f , Bern 40 zu § 1 preuss. V von 1849 erwähnt auch noch solche Fälle, wo den Staatsanwälten nach früherem preussischen Rechte die Einholung höherer Weisung vor Erhebung der Strafklage vorgeschrieben war; mit Recht fügt er übrigens hinzu, dass die Nichtbefolgung solcher Anordnungen durch die Staatsanwaltschaft dem Gericht kein Recht zur Ablehnung der Untersuchung gäbe. 11 S. Auslieferungsverträge des Deutschen Reiches mit Italien vom 31. October

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

weil abhängig von der Unterlassung einer prozessualen Handlung; 4. die Abolition und Amnestie, weil in der speciellen U n t e r s a g u n g einer solchen bestehend 12 . 1871, RGBl S 446, Art. 4 u. 13 Abs. 3, — mit Grossbritannien vom 14. Mai 1872, RGBl S 229, Art. 2, — mit der Schweiz vom 24. Jan. 1874, RGBl S 113, Art. 4 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2, — mit Belgien vom 24. December 1874, RGBl 1875 S 73, Art. 6 u. 14 Abs. 2, — mit Luxemburg vom 9. März 1876, RGBl S 223, Art. 6 u. 14, — mit Brasilien vom 17. September 1877, RGBl S 293, Art. 6 u. 15 Abs. 2, — mit Schweden und Norwegen vom 19. Jan. 1878, RGBl S 110, Art. 6 u. 13 Abs. 2. Die Beschränkungen sind bezüglich der ausgelieferten Beschuldigten verschieden, je nachdem die Verfolgung auf die That beschränkt ist, wegen welcher die Auslieferung erfolgt, oder nur die Verfolgung wegen eines früher begangenen politischen oder mit einem solchen „zusammenhängenden" Delictes oder auch schon wegen eines nicht zu den Auslieferungsdelicten gehörigen ausgeschlossen ist, — und je nachdem ausdrücklich festgesetzt ist, dass die Beschränkung aufhört, sobald dem Ausgelieferten die vertragsmässige Möglichkeit geboten war, sich der Ausdehnung der Strafverfolgung auf eine andere That durch Verlassen des Landes zu entziehen. — Bei durch Vermittlung auswärtiger Regierungen geladenen Zeugen handelt es sich im wesentlichen um die Zusicherung, dass dieselben wegen früher begangener strafbarer Handlungen weder am Orte der Vernehmung noch während der Hin- und Rückreise zur Untersuchung gezogen, in Haft genommen oder belästigt werden sollen. 12 A b o l i t i o n und A m n e s t i e (die Zulässigkeit der ersteren vom Standpunkt des heutigen deutschen Rechts, bez. das Fortleben derselben da, wo sie nicht schon früher ausgeschlossen war, bestreitet mit Unrecht J a s t r o w , GS 1882 S 532 if.) sind Ausflüsse des Begnadigungsrechtes; ihre Wirkung ist unzweifelhaft zunächst eine materiell-rechtliche; sie haben aber für den Prozess das eigenartige, dass sie, fast immer herbeigeführt durch die Erwägung der Nachtheile, welche schon mit der Führung gewisser Untersuchungen verbunden sein können, die letztere untersagen imd die Frage der Schuld und Strafbarkeit ganz dahingestellt sein lassen. Die Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung nach eingetretener Amnestie oder Abolition stellt sich daher bereits als eine Vereitelung der dabei verfolgten höheren Zwecke dar, was auf die formelle Behandlung einen gewissen Einfluss übt (ζ. B. nothwendig macht, dass auch nach erfolgter Eröffnung des Hauptverfahrens die Hauptverhandlung, nach erfolgtem Urtheil die Verhandlung über das dagegen •eingelegte Rechtsmittel unterbleibt). Unabhängig ist dagegen die Wirksamkeit dieser Akte von dem Verhalten des Beschuldigten, was hier nur deshalb bemerkt wird, weil nach englischem Recht der Angeklagte, welcher unterlässt, die ihm zu Theil gewordene Begnadigung beim Beginn der Hauptverhandlung (arraignment) geltend zu machen, der Begnadigung verlustig wird. ( B l a c k s t o n e IV 333; S t e p h e n , Digest of the law of crim. procedure Art. 266; G l a s e r , Engl.-schott. Strafverfahren § 288 Nr 4. In der Ζ f. StRW IV 527 ist auszugsweise eine Aeusserung eines englischen Juristen mitgetheilt, die so verstanden werden könnte, als ob das Recht der Begnadigung nicht ohne Prozess, also nicht in der Form der Abolition ausgeübt werden könnte. So ist es aber nicht gemeint; es handelt sich vielmehr darum, dass die früher ertheilte Begnadigung bei Beginn der Hauptverhandlung geltend gemacht werden muss.) Vgl. auch Sala, Se il beneficio della annistia possa rifiutarsi: Rivista penale X I 381 ss., s. auch N a r i c i das. I X 484 ss.

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§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

C. R e i n s t r a f p r o z e s s u a l e E x c e p t i o n e n : 1. Mangel allgemeiner, wesentlicher Prozessvoraussetzungen (vgl. oben Anm 4 ) : a. Mangel der Legitimation des aufgetretenen Anklägers; b. Prozessunfähigkeit des Beschuldigten (dauernde oder vorübergehende), insbesondere Abwesenheit, geistige oder körperliche Gebrechen ; c. Mangel der für diesen Fall und diesen Beschuldigten erforderlichen Amtsgewalt in der Person des angerufenen Richters, bezw. in der gegenwärtigen Zusammensetzung des Gerichtes. 2. Mängel des bisherigen Verfahrens, welche bewirken müssen, dass dasselbe nichtig ist oder doch nicht ohne Verbesserung des Fehlers fortgesetzt werden kann. 3. Gesetzliche Vorschriften, welche das Strafverfahren von der Entscheidung einer V o r f r a g e abhängig machen 18 . 4. Hierher würde ferner die exceptio plurium litis consortium gehören, sofern es, wie mitunter behauptet w i r d 1 4 , unzulässig wäre, einzelne Mitschuldige zur Verantwortung zu ziehen, ohne dass dies bezüglich der anderen geschieht. 5. Die rechtlichen Folgen des Verbrauches der Straf klage, insbesondere die daraus sich ergebenden Einreden der Streithängigkeit (exceptio litis pendentis), der entschiedenen Strafsache (exe. rei judicatae) sowie die aus der p a r t i e l l e n und r e l a t i v e n Rechtskraft der ergangenen Entscheidung sich ergebenden Einschränkungen der Strafbefugniss des Richters, und im Zusammenhang 13

Hierher gehört nach seiner wahren Beschaffenheit der oben Anm 10 besprochene Fall der Verfolgung eines Beamten; ebenso wirken die trotz ihrer Einreihung in das Strafgesetz ihrer Natur nach prozessrechtlichen Bestimmungen des § 164 Abs. 2 und des § 191, wonach „mit dem Verfahren und der Entscheidung" über eine falsche Anschuldigung oder eine Beleidigung „innegehalten werden" soll, bis die an einen schwebenden Strafprozess geknüpfte Vorfrage gelöst ist. (Im Gegensatz hierzu räumt § 261 StPO dem Strafgericht nur die Befugniss ein, das Urtheil des Civilgerichtes über eine civilrechtliche Vorfrage abzuwarten.) I n d i r e c t bewirken die Bestimmungen der §§ 170, 172 u. 238 StGB, dass die Strafverfolgung während des Schwebens des Rechtsstreites über die Auflösung der Ehe nicht vor sich gehen kann; allein hier handelt es sich nicht um eine Vorfrage, sondern um eine Bedingung der Strafverfolgung; der Civilprozess soll hier diese Bedingung erfüllen, während in jenen Fällen nur verhütet werden soll, dass die Ergebnisse der beiden Strafprozesse mit einander in Widerspruch treten. Gemeinsam ist beiden Arten der „schwebenden Verfolgung" der Einfluss auf das Ruhen der Verjährung nach § 69 StGB; dieser setzt nach dem RG E vom 25. Mai 1882 Entsch V I 381 ff. „seinem Wortlaute nach eine Vorfrage voraus, welche nach Vorschrift der Gesetze nothwendig entschieden sein muss, bevor die Strafverfolgung eintreten oder fortgesetzt werden kann, weil, wie sich die Motive (S 77) ausdrücken, erst durch die Erledigung der Vorfrage diejenige Grundlage gewonnen wird, auf welcher die Untersuchung fortgesetzt werden kann". Vgl. G e y e r , Grundr. d. StR § 62 I X ; P l a n c k , Syst.Darst. § 154. 14 S. ζ. Β. Schleuers J IV 141 Nr 20 (preuss. JMB1 1857 S 267); auch O p p e n h o f f , Bern 41 zu § 1 preuss. V von 1849.

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

damit 6. der R ü c k t r i t t von der Strafverfolgung, soweit demselben rechtliche Wirkung zukommt (also nach deutschem Recht nur dem Rücktritt von der Privatklage, wenn die Staatsanwaltschaft nicht im öffentlichen Interesse einschreitet). I I I . I n Bezug auf die r e c h t l i c h e W i r k u n g strafrechtlicher Einreden ist in erster Linie maassgebend die Unterscheidung zwischen p e r e m t o r i s c h e n und d i l a t o r i s c h e n Einreden, je nachdem die erfolgreiche Geltendmachung das Strafverfolgungsrecht noch fortbestehen lässt oder nicht. Indess kann aus einer Anordnung des Gesetzes ein Hinderniss entstehen, welches zunächst nur aufschiebend wirkt, das Strafverfolgungsrecht aber gänzlich zerstört, sobald sich zeigt, dass das Hinderniss nicht mehr beseitigt werden kann (der fehlende Antrag begründet eine peremtorische Einrede, sobald es rechtlich unmöglich wird, dass er gestellt werde). 1. P e r e m t o r i s c h e E i n r e d e n : Wo die Strafverfolgung nicht oder nicht mehr stattfinden kann, ist der Strafanspruch nicht mehr zu verwirklichen ; er ist aus der Welt geschafft und es ist fortan praktisch ohne Werth, zu untersuchen, ob er jemals bestand oder wieder aufgehoben wurde (vgl. oben Anm 3). Es hat daher die Verneinung des (objectiven) Bestandes des Strafverfolgungsrechtes die gleiche Wirkung, wie die des Bestandes des Strafanspruches. Dieses Verhältniss wirkt aber auch auf die Strafgesetzgebung zurück. Die V e r s a g u n g des R e c h t e s a u f S t r a f e k a n n l e i c h t i n d i e F o r m d e r U n t e r s a g u n g d e r S t r a f v e r f o l g u n g gekleidet werden 1 5 (und auch der umgekehrte Vorgang, wenn auch nicht so nahe liegend, ist denkbar). Man glaubte mitunter bei der Abfassung von Strafgesetzbüchern der Unterscheidung keinen Werth beilegen zu sollen, mitunter hatte man besondere Gründe, ihr aus dem Wege zu gehen, und liess sich bei der Wahl des Ausdruckes für die Feststellung der Grundlagen strafrechtlicher Exceptionen mehr von äusserlichen Rücksichten als von dem scharf erkannten Wesen der Sache, das sich übrigens mitunter selbst der Sonderung widersetzt 16 , leiten. Um so nachdrücklicher 15

Vgl. namentlich die Bemerkungen B i n d i n g s (Normen I 17 ff.) über solche „unvollkommene, weil prozessrechtliche Einkleidung einer materiell - rechtlichen Satzung" ; F r a n c k e i n G A 1872 S 26; R i s eh, GS 1884 S 250 ff. und die dort namentlich Anm 14. 19. 20 angeführte Literatur S 273 ff. 16 Dies gilt zumal von der Verjährung, s. darüber insbesondere R i s c h a. a. 0.; B i n d i n g , Normen I 19. Unter den Gründen, welche — gegenüber dem am Ende des vorigen Jahrhunderts heftig erhobenen, im österr. Strafgesetz von 1787 zur Geltung gelangten Widerstand gegen die Criminalverjährung (s. z. B. noch H e n k e , Handb. IV § 22) — für die Verjährung geltend gemacht wurden, hatte

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§ 64.

Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

muss betont w e r d e n ,

dass die Frage

nach dem Bestände des Straf-

verfolgungsrechtes (Bedingungen seiner Entstehung, seines Fortbestandes, seines Unterganges), gleichviel

ob es sich u m die W i r k u n g pro-

zessualer Vorgänge handelt oder n i c h t 1 7 , eine Frage des Prozessrechtes

ist (vgl. B a n d I § 26 I I ) .

materiellen

Einreden, welche den

Strafanspruch beseitigen, beseitigen dadurch auch das Strafverfolgungsrecht u n d eben so u m g e k e h r t , Recht zur

Strafverfolgung

sofern

nicht lediglich das subjective

abzusprechen i s t 1 8 .

k a n n m. E . aus der Verschiedenheit,

Gerade

darum ,aber

selbst wenn sie ausser

s t e h t , eine durchgreifende Verschiedenheit

Streit

der prozessualen Behand-

l u n g nicht abgeleitet w e r d e n 1 9 . stets ein prozessualer Gesichtspunkt eine grosse Rolle gespielt : die mit den Jahren steigende Schwierigkeit völlig beruhigender Aufklärung des Sachverhaltes, während es an anderen Gründen, die dem Gebiete des materiellen Rechtes angehören, nicht fehlt. Das österr. StG von 1803 und nach ihm das von 1852 bedient sich daher der Ausdrücke: „durch Veijährung erlischt Verbrechen und Strafe"; „die Wirkung der Verjährung ist, dass weder Untersuchung noch Strafe . . . mehr statt haben kann" (§§ 206. 209, bez. 227. 230), während doch zugleich gerade dieses Gesetz die Verjährung an Bedingungen knüpft, welche ganz besonders häufig zur Bestätigung der treffenden Bemerkung B i n d i n g s (Grundr. d. StR § 108 I I I 5): „obgleich die Strafverfolgung verjährt ist, bedarf es häufig einer Strafverfolgung, um die Verjährung herzustellen", dienen. Vgl. auch die ausführliche Besprechung bei H e i n z e in HH d. StR I I 603. 604. 17 Das beste Beispiel dafür dürfte die Frage nach der Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, zumal zum Nachtheile des Angeklagten, bieten. Vgl. Einführungsgesetz zur österr. StPO von 1873 Art. V. 18 Eine Ausnahme macht in einem gewissen Sinne die Berufung auf eine bereits rechtskräftig erfolgte Verurtheilung; diese macht nämlich dem Recht der Strafverfolgung, sofern man diese nicht auch auf den Strafvollzug ausdehnt, ein Ende, nicht aber dem Strafanspruch, der erst durch Vollzug des ersten Urtheils, Begnadigung oder Verjährung getilgt wird. 19 Die entgegengesetzte Anschauung ist neuestens namentlich von R i s c h , GS 1884 S 258 ff. ausführlich begründet und vertreten worden. Nach ihm bewirkt die Ausschliessung des Strafverfolgungsrechtes „eine specifische Prozesshinderung". „Eine selbständige prozessuale Bedeutung" erblickt er darin, dass der gerichtlichen Action „von vornherein und in jedem Augenblick mit dem jede materielle Würdigung der Strafsache erledigenden Einwand begegnet werden kann, dass hier überhaupt jedes gerichtliche Verfahren . . . unstatthaft sei", während sonst „über die materielle Begründung" des Strafanspruches „im geordneten Prozessgang zu verhandeln und zu entscheiden ist, wobei natürlich die Prüfung der That- und Schuldfrage der Würdigung anderweitiger Bedingungen oder Hinderungen der Strafanwendung voranzugehen hat". Diese Sonderung ist aber (wie sich im folgenden, unter IV, zeigen wird) nicht durchführbar; jedes Hinderniss der Verurtheilung hat die Wirkung, dass die Strafverfolgung zu unterbleiben hat, sobald es erkannt ist, und dass, wenn es zweifelhaft ist, auf seine Klarstellung möglichst rasch hingewirkt und dem Verfahren ein Ende gemacht werden muss, sobald es erkannt ist; bis dahin aber muss,

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

2. D i l a t o r i s c h e E i n r e d e n beruhen auf thatsächlichen Verhältnissen, welche die einstweilige Unzulässigkeit der Strafverfolgung begründen (unbeschadet der Möglichkeit, dass sich daraus die endgültige Unzulässigkeit derselben entwickelt); sie bewirken, dass die Straf klage „angebrachtermaassen" abgewiesen, oder doch, dass mit dem Strafverfahren bis zur Beseitigung des Hindernisses innegehalten werden muss. Die e r s t e Wirkung haben: der Mangel des subjectiven Strafverfolgungsrechtes, welcher auch bezüglich der öffentlichen Klage denkbar wäre, wenn ζ. B. sich zeigte, dass das ihre Erhebung aussprechende Schriftstück gefälscht war, ferner der Mangel der oben ( Η Β Nr 1) bezeichneten, vermöge gesetzlicher Beschränkung des Strafverfolgungsrechtes für seine Ausübung maassgebenden Willensakte, sofern noch nicht feststeht, dass das objective Strafverfolgungsrecht erloschen ist, endlich die Fälle, wo objective Bedingungen der Strafverfolgung (ζ. B. Auflösung einer Ehe) noch in der Schwebe sind. Die l e t z t e r e Wirkung haben ζ. B. die Privilegien der gesetzgebenden Versammlungen bezüglich der Verfolgung ihrer Mitglieder wegen ausserparlamentarischer Vorfälle, schwebende Vorfragen (§ 164 Abs. 2, § 191 StGB), endlich andere prozessrechtliche Verhältnisse, welche bewirken, dass das begonnene Verfahren stillstehen oder zu einem früheren Stadium wieder zurückkehren muss: Krankheit oder Abwesenheit des Beschuldigten, die Anhängigkeit derselben Strafsache auf Grund einer früher erhobenen Straf klage, die nicht geheilte Unzuständigkeit des angerufenen Gerichtes, die unheilbare Nichtigkeit des Strafverfahrens oder eines Theiles desselben, die Nichtinnehaltung der Förmlichkeiten bezüglich der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, so weit diese an sich zulässig ist. IV. Die strafrechtlichen Einreden unterscheiden sich ferner nach dem Einfluss, den sie auf den Gang des Strafverfahrens als solchen üben. Die Ausscheidung einer Thatsache aus dem gesammten Vergleichviel ob es sich um ein Hinderniss der Strafverfolgung oder um einen Grund des Wegfalles des Strafanspruches handelt, „im geordneten Prozessgang verhandelt und entschieden" werden, und es ist nicht unbedingt geboten, oft ganz unmöglich (vgl. oben Anm 16), dass die Prüfung der That- und Schuldfrage bis zur Austragung jener Vorfrage verschoben werde. Es wird sich ζ. B. oft viel leichter die thätige Reue, die Unzurechnungsfähigkeit des Beschuldigten, die Nothwehr u. dgl. in solcher Weise feststellen lassen, als das Vorhandensein der Bedingungen der Verjährung. Ein noch nicht feststehendes Hinderniss der Strafverfolgung ist also kein unbedingtes Hinderniss des Strafverfahrens, und umgekehrt bewirkt jeder festgestellte Grund des Wegfalles des Strafanspruches „Unzulässigkeit der Strafverfolgung". Auf die Consequenzen ist später und zumal bei der Lehre vom Urtheil zurückzukommen.

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§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

handlungsstoff und ihre abgesonderte Behandlung als Einrede kann nämlich mannigfache Zwecke verfolgen: 1. Die Regelung der B e h a u p t u n g s - und B e w e i s p f l i c h t . Die die Einrede begründende Thatsache muss von dem Beklagten im Civilprozess ausdrücklich behauptet und, wenn nicht vom Kläger zugestanden, auch bewiesen werden. S t r a f r e c h t l i c h e Exceptionen in diesem Sinne giebt es allerdings nicht; die Behauptungs- und Beweislast, die in dieser Hinsicht den Beschuldigten treffen kann, ist nie eine f o r m e l l e , höchstens eine f a c t i s c h e . Sobald sich dem Strafrichter ein Sachverhalt darstellt, welcher geeignet scheint, sei es zur blossen Verneinung eines Thatbestandsmerkmals oder Straferhöhungsgrundes, sei es zur Annahme eines die Strafbarkeit aufhebenden, ausschliessenden oder mindernden Umstandes zu führen, ist er verpflichtet, ihn zu beachten, sich eine bestimmte Ueberzeugung über dessen Wahrheit und rechtliche Beschaffenheit zu bilden, gleichviel ob darauf abzielende Behauptungen und Beweisanerbietungen erfolgt sind oder nicht; und umgekehrt entspricht die Vorbringung solcher Thatsachen dem Interesse und daher auch dem Rechte des Beschuldigten, gleichviel ob es sich um Thatsachen der einen oder der anderen Art handelt. Während dies ausnahmlos gilt, muss der Geltendmachung oder dem Auftauchen eines Thatumstandes, welcher die Wahrheit oder Unwahrheit des die Grundlage der Strafklage bildenden Vorfalles unberührt lässt und trotzdem die gänzliche oder theilweise Tilgung der schon eingetretenen Strafbarkeitr, die Nichterfüllung einer Bedingung derselben oder ein Hinderniss der Strafverfolgung begründet, der Erhebung einer Einrede insofern gleichgestellt werden, als den Beschuldigten hier die m a t e r i e l l e Beweislast t r i f f t 2 0 . 2. Gewisse Einreden geben im Civilprozess das Recht, die Streiteinlassung, das Eintreten in die Verhandlung der Hauptsache zu verweigern (eigentliche p r o z e s s h i n d e r n de Einreden); dieser Berechtigung kann die Verpflichtung mit der Wirkung gegenübergestellt sein, dass jene verloren gehen, wenn sie nicht bis zu einem bestimmten Prozessabschnitte geltend gemacht werden (vgl. § 247 CPO). Nur ganz ausnahmsweise tritt im Strafprozess letzteres e i n 2 1 (in Bezug auf 20 S. Bd. I § 36 \ 7 I I u. V I I I und die eingehende Erörterung dieses Gegenstandes bei Q las er, Beiträge z. L. vom Beweis S 85 ff.; ferner Geyer, HH I 213. 21 So wie der Angeklagte kein Recht auf Fortsetzung des Prozesses hat, sobald derselbe ohne Rechtsnachtheil für ihn abschliessbar ist (vgl. P l a n c k , Syst. Darst. S 127. 128), so kann ihm ein Recht nicht zuerkannt werden, gewissermaassen die Streiteinlassung unter Vorschützung einer Einrede, einzig die der Unzuständigkeit ausgenommen, zu verweigern. Vgl. über die freie Bewegung, die hier dem Ge-

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

den Einwand der örtlichen Nichtzuständigkeit des Gerichtes, sofern die zu dessen Erhebung im Gesetz bezeichnete Gelegenheit unbenutzt gelassen wird, § 16 StPO). Dagegen bringt es die Eigenart des Strafprozesses mit sich, dass der Schutz des Angeklagten gegen eine objectiv unberechtigte Verfolgung nicht lediglich in den Augenblick verlegt werden kann, wo sie als solche nach völlig durchgeführtem Verfahren vom Richter erkannt wird. Was im Civilprozess eine planmässig eingeschränkte Ausnahme bildet, dass nämlich noch vor diesem Augenblick der Beklagte auf Grund einer besonderen, vorläufigen Verhandlung von der Pflicht zur Einlassung auf die endgiltige Verhandlung entbunden wird, das bildet im Strafprozess eine durchgreifende Regel. Ihr nachzukommen ermöglicht die Gliederung des Strafprozesses und das positive Eingreifen des Gerichtes in die die Hauptverhandlung vorbereitenden Stadien des Verfahrens: sobald sich — gleichviel ob in Folge einer speciellen Behauptung des Beschuldigten — zeigt, dass der Strafanspruch aus welchem Grunde immer nicht verwirklicht werden kann, muss das Gericht die Eröffnung des Strafverfahrens oder doch die des Hauptverfahrens verweigern; gerade die p e r e m t o r i s c h e Einrede wirkt im prozessualen Sinn zugleich als p r o z e s s h i n d e r n c l e . Allein auch in dieser Hinsicht ist zwischen U n z u l ä s s i g k e i t d e r B e s t r a f u n g und U n z u l ä s s i g k e i t d e r S t r a f v e r f o l g u n g in der Regel ein Unterschied nicht zu machen (vgl. oben Anm 19) ; Gründe, die unter den einen oder den anderen Gesichtspunkt fallen, lassen, einmal festgestellt, jede weitere Untersuchung und Verhandlung als zwecklos erscheinen und verpflichten das Gericht, dem Strafprozess in der dem Stadium, in welchem er sich eben befindet, entsprechenden Form eobald als möglich ein Ende zu machen. Andrerseits aber muss das Vorhandensein derselben in beiden Fällen in einer den Anforderungen an einen regelrechten Strafprozess entsprechenden Weise und daher auch in der dies beurkundenden F o r m festgestellt sein. Ferner würde die Auflösung des Strafprozesses in eine Reihe von der Erörterung je einer Einzelfrage gewidmeten Abschnitten der Grundanlage desselben widersprechen. Es ist daher wohl möglich, dass die „Unzulässigkeit der Strafverfolgung" erst zu einer Zeit festgestellt werden könnte, wo auch andrerseits der aus einem anderen Grunde rieht gewahrt werden muss, die bei R o l l a n d Art. 190 Xr76—82 mitgetheilten E d. par. CH; s. namentlich E vom 10. Juni 1843: I l ne dépend pas du prévenu de restreindre ses conclusions à un point de forme, tel que la nullité de la citation . . . Le tribunal après lui avoir enjoint de plaider à toutes fins, peut passer outre et statuer au fond.

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§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

hervorgehende Nichtbestand des Strafanspruches ausgesprochen werden kann und muss. Es ist aber von principieller Bedeutung, dass d i e s e l b e n F o r m e n für alle Arten negativer Entscheidung über die Strafklage innegehalten werden. Eine ausnahmsweise Berücksichtigung fordern allerdings zwei Classen von Fällen: a. Der Grund, welcher den Gesetzgeber veranlasst, die Strafverfolgung bedingt oder unbedingt zu untersagen, oder die Strafbarkeit an ausser der That liegende Bedingungen zu knüpfen, besteht häufig darin, dass die Nachtheile, welche die Strafverfolgung nach sich zieht, sei es für den Staat, sei es für den Angeklagten, sei es für Dritte, so hoch angeschlagen werden, dass sie die der Straflosigkeit einer an sich strafwürdigen That übersteigen. Die Natur der Sache bringt es in solchen Fällen mit sich, dass diesen Verhältnissen besondere Aufmerksamkeit zugewendet wird, und dass n a c h M ö g l i c h k e i t die Thatsachen, welche hier maassgebend sind, aufgeklärt werden müssen, ehe im übrigen das Strafverfahren weiter geführt wird. Dies ist schon bei der Verjährung der Fall, bei der Amnestie und Abolition, bei Antrags- und Ermächtigungsdelicten und bei einem Theil der oben erwähnten, das Verfahren beherrschenden V o r f r a g e n . b. Weiter aber zu gehen und mit Durchbrechung der sonst üblichen Formen das Verfahren, gleichviel in welcher Lage es sich befindet, a b z u b r e c h e n , dazu wird das Gericht nur dann verpflichtet und berechtigt sein, wenn die Fortsetzung des Verfahrens als etwas geradezu rechtlich unmögliches erscheint, ζ. B. wenn ein prozessfähiger und der Macht des Gerichtes unterliegender Beschuldigter fehlt, wenn das Gericht selbst sich als nicht gehörig constituirt erkennt, wenn es sich überzeugt, dass das bisherige Verfahren an unheilbarer Nichtigkeit leidet 2 2 . 3. Die in der Behandlung einer Thatsache als Grundlage einer Einrede liegende Ausscheidung aus dem gesammten Verhandlungsstoff bietet endlich den Anhaltspunkt für die Lösung mancher speciellen Prozessrechtsfrage. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass dieselbe nicht blos zum Abbruch des Verfahrens, sondern auch zu einer von der normalen abweichenden Form der r i c h t e r l i c h e n E n t s c h e i d u n g Anlass geben kann. Nicht minder kann sie bei der 22 Die eingehende Erörterung dieser Verschiedenheit muss jener Stelle vorbehalten werden, wo von der Einstellung des Vorverfahrens und von der Einstellung des Verfahrens nach Eröffnung des Hauptverfahrens und der Hauptverhandlung zu sprechen sein wird.

§ 64. Hindernisse der Erhebung der Strafklage.

Frage, ob über einen Gegenstand einheitlich oder gesondert abzustimmen ist, und bei der damit zusammenhängenden Frage der erforderlichen S t i m m e n z a h l in Betracht kommen, insofern nämlich § 262 in dieser Hinsicht zwischen der S c h u l d f r a g e und anderen Fragen unterscheidet und von dem Gebiete der letzteren ausdrücklich die Frage der Verjährung (neben den Voraussetzungen des Rückfalles) ausschliesst ; es ist indess klar, dass hier nur rein äusserliche Verhältnisse, welche die Art der Feststellung der fraglichen Thatsachen bedingen, maassgebend waren. Anders verhält es sich mit § 295 Abs. 2, welcher Nebenfragen an die Geschwornen zulässt „über solche v o m S t r a f g e s e t z e besonders vorgesehene Umstände, durch welche die Strafbarkeit wieder aufgehoben wird", eine Bestimmung, durch welche betont wird einerseits der Gegensatz zwischen Strafausschliessungs- und Strafaufhebungsgründen, welche letzteren nicht Gegenstand b e s o n d e r e r Fragen sein, andrerseits der zwischen m a t e r i e l l - und p r o z e s s r e c h t l i c h e n Fragen, vermöge dessen d i e s e von der Entscheidung der Geschwornen ganz ausgeschlossen werden sollen (worüber das nähere an der entsprechenden Stelle). Mit dieser Unterscheidung hängt es aber weiter zusammen, dass gewisse Fragen von der höheren Instanz auch nach ihrer thatsächlichen Seite geprüft werden dürfen, auch wenn jene sonst die Grundlage ihrer Entscheidung nur aus dem Urtheile und dessen Gründen zu schöpfen hat, beziehungsweise dass schon in erster Instanz die für den Beweis der Schuld maassgebenden Vorschriften für gewisse Fragen nicht eingehalten werden müssen. Auch hier handelt es sich aber nicht um ein tieferes Eingehen auf die rechtliche Natur der betreffenden Einrede, sondern darum, dass jene Thatsachen auf positiven oder negativen p r o z e s s u a l e n Vorgängen beruhen, weshalb es als zulässig erscheint, dass ihre Feststellung unter die Herrschaft anderer Formen gestellt werde, als welche für die Lösung der Schuldfrage maassgebend sind 2 3 . 23 S. ζ. B. in Bezug auf die Frage des Vorhandenseins und der rechtzeitigen Stellung des S t r a f a n t r a g e s RG E vom 21. April, 12. Juli, 2. November 1880, 16. Juni 1881 Rspr I 637 I I 188. 430 I I I 407. In dem zweiten der hier angeführten E ist die Frage nach dem Vorhandensein eines rechtzeitigen Strafantrages als eine „Vorfrage" bezeichnet, welche mit Recht in der Schwurgerichtsverhandlung abgesondert behandelt und vom Gericht allein durch einstellendes Urtheil nach § 259 Abs. 2 erledigt wurde. „Die Schuld des Thäters steht in keinem inneren Zusammenhange mit der Antragsberechtigung des Verletzten." — In den anderen Fällen ist namentlich anerkannt, dass die Frage stets auf Grund der Akten zu entscheiden sei, es insbesondere einer Vorlesung des Antrages in der Hauptverhandlung nicht bedürfe. Vgl. O l s h a u s e n Bern 37 zu § 61 StGB.

62 § 65.

Der V e r b r a u c h der

Strafklage 1.

I. Mit Recht wird es als eine Grundanforderung an ein geordnetes Verfahren bezeichnet, dass „die richterliche Gewalt im 1

Bezüglich der weiteren Ausführung und Begründung verweise ich auf meine hier zu Grunde liegende Abhandlung unter gleicher Aufschrift in Grünhuts Ζ X I I 303. — Literatur: J. Η. Β ο ehm er, De sententiis in rem judicatam non transeuntibus. Halae 1723 (exercit. ad Pand. V 87). S t ü b e l , De opinione vulgari, sententias absolutorias . . . in r. jud. transire. Wittenberg 1798; ders., Criminalverfahren §§ 3203 ff. K l e i n s c h r o d , AA V I Heft 3 S 17 If. G e r i c k e , De re judicata sentent, crim. Gotting. 1803. S c h r ä d e r , Comm. de . . . re judicata in caus. crim. Gotting. 1803. K l i e n , De auctoritate sententiae criminalis absolutoriae. Lips. 1827—1831 (spec. I—IV). W e n d l e r , De re judicata in causis criminalibus. Lips. 1833 (bespr. ANF 1834 S 461 ff.). F a b r i c i u s , De re criminali judicata ex jure Romano. Jenae 1835. M a r t i n , Lehrb. § 56. A b egg, Lehrb. §§204—206. M ü l l e r , Lehrb. § 207 Anm 11. 12. H e n k e , Handb. IV 762 ff. B a u e r , Lehrb. § 202; ders., Abh. I I 353 ff. P l a n c k , Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten S 24 ff. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren § 202.— E n g l i s c h e s , f r a n z ö s i s c h e s und i t a l i e n i s c h e s R e c h t : Glaser, Die Durchführung der Regel: Non bis in idem im engl, und franz. StP, im GS 1871 S 1 ff. (Kl. Schriften S 601 ff.); ders., Ankl. u.s.w. im engl. Schwurgerichtsv. S 97—112 und die an beiden Orten angef. Literatur. Art. 246 und 360 C. d'I. und dazu insbesondere R o l l a n d de V i l l a r g u e s . D a n i e l s , Grunds, des rh. u. franz. StP § 372. V o l k m a n n , Jurisprud. des rhein. Cassationshofes S 440—442. H é l i e , Instr. crim. (2. éd.) Nr 978—1044; ders., Pratique Nr 923—925. T r é b u t i e n (2. éd.) Nr 775—800. B o n n i e r , Traité des preuves Nr 890 etc. M o r i η , Répertoire verb. Chose jugée. M an g i n , Action publique (éd. Brüx. 1839) Nr 370 ss. L e S e l l y e r , Tr. de l'exercice et de l'extinction etc. (2. éd.) I I Nr 637—758. — B o r s a r i , Azione penale. Torino 1866. Nr 404-^76. B o r s a n i e Caso r a t i §§ 1563 ss., vol. V ρ 471 ss. Regol. di procedura pen. Art. 266. 445. 518. 519 und dazu der Commentar von Mel. B r u s a , Saggio § 348. Β u c e l l a t i , Istituzioni Nr 488—491. C a r r a r a , Giornale delle leggi I X 1878 Nr 8. 9. Riv. pen. XV 239. — R e f o r m i r t e r d e u t s c h e r S t r a f p r o z e s s : P l a n c k , Syst. Darst. S 133ff. Z a c h a r i a e , Handb. I I § 174ff. W a l t h e r , Bayer. StPR S 463. O p p e n h o f f , Bern 43 ff. zu § 1 preuss. V von 1849. S c h w a r z e , Comm. zur sächs. StPO von 1855 I I 204 ff. D o l l m a n n , System des bayer. StP § 80. H as e η b a l g , Zur StPO S 123 ff. B i e n e r , Engl. Geschwornengericht § 60. v. B a r , Beweis und Recht im Geschwornengericht S 126. 146. H e f f t e r . Non bis in idem. Berlin 1873. Ferner ANF 1850 S 447 ff. ( M i t t e r m a i e r ) . G A 1854 S 785 ff; 1855 S 198 ff. (Küssner), S 385 ff. (Goltdammer), S 472 ff. (Berner), S 822 ff; 1858 S 114. 516; 1859 S 546; 1860 S 194 ff, 771 ff.; 1862 S 457. 568; 1866 S 120. 475; 1870 S 153 ff. (ungesetzliche Strafe); 1872 S 137 ff. 160 ff. (Seeger); 1878 S 186 ff. (H. Ortloff). Ζ für Bayern I I 101, IX 181. Hannov. Mag 1862 S 326—344 (v. Bar). GS 1857 S 241 ff. (Abegg); 1866 S 31 ff. ( B e r n e r , Non bis in idem gegen ausw. Urtheile). — N e u e s t e s R e c h t : Geyer § 246.247. R i n t e l e n § 384 N r 2 e . f. F u c h s b e r g e r , Entscheidungen des deutschen Reichsgerichtes auf "dem Gebiete des Strafprozessrechtes. Giessen 1882. S 230 ff. L ö w e Anm 28—32 vor § 151. K e l l e r Anm 7 zu § 263. G l a s e r in HRLex I I I 284 ff.

§ 65. Verbrauch der Strafklage.

63

Staate sich nur einmal mit derselben Sache befasst", dass, „während ein Prozess im Gange ist, gleichzeitig über dieselbe Sache ein neuer Prozess nicht geführt", und „wenn ein Prozess einmal definitiv entschieden ist, über dieselbe Sache künftig ein neuer Prozess nicht begonnen werden" kann 2 . Die Wechselfälle und der Ausgang des einmal eröffneten Strafprozesses sind daher entscheidend für das Schicksal der Straf klage; nur in diesem kann sie, einmal erhoben, von Erfolg sein; jedem späteren Versuche, sie zu erheben, muss sich die Verweisung auf den für sie allein maassgebenden Strafprozess entgegenstellen; jener eine Gebrauch, der von ihr gemacht wurde, bewirkt, dass sie anderweitig nicht gebraucht werden kann: sie ist dadurch v e r b r a u c h t , c o n s u m i r t . Der Verbrauch der Straf klage hat daher eine doppelseitige Wirkung. Hat der Prozess, der ihrem Gebrauch seinen Ursprung verdankte, in einem unanfechtbaren Urtheil seinen Abschluss gefunden, so ist dieses Urtheil maassgebend für das Schicksal der Strafklage, sein Inhalt wird vermöge der Einrede der entschiedenen Sache (exceptio rei judicatae) dem Versuch einer Erneuerung entgegengehalten. Ist jener Strafprozess noch nicht endgiltig abgeschlossen, so wird dem Versuch einer zweiten Prozessverhandlung entgegengehalten, dass die Sache bereits anhängig sei (exceptio rei in judicium deductae) und dass die prozessualen Wechselfälle, die hieraus erwuchsen, nicht willkürlich bei Seite geschoben werden können, so z. B. die Begründung der Zuständigkeit durch Zuvorkommen, die Herstellung materieller oder formeller Prozessergebnisse, insbesondere auch solcher, welche p a r t i e l l e oder r e l a t i v e R e c h t s k r a f t des Urtheils unmittelbar begründen oder welchen, wie unter Umständen dem Rücktritt von der Anklage, die Wirkung zukommt, dass dadurch die Sache endgiltig ausgetragen wird. Indem also die h i e r a u s sich ergebenden Einreden mit der Berufung auf das ergangene rechtskräftige Urtheil unter den gemeinsamen Gesichtspunkt des Verbotes wiederholter Anhängigmachung derselben Sache (non bis in idem) fallen, haben die ersteren auch noch abgesehen hiervon die Bedeutung, dass sie an gewisse Prozessvorfälle die Wirkung einer Abschwächung und Beschränkung des sonst möglichen Erfolges der Strafklage knüpfen, vermöge deren sie eine, wenn auch zumeist nur partielle Erlöschung derselben herbeiführen. Es war eine der nächsten Folgen der Rückkehr zu accusatorischen Formen, dass der Schutz des U l l m a n n § 195. M a y e r Bern 53 ff. zu § 2 österr. StPO. S c h a n z e , Ζ f. StRW IV 438 ff. 2 P l a n c k , Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten. Göttingen 1844. S 538.

64

§ 65. Verbrauch der Strafklage.

Angeklagten gegen erneute Verfolgung nachdrücklicher betont wurde. Der Kampf der den modernen Prozess beherrschenden Gegensätze: Streben nach Sicherung des Sieges der Wahrheit und Achtung vor der Form, setzte sich gerade auf diesem Gebiete fort, und nur langsam kam es zur Klärung. Diese beruht darauf, dass zweierlei sorgfältig gesondert wurde: 1. Die bewusste Wiederaufhebung eines bereits rechtskräftig gewordenen Urtheils, die Wiedereröffnung des für geschlossen gehaltenen Verfahrens, die W i e d e r a u f n a h m e der Verhandlung über die ursprüngliche Strafklage ist eine Leugnung der unbedingten und ausschliesslichen Herrschaft des Princips der Rechtskraft. Die Aufgabe, die Grenzen für die Wiederaufhebbarkeit des Urtheils abzustecken, hat die neueste Gesetzgebung Deutschlands und Oesterreichs gelöst, und zwar trotz wesentlicher Verschiedenheiten darin übereinstimmend, dass von einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens lediglich zur Beseitigung eines Versehens des Gerichtes oder eines Missgriffes in der Rechtsfrage nie die Rede sein kann. 2. Ganz verschieden aber von der gesetzlich geregelten, an die erste Strafklage und das von ihr eingeleitete Verfahren wieder anknüpfenden Wiederaufnahme ist der Versuch, jene beiden und ihre Ergebnisse bei Seite liegen zu lassen und den Gegenstand derselben zum Gegenstand einer zweiten Strafklage zu machen. Es bedarf in der That keines ausdrücklichen Ausspruches des Gesetzes zur Untersagung eines solchen Versuches; die Sorgfalt, welche das Gesetz auf die Regelung der Wiederaufnahme verwendet, und die Einschränkungen, welchen es diese unterwirft, haben nur unter der Voraussetzung einen Sinn, dass die Unzulässigkeit jeder nicht unter die Wiederaufnahme fallenden Erneuerung der Strafklage anerkannt ist. Wohl aber zeigt sich, da nackte Versuche dieser Art zur Erneuerung der verbrauchten Strafklage nur selten, und wohl zumeist nur durch wirkliche Unkenntniss des Zusammenhanges veranlasst, vorkommen werden, sehr bald, dass die Anwendung des anerkannten Grundsatzes bedingt ist durch die Tragweite, die ihm zumal in solchen Fällen zuerkannt wird, wo eben darüber gestritten wird, ob eine bestimmte Klage als Erneuerung einer bereits verbrauchten anzusehen sei. I I . Maassgebend ist nun in dieser Hinsicht die Bedeutung, der Inhalt und die positive Wirkung der Strafklage als der Inanspruchnahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines bestimmten Menschen für einen bestimmten Vorfall (vgl. oben § 63). Was in diesem Sinne Gegenstand der Strafklage und des Urtheils war, das kann

65

§ 65. Verbrauch der Strafklage.

nicht mehr Gegenstand einer neuen Strafklage oder eines neuen Urtheils sein. Ein Urtheil verstösst gegen die Regel non bis in idem, wenn es so beschaffen ist, dass es schon auf Grund einer früheren Straf klage hätte ergehen können. Darauf, ob die letztere gerade diesen Ausspruch begehrt hat, oder ob er nur vermöge einer zulässigen Abweichung von ihr ergehen konnte, darauf kommt es nicht an; ebensowenig, ob diese Möglichkeit eine factische, wenn sie nur eine rechtliche war. Auch darauf kann es i n d e r R e g e l nicht ankommen, ob das bereits ergangene Urtheil ein f r e i s p r e c h e n d e s oder ein v e r u r t h e i l e n d e s ist; letzteres ist bezüglich alles dessen, was von dem verurtheilenden Spruch nicht umfasst ist, ein freisprechendes. Demgemäss ist eine Strafklage unzulässig, obgleich sie sich nicht als die genaue Wiederholung einer früheren darstellt, wenn sie 1. zwar in der Beschreibung der That bezüglich der Modalitäten abweicht, trotzdem aber thatsächlich sich auf denselben Menschen und denselben Vorfall bezieht, die eine frühere Straf klage zum Gegenstand hatte; 2. derselben That eine andere strafrechtliche Beschaffenheit ( Q u a l i f i c a t i o n ) beilegt, sei es dass es sich nur um den Unterschied zwischen dolosen und culposen Verbrechen derselben A r t 3 , zwischen Thäterschaft und Theilnahme, Versuch und Vollendung desselben Verbrechens handelt, sei es dass die That unter eine andere Strafabstufung desselben oder unter den Begriff eines anderen Verbrechens gebracht wird ; 3. eine Thatsache als selbständiges Verbrechen verfolgt, welche mit dem Gegenstande einer früheren Straf klage als S t r a f s c h ä r f u n g s - (nicht als blosser Strafzumessungs-) Grund zusammenhängt oder sonst aus irgend einem Grunde einen Bestandtheil eines einheitlichen Verbrechens darstellt, sei es eines zusammengesetzten oder eines fortgesetzten, oder eines sogenannten Collectivverbrechens 4 ; 3 Beispiele RG E vom 16. October 1880 Rspr I I 341: 1. Anklage wegen fahrlässiger, 2. wegen vorsätzlicher Brandstiftung. RG E vom 21. December 1880 Rspr I I 654: 1. Anklage wegen vorsätzlicher, 2. wegen fahrlässiger Körperverletzung. Zahlr. andere Beispiele bei O p p e n h o f f , Bern 48 zu § 1 preuss. V von 1849, bei M a y e r Anm 66—69 zu § 2 öst. StPO und bei G l a s e r , Kl. Schriften S 624. 632. 533 ff. 4 Ueber die beim Concurs sich ergebenden Combinationen s. G A 1872 S 137 ff.; RG E vom 22. Januar und 5. Febr. 1883 Rspr V 52. 86. Fortgesetzte Verletzung des Markenschutzgesetzes, RG E vom 30. Sept. 1881 Entsch V 105, des Lotterieverbotes RG E vom 13. April 1883 Rspr V 239, Unterschlagung RG E vom 10. Dec. 1883 Rspr V 766, unbefugte Jagdausübung RG E vom 12. Juli 1882 Rspr IV 690.

Binding, Handbuch. IX. 4. I I : G l a s e r , Strafprozess. I I .

5

66

§ 65. Verbrauch der Strafklage. 4. ein Verbrechen z u m Gegenstande hat, welches m i t dem bereits

abgeurtheilten i d e a l III.

concurrirt 5.

Dagegen steht der Grundsatz non bis i n idem einer Anklage

i n folgenden F ä l l e n n i c h t 1.

entgegen.

Dass das den Gegenstand der neuen A n k l a g e bildende V e r -

brechen m i t einem bereits abgeurtheilten r e a l c o n c u r r i r t , Hinderniss

der

nachträglichen

Verfolgung

der

früher

ist k e i n

übergangenen

Handlung. 2.

Ein Urtheil

hat n u r Rechtskraft

gegen u n d für

den Ange-

klagten, w i d e r welchen es erging ; denn da die Person des Angeklagten zum Wesen der Strafklage gehört, die eben darauf gerichtet ist, dass eine bestimmte Person für

ihren A n t h e i l

an einem bestimmten V o r -

fall verantwortlich gemacht werde, so k a n n durch eine gegen eine bestimmte Person gerichtete Strafklage die gegen eine andere zu richtende nicht verbraucht,

der letzteren nicht entgegengehalten werden,

dass sie m i t j e n e r identisch sei. Vgl. andererseits RG E vom 12. Jan. 1883 Rspr V 29 (Ausübung des Hebammengewerbes). S. ferner RGE vom 15. Febr. 1881 Rspr I I I 47 (verschiedene Anklagen wegen verschiedener gleichzeitig gestohlener Sachen), vom 22. April 1881 Rspr V 240 (Beleidigung mehrerer Personen durch denselben Artikel einer Zeitung). — Besondere Schwierigkeiten bereiten hier die gewerbs- und gewohnheitsmässigen Delicte, und zwar zunächst vom Standpunkt des m a t e r i e l l e n Rechtes; je nach der Feststellung des Wesens der strafbaren Handlung muss dann auch die Frage verschieden beurtheilt werden r ob Einzelakte, wegen welcher früher eine Verurtheilung erfolgte, bei neuen Anklagen Grundlage des Ausspruches über Gewerbs- und Gewohnheitsmässigkeit werden können. S. darüber namentlich O l s h a u s e n , Einfluss der Vorbestrafung (1876) S 132 if.; ν. L i l i e η t h a i , Collectiv - Delicte (1879) S 62 if. Wird angenommen, dass die strafbare Handlung als eine Mehrheit gleichartiger Einzelakte anzusehen sei, so kann der, gleichviel ob durch Verurtheilung oder Freisprechung erledigte Einzelakt nicht Gegenstand einer neuen Aburtheilung sein. Wohl aber kann darauf bei einer neuen Anklage insofern Rücksicht genommen werden, als überhaupt durch ein vorausgegangenes, nicht selbständig strafbares Verhalten die juristische Beschaffenheit einer nach dem Urtheil verübten Handlung sich ändert. Wird jemand von der Anklage eines gewerbsmässigen Delictes freigesprochen, weil nur e i η Einzelakt erwiesen ist, und setzt er nach dem Urtheil Einzelakte fort, so wird dadurch ein neuer Delictsthatbestand begründet, welcher auch jenen ersten Fall als eines seiner Elemente mit in sich begreift und offenbar nicht Gegenstand des über jenen ergangenen Urtheiles war. (Vgl. Grünhut X I I 318 Anm 22.) B B e r n e r , GA 1855 S 494; K ü s s n e r das. S 204; ν. B a r im Mag f. Hann. 1862 S 326; G l a s e r , Kl. Schriften S 641 ff.; ders., GS 1884 S 158 Anm 61; H a s e n b a l g S 199 ff.; M a y e r Bern 70 a. a. 0 . ; L ö w e Bern 30 c vor § 151; K e l l e r Bern 7 zu § 263. RG E vom 23. Dec. 1880, 3. März 1881 Rspr I I 671 I I I 100. Vgl. RG E vom 21. December 1883 Rspr V 804. S. aber auch RG E vom 8. December 1881 Rspr I I I 779.

§ 65.

Verbrauch der Strafklage.

67

3. Ein Urtheil, welches a u s d r ü c k l i c h ablehnt, sich über den Bestand des in der Strafklage geltend gemachten Strafanspruches, bezw. über die Zulässigkeit der Strafverfolgung wider diesen Angeklagten wegen dieser That, auszusprechen, erledigt den Gegenstand der Straf klage nicht endgiltig; es weist die Straf klage angebrachtermaassen zurück und schafft die erhobene Strafklage, nicht aber den Gegenstand derselben aus der W e l t ; ein Hinderniss, die Straf klage anderweitig zu erheben, erwächst daraus nicht. Es kommt dabei auf die Form des Ausspruches (Einstellung des Verfahrens, Einstellungs- statt eines Freisprechungs-Urtheiles) nicht an, sondern nur auf den Inhalt der Entscheidung. Hierher gehört insbesondere auch der Fall, wo das Gericht, in welchem Stadium immer, ausgesprochen hat, dass der vorliegenden Strafklage deshalb nicht stattgegeben werde, weil ihr Gegenstand ein A η t r a g s verbrechen ist, ein Antrag aber nicht oder nicht mehr vorliegt, oder wo es eine Privatanklage blos als unrichtig angebracht zurückgewiesen h a t 6 . 4. Bezüglich der idealen Concurrenz scheint mir die Regel non bis in idem nicht mehr anwendbar, wenn das Bindeglied, welches zwei Verbrechen oder Verbrechenscomplexe an einander knüpft, für eines derselben ganz unwesentlich ist, und seine die Verbindung herstellende Eigenschaft bei der ersten Verhandlung gar nicht zum Vorschein k a m 7 . 6 Kommt der Umstand erst in der Hauptverhandlung zur Sprache, so ist ein Urtheil zu fallen, womit die „Einstellung des Verfahrens" auszusprechen ist. Der dies anordnende Abs. 2 des § 259 kann keine andere Bestimmung haben als die Offenhaltung einer Erneuerung der Verfolgung beim späteren Eintritt des erforderlichen Antrages; der etwaige Zusatz „zur Zeit" würde nur selbstverständliches sagen: RG E vom 31. Mai 1881 Rspr I I I 350; L ö w e Bern 12 zu § 259; ders. Bern 30 vor § 151. Vgl. K e l l e r Bern 7 zu § 263; Geyer § 247 I. Daraus folgt aber auch, dass die neue Verfolgung nur zu einer Verurtheilung wegen eines Antragsdelictes führen kann, da cler negative Inhalt des Einstellungsurtheils in Rechtskraft erwuchs; im entgegengesetzten Sinn OTr Ε ν. 8. December 1875 in GA S 603. In dem dem RG E vom 21. Februar 1884 Entsch X 149 ff. zu Grunde liegenden Falle hätte ebenfalls nur die im Text bezeichnete Entscheidung ergehen sollen, als das Gericht annahm, es sei nicht erwiesen, dass die Beleidigung gegen den Privatkläger gerichtet war. 7

Das nähere bei G l a s e r , GS 1884 S 124 und Anm 81. 82; Beispiele: Verurtheilung wegen Besitzes einer verbotenen Waffe, Rückkehr eines Verwiesenen oder Führung eines falschen Namens schützt nicht gegen die Verurtheilung wegen eines mit der verbotenen Waffe, an dem verbotenen Ort oder durch Gebrauch des falschen Namens (vgl. OTr E vom 7. Juli 1867 G A S 33) verübten Verbrechens, sofern nicht gerade diese letzteren Vorfälle diejenigen waren, auf welche sich auch die frühere Anklage stützte. Ebenso verhält es sich mit der unberechtigten Betreibung des 5*

68

§ 65.

Verbrauch der Strafklage.

5. Die Wirksamkeit a u s l ä n d i s c h e r Urtheile ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in welchen nach § 5 Z. 1, § 7 RStGB deren Inhalt auch für das Inland maassgebend bleibt 8 . Insoweit sind sie ganz gleich inländischen Urtheilen zu berücksichtigen. Auch die Frage der Zulässigkeit der Wiederaufnahme ist nach dem Rechte zu beurtheilen, unter dessen Herrschaft die Urtheile gefällt sind. Wird sie bejaht, so kann das Verfahren im Inlande nur als ein neues stattfinden 9 . 6. Als Proceduren, durch welche eine Strafklage verbraucht wird, können nur diejenigen angesehen werden, welche vor dem Strafgerichte als solchen stattgefunden haben. Als Strafgerichte müssen auch die sogenannten besonderen Strafgerichte (vgl. Band I § 26 I V B) angesehen werden, so lange sie sich innerhalb ihres gesetzlichen Wirkungskreises bewegen, nicht aber Verwaltungs- und selbst richterliche Behörden, von welchen strafähnliche Verfügungen ausserhalb des Strafprozesses erlassen werden können, wie ζ. B. Akte der Disciplinarbehörden, der sog. Ehrengerichte, richterlich verhängte Ordnungsstrafen u. dgl. — unbeschadet des Einflusses, den nach der Natur der Sache und nach positiven Anordnungen strafrichterliche Urtheile auf solche Proceduren üben können. Anders ist dasjenige Verwaltungsstrafverfahren zu beurtheilen, welches durch die §§ 453 ff. in den Organismus der Strafrechtspflege eingefügt ist; die so ergehende Strafverfügung ist im Gesetz selbst (§ 453 Abs. 4) bezüglich der Unterbrechung der Verjährung einer „richterlichen Handlung" gleichgestellt 10 , und es liegt also nahe, ihr auch die gleiche Rechtskraft beizulegen wie einem Urtheil; allein es sind Gründe für die Annahme vorhanden, dass dies nicht beabsichtigt w a r 1 1 . Hebammengewerbes und einem einzelnen Falle einer durch diesen Betrieb bewirkten fahrlässigen Tödtung. Vgl. RG E vom 12. Juli 1883 Rspr V 29. 8 O p p e n h o f f , Bern 44 a. a. 0.; O l s h a u s e n Beni 3 zu § 5 StGB; S c h w a r z e Bern 2 das.; H ä l s c h n e r , Gem. d. StR I § 68; v. L i s z t , StR § 19 V ; B e r n e r , GS 1866 S 31 ff.; ders., Wirkungskr. d. StG S 165; K e l l e r Bern 7 zu § 263; L ö w e Bern 29b vor § 151; G o l t d a m m e r in GA 1855 S 388; GS 1860 S 177 (Schwarze), 1865 S 460 ff. (Bremer); Z a c h a r i a e , Handb. § 83 Anm 1, vgl. StPO f. Hannover von 1859 § 221 Nr 12; H é l i e , Instr. Nr 1038 bis 1043; R o l l a n d Art. 360 Nr 15. 9 Vgl. H ä l s c h n e r , Gem. d. StR I § 68 Nr 2; Schwarze, GS 1860 S 177 ff; ders. Bern 2 Anm 3 zu § 5 StGB; K r i e s , Rechtsmittel Anm 227a. 10 Die Motive S 243 sagen ausdrücklich: „Die Strafverfügung der Polizeibehörde enthält unverkennbar die wesentlichen Elemente einer richterlichen Entscheidung." 11 Der die polizeilichen Strafverfügungen betreffende Abschnitt der StPO enthält keine Bestimmung, die der des § 450 entsprechen würde, die dem amtsrichter-

69

§ 65. Verbrauch der Straf klage. IV.

Es ist nunmehr auf einige Gesichtspunkte hinzuweisen, welche

f ü r die A n w e n d u n g der Regel non bis i n idem manchmal, jedoch m i t Unrecht, als maassgebend angesehen w e r d e n : 1. D e r G r u n d für die Unzulässigkeit wiederholter Verfolgung liegt nicht i n der Anerkennung

des

für

das Strafrecht

passenden Satzes res j u d i c a t a pro veritate

habetur;

i n keiner

Weise

wie das Gesetz

vom Gesetzgeber, so löst sich das U r t h e i l v o m Richter ab, von den Gedanken

und

Rechtskraft, mit, schafft

Gründen,

auf denen es b e r u h t ; damit

die

diesen b e s t i m m t e n ;

das U r t h e i l

hat

t h e i l t diese aber nicht den G r ü n d e n u n d Feststellungen die

dieser

es erledigt zu

Grunde

eine bestimmte A n k l a g e ; liegende

Thatsache

„aus

es der

W e l t " ; das g i l t aber n u r so weit, dass dieselbe nicht neuerdings zum Gegenstand

einer Anklage

wider

dieselbe

Person

gemacht

werden

darf, bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht zu A n k l a g e n w i d e r andere P e r s o n e n 1 2 benützt werden dürfte, oder dass bei neuen Strafverhandlungen, welche ohne Verletzung jenes Verbotes stattfinden, das Gericht berechtigt oder gar verpflichtet wäre, die thatsächliche oder juristische Beurtheilung, welche einem frühern Strafurtheile zu Grunde liegt, als maassgebend zu b e t r a c h t e n 1 3 . liehen Strafbefehl ausdrücklich die „Wirkung eines rechtskräftigen Urtheils beilegt" ; als Grund wurde seitens der RegierungsVertreter ausdrücklich angegeben (Prot S 698), man habe den Regierungen überlassen wollen, in einzelnen Punkten milder zu sein. Immerhin kann angenommen werden, dass, da das ganze Ver fahren bei polizeilichen Strafverfügungen aus dem preuss. Ges vom 14. Mai 1852 hervorgegangen ist, man auch das Verhältniss beibehalten wollte, welches zwischen § 8 des ged. Ges und Ali;. 125 Abs. 1 d. Ges vom 3. Mai 1852 obwaltete und wonach Verfügungen des Polizeirichters volle Rechtskraft beigelegt wurde, polizeilichen Strafverfügungen nur insoweit, als die That nicht ein Vergehen oder Verbrechen darstellt. Das RG E vom 2. Juni 1880 Rspr I I 18 hat ausgesprochen, dass der unanfechtbar gewordenen Strafverfügung „die Bedeutung einer Consumtion der Straf klage, wie sie bei einer anderen die Zuständigkeit der Polizeibehörde übersteigenden Qualification der Handlung erhoben werden kann", nicht zukomme. Damit ist auch M eves, HH I I 397, L ö w e Bern 29a vor § 151, K e l l e r Bern 7 zu § 263 S 327, P u c h e l t Bern 4 zu § 453 einverstanden. — Des Zusammenhanges wegen sei schon hier bemerkt, dass das RG, welches im E vom 23. December 1880 Rspr I I 671 anerkannt hatte, dass nicht blos schöffengerichtliche Urtheile, sondern auch amtsrichterliche Strafbefehle den anderen Urtheilen in Bezug auf die Geltung der Regel non bis in idem gleichstehen, später (E vom 2. Juni 1881 und 25. Dec. 1883 Rspr I I I 367 V 804) die amtsrichterlichen Straf befehle den polizeilichen Strafverfügungen gleichgestellt hat. 12 Neuestens hat das RG E vom 7. October 1884 Rspr V I 603 erklärt, dass der zu Gunsten eines Mitbeschuldigten ergangene Einstellungsbeschluss einem anderen nicht zu statten komme. 13 Beispiele: A war angeklagt, Ρ getödtet zu haben; er ward freigesprochen,

70

§ 65.

Verbrauch der Strafklage.

2. Den Gegensatz bildet die Ansicht, nach welcher Gegenstand der Anklage und daher auch des Urtheils niemals blos eine nackte Thatsache, sondern eine solche, der eine bestimmte juristische Beschaffenheit beigelegt wird (fait qualifié) ist. Es genügt wohl, hier in Kürze auf diese Auffassung nochmals hinzuweisen, da schon aus der vorausgehenden Darstellung sich zur Genüge ergeben dürfte, dass im heutigen Recht und namentlich in der Praxis des Reichsgerichtes überall die Wechselwirkung zwischen dem Recht und der Pflicht des Gerichtes, die unter Anklage gestellte That nach allen Seiten erschöpfend zu würdigen, und dem Umfang der Geltung des non bis in idem anerkannt i s t 1 4 . 3. Mängel des Urtheiles oder des demselben zu Grunde liegenden Verfahrens gestatten nicht, für unsere Frage das Urtheil als nicht vorhanden anzusehen. Demgemäss kann : a. U n v o l l s t ä n d i g k e i t des Urtheils, sei diese nun aus dem letzteren selbst zu erkennen oder nicht, keinen Anlass geben, auf die Sache zurückzukommen, soweit es sich nicht etwa um blosse Verbesserung von Schreibfehlern u. dgl. oder umgekehrt um gesetzliche Folgerungen aus dem Urtheil handelt, die, um zu gelten, eines ausdrücklichen Ausspruches des Richters gar nicht bedürfen. Unzulässig sind daher vor allem Zusätze zu der erkannten Strafe 1 5 , Ergänzungen des ergangenen Spruches bezüglich der Schuldfrage, also insbesondere auch durch Annahme einer nicht berücksichtigten Idealconcurrenz, weil das Gericht annahm, dass Ρ nicht getödtet wurde; das hindert nicht, dass Β angeklagt und selbst verurtheilt werde, weil er A bei Tödtung des Ρ beigestanden. — Es hat I in mehreren Prozessen dieselbe Thatsache beeidet ; wegen eines dieser Eide angeklagt, wird er freigesprochen, weil der Richter sich von der Wahrheit der beschworenen Thatsache oder doch von dem guten Glauben des Angeklagten überzeugt hält. Wird I neuerdings wegen neuer gleichartiger Eide angeklagt, so bindet der frühere Ausspruch den späteren Richter so wenig, als wenn etwa in einem früheren Prozess ein Alibibeweis für erbracht erklärt ist, welcher auch geeignet wäre, eine spätere Anklage wegen eines anderen um dieselbe Zeit verübten Verbrechens zu entkräften, wie denn auch wieder umgekehrt der Angeklagte seine auf solche Weise für erwiesen erklärte Anwesenheit an einem bestimmten Orte nicht gegen sich gelten zu lassen braucht. 14 S. namentlich die Mot zum § 263 S 153. 154, dann oben Anm 3 und das dort angeführte RG E vom 16. October 1880 Rspr I I 341, ferner die Ausführungen GS 1884 S 119 ff. 16 L ö w e Bern 29a und 29d « vor § 151. RG E vom 6. November 1830· Rspr I I 469 lässt ein Nachtragsverfahren in Steuersachen zur Geltendmachung der Haftbarkeit des Arbeitgebers für die dem von ihm angestifteten Gewerbsgehilfen auferlegte Geldstrafe zu. Natürlich ist das im Text gesagte nicht auf § 37 StGB zu beziehen.

§ 65. Verbrauch der Strafklage.

71

durch Aufstellung neuer Straferhöhungsgründe, und wären dies selbst Thatsachen, die erst nach dem Urtheil eintraten. b. Auch die N i c h t z u s t ä n d i g k e i t des Gerichtes ändert daran nichts, so lange nur auch das zuerst entscheidende Gericht demselben Gesammtorganismus angehört, wie das mit einer neuen Anklage befasste; dies gilt auch, wenn das Einschreiten des nicht zuständigen Gerichtes eine nicht auf den Gegenstand passende Verfahrensart zur Anwendung brachte 1 6 . c. Dass dem Gericht zwar die rechtliche, aber nicht die factische Möglichkeit geboten war, den Thatsachen in ihrem vollen Umfange gerecht zu werden, weil dieser gar nicht zum Vorschein kam, ist ebenfalls nicht, wie manchmal behauptet wird, ein Grund, den Umfang der Rechtskraft einzuschränken; noch weniger aber ist es die freiwillige und bewusste Ablehnung des Eingehens auf von der Strafklage mit umfasste Elemente des Thatbestandes. d. Irregeleitet durch die Analogie des Civilprozesses will man vielfach die Geltung des Urtheils an die I d e n t i t ä t d e r P a r t e i e n binden. Dies ist jedoch nur insofern richtig, als es sich um die Identität des B e s c h u l d i g t e n handelt. Der wahre A n k l ä g e r ist im Strafprozess der Staat und dieser ist im Strafprozess durch den Staatsanwalt vertreten, der selbst von Privatklagen Kenntniss erhalten s o l l 1 7 ; jedenfalls ist es des Richters Pflicht, darauf Acht zu haben, dass er nicht anders als auf Grund einer zulässigen Anklage vorgehe. Uebersieht dies der Richter, so ist das einer jener Prozessfehler, die nur innerhalb des Prozess- und Rechtsmittelganges, nicht aber nach Rechtskraft des Urtheiles gerügt werden können. Dies muss um so mehr gelten, wo nur die Legitimation eines Anklägers keine völlig ausreichende ist. Die Verwickelungen, welche nach deutschem Recht in dieser Hinsicht entstehen können 1 8 , beruhen auf der Berechtigung 16

Auch das RG erkennt den Grundsatz speciell für das schöffengerichtliche Verfahren an. Bezüglich der polizeilichen Strafmandate und amtsrichterlichen Straf befehle s. jedoch oben Anm 11; vgl. übrigens Glaser bei Grünhut a. a. 0 . Anm 30 und 42. 17 Dass die Nichtbeobachtung der Vorschrift des § 417 der Anwendbarkeit der Regel non bis in idem nicht entgegenstehe, darüber s. RG E vom 15. Nov. 1883 Rspr V 696. 18 Es ist in dieser Hinsicht maassgebend: 1. § 259 Abs. 2, wonach die Einstellung auszusprechen ist, wenn der erforderliche Antrag fehlt oder zurückgenommen ist; 2. § 429, welcher die gleiche Vorschrift dann ertheilt, wenn im Verfahren auf Grund einer Privatklage das Gericht erachtet, dass auf die für festgestellt zu betrachtenden Thatsachen dieses Verfahren keine Anwendung erleide; 3. § 415, welcher mehrere zur Privatklage wegen derselben strafbaren Handlung berechtigte

72

§ 65. Verbrauch der Strafklage.

des Verletzten, durch einen Antrag oder durch Erhebung der Privatklage auf den Strafprozess Einfluss zu nehmen. Es sind hierbei nun folgende Verhältnisse möglich: a. Ist eine Straf klage erhoben worden, welche "lediglich deshalb zurückgewiesen wurde, weil nach Ansicht des Gerichtes der erforderliche Antrag fehlt oder dem als Privatankläger Einschreitenden das Recht hierzu, sei es für seine Person, sei es wegen der Eigenschaft der verfolgten That als Officialdelict, abgesprochen wurde: dann erwächst d i e s e Entscheidung, so weit sie reicht, in Rechtskraft, steht aber allerdings einer richtig angebrachten Strafklage nicht im Wege (s. oben I I I Nr 3). ß. Die Zulässigkeit einer neuen Strafklage trotz ihrer Identität mit einer früheren kann nicht daraus abgeleitet werden, dass letztere auf die unter a angegebene Art h ä t t e zurückgewiesen werden sollen, insbesondere auch dann nicht, wenn das rechtskräftige Urtheil auf Grund einer Privatklage erging, später aber dieselbe That als Officialdelict verfolgt werden s o l l 1 9 . γ. Wenn eine Mehrheit von zur Privatklage Berechtigten vorhanden ist (und zwar gleichviel ob deshalb, weil durch e i n e Handlung eine Mehrheit von Personen verletzt wurde, oder weil aus der Verletzung derselben Person mehreren ein Klagerecht erwuchs), so kann das in der Sache selbst ergehende Urtheil, welches auf Grund Personen für von einander unabhängig erklärt, andererseits aber dann, wenn „einer der Berechtigten die Privatklage erhoben hat", den übrigen nur den Beitritt offen lässt und endlich (in einem dritten Absatz) erklärt: „Jede in der Sache selbst ergangene Entscheidung äussert zu Gunsten des Beschuldigten ihre Wirkung auch gegenüber solchen Berechtigten, welche die Privatklage nicht erhoben." S. über diese Materien ausser den Commentaren zu den angeführten Gesetzesstellen : D o c h o w in HH I I 358. 359; G e y e r § 247, aber auch 254 I I ; v. S c h w a r z e , Erörterungen I 29 ff.; ders. Bern 8. 9 zu § 61 StGB; O l s h a u s e n Bern 38. 55—62 das. 19 Die Mot zu § 429 S 234. 235 hatten zwar ausgesprochen, dass „ein gegen die Bestimmung dieses Paragraphen verstossendes Endurtheil dem Rechte des Staates, im Wege der öffentlichen Klage die Verhängung der gesetzlichen Strafe herbeizuführen, nicht entgegenstehen könne": und insoweit würde eine Ausnahme von dem Satze non bis in idem eintreten müssen. Allein dass diese Ansicht irrig sei, haben im Gegensatz zu L ö w e Bern 4 zu § 420 dargethan: v. S c h w a r z e , Erörter. I 63; Geyer § 254 I I (wonach die scheinbar abweichende Anm 1 S 840 auszulegen ist); K e l l e r Bern 3 zu § 429; P u c h e l t Bern 7 das.; S c h a n z e in Ζ f. StRW IV 437 ff. Auch das RG hat namentlich im E vom 15. November 1883 Rspr V 696 sich in diesem Sinne ausgesprochen. (Näheres G l a s e r bei Grünhut a. a. 0. Anm 48.)

§ 65.

Verbrauch der Straf klage.

73

der Klage eines derselben erfloss, der eines anderen Berechtigten entgegengehalten werden. δ. Damit ist auch die Grundlage für die Behandlung der idealen Concurrenz von Antrags- und Officialdelicten gewonnen. Erkennt das Gericht das Vorhandensein der idealen Concurrenz und sieht es sich durch den Mangel des erforderlichen Antrages gehindert, alle rechtlichen Folgerungen aus der von ihm erkannten Sachlage zu ziehen, so hat es, meines Erachtens, das Verfahren einstweilen auszusetzen, bis entweder der erforderliche Antrag vorliegt oder die Gewissheit, dass er nicht mehr rechtsgiltig gestellt werden kann. Ist dies nicht möglich oder ist die Concurrenz übersehen oder nicht beachtet worden, gleichviel ob dies zu vermeiden war oder nicht, so ist über die That geurtheilt und darauf nicht mehr zurückzukommen 20 . V. Die Wirkung des non bis in idem kommt nicht blos dem U r t h e i l zu. Es geht durch den ganzen Strafprozess der Gegensatz zwischen negativen und positiven Entscheidungen. Die letzteren sind bis zum Urtheil stets nur vorbereitender Natur und von vorübergehender Geltung; nur ganz ausnahmsweise nehmen sie dem allein maassgebenden Urtheile irgend eine Frage vorweg, sonst aber ergehen sie immer nur mit dem stillschweigenden Vorbehalt endgiltiger Prüfung der ganzen Sache auf Grund cler Hauptverhandlung im Endurtheil. Dagegen kann vom ersten Anfang des Prozesses bis zum Beginn der Hauptverhandlung eine n e g a t i v e richterliche Entscheidung ergehen, welche, sofern sie in Rechtskraft erwächst, den Strafprozess endgiltig abschliesst und auf dauernde Geltung bezüglich der durch sie entschiedenen Fragen Anspruch macht. Die Bedeutung einzelner Entscheidungen, die sich nicht genau unter eine der eben bezeichneten Kategorien einreihen lassen, ist überhaupt eine sehr verschiedene; allein soweit ihnen Geltung überhaupt zukommt, soweit sind auch sie, einmal zur Rechtskraft gelangt, festzuhalten und können nicht beliebig oder weil man die gleiche Sachlage später anders beurtheilt, geändert werden 2 1 . 20

KG E vom 21. und 23. December 1880, 25. Febr., 3. März, 22. April 1881, 19. Januar, 15. November 1883, 2. October 1884 Rspr I I 654. 671 I I I 74. 100. 240 V 40. 696 V I 588. Vgl. S t e n g l e i n , GS 1883 S 272 Anm * * ; R i n t e l e n g 374e Anm 3b. S. dagegen G e y e r § 247 I I am Schluss; L ö w e Bern 30b vor § 151; K e l l e r bei § 263 S 327.328; O l s h a u s e n Bern 38 zu § 73 StGB; ferner die frühere preussische Praxis : OTr E vom 12. October 1876 GA 1876 S 479 und O p p e n h o f f , Bern 58 zu § 1 preuss. V von 1849. Vgl. G l a s e r bei Grünhut a. a. O. Anm 52. 21 Vgl. G l a s e r bei Grünhut X I I 335. 336.

74

§ 65. Verbrauch der Strafklage. VI.

Die einmal erhobene öffentliche Straf klage k a n n

rückgenommen,

nicht

zu-

dagegen k a n n die zurückgenommene Privatklage

nicht von

neuem erhoben werden (§ 4 3 2 ) ;

steht n u r

darin,

dass d i e s e r Privatkläger

allein die W i r k u n g wegfällt

be-

u n d als solcher

n i c h t wieder auftreten k a n n ; die Straf klage selbst ist d a m i t nicht endg i l t i g untergegangen.

I n der Erhebung der Privatklage liegt zugleich

die Stellung des Strafantrages u n d i n ihrer Zurücknahme nothwendig die des Antrages

erblickt

ebenso d a n n , wenn die Zurücknahme

werden;

in

muss

nicht

diesem F a l l e

und

des Antrages wirkungslos

ist,

bleibt das Recht der Staatsanwaltschaft, „ i n jeder Lage der Sache bis zum E i n t r i t t

der Rechtskraft

des U r t h e i l s

durch eine

ausdrückliche

E r k l ä r u n g die Verfolgung zu übernehmen" (§ 417 Abs. 2, vgl. jedoch B a n d I § 21), unberührt.

Ebenso bleibt bei Zurücknahme der Privat-

klage das Recht anderer z u r Privatklage Berechtigten, die Verfolgung aufzunehmen, VII.

unberührt 22.

D e r Verbrauch

der

Strafklage,

über welche

entschieden oder welche durch R ü c k t r i t t erledigt i s t ,

rechtskräftig-

bildet den Stoff

einer Einrede ; doch vergiebt der Angeklagte sich nichts durch Unterlassung i h r e r E r h e b u n g ;

das Gericht

hat sie von Amtswegen

(nach

22 Alles dies fällt in das Gebiet einer Reihe von die mannigfaltigsten Fragen erfassenden Controversen. Sie sind hauptsächlich auf denVersuch v. S c h w a r z e s (Erörterungen u. s. w. I 41. 66 if., vgl. auch D o c h o w in HH I I 362 ff.; K e l l e r Bern 1 zu § 431) zurückzuführen, die Difformitäten zwischen Antragsberechtigung und Privatklage zu beseitigen und die offenbar entgegenstehenden Bestimmungen der StPO aus der Nichtbeachtung des inzwischen durch die Novelle vom J. 1876 herbeigeführten Umschwunges zu erklären; sie sind ausführlich erörtert Grünhut a. a. 0. Anm 58; zum Theil ist darauf noch unten zurückzukommen. Hier seien nur folgende Fragen erwähnt: 1. Inwiefern kann die Staatsanwaltschaft beim Rücktritt des Privatklägers die Strafverfolgung fortsetzen? Die Privatklage hat an dem Recht des Staatsanwalts nichts geändert, als dass auch dieser an die „Lage der Sache" (§ 417 Abs. 2) sich halten muss, aber nur bis zur „Rechtskraft des Urtheils" sich halten kann. So lange kein Urtheil ergangen ist, hat also die Staatsanwaltschaft freie Hand; ist ein Urtheil, lediglich in Folge des Rücktrittes des Privatklägers und daher auf Einstellung aus diesem Grunde lautend, ergangen, so kann die Staatsanwaltschaft noch bis zum Eintritt seiner Rechtskraft, aber nicht später, erklären, dass sie die Verfolgung übernehme, und die Verfolgung geht dann da weiter, wo sie der Rücktritt des Privatklägers zum Stillstand gebracht hat ; dabei wird natürlich vorausgesetzt, dass blos die Privatklage, nicht auch zulässigerweise der Strafantrag zurückgenommen ist, was aller Verhandlung ein Ende macht. — 2. Inwiefern können andere Privatkläger trotz des erfolgten Rücktrittes die Verfolgung fortsetzen? Dem Berechtigten, der sich dem schwebenden Prozess angeschlossen, steht nur die selbständige Fortsetzung in der Lage, in der er sich bei jenem Rücktritt befand, demjenigen aber, der sich noch nicht angeschlossen, aber noch antragsberechtigt ist, nur die Erhebung einer neuen Privatklage offen.

§ 65. Verbrauch der Straf klage.

75

der Formel des französischen Rechtes en tout état de cause et d'office) zu berücksichtigen, und sie kann, soweit die nöthigen Feststellungen vorliegen, auch noch im Revisionszuge geltend gemacht werden 2 3 . V I I I . Auch die n o c h n i c h t e n d g i l t i g e r l e d i g t e Strafklage bildet ein auf den durch sie herbeigeführten Verbrauch des Strafverfolgungsrechtes zurückzuführendes Hinderniss für die Erhebung einer neuen Strafklage. Wenn auch nicht die Berufung auf eine bereits ergangene rechtskräftige Entscheidung, so kann ihr doch die auf eine bereits a n h ä n g i g e S t r a f s a c h e (nach der Analogie der exceptio litis pendentis) entgegengesetzt werden. Es ist das nichts anderes als die Geltendmachung der aus der Natur der Sache fliessenden Forderung, dass nicht zwei Verhandlungen über dieselbe Strafsache neben einander gehen. Im allgemeinen folgt hieraus nur, dass nicht ein zweites Verfahren begonnen oder fortgesetzt werden darf, sobald erkannt wird, dass bereits eine Strafklage anhängig ist. 1. Ist die Identität der beiden Strafsachen erkannt, so bedarf es einer Auseinandersetzung zum Zwecke der Ordnung des weiteren Verfahrens. Dabei kann es sich zunächst um die V e r s c h i e d e n h e i t der A n k l ä g e r handeln. Ist eine Privatklage erhoben gewesen, so kann die P r i v a t k l a g e eines anderen nur auf den Beitritt zu dem eingeleiteten Verfahren verwiesen werden (§ 415 Abs. 2), und ebendies muss nach § 417 Abs. 2 geschehen, jedoch mit der Modalität, dass die Verfolgung auf die Staatsanwaltschaft und die Privatklage i n eine Nebenklage übergeht 2 4 . Wird entdeckt, dass eine öffentliche Klage den Gegenstand einer Privatklage vorweggenommen hat, so ist letztere ebenfalls nur nach Umwandlung in eine Nebenklage (§ 435) zulässig. 23

L ö w e Bern 32 vor § 151. Das RG E vom 22. Januar 1883 Rspr V 52 hebt ein Urtheil, als gegen den Grundsatz non bis in idem verstossend, in diesem Umfange auf und spricht „in Nachgehung (1er insoweit analog anzuwendenden Vorschrift des § 394" aus, „dass die bezügliche Strafverfolgung eine unzulässige war". Ob die Hauptverhandlung mit einem hierdurch begründeten freisprechenden Urtheil abzuschliessen habe, oder ob eine besondere Urtheilsformel anzuwenden sei, ist bei der Lehre vom Urtheil zu besprechen. 24 Der gleichen Ans. L ö w e Bern 3 zu § 415 ; s. dag. RG E vom 25. Februar 1881 Rspr I I I 74; hier wird angenommen, (lass, wenn wegen einer und derselben mehrere Personen beleidigenden Aeusserung einer der Beleidigten Privatklage erhoben hat, hierauf aber die Staatsanwaltschaft, gestützt auf den Antrag eines anderen Beleidigten, die öffentliche Klage erhebt, die letztere als vorläufig unzulässig zurückzuweisen sei, oder doch das Verfahren über dieselbe so lange zu ruhen habe, bis sich zeige, ob das Verfahren die Verfolgbarkeit der Handlung endgiltig abschneide. Allerdings war das RG E nur gegen ein Urtheil gerichtet, welches die öffentliche Klage, statt sie auf den Weg zu weisen, den § 417 Abs. 2 vorzeichnet, endgiltig abwies. S. auch K e l l e r Bern 5 zu § 415.

76

§ 66. Gegenseitige Beziehungen mehrerer Strafsachen.

2. Die nächste Frage wird sein, welches Gericht für die e i n e , wenngleich mehrfach angebrachte Strafsache zuständig sei. Wichtiger noch als die Zuständigkeit des Gerichtes ist der S t a n d d e r z w e i , sei es bei verschiedenen oder bei demselben Gerichte schwebenden V e r h a n d l u n g e n . Jene ist nur ausschlaggebend, so lange sich beide im Stadium des Vorverfahrens befinden; ist in e i n e r derselben die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtskräftig oder doch unanfechtbar beschlossen, so muss die Hauptverhandlung auf Grund dieses Beschlusses und von dem durch denselben bestimmten Gerichte — unter Berücksichtigung der Ergebnisse der zweiten Verhandlung, mit welcher nun innezuhalten ist — abgehalten werden. Sind zwei Eröffnungsbeschlüsse ergangen, so ist m. E. zunächst die Zuständigkeitsfrage auszutragen und der Beschluss des zuständigen Gerichtes dem weiteren Verfahren zu Grunde zu legen; wo dies nicht den Ausschlag geben kann, ist der Beschluss, welcher das Gericht von umfassenderer Zuständigkeit anruft, maassgebend ; wo auch dieses Merkmal versagt, bleibt wohl nichts übrig, als dass der spätere Beschluss unausgeführt bleibt. Ist in einer der Verhandlungen ein Urtheil ergangen, so ist abzuwarten, ob es in Rechtskraft erwächst oder eine Modification erfährt, welche zu einer Abweisung der ersten Strafklage angebrachtermaassen führt: nur unter letzterer Voraussetzung ist für die zweite Straf klage noch Raum ; wird das Urtheil rechtskräftig, so geht die exceptio litis pendentis in die exceptio rei judicatae über; aber selbst wenn in Folge des Rechtsmittels die Sache in das Stadium der Hauptverhandlung zurückversetzt wird, ist die Beziehung zu dem ergangenen Urtheil nicht mehr zu lösen, weil bei der wiederholten Hauptverhandlung die reformatio in pejus vermieden werden muss. Sind endlich sogar zwei Urtheile ergangen und bietet auch nicht ein späteres Rechtsmittelverfahren eine Möglichkeit, das non bis in idem zur Geltung zu bringen, dann wird das über die Vollstreckung (nach der Analogie der für die Auslegung eines Strafurtheils in § 490 ertheilten Vorschrift) beschliessende Gericht nur das dem Angeklagten günstigere der beiden rechtskräftigen Urtheile als vollstreckbar anerkennen. §66.

Gegensei tige Beziehungen mehrerer

Strafsachen 1.

I. Die Natur der Dinge fordert die S e l b s t ä n d i g k e i t der einzelnen Strafsachen. Die nächstliegende gegenseitige Beziehung zweier 1 Zur Ergänzung verweise ich auf meine Abhandl. im GS 1885 S 81 fF. — Literatur : M a r t i n §§ 24—26. 38b. B a u e r §§ 66. 67. M i t t e r m a i e r , Strafv. § 5 8 . H e n k e , Handb. IV § 28. M ü l l e r § 59. P l a n c k , Mehrheit der Rechts-

§ 66.

Gegenseitige Beziehungen mehrerer Strafsachen.

Strafsachen ist daher die des Z u s a m m e η s t o s s e s, der gegenseitigen Benachtheiligung (Collision), insoferne mehrere gleichzeitig die Thätigkeit derselben Strafbehörden oder dieselben Prozessmittel in Anspruch nehmen. Es kann ferner geschehen, dass bei Anbringung einer Strafklage oder im Verlaufe der Verhandlung über sie irgend ein Zusammenhang mit dem wirklichen oder möglichen Gegenstande einer anderen hervortritt. Eine Thatsache dieser Art kann zunächst einmal den Gegenstand eines Z w i s c h e n f a l l e s (res seu quaestio incidens) der Verhandlung über eine Strafsache bilden, eine I n c i d e n t s a c h e , oder es kann die Verhandlung und Entscheidung über jene die der letzteren erleichtern ( p r ä p a r a t o r i s c h e Sache) oder gar b e d i n g e n ( P r ä j u d i c i a l sache). Allein dies ändert nichts daran, dass sie, soweit sie Strafsache ist, d. h. auf die Verurtheilung einer bestimmten Person wegen dieser Handlung hinauslaufen soll, selbständig anhängig gemacht, verhandelt und entschieden werden muss. Aber trotz aller Selbständigkeit zweier Strafsachen kann zwischen ihnen eine Gemeinsamkeit, ein Zusammenhang ( C o n n e x i t ä t , continentia s. connexitas causarum) bestehen. Ein ä u s s e r l i c h e r ist Streitigkeiten S 94 if. 157 ff. 374 ff. 421 ff.; ders., Syst. Darst. §§ 35. 207. 208. Z a c h a r i a e , Gründl. S 54; ders., Handb. §§ 56. 82. 83. H e f f t e r , Lehrb. § 576. W a l t h e r , Bayer. StP §§ 36. 37. D o l i m a n n , Syst. § 37; ders., Commentar S 145 ff. L ö w e , Preuss. StP § 22. O p p e n h o f f zu Art. 3 preuss. Ges v. 1852. S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO v. 1855 Art. 53 ff. W u r t h zu §§ 63. 70. 232 ö. StPO v. 1850. R u l f zu §§ 40 ff. ö. StPO v. 1853. H y e , Leitende Grunds. S 134. — K l e i n s c h r o d , Peinliche Gerichtsbarkeit und Gerichtsstand. Frankfurt a. M. 1812. S 147. B e c k , Bemerk, über, den Criminalgerichtsstand im Königr. Sachsen. Leipzig 1842. S 21 ff. (zu §§ 5. 6 der sächs. V v. 7. Febr. 1820). K r u g , Ueber die prozessuale Behandlung von concurrirenden Verbrechen, Neue J f. sächs. StR V I I I Heft 2 (vgl. S c h w a r z e a.a.O.). — ΝΑ X 134 ( S p a n g e n b e r g ) , ANF 1834 S 267 ( M i t t e r m a i e r ) , S 390 ff. ( H e f f t e r ) , 1854 S 554 ( G e r a u ) . Ζ f. d. Strafverf. NF I 61 ( H e p p ) , S 343 (Low). Ζ f. . . . Bayern I I 377 ( S t e n g e l ) . GA 1864 S 672. v. B a r , Magaz. für hannöv. Recht 1862 S 332 ff. Ort l o ff, StRZ 1872 S 199; ders., GS 1874 S 369 ff. — Commentare und Motive zu §§ 2—5 u. 13 der d. und §§ 55—58 ö. StPO. G e y e r , Lehrb. §§ 83—85. 118. 119. U l i m a n n §47; ders. in HH I 145. 158. R u l f , Oesterr. StP § 33. B i n d i n g , Grundr. d. StP §§ 33. 66. V o i t u s , Controversen I 61. O r t l o f f , GA 1880 S 206. v. W a s e r , Allg. ö. GZ 1881 Nr 103. V a r g h a , StPR § 26; GA 1884 S 59 ff. — J. F. and H. S t e p h e n , Digest of the L. of crim. proc. Art. 237—243. G l a s e r , Anklage u. s. w. im englischen Schwurgericht S 74—173. 203 ff. — Art. 226. 227. 307 Code d'Instruction crim. H é l i e , Instr. Nr 2353—2384; ders., Pratique I Nr 572-574. D a l l o z , Répert. verbo Instruction crim. Nr 1350. 1654. M an g i n , Instruction écrite I I Nr 205 ff. R o l l a n d ausser bei den ang. Art. noch Art. 242 Nr 14. — B or s a r i , Azione penale Nr439. Codice italiano di procedura penale Art. 19—22. 26—28. 45. 433. 473. 474; dazu M e l S 36. 53. 268. 289; B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 351—372 vol. I ρ 407 ff.; C r i v e l l a r ! in der Riv. pen. X I I I 327 ff.

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der Zusammenhang immer, wenn er lediglich auf der Persönlichkeit des Beschuldigten, auf einer Mehrheit von Strafklagen wieder dieselbe Person (persönliche, s u b j e c t i ve Connexität) beruht, ein i n n e r l i c h e r , sachlicher ( o b j e c t i v e Connexität), wenn er auf Berührungen, welche strafbare Handlungen, zumal die verschiedener Personen, mit einander haben, beruht. Das letztere tritt am häufigsten dann ein, wenn ein Zusammenwirken mehrerer Personen zu einem in juristischer Hinsicht als einheitlich anzusehenden Verbrechen stattgefunden haben soll, und es kann dies auch einen m i t t e l b a r e n Zusammenhang mehrerer Strafsachen dadurch herstellen, dass ein der gemeinsamen strafbaren Handlung Beschuldigter noch anderer strafbaren Handlungen beschuldigt wird, die er allein, oder die er in Gemeinschaft mit anderen Personen begangen haben soll. Dass die Verhandlung zweier Strafsachen verbunden werden kann, ist auch dann nicht unbedingt selbstverständlich, wenn für beide dasselbe Gericht und dasselbe Verfahren eintritt, weil dies auch dann noch mehrfache Aenderungen des Ganges des Verfahrens, der Stellung der Betheiligten u. s. w. zur Folge haben kann. Es ist daher nicht unwichtig, dass § 236 d. StPO ausdrücklich ausspricht, dass das für die Hauptverhandlung berufene Gericht „im Falle eines Zusammenhanges zwischen mehreren bei ihm anhängigen Strafsachen die Verbindung derselben zum Zwecke gleichzeitiger Verhandlung anordnen" kann (vgl. auch § 471 Abs. 2). Die Wirkung aber, dass nicht blos eine einheitliche Verhandlung zulässig wird, sondern dass, um dieselbe möglich zu machen, von dem, was über die Zuständigkeit und die Verfahrensart für einzelne Strafsachen zu gelten hätte, abgewichen wird, ist auf die Fälle beschränkt, denen das Gesetz sie ausdrücklich beimisst. I n diesem Sinne ist im § 3 eine Begriffsbestimmung des Zusammenhanges gegeben, welche es nicht gestattet, dass auf von ihr nicht umfasste Fälle die gedachte Wirkung ausgedehnt werde. Demgemäss wird der Zusammenhang im technischen Sinne nur hergestellt: 1. „wenn eine Person mehrerer strafbaren Handlungen beschuldigt wird" ( s u b j e c t i v e Connexität), d. h. bei der Behauptung des Vorhandenseins der R e a l e o n c u r r e n z ; 2. „wenn bei einer strafbaren Handlung mehrere Personen als Thäter, Theilnehmer, Begünstiger oder Hehler beschuldigt werden" ( o b j e c t i v e Connexität). Es zeigt sich aus dieser Fassung, dass es einerseits auf die technische Einheit des Verbrechens (Mitwirkung mehrerer zu demselben Verbrechen) nicht ankommt, andererseits die d. StPO ganz darauf verzichtet hat, hier zwischen accessorischer und

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principaler Schuld in der Weise zu unterscheiden, dass Verfahren und Gerichtsbarkeit für den Thäter auch für die übrigen maassgebend würden. 3. Aus der Verbindung der beiden vorstehenden Bestimmungen ergiebt sich aber, dass in Folge der Betheiligung mehrerer an verschiedenen der zusammenhängenden Strafsachen beide Arten des Zusammenhanges Strafsachen in m i t t e l b a r e Verbindung setzen können. (A hat ein Verbrechen I mit Β und C — Β ein anderes I I mit D und E begangen; für die Strafsachen des Β wegen I und I I besteht hier subjectiver, für die Strafsachen des A wegen I und des Β wegen I objectiver Zusammenhang: dadurch sind aber die Strafsachen des C wegen I , des D und E wegen I I in mittelbaren Zusammenhang gebracht.) I I . Das System, welches die StPO bezüglich der Behandlung zusammentreffender Strafsachen aufstellt, lässt sich so charakterisiren, dass der Zusammenhang nur die Möglichkeit einheitlicher Verhandlung eröffnet ; es bedarf daher eines positiven Schrittes, um diese Möglichkeit zu verwirklichen, sonst bleibt es bei der getrennten Verhandlung. Man muss unterscheiden: A. Mehrere zusammenhängende Strafsachen gehören vor d a s s e l b e G e r i c h t . Für das Vorverfahren kann man als unbedenklich bezeichnen, dass die Staatsanwaltschaft durch die gleichzeitige oder bei der successiven Erhebung der verschiedenen Strafklagen die Verbindung der Strafsachen beantragen kann, und dass das Gericht darüber nach seinem Ermessen sowohl bei dieser Gelegenheit, als auch später, wenn ihm Verbindung getrennter oder Trennung verbundener Strafsachen zweckmässig scheint, entscheidet 2 . Selbst wenn bezüglich einzelner Sachen das Hauptverfahren eröffnet ist, kann das nach § 236 berufene (das e r k e n n e n d e ) Gericht die Verbindung oder deren Anbahnung beschliessen, letztere durch Aussetzung der Hauptverhandlung bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bezüglich der übrigen Strafsachen ; eben darum hat das diese beschliessende Gericht in solchem Falle nicht mehr über die Verbindung zu entscheiden. Sind die Sachen bereits an verschiedene, als erkennende Gerichte wirkende, von einander unabhängige Abtheilungen des Gerichtes gelangt, so muss m. E. nach denselben Grundsätzen vorgegangen werden, welche zu gelten hätten, wenn die erwähnten Collégien v e r s c h i e d e n e n Gerichten angehörten. 2

Selbst eines Gerichtsbeschlusses bedarf es nicht immer: RG E vom 15. Dec. 1883 Entsch X 10.

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B. Gehören die Strafsachen einzeln vor mehrere Gerichte von u n g l e i c h e r s a c h l i c h e r Z u s t ä n d i g k e i t , dann soll nach §§ 2 und 4 so unterschieden werden: 1. Alle Sachen werden erst anhängig gemacht: hier kann sich die Staatsanwaltschaft unmittelbar an dasjenige unter den Gerichten, vor welche die einzelnen Strafsachen gehören, wenden, welchem „die höhere Zuständigkeit beiwohnt". Das gleiche g i l t , wenn bei diesem bereits eine Sache anhängig ist, und daselbst eine andere, wenn auch an sich vor ein Gericht niederer Ordnung gehörige, anhängig gemacht wird. Es kommt hier auf die ö r t l i c h e Beziehung der Gerichte zu einander gar nicht an; das Gericht höherer Ordnung kann die Sache bei sich anhängig machen lassen, auch wenn sie an sich vor ein Gericht gehört, das nicht seinem Bezirke, ja das einem andern Bundeslande oder Oberlandesgericht angehört. Ebenso kann es später die Verbindung auflösen, d. i. die Trennung beschliessen, ohne sich mit dem Gericht, an das es dadurch die Sache verweist, ins Einvernehmen zu setzen. Gericht höherer Ordnung aber ist das Landgericht gegenüber dem Schöffengericht, das S c h w u r g e r i c h t gegenüber der e r k e n n e n d e n Strafkammer (über das Reichsgericht s. unten). 2. Einzelne Sachen sind bereits anderswo als bei dem Gerichte höherer Ordnung a n h ä n g i g und zwar in der Weise, dass schon „die Eröffnung der Untersuchung" erfolgt ist: hier liegt die Entscheidung über Verbindung und Trennung bei dem Gericht höherer Ordnung, wenn „die übrigen Gerichte sämmtlich zu seinem Bezirke gehören" : d. h. (abgesehen vom Reichsgericht) wenn es sich um Amtsgerichte desselben Landgerichts- oder um Landgerichte desselben Schwurgerichtsbezirkes handelt, hat das Landgericht oder das gemeinsame Schwurgericht zu entscheiden. Ist dies nicht der Fall, dann kommt (sofern nicht die Bestimmungen des § 13 anzuwenden sind) die Beschlussfassung über Trennung und Verbindung dem „gemeinschaftlichen oberen Gericht" zu, d. h. also dem Oberlandesgerichte, und wenn die Gerichte unter verschiedenen Oberlandesgerichten stehen, dem Reichsgericht. Das Gericht, welches zu einem der Gerichte niederer Ordnung nur in dem Verhältniss steht, dass es über die in dessen Gebiet fallenden, vor ein Gericht höherer Ordnung gehörigen Sachen zu verhandeln h ä t t e , hat mit der ganzen Frage gar nichts zu t h u n 3 . 3

D. h. das Landgericht A kann für eine vor die Strafkammer des Landgerichts Β gehörige Sache nicht darum zuständig werden, weil eine der zusammenhängenden

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C. Die Sachen gehören aus Gründen ö r t l i c h e r Z u s t ä n d i g k e i t einzeln vor verschiedene Gerichte. Das Gesetz hat diese Fälle im § 13 behandelt. 1. Der dort ausdrücklich und vorzugsweise behandelte Fall ist der, wo die zusammenhängenden Sachen bei verschiedenen Gerichten bereits anhängig gemacht worden sind. Hier kann die Verbindung aller oder einzelner derselben zu e i n e r Verhandlung bei e i n e m Gerichte auf zweifache Art bewirkt werden: a. „durch eine den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprechende Vereinbarung dieser Gerichte" (§ 13 Abs. 2 Satz 1). Die Erwähnung der „ A n t r ä g e der Staatsanwaltschaft" bewirkt, dass die Vereinbarung im Sinne des Gesetzes nicht zu Stande gekommen ist, wenn eine der Staatsanwaltschaften einen ihr widerstrebenden Antrag stellt; aber das schliesst nicht aus, dass der erste Anstoss zur Einleitung der Vereinbarung von einem der berufenen Gerichte, sei es aus dessen eigener Bewegung, sei es auf Antrag des Beschuldigten oder irgend eines Betheiligten, gegeben werden kann. Natürlich hat die Verhandlung ein Ende, sobald ein nicht zu hebender Widerspruch eines der Gerichte oder einer Staatsanwaltschaft hervortritt. Was die zur Vereinbarung berufenen Gerichte betrifft, so sind es diejenigen, bei welchen eine der zu verbindenden Sachen anhängig ist; die nicht unmittelbar, sondern nur eventuell in Betracht kommenden, über einzelnen der Gerichte als für deren Gebiet bestimmte Gerichte höherer Ordnung stehenden Gerichte gehören nicht dazu 4 . b. „Kommt eine solche Vereinbarung nicht zu Stande, so entscheidet, wenn die Staatsanwaltschaft oder ein Angeschuldigter darauf anträgt, das gemeinschaftliche obere Gericht darüber, ob und bei welchem Gerichte die Verbindung einzutreten habe." (§ 13 Abs. 2 Satz 2.) Das „gemeinschaftliche obere Gericht" ist das Landgericht für die Schöffengerichte, das Oberlandesgericht für alle Gerichte seines Bezirkes, sonst das Reichsgericht. Ohne Frage schrumpfen hier die Befugnisse einiger zur Einwirkung auf die Vereinbarung Berufenen ein. Zunächst Strafsachen vor ein Schöffengericht des Landgerichtsbezirkes A gehört. Analog ist es meines Erachtens zu halten, wenn bei einem Gerichte eine Stratkammersache, bei einem andern eine Schwurgerichtssache anhängig ist; die Schwurgerichtssache kann nicht an ersteres gebracht werden. 4 D. h. wenn eine Sache beim Schöffengericht Z, das zum Bezirk des Landgerichts Y gehört, und eine andere, schwurgerichtliche Strafsache beim Landgericht X anhängig ist, so ist mit dem Landgericht Y weder zu verhandeln, noch können die Strafsachen bei ihm, als dem für Schwurgerichtssachen des Gerichtsbezirkes Ζ berufenen Gerichte, verbunden werden. Binding, Handbuch. IX. 4. I i : G l a s e r , Strafprozess. I I .

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sind es die Gerichte, welche mit dem negativen Ergebniss des Vereinbarungsversuchs sich zufrieden stellen müssen, eine höhere Entscheidung nicht herbeiführen können, dann aber auch alle andern Betheiligten ausser der Staatsanwaltschaft und dem Angeschuldigten. Diese beiden können aber auf die höhere Entscheidung antragen, sobald klar ist, dass die „Vereinbarung" nicht erfolgt, also meines Erachtens auch dann, wenn das erste Gericht, an welches, gleichviel von welcher Seite, der Antrag, die Vereinbarung einzuleiten, gestellt wurde, diesen Antrag abgelehnt hat. 2. Wenn die sämmtlichen zusammenhängenden Strafsachen erst dadurch anhängig werden, dass die Staatsanwaltschaft bei einem der Gerichte, bei welchem nach § 13 Abs. 1 für sie „ein Gerichtsstand begründet" ist, bezüglich aller die Straf klage erhebt und dadurch den Antrag auf vereinte Behandlung stellt, oder wenn bei dem Gericht, welches mit einer oder mehreren Straf klagen bereits befasst ist, eine neue, bezüglich einer noch nicht anhängigen Strafsache, mit dem gleichen Antrage erhoben wird, so genügt dies, um alle diese Strafsachen bei dem so angegangenen Gericht anhängig zu machen. Ganz ohne Einfluss bleiben hier die Gerichte, bei welchen noch keine Strafsache anhängig ist, denen also durch die Verbindung nichts genommen wird, was bereits in ihren Händen liegt. Das gleiche gilt von der bei diesen bestellten Staatsanwaltschaft. Die anderen Betheiligten aber, namentlich das angerufene Gericht und der Angeschuldigte, sind nur scheinbar in ihrem Einfluss verkürzt; denn sie können ihre Interessen und Ansichten nahezu im gleichen Maasse kraft jener Bestimmungen zur Geltung bringen, welche die T r e n n u n g der verbundenen Sachen betreffen. 3. „ I n gleicher Weise", sagt Abs. 3 des § 13, welcher eben vermöge dieser Stellung auf den ganzen Abs. 2 sich bezieht, „kann die Verbindung wieder aufgehoben werden." Daher kann das angerufene Gericht und jeder, der berechtigt ist, bei diesem einen Antrag zu stellen, jederzeit die Trennungsfrage zur Sprache bringen; Staatsanwalt und Angeschuldigter aber — gleichviel ob sie früher die Verbindung bewirkt oder ihr zugestimmt haben oder nicht — können schon auf Grund der Ablehnung ihres Antrages auf Aufhebung der Verbindung, da eine der Vorschrift des Abs. 2 entsprechende Vereinbarung sonach nicht zu Stande kommt, die Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichtes darüber herbeifuhren 6 . Die Verein5

Dass hierüber vielfach die Ansichten auseinandergehen, darüber s. G l a s e r a. a. 0. Anm 33.

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barungsverhandlung über die Trennung muss sich übrigens nach denselben Grundsätzen richten, wie die über die Verbindung; nur ist auch der geänderten Lage Rechnung zu tragen: bei der Verbindung ist die Vereinbarung nothwendig, wenn und soweit einem Gerichte eine bei ihm anhängige Strafsache entzogen (beziehungsweise sie von ihm abgegeben) oder eine noch nicht anhängige zugewiesen werden soll; die Verhandlung über die Trennung ist dagegen nur zwischen denjenigen Gerichten zu führen, welche d a b e i eine Strafsache abgeben oder übernehmen sollen. I I I . Gross sind die Unterschiede, welche zwischen den vorstehend dargestellten zwei Hauptarten der Verbindung und Trennung von Straffällen bestehen, nämlich zwischen dem, was in den §§ 2 ff. und was im § 13 angeordnet ist. Je wichtiger es demnach ist, die beiden Gebiete auseinanderzuhalten, desto schwieriger ist dies, da sich nicht verkennen lässt, dass § 4 auch Fälle umfasst, wo die sachliche Zuständigkeit nicht allein die Verschiedenheit begründet, und kaum denkbar ist, dass § 13 nur für Fälle gelten soll, wo bezüglich der sachlichen Zuständigkeit keine Verschiedenheit obwaltet. Meines Erachtens ist das Verhältniss folgendes: Die §§ 2 ff. sind allein anzuwenden, wenn das Gericht, dem die höhere Zuständigkeit beiwohnt, n u r Gerichten von geringerer Zuständigkeit gegenübersteht. Dagegen ist § 13 allein maassgebend, wenn unter den Gerichten, bei deren jedem nach § 13 ein Gerichtsstand begründet ist, keines ist, welches in Bezug auf sachliche Zuständigkeit a l l e andern überragt. Natürlich darf aber der Grundsatz, welcher in §§ 2 ff. seine Anwendung gefunden hat, nicht durch Anwendung des § 13 beeinträchtigt werden: der Grundsatz, dass die Vereinigung der Verhandlungen über Sachen, welche vor Gerichte von verschiedener sachlicher Zuständigkeit gehören, nur in der Hand eines Gerichtes, dem die höhere Zuständigkeit beiwohnt, erfolgen kann. Wenn § 13 bestimmt, dass die zusammenhängenden Strafsachen „bei einem unter diesen" (d. i. den im Abs. 1 erwähnten) Gerichten verbunden werden können, so erleidet dies jedenfalls die Beschränkung, dass dies nur bei einem solchen Gerichte geschehen kann, welchem die nöthige sachliche Zuständigkeit beiwohnt. Andererseits kann nur bei „einem unter diesen" die Verbindung stattfinden, d. h. die Sache kann nur an eines der Gerichte gebracht werden, bei welchen bereits ein Gerichtsstand begründet ist, nicht aber an ein in sachlicher Hinsicht über eines der letzteren gestelltes, aber an sich zur Verhandlung nicht berufenes 6 . 6

Wenn also die drei Strafsachen I, I I und I I I zusammentreffen, und für 6*

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IV. Z w i s c h e n w e l c h e n G e r i c h t e n bestehen die vorstehend dargelegten Wechselbeziehungen? 1. I n erster Linie ist hier zu erörtern, ob zwischen den ordentlichen Gerichten und besonderen Gerichten die Bestimmungen über die Behandlung zusammenhängender Strafsachen in Betracht kommen? Diese Frage ist grundsätzlich zu v e r n e i n e n . 2. S c h w u r g e r i c h t e , vor welche Strafsachen vermöge der im § 6 EGVG enthaltenen Ausnahmsbestimmung gehören, bleiben darum doch ordentliche Gerichte, welchen gegenüber den Strafkammern und Schöffengerichten die höhere Zuständigkeit beiwohnt. Sie ziehen daher Strafsachen geringerer Ordnung auch aus Gebieten an sich, für welche jene Bestimmung keine Geltung hat, also auch Presssachen, welche dort nur vor die Strafkammer gehören; wenn ferner das Gericht eines Landes, wo die Pressjury besteht, vermöge des Zusammenhanges mit einer Presssache befasst wird, welche ausserhalb dieses Landes an die Strafkammer gehören würde, so begründet dieselbe trotzdem die Zuständigkeit des Schwurgerichtes. Ist aber in einem Gebiet, auf das jene Ausnahmsbestimmung sich nicht bezieht, eine Presssache als Strafkammersache anhängig und entsteht ein Zusammenhang mit einer Strafkammersache eines Gebietes, auf welches jene Anwendung findet, so kann die erst durch die Hereinziehung in letzteres zu begründende Zuständigkeit des Schwurgerichtes nicht für diese Hereinziehung den Ausschlag im Sinne des § 2 StPO geben: die beiden Strafsachen stehen einander als vor Gerichte gleicher Art gehörig gegenüber. 3. Auch das R e i c h s g e r i c h t ist, und zwar ebenso wohl als erste wie als Rechtsmittel-Instanz, ein ordentliches Gericht ( § 1 2 GVG), und zwar ein solches, dessen sachliche Zuständigkeit die aller anderen überschreitet (§§ 264. 270) 7 . V. Nunmehr sind einige besondere Verhältnisse in Bezug auf den Einfluss, den sie etwa auf die Anwendung der unter I I dargestellten Grundsätze üben können, zu besprechen: 1. Wie w e i t übt der Umstand Einfluss, dass ein P r i v a t k l ä g e r einschreitet? Das Gesetz hat nur e i n e n beschränkenden Ausspruch I die Strafkammer des Landgerichtes A, für I I die des Landgerichts B, für I I I das zum Landgerichte C gehörige Schöffengericht D zunächst zuständig ist, so kann die Verbindung nur bei den Landgerichten A oder Β stattfinden, nicht aber beim Schöffengericht D, weil .diesem die erforderliche höhere Zuständigkeit nicht beiwohnt, und nicht bei dem Landgericht C, weil bei diesem für keine der zusammenhängenden Strafsachen „ein Gerichtsstand begründet" ist. Vgl. GS a. a. 0. Anm 35. 7 Vgl. über die hieran sich knüpfende Kontroverse GS a. a. 0. Anm 38.

§ 66. Gegenseitige Beziehungen mehrerer Strafsachen.

gethan: nach § 424 Abs. 2 kann vor dem Schwurgericht eine Privatklage nicht gleichzeitig mit einer öffentlichen Klage verhandelt werden. Handelt es sich um die Verbindung oder Trennung von Strafsachen, bei welchen verschiedene Privatkläger einschreiten, so müssen alle gehört, und soweit es sonst eines Einverständnisses der Staatsanwaltschaft bedürfte, auch alle einverstanden sein. Besteht ein Zusammenhang im Sinne des § 3 zwischen den Gegenständen einer öffentlichen und einer Privat-Klage, so kann derjenige, welcher die spätere Klage erhebt, diese bei dem mit der früheren Klage befassten Gerichte anbringen und dadurch die Verbindung nach § 2 Abs. 1 und nach § 13 Abs. 1 herstellen; sonst kann sowohl die Staatsanwaltschaft als der Privatkläger die Verbindung und Trennung anregen und bedarf es, wo Einverständniss nöthig ist, auch des Einverständnisses des oder der Privatkläger. 2. Welchen Einfluss übt der jeweilige Stand der zusammenhängenden Strafsachen? Das Prozessstadium ist nie ein absolutes Hinderniss der Verbindung der Strafsachen; nur muss daran festgehalten werden, dass die Verbindung nicht das Mittel sein kann, das, was bezüglich einer Strafsache schon vollbracht ist (Beschluss über Eröffnung des Hauptverfahrens, Urtheil erster Instanz) rückgängig zu machen ; ist also eine der zu verbindenden Strafsachen im Rückstände, so kann eine vereinte Verhandlung nur dadurch herbeigeführt werden, dass mit den anderen innegehalten wird, bis jene sie eingeholt hat. Ganz undenkbar wäre es dagegen, etwa eine schon in die Hauptverhandlung gediehene Sache durch Verbindung mit einer anderen in die Voruntersuchung, oder eine in erster Instanz entschiedene Sache aus der Rechtsmittelinstanz zu einer weiteren Hauptverhandlung erster Instanz (ohne sonstige Gründe zur Aufhebung des Urtheils) zurückzuverweisen. 3. Welchen Einfluss übt der W e g f a l l d e s G r u n d e s der Verbindung der Strafsachen bei einem bestimmten Gericht? Dieser Wegfall kann eine zweifache Ursache haben : a. Die Strafsache, auf welcher jene beruhte, wird durch Tod, Rücktritt oder andere Gründe der Einstellung des Verfahrens endgiltig erledigt, während die anderen Sachen noch in der Schwebe sind. I n diesem Falle ist das mit dem Complex befasste Gericht das für alle von diesem umfasste Sachen zuständige geworden, und der Wegfall einer Strafsache entkleidet dasselbe dieser Zuständigkeit nicht ipso jure. b. Es kann sich zeigen, dass einer Strafsache ein ungebührlicher Einfluss auf die Begründung der Zuständigkeit eingeräumt wurde: es wurde mit Unrecht angenommen, dass sie vor ein Strafgericht

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Gegenseitige Beziehungen mehrerer Strafsachen.

höherer Ordnung gehört, oder dass für sie bei dem Gericht, bei welchem die vereinigte Verhandlung schwebt, einer der in den §§ 7—11 erwähnten Gerichtsstände begründet sei. I n solchen Fällen sind die Grundsätze über die Geltendmachung, Berücksichtigung und Heilung der örtlichen und sachlichen Nichtzuständigkeit genau so anzuwenden, wie wenn es sich nur um eine vereinzelte Strafsache handelte. Natürlich wird das Gericht sich nur für e i n e Sache unzuständig erklären, wenn die Unzuständigkeit für die eine nicht die für alle anderen zur Folge hat. V I . W i r k u n g d e r V e r b i n d u n g : Bezüglich aller zusammenhängenden Strafsachen wird nur e i η Strafprozess geführt, in welchem allen Angeschuldigten principiell die gleiche Stellung, allen zusammentreffenden Strafsachen die gleiche Behandlung zukommt. Wenn nur bezüglich einer der demselben Angeklagten zur Last fallenden strafbaren Handlungen die Veitheidigung eine nothwendige ist, ist sie es für alle. — Mittheilungen, welche dem Angeklagten zum Zwecke seiner Vertheidigung zu machen sind, sollen in der Regel den ganzen Verhandlungsstoff umfassen ; ja der Angeklagte hat ein Recht auf Einsicht in die Akten aller verbundenen Strafsachen und Mitwirkung während der ganzen Verhandlung. Ueber den Einfluss auf das Recht der Zeugnissverweigerung s. Band I § 48 I I Nr 2 c. Die W i r k u n g d e r W i e d e r a u f h e b u n g der Verbindung besteht darin, dass jede losgelöste Strafsache in Bezug auf die Zuständigkeit (s. jedoch oben V Nr 3) und Verfahrensart wieder unter die ihrer eigenen Beschaffenheit entsprechenden Regeln fällt, immer aber mit Festhaltung des Grundsatzes, dass die Trennung dasjenige, was während der Verbindung rechtmässig geschehen ist, nicht rückgängig machen kann. Insbesondere richtet sich daher das Rechtsmittelverfahren nach der Beschaffenheit des Urtheils, welches über die etwa allein noch für die Rechtsmittelinstanz in Frage kommende Strafsache erging, nicht aber nach dem der letzteren an sich zukommenden Verfahren. § 67.

Beziehungen zwischen Straf- und anderen Rechtssachen1.

I. Schon aus dem oben § 62 gesagten ergiebt sich die enge Beziehung, welche zwischen den Gegenständen eines bestimmten Straf1

Literatur: S t ü b e l , Criminalverf. §§ 1324 ff. M a r t i n §§ 27. 38 b. B a u e r §§ 68.69. A b e g g , Lehrb. § 6 Anm 3. Z a c h a r i a e , Gründl. §§ 66-69. M ü l l e r § 59 Anm 9—15, § 88 Anm 5, §§ 91. 245 ff. H e f f t e r , Lehrb. § 576. H e n k e , Handb. I V § 29. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren §§ 7—10. P l a n c k , Syst. Darst.

§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

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und eines bestimmten Civilprozesses bestehen kann; mit Recht ist übrigens bemerkt worden 2 , dass der gleiche Zusammenhang auch bei §§ 58. 153. 209. Z a c h a r i a e , Handb. §§ 84—86. Oest. StGB v. 1803 §§ 514 ff. J e n u l l IV 240 ff. StPO v. 1850 u. 1853 § 4 und die Commentare dazu. v. H y e G l u n e k , Leitende Grunds. S 90 ff. H e r b s t , Einl. 2. Hptst. H. Bayer. StG v. 1813 Thl. I I Art. 6—10. W a l t h e r , Bayer. StPR § 3. D o l l m a n n , Commentar S 33. 42; ders., Syst. des bayer. StPR §§3. 81—84. L ö w e , Preuss. StP §§31.32. v. S t e ma η η, Preuss. Strafverf. § 13. O p p e n h o f f , Bern 73 ff. zu § 22 preuss. V v. 1849. v. S c h w a r z e , Comm. zur sächs. StPO v. 1855 I I 247, bes. bei Art. 449. H o l z i n g e r I 120 ff. A mm an η zu § 5 bad. StPO v. 1864 (vgl. den Bericht W e l c k e r s z. EStPO v. 1845 zu § 4). E b m e i e r zu §§ 8—10 preuss. StPO v. 1867. — J. H. B o e h m e r , De except, praejudiciali ejusque in criminalibus usu. Halae 1739. M e j e r , De civilis et criminalis causae praejudicio. Hannov. 1841. M ü l l e r , De civilis et criminalis causae praejudicio. Amstel. 1842. P l a n c k , Mehrheit der Rechtsstreitigk. S 239 ff. 516 ff. B r u c k , Ueber die präjudicielle Wirkung des rechtskräftigen Criminalurtheils auf die connexe Civilsache. Berlin 1875 (s. darüber M a y e r in Grünhut I I I 367). Prof. H. O r t lo ff, Der Adhäsionsprozess. Leipzig 1864, bes. S 90 ff. I v l e i n s c h r o d , NA I I 257. — ANF 1840 S 395, 1844 S 321 ( M e j e r ) , 1852 S 342 (Schwarze). GS 1852 I I S 500 und 1853 I S 135 ( M e r e k e l ) , 1870 S 124. 321 ff. ( Z i m m e r m a n n ) , 1872 S 67 ff. ( S c h w a r z e ) . — GA 1855 S 516 ( K ü s s n e r ) , S 577 ( A b e g g ) , 1857 S 344 ff., das. S 745 (uneheliches Kind), 1867 S 376. 433 ( A b e g g , Verhältniss des Strafrichters zu der vom Civilrichter erklärten Blödsinnigkeit). Ζ f. GG u. RP in Bayern IV 284. 306. v. B a r in der Ζ f. GG und RP in Preussen 1871 S 202 ff. S e n t z , Oesterr. GZ 1866 Nr 16 ff. S c h w a r z e in Schleuers J IV 60. Ζ f. CR u. Ρ 1854 S 55, 1855 S 217 ( Z i m m e r mann). CA 1854 S 1 ff. (Schäffer), S 63 ff. (Busch), 1855 S 1 (ν. K r ä w e l ) , 1856 S 86 ff. ( B u s c h ) , S 247 ( S i m o n ) . B ü f f in Heusers Annalen I I 400 f. Verh. des VII. d. JT 1868 Β 1 S 3 ff. ( P l a n c k ) , S 45 ff. (Ed. v. L i s z t ) , Β 2 S 165 ff. (Bericht v. S e u f f e r t und Verh. der 3. Abth.). M a y e r , Reform des StP I 1 ff. — N e u e s t e s R e c h t : Oesterr. StPO §§ 4. 5. 365 ff, d. StPO § 261 und die Commentare dazu, L ö w e auch noch Bern 4. 5 vor § 151. G e y e r § 120. D o c h o w , Reichsstrafprozess § 60. B i n d i n g , Grundr. d. StP §§ 67. 68. F u c h s in HH I I 89 ff. U l l m a n n § 75. R u l f , Der ö. StP. Prag 1884. § 73. 74. J a n k a in den Mittheil, des Prager d. Juristenvereins 1878 S 16 ff. R o s e n b l a t t im ö. Central-Bl. f. die jurist. Praxis 1884 S 335 ff. 396 ff. R e i n h o l d das. 1885 S 392 ff. Κ e r k h o f f in Bödikers Mag I 310 ff. Κ r i e s , Rechtsmittel S 478. S c h a n z e , Ζ f. StRW IV 468. v. C a n s t e i n , Oesterr. CP I 513 ff. D. U l l m a n n , Oesterr. CPR. Prag 1884. § 17. (Ausführliche Literaturangaben insbes. in G i a n n e l i a s ital. Ausgabe der ö. StPO. Innsbruck 1885. §§ 4 u. 5.) G l a s e r , Oesterr. GZ 1885 Nr 56—59 (Ergänzung des hier Ausgeführten). 2 G e y e r § 120 I I ; L ö w e Bern 16a vor § 151, Bern 9 zu § 261; letzterer weist ferner auch auf solche civilgerichtliche Entscheidungen hin, welche etwas anderes als die Beurtheilung eines Rechtsverhältnisses (ζ. B. Entmündigung CPO §§ 593 ff.) zum Gegenstande haben, wie auch andererseits die Gegenstände des nicht streitigen civilgerichtlichen Verfahrens in Betracht kommen. — Eine der für das Strafrecht wichtigsten öffentlich-rechtlichen Vorfragen ist die der Staatsbürgerschaft. Man denke ferner an den Einfluss von Streitfragen über Wahlrecht u. dgl.

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§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

Fragen des öffentlichen Rechts und Verhandlungen vor den für diese zuständigen Behörden hervortreten kann. Dennoch wird es genügen, im nachstehenden nur von ersterem Zusammenhange zu sprechen. Die Geschichte der Schwankungen, denen seine Behandlung unterlag, so interessant sie ist, muss ebenfalls hier (unter Verweisung auf meine Anm 1 angeführte Arbeit) übergangen und blos bemerkt werden, dass eine solche, insbesondere mit aus Anlass der Berathungen des VII. deutschen Juristentages (s. oben Anm 1), selbst in der principiellen Stellung der Entwürfe der deutschen Reichsjustizgesetze zu der Frage hervortrat. Es hatte noch der erste Entwurf der StPO den Adhäsionsprozess beibehalten. Später ward dieser im Gegensatze zu Oesterreich aufgegeben. I n der CPO ward die Freiheit der Beweiswürdigung nicht nur ohne einschränkende Hinweisung auf ein vorausgegangenes strafrichterliches Urtheil ausgesprochen (§ 259), sondern auch im EG zur CPO § 14 Z. 1 erklärt, dass alle Vorschriften über die bindende Kraft des strafgerichtlichen Urtheils für den Civilrichter ausser Kraft treten. So wie indess §§ 543. 544 der Entscheidung des Strafrichters einen präjudiciellen Einfluss auf die Beurtheilung einer Restitutionsklage zuerkennen, so ist andrerseits in der StPO § 399 Nr 4 und in der CPO § 543 Nr 6 anerkannt, dass das Strafurtheil auf ein civilgerichtliches Urtheil gegründet und von der Aufhebung des letzteren durch ein anderes die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu Gunsten des Verurtheilten abhängig gemacht sein kann wie umgekehrt die Restitution im Civilprozess von der Aufhebung des Strafurtheils, auf welches das Civilurtheil gegründet wurde. Die Hauptbestimmung über das Verhältniss des Strafrichters zu privatrechtlichen Vorfragen enthält § 261 StPO; eine diesem entsprechende Bestimmung enthält die CPO nicht. II. Die Bestimmung des § 261 ist zunächst für das auf Grund der Hauptverhandlung erster Instanz zu fällende Urtheil gegeben ; allein unvermeidlich wirkt sie auf das ganze Strafverfahren, jedenfalls auf alle gleich dem Endurtheil über Fortgang oder Einstellung des Verfahrens entscheidende Beschlüsse des Strafrichters zurück. Sie ist ferner ausdrücklich nur ertheilt für den Fall, wo „die Strafbarkeit einer Handlung von der Beurtheilung eines bürgerlichen Rechtsverhältnisses" abhängt; das Gesetz spricht also sicher nicht von Fällen, wo nur eine I n c i d e n t a l e n t s c h e i d u n g davon abhängt (z.B. § 51 Z. 3), ja es kann bezweifelt werden, ob Strafabstufungsgründe darunter fallen. Allein da das Gesetz in Abs. 1 ohnehin nur das der Natur der Sache auf die Anwendung der §§ 107—109 StGB. Auf Entsch. des P a t e n t a m t e s ist unten noch zurückzukommen. RG Ε ν. 24. Okt. 1882 Rspr IV 763.

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§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

entsprechende e r k l ä r t u n d darauf berechnet i s t , der B e u r t h e i l u n g des Richters u n d der wissenschaftlichen E r ö r t e r u n g raum zu lassen, Inhalt

wird

dies

nicht beirrend

des § 261 ist ein doppelter:

möglichst viel Spiel-

einwirken.

der Strafrichter

Der

positive

„entscheidet"3

civilrechtliche Vorfragen „nach den für das Verfahren u n d den Beweis i n Strafsachen geltenden Vorschriften" ; er ist aber b e r e c h t i g t ,

das

Strafverfahren auszusetzen u n d eine Entscheidung des Civilrichters abzuwarten, j a innerhalb gewisser Grenzen herbeizuführen. — des

so abgegrenzten

Gebietes w o l l t e

Innerhalb

die Gesetzgebung m i t

Bedacht der Wissenschaft und Praxis freie H a n d lassen.

vollem

Es ist darüber

hier folgendes zu b e m e r k e n : 1. Es w i r d fast i m m e r V e r w i r r u n g i n diese Materie dadurch getragen,

dass eine F r a g e

des

materiellen

einen f o r m e l l e n Gesichtspunkt gebracht w i r d . nicht zu fragen,

ob das C i v i l u r t h e i l

Strafrechts

unter

Es ist i n erster L i n i e

den Strafrichter bindet, son-

dern ob das Merkmal, welches die Anwendbarkeit einer strafrechtlichen Vorschrift b e d i n g t , i m Sinne der letzteren genau m i t dem civilrechtlichen Verhältniss, auf das der Ausdruck hinweist, zusammenfällt, oder ob der letztere i n einem n a t ü r l i c h e n , u n d künstliche C o n s t r u c t i o n e n 4 3

auf civilrechtliche Auslegungen

nicht berechneten Sinne zu

nehmen

Der Ausdruck ist nicht buchstäblich zu nehmen, ebensowenig wie der von der „Beurtheilung" eines civilrechtlichen Verhältnisses; es ist damit natürlich nur gesagt, dass, wenn der Strafrichter das, was er allein zu entscheiden hat, als abhängig ansieht von der Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes civilrechtliches Verhältniss besteht und welche civilrechtlichen Folgen sich daraus ergeben, er sich darüber eine selbständige Ueberzeugung bilden und diese seiner Entscheidung zu Grunde legen muss ; an der rein strafrechtlichen Natur der letzteren wird hierdurch nichts geändert, die civilrechtliche Frage an sich gar nicht entschieden. Vgl. F u c h s in HH I I 89. 4 Es ist bedenklich, dass die Mot zu § 261 S 147 trotzdem, dass das Gesetz gerade die Β e u r t h e i l u n g civilrechtlicher Verhältnisse voranstellte, lediglich die B e w e i s f r a g e vor Augen haben: den Gegensatz zwischen der Pflicht des Strafrichters, „nur Ereignisse, welche sich wirklich ereignet haben", seiner Entscheidung zu Grunde zu legen, und der Abhängigkeit der Civilentscheidung von dem Einfluss civilprozessualischer Grundsätze und von „gesetzlichen Vermuthungen". Letztere sind aber sehr häufig verkleidete Regeln des materiellen Rechtes, und erstere schaffen, wie die Motive anerkennen, oft selbst durch Fictionen wirkliches, geltendes Recht, und eben darum muss in erster Linie gefragt werden, ob der Strafrichter Regeln des C i v i l r e c h t s unbeachtet lassen kann, weil sie einen Gegensatz zwischen der natürlichen und der künstlichen Grundlage eines civilrechtlichen Verhältnisses bewirken? Darf der Strafrichter die Legitimation eines unehelichen Kindes, darf er den Satz: pater est, quem nuptiae demonstrant, darf er die Wirkungen der civilrechtlichen Bestimmungen ausser Acht lassen, welche die Bestreitung der ehelichen Geburt, die Geltendmachung gewisser Ehehindernisse bestimmten Personen

90 ist?

§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen. Die Frage,

hier nicht v o l l

w a n n das e i n e , erörtert

werden;

der einzelnen Satzungen, sam

sein,

dabei

das Strafgesetz

von

wann das andere der F a l l , es ist

u n d es dürfte

folgender

eine Frage nur

Auslegung

i m allgemeinen

Unterscheidung

ein civilrechtliches Verhältniss

der

auszugehen :

als solches

kann rathwill

schützen?

oder w i l l es n u r gewisse Folgerungen aus der j e n e m gewöhnlich zu Grunde liegenden Sachlage ziehen? H a n d l u n g i n der Beeinträchtigung

Wo

das Wesen der

strafbaren

eines civilrechtlichen Verhältnisses

als solchen besteht, da ist dieses i m technischen Sinne g e m e i n t : unter denselben Voraussetzungen,

u n t e r denen es der Civilrichter schützen

müsste, muss es der Strafrichter a n e r k e n n e n 5 .

W o dagegen k l a r ist,

vorbehalten, an ihr Schweigen während einer bestimmten Zeit die rechtliche Unmöglichkeit jener Bestreitung knüpfen ? 5 So besagt ζ. B. schon der Wortlaut des § 172 d. StGB, dass dort unter „Ehegatte" eine Person gemeint ist, welche durch eine Ehe wenigstens so weit gebunden ist, dass es einer ausdrücklichen, die Auflösung der Ehe bewirkenden Thatsache bedarf, damit sie nicht als „verheirathet" angesehen werde (vgl. noch die Erklärung des Regierungsvertreters v. A r n s b e r g Prot S 424). Das ö. StG § 206 spricht dagegen nur von einer „verehelichten Person". Weder nach dem einen, noch nach dem anderen Gesetz könnte aber der Strafrichter eine Person für nicht verheirathet erklären, weil der Ehe ein Hinderniss entgegenstand, welches vermöge der Regeln des Civilrechts nicht mehr geltend gemacht werden kann, gleichviel ob dabei eine Yermuthung oder eine Fiction zu Grunde liegt: die Ehe ist unanfechtbar für alle, daher gewiss auch für den Strafrichter. Umgekehrt hat sicher, wenn sich zeigt, dass die erste Ehe formell aufgelöst ist, der Strafrichter nicht das Recht, auf Grund der von ihm erkannten materiellen Wahrheit sie als bestehend zu behandeln. Ob der Ehebruch straflos sein soll, wenn die gebrochene Ehe an einem Mangel leidet, der zur Zeit des Ehebruches nicht geltend gemacht war, vielleicht nicht mehr geltend gemacht werden kann, ist eine Frage des materiellen, nicht des Prozess-Rechtes; beantwortet man sie aber bejahend, so kann der Strafrichter keine Thatsache unbeachtet lassen, die für den Ausspruch des Civilrichters maassgebend wäre. Man nehme die zwei in den Mot S 148 angeführten Beispiele. Die Grenzverrückung besteht m. E. lediglich in dem Unwirksammachen des t h a t s ä c h l i c h bestehenden Merkmals; darauf, ob die Grenze selbst richtig oder unrichtig war, kommt es nach § 274 Abs. 2 StGB überhaupt nicht an, sondern darauf, ob die Absicht bestand, „einem anderen Nachtheil zuzufügen"; es ist dann eine Frage des materiellen Rechtes, ob unter diesem Nachtheile nur die Beeinträchtigung des Eigenthumsrechtes oder die Entziehung der aus dem nicht nachweisbaren Besitzstande erwachsenden Yortheile gemeint ist. Die Motive erwähnen als Gegensatz den Fall, wo die Ehefrau ein ausser der Ehe (d. h. wohl ein nicht vom Ehegatten während der Ehe) erzeugtes Kind töcltet; die Entscheidung, dass hier nur die Strafe des Kindesmordes eintritt, ist richtig; allein nur deshalb, weil für die mildere Strafe die Lage der Mutter, nicht das Rechtsverhältniss des Kindes maassgebend war. Um sich davon zu überzeugen, dass es dabei nicht darauf ankomme, ob „Rechtsverhältnisse durch Willenserklärungen abgeändert werden

§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen. dass das Strafgesetz

präcisen civilrechtlichen Begriffen

91 ausweichen 6 ,

oder dass es m i t Ausdrücken, welche auch dem Civilrecht angehören, n u r Verhältnisse bezeichnen w o l l t e ,

welche i n erster L i n i e für

das

sittliche U r t h e i l über die T h a t des Angeklagten maassgebend sind, da k a n n der Strafrichter

n u r auf das thatsächlich bestehende, nicht auf

technische Constructionen sein U r t h e i l

gründen7.

I n F ä l l e n , wo es

sich u m B e g ü n s t i g u n g e n handelt, die an civilrechtliche Verhältnisse geknüpft sind, w i r d er sicher nicht fehl gehen, wenn er einerseits die possessio status beachtet, natürlichen

andrerseits die Begünstigung schon an die

Thatsachen k n ü p f t ,

welche die r e g e l m ä s s i g e

Voraus-

setzung jener civilrechtlichen Verhältnisse s i n d 8 . — U m g e k e h r t

kann

können", braucht man sich nur zu denken, dass irgend jemand es unternähme, demselben Kinde seinen civilrechtlich unanfechtbar gewordenen Personenstand auf die im § 169 StGB bezeichnete Art zu entziehen. M. E. könnte hier der Strafrichter nicht das natürliche Ereigniss über das einmal feststehende Recht stellen. In diesem wie in anderen Fällen ist das Rechtsgut, welches das Strafgesetz schützen will, eben der Bestand eines unangefochtenen Verhältnisses; die Verletzung desselben wird hier offenbar durch die blosse Möglichkeit der Anfechtung nicht straflos : so ζ. B. wird kaum ein Strafrichter sich von der Anwendung des § 265 StGB abhalten lassen, weil der Versicherungsvertrag von der Versicherungsgesellschaft hätte angefochten werden können. Wenn § 170 StGB von einem Ehehinderniss spricht, so hat er einen technischen Begriff vor Augen, bei dessen Beurtheilung der Strafrichter sich genau auf denselben Standpunkt stellen muss, wie der Civilrichter ; nehmen wir an, das Ehehinderniss beruhte auf einer rechtlich unanfechtbaren, dem natürlichen Verhältniss aber nicht entsprechenden Verknüpfung von Thatsachen, so wird der Strafrichter gegen das Strafgesetz Verstössen, wenn er die Verschweigung des Ehehindernisses straflos lässt ; und umgekehrt wird er nicht strafen, wenn der verschwiegene Thatumstand, obgleich an sich dazu geeignet, vom Civilrichter nicht mehr als Ehehinderniss anerkannt werden könnte. Ob Bankerott im strafrechtlichen Sinn mit dem, was nach der Concursordnung darunter in civilrechtlichem und prozessualem Sinn zu verstehen ist, übereinstimme oder nicht, ist eine Frage des materiellen Strafrechts ; wird sie bejaht, so muss der Strafrichter den einzelnen Fall genau nach denselben Grundsätzen beurtheilen, nach welchen er es als Civilrichter thäte. Ebenso wenn es auf die Begriffe Vormund, Sequester, Curator, Masseverwalter, Bevollmächtigter u. s. w. ankommt (z. B. §§ 266. 174. 235 StGB). 6 Wie ζ. B. wenn das Strafgesetz von „Nachtheil", „Schaden", „Erheblichkeit für Rechte" spricht. 7 Ein Beispiel bietet der Kindesmord, s. oben Anm 5. Ich rechne hierher auch die Blutschande (§ 173 StGB); es kommt hier nicht auf das civilrechtliche, sondern auf das natürliche Verhältniss an ; vermeinte, nicht wirkliche Eltern müssten dann als Pflegeeltern eventuell unter § 174 fallen. Auch § 215 und § 223 Abs. 2 StGB hat m. E. die natürliche, nicht die lediglich auf civilrechtlichen Verhältnissen beruhende Verwandtschaft zum Gegenstande. 8 So würde es m. E. an der Berechtigung des „Angehörigen" (§ 232 Abs. 2 StGB) oder an der Anwendbarkeit des § 52 StGB nichts ändern, wenn sich

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§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

es sich um Verhältnisse handeln, welche verschieden beurtheilt werden müssen, je nachdem daraus civil- oder strafrechtliche Folgerungen gezogen werden sollen; es ist ζ. B. etwas ganz anderes, ob aus einem bestimmten Seelenzustande die Beschränkung der freien Verfügung in privatrechtlicher Hinsicht oder die Ausschliessung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgeleitet werden soll, mag auch etwa das Civilgesetz den gleichen Ausdruck wie ein Strafgesetz gebrauchen 9 . 2. Hat nach vorstehendem der Strafrichter ein rein nach civilrechtlichen Grundsätzen zu beurtheilendes Verhältniss seiner Entscheidung zu Grunde zu legen, so wird er nicht blos selbst den den Vermuthungen, Fictionen und den Willkürakten der Betheiligten nach dem materiellen Civilrecht zukommenden Einfluss berücksichtigen, sondern auch die Rechtskraft eines im Civilprozess ergangenen Urtheils, so weit sie f ü r oder g e g e n die an der strafbaren Handlung activ oder passiv betheiligten Personen wirksam ist, anerkennen müssen. Ob das Urtheil v o r o d e r n a c h d e r T h a t erging, das kann für den Strafrichter in folgenden Beziehungen von Bedeutung sein: a. Die Verteidigung des Angeklagten, dass er im guten Glauben an sein Recht, an den Nichtbestand des angegriffenen Rechtes handelte, wird wohl durch nichts so sehr entkräftet wie durch ein vor der That ergangenes, ihm bekanntes Civilurtheil ; wollte der Strafrichter die so häufig vorkommende, eigensinnige Bestreitung der Richtigkeit des Urtheils als Entschuldigung der tatsächlichen Auflehnung wider das vom Richter geschützte Verhältniss gelten lassen, so läge darin eine bedenkliche Stöning der öffentlichen Rechtsordnung 1 0 . b. Ist das Urtheil erst nach der That ergangen und ist der Strafrichter zur Ueberzeugung gelangt, dass die Wechselfälle des Civilprozesses es dahin brachten, dass dem Urtheil ein der Wahrheit nicht entsprechender Sachverhalt zu Grunde gelegt wurde, dann steht für ihn auch fest, dass das im Urtheil anerkannte Recht erst durch zeigen sollte, dass die Verwandtschaft, wenn auch civilrechtlich nicht anfechtbar, auf keiner natürlichen Thatsache beruht. 9 Dies gilt namentlichen der „Blödsinnigkeits-Erklärung" zum Zweck der Entmündigung; vgl. Ab egg in G A 1867 S 376. 433, wo auch vielfache andere hier einschlagende Fragen behandelt sind. 10 Vgl. ζ. B. den von A b egg, GA 1867 S 441 angeführten, dem OTr Ε ν. 8. Febr. 1856 zu Grunde liegenden Fall, wo der wegen Gebrauchs eines falschen Namens Angeklagte die Richtigkeit des Civilurtheils, welches seine Klage auf Anerkennung seines Rechtes zur Führung dieses Namens abwies, durch neue Beweise widerlegen wollte.

§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

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das Urtheil geschaffen wurde, dass es also zur Zeit der That noch nicht bestand 11 . 3. Ausser den Fällen, wo nach vorstehendem der Strafrichter den Inhalt eines ergangenen civilgerichtlichen Urtheils seiner Entscheidung zu Grunde legen m u s s , hat er den Gegenstand der privatrechtlichen Vorfrage in den Bereich der ihm obliegenden Klarstellung und Würdigung zu ziehen, d. h. unbekümmert um jene Eigenschaft desselben ihn wie jeden anderen Gegenstand strafprozessualer Beweisführung und Prüfung zu behandeln. Ist ein civilgerichtliches Urtheil schon ergangen, so kann es unter Umständen der Notwendigkeit der Beweisführung entheben : der Strafrichter kann das dadurch festgestellte als „Interimswahrheit" gelten lassen 12 (und zwar gleichviel ob es den unmittelbaren Gegenstand der Entscheidung bildet oder nicht) ; er kann das Civilurtheil, wenn er dies mit den für den Strafprozess geltenden natürlichen Beweisregeln vereinbar findet, seiner Entscheidung über rein thatsächliches zu Grunde legen; er kann auch die rechtliche Beurtheilung desselben sich aneignen, soweit er nicht Gründe hat, von derselben abzuweichen und soweit er insbesondere nicht vermöge der anzuwendenden strafrechtlichen Bestimmung einen anderen Standpunkt einnehmen muss. Er k a n n , mit einem Worte, das civilrichterliche Urtheil seiner Entscheidung zu Grunde legen; das ergiebt sich unmittelbar aus § 399 Nr 4 und mittelbar aus § 261 Abs. 2 ; d. h. er kann nicht von vornherein einer Verabsäumung seiner Pflicht geziehen werden, wenn er sich das Urtheil aneignet. Aber eben weil er es nicht muss, darf er es nicht blindlings thun, sondern hat zu erwägen, welche Gründe dafür, welche dagegen sprechen. Dabei hat er keineswegs von vornherein von einem vorgefassten Misstrauen gegen den Civilprozess auszugehen. Auch dieser ist von der Gesetzgebung im Interesse des Sieges der Wahrheit und des Rechtes geordnet; die ihm dafür zur Verfügung stehenden Mittel sind beschränkter, minder durchgreifend, minder gewaltsam als die im Strafprozess anwendbaren, aber keineswegs die unbedingt unwirksameren; die abstracte Möglichkeit, dass eine Partei sich gegen Wahrheit und Recht freiwillig verurtheilen lässt, darf nicht ein Schreckbild sein, welches bewirkt, dass von vornherein die Wahrheit des Civilprozesses nur als eine Conventionelle gilt ; 11

Vgl. in HH I I 92; Ullmann § ö. StPO. 12 Vgl. S 61. 62.

M e j e r 1. c. ρ 79; Mot zu § 261 S 148; G e y e r § 120 I I ; F u c h s v. S c h w a r z e Bern 2, Y o i t u s Bern 1, D a l c k e Bern 3 zu § 261; 75 S 371; M a y e r Bern 11, M i t t e r b a c h e r Bern 1 zu § 5 Bd. I § 36 III. IV und G l a s e r , Beiträge zur Lehre vom Beweis

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§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

auch dem Strafprozess nützen seine kräftigeren Mittel oft nicht viel, wenn der gute Wille der Betheiligten fehlt. — Was speciell den Fall betrifft, wo das Civilurtheil ein a u s l ä n d i s c h e s ist, so mahnt dies im allgemeinen zu grösserer Vorsicht; wo jenes Anspruch auf die Unterwerfung der am Strafprozess betheiligten Personen hat, muss auch in letzterem dieser Anspruch berücksichtigt werden. 4. Ist ein Urtheil des Civilrichters nicht bereits ergangen, so ist der Strafrichter der Regel nach nicht verpflichtet, ein solches abzuwarten oder herbeizuführen 13 , und zwar gleichviel ob ein Civilprozess schon anhängig ist oder nicht; eine Ausnahme begründen nur jene Fälle, wo eine strafrechtliche Satzung nicht blos von einer privatrechtlichen Vorfrage, sondern geradezu von einer civilgerichtlichen Entscheidung abhängig gemacht ist (§§ 170. 172. 238 StGB) 1 4 . 5. Dagegen räumt § 261 Abs. 2 dem Strafrichter die Befugniss ein, „die Untersuchung auszusetzen und (einem der Betheiligten zur Erhebung der Civilklage eine Frist zu bestimmen oder) 1 5 das Urtheil des Civilrichters abzuwarten". a. Hier ist nochmals zu betonen, dass diese Bestimmung nicht blos für die Hauptverhandlung erster Instanz gilt; sie hat auch Anwendung im Vorverfahren, wo der Beschluss vom „Gericht", also nicht vom Untersuchungsrichter zu fassen ist, und erlangt besondere Bedeutung bei Verhandlungen über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens 16 . Dass das Revisionsgericht vom § 261 Abs. 2 unmittelbar Gebrauch macht, und also seine eigene Entscheidung aussetzt, ist nicht wohl denkbar; dass es ein Urtheil aufhebt, weil mit Unrecht der § 261 Abs. 2 nicht angewendet wurde, das muss man dann für zulässig halten, wenn das Revisionsgericht erkennt, dass dies auf unrichtiger Auffassung oder Anwendung des Gesetzes beruht 1 7 . 13

Dies gilt nach deutschem Recht selbst für Status-Fragen im Gegensatz zu manchen älteren deutschen StPO und (in Bezug auf Fragen der Giltigkeit einer Ehe) zur ö. StPO. Vgl. über die ausdrückliche Ablehnung eines Abänderungsantrages Prot S 422. 424. 14 In Bezug auf die Frage der Nichtigkeit eines Patentes folgert RG E vom 24. Oct. 1882 Rspr IV 763 (vgl. aber auch RG E vom 17. Jan. 1881 Rspr I I 740) aus den Berathungsmaterialien zu § 10 des Ges v. 25. Mai 1877, dass das Strafgericht über die Nichtigerklärung des Patentes überhaupt nicht befinden und daher stets die Entscheidung des Patentamtes herbeiführen müsse. 15 Die eingeklammerten Worte sind durch Beschluss der Commission eingefügt. Prot S 423. 468. 16 Vgl. auch B r u c k S 69. 17 R G E vom 17. Januar 1881 Rspr I I 740 entscheidet die Frage gar nicht, zumal es sich um eine Patentfrage (vgl. oben Anm 14) handelt; s. z. B. darüber K e l l e r Bern 5, T r a u b Bern 4 zu § 261; N i p p o l d , Wegweiser S 110.

§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

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b. Dass Abs. 1 des § 261 nicht blos für solche Vorfragen gilt, von welchen die Schuldigerklärung wegen dieser strafbaren Handlung abhängt, folgt a majori ad minus. Bei Abs. 2 wäre diese Folgerung an sich nicht gerechtfertigt. Da dieser indess sich auf Abs. 1 vorbehaltlos bezieht, da er ferner überhaupt keine limitative Vorschrift, sondern die Anerkennung eines Grundsatzes enthält, so scheint mir, dass das Gericht, auch wo es sich um Strafabstufungsgründe und Incidentalfragen handelt, die gleiche Befugniss habe. Aus d i e s e m Grunde halte ich § 261 Abs. 2 auch für analog anwendbar auf Entscheidungen der Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte. c. I n Bezug auf die sachlichen Voraussetzungen des Beschlusses lässt Abs. 2 des § 261 dem Strafrichter völlig freie Hand; was die Motive darüber sagen, scheint nicht geeignet, ihn bei der anzustellenden Erwägung wesentlich zu fördern 1 8 . Man wird vor allem die Forderung stellen müssen, dass nicht die Möglichkeit eines Civilprozesses nach Lage der Sache (ζ. B. wegen Vorhandenseins einer rechtskräftig entschiedenen Sache und Fehlens der Voraussetzungen der Restitution, oder wegen Unzulässigkeit des Civilrechtsweges) ausgeschlossen sei. Sodann muss der Strafrichter guten Grund haben, zu erwarten, nicht dass durch die Verhandlung vor dem Civilrichter ihm Arbeit erspart, sondern dass die richtige Lösung seiner Aufgabe gefördert werden würde ; und hier ist es m. E. des Strafrichters durchaus nicht unwürdig, wenn 18 Danach hatte man hauptsächlich Fälle vor Augen, wo jemand „die Einleitung einer Criminaluntersuchung herbeiführt, weil man auf dem Wege und durch die Mittel einer solchen leichter, müheloser und ohne Aufwendung eigener Kosten zur Befriedigung des Anspruches zu gelangen hofft" ; solchem „widerrechtlichen Vorgehen des denuncirenden Betheiligten" soll nun der Strafrichter durch § 261 Abs. 2 entgegentreten können. Hätten die Motive schon die §§ 170 ff. vor Augen gehabt, so könnte man wenigstens annehmen, dass die im § 171 Abs. 3 erwähnten Ermittelungen auch die Anwendung des § 261 in sich schliessen. Angesichts des Legalitätsprincips wird aber die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage erheben und zwar gerade in solchen Fällen wohl meist Voruntersuchung beantragen müssen, welche eröffnet werden muss. Giebt dann die Verteidigung des Angeschuldigten — feci, sed jure feci, oder : es besteht ein Verrechnungsverhältniss, dessen richtiges Ergebniss den Thatbestand ausschliesst u. dgl. — Anlass zur Anwendung des § 261 Abs. 2, so wird sich der „widerrechtlich" denuncirende schwerlich die Klägerrolle aufdrängen lassen. Der Strafprozess aber schwebt einmal, er muss zu Ende gebracht werden, und diese Lage übt vielleicht gerade jenen Druck auf den Angeschuldigten, auf den es abgesehen war, oder zwingt ihn, die Klägerrolle im Civilprozess zu übernehmen, ohne dass er dies sonst nöthig gehabt hätte. Aber auch das umgekehrte kann in solchen Fällen eintreten, wenn einmal den Strafgerichten Abs. 2 des § 261 als Bequemlichkeitshandhabe sich empfiehlt: der Angeklagte führt die Verweisung auf den Civilrechtsweg herbei unter Umständen, wo das Strafgericht von vornherein auf eine lange Dauer desselben gefasst sein muss.

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§ 67. Beziehungen zwischen Straf- u. Civilsachen.

er dies auch aus dem Grunde annimmt, weil es sich um Fragen handelt, in deren Lösung das Civilgericht grössere Uebung besitzt. Eine ganz berechtigte Rücksicht, ich möchte sagen der Selbstachtung, ist es auch, dass der Strafrichter dem Falle möglichst vorzubeugen sucht, dass der Sache, wenn auch nicht dem Namen nach, sein Urtheil vom Civilrichter überprüft und verworfen wird. d. Ist ein Civilprozess bereits im Gange, so ist die Anwendung des Abs. 2 des § 261 eine verhältnissmässig einfache; es genügt ein Vertagungsbeschluss und eine Veranstaltung, welche darauf abzielt, dass der Ausgang des Prozesses dem Strafgerichte unverzüglich bekannt werde, und dass bedenklichen Verschleppungen des Civilprozesses angemessen begegnet werden kann; dies wird nach der deutschen StPO wohl der Staatsanwaltschaft zukommen. e. Ist ein Civilprozess noch nicht im Gange, so hat das Strafgericht wohl nur eine beschränkte Möglichkeit, einen solchen herbeizuführen. Man war bei Berathung der Strafprozessordnung und ist bei deren Auslegung darüber einig, dass das Strafgericht keine „Warnung" mit seinem Beschluss verknüpfen könne; richtig gesagt: es darf nicht demjenigen, den es zur Anstellung der Civilklage auffordert, bestimmte Nachtheile ausdrücklich in Aussicht stellen; zwischen den Zeilen wird sie dieser immer lesen müssen, und daran und an das Interesse, das er an der Beendigung des Strafprozesses hat, ist die einzige Hoffnung geknüpft, dass die Aufforderung Erfolg haben werde 1 9 . Auch die Fristbestimmung, auf die das Gesetz hinweist, hat nur diese Bedeutung; rechtlich bindende Kraft hat sie nur insofern, als während des Laufes der Frist die sonst geltende Regel, dass der nach § 261 Abs. 2 gefasste Beschluss jederzeit zurückgenommen werden kann, nicht anwendbar ist. Die „Betheiligten", von welchen das Gesetz spricht, lassen sich nach vorstehendem nicht juristisch definiren. Das Gericht wird mit seinem Beschluss sich an jeden wenden können, von dem es annimmt, dass er ein Interesse am Ausgang des Strafprozesses hat, und dem die Sachlegitimation zu der ins Auge gefassten Civilklage nicht fehlt. f. Der Beschluss nach § 261 Abs. 2 ändert nichts an der Freiheit, mit welcher der Strafrichter dem Civilurtheil gegenübersteht 20 . 19

Daraus folgt schon, dass eine Beschwerde gegen den Beschluss nicht wohl denkbar ist, selbst abgesehen von den Bedenken, die sich aus § 347 ergeben; vgl. darüber K e r k h o f f in Bödikers Mag I 1883 S 312 if. 20 RG E vom 11. Jan. 1883, Ann der bad. Gerichte Β 49 S 96, angeführt von T r a u b Bern 3 zu § 261.

Viertes Buch. Die am Strafprozess theilnehmenden Personen und die Formen ihres Zusammenwirkens.

Binding, Handbuch. IX. 4. I I :

G l a s e r , Strafprozess. I I .

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Erstes Kapitel. Die am Strafprozess theilnehmenden Behörden· § 68.

D i e am S t r a f p r o z e s s t h e i l n e h m e n d e n

Behörden.

I. Der natürlichste Eintheilungsgrund für die Besprechung der Persönlichkeiten, welche im Strafprozess eine Rolle spielen, liegt darin, ob sie dies als Privatpersonen oder als Angehörige einer Behörde thun. Unter den letzteren stehen die beiden Behörden weit voran, deren regelmässige Aufgabe die Beschäftigung mit dem Strafprozess ist: das G e r i c h t und die S t a a t s a n w a l t s c h a f t . I n welchem Maasse der letzteren eine Parteistellung beigemessen werden kann, wird später noch zu besprechen sein. Es wird sich bei einem Ueberblick über ihre Aufgaben auch zeigen, dass ihr Beruf sie allerdings in die Lage bringt, vor Gericht als Partei der Partei gegenüberzutreten und gleich einer Partei Entscheidungen des Gerichtes herbeizuführen, — dass sie in anderen Fällen richterliche Weisungen für die Ausübung ihres eigenen Berufes zu befolgen hat und insofern ungünstiger gestellt ist als dies sonst bei Parteien der Fall ist. Andrerseits bildet sie einen Behördenorganismus, der in den der Gerichte auf ganz eigentümliche Art eingefügt ist : ihre Zuständigkeit, die ganze Art ihres Wirkens ist abhängig von dein Gerichte, zu dem sie gehört ; selbst die Gliederung in ihrem Innern, selbst die geschäftliche Unterordnung der Angehörigen der Staatsanwaltschaft ist viel mehr abhängig von der Beziehung der staatsanwaltschaftlichen Vorgesetzten zu bestimmten Gerichten als von deren staatsrechtlicher Stellung. Die Staatsanwaltschaft hat theils bei Gericht Aufgaben zu erfüllen, welche über die Behandlung und die Bedürfnisse der einzelnen Strafsache weit hinausreichen (ζ. B. der Einfluss auf die Besetzung des Schöffen- und Schwurgerichtes), theils wieder solche Verrichtungen vorzunehmen, welche sie als ein Hilfs- und Vollzugsorgan des Gerichtes erscheinen lassen (z.B. die Besorgung der vom Richter 7*

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§ 68. Die am StP theilnehmenden Behörden.

beschlossenen Ladungen und Herbeischaffung von Beweismitteln § 213T Zustellung und Vollstreckung von Entscheidungen des Gerichtes § 36). Alles dies würde es, selbst wenn man von dem oben angedeuteten Hauptgesichtspunkt absieht, rechtfertigen, dass die Staatsanwaltschaft nicht sowohl dem Gericht in ähnlicher Weise wie die am Strafprozess betheiligten Privaten entgegengesetzt, sondern als eine der beiden mit der Besorgung der Strafrechtspflege betrauten Behörden an die Seite gestellt wird. Es sind zwei Behörden, auf deren Zusammenwirken die gesammte Strafrechtspflege beruht, deren Thätigkeiten in einander eingreifen, deren Wirkungskreise sich berühren müssen, ohne einander zu decken, einzelne Momente ausgenommen, wo bald die eine, bald die andere das entscheidende Wort zu sprechen hat. I I . Ehe dies näher besprochen wird, ist aber noch der anderen Behörden zu gedenken, welche bei der Rechtspflege mitwirken. Es ist weder möglich noch nöthig, dass diese Aufzählung eine erschöpfende sei. Die Strafrechtspflege ist ein überaus wichtiges und überall eingreifendes Element der gesainmten Regierungsthätigkeit ; diese beruht auf dem harmonischen Zusammenwirken aller Regierungsorgane. Die Strafrechtspflege hat daher Anspruch auf die Unterstützung aller dieser Organe (vgl. Band I § 26 VI) und muss andrerseits jedes Uebergreifen in deren rechtmässigen Wirkungskreis vermeiden, jede mit ihrem eigenen Zwecke vereinbarliche Rücksicht für die anderen Diensteszweige beobachten (s. z. B. §§ 49. 53. 96. 98 Abs. 4. 105 Abs. 4 StPO). Speciell seien daher hier nur hervorgehoben: 1. Die obersten Justizverwaltungen des Landes und Reiches insofern, als ihnen die „Aufsicht und Leitung" der Staatsanwaltschaft (§ 148 GVG) und die Vorbereitung der Entscheidung über B e g n a d i g u n g s s a c h e n zukommt. 2. Die verschiedensten Behörden kommen ferner in die Lage, durch B e g u t a c h t u n g (vgl. Band I § 57 I Nr 2a, auch StPO §§ 81. 91. 92) oder durch Mittheilung der Ergebnisse ihrer eigenen normalen Thätigkeit, insbesondere ihrer Akten und der bei ihnen verwahrten Urkunden, die Strafrechtspflege zu unterstützen. 3. Nicht minder geschieht dies theilweise durch diejenige Mitwirkung zur Zusammensetzung der Gerichte, welche auf den Vorschriften über die Bildung der die Grundlage zur endgiltigen Berufung von Schöifen und Geschwornen darbietenden Listen beruht (vgl. namentlich §§ 38. 40. 85. 87 GVG). 4. Die G e r i c h t s p o l i z e i hat wesentlich die Aufgabe, die Thätigkeit der Gerichte und der Staatsanwaltschaft zum Theil vorwegzunehmen

§ 69.

Das Gericht.

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(s. namentlich §§ 98. 127), vorzubereiten oder zu unterstützen (vgl. Band I § 26 V I ; s. auch § 472 StPO). 5. Aber auch noch in andererWeise nehmen die verschiedensten Verwaltungsbehörden an der Strafrechtspflege theil, insofern ihnen nämlich für gewisse Sachen die sonst dem Richter oder der Staatsanwaltschaft zukommende Aufgabe übertragen ist. Soweit nämlich p o l i z e i l i c h e S t r a f v e r f ü g u n g e n (§§ 453 ff.) oder Strafbescheide der Verwaltungsbehörden wegen Zuwiderhandlungen gegen die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle (§§ 459 ff.) zulässig sind, üben die bezeichneten Behörden, indem sie die Strafverfügung oder den Strafbescheid erlassen, zugleich eine staatsanwaltschaftliche (§§ 454. 457. 462) und eine richterliche Thätigkeit (§ 453 Abs. 4, § 459 Abs. 3, § 463 Abs. 1). I n dem zuletzt erwähnten Verfahren kann aber die Verwaltungsbehörde da, wo sie einen Strafbescheid nicht erlassen hat, statt der dies ablehnenden Staatsanwaltschaft selbst die Anklage erheben und diese entweder durch einen Beamten ihres Verwaltungszweiges oder durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, wobei ihr allerdings nur eine der des Privatklägers analoge Stellung (§§ 464—466), aber doch das Recht, gleich der Staatsanwaltschaft auf Ueberweisung der Sache an das Schöffengericht (GVG § 75 letzter Absatz) anzutragen, zukommt. Auch kann sie in allen Fällen, wo sonst wegen der fraglichen Zuwiderhandlungen ein Verfahren vor Gericht stattfindet, sich gleich einem Nebenkläger dem Strafverfahren anschliessen (vgl. oben § 62 V Nr 1). §69.

Das Gericht.

I. Die Darstellung der Gerichtsverfassung liegt nicht in der Aufgabe dieses Werkes. Es kann sich hier nur um eine kurze Uebersicht und um die Herstellung der Verbindung mit den speciell für den Prozessgang maassgebenden Einrichtungen handeln 1 . Die ordentlichen Strafgerichte im Gegensatz zu den besonderen {vgl. B a n d i § 26) sind daher hier in Beziehung auf die in den einzelnen Stadien des Strafprozesses zu lösenden Aufgaben zu besprechen. 1

Ausser den speciell der Gerichtsverfassung gewidmeten Arbeiten s. namentlich: G e y e r §§47 ff.; v. S c h w a r z e in HH I I 540 ff.; D o c h o w , RStP§§55ff.; B i n d i n g , Grundr. d. StP §§ 20—28; L u e d e r , Grundr. §§22ff.; K a y s e r , Strafgerichtsverfassung S48 ff.; M e v e s , Strafverfahren S 1 ff.; J o h n , HRLex I I 109 ff. {vgl. auch in diesem RLex die Art.: Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht und Reichsgericht); S c h r a m m , Die Strafgerichte im Deutschen Reich etc. 2. Aufl. Nördlingen 1879.

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§ 69. Das Gericht.

Diese Stadien sind das V o r v e r f a h r e n , das H a u p t v e r f a h r e n e r s t e r I n s t a n z , das R e c h t s m i t t e l v e r f a h r e n ; mit Rücksicht auf die Unterabtheilung des Vorverfahrens und die Vertheilung des Rechtsmittelverfahrens zwischen verschiedenen Gerichten gelangt man hier zu einer vierfachen Abstufung. Neben diesem Eintheilungsgrunde geht ein zweiter, welcher in der grösseren oder geringeren der strafbaren Handlung beigemessenen Wichtigkeit besteht; auch in dieser Hinsicht sind die Strafgerichte vierfach abgestuft. Die Strafgerichte sind : Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte, das Reichsgericht. Die Oberlandesgerichte sind a u s s c h l i e s s l i c h , die Amtsgerichte sind niemals Rechtsmittelinstanz 2 . Die Amtsgerichte sind allein zu jener g e r i c h t l i c h e n Thätigkeit berufen, welche der Erhebung der Strafklage voranzugehen hat; in den Fällen, wo ihnen das Hauptverfahren zukommt, bereiten sie auch dieses vor. Die Landgerichte und das Reichsgericht sind zu Akten sowohl des Vorverfahrens, als des Hauptund Rechtsmittelverfahrens berufen. Amtsgerichte und Landgerichte haben in der Hauptverhandlung in zahlreichen Fällen mit Laien, erstere in der Form des S c h ö f f e n - , letztere in der des S c h w u r g e r i c h t e s zusammenzuwirken, und zwar in der Weise, dass das erstere e i n e urtheilende Körperschaft bildet, welche aus dem Amtsrichter als Vorsitzendem und zwei Schöffen besteht, letzteres dagegen eine Doppelkörperschaft, bestehend aus dem aus drei ständigen Richtern zusammengesetzten „Gericht" und der mit 12 Geschwornen besetzten Geschwornenbank. Uebersieht man demgemäss die Aufgaben der Strafgerichte verschiedener Ordnung, so vertheilen sie sich in der Hauptsache folgendermaassen : I I . Die A m t s g e r i c h t e sind Einzelgerichte; der Amtsrichter hat als solcher bei Strafsachen höherer Ordnung zur Vorbereitung der 2

Dabei muss freilich eine doppelte Einschränkung gemacht werden, die sich daraus ergiebt, dass einerseits ein Rechtsmittel im Strafprozess nur gegen die Entscheidung eines Strafrichters gegeben sein kann, andererseits das Wesen des Rechtsmittels darin liegt, dass der Partei die Möglichkeit geboten ist, richterliche Abhilfe gegen eine sie verletzende in das Gebiet der Strafrechtspflege fallende Entscheidung zu verlangen. Wenn das Oberlandesgericht auf Antrag des durch eine strafbare Handlung Beschädigten darüber entscheidet, ob die öffentliche Klage zu erheben sei (§§ 169—175 StPO, s. Bd. I § 20 III), oder wenn das Amtsgericht angerufen wird, über den rechtmässigen Bestand einer sei es von ihm selbst, sei es von einer Verwaltungsbehörde ausgehenden vorläufigen Strafverfolgung zu entscheiden: so handelt es sich formell in beiden Fällen um eine richterliche Entscheidung in erster Instanz, während eine gewisse Verwandtschaft mit einer Rechtsmittelprocedur nicht zu verkennen ist.

§ 69. Das Gericht.

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öffentlichen Klage (§§ 160 ff.), zur Sicherung der Strafzwecke in dringlichen Fällen (§§ 125 ff. 157) und bei Geschäften, welche ihm insbesondere übertragen werden (dazu gehören auch Voruntersuchungen, § 183), mitzuwirken; bezüglich der von dem Schöffengerichte abzuurteilenden strafbaren Handlungen kommt ihm allein die vorbereitende und überhaupt clie nicht in die Hauptverhandlung fallende Thätigkeit zu, während er in der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht als dessen Vorsitzender (§ 26 GVG) thätig ist; ausnahmsweise (§ 211 StPO) hält er auch allein die Hauptverhandlung ab. I I I . Der Schwerpunkt der Strafrechtspflege liegt in den L a n d g e r i c h t e n , bei welchen mindestens e i n e ständige Kammer für Strafgerichte zu bilden ist, welche in der Regel in der Besetzung von einem Vorsitzenden und zwei Richtern entscheidet (§ 77 GVG). 1. Für alle strafbaren Handlungen, deren Aburtheilung nicht dem Schöffengericht oder dem Reichsgericht zugewiesen ist, ist das Landgericht berufen, die gerichtliche Voruntersuchung zu führen und zu überwachen, über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden, den Uebergang zur Hauptverhandlung zu vermitteln und diese selbst abzuhalten (§§ 72 ff. GVG). Zu diesem Zweck entwickeln sich als selbständige Organe aus den Landgerichten: a. der Untersuchungsrichter, der als solcher Einzelrichter ist ; b. die zur Abhaltung von Hauptverhandlungen berufene Gerichtsabtheilung, welche aus fünf Mitgliedern gebildet ist (§ 77 GVG); c. die sog. auswärtigen Strafkammern, welche durch Anordnung der Landesjustizverwaltung bei einem Amtsgerichte für einen oder mehrere Amtsgerichtsbezirke gebildet werden können und denen dann ein Theil der Aufgabe der Strafkammer oder deren ganze Aufgabe übertragen werden kann (§ 78 GVG) ; d. das Schwurgericht, welches periodisch bei jedem Landgericht zusammentritt (sofern nicht ausnahmsweise die Bezirke mehrerer Landgerichte zu einem Schwurgerichtsbezirke zusammengelegt sind) und welches „aus drei richterlichen Mitgliedern mit Einschluss des Vorsitzenden und aus zwölf zur Entscheidung der Schuldfrage berufenen Geschwornen" besteht (§§ 79, 81 und 99 GVG); e. endlich sind die Vorsitzenden der die Hauptverhandlung abhaltenden Gerichte in gewissen Fällen zu selbständiger, gewissermaassen einzelrichterlicher Thätigkeit berufen. 2. R e c h t s i n i t t e l i n s t a n z ist das Landgericht: a. für B e r u f u n g e n gegen die Urtheile der Schöffen- (Amtsgerichte), wobei es mit fünf, bei Uebertretungs- und Privatklagefällen aber mit drei Richtern besetzt ist (§§ 76. 77 GVG); b. für „Beschwerden gegen Verfügungen des Untersuchungsrichters und des Amtsrichters, sowie gegen Entscheidungen der Schöffengerichte" (§ 72 GVG).

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§ 69. Das Gericht.

IV. Die O b e r l a n d e s g e r i c h t e haben Strafsenate, welche „in der Besetzung von fünf Mitgliedern" entscheiden (§ 124). Sie sind A. R e c h t s m i t t e l i n s t a n z (GVG § 123 Nr 2. 3. 5), und zwar a. R e v i s i o n s g e r i c h t e für Urtheile der Strafkammern (Landgerichte) in der Berufungsinstanz, und insofern auch für Urtheile derselben in erster Instanz, als „die Revision ausschliesslich auf die Verletzung einer in den Landesgesetzen enthaltenen Rechtsnorm gestützt wird" ; b. B e s c h w e r d e i n s t a n z gegenüber allen Entscheidungen erster Instanz, gegen welche nicht die Beschwerde an die Strafkammer begründet ist, und gegen Entscheidungen der Strafkammern in der Beschwerde- und Berufungsinstanz. B. Ausserdem kommen den Oberlandesgerichten einzelne Verrichtungen in Strafsachen zu, welche, wenn auch nicht ausdrücklich durch Rechtsmittel hervorgerufen, doch aus der jenen zukommenden übergeordneten Stellung abzuleiten sind; so die schon erwähnte Entscheidung über die vom Verletzten begehrte Erhebung der Strafklage (§§ 170 ff.), die Regelung der Zuständigkeit der Gerichte ihres Sprengeis in den Fällen der §§ 4 Abs. 2. 13. 14. 15. 19, bei Ablehnung oder Anfechtung der Gewährung des Ersuchens um Rechtshilfe (GVG § 160), V. Das R e i c h s g e r i c h t , welches in Senaten von sieben Mitgliedern entscheidet, ist 1. erste Instanz u n d Rechtsmittelinstanz „in den Fällen des Hochverrathes und des Landesverrates, insofern diese Verbrechen gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet sind". 2. Es ist lediglich R e c h t s m i t t e l i n s t a n z : a. insofern es zu verhandeln und zu entscheiden hat über die Revision gegen Urtheile der Strafkammern in erster Instanz (soweit diese nicht an die Oberlandesgerichte geht) und gegen die der Schwurgerichte (GVG §§ 136. 140); b. insofern ausnahmsweise (§ 160 GVG) eine Beschwerde gegen Entscheidungen der Oberlandesgerichte offensteht. 3. Es entscheidet unmittelbar, insofern die oben unter I V Β erwähnte Regelung der Zuständigkeit nicht durch ein Oberlandesgericht erfolgen kann. VI. Das „ G e r i c h t " ist unter allen Umständen eine Collectivperson ; es besteht auch in dem Falle, wo die richterliche Gewalt von einem Einzelrichter ausgeübt wird, aus der H a u p t p e r s o n und verschiedenen sie bei der Ausübung unterstützenden Mitwirkenden ( N e b e n p e r s o n e n ) . Eben hieraus ergiebt sich eine weitere und eine engere Bedeutung der Ausdrücke „Richter" und „Gericht". I n diesem engeren Sinne bezeichnet der erstere die Person, welche berufen ist, einzeln

§ 69.

Das Gericht.

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oder in collegialem Zusammenwirken mit anderen „die richterliche Gewalt" auszuüben, d. h. jene Handlungen vorzunehmen, welche die Gesetze ausdrücklich dem Richter oder dem Gericht vorbehalten. I n der Terminologie der deutschen Reichsjustizgesetze wird in allen den Fällen, wo ein Gegensatz zwischen einem einzelnen Richter (Untersuchungsrichter, Gerichtsvorsitzender) und einem Richtercollegium denkbar ist, durch die Wahl des Ausdruckes „Gericht" angedeutet, dass die Handlung dem Collegium zukomme; doch ist, wo ein solcher Gegensatz nicht in Betracht kommt, unter dem Wort Richter auch das Collegium zu verstehen (§ 325 StPO) 3 . Die oben erwähnten Nebenpersonen sind G e r i c h t s s c h r e i b e r , Zustellungs- und Vollstreckungsbeamte (§§ 154. 155 GVG). Zu den Nebenpersonen gehören insbesondere auch diejenigen in dauernder Beziehung zu einem bestimmten Gerichte stehenden Personen, welche berufen sind, durch ihre besondere Sachkunde das Gericht bei Ausübung seines Berufes zu unterstützen. Hierher gehören D o l m e t s c h e r 4 , S t e n o g r a p h e n und überhaupt bleibend bestellte S a c h v e r s t ä n d i g e . Diese specielle Beziehung solcher Personen zum Gericht ist übrigens für die einzelnen Hilfsakte derselben prozessualisch nicht maassgebend; es ist zulässig, diese Verrichtungen Personen zu übertragen, welche nicht in einem bleibenden Verhältniss zum Gericht stehen, und insbesondere für die Behandlung als Sachverständiger ist die Natur der gestellten Aufgabe, nicht die Anstellung bei einem bestimmten Gericht maassgebend5. 3

S. namentlich Prot d. RtC S 1121 und die Uebersicht bei P u c h e l t S 18. 19. Ueber das Verhältniss des Vorsitzenden und des Untersuchungsrichters zum Gericht insbesondere wird unten bei der Darstellung des Ganges des Verfahrens noch zu sprechen sein; soweit ersteres das Beweisverfahren berührt, ist es Bd. I §§ 40 ff. eingehend berücksichtigt. S. noch G l a s e r in HRLex I I 116 ff. (Gerichtsvorsitzender) und I I I 946 ff. (Untersuchungsrichter). 4 GVG §§ 186 ff. Der Dolmetscher als solcher ist nicht Sachverständiger; s. insbesondere § 192 GVG, wonach der Dienst des Dolmetschers „von dem Gerichtsschreiber wahrgenommen werden" kann und die Bestimmungen über Ausschliessung und Ablehnung von Gerichtspersonen auf ihn entsprechende Anwendung finden, mit der Maassgabe, dass darüber der Richter oder das Gericht entscheidet, von welchem er zugezogen ist (§§ 192. 193 GVG). Vgl. L ö w e Bern 22 zu § 22 StPO. Für P r e u s s e n ist eine Dolmetscherordnung durch JMV vom 9. Nov. 1880 JMB1 S 252 erlassen. 5 Vgl. Bd. I § 56 I, I I I u. V, § 57 I.

106 § 70.

Ausschliessung und A b l e h n u n g von Gerichtspersonen 1.

I. Wesentliche Voraussetzung für die gesetzmässige Wirksamkeit jedes Gerichtes ist, dass dasselbe den Vorschriften der Gesetze gemäss gebildet sei. Sieht man ab von der Notwendigkeit der Beiziehung eines Schriftführers, vermöge welcher das Gericht stets als eine Collectivperson anzusehen ist, so hat man weiter zu unterscheiden zwischen einzelrichterlicher Thätigkeit und der eines zusammengesetzten Gerichtes. Die zusammengesetzten Gerichte sind entweder gleichartig zusammengesetzt aus ständig bestellten Richtern, oder aus solchen und zum Urtheilen berufenen Laien (Schöffengericht, Schwurgericht). Zunächst ist also erforderlich, dass die nöthige Z a h l der nach dem Gesetz für jede Classe erforderlichen Mitglieder vorhanden sei, dass die Richter nur in der gesetzlich bestimmten Zahl, nicht weniger, nicht mehr, mitwirken (§ 194 GVG). Ferner ist p o s i t i v e Bedingung für die gehörige Besetzung des Gerichtes die F ä h i g k e i t jedes einzelnen Mitwirkenden zum Amte und dessen ordnungsmässige Bekleidung mit diesem Amte. Im Interesse vertrauenerweckender Rechtspflege (vgl. Band I § 5 I I Nr 1 a) ist überdies dafür gesorgt, dass die Personen, welche in einem gegebenen Falle als Einzelrichter oder als ständige Mitglieder des Gerichtes einzuschreiten haben, in einer willkürliche Auswahl abschliessenden Weise dazu bestimmt werden. Aehnliche Veranstaltungen sind bezüglich der mitwirkenden Schöffen und Geschwornen getroffen. Es 1

Literatur: S e u f f e r t , Von dem Recht des peinlich Angeklagten, seinen Richter auszuschliessen. Nürnberg 1787. M a r t i n § 40 Anm 7. T i t t m a n n , Strafrechtswissenschaft §§ 663. 664. B a u e r §28 Anm d. M ü l l e r § 47. H e n k e , Handb. IV § 51. A h e g g §§ 43. 44. Z a c h a r i a e , Grundlinien § 36. M i t t e r m a i er, StrafVerf. §30. Ders., ANF 1845 S 1 if. — C. d'I. Art. 257. 542 ss. H é l i e , Instr. Nr 1291 ss. 1578 ss. 2764 ss. 3113 ss. M o r i n , Répert. v. Juge Nr 1 - 4 . T r é b u t i e n Nr 757. 758. — S asse, Jets over wraking van rechters in strafzaken. Leiden 1881.—Planck, Syst. Darst. § 4. Z a c h a r i a e , Handb. §§ 51. 52. W a l t h e r , Lehrb. d. bayer. StPR § 33. O p p e n h o f f S 54 if. L ö w e , Preuss. StP §§ 12—15. v. W ü r t h zu §§ 79—86 ö. StPO von 1850. R u l f zu §§ 5 2 - 5 9 ö. StPO von 1853. Hye, Leitende Grunds. S 148ff. S c h w a r z e zu Art. 65ff. der sächs. StPO von 1855. E b m e i e r zu §§ 2 4 - 3 0 preuss. StPO von 1867. — Neuestes R e c h t : §§ 22 bis 30 d. und §§ 67—74 ö. StPO und die Commentare dazu. Mot z. d. StPO S 16 ff. (mit Anführung der vorausgegangenen Gesetzgebung). J o h n , StPR § 18. G e y e r §§ 76 ff. U l l m a n n in HH I 166 ff. B i n d i n g , Grundr. d. StP §39. L u e d e r , Grundr. §§ 31. 32. K a y s e r S 76 ff. — U l l m a n n §§41.42. R u l f , Oesterr. StP §§ 27—30. V a r g h a , StPR § 22. HRLex I 204 (Ausschliessung — Jagemann), S 10 (Ablehnung — Glaser).

§ 70.

Ausschliessung u. Ablehnung ν. Gerichtspersonen.

107

sind dies Fragen der Gerichtsverfassung 2. H i e r ist jedoch auch die Kehrseite näher zu besprechen: die Vorsorge dafür, dass eine an sich zum Einschreiten berufene richterliche Person aus besonderen Gründen, welche dasselbe gerade in einem bestimmten Falle als den Zwecken der Rechtspflege abträglich erscheinen lassen, davon zurückgehalten werde ( r e l a t i v e Unfähigkeit im w. Sinne). Diese Vorsorge des Gesetzes besteht in der A u s s c h l i e s s u n g (exceptio judicis inhabilis) und in der Zulassung der A b l e h n u n g (exc. jud. suspecti) von Richtern. Von den mannigfachen Verhältnissen, welche die Mitwirkung eines bestimmten Richters in einem bestimmten Falle bedenklich machen, sind einige so beschaffen, dass dies unbedingt und für alle Fälle im Gesetz ausgesprochen werden muss; diese bewirken die A u s s c h l i e s s u n g des Richters. Da sich aber nicht alle jene Bedenken erregenden Verhältnisse voraussehen lassen, noch weniger aber für alle gleichmässig anerkannt werden kann, dass sie unbedingt jene Wirkung haben müssen, da endlich auch dem subjectiven Gefühl der Betheiligten ein gewisser Spielraum gelassen werden muss: so muss es den Parteien gestattet sein, T h a t s a c h e n geltend zu machen, welche es als ein berechtigtes Verlangen derselben erkennen lassen, dass ein bestimmter Richter von der sie betreffenden Sache ferngehalten werde. Dies ist die A b l e h n u n g des m o d e r n e n P r o z e s s r e c h t e s , in welches weder ein blos willkürliches (peremtorisches) Recusationsrecht, wie ein solches auch bezüglich der Richter öfter in Frage kam, noch ein demselben fast gleichkommendes Recht der Partei, ihren subjectiven Verdacht, ohne dessen Gründe anzugeben, lediglich durch einen Eid (Perhorrescenzeid) zu bekräftigen, Eingang gefunden hat. Die A b l e h n u n g im eigentlichen Sinne beruht also darauf, dass eine unbefangene richterliche Prüfung jenes Begehrens der Partei und des für dasselbe geltend gemachten Grundes herbeigeführt werden muss. So tritt zu dem sachlichen Unterschied zwischen der vom Gesetz ausgesprochenen Ausschliessung und der von Fall zu Fall nach indi2 Der Richter, clem die gesetzlichen Erfordernisse fehlen, ist a b s o l u t u n f ä h i g ; seine Mitwirkung in der Hauptverhandlung oder die Mitwirkung einer dem Gesetz nicht entsprechenden Zahl von Richtern hat zur Folge, dass das „Gericht nicht vorschriftsmässig besetzt" ist, was nach § 377 Nr 1 die Aufhebung des Urtheils nach sich zieht. (Vgl. J o h n , StPO I 209. S. dag. OTr Ε ν. 6. October 1870 GA 839, wo die Anfechtung eines Urtheils wegen Irrsinns damit zurückgewiesen wird, dass „die Richterqualität als solche nicht durch geistige oder leibliche Krankheit verloren geht" und „der Untersuchung der Partei entzogen ist".) Die Nichteinhaltung der im Text erwähnten Vorschriften über die Geschäftsvertheilung hat diese Wirkung nicht. RG E vom 8. Juli und 16. Oct. 1880 Rspr I I 173. 328.

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§ 70. Ausschliessung und Ablehnung

vidueller Würdigung zuzulassenden A b l e h n u n g noch ein formeller: jene tritt von selbst ein, diese fordert ein ausdrückliches Begehren. I n letzterer Hinsicht ist jedoch die Sonderung nicht scharf durchzuführen. Wenn nämlich auch die Ausschliessung kraft öffentlichen Rechtes eintritt, von diesem Standpunkte aus sowohl vom ausgeschlossenen Richter als auch von den mitwirkenden Amtsgenossen beobachtet werden muss, und dieser Norm durch die eventuell eintretende Vernichtung des Verfahrens der erforderliche Schutz zu Theil wird, so kann es doch auch der Partei nicht verwehrt werden, dieselbe anzurufen, und diese Anrufung (die eigentliche exceptio judicis inhabilis), welche thatsächlich eine Ablehnung (Perhorrescirung) enthält, muss auch in prozessualische Form gebracht werden. Ebenso muss dem ausgeschlossenen oder sich für ausgeschlossen erachtenden Richter eine Möglichkeit geboten sein, über seine S e l b s t a b l e h n u n g eine Entscheidung herbeizuführen. Die Bestimmungen über Ausschliessung und Ablehnung haben lediglich die Sicherung der U n b e f a n g e n h e i t des Richters vor Augen, nicht dessen rechtliche oder thatsächliche Fähigkeit zur Versehung des Amtes. Sie berücksichtigen nicht diejenigen Einwendungen gegen die Person des Richters, welche nicht seine Beziehung zu dieser bestimmten Sache berühren, sondern ihn überhaupt als zur Ausübung des Richteramtes nicht geeignet erscheinen lassen; ζ. B. bei anderen Gelegenheiten gegen Personen, welche dieser Strafsache fremd sind, bewiesene aufbrausende Heftigkeit. Parteilichkeit etc. Für die Entfernung von Richtern, gegen welche solche Einwendungen erhoben werden, muss, eben weil die Entscheidung nicht blos für den einzelnen Prozess Geltung haben kann, auf anderem als prozessualischem Wege vorgesorgt werden. Aber selbst Bedenken gegen die intellectuelle Eignung des Richters für diese besondere Aufgabe gehören nicht auf diesen Weg; er ist lediglich geöffnet, um den Betheiligten die wichtigste moralische Eigenschaft des Richters, die Unbefangenheit und die hierdurch bedingte unparteiische Erwägung und Entscheidung zu sichern. Ausschliessung und Ablehnung finden übrigens nur gegen bestimmte physische Personen, nicht gegen ein Gericht oder eine Gerichtsabtheilung als solche statt. I I . Die A u s s c h l i e s s u n g (relative Unfähigkeit) tritt kraft des Gesetzes ein. Sie beruht in letzter Linie theils auf dem Satz: nemo judex in sua causa, woraus dann abgeleitet wird, dass der Richter nicht zum Gegenstand der Strafsache oder zu den daran betheiligten Personen eine nähere Beziehung haben darf, theils aber auf der U n v e r e i n b a r k e i t (incompatibilité) gewisser Prozessstellungen mit der

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eines Richters überhaupt oder auf der Unvereinbarkeit gewisser richterlicher Geschäfte, wonach derjenige, welcher als Richter in einem früheren Stadium des Prozesses thätig war, eben darum an späteren Akten nicht theilnehmen darf, welche auf eine Ueberprüfung der Ergebnisse jenes Prozessstadiums abzielen. III. Der nächstliegende Ausschliessungsgrund beruht darauf, dass der Richter von der Sache unmittelbar oder mittelbar betroffen ist, insofern nämlich er selbst oder eine ihm nahe stehende Person durch die strafbare Handlung v e r l e t z t oder wegen derselben b e s c h u l d i g t ist. 1. I n erster Linie kommen also die Begriffe des „Beschuldigten" und V e r l e t z t e n in Betracht. Was den des „ V e r l e t z t e n " betrifft, so ist er auch sonst maassgebend: für die Berechtigung zur Stellung des Strafantrages bei Handlungen, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt (§§ 61 ff. StGB) und zur Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über die Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 StPO). Mag man nun der Ansicht sein, dass in diesen beiden Fällen die gleichen Beziehungen zur strafbaren Handlung vorausgesetzt werden 3 , oder nicht, so scheint kein Grund zu bestehen, in Bezug auf die Voraussetzungen der Ausschliessung vom Richteramte den Begriff enger zu fassen, als dies für einen der erwähnten Fälle zu geschehen hat. Es ist m. E. mit Unrecht bezweifelt worden, dass im Falle einer Beleidigung eines Gerichtes von der Verhandlung über diese Beleidigung alle von der Beleidigung mitbetroffenen Richter ausgeschlossen seien; sie sind sicher durch die Beleidigung verletzt und fallen unter den Wortlaut des Gesetzes4. — Den Begriff des „Beschuldigten" ist 3

Dieser Ansicht ist Geyer § 77 I I I A Nr 1, welcher den Ausdruck „Verletzter" hier und im § 170 für gleichbedeutend hält. Er bezieht ihn auf denjenigen, „dessen strafrechtlich geschütztes Gut Angriffsobject des Verbrechens in concreto war", also auf den Antragsberechtigten und denjenigen, welcher es w ä r e , wenn es sich nicht um ein Officialdelict handelte. L ö w e hat sich nun (Bern 4 zu § 22) dieser Bestimmung des „Verletzten" im Sinne des § 22 angeschlossen; von seinem Standpunkt mit Unrecht, da er (Bern 5 b zu § 170) daran festhält, dass § 170 einen weiteren Kreis von „Verletzten" umfasst. Der Grund, den er geltend macht, ist, dass bei Berücksichtigung dieses weiteren Kreises leicht Fälle vorkommen könnten, wo dem Richter nicht einmal bewusst ist, dass er der „Verletzte" sei. Es kann aber auch sonst, namentlich in früheren Stadien des Verfahrens, sehr leicht vorkommen, dass der Ausschliessungsgrund dem Richter nicht erkennbar ist. 4 Von Einfluss waren hier Nachklänge der preussischen Praxis, welche sich von dem Gedanken leiten Hess, dass die Beleidigung im Amte gewissermaassen von der Person abgleitet. Vgl. darüber und dagegen D a l c k e zu § 22, S c h w a r z e Bern 6 zu § 22, L ö w e Bern 5a das. und die Begründung der OTr E vom

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§ 70.

Ausschliessung und Ablehnung

i m weitesten Sinne zu nehmen ; er umfasst i n Stadien des Verfahrens, i n welchen noch niemand i n ausgesprochener Weise als

verdächtigt

behandelt ist, j e d e n der strafbaren H a n d l u n g V e r d ä c h t i g e n 5 ;

i n dem

Maass jedoch als das Verfahren vorschreitet u n d sich thatsächlich als n u r gegen

eine bestimmte Person gerichtet

zeigt,

der Beschuldigte, Angeschuldigte,

wer

darstellt,

wo sich also

Angeklagte

in

dieser

Strafsache i s t , schränken sich auch die W i r k u n g e n des § 22 auf die Beziehung zu dieser Person ein. 2. D e r Richter ist nicht blos ausgeschlossen, wenn er i n der vorerwähnten Weise selbst als Beschuldigter (das Gesetz hielt es für überflüssig,

diesen F a l l ausdrücklich hervorzuheben) oder als Verletzter an

der Sache betheiligt i s t ;

es g e n ü g t , dass es eine der Personen

ist,

welche zu i h m

der i n

Be-

i n einer

§ 22 N r 2 u. 3 bezeichneten

ziehungen stehen : Ehe und Vormundschaft (auch nach ihrer Auflösung), 7. September 1859 GA 690: . . . „nur diejenige Sache, deren Vortheil oder Nachtheil den Richter unmittelbar in seiner Person trifft, was von der B e s t r a f u n g eines Beleidigers auf Grund des § 102 pr. StGB nicht gelten kann". In gleichem Sinne § 24 preuss. StPO von 1867. Andererseits (s. ζ. B. K e l l er Bern 4 zu § 22) ist offenbar die Analogie des Falles von Einfluss, wo das Gericht wider eine in der Sitzung gegen dasselbe verübte Ungebühr vom Recht der Sitzungspolizei Gebrauch macht (§§ 187 ff. GVG). Dass hier die Beleidigung nicht unmittelbare Ausschliessung bewirkt (Mot zu § 79 GVG), hat seinen Grund nicht darin, dass dem Gericht gewissermaassen die Fähigkeit abgesprochen wird, durch solche Vorgänge beleidigt zu werden, sondern darin, dass auch hier das öffentliche Interesse augenblickliches Einschreiten fordert. Daraus folgt aber keineswegs, dass bei der im Gesetz ausdrücklich vorbehaltenen strafgerichtlichen Verfolgung einer solchen Beleidigung das Gericht zugleich als beleidigt und als nicht beleidigt angesehen werden kann. Eine andere Frage ist es, was unter Beleidigung eines „Gerichtes" überhaupt zu verstehen sei? Richtig verstanden wird sie sich immer als Beleidigung einer Anzahl von Richtern darstellen, welche, sei es durch den Vorfall selbst, sei es durch den Anlass dazu, als die bei der Beleidigung allein gemeinten Personen sich darstellen, oder welche dadurch, dass sie sich an der Stellung des Strafantrages mitbetheiligen, dieselbe auf sich beziehen ; in Folge dessen wird gewöhnlich nur eine bestimmte Abtheilung eines Gerichtes (so ζ. B. im Fall des o. a. OTr E), oft nur ein Theil der Mitglieder desselben „beleidigt" sein, woraus natürlich nicht die Ausschliessung aller folgt. S. namentlich J o h n , StPO I 315 ff.: L ö w e Bern 3b vor § 22. D a l c k e das. Nr l c fällt hier insofern wieder zurück, als er verlangt, dass der einzelne Richter „unmittelbar und persönlich verletzt worden" sei. 5 Ausdrücklich ist in diesem Sinne auf § 22 Bezug genommen in der Ausführung B e c k e r s Namens der Redactionscommission Prot S 1120. 1121 („im denkbar weitesten Sinne"). Vgl. K e l l e r Bern 7, P u c h e l t Bern 6 zu § 22. Nur muss auch, wie im Text geschieht, die Kehrseite beachtet werden; Verdacht, der officiell als nicht bestehend dadurch erklärt ist, dass das Verfahren gegen eine andere Person sich richtet, kann in der Strafsache der letzteren nicht einen A u s s c h l i e s s u n g s g r u n d (mitunter wohl einen Ablehnungsgrund) bilden.

von Gerichtspersonen.

Adoption, Verwandtschaft und Schwägerschaft in gerader Linie oder bis einschliesslich zum dritten Grade in der Seitenlinie. Beziehungen dieser Art zu anderen Personen, ζ. B. Staatsanwalt, Vertheidiger, Anzeiger, Zeuge, Sachverständiger, kommen nach deutschem Recht nicht in Betracht, ebenso wenig das Pflegschaftsverhältniss, die Curatel oder das Verlöbniss 6 . IV. Ausgeschlossen ist der Richter ferner wegen der Unvereinbarkeit seines Amtes mit einer andern Stellung, die er in oder zu dem Prozess einnimmt oder eingenommen hat. Das Gesetz (§ 22 Nr 4 u. 5) erwähnt die Fälle, wo er „in der Sache als Beamter der Staatsanwaltschaft, als Polizeibeamter, als Anwalt des Verletzten oder als Vertheidiger thätig gewesen ist", oder wenn er „in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist". Der letztere Ausschliessungsgrund ist bei Besprechung der Kehrseite (Ausschliessung vom Zeugniss) bereits Band I § 46 I I Nr 4 ausführlich erörtert 7 . Was den ersteren betrifft, so hatten schon die Motive bemerkt, dass unter dem Ausdrucke „in der Sache" nur die anhängige Untersuchung verstanden sei, nicht auch jede andere Rechtssache, in welcher es sich um denselben Gegenstand handelt. Für gewisse Fälle liegt hierin eine zweckmässige Abgrenzung, für solche nämlich, wo eine Strafsache schon bei Gericht anhängig ist und wo beurtheilt werden kann, ob die Thätigkeit sich auf sie bezieht; dies gilt namentlich von der des Anwalts und Vertheidigers, und es mag zu billigen sein, dass man ζ. B. denjenigen, welcher in der Civilsache, in welcher ein Meineid begangen sein soll, dem dadurch Verletzten als Anwalt zur Seite stand, nicht unbedingt ausschliessen (sondern der Ablehnung anheimstellen) wollte. Die Thätigkeit der Beamten der Staatsanwaltschaft 8 und der 6 Das ö. Recht (§ 68) berücksichtigt die Verwandtschaft bis zum Geschwisterkind, die Beziehung zum Staatsanwalt und \'ertheidiger und das Pflegschaftsverhältniss. Die Frage der Verwandtschaft der Richter unter einander ist zwar in beiden Strafprozessordnungen nicht berührt; doch ist in Oesterreich allgemein verboten, dass als Mitglieder desselben Gerichtes Personen thätig sind, welche in naher Verwandtschaft oder Schwägerschaft stehen (§ 17 der Gerichtsinstr. v. 3. Mai 1853). 7 Hier sei nur noch bemerkt, dass die deutsche StPO nur auf die Thatsache der erfolgten Vernehmung Rücksicht nimmt, nicht wie die österr. (§ 68 Nr 1) auch auf den Fall, wo er „ausserhalb seiner Dienstverrichtungen Zeuge cler in Frage stehenden Handlung gewesen ist". Vgl. über das Bedürfhiss nach einer ähnlichen Bestimmung J o h n , StPO I 317 Nr 5. 8 Es kommt hier nicht auf die Benennung, sondern auf die staatsanwaltliche Thätigkeit an; diese übt sicherlich auch der Amtsanwalt und der Hilfsbeamte aus, welchem eine staatsanwaltschaftliche Verrichtung übertragen war, ja welcher dieselbe auch nur (durch Bearbeitung des Entwurfes eines Antrages oder einer Ver-

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§ 70.

Ausschliessung und Ablehnung

Polizeibeamten kann aber leicht, die letztere wird fast immer eine solche gewesen sein, aus welcher die jetzt anhängige Strafsache sich entwickelte, welche aber dem Anhängigwerden derselben voranging. Hier kann man wohl an jene einengende Auslegung der Motive sich nicht halten; wer für die Vorbereitung der Erhebung der öffentlichen Klage thätig war, war auch in der auf dieser beruhenden „Sache" thätig 9 . Ebenso beginnt auch die „Thätigkeit" des Vertheidigers schon früher; derjenige, welchen der nunmehrige Angeschuldigte in Bezug auf den Gegenstand der gegen ihn erhobenen Strafklage schon vorher um Rath und Hilfe als Vertheidiger angegangen hat und mit ihm sich darüber besprach, war bereits „in dieser Sache als Vertheidiger thätig" 1 0 . Andere Beziehungen zu der Strafklage hat das Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt: 1. Obenan steht hier der schon hervorgehobene Fall, wo die Beschuldigung sich gegen den Richter selbst kehrt; er ist hier in Erinnerung zu bringen, weil er beweist, dass eine Ergänznng der Bestimmungen des § 22 durch Auslegung zulässig sein muss. 2. Der Antragsteller ist zwar nicht eigentlich Prozesspartei; in der Regel wird er allerdings der Verletzte oder Angehörige eines Verletzten sein, wo aber das nicht der Fall ist, fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Entscheidung. Gewiss aber ist, dass derjenige, welcher als Antragsteller die Eröffnung des Strafverfahrens herbeiführte oder berechtigt ist, dessen Einstellung herbeizuführen, eine Stellung zum Prozess einnimmt, welche mit der des Richters offenbar viel weniger vereinbar ist, als etwa die der im § 22 Nr 4 u. 5 genannten Personen, und dass der Prozess für ihn mehr causa sua ist, als wenn er blos seine Angehörigen betrifft. Ich bin daher der Ansicht, dass zwar nicht derjenige, der ohne in eigener Person oder in der eines Angehörigen verletzt zu sein, antragsberechtigt ist, wohl aber derjenige, der von seiner Antragsberechtigung Gebrauch gemacht hat, zu dem hierdurch eingeleiteten Strafprozess eine mit der des Richters fügung) vorbereitet hat (vgl. RG E vom 13. November 1882 Entsch V I I 236), ohne dass es weiter auf die grössere oder geringere Wichtigkeit des Aktes ankommen kann. (And. Mein. K e l l e r Bern 9 zu § 22, welcher aber als Beispiel die Bewirkung einer Zustellung anführt.) Dagegen kann eine Thätigkeit, welche nicht eine selbständige Entscheidung enthält oder bezweckt, wohl nicht als hier mitgemeint angesehen werden. V o i t u s Bern 6, P u c h e l t Bern 7 zu § 22. 9 v. S c h w a r z e Bern 10, P u c h e l t Bern 7 zu § 22. 10 Vgl. Nr 5 § 24 pr. StPO von 1867: „wer in der Sache Rath oder Gutachten ertheilt hat".

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von Gerichtspersonen.

im Geiste des § 22 unvereinbarliche Stellung einnimmt ; ohne zu untersuchen, ob die Frage etwa bei einer Antragsberechtigung nach § 65 StGB praktisch werden kann, ist sie es jedenfalls nach § 196 StGB. Macht von dieser Antragsberechtigung ein Gericht als solches Gebrauch, so genügt nicht die blosse Mitgliedschaft, um die Ausschliessung zu bewirken, sondern es kommen nur diejenigen Mitglieder des Gerichtes in Betracht, welche an dem Schritt thatsächlich theilgenommen haben 1 1 . V. Von der Mitwirkung bei der ferneren Verhandlung der Sache ist endlich nach § 23 ein Richter in gewissen Fällen auch ausgeschlossen, weil damit seine frühere r i c h t e r l i c h e Thätigkeit in der Sache unvereinbar ist. 1. Bei der Entscheidung über ein Rechtsmittel darf derjenige nicht mitwirken, welcher bei der durch dasselbe angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat. Es kommt hier also nicht darauf an, dass der Richter in der unteren Instanz in der Sache überhaupt thätig war, sondern dass er grade bei der unmittelbar angefochtenen Entscheidung mitwirkte. Es kommt ferner nicht darauf an, ob er fur oder gegen dieselbe gestimmt hat, es ist genug, dass er seine Stimme darüber abgab ; dass er sie durch eine Erhebung, einen Bericht u. s. w. vorbereitete, oder dass er als Ergänzungsrichter sich zur Mitwirkung 11 Das hier gesagte vermittelt zwischen den einander hier schroff entgegenstehenden Meinungen. Nach meiner Ansicht lässt sich in solchen Fällen, wo ein Richter oder ein Gericht als „amtliche Vorgesetzte" den Strafantrag gestellt haben, weder behaupten, dass der einzelne Richter verletzt sei (wenngleich selbst die Mot zu § 414 von der „beleidigten Dienstbehörde" sprechen), noch ist es richtig, mit der blossen Bestreitung dieses Verhältnisses die Frage als abgethan anzusehen. Die blosse Antragsberechtigung hat m. E. keinen Einfluss, wohl aber führt die Ausübung des Rechtes Unvereinbarkeit mit der Stellung als Richter in der Sache herbei. In diesem Sinne sprechen sowohl G e y e r , der die Frage unentschieden lässt (§ 77 Anm 8), als auch B i n d i n g , Grundr. d. StP § 39 I I I A Nr 5, L ö w e Bern 3b vor § 22 und J o h n , StPO I 315 von dem Richter, welcher wirklich den Strafantrag gestellt hat, nicht von demjenigen, der dazu berechtigt ist. Im Gegensatz hierzu leugnet P u c h e l t Bern 4 Abs. 3 zu § 22 jeden Einfluss des § 196 StGB auf die Ausschliessung. Auch das RG Ε ν. 25. Febr. 1882 Rspr IV 207 betont, dass der Strafrichter, welcher als amtlich Vorgesetzter den Strafantrag stellt, nicht Betheiligter sei; auch „mittelbar betheiligt" sei nur das öffentliche Interesse; die Möglichkeit, dass der Richter (in diesem Falle war er zugleich der Vorsitzende der Hauptverhandlung) den Strafantrag zurückziehe, beweise mehr nicht, als „wie Wünschenswerth es sei, dass er sich der Theilnahme an der Aburtheilung enthalte". Der Hauptsache nach in gleichem Sinne RG E vom 7. Mai 1883 Rspr V 333, obgleich daselbst der Unterschied zwischen Antragsberechtigung und Ausübung derselben, insbesondere in der Form der Nebenklage, betont ist.

Binding, Handbuch. I X . 4. I I : G l a s e r , Strafprozess. I I .

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bereit hielt, ohne dazu zu gelangen, hat keinen Einfluss, noch weniger, dass er bei einer Entscheidung mitwirkte, welche die Grundlage der durch das Rechtsmittel angefochtenen wurde, ζ. B. über Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens 12 . Die Ausschliessung tritt ein bei der Entscheidung über ein „Rechtsmittel", womit hier die ordentlichen Rechtsmittel : Beschwerde, Berufung und Revision gemeint sind, nicht das ausserordentliche Rechtsmittel der Wiederaufnahme, das die StPO nach ihrer Terminologie und Systematik unter den „Rechtsmitteln" nicht mitbegreift, wenn auch § 405 die allgemeinen Bestimmungen über Rechtsmittel für auf jenes hier anwendbar erklärt. Umgekehrt ist die Mitwirkung bei der Entscheidung über ein Rechtsmittel an sich kein Hinderniss der späteren Mitwirkung in der ersten Instanz (s. dagegen Abs. 3 des § 23) ; ebenso können an der in Folge der Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung erforderlichen Wiederholung der Verhandlung dieselben Richter theilnehmen, welche sich an der ersten betheiligten 1 3 . 2. Der U n t e r s u c h u n g s r i c h t e r darf nicht Mitglied des in der Sache „erkennenden" Gerichtes sein und nicht bei einer ausserhalb der Hauptverhandlung erfolgenden Entscheidung der Strafkammer mitwirken (§ 23 Abs. 2). Das Gesetz spricht dabei einerseits von dem „Untersuchungsrichter" (§ 60 Abs. 1, § 64 GVG, § 184 Abs. 1 u. 2 StPO), andrerseits von Sachen, „in welchen er die Voruntersuchung geführt hat". Die Motive begründen dies damit, dass „ i n der Regel der Untersuchungsrichter schon bei Abschluss der Voruntersuchung sich eine bestimmte Ansicht über die Sache gebildet hat, während der erkennende Richter sein Urtheil lediglich aus der mündlichen Haupt12

In gleichem Sinne ö. StPO § 69 Nr 2 „von der Verhandlung über Rechtsmittel gegen alle diejenigen Entscheidungen, bei welchen sie selbst i n e i n e r unt e r e n I n s t a n z an der Abstimmung theilgenommen haben". Die hervorgehobenen Worte beseitigen auch jeden Zweifel bezüglich der Wiederaufnahme des Strafverfahrens. 18 G e y e r § 77 Anm 13 beklagt dies unter Hinweisung auf die abweichende Bestimmung des § 68 Abs. 2 ö. StPO. — Da lek e Bern 1 zu § 23, dem P u c h e l t Bern 4 das. eine von der im Text vorgetragenen, allgemein getheilten abweichende Ansicht beimisst, spricht von einer anderen Frage, die übrigens nur auf Grund der preuss. StPO von 1867, nicht der RStPO entstehen konnte. Nach § 24 Nr 5 der - «rsteren war derjenige, welcher „als Richter bereits in einer anderen Instanz an der Urtheilsfallimg theilgenommen" hatte, ausgeschlossen, also vom Verfahren in der h ö h e r e n Instanz, und das pr. OAG hatte mit dem von D a l c k e angef. E vom 25. Jänner 1873 GA S 231 ausgesprochen, dass diese Bestimmung auch dann Anwendung finde, wenn der Richter nicht an dem unmittelbar angefochtenen, sondern an einem früheren, bereits vernichteten Urtheil theilgenommen habe.

von Gerichtspersonen.

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Verhandlung schöpfen soll", und dass er andrerseits bei den lediglich auf Grund der Akten ergehenden Beschlüssen „leicht einen überwiegenden Einfluss auf die Entscheidung ausübt". Hieraus ergiebt sich: a. Das Gesetz hat nur die Voruntersuchung im technischen Sinne und nur den diese als Untersuchungsrichter Führenden im A u g e 1 4 ; es unterscheidet nicht, ob es der Untersuchungsrichter am Landgericht ist oder ob die Führung der Voruntersuchung dem Amtsrichter übertragen ist ; es bezieht sich dagegen nicht das Ermittelungsverfahren des Amtsrichters oder andere Untersuchungsthätigkeiten, welche ausserhalb der Voruntersuchung (vor Beginn, nach Abschluss, beziehungsweise vor der Wiedereröffnung der Voruntersuchung) von wem immer, sei es auch der ständige Untersuchungsrichter, vorgenommen wurden, ebenso wenig die in einer abgebrochenen Hauptverhandlung, etwa vor dem Schöffengericht, vorgenommenen Beweiserhebungen. b. Vorausgesetzt wird eine Voruntersuchung, welche der Untersuchungsrichter „geführt hat" oder, wie berichtigend hinzugefügt werden muss 1 5 , soweit Beschlüsse während der Voruntersuchung in Betracht kommen, noch führt. Hat der Untersuchungsrichter die Eröffnung der Voruntersuchung nur beschlossen und hat er aufgehört, Untersuchungsrichter zu sein, ehe er thatsächlich Akte der Voruntersuchung vorgenommen hat, so trifft auf ihn weder der Wortlaut des Gesetzes, noch die in den Motiven dargelegte Absicht desselben zu. Das gleiche kann man allenfalls auch von demjenigen gelten lassen, der zwar als Stellvertreter des Untersuchungsrichters für dessen ganzen Wirkungskreis oder für eine bestimmte Voruntersuchung bestellt war, aber thatsächlich in dieser Untersuchung nichts gethan hat; h a t e r aber irgend einen Akt, der in dieser Sache dem Untersuchungsrichter als solchem zukam, vorgenommen, dann kann m. E. es auf die grössere oder geringere Wichtigkeit des einzelnen Aktes nicht ankommen, da angenommen werden muss, dass er ihn nicht vornahm, ohne sich über die Lage der Sache und den Plan der Untersuchung genaue Kenntniss 14 And. Mein. K e l l e r Bern 3 zu § 23, welcher auch den Amtsrichter ausschliesst, der „einzelne Untersuchungshandlungen" („wirkliche Theile der Voruntersuchung") auf Ersuchen des Untersuchungsrichters in cler eröffneten Voruntersuchung vorgenommen hat. Dagegen rechnet auch K e l l e r (das. Bern 8) Beweiserhebungen nach eröffnetem Hauptverfahren nicht hierher. 15 Geyer § 77 Anm 14; L ö w e Bern 6, P u c h e l t Bern 4, K e l l e r Bern 10 zu § 23. Letzterer findet zwar in dieser Hinsicht den Ausdruck „geführt h a t " ungenau, folgert aber dennoch (§ 178 Bern 7) aus demselben, dass der Untersuchungsrichter bei dem Beschluss, womit die Eröffnung der Voruntersuchung abgelehnt wird, mitwirken darf. 8*

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verschafft zu haben, und gerade diese Kenntniss (nicht die Aufnahme von Beweisen, die sonst auch andere ausschliessen müsste) es ist, was die Unvereinbarkeit begründet 1 6 . c. Die Voruntersuchung muss einen Bestandtheil des Prozesses bilden, in welchen die Thätigkeit fällt, von welcher der Richter als Untersuchungsrichter ausgeschlossen werden soll. So liegt ζ. B. auch 16 Die Frage wird, wenn man nicht der oben Anm 14 erwähnten Ansicht K e l l e r s beipflichtet, nicht allzuoft praktisch werden; so ζ. B. wird das Verhör nach § 115 StPO meist vor Eröffnung der Voruntersuchung vom Amtsrichter und nicht leicht von einem Stellvertreter des Untersuchungsrichters, der sonst nichts in der Untersuchung thut, vorgenommen werden. Wäre es aber der Fall, so würde er damit als Untersuchungsrichter handeln und einen unzweifelhaften Akt der Voruntersuchung vornehmen. Nach RG E vom 3. December 1883, 17. October 1884 Rspr V 752 V I 633 ist freilich auch der Untersuchungsrichter selbst blos deshalb nicht ausgeschlossen. Die Entscheidung über Verhängung und Fortdauer der Haft ist eine der Regel nach dem Untersuchungsrichter als solchem zukommende Amtshandlung. Im Gegensatz zum RG E vom 10. Juni 1880 u. 21. März 1881 Rspr I I 51 I I I 155 würde ich ferner in dem Beschluss, gewisse Beweismittel herbeizusclîàffen (Ladung von Sachverständigen u. s. w.), eine unter den Begriff „Führung der Voruntersuchung" fallende Thätigkeit finden, zumal diese Beschlüsse nur aus dem Studium der Aktenlage hervorgehen können. Anders allerdings, wo es sich nur um zufällig in die Voruntersuchung fallende, aber diese nicht unmittelbar betreffende Akte handelt, wie z. B. Entscheidungen über die Behandlung des in Untersuchungshaft Befindlichen, wie Gewährung von Schreibmaterial (RG E vom 8. October 1880 Entsch I I 314), oder Beiziehung eines Vertheidigers. — And. Mein, namentlich L ö w e Bern 7 a zu § 23, der (im Sinne der oben angef. E) nur die Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen und die im § 190 vorgeschriebene „Vernehmung des Angeschuldigten" als Akte der „ F ü h r ung der Voruntersuchung" ansieht. Eine Aufzählung einer Reihe von Akten, welche als ausserhalb der Voruntersuchung liegend mit Recht als nicht in Betracht kommend bezeichnet werden, bei J o h n , StPO I 327 Nr 4. Es darf nicht befremden, dass darunter auch Akte sind, welche die gleiche praktische Bedeutung haben können, wie Akte der Voruntersuchung, so namentlich die nach Schluss der Voruntersuchung oder in Ermangelung einer solchen von dem über die Eröflnung des Hauptverfahrens beschliessenden Gerichte veranlassten Beweisaufnahmen (vgl. RG Ε ν. 8. Oct. 1880 u. 28. Juni 1881 Entsch I I 314 V 342). Es kommt (wie oben bemerkt) nicht auf die grössere oder geringere Wichtigkeit der Erhebungen, sondern darauf an, ob der, welcher sie vornimmt, die ganz* eigenartige Stellung des Untersuchungsrichters einnimmt. Jene Akte also begründen als solche nicht die Ausschliessung des mit ihnen Befassten, mögen sie auch thatsächlich eine Ergänzung der Voruntersuchung bezwecken. Anders wenn diese ausdrücklich beschlossen wird; dies ist die Wiedereröffnung der Voruntersuchung, welche von der Erhebung einzelner, bestimmt bezeichneter Beweismittel wesentlich verschieden ist ; denn sie verlangt nothwendig einen Untersuchungsrichter, der die Pflicht hat, das Ganze zu übersehen, sich klar zu machen, was zu erheben ist, und über den (neuerlichen) Abschluss der Voruntersuchung zu entscheiden.

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dem wieder aufgenommenen Strafverfahren die der ersten Hauptverhandlung vorangegangene Voruntersuchung zu Grunde, und um so mehr gilt dies von einer nach § 210 eingestellten und wieder aufgenommenen Voruntersuchung 17 . War die Voruntersuchung gegen A von einem Richter geführt und wird nach Einstellung derselben von einem andern Untersuchungsrichter die Voruntersuchung gegen Β über dieselbe That geführt, so ist jener in der Strafsache wider Β nicht ausgeschlossen. Ist dagegen die Voruntersuchung schon ursprünglich auch gegen Β eröffnet gewesen oder auf ihn ausgedehnt worden, ehe der erste Untersuchungsrichter seine Thätigkeit einstellte, so kommt es nicht noch darauf an, ob er speciell gegen Β gerichtete Akte vornahm 1 8 . d. Der als Untersuchungsricher Anzusehende darf nicht Mitglied des „erkennenden Gerichtes" sein; darunter ist unzweifelhaft das zur Abhaltung der Hauptverhandlung erster Instanz berufene Gericht verstanden; dass der Ausdruck auch die höheren Instanzen umfasse, soweit vor denselben mündlich zu verhandeln ist, wird angenommen 19 , obgleich sich dafür weder der Wortlaut des Gesetzes, noch dessen Anlage, noch das vollständige Zutreffen der Motive mit voller Sicherheit geltend machen lässt 2 0 . Ob die Hauptverhandlung die erste in der Sache stattfindende ist oder in Folge einer Aussetzung, Aufhebung oder Wiederaufnahme neuerlich stattfindet, ist gleichgültig, so lange es nur um dieselbe Sache sich handelt (vgl. oben c). e. Der Untersuchungsrichter ist ausgeschlossen von jeder in der Sache „ausserhalb der Hauptverhandlung ergehenden Entscheidung der 17

Geyer § 77 I I I Β Nr 2, P u c h e l t Bern 5 Abs. 3, K e l l e r Bern 9 zu § 23, während S c h w a r z e Bern 6 das. die Frage unentschieden lässt. 18 Vgl. RG E vom 8. Oct. 1880 Entsch I I 314 und L ö w e Bern 7b zu § 23. 19 Geyer § 77 I I I Β Nr 5, L ö w e Bern 8, S c h w a r z e Bern 7, P u c h e l t Bern 5 zu § 23. 20 Nicht die Anlage des Gesetzes, da § 23 speciell in der ursprünglichen Fassung, wo Abs. 3 fehlte, deutlich die Ausschliessung in höherer Instanz abgesondert behandeln sollte; nicht die Motive, welche einerseits unverkennbar von der Hauptverhandlung erster Instanz, andererseits von Beschlüssen sprechen, die lediglich auf Grund der Akten ergehen. Was den Ausdruck „erkennendes Gericht" betrifft, so bezeichnet er gewiss zunächst den Gegensatz zu der ausser der Hauptverhandlung beschliessenden Strafkammer (vgl. § 347, die Commentare dazu und K r i e s , Rechtsmittel S 365); nur bezüglich der Berufung bezeichnet § 76 GVG die dafür zuständigen Strafkammern als „erkennende Gerichte". Bezüglich des Revisionsgerichtes kann allenfalls noch auf § 28 Abs. 2 verwiesen werden, dessen Bestimmung über die Ablehnung eines „erkennenden Richters" auch auf die Revisionsinstanz passt. Nach § 69 Nr 1 ö. StPO sind „Mitglieder von Gerichten höherer Instanzen . . . ausgeschlossen von der Verhandlung über alle Strafsachen, bei welchen sie als Untersuchungsrichter thätig waren".

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Ausschliessung und Ablehnung

Strafkammer", also von jeder nach der Eröffnung der Voruntersuchung stattfindenden Berathung, selbst wenn es sich dalfei nicht um eine Beschwerde gegen Verfügungen des Untersuchungsrichters (§ 23 Abs. 1) handelt, ferner von allen Berathungen, welche mit der Eröffnung des Hauptverfahrens oder der Vorbereitung der Hauptverhandlung oder der Austragung von Zwischenfällen derselben zusammenhängen, ebenso aber auch von den der Hauptverhandlung nachfolgenden Entscheidungen, wie ζ. B. über Zulässigkeit der Revision (§ 386), Wiederaufnahme (§ 407) und Strafvollzug (§ 494). 3. Die Besetzung des Gerichtes, welches das „Hauptverfahren vor der Strafkammer" durchzuführen hat, ist einer auf einem Compromise zwischen den Regierungen und der Reichstagscommission beruhenden Beschränkung unterworfen (§ 23 Abs. 3). Dem an sich gewiss berechtigten Verlangen der letzteren, dass die Richter, welche über die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen haben, von der Hauptverhandlung fern gehalten werden, setzten die Regierungen die allerdings nicht wegzuleugnenden aus solcher Ausschliessung erwachsenden Schwierigkeiten entgegen. I n Folge dessen muss stets einer der drei in diesem Falle sich befindenden Richter der Hauptverhandlung fern bleiben und keinesfalls darf derjenige an derselben Theil nehmen, welcher „Bericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft erstattet hat". Zur Erreichung des ihr vorgesteckten legislativen Zweckes wenig geeignet 2 1 , ist diese Bestimmung die Quelle mannigfacher Bedenken und Zweifel, die aus der Willkürlichkeit der erfolgten Abgrenzung entspringen. a. Theils aus dem Wortlaut, theils aus dem Zusammenhang und aus den maassgebenden Motiven ergiebt sich, dass die Beschränkung und Ausschliessung n u r 2 2 für die Hauptverhandlung „vor der Straf21

Mit Recht hat schon S c h w a r z e Bern 9 zu §23 darauf hingewiesen, dass dasjenige, was nach den Regierungsmotiven für die Ausschliessung des Untersuchungsrichters spricht, sich ebenso für die der Mitglieder der Anklagekammer geltend machen lässt. Wenngleich in der Minderheit befindlich, werden die zwei aus dieser in das erkennende Gericht übergehenden Mitglieder das Uebergewicht des grösseren Vertrautseins mit der Sache haben ; das schlimmste ist freilich, dass eines derselben der Vorsitzende sein wird, und dass die Eröffnung des Hauptverfahrens bald gegen den Antrag des Staatsanwaltes, bald umgekehrt unter Abänderung eines Beschlusses der Strafkammer erfolgen kann. So entzieht die angeblich im Interesse des Angeschuldigten liegende Vorprüfung der Anklage (über den geringen Werth derselben s. ζ. B. B ö t t r i c h in G A 1884 S 257 f., welcher diese Vortragssitzungen „einförmig und ermüdend" nennt) dem Angeklagten die wichtigste Garantie voller Unbefangenheit des über letztere entscheidenden Gerichtes. 22 RG Ε v. 27. Juli 1881, 11. Juni 1883, 29. Jan. 1884 Rspr I I I 490 V 423 V I 64.

von Gerichtspersonen.

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kammer", also weder für Schwur- noch Schöffen- oder Reichgerichtsverhandlungen gilt, noch auch für Beschlüsse ausser der Hauptverhandlung. b. Die Theilnahme am Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist nur dann vorhanden, wenn über diese, gleichviel ob positiv oder negativ, wirklich Beschluss gefasst wurde; sie ist also maassgebend, auch wenn ein Einstellungsbeschluss gefasst wurde, der vom Oberlandesgericht wieder aufgehoben w u r d e 2 3 ; dagegen kommen nicht in Betracht Berathungen, bei welchen zwar ein Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens vorlag, trotzdem aber nur ein Beschluss erging, welcher diese Frage dahin gestellt sein liess 2 4 (ζ. B. auf einzelne Beweiserhebungen, Ergänzung der Voruntersuchung u. s. w. und wohl auch auf vorläufige Einstellung nach § 2 0 3 ) 2 5 . c. Anders verhält es sich mit der Berichterstattung ; in der Natur der Sache liegt es, dass der Beschluss des Collegiums über den „Antrag der Staatsanwaltschaft", welcher der „Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens" zu Grunde liegt, durch einen Vortrag eines Mitgliedes herbeigeführt werden muss 26 . Bericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft und Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens müssen aber nicht zusammenfallen; vielmehr kann jener 23

RG E vom 10. Mai 1880 Rspr I 753. RG E vom 1. December 1880 Rspr I I 592. So nahe die Verwandtschaft des Beschlusses über die Wiederaufnahme mit dem über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist, so findet doch auf jenen § 23 Abs. 3 keine Anwendung (RG E vom 23. September 1881 Rspr I I I 521), noch weniger auf die Mitwirkung bei der Entscheidung über die Zulassung als Nebenkläger (RG Ε ν. 16. Febr. 1883 Rspr V 122). 25 J o h n , StPO I 333. — Ist eine Mehrheit von Strafsachen Gegenstand der Hauptverhandlung, so sollen nach RG E vom 16. Februar 1883 Rspr V 122, je 2 Richter, welche nur bei e i n e m der Eröffnungsbeschlüsse betheiligt sind, mitwirken können. Dabei wird nicht beachtet, dass zum mindesten der Ausspruch über die Strafe ein allen verbundenen Strafsachen gemeinsamer ist. 26 K e l l e r Bern 16 zu § 23 sucht die Nothwendigkeit der Berichterstattung zu leugnen, obgleich er zugiebt, dass § 23 sie als selbstverständlich voraussetze. Was er über die Möglichkeit sagt, dass „auf Grund der Einsicht der Akten durch sämmtliche Mitglieder" Beschluss gefasst werde, erinnert lebhaft an die im früheren preussischen Strafprozess oft vorgekommene Art der Beschlussfassung „über die Eröffnung der Untersuchung" (durch Circulation). Hält man dergleichen für zulässig, so trifft der Grund, welcher zur Ausschliessung des Berichterstatters führte, mindestens auf den ersten Richter zu, der auf Grund der Akten seine Stimme abgab und dadurch die anderen zu Zustimmung oder Widerspruch veranlasste ; im Grunde aber hat T h i l o Recht (Bern 6 zu § 23), wenn er alle Mitglieder des Gerichtes in solchem Falle ausschliessen will. Schwer zu beantworten ist die Frage, was zu geschehen hat, wenn aus den Akten der Beschluss, aber nicht die Person des Berichterstatters zu ersehen ist. 24

120

§ 70. Ausschliessung und Ablehnung

zu vorläufigen Beschlüssen geführt haben: erwächst aus diesen eine Sachlage, welche einen neuen Antrag der Staatsanwaltschaft mit sich bringt (Eröffnung oder Wiedereröffnung der Voruntersuchung), so ist wohl d e r Richter nicht ausgeschlossen, der über den ursprünglichen Antrag der Staatsanwaltschaft berichtet hatte. Im entgegengesetzten Fall, wo dieser Bericht dem endgiltigen Beschluss noch zu Grunde liegt, wenn auch vielleicht zuletzt nur über die Ergebnisse einzelner Erhebungen berichtet wurde, ist bei einem Wechsel in der Person des Berichterstatters jeder ausgeschlossen, der, sei es bei der früheren, sei es bei der späteren Berathung, Bericht erstattete. VI. Aus dem oben (I) über den Unterschied zwischen Ablehnung und Ausschliessung gesagten folgt, dass es bestimmte, allgemein giltige Gründe der Ablehnung im engeren, materiellen Sinn nicht geben kann. Es kommt in dieser Art der Ablehnung die „Besorgniss der Befangenheit" (§ 24) zum Ausdruck, zunächst also allerdings eine subjective Regung, über deren Berechtigung wieder nur in freier, durch keine Regel beengter Würdigung der Sachlage entschieden werden kann. Die Rechtfertigung der Ablehnung hat zur Voraussetzung, dass „ein Grund vorliegt, welcher geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen". Der Standpunkt bei der Entscheidung darf aber nicht so genommen werden, dass sie nach der Individualität des Richters verschieden ausfiele; die Frage darf nie sein, ob Grund vorhanden ist, anzunehmen, der Richter werde parteiisch oder befangen sein, und daher auch nicht darum anders beantwortet werden, weil die bekannte Objectivität gerade dieses Richters alle Zweifel ausschliesse : die Frage muss vielmehr immer dahin gehen, ob der Thatumstand geeignet sei, überhaupt irgend eines davon berührten Richters Unbefangenheit zu beeinträchtigen, ob eine Versuchung parteiisch zu sein vorhanden, nicht ob sie zu überwinden sei. Nur so gefasst, verliert Frage und Entscheidung das verletzende für den abgelehnten Richter. Daneben kommen freilich auch solche Thatsachen in Betracht, welche den Beweis liefern, dass der Richter dieser Sache gegenüber thatsächlich nicht unbefangen s e i 2 7 . 27

Es sind also zwei Classen von Ablehnungsgründen zu beachten: Verhältnisse, welche im allgemeinen Befangenheit besorgen lassen, und concrete Thatsachen, wrelche die vorhandene Befangenheit beweisen. Weder für die eine, noch für die andere lassen sich feste Regeln aufstellen, vermöge welcher die Ablehnung jedesmal als gerechtfertigt anzusehen wäre : es hiesse dies fast durch Auslegung des Gesetzes gegen dessen Absicht das Gebiet der Ausschliessungsgründe erweitern. Dagegen kann man einige negative Regeln aufstellen. So hat ζ. B. das RG E vom 30. November 1882 Rspr IV 854 der politischen Parteirichtung die Eigen-

121

von Gerichtspersonen.

Z u m W e s e n der A b l e h n u n g i n diesem engeren Sinn gehört n u n allerdings

auch,

dass der G r u n d

werde ; i m Gegensatz

ausdrücklich zur Sprache gebracht

z u m Ausschliessungsgrunde

berechtigter Ablehnungsgrund

übt

ein

noch

niemals von selbst eine W i r k u n g

— Die Ablehnung i m f o r m e l l e n

so aus.

S i n n umfasst dagegen neben j e n e r

(der „ A b l e h n u n g wegen Besorgniss der Befangenheit"

§ 24) auch die

Geltendmachung von Ausschliessungsgründen, soweit dieselbe v o r dem Prozessakte stattfindet, v o n welchem ein bestimmter Richter ferngehalten werden soll.

Sie k a n n auf einem Parteiantrag oder einer E r k l ä r u n g

des Richters beruhen ; i n letzterem F a l l ist sie entweder die von diesem gemachte „Anzeige v o n einem Verhältnisse, welches seine A b l e h n u n g rechtfertigen

k ö n n t e " (§ 30),

oder

eine blosse E r k l ä r u n g

s t i m m u n g zur A b l e h n u n g seitens der Partei.

der

Letztere F o r m hat

Zuin-

sofern wieder eine s a c h l i c h e Bedeutung, als nach deutschem Rechte (§ 27 Abs. 2) es einer Entscheidung nicht bedarf,

wenn ein abge-

schaft eines durchgreifenden Ablehnungsgrundes abgesprochen, jedoch mit treffender Unterscheidung zwischen „blossen Meinungsdifferenzen" und „leidenschaftlicher politischer Gegnerschaft". Eingehend erörtert RG E vom 6. Juni 1882 Rspr IV 527 den Einfluss der eine Ausschliessung nicht begründenden früheren Betheiligung des Richters als solchen in der Sache und der Besorgniss des Festhaltens an den einmal ausgesprochenen Rechtsanschauungen: „Dass ein Richter durch die Mitwirkung bei Entscheidung einer Rechtsfrage verhindert werde, sich später einer unbefangenen Prüfung derselben Rechtsfrage zu unterziehen, lässt sich weder allgemein, noch für die Mehrzahl, noch für eine einigermaassen erhebliche Zahl von Fällen behaupten." Maassgebend ist hier wohl die Erwägung, dass die aus solchen regelmässig wiederkehrenden Verhältnissen immerhin erwachsende Gefahr („denkbar" sagt das RG) der Befangenheit vom Gesetzgeber durch Aufstellung der Ausschliessungsgründe so weit berücksichtigt wurde, als ihm dies mit den Bedürfnissen der Gerichtsorganisation überhaupt vereinbar schien. — Natürlich darf der abstract geäusserten wissenschaftlichen Ansicht über eine Rechtsfrage noch weniger Einfluss zugestanden werden, während im Gegentheile die selbst private Aeusserung einer Meinung über die noch schwebende Sache allerdings einen Ablehnungsgrund bilden kann. Es ist die Pflicht desjenigen, der zu gewärtigen hat, als Richter herangezogen zu werden, sich solcher Aeusserungen zu enthalten ; noch bedenklicher würde es sein, wenn ein Richter etwa aus Anlass eines Ablehnungsgesuches erklärt, er werde bei einer wiederholten Hauptverhandlung so wie früher entscheiden, und wäre es auch mit dem Vorbehalt des gleichen thatsächlichen Ergebnisses, da es doch Pflicht des Richters ist, auch über die Rechtsfrage die Parteien zu hören und gewissenhaft zu erwägen, was darüber von ihnen und was bei der collegialen Berathung vorgebracht wird. Dies ist nicht genügend gewürdigt, wenn das RG E vom 10. Februar 1882 Entsch V 437 von einer solchen Erklärung sagt, es sei „dasselbe, was jeder Richter in gleicher Lage sagen würde" ; dass es in diesem Falle das Ablehnungsgesuch für unbegründet erachtete, ist wohl insoweit berechtigt, als die Ablehnung jene Erklärung nur veranlasste, selbst aber nur auf die Mitwirkung des Richters bei einer früheren Hauptverhandlung gestützt war.

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§ 70. Ausschliessung und Ablehnung

lehnter Untersuchungs-

oder A m t s r i c h t e r 2 8

begründet

also

Ansicht

hält",

der

hier

Partei

und

lehnungsgrund a b g i e b t

29

die

des

das Ablehnungsgesuch f u r

Uebereinstimmung

Abgelehnten

einen

der

persönlichen

selbständigen

Ab-

.

V I I . B e i der Regelung des prozessualen Vorganges hat sich das Gesetz zunächst auf den Standpunkt gestellt, dass es die Ablehnung i m weiteren Sinne,

als Geltendmachung sowohl von Ausschliessungs-

als v o n Bedenklichkeitsgründen

einheitlich r e g e l t , wobei aber

nicht

vermieden werden k a n n , dass die Verschiedenheit beider u n d die Selbstablehnung Abweichungen von dieser Grundform

herbeiführen.

28 Die Beschränkung auf diese ergiebt sich aus der Stellung des Satzes im 2. Abs. des § 27 statt in einem besonderen Absatz, ferner aus der Entstehungsgeschichte des Textes. Vgl. RG E vom 10. Februar 1882 Entsch V 437. 29 Es ist das eine Anomalie, da es offenbar im Geiste der Gesetze liegt, dass Aenderungen in der Zusammensetzung der Gerichte nur durch wirkliche und von Unbefangenen als solche anerkannte Ablehnungsgründe herbeigeführt werden sollen. Es ist darum über den im Text bezeichneten Ausnahmefall nicht (wie ich HRLex I 11 geneigt war, zu thun) hinauszugehen ; wenn daher der Richter die in § 30 erwähnte „Anzeige" erstattet, ohne dass ein Ablehnungsgesuch vorliegt, so wird eine Entscheidung selbst dann nicht entbehrlich, wenn der Richter seine Ueberzeugung ausspricht, dass das angezeigte Verhältniss die Ablehnung begründe. — Andererseits muss bei der Würdigung solcher Anzeigen auch das Gefühl des Richters beachtet werden, welcher einer sein berechtigtes Zartgefühl verletzenden Lage zu entgehen wünscht. ( P u c h e l t sucht Bern 6 zu § 27 daneben den Ausweg zu eröffnen, dass der Richter „im Dienstwege dispensirt" wird; dafür bietet das Gesetz keinen Anhaltspunkt.) — Das RG Ε ν. 10. Februar 1882 Entsch V 437 schränkt indess die sachliche Bedeutung der Selbstablehnung noch weiter ein, indem es behauptet, § 27 Abs. 2 gewähre „zwar die Möglichkeit, das Gesuch ohne Beschluss in willfährigem Sinne zu erledigen, schliesse dagegen aber auch eine förmliche Entscheidung nicht aus, wenn gegenüber der Erklärung des Abzulehnenden gegen die Begründetheit des Antrages dennoch Bedenken obwalten". Das entspricht jedenfalls nicht dem Wortlaut des Gesetzes, das die Unterscheidung nicht macht und nur d e n Anhaltspunkt bietet, dass ein „Ablehnungsgesuch" vorliegen muss, also zum mindesten eine Parteierklärung, welche irgend einen Ablehnungsgrund anfuhrt. In diesem Sinne P u c h e l t a. a. 0 . ; J o h n , StPO I 353. S c h w a r z e bemerkt zu § 27, der Ausdruck „für begründet hält" sei eigens gewählt, um das „wenngleich pflichtmässige, doch immerhin subjective Ermessen des Abgelehnten entscheiden zu lassen". L ö w e , welcher der im angef. E hervortretenden Ansicht schon früher das Wort geredet hat, legt dagegen das Gewicht darauf, dass es einer Entscheidung nicht „bedürfe", dass aber dem Vertreter des Abgelehnten und dem Richter, der einen solchen bestellen soll, das Recht zugesprochen werden müsse, eine Entscheidung herbeizuführen. Für den letzteren halte ich dies innerhalb der oben bezeichneten Grenzen noch denkbar; lässt man es auch für den bereits bestimmten Stellvertreter gelten, so wird der Zweck des Gesetzes, Weiterungen zu vermeiden, völlig vereitelt, und es wäre dann besser gewesen, diese Form der Selbstablehnung nicht einzuführen.

von Gerichtspersonen.

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1. Bezüglich der Grundform ist zunächst zu erörtern, wem das Ablehnungsrecht zukomme? Ausdrücklich spricht § 24 Abs. 3 es der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu; aus § 437 Abs. 1 folgt, dass es auch dem Nebenkläger, aus § 466, dass es auch der nach § 464 die Anklage erhebenden Verwaltungsbehörde zusteht. Der Verletzte, welcher nach § 170 die gerichtliche Entscheidung über die Erhebung der Strafklage begehrt, hat darauf keinen Anspruch, soweit es sich blos um diese Entscheidung handelt, oder soweit er nicht später als Nebenkläger (§ 435 Abs. 2) erscheint. Bezüglich der einzelnen Prozessakte sind alle, welche ablehnen dürfen, gleichberechtigt, wenngleich thatsächlich die Gelegenheit, rechtzeitig zu erfahren, dass und von wem eine richterliche Handlung vorgenommen werden soll, nicht für alle die gleiche i s t 3 0 . Dies ändert nichts daran, dass derjenige, der durch rechtzeitige Erkundigung, oder angesichts der blossen Möglichkeit einer bevorstehenden Berathung sich die thatsächliche Möglichkeit der Ablehnung schafft, auch dazu berechtigt ist. Da die StPO selbst für die Hauptverhandlung nicht anordnet, dass die Namen der Richter dem Angeklagten vorher bekannt zu geben s i n d 3 1 , musste dem zur Ablehnung Berechtigten ausdrücklich das Recht darauf zugesprochen werden, dass ihm „auf Verlangen die zur Mitwirkung bei der Entscheidung berufenen Gerichtspersonen namhaft" gemacht werden (§ 24 Abs. 3). Daraus folgt von selbst, dass die Namhaftmachung so bald als möglich erfolgen muss und keinesfalls in einer das Recht zur Ablehnung vereitelnden Weise verzögert werden darf, wie nicht minder, dass der Namhaftmachung nachfolgende Aenderungen bekannt zu geben sind, ohne dass dies erst ausdrücklich verlangt w i r d 3 2 . 30

In beiden Beziehungen and. Mein. J o h n , StPO I 337. 338, welcher namentlich daraus, dass Prozessakte ohne vorausgegangene Vernehmung des Beschuldigten vorgenommen werden können, folgert, dass er bei solchen „prozessualisch gar nicht als Betheiligter angesehen werden kann", dass er kein Ablehnungsrecht und daher auch kein Recht auf Namhaftmachung der mitwirkenden Richter hat. 31 Nach § 303 ö. StPO sind dem Angeklagten die Namen der Mitglieder des Schwurgerichtshofs bei sonstiger Nichtigkeit spätestens am dritten Tage vor demjenigen, an welchem die Hauptverhandlung stattfinden soll, mitzutheilen. Die Zusammensetzung der ständigen Gerichtsabtheilungen (Raths- und Strafkammer) und die darin eintretenden Veränderungen sind nach § 2 der Vollzugsvorschrift vom 19. Nov. 1873 durch Anschlag am Gerichtshause bekannt zu machen. 32 V o i t u s Bern 5 zu § 24 beschränkt die Namhaftmachung auf „Urtheilsfällungen", da bei Entscheidungen anderer Art dieselbe nicht möglich. Zu dem gleichen Resultat gelangt durch die oben Anm 30 bezeichnete Folgerung J o h n , StPO I 338. S. dagegen T h i l o Bern 6, L ö w e Bern 5a, P u c h e l t Bern 6 zu § 24. Letztere

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§ 70.

Ausschliessung und Ablehnung

2. Das Recht der Ablehnung (im engeren Sinn) ist im allgemeinen an keine Frist gebunden; sie muss nur, da der Ablehnungsgrund an sich nicht wirksam ist, ehe er geltend gemacht wird, vor dem Akt erfolgen, von welchem der Abzulehnende fern gehalten werden soll. Nur mündliche Verhandlungen (Hauptverhandlungen) sollen nicht durch Ablehnungen rückgängig gemacht werden können; letztere werden daher nicht mehr beachtet, wenn sie in der ersten Instanz nicht „bis zur Verlesung des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfahrens, in den höheren Instanzen nicht bis zum Beginne der Berichterstattung erfolgen" (§ 25). Ob die Ablehnung unterblieb, weil der Ablehnungsgrund zu spät bekannt wurde, darauf kommt es nicht a n 3 3 . 8. Die Ablehnung ist eine Parteierklärung (§ 26), welche enthält : a. die Behauptung einer bestimmten Thatsache, welche die Beseitigung eines bestimmt bezeichneten Richters zu begründen geeignet ist (Ablehnungsgrund im w. S.) ; b. die Erklärung des Willens, das hieraus sich ergebende Parteirecht auszuüben, und c. den Antrag (das „Gesuch") auf Anerkennung und Verwirklichung desselben durch das Gericht. Ist die zur Ablehnung berechtigende Parteistellung nicht bereits anerkannt, so muss darüber die erforderliche Nach Weisung geliefert werden. Der Ablehnungsgrund ist „glaubhaft zu machen" (§ 26 Abs. 2) und zwar auf andere Weise als durch den sog. Perbeide machen mit Recht darauf aufmerksam, dass auch noch über die „Entscheidungen" hinauszugehen ist ; vor jeder richterlichen Thätigkeit (ζ. B. commissarische Vernehmung) kann der Ablehnungsberechtigte verlangen, dass ihm die dazu Berufenen namhaft gemacht werden, so bald dies möglich ist; und möglich wird es in den meisten Fällen sein. J o h n , StPO I 339 bespricht die Folgen der unterlassenen Namhaftmachung. Sie gebe dein Angeklagten das Recht, Vertagung der Hauptverhandlung zu begehren, und bei Ablehnung des Antrages hätte die Revisionsinstanz zu beurtheilen, ob Beschränkung der Vertheidigung vorliege. Mir scheint, dass es in der Regel genügen wird, dass der Ablehnungsberecbtigte die Namen der Gerichtspersonen zu einer Zeit erfährt, wo ihm noch das Ablehnungsrecht nicht abgeschnitten ist. Um ihm einen bestimmten Anspruch auf eine Erkundigungsfrist zu geben, wäre eine ausdrückliche Anordnung nötliig gewesen, wie sie § 245 enthält. 83 Anträge im entgegengesetzten Sinn wurden in der RtC ausdrücklich abgelehnt, Prot S 13. J o h n , StPO I 340 ff. will § 44 Abs. 4 CPO analog angewendet wissen. Es zeigt sich aber, dass er einen principiellen Unterschied zwischen Ausschliessungs- und Ablehnungsgründen nicht gelten lassen will. Diesen einmal zugegeben, kann man es nicht für unzulässig halten, dass der Gesetzgeber die Gefahr einer „Sprengung" des Gerichtes auf die Fälle beschränken will, wo dieselbe unvermeidlich ist. Muss ja J o h n selbst den Ablehnungsgründen nach der Fällung des Urtheils jede Wirksamkeit absprechen, obgleich Ausschliessungsgründe dieser Beschränkung nicht unterworfen sind.

von Gerichtspersonen.

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horrescenzeid ; dass es dessen bei gerichtsbekannten Thatsachen nicht bedarf, versteht sich hier von selbst. Das Gesetz gestattet, auf das „Zeugniss des abgelehnten Richters Bezug zu nehmen" ; darunter ist jedoch, wie die Commission, von der der Ausdruck herrührt, ausdrücklich constatirte 34 , nur die dienstliche Aeusserung des Richters gemeint; es genügt also, bei Thatsachen, die dem Richter bekannt sein können, statt jeder Glaubhaftmachung die Berufung auf seine dienstliche Aeusserung. 4. Das Ablehnungsgesuch kann schriftlich eingebracht oder „vor dem Gerichtsschreiber zu Protokoll erklärt werden" (§ 26 Abs. 1); letzteres geschieht auch bei mündlicher Vorbringung am Beginn der Hauptverhandlung. Zwischen der Anbringung des Gesuches und der Entscheidung über dasselbe liegt die dienstliche Aeusserung, zu welcher der abgelehnte Richter verpflichtet ist, ohne dass es einer besonderen Aufforderung bedarf. Immerhin aber macht sich dabei fühlbar, dass die Zuständigkeit zur Entgegennahme des Ablehnungsgesuches und zur Entscheidung über dasselbe nicht immer die gleiche ist. Das Gesetz beruft zu beiden Verrichtungen das Gericht, „welchem der Abgelehnte angehört" (§ 26 Abs. 1, § 27); allein diese Regel scheint durchgreifend nur für die Entgegennahme des Gesuches, während für die Entscheidung eine doppelte Ausnahme im Gesetz gemacht ist: a. „Wird ein Untersuchungsrichter oder Amtsrichter abgelehnt, so entscheidet das Landgericht." (§ 27 Abs. 2.) Dies scheint nur für letzteren eine Ausnahme zu sein, da der Untersuchungsrichter (wenn er nicht Amtsrichter ist) ohnehin dem Landgericht angehört; es liegt aber darin auch die Aufforderung, das Ablehnungsgesuch gegen den Untersuchungsrichter bei diesem selbst anzubringen 35 . Aber bei beiden tritt auch die Mehrdeutigkeit des Ausdruckes hervor: Gericht, dem er „angehört". Diese Angehörigkeit kann nämlich eine doppelte sein. Der Abzulehnende steht für die Dauer mit einem Gericht in Verbindung, kann aber bezüglich einer bestimmten Aufgabe einem 34 Trot d. 164. Sitz. Ani. L. H a h n S 1504. Die Mot des Entw sprechen übrigens bereits aus, dass förmliche Beweisaufnahmen möglichst vermieden werden sollen und dass nach Beschaffenheit des Falles die Vernehmung des Richters genügen könne. 36 Der Untersuchungsrichter ist eben „das Gericht", welches die Voruntersuchung führt. And. Mein. J o h n , StPO I 349, welcher es für unzulässig hält, dass das Ablehnungsgesuch beim Untersuchungsrichter angebracht werde, dagegen rathen muss, diesen davon in Kenntniss zu setzen, im übrigen aber die aufschiebbaren Handlungen, welche der Untersuchungsrichter nach Anbringung, wenn auch vor seiner Kenntniss des Ablehnungsgesuches vornahm, für ungiltig erklärt.

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§ 70.

Ausschliessung und Ablehnung

andern Gericht „angehören". So kann der Amtsrichter Mitglied einer auswärtigen Strafkammer, der Vorsitzende des Schwurgerichts Mitglied des Oberlandesgerichtes oder eines anderen Landgerichtes sein (§§ 78 und 83 G V G ) 8 6 . Im allgemeinen scheint es nun nicht zweifelhaft, dass — für Anbringung und Entscheidung — hier dasjenige „Gericht" maassgebend ist, welches den Prozessakt vorzunehmen hat, von welchem der Abgelehnte fern gehalten werden soll, also ζ. B. die auswärtige Strafkammer und das Schwurgericht, statt des letzteren vor dessen Zusammentritt die nach § 82 GVG berufene Strafkammer des Landgerichts; die Angehörigkeit beginnt m. E. mit dem Augenblick, wo die Berufung zur Mitwirkung ausgesprochen ist, so dass es auf den wirklichen Zusammentritt des Schwurgerichtes dafür nicht ankommt. — Der vom Reichsgericht bestellte auswärtige Untersuchungsrichter (§ 184 Abs. 2 GVG) gehört allerdings dem Reichsgerichte nicht an, allein die an sich gerechtfertigte Ansicht, dass dem ersten Strafsenat des letzteren die Entscheidung über die Ablehnung zusteht, kann sich auf § 138 in Verbindung mit § 72 GVG stützen 3 7 . — Bei dem beauftragten oder ersuchten Richter fehlt es dagegen an jedem Anhaltspunkt dafür, dem ersuchenden Gericht die Entscheidung zu übertragen. — Die dienstliche Aeusserung des Abgelehnten ist dem zur Entscheidung berufenen Gerichte zu erstatten; dieses hat sie nötigenfalls abzufordern. b. Der Abzulehnende kann wohl unter Umständen die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch entbehrlich machen, niemals aber selbst bei dieser Entscheidung mitwirken. Er scheidet für den Zweck dieser Entscheidung aus dem zu derselben berufenen Gerichte (vorläufig) aus, und letzteres muss auf die für sonstige Fälle der Verhinderung bestimmte Art ergänzt werden. Ist dies nicht möglich, so wird das 36 Die höhere dienstliche Stellung des Vorsitzenden ändert nichts daran, dass über seine Ausschliessung und Ablehnung das Gericht, dem er Vorsitzen soll, entscheidet. L ö w e Bern 1 b zu §27. Die deutsche StPO fasst eben den Ablehnungsakt als einen Zwischenfall des Prozesses auf, während die österr. (§ 72) die Entscheidung über die Ablehnung in der Regel dem Vorsteher des Gerichtes, zu welchem die abgelehnte Gerichtsperson gehört, überträgt (wenn ein Gericht oder der Vorsteher eines solchen abgelehnt wird, entscheidet das nächst höhere Ger i c h t ) . — Im Gegensatz zu L ö w e a. a. 0. will P u c h e l t Bern 3 zu § 26, dass das Ablehnungsgesuch gegen den Amtsrichter als Mitglied der auswärtigen Strafkammer bei dem Amtsgericht angebracht werde, dem er „nicht entzogen" sei, ebenso bezüglich der anderen im Text erwähnten Fälle auswärtiger Verwendung. Für ihn ist nur der „Beginn der Schwurgerichtsperiode" maassgebend, vorher gehöre der Abzulehnende noch nicht dem Schwurgericht an. S. dagegen auch J o h n , StPO I 351. 37 And. Mein. J o h n , StPO I 352.

von Gerichtspersonen.

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Gericht (namentlich auch die auswärtige Strafkammer) „durch das Ausscheiden des abgelehnten Mitgliedes beschlussunfähig" und dann „entscheidet das zunächst obere Gericht" (§ 27 Abs. 1), also das Oberlandesgericht, und wenn dieses beschlussunfähig wird, das Reichsgericht. 5. Die Entscheidung, durch welche das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt wird, ist unanfechtbar (§ 28 Abs. I ) 3 8 . Beschlüsse im entgegengesetzten Sinn unterliegen der sofortigen Beschwerde, soweit eine solche überhaupt zulässig ist: was bei Entscheidungen des Oberlandesgerichts nicht eintrifft (§ 346 Abs. 3 ) 3 9 . — Handelt es sich um ein Mitglied eines „erkennenden Gerichtes", d. h. eines Gerichtes, welches auf Grund mündlicher Hauptverhandlung ein Urtheil fällen soll, so kann die Zurückweisung der Ablehnung nicht selbständig, sondern nur durch das gegen das ergehende Urtheil gewährte Rechtsmittel, also auch nur soweit ein solches offen steht, angefochten werden: d. h. die ungerechtfertigte Abweisung ist Berufungs- und Revisionsgrund; und zwar gilt dies auch dann, wenn der Beschluss ausser der Hauptverhandlung erging, oder wenn die Ablehnung des „erkennenden" Richters nur Wiederholung einer in früheren Stadien des Verfahrens gegen dieselbe Person gerichteten Ablehnung ist, welche erfolglos blieb. Auch das Revisionsgericht hat in solchem Falle die Entscheidung des unteren Gerichtes uneingeschränkt zu überprüfen, allerdings nur indem es prüft, ob dieses das Ablehnungsgesuch „mit Unrecht verworfen" hat (§ 344 Nr 3). Es hat also sich keineswegs auf die Rechtsfrage, die nur selten aufzuwerfen sein wird, zu beschränken, andererseits aber weder neue Ablehnungsgründe, noch neue Beglaubigungen vorgebrachter Ablehnungsgründe zu berücksichtigen, sondern das Material, das der ersten Instanz vorlag, mit deren Ausspruch zu vergleichen und dann zu entscheiden, ob dieser gerechtfertigt erscheine 4 0 . 38

Die Mot erklären die Ausschliessung des Rechtszuges damit, dass dafür kein Bedürfniss vorhanden sei ; dies ist jedoch nicht zutreffend, da an der ordnungsmässigen Zusammensetzung des Gerichtes alle Betheiligten ein Interesse haben und durch die von einer Partei ausgehende ungerechtfertigte Ablehnung das Recht anderer verletzt werden kann. Indess erspart die Anordnung Verwickelungen, welche, verglichen mit jenem Interesse, schwerer ins Gewicht fallen würden. 39 Um dies ausser Zweifel zu stellen, ward dem § 136 GVG seine jetzige Fassung gegeben; vgl. P u c h e l t Bern 4, L ö w e Bern 2 zu § 28. 40 K r i e s , Rechtsmittel S 231 meint dasselbe, wenn er sagt, dass das Revisionsgericht nur „neue thatsächliche Gründe nicht in Betracht zu ziehen", überhaupt nicht zu prüfen hat, „ob das Gesuch objectiv begründet ist". — Dass

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§ 70. Ausschliessung und Ablehnung

V I I I . Von der eben dargestellten Grundform des Verfahrens muss in mehrfacher Weise abgegangen werden. 1. Da Ausschliessungsgründe den Mangel eines wesentlichen Prozesselementes (einer Prozessvoraussetzung) begründen, so liegt im öffentlichen Interesse, dass sie möglichst bald entdeckt und berücksichtigt werden. Daraus ergiebt sieh, dass jede Anregung eines Ausschliessungsgrundes, welche zur Kenntniss des Gerichtes gelangt, so lange es noch Zeit ist, den Prozess den nachtheiligen Einwirkungen desselben zu entziehen, beachtet werden muss: hier tritt also die Frage nach der Berechtigung zur Anregung, nach der Form und Frist der Geltendmachung 4 1 , endlich nach der Glaubhaftmachung in den Hintergrund. Das Gericht hat von Amts wegen dafür zu sorgen, dass sein Verfahren nicht als ungiltig angefochten werden könne, aus was immer für einer „Veranlassung Zweifel darüber entstehen, ob ein Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen sei" (§ 30 und Mot dazu). 2. Naturgemäss tritt auch eine Abweichung ein, wenn „ein Richter von einem Verhältniss Anzeige macht, welches seine Ablehnung rechtfertigen könnte". Hier bedarf es keiner Parteierklärung, kommt aber auch kein Recht einer Partei in Frage ; die Erklärung des Richters ist, unbeschadet des Rechtes des Gerichtes, nötigenfalls die Sachlage weiter aufzuklären, genügende Grundlage der Entscheidung. Ist diese ergangen, so bildet sie m. E. ein Internum des Gerichtes, gleichviel ob der Richter in Folge seiner Selbstablehnung ausgeschieden bleibt oder bei Nichtanerkennung derselben seinen Platz wieder einnimmt. Indess ist dies bestritten und steht im Zusammenhang mit der nun zu besprechenden Frage: das Revisionsgericht wenigstens hier nicht an der Prüfung der Thatfrage gehindert ist, ergiebt sich daraus, dass in der RtC Prot S 13 die Zulassung der Revision in solchem Falle eben mit der Hinweisung auf die UnStatthaftigkeit jener Prüfung erfolglos bekämpft wurde (Schwarze). Vgl. L ö w e Bern 7 zu § 377; S c h w a r z e , H H I I 296; RG E vom 17. Juni und 30. Nov. 1882 Rspr IV 527. 854. Principiell anderer Ansicht J o h n , StPO I 360 ff., der es versucht, die Revision auch hier auf Verletzung von Rechtsgrundsätzen einzuschränken, während umgekehrt K e l l e r Bern 12 zu § 377 den Revisionsrichter imeingeschränkt prüfen lässt, ob die Ab lehnung o b j e c t i v gerechtfertigt war. 41 G e y e r § 78 I I sagt: „Erlangt eine Partei erst nach dem entscheidenden Zeitpunkt Kenntniss von dem Vorhandensein eines Ablehnungsgrundes, so kann das Gericht . . . dennoch auf Grund des § 30 StPO entscheiden." Nach der Stellung des Satzes auf Ablehnungsgründe i. e. S. bezogen, ist dies nicht richtig. Soweit das Gericht ohne „ein förmliches Gesuch" vorgehen kann, kommt es gar nicht darauf an, wann die Partei Kenntniss erlangte. Ersteres ist aber nach § 30 nur in zwei Fällen zulässig, bei der Selbstanzeige des Richters und bei Ausschliessungsgründen. Vgl. K e l l e r Bern 2 zu § 30.

129

von Gerichtspersonen.

I X . Kann derselbe Richter in derselben Strafsache wiederholt abgelehnt werden? — Es giebt zunächst einen Fall, wo dies für die Partei rathsam ist, wenn sie ihr volles Recht wahren w i l l : wenn nämlich ein bereits im Verlaufe des Prozesses erfolglos abgelehnter Richter als Mitglied des erkennenden Gerichtes eintritt. Unterlässt hier die Partei, die Ablehnung zu erneuern, so kann sie sich zwar auf § 377 Nr 3 noch berufen; es ist aber fraglich, ob zur Auslegung nicht der Gegensatz der beiden Absätze des § 28 herangezogen wird, deren zweiter nur von einem „gegen einen erkennenden Richter angebrachten Ablehnungsgesuch" spricht. — Aber auch abgesehen davon ist die Entscheidung über die Ablehnung im engeren Sinne die Erledigung eines auf einen bestimmten Grund gestützten Antrages einer bestimmten Partei ; letzterer kann nicht verwehrt werden, andere Ablehnungsgründe vorzubringen 4 2 ; andere Parteien sind nicht gehalten, eine Entscheidung gelten zu lassen, die nicht wider sie erging. Ist dies richtig, so kann noch weniger die negative Entscheidung über die Selbstablehnung eines Richters, dem dagegen ohnehin kein Rechtsmittel zusteht, das Recht der Parteien abschneiden 43 . X. Worin bestehen die Wirkungen der Ausschliessung und Ablehnung? Man hat hier ein dreifaches zu unterscheiden: die von jeder Entscheidung unabhängige Wirkung, die aus einer solchen hervorgehenden Personalverhältnisse, endlich die Folgen der ungenauen Beobachtung der in der Materie geltenden Regeln. 1. Der A u s s c h l i e s s u n g s g r u n d wirkt von selbst, sobald er vorhanden ist ; sobald ihn der Richter erkannt hat, ist er verpflichtet, sich des Einschreitens in der Sache gänzlich zu enthalten, die im § 30 erwähnte Anzeige zu erstatten und dadurch zu veranlassen, dass die richterliche Aufgabe in die für diesen Fall berufene Hand gelegt werde. Ausdrücklich spricht sich das Gesetz hierüber nicht aus ; ohne zwischen 42 Mit Grund zwar wahrt L ö w e Bern 9 zu § 27 dem Gericht das Recht, sich durch chicanöse Erneuerung des Ablehnungsgesuches gegenüber derselben Person nicht beirren zu lassen; a b e r P u c h e l t Bern 7 das. schliesst sich ihm nur mit dem Vorbehalt an: „sofern es (das Gesuch) sich nicht auf seither n e u e n t s t a n d e n e Ablehnungsgründe stützt"; auch für diese Einschränkimg besteht aber kein gesetzlicher Anhaltspunkt. 43 And. Mein. P u c h e l t Bern 4 zu § 28: „Die betreffende Entscheidung untersteht den §§ 33 ff., ist also den Betheiligten zu eröflnen und diese können selbst die sofortige Beschwerde erheben, weil es nach § 346 nicht darauf ankommt, wessen Gesuch verworfen ist." Das hängt aber eben davon ab, ob man bei der ganz subjectiven Natur der Ablehnung im e. S. denjenigen, der eine Ablehnung nicht angeregt hat, als von deren Zurückweisung „betroffen" (im Sinne des § 35) ansehen kann.

Binding, Handbuch. IX. 4. I I : G l a s e r , Strafprozess. I I .

9

130

§ 70. Ausschliessung und Ablehnung

Ausschliessungs- und Ablehnungsgründen zu unterscheiden, untersagt § 29 dem „abgelehnten Richter", „vor Erledigung des Gesuches" Handlungen vorzunehmen, welche „Aufschub gestatten". Diese Bestimmung ist aber zutreffend nur für eigentliche Ablehnungsgründe ; für Ausschliessungsgründe war sie einerseits nicht nothwendig, weil es sich von selbst versteht, dass der Richter das nicht thun darf, wovon er „kraft des Gesetzes" ausgeschlossen ist; andererseits hätte es einer ausdrücklichen Vorschrift bedurft, um die Vornahme selbst der unaufschieblichen Handlungen ihm möglich zu machen 4 4 . Dass bei einer A b l e h n u n g im engeren Sinn dem Abgelehnten g e s t a t t e t ist, auch dringende Amtshandlungen dem zu seiner Vertretung Berufenen bis zur Entscheidung über die Ablehnung zu überlassen, wie angenommen w i r d 4 5 , lässt sich mit dem Wortlaut des § 29, der eben nur nicht dringliche Handlungen zu untersagen scheint, in Einklang bringen und wird durch die Fassung der Motive bestätigt, wonach der Abgelehnte „nicht sogleich von jeder Mitwirkung ausgeschlossen sein soll", wo es dann aber freilich auch heisst, er sei „ v e r p f l i c h t e t und befugt, solche Handlungen vorzunehmen, welche nicht bis zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch aufgeschoben werden können" 4 6 . Der Grund, warum der Abgelehnte die von ihm vorgenommene Handlung für unaufschieblich hielt, ist aktenkundig zu machen. 2. Sobald die Ablehnung für begründet erklärt ist, ist auch derjenige, wider welchen nur ein Ablehnungsgrund vorlag, ausgeschlossen (kraft der Entscheidung, wenn auch nicht kraft des Gesetzes). Diese Ausschliessung gilt für alle folgenden Stadien des Strafprozesses. Statt des Abgelehnten tritt derjenige Richter ein, welcher nach den Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes (s. namentlich §§ 62.65. 66) 44 L ö w e Bern 1 zu § 22, ferner Bern 2 zu § 29; T h i l o das.; P u c h e l t Bern 3 das. Eine ganz eigentümliche Stellung nimmt J o h n , StPO I 306 ein; er gelangt praktisch zu dem Resultat, dass die Ausschliessung nur für die Hauptverhandlung von Bedeutung ist. — Die ö. StPO enthält nur bezüglich des A u s s c h l i e s s u n g s g r u n d e s eine Vorschrift, nach welcher sich der Richter, s o b a l d i h m d i e s e r b e k a n n t w i r d , b e i s o n s t i g e r N i c h t i g k e i t , aller Handlungen zu enthalten hat mit Ausnahme solcher, welche wegen Gefahr im Verzuge nicht bis zur Bestellung eines andern Richters aufgeschoben werden können; selbst unaufschiebliche Handlungen darf der Richter nicht vornehmen, wenn gegen seine Angehörigen einzuschreiten wäre (§ 68). Da die Ablehnung immer beim Vorgesetzten anzubringen ist, ist es diesem möglich, sogleich die nöthige Verfügung zu treffen. 46 L ö w e Bern 1 a zu § 29. 46 Der Einklang lässt sich herstellen, wenn man annimmt, dass die Pflicht (auch P u c h e l t Bern 4 zu § 29 sagt: „darf und soll er") nur da besteht, wo weder Aufschub, noch augenblickliche Uebertragung an einen Stellvertreter möglich ist.

von Gerichtspersonen.

131

zu dessen Stellvertretung überhaupt berufen ist. Ist es nicht möglich, einen Stellvertreter heranzuziehen oder, bei Ablehnung mehrerer, die Ergänzung des Gerichtes (der Gerichtsabtheilung), welches mit der Sache befasst ist, zu bewirken, dann ist „das an sich zuständige Gericht" „verhindert" und es hat „das zunächst obere Gericht die Untersuchung und Entscheidung dem gleichstehenden Gericht eines anderen Bezirks" zu übertragen ( § 1 5 StPO). Die Vertretung einer Kammer des Gerichtes durch eine andere Kammer desselben Gerichtes ist dabei nicht in Aussicht genommen, und dem entspricht es dann, dass es auch für unzulässig erachtet wird, dass bei Ablehnung eines Amtsrichters dieser durch einen andern bei demselben Amtsgericht bestellten Amtsrichter vertreten werde, also auch hier das Amtsgericht als solches verhindert i s t 4 7 . 3. Was die Wirkung der Nichtbeachtung der Regeln über Ausschliessung und Ablehnung betrifft, so ist schon der durchgreifende Unterschied hervorgehoben worden, dass erstere kraft Gesetzes eintritt, letztere nur wirksam ist kraft der zu ihrer Durchführung nöthigen Prozessakte. Der Prozessakt, an welchem ein kraft Gesetzes oder „für begründet erklärter" (§ 377 Nr 3) Ablehnung ausgeschlossener Richter theilnahm, ist an sich n i c h t i g 4 8 ; ob daraus die Nothwendig47

S c h w a r z e zu Abs. 2 des § 27 unter Berufung auf die Mot zu § 44 CPO : „Das Amtsgericht wird durch die Ablehnung des Amtsrichters stets beschlussunfähig, auch wenn es mit mehreren Richtern besetzt ist." Ebenso P u c h e l t Bern 5, T h i l o Bern 2 das. Die gleiche Auffassung liegt offenbar dem § 24 des preuss. Ausfiihrungsgesetzes zum GVG vom 24. April 1878 zu Grunde ; ebenso dem § 23 der sächs. V vom 1. März 1879, § 12 des weimar-eisenachschen Ges vom 20. März 1879, § 15 des Ges für Meiningen vom 16. Dec. 1878, § 12 des Ges vom 7. April 1879 für Coburg-Gotha, § 15 des anhaltischen Ges vom 10. Mai 1879, § 11 des Ges für Schwarzburg-Sondershausen vom 16. Mai 1879, § 12 des Ges für SchwarzburgRudolstadt vom 27. Mai 1879, § 11 des Ges für Reuss ä. L. vom 16. April 1879, § 13 des Ges für Reuss j. L. vom 22. Febr. 1879, § 14 des Ges für das Fürstenthum Lippe vom 24. März 1879 ; die entgegengesetzte, wie mir scheint, dem § 19 des bayer. AG vom 23. Febr. 1879, dem Art. 4 des württemb. AG vom 24. Jan. 1879, dem § 10 des bad. Ges vom 3. März 1879, dem Art. 10 des hess. Ges vom 3. Sept. 1878, dem § 5 der Ges vom 17. Mai 1879 für Mecklenburg-Schwerin und Strelitz, dem Art. 15 des Ges für das Herzogthum Oldenburg vom 10. April 1879, dem Art. 12 des Ges für das Fürstenthum Lübeck vom 2. April 1879, dem § 13 des Ges für Schaumburg-Lippe vom 30. Juni 1879, dem § 16 des Ges für die Stadt Lübeck vom 3. Febr. 1879. Auch K e l l e r Bern 5, D a l c k e Bein 3, V o i tus Bern 5 zu § 27 hegen kein Bedenken dagegen, dass der Amtsrichter durch einen andern Amtsrichter desselben Amtsgerichtes vertreten werde. — Nach ö. Recht bestimmt der Vorgesetzte oder das Gericht, welche über die Ablehnung entscheiden, den Richter, dem die Sache übertragen wird (§ 74). 48

John,. StPO I 340 geht weiter; er legt der Nichtbeobachtung der Vorschrift des § 29 die Wirkung bei, dass auch die Entscheidung, vermöge welcher 9*

132

§ 71.

keit folgt,

das E n d u r t h e i l

Die Staatsanwaltschaft. aufzuheben, hängt von der Beantwortung

der Frage ab, ob auf j e n e m A k t das U r t h e i l „ b e r u h t " 4 9 ; ausdrücklich ausgesprochen ist dies n u r

bezüglich der M i t w i r k u n g beim U r t h e i l e

selbst (§ 377 N r 2. 3). A u c h hier w i r d beim Zusammentreffen mehrerer Strafsachen

das U r t h e i l

n u r hinsichtlich derjenigen aufzuheben sein,

bezüglich welcher ein M i t w i r k e n d e r ausgeschlossen w a r 5 0 . X I . D i e Bestimmungen über Ausschliessung wegen mittelbaren oder u n m i t t e l b a r e n Interesses an der Sache (§ 22) finden auf Geschworene Anwendung,

die über A b l e h n u n g

richtsschreiber, dem

über

sie beigegeben

überhaupt

auf Schöffen

und

Ge-

deren A b l e h n u n g das Gericht oder der Richter, sind,

entscheidet,

entsprechende

Anwendung

(§§ 31. 32). Ueber die Ausschliessung von Gerichtsvollziehern s. § 156 I I G V G ; über die Ausschliessung u n d A b l e h n u n g von Dolmetschern s. § 192 G V G u n d oben § 69 A n m 4. § 71. I.

Die

Staatsanwaltschaft1.

D i e Gestaltung des Strafprozesses, bei welcher überhaupt von

der Staatsanwaltschaft ernstlich die Rede sein kann, muss auf der A n die Ablehnung für unbegründet erklärt wurde, nichts daran ändern kann, dass die vor dieser Entscheidung aber nach der Ablehnung gegen jene Vorschriften vorgenommene Handlung nichtig ist. — Mit Recht bemerkt er dagegen, dass die Mitwirkung beim Urtheil niemals zu den Handlungen gehört, welche keinen Aufschub gestatten. Es liegt in der klaren Absicht des Gesetzes, dass über die Ablehnung eines erkennenden Richters sofort entschieden werde, ehe die Hauptverhandlung eröffnet, d. h. zur Verlesung des Eröflnungsbeschlusses geschritten wird. Wäre ein Ablehnungsgesuch unbeachtet gelassen, darüber gar nicht entschieden worden, so würde hierauf § 377 Nr 3 zwar nicht wörtlich passen; allein wenn die Rechtsmittelinstanz erachtet, dass das Ablehnungsgesuch begründet war, so beruht hier das Urtheil auf einer doppelten Verletzung des Gesetzes. 49 So ζ. B. RG E vom 10. u. 24. Juni 1880 Rspr I I 51. 104, welche Urtheile aufrecht erhalten, obgleich ein ausgeschlossener Richter an dem Eröffnungsbeschluss, an einer die Vertagung der Hauptverhandlung behufs weiterer Erhebungen anordnenden Beschlussfassung theilgenommen hat. So sagt RG E vom 29. Januar 1884 Rspr V I 64 von einem unter Mitwirkung des Untersuchungsrichters gefassten Eröffnungsbeschluss, er sei „allerdings nicht nichtig, aber jedenfalls anfechtbar", und weil die Anfechtung in der Hauptverhandlung unterblieb, ward das Urtheil aufrecht erhalten. S. dagegen RG E vom 29. April 1880 Rspr I 698 (vgl. übrigens unten die Besprechung der Mängel des Eröflnungsbeschlusses). Bezüglich der Theilnahme des Berichterstatters an der Hauptverhandlung s. RG E vom 29. Januar 1884 Rspr V I 64. 50 Die Frage streift RG E vom 16. Februar 1883 Rspr V 122. 1 Ausführliche Literaturangaben Bd. I § 16 Anm 12 sowohl bezüglich der positiven Gesetzgebung über Staatsanwaltschaft im ref. deutschen Strafverfahren als

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

erkennung folgender Sätze beruhen: Das Recht der Strafverfolgung ist gesondert von dem Recht auf Verhängung der Strafe ; das letztere auch bezüglich der Reformbestrebungen in dieser Epoche. Dazu noch nachzutragen : Ζ f. d. Strafv. I 378 if. ( B a y e r , Das Institut der StA im Grossh. Baden), I I 316 ff. (Bopp, Der öffentliche Ankläger und der Staatsprocurator in Hessen bei Rhein). S. auch M i t t e r m a i e r , Strafverf. § 45 ; d e r s., Gesetzg. und Rechtsüb. S 144 ff. 355ff. ; P l a n c k , Syst. Darst. §§ 11—16; Z a c h a r i a e , Handb. §§ 62—64; W a l t h e r , Bayer. StPR §§ 15—19; D o l l m a n n , Syst. d. bayer. StPR §§ 4 2 - 4 5 ; ders., Commentar S 107 f.; v. W ü r t h zu §§ 51—60 ö. StPO von 1850; R u l f zu §§ 29-^36 ö. StPO von 1853; v. H y e - G l u n e k , Leitende Grundsätze S 122 ff.; H e r b s t , Einleitung S 61 ff. (2. Hptst. A II); v. S t e m a n n , Preuss. StP §§ 21—23; L ö w e , Preuss. StPR § 16; O p p e n h o f f , Bern 1. 75. 81 zu § 1 preuss. V von 1849, zu §§ 2—10 das. u. zu Art. 1 Ges von 1852; S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO von 1855 I 61 ff; T i p p e i s k i r c h , GA 1854 S 447 ff.; Demmes Schwurgerichtsz. 1857 S 225 ff.; Heusers Ann IV 7 (Rechtsmittel der StA zu Gunsten bestrafter Zeugen). — Bezüglich der f r a n z ö s i s c h e n StA vgl. Bd. I § 15 I und die Literaturangaben das. Anm 1, insbes. die dort enthaltene Anführung der Specialwerke von O r t o l a n et L e d e a u , M a s s a b i a u , C a m b u z a t (noch hinzuzufügen: de M o l è n e s , Traité pratique des fonctions du procureur du Roi, 2 vol. Par. 1843; ferner das Ges vom 27. Jan. 1873, welches den Art. 144 C. d'I. bezüglich der Vertretung der Staatsanwaltschaft bei den Polizeigerichten ändert; s. noch G l a s e r , Oesterr. GZ 1885 Nr 61. 62). Bezüglich E n g l a n d s s. Bd. I § 14 II, wobei zu bemerken ist, dass das dort erwähnte Ges vom 3. Juli 1879 sich nicht bewährt zu haben scheint (Z f. StRW IV 527) und bereits eine geänderte Einrichtung erwogen ward (Münchner Allg. Ztg. vom 20. Juni 1884). Den Angaben über italienische Literatur Bd. I § 15 Anm 23 ist hinzuzufügen B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 1—26. 64—87; C a r r a r a , Progr. p. gen. §§ 861 ss.; N i e c o l i n i , Proced. pen. Nr503 ss.; T a r a n t o , Delle persone necessarie nel giudizio penale, Palermo 1882, ρ 20 ss. (accusatore — pubblico ministero); V a c c a , I poteri del pubbl. min. ne' casi di flagrante reato, Riv. pen. X V I I 3 — 4; B u c c e l l a t i , Istituzioni Nr 844 ss. — Bezüglich der principiellen Behandlung der Staatsanwaltschaft im neuesten Strafprozessrecht muss auf das Bd. I § 20 (Princip der Staatsanklage), § 22 (Stellung der Parteien) gesagte verwiesen werden. S. übrigens in Bezug auf das neueste Recht: d. GVG §§ 142—153, d. StPO §§ 33. 36. 100. 105. 151—154. 156 ff. 213. 225. 338. 416. 483, ö. StPO §§ 2. 29-37. 75. 76. 282. 283. 354 und die Motive und Commentare dazu, Erl. d. österr. JM vom 23. Nov. 1873 Nr 14956; v. B a r , Systematik §§ 45. 46; J o h n , StPR § 20; HH I 425 ff. I I 42 ff. 77. 79 (Fuchs), 582 ff. (Schwarze); B i n d i n g , Grundr. d. StP §§ 51—56; L u e d e r , Grundr. §§43—45; G e y e r §§ 95—98; K a y s e r S 95 ff; D o c h o w , Reichsstrafprozess §§ 27—31; U l l m a n n §§ 55—58; R u l f , Oesterr. StP §§ 39—43; V a r g h a , StPR §§ 68. 69; H o l t z e n d o r f f in s. RLex Art. Staatsanwalt I I I 739 ff.; T i n s c h , Die Staatsanwaltschaft im deutschen Reichsprozessrecht. Erlangen 1883; K ö n i g , Geschäftsverwaltung der Staatsanwaltsch. in Preussen. Berlin 1883; C h u c h u l , Die Amtsanwaltschaft. Kassel 1880; ders., Das Bureauwesen der Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten. Kassel 1884; D u g e n d , Geschäftskreis und Thätigkeit der Staatsanwaltsch. bei den Landgerichten. Berlin 1884; v. M a r e k , Die Staatsanwaltschaft bei den Land- und Amtsgerichten in Preussen. Berlin 1884. Vgl. auch die

134

§71.

Die Staatsanwaltschaft.

legt der Staat unter allen Umständen in die Hände von Gerichten, die er auch seinem eigenen Einfluss möglichst entzieht; das erstere dagegen darf einerseits nicht in die gleichen Hände gelegt, es muss andrerseits als ein Recht des Staates angesehen werden. Jetzt erst kann unci muss die Frage entstehen, durch welche Hände der Staat dieses sein Recht ausüben lässt. Fast überall wird unter dieser Voraussetzung eine gewissermaassen gelegentliche und auf einzelne Fälle oder Classen von Fällen beschränkte Vorsorge der Staatsregierung für die Wahrung besonderer Interessen an der Strafverfolgung hervortreten, gleichviel ob dafür besondere Aemter geschaffen werden wie in England, oder ob man sich auf Bestellung von Vertretern des Staates von Fall zu Fall beschränkte, was beides hie und da in Deutschland und in Italien bei sog. Fiscalprozessen am Ausgang des Mittelalters und noch später der Fall w a r 2 . Daneben konnte man immer noch für das grosse Ganze der Strafrechtspflege auf die freiwillige (Rom) oder erzwungene (England) Uebernahme der (theoretisch als dem Staate zukommend anerkannten) Strafverfolgung durch Private rechnen. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass — wie es praktisch in England geschieht und in noch grösserem Maasse bis vor kurzem geschah und auch in Dänemark 3 der Fall ist — die staatliche Strafverfolgung Advocaten, oder wie es vielfach vorgeschlagen wurde und hie und da auch vorgekommen ist, richterlichen Beamten als solchen übertragen wird. Von einer Staatsanwaltschaft, wie sie unser neuestes Strafprozessrecht kennt, kann aber erst dann die Rede sein, wenn die Ausübung und Wahrung des staatlichen Rechtes der Strafverfolgung auf dem ganzen Gebiete der Strafrechtspflege oder doch in weiten Kreisen derselben einer eigens dafür bestellten Behörde, welche, von den Gerichten losgelöst, ihre eigenthümliche Gliederung hat, übertragen wird. I n diesem Sinne ist es mehr Literaturangaben von G i a n n e l i a (in dessen ital. Ausg. der ö. StPO) und R i e h l zu § 29 ö. StPO. 2 O r t l o f f , Der fiscalische Strafprozess. Leipzig 1859. S 13 ff.; B i e n er, Beiträge S 78 ff. 92. 208; Sel ο p i s , Della autorità giudiziaria ρ 151 ss.; N i c c o l i n i Nr 506 n. 5. C a r r a r a § 866 fasst, wie ich glaube, die Dinge richtig auf, wenn er sagt, thatsächlich seien gegen Ende des 14. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern Procuratoren der Regenten vorgekommen, die in Ermangelung eines Anklägers, der noch nicht für unentbehrlich gehalten wurde, vielleicht in dem an die Strafarten geknüpften Interesse des Fiscus, statt der schweigenden Beschädigten einschritten: cosi forse passamo dalla rappresentanza del fisco pel ricupero delle ammende, alla rappresentanza generale della società. 8 Nach einer Mittheilung in der R. de droit international IV 1872 ρ 707 wird das Geschäft der Strafverfolgung vom Justizminister ausgewählten, unter sich alternirenden Advocaten übertragen.

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

interessant als unmittelbar bedeutend, die Keime der Staatsanwaltschaft geschichtlich zu verfolgen. Vergebens wird man versuchen, im römischen Criminalprozess Spuren der Staatsanwaltschaft nachzuweisen; was man dafür vorbringt, sind Thatschen wie die, dass die Verfolgung der Verbrechen auch kraft gewisser Aemter erfolgen konnte, oder Spuren der Entwickelung des inquisitorischen Princips oder polizeiliche Vorkehrungen für die Entdeckung der Verbrechen und der Verbrecher; weder die duumviri perduellionis, noch quaestores (etwa parricidii), noch stationarii, cursores und nuntiatores, ja selbst nicht die etwas höher stehenden irenarchae und defensores civitatum haben mit der Staatsanwaltschaft im oben bezeichneten Sinne etwas gemein 4 . Die zahlreichen germanischen Einrichtungen, in welchen man Anklänge an dieselbe finden wollte 5 , sind im gleichen Falle. Eher könnte man dies von dem im kirchlichen Strafprozess, zumal in der Ketzerinquisition und wohl auch sonst in Spanien vorkommenden promotor inquisitionis gelten lassen 6 , stünde nicht daneben die principielle Abwendung des Strafprozesses vom Anklagegrundsatze. Selbst in F r a n k r e i c h , wo allein (wenn man etwa von Schottland absieht) eine Staatsanwaltschaft im angegebenen Sinn in ununterbrochener geschichtlicher Entwickelung sich herausgebildet hat, muss man vieles zufällige und nur scheinbar analoge bei Seite lassen, wenn man das Wesen der Institution erkennen w i l l , welche so, wie sie sich dort i n n e r h a l b des S t r a f p r o z e s s e s thatsächlich entwickelt hat, auch in unser neuestes Recht Eingang fand, jedoch mit Ausnahme derjenigen französischen Einrichtungen, welche der Staatsanwaltschaft allzu grossen Antheil an den Rechten des überdies dem Generalprocurator untergeordneten Untersuchungsrichters gewährten. I I . Die Gliederung der Staatsanwaltschaft in Deutschland ist so wie ihre Stellung im Organismus der Rechtspflege durch das Gerichtsverfassungsgesetz vorgezeichnet, welches nicht hindert, dass die Landesgesetzgebung — soweit sie sich dadurch mit Wortlaut und Geist der 4 Vgl. G e i b , Geschichte S 528; M i t t e r m a i e r , Strafverfahren § 45 Anm 3ff.; ders., Art. Staatsanwalt in Bluntschlis Staatslexikon X I I 541 if.; H é l i e , Instr. Nr 78. 239; C a r r a r a § 865; N i c c o l i n i Nr 505. 6 Bald in den sajones, bald in den karolingischen missi dominici, bald in den Centgrafen, bald in der Rügepflicht der Gemeinde, den Einrichtungen der Vehme u. dgl. m., s. namentlich M i t t e r m a i er im angef. Art. S 542—544. 6 B i e n e r , Beiträge zur Geschichte des Inquisitionspr. S 208 ff. Aehnliches gilt von den dort erwähnten Fiscalprocuratoren, vielleicht auch von den in Venedig im 13. Jahrhundert vorkommenden avogadori del commune, den florentinischen conservatori di leggi. Vgl. die Anm 2 angef. Schriften und M i t t e r m a i e r in Bluntschlis Staatslex. a. a. O. S 542. 543.

136

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

Reichsgesetze nicht in Widerspruch setzt — der Staatsanwaltschaft noch andere Aufgaben übertrage, als welche die Reichsgesetzgebung ihr zuweist. Vor allem ist hier des verschiedenen Ursprunges der Amtsgewalt der Staatsanwaltschaft zu gedenken. Die staatsanwaltschaftlichen Verrichtungen am Reichsgericht kommen dem von Reichswegen bestellten Oberreichsanwalt und dessen Stellvertretern (den Reichsanwälten) zu. Diese werden auf Vorschlag des Bundesrathes vom Kaiser ernannt, stehen unter der Aufsicht und Leitung des Reichskanzlers 7 und sind ausdrücklich (GVG § 149) und durch Versagung der richterlichen Unabhängigkeit in ihrer amtlichen Stellung (§ 150 Abs. 2) für „nicht richterliche" Beamte erklärt. I n dem gleichen Verhältniss, in welchem sie zur Reichsjustizverwaltung stehen, stehen alle anderen staatsanwaltschaftlichen Beamten zur Landesjustizverwaltung (GVG § 148 Nr 2 ) 8 . Als durchgreifende Vorschrift ist ferner hervorzuheben, dass die Aemter der Staatsanwaltschaft bei allen Gerichten mit Ausnahme der Amtsgerichte nur mit Beamten bestellt werden können, welche zum Richteramt befähigt sind (§ 149), dass die Staatsanwaltschaft „in ihren Amtsverrichtungen unabhängig von den Gerichten" ist (§ 151 das.), dass andrerseits ihren Beamten „eine Dienstaufsicht über die Richter nicht übertragen werden darf" (§ 152 das.). Die nicht beim Reichsgericht bestellten Staatsanwälte können zwar richterliche Beamte sein, dürfen aber „richterliche Geschäfte nicht wahrnehmen" (vgl. § 149 mit § 1 5 2 das.) 9 . Der Wirkungskreis des Oberreichsanwalts ist der Regel nach im Sinne des französischen Rechtes auf die Betheiligung an den vor das Reichsgericht in erster und letzter oder blos in letzter Instanz 7 GVG § 148 Z. 1, § 150. Des Leitungsrechtes des Oberreichsanwaltes gegenüber den Reichsanwälten geschieht nicht a u s d r ü c k l i c h Erwähnung, ausgenommen soweit sich dasselbe auf alle Arten staatsanwaltschaftlicher Beamten erstreckt (GVG § 147 Abs. 2); doch ergiebt es sich unzweifelhaft aus § 145 GVG. 8 Ein ziemlich verwickeltes Verhältniss entsteht dann, wenn der Sprengel eines Oberlandesgerichtes mehrere Bundesstaaten umfasst, in welchem Falle der erste Staatsanwalt am Oberlandesgericht nothwendig zu mehreren Landesjustizverwaltungen in das im Text bezeichnete Verhältniss tritt. 9 Daraus ergiebt sich, dass der Landesgesetzgebung ein weiter Spielraum bezüglich der Einrichtung der Staatsanwaltschaft gelassen ist; fast unbegrenzt ist die Freiheit bezüglich der Amtsanwälte; und weit gehend, weil eigentlich eine principielle Verschiedenheit begründend, ist die der Landesjustizverwaltung gelassene Freiheit, auch richterliche Beamte als Staatsanwälte bei Land- und Oberlandesgerichten zu bestellen: eine Ermächtigung, von welcher auch Gebrauch gemacht wurde, s. die Zusammenstellung bei L ö w e Bern 1 zu § 149 GVG. Indess kann dagegen um so weniger eingewendet werden, weil in der Commission die Neigung entschieden hervortrat, gerade dieses Verhältniss als das regelmässige vorzuziehen. Vgl. auch S c h w a r z e in HH I I 584.

§ 71.

Die Staatsanwaltschaft.

gehörigen Strafsachen beschränkt; nur ausnahmsweise nimmt er die Stellung des dienstlichen Vorgesetzten der gesammten Staatsanwaltschaft des Reiches ein, nämlich bei Competenzconflicten zwischen Beamten der Staatsanwaltschaft, die nicht einem anderen gemeinsamen Vorgesetzten unterstehen (GVG § 144 Abs. 3), und bei Strafsachen, für welche das Reichsgericht in erster und letzter Instanz zuständig ist (§ 147 Abs. 2 das.). — Im übrigen ist der erste Staatsanwalt beim Oberlandesgerichte (Oberstaatsanwalt) der dienstliche Vorgesetzte zunächst der übrigen bei diesem Gerichte, dann der bei allen Gerichten seines Sprengeis bestellten Beamten der Staatsanwaltschaft; und in gleicher Weise ist es für den Sprengel des Landgerichtes der erste Beamte der dort bestellten Staatsanwaltschaft. Der dienstliche Vorgesetzte ist befugt, jede Amtsverrichtung dem „zunächst zuständigen" Beamten abzunehmen und entweder sie selbst zu übernehmen oder mit der Wahrnehmung derselben einen anderen Beamten zu beauftragen ( D e v o l u t i o n und S u b s t i t u t i o n ) ; nur dürfen Amtsanwälte als solche 10 nicht vor anderen als Amtsgerichten und bei letzteren nicht bezüglich der Vorbereitung der öffentlichen Klage für vor höhere Gerichte gehörige Sachen staatsanwaltschaftliche Verrichtungen besorgen (§§ 146.143 Abs. 2 GVG). Innerhalb der durch vorstehendes bezeichneten Beschränkung kommt der Gedanke der E i n h e i t d e r S t a a t s a n w a l t s c h a f t zu praktischem Ausdruck; es ist müssig, auf die im französischen Recht vielbesprochene Frage einzugehen, ob die staatsanwaltlichen Vorgesetzten allein primär das Recht des Strafverfolgung haben und es ihren Untergebenen nur übertragen (delegiren), oder ob umgekehrt nur ein Recht der Vorgesetzten besteht, ausnahmsweise in das selbständige Recht der übrigen einzugreifen; praktisch kommt es auf dasselbe hinaus: jeder Beamte handelt kraft der g e s e t z l i c h e n Zuständigkeit der Behörde, der er angehört, und kraft der a u s d r ü c k l i c h e n Geschäftsvertheilung, welche der erste Beamte dieser Behörde vorgenommen hat, und vermöge der Unterlassung eines ändernden Eingreifens der dazu berechtigten Vorgesetzten. Wie dem auch immer sei, ist seine Berechtigung zum Einschreiten eine innere Angelegenheit der Staatsanwaltschaft. Dem Gericht gegenüber bedarf es keines anderen Nachweises derselben, als welcher sich daraus ergiebt, dass er 10

Da es nämlich nicht ausgeschlossen ist, dass demselben Beamten staatsanwaltschaftliche Verrichtungen bei verschiedenen Gerichten übertragen werden (§ 142 GVG verlangt nur, dass bei jedem Gerichte „eine Staatsanwaltschaft" bestehe, nicht aber, dass e i η Beamter ausschliesslich dieser zugewiesen werde), so kann allerdings ein beim Landgericht, bez. einer auswärtigen Strafkammer bestellter Beamter der Staatsanwaltschaft daneben auch als Amtsanwalt aufgestellt werden.

138

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

zur Zahl der gesetzlich nicht ausgeschlossenen staatsanwaltschaftlichen Beamten gehört und dass der bei dem Gericht bestellte erste Staatsanwalt gegen sein Einschreiten nicht Einsprache erhebt. Was der so legitimirte Beamte gethan oder unterlassen hat, ist als von der Staatsanwaltschaft als solcher gethan oder unterlassen anzusehen und unterliegt einer Aenderung nur insoweit, als er auch selbst berechtigt wäre, eine solche vorzunehmen 11 . Gilt dies nach aussen, so besteht im Innern der Staatsanwaltschaft das Verhältniss der U n t e r o r d n u n g , vermöge dessen der vorgesetzte staatsanwaltschaftliche Beamte leitend und daher auch verbessernd in die Thätigkeit der ihm Untergebenen eingreift. Die B e s c h w e r d e an den Vorgesetzten ist, den e i n e n Fall ausgenommen, in welchem sie das Gesetz erwähnt, weil es sie dort mit anderen prozessualen Actionen in Verbindung bringt, nichts als die an sich gleichgiltige Veranlassung für den Vorgesetzten, zu prüfen, ob für ihn ein Grund zu verbesserndem Eingreifen vorhanden s e i 1 2 . Eben darum steht die Beschwerdeführung jedem ohne Beschränkung auf Fristen oder Zahl der Instanzen frei; ihr Erfolg hängt, abgesehen von sachlichen Gründen, auch davon ab, wie weit der Angerufene demjenigen, gegen welchen die Beschwerde gerichtet ist, übergeordnet ist, was bezüglich 11

Hiermit hängt auch die viel erörterte Frage zusammen, ob der Staatsanwalt gegen eine in Gemässheit seines Antrages ergangene Entscheidung ein Rechtsmittel ergreifen kann; allein da diese Frage auch bezüglich des Beschuldigten zu besprechen ist, findet sie ihren Platz besser in der Lehre von den Rechtsmitteln. Darüber, dass das Gericht nicht zu prüfen hat, wie weit die Haltung des vor ihm auftretenden Beamten der Staatsanwaltschaft innerhalb der Grenzen der ihm von seinen Vorgesetzten ertheilten oder gelassenen Vollmacht liegt, vgl. H é l i e , Instr. Nr 497. 498. — Der im Text gebotenen Darstellung der Gliederung der Staatsanwaltschaft in Deutschland sei die derselben in O e s t e r r e i c h hier angefügt. Sie ist ebenfalls von dem französischen Vorbilde nur dadurch unterschieden, dass der Staatsanwaltschaft jede Ueberwachung der Gerichte, jede Vornahme von Untersuchungsakten entzogen ist, ausserdem dadurch, dass die Staatsanwaltschaft auf die Mitwirkung beim Strafprozess und Disciplinarverfahren beschränkt ist. Die dienstliche Gliederung findet auch hier ihren Mittelpunkt in den bei den Oberlandesgerichten bestellten Oberstaatsanwälten, welche unmittelbar dem Justizminister unter-, den Staatsanwälten bei den Gerichtshöfen erster Instanz übergeordnet sind. Letztere führen auch die Aufsicht über die bei den Einzelgerichten fungirenden Organe der Staatsanwaltschaft. Der Generalprocurator am Cassationshofe nimmt an der Strafverfolgung als solcher keinen Antheil, auf die Staatsanwälte bei anderen Gerichten keinen anderen Einfluss, als welcher sich aus seiner Mitwirkung bei den Verhandlungen vor dem Cassationshof und aus seinem Recht zur Ergreifung der N i c h t i g k e i t s b e s c h w e r d e z u r W a h r u n g des Gesetzes (§§ 3 und 292 StPO) ergiebt. 12 L ö w e Bern 2 zu § 148, Bern 7 zu § 164 GVG, Bern 2 zu § 170 StPO.

§ 71.

Die Staatsanwaltschaft.

des Verhältnisses der Staatsanwälte beim Landgericht zu den Amtsanwälten reichsgesetzlich nicht geregelt i s t 1 3 . I I I . Stellung und Aufgabe der Staatsanwaltschaft im Strafprozess ergiebt sich zunächst aus den Verhältnissen, welche ihre Heranziehung nothwendig machten: ohne sie müsste entweder der Richter zugleich Ankläger sein oder es müsste die Anwendung der Strafgesetze abhängig sein von den durch den einzelnen Fall erregten Leidenschaften oder berührten Interessen. Als Organ des Staates für die Ausübung seines Strafverfolgungsrechtes ist sie ein wesentliches Element der Strafrechtspflege. Einmal vorhanden dient sie jedoch überhaupt dazu, es entbehrlich zu machen, dass der richterlichen Gewalt die die Reinheit ihrer Stellung gefährdende Aufgabe gestellt werde, die Interessen des Staates im Strafprozess wahrzunehmen. I m Hauptpunkte fällt allerdings das Interesse des Staates mit der unmittelbaren Aufgabe des Richteramtes zusammen: die Strafgesetze sollen unparteiisch, nach ihrem wahren Sinn und Geist auf die mit Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Mittel klargestellten Thatsachen angewendet werden ; es soll keinem Angeklagten mehr noch weniger geschehen, als die Wahrheit und Gerechtigkeit gestatten und fordern. Wie immer wieder zu sagen ist, steht in diesem Hauptpunkte das Interesse des Staates nicht unbedingt im Gegensatze zu dem des Beschuldigten. Noch weniger aber darf irgend ein anderes Interesse des Staates diesem seinem Hauptinteresse die Geltung streitig machen. Allein innerhalb des so bezeichneten Raumes können Interessen des Staates bestehen, deren Berücksichtigung und Vertretung eine durchaus berechtigte Aufgabe der Staatsanwaltschaft i s t 1 4 . 13

Vgl. F u c h s , HH I 452. Vor allem geht das Interesse des Staates nicht wie das des Angeklagten im einzelnen Strafprozesse auf. Gelingt es letzterem, das Gericht fur eine ihm günstige Lösung einer zweifelhaften Rechtsfrage zu gewinnen, so ist damit sein Interesse an der Sache erschöpft. Die Staatsanwaltschaft muss sich gegenwärtig halten, dass eine Auslegung des Gesetzes, welche dem einzelnen Falle eine auch nach ihrer Auffassung wünschenswerthe Lösung sichert, etwa im vorliegenden Falle der Anklage günstig ist, einen Grundsatz zur Geltung bringen kann, welcher in anderen Fällen und auf anderen Gebieten Folgerungen nach sich ziehen muss, die mit den berechtigten Interessen der Anklage oder auch der Verteidigung unvereinbar sind. Es ist ferner ein unzweifelhaftes und ein berechtigtes, wenn auch über den Rahmen des einzelnen Strafprozesses weit hinausreichendes Interesse des Staates an die E i n h e i t der R e c h t s p r e c h u n g geknüpft: so viel als möglich dazu beizutragen, dass im ganzen Geltungsgebiete des Gesetzes dasselbe in gleicher Weise gehandhabt werde, und zwar entsprechend den Absichten, welche die gesetzgebende Gewalt bei Erlassung des Gesetzes leiteten, ist daher eine Aufgabe der Staatsanwaltschaft, 14

140

§71.

Die Staatsanwaltschaft.

Zum Theil hängt es mit dieser Doppelstellung der Staatsanwaltschaft, nach welcher sie nicht blos für den einzelnen Fall Sorge zu tragen, sondern auch das Ganze der Strafrechtspflege im Auge zu behalten hat, zusammen, dass ihr auch Aufgaben und Rechte zugesprochen sind, die über dasjenige hinausreichen, was für die Erhebung und Durchführung einer bestimmten Strafklage nöthig ist, und vermöge welcher sie namentlich auch auf die Constituirung des Gerichtes Einfluss nimmt. Hierher gehört: dass die Staatsanwaltschaft über die Streichung eines Schöffen aus der Jahresliste zu hören ist (§ 52 GVG), dass die Ausloosung der Hauptgeschwornen in ihrer Gegenwart erfolgt (§ 91 das., anders nach § 15 das. bei den Schöffen), dass sie gehört werden muss, wenn es sich um die Ausschliessung oder Ablehnung von Urtheilern oder um die Bestrafung ausgebliebener Schöffen oder Geschwornen oder um von diesen selbst geltend gemachte Ablehnungs- und Hinderungsgründe handelt (§§ 52. 53. 56. 94 GVG, §§ 282. 283. 286 StPO), dass sie in Verhandlungen über Privatklagen vielfach eingreift und dass ihr (mit Ausnahme der Amtsanwälte) die Besorgung der Strafvollstreckung zukommt, wie sie denn überhaupt bezüglich aller im Strafprozess verhandelten Gegenstände — soweit sie nicht ausdrücklich durch das Gesetz ihrer Einwirkung entzogen sind, oder sie selbst sich der Betheiligung an der Verhandlung im ganzen enthält — das welcher ein analoges Interesse des Angeklagten und der Vertheidigung nicht gegenübersteht und welche es namentlich rechtfertigt, dass sie beim Gebrauch der Rechtsmittel nicht auf die Fälle beschränkt wird, wo es gilt, Abhilfe gegen eine concrete Verletzung der Interessen der Anklage zu suchen. — Es ist ferner schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass gewisse aus der strafbaren Handlung erwachsende Nebenansprüche die an andere Zweige des Staatsdienstes geknüpften Interessen des Staatsdienstes berühren; es ist denkbar, dass das Gesetz die Erhebung dieser Ansprüche (z. B. auf Beschlagnahmen in Presssachen, Schmälerung der Ehrenrechte, Ausweisungen u. dgl.) der Staatsanwaltschaft anheimstellt, und wo dies nicht der Fall ist, wird es jedenfalls ihre Sache sein, bei Stellung und Begründung ihrer Anträge auf das Interesse des Staates Rücksicht zu nehmen. — Endlich können allerhand Zwischenfälle des Prozesses die verschiedensten Interessen des Staates aufs empfindlichste berühren; es kann z. B. von der Vornahme einer öffentlichen Hauptverhandlung an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit eine gefährliche Störung der öffentlichen Ruhe drohen, es kann wichtig sein, dass einer auftauchenden verleumderischen Beschuldigung sogleich die volle Aufklärung gegenübergestellt werde; in anderen Fällen kann es sich um die Wahrung wichtiger Staatsgeheimnisse oder Abwendung des Verlustes von Staatsvermögen handeln. Soweit es nun thunlich ist, ohne mit demjenigen in Widerstreit zu gerathen, was nöthig ist, damit im einzelnen Falle voll und unverkürzt geschehe, was Rechtens ist, hat die Staatsanwaltschaft die angedeuteten Interessen des Staates nach Kräften zu wahren.

§71.

Die Staatsanwaltschaft.

Recht hat, gehört zu werden, Anträge z u stellen u n d Rechtsmittel z u ergreifen,

während

es missverständlich

wäre,

das Gericht

an

ihre

I n i t i a t i v e da zu binden, wo dies das Gesetz nicht t h u t 1 5 . D i e deutschen Reichsgesetze haben

( i m Gegensatz

Recht), zum T h e i l an französische V o r b i l d e r anwaltschaft

überdies

welche nothwendig

mit

sind,

der

Besorgung

anknüpfend, von

zum

österr.

die Staats-

Geschäften

betraut,

u m den Prozess selbst i m Gang u n d

die

Verrichtungen des Gerichtes i n O r d n u n g zu halten : i n nicht geringem Umfange besorgt die Staatsanwaltschaft

das Kanzleigeschäft

auch für

das Gericht, sie t r ä g t Sorge für die erforderlichen Zustellungen (§ 36) und Ladungen (§ 213), auch für die vom Gericht angeordneten, vermittelt

den Verkehr

der Gerichte

unter

einander,

auch den durch den Rechtsmittelzug nöthig gewordenen,

sie

insbesondere u n d sie hat

dies selbst i n solchen Prozessen zu t h u n , an deren V e r h a n d l u n g sie gar nicht t h e i l n i m m t (§§ 361. 362. 387. 430 Abs. 3). IV.

Wichtiger

als alles dies ist jedoch die S t e l l u n g , welche die

Staatsanwaltschaft i n dem e i n z e l n e n selbst w i l l e n e i n n i m m t .

Strafprozesse

um

seiner

Diese kann, da fast bei j e d e m Prozessakt auch

der Stellung der Staatsanwaltschaft z u erwähnen ist, hier n u r i m U m riss gezeichnet werden. 15 So ging es gewiss zu weit, wenn die braunschweigische Praxis (Braunschw. Ζ 1855 S 27, vgl. Schletters J I I 160 Nr 2) annahm, dass Ungehorsamsstrafen gegen nicht erschienene Auskunftspersonen, selbst in Privatanklagesachen, nur auf Antrag des Staatsanwaltes verfügt werden könnten. — Im heutigen deutschen Strafprozess ist die Stellung der Staatsanwaltschaft zur Busse Zweifeln unterworfen. L ö w e Bern 2 b zu § 152 sagt, die Staatsanwaltschaft habe den Anspruch auf Busse „nicht zu vertreten"; sicher kann sie ihn nicht aus ihrer Initiative stellen und m. E. kann sie bei dem privatrechtlichen Charakter derselben nicht durch ihre Rechtsmittel den Verzicht der allein betheiligten Parteien auf die Anfechtung des Urtheils (also weder den des Angeklagten, noch den des Verletzten) unmittelbar unwirksam machen ; sicher ist andererseits, dass sie das Fundament des Ausspruches über die Busse uneingeschränkt anfechten und so diesen hinfällig machen kann. L ö w e Bern 5 zu § 443, Bern 10 a. b zu § 444. Theilw. and. Ans. S t e n g l e i n , GS 1883 S 323, welcher gestatten will, dass der Staatsanwalt zu Gunsten, nicht aber, dass er zu Ungunsten des Angeklagten Rechtsmittel einlege, letzteres nicht, „weil der Nebenkläger der ausschliessliche Träger des Verlangens nach Busse ist", wogegen aber geantwortet werden kann, dass auch die Verurtheilung zur Busse ausschliesslich Sache des Angeklagten ist. Indess ist für sich allein weder ersteres ausschliesslich maassgebend, noch letzteres richtig. Es besteht zwischen Strafzumessung und Verhängung der Busse ein gewisser Zusammenhang, den der Richter nicht unberücksichtigt lassen darf und daher auch der Staatsanwalt zum Gegenstande seiner Einwirkung machen kann, soweit er nicht durch den auch für ihn bindenden Verzicht des in seinem Privatrecht Berührten daran gehindert wird.

142

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

1. Die Staatsanwaltschaft ist die Trägerin der I n i t i a t i v e d e r S t r a f v e r f o l g u n g ; sie übt das dem Staate zukommende Strafverfolgungsrecht für diesen und in dessen Namen aus. Dieses Recht ist nach beiden Seiten hin Beschränkungen oder vielmehr Ausnahmen vermöge der dem Verletzten zustehenden besonderen Rechte unterworfen: vermöge derselben kann sie nämlich unter Umständen gezwungen werden, die Initiative der Strafverfolgung selbst zu ergreifen, unter anderen muss sie dulden, dass dieselbe vom Privatkläger ergriffen wird. Dies sowohl als auch das für die Entschliessung der Staatsanwaltschaft maassgebende L e g a l i t ä t s p r i n c i p und die Regel, vermöge welcher die Staatsanwaltschaft nach einmal eröffneter Untersuchung die Straf klage nicht z u r ü c k z i e h e n kann, ist bereits B a n d i §§ 19—22 besprochen worden. Hier darf noch gesagt werden, dass die Staatsanwaltschaft allerdings nicht der dominus litis, wohl aber die vollberechtigte Vertreterin desselben, des Staats als Trägers des Strafverfolgungsrechtes, ist. S o w e i t mit Rücksicht auf das gesetzlich ausgesprochene Legalitätsprincip und die Eigenart des Strafprozesses ausdrückliche oder stillschweigende Verzichte oder Zugeständnisse, endgiltig bindende Erklärungen oder Zurückziehungen derselben überhaupt vorkommen können, ist dasjenige rechtswirksam, was die Staatsanwaltschaft als solche erklärt, gethan oder unterlassen hat. Nur das letztere ist hier zu erklären ; wann das erstere gilt, muss nach der Natur der einzelnen Prozessakte beurtheilt werden 1 6 . 16 Diese Fragen sind von denen der völlig freien Verfügung über die Strafklage, einschliesslich der Zurückziehung derselben, unabhängig. Man kann sehr wohl letztere dem Staat und seinem Repräsentanten zugestehen und doch, ja dann erst recht, annehmen, dass, wenn die Strafklage aufrecht erhalten und also richterliche Entscheidung darüber begehrt wird, diese nicht durch Willensakte der Staatsanwaltschaft eingeengt werden darf; und umgekehrt, man kann den französischen Satz, die Staatsanwaltschaft verfüge nicht negativ über die Straf klage (ni transiger, ni se désister), voll gelten lassen und doch zu dem Resultat gelangen, dass, so wie sie Herrin der Prozesstaktik bleibt, auch ihren ausdrücklichen oder stillschweigenden Verzichten bezüglich einzelner Elemente des Prozesses eine gewisse Bedeutung zukommt. Durchgreifend ist auch hier, dass i n n e r h a l b des Prozesses dem Gericht die freie Prüfung möglichst wenig zu schmälern ist, dass daher regelmässig die Parteien nur Anträge stellen können, die das Gericht n i c h t binden. Eben darum muss es auch den Parteien zustehen, dem Gericht, so lange dieses noch freie Hand hat, in jedem Moment die Gründe vorzutragen, welche nach ihrer gegenwärtigen Anschauung, gleichviel ob sie mit einer früheren übereinstimmen oder nicht, geeignet sind, eine sachgemässe Entscheidung des Gerichtes herbeizuführen. Dagegen steht es anders, soweit die Parteien Prozessrechte bindender Natur auszuüben haben (das wichtigste Beispiel dafür bietet der Gebrauch von R e c h t s m i t t e l n , die Herbeischaffung von Beweisen), und wieder anders, soweit die Parteien sich über Verletzung ihrer for-

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

2. Die Stellung der Staatsanwaltschaft in dem einmal eröffneten Strafverfahren muss von dem zweifachen Gesichtspunkt aus betrachtet werden: sie soll dem einseitigen Fartei-Interesse des Beschuldigten gegenüber das Gleichgewicht dadurch wahren, dass sie selbst, ausgestattet mit allen Parteirechten, welche sich aus clem Strafverfolgungsrechte des von ihr vertretenen Staates ergeben, den Verhandlungen folgt; — aber andrerseits hat die Partei, die sie zu vertreten hat, nicht wie der Beschuldigte ein unbedingtes Interesse an einem bestimmten Ausgang des Strafprozesses, sondern das Interesse derselben kann unter Umständen mit dem des Angeklagten zusammenfallen (vgl. Band I § 3 Nr 5). Der Beruf der Staatsanwaltschaft ist sicher in erster Linie, Partei zu nehmen gegen den von ihr Angeklagten, und sie kann daher, soweit das Wesen der Sache in Betracht kommt, i m Strafprozess keine anderen als Parteirechte in Anspruch nehmen: sie kann nicht entscheiden, nur Anträge stellen, dieselben durch Beweise und Gründe unterstützen, zu diesem Zweck richterliches Gehör und richterliche Entscheidung unter Einhaltung des gesetzlich geordneten Verfahrens verlangen; ihre Grundrechte i m Prozess sind daher die auf den Bestimmungen der §§ 33 und 34 beruhenden. Sie sind im wesentlichen die gleichen wie die des Angeklagten, wenngleich der beständige Geschäftsverkehr zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht in Bezug auf die Form desselben einige Verschiedenheit begründet (vgl. Band I § 22 I I am Schluss). An dieser Behandlung und Stellung als Partei, die vor einem unparteiischen Richter wider eine andere Partei verhandelt, ändert es nichts, wenn die Staatsanwaltschaft sich in einzelnen Fällen gegen letztere thatsächlich nicht als Gegnerin verhält; sie ist dazu allerdings, eben weil sie nicht blos Partei, sondern Vertreterin des Staates, Behörde ist, überall verpflichtet 1 7 , wo sie sonst gegen besseres Wissen und Erkennen handeln würde, ja wo sie auch nur mellen Parteirechte beklagen wollten, angesichts von Beschlüssen, die in Gemässheit ihrer Anträge oder ihrer Haltung im Prozess ergingen. In all diesen Beziehungen aber ist die Stellung der Staatsanwaltschaft von der des Angeklagten nicht verschieden. Vgl. übrigens über den Verzicht auf Beweismittel Bd. I § 43, auf den Zeugeneid das. § 51 VIII, über Z u g e s t ä n d n i s s e § 36 IV, § 52 I Nr 5. In der Prozessrelation: Der Cassettendiebstahl in Cöln, Berlin 1846, S 27 heisst es: S t a a t s p r o c u r a t o r : „Vielleicht bin ich im Stande, durch eine Erklärung das Verhör abzukürzen. Es wird von der Anklage zugegeben, dass zu Paris am 1. Juni d. J. u. s. w. Der Vertheidiger verzichtet nach dieser Erklärung auf das Verhör (eines Zeugen)." 17 Vgl. § 158 d. und § 3 ö. StPO und die die Rechtsmittel zu Gunsten des Angeklagten betreffenden Bestimmungen § 338 Abs. 1 und § 405 d., §§ 282. 283. 354 ö. StPO.

144

§ 71. Die Staatsanwaltschaft.

ein dem Beschuldigten günstiges Moment unterdrücken müsste 18 . Allein wenn die Staatsanwaltschaft in solcher Weise den Parteistand· punkt aufgiebt, so ist dies nicht immer äusserlich erkennbar und kann auch das Gericht nicht binden ; auch in solchem Fall stellt die Staatsanwaltschaft nur A n t r ä g e , über die das Gericht frei e n t s c h e i d e t . Dagegen ist andrerseits die Staatsanwaltschaft eine Behörde, deren Wirksamkeit sich nicht auf die eben geschilderte Thätigkeit i m Prozess beschränkt; sie verfügt unabhängig über die Erhebung der Strafklage und es sind ihr zur Vorbereitung dieser Entscheidung Rechte gegenüber anderen Behörden, theilweise selbst gegenüber den Gerichten eingeräumt, die durchaus auf ihrer selbständigen und eigenartigen Stellung als Behörde unter den Behörden beruhen und die zum Theil schon früher angedeutet sind, ausführliche Darstellung aber bei der Schilderung des der Eröffnung des eigentlichen Strafprozesses vorangehenden Verfahrens finden müssen. Aus dem eben gesagten ergiebt sich auch, wie im allgemeinen das gegenseitige Verhältniss zwischen der Staatsanwaltschaft einerseits und dem Gericht und den sonst am Strafprozess activ oder passiv Theilnehmenden sich gestalten muss. I n s t a a t s r e c h t l i c h e r Beziehung ist sie eine den Gerichten zur Seite gestellte Behörde, in p r o z e s s u a l i s c h e r Hinsicht ist sie eine Partei, der eine Partei gleichberechtigt gegenübersteht und die gleich dieser die Leitung der Verhandlung und die Entscheidung der Sache von dem über beiden stehenden Gerichte zu erwarten hat. V. Die Norm für ihr Verhalten zu und in einem bestimmten Strafprozesse haben die Beamten der Staatsanwaltschaft naturgemäss in den Gesetzen, den für sie selbst ergangenen allgemeinen Geschäftsanweisungen und in der Ansicht zu finden, welche sie sich über die thatsächliche Lage und rechtliche Natur des Falles gebildet haben oder vielmehr bei fortgesetzter vorurtheilsfreier Beachtung des Ganges des Prozesses und der allmählich hervortretenden Ergebnisse und Zwischen18

Es findet dies einen positiven Ausdruck in denjenigen Bestimmungen, welche den Staatsanwalt verpflichten, dem Gericht die Akten über aussergerichtliche Erhebungen vorzulegen, sowie in denjenigen, welche das Vertrauen der Gesetzgebung ausdrücken, dass er nicht unterlassen werde, auch zu Gunsten des Angeklagten sprechende Beweise fur die Hauptverhandlung herbeizuschaffen. Darin unterscheidet sich eben unbedingt die Stellung des Staatsanwalts von der des Vertheidigers; letzterer würde geradezu unverantwortlich handeln, wenn er Material, welches den Angeklagten belastet, ohne ausdrückliche Zustimmung des Angeklagten oder ohne dass er Grund hat, anzunehmen, es liege dies schliesslich doch in dessen Interesse, selbst hervorzieht und dem Gerichte vorlegt; er darf das nicht thun, was im umgekehrten Falle der Staatsanwalt zu thun verpflichtet ist.

§71.

Die Staatsanwaltschaft.

fälle desselben von Sehritt zu Schritt bilden.

I s t er aber auch ver-

pflichtet u n d eben darum berechtigt, u n t e r allen Umständen sich ledigl i c h von seiner eigenen gewissenhaften Ueberzeugung leiten zu lassen, oder ist er gehalten, sich nach Weisungen u n d Aufträgen zu richten, welche i h m von hierzu berufener Seite ertheilt werden?

Dass ersteres

nicht unbedingt bejaht, letzteres nicht unbedingt verneint werden k a n n , ergiebt sich schon daraus, dass nach d e u t s c h e m R e c h t 1 9 der staatsanwaltschaftliche

Beamte verpflichtet

oder zu v e r t r e t e n , übereinstimmt.

welche m i t

ist,

eine Anklage

seiner B e u r t h e i l u n g

Dies lässt allerdings

zu

erheben

des Falles nicht

die namentlich i m

französi-

s c h e n R e c h t 2 0 vielbestrittene Frage noch offen, wie w e i t der staats19

Anders nach ö s t e r r . Recht, wo die Versetzung in Anklagestand nur auf Grund einer von dem Staatsanwalt überreichten Anklageschrift erfolgen kann (§ 207, allerdings mit Ausnahmen, die aber das Einschreiten des Privatbeteiligten als Subsidiäranklägers voraussetzen, § 48 Nr 2), und wo die Staatsanwaltschaft die von ihr erhobene Anklage in jedem Augenblick zurückziehen kann. — Es darf indess nicht übersehen werden, dass auch das deutsche Gesetz vom Staatsanwalt in den im Text bezeichneten Fällen nur eine f o r m e l l e Mitwirkung fordert; nach der Aktenlage ist es dann dem Gericht klar, dass der Impuls zur Eröffnung und Fortführung des Strafverfahrens nicht vom Staatsanwalt ausgeht. Es bleibt letzterem, eben weil seine dem Angeklagten günstigen Erklärungen das Gericht nicht binden, unbenommen, die nominell von ihm erhobene Anklage von Schritt zu Schritt zu bekämpfen; hierin gebührend Maass zu halten und weder die Achtung, die dem Gerichtsbeschluss gebührt, noch die wichtigere Pflicht zu verletzen, sich davor zu hüten, dass er auf eine ungerechte Schädigung des Angeklagten hinwirke, ist Sache nicht blos feinen Tactes, sondern zartesten Gewissens. Der beste Rath, der dem in solcher Lage Befindlichen ertheilt werden kann, ist, sich eben an die oben bezeichnete Hauptaufgabe der Staatsanwaltschaft zu halten: nicht selbst einseitig zu sein, aber der dem Beschuldigten nicht zu verübelnden einseitigen Geltendmachung seines Interesses das Gegengewicht zu halten. Auch in solchen Fällen würde also der Staatsanwalt pflichtwidrig handeln, wenn er unterliesse, Verschleppungen entgegenzutreten, zur Vollständigkeit der Beweisaufnahme, zur Erprobung der Stichhaltigkeit der Beweismittel das seinige beizutragen, in seinem Schlussvortrage neben dem, was nach seiner Ansicht die Schuld des Angeklagten zweifelhaft macht, auch die gegen ihn sprechenden Beweise hervorzuheben, endlich bei der rechtlichen Beurtheilung der That, diese als erwiesen vorausgesetzt, sich nur vom Gesetz, nicht von seiner Ansicht über die Thatfrage bestimmen zu lassen. 20 Bei den Berathungen, aus welchen der C. d'instr. crim. hervorging, warf Napoleon selbst die Frage auf und regte damit eine der interessantesten Debatten an. Vgl. L o c r é X X I V 404—407 ; H é 1 i e, Instr. Nr 488. 491 ss. 533 ss. ; O r t ο 1 a η Nr 1754 ; T r é b u t i e n Nr 92. 93; Glaser, Oest. GZ 1885 Nr 61.62. In Bezug auf die Stellung der i t a l i e n i s c h e n Staatsanwaltschaft betonen B o r s a n i und C a s o r a t i (§§7. 20 ss.), dass dieselbe eine nach allen Seiten unabhängige ist. Es fehlt hier die Befugniss der Gerichte, Verfolgungen aufzutragen; es wird von keiner Seite behauptet, dass die Staatsanwaltschaft sich die Klage des Beschädigten aneignen müsste, oder dass Binding, Handbuch. IX. 4. I i : G l a s e r , Strafprozess. I I .

10

146

§ 71.

Die Staatsanwaltschaft.

anwaltschaftliche Beamte sich in seiner Haltung der einzelnen Strafsache gegenüber durch die Weisungen seiner V o r g e s e t z t e n bestimmen lassen müsse. Meines Erachtens ist die Frage nicht eine Frage des S t r a f p r o z e s s r e c h t e s : für die Haltung des Gerichtes und für die Rechte des Beschuldigten besteht sie nicht; diese haben nicht zu untersuchen und sich nicht darum zu kümmern, ob und welche Weisungen der staatsanwaltschaftliche Beamte etwa erhalten hat ; sein Thun und Lassen bringt die ihm nach Prozessrecht zukommende Wirkung hervor, gleichviel ob jener dabei seine Pflichten gegen seine Vorgesetzten verletzt oder nicht; es bilden ja selbst strafbare Handlungen des Staatsanwaltes keinen Grund zur Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 399 Nr 3, § 402 Nr 3). — Es ist also lediglich eine innerhall) des Kreises der Staatsanwaltschaft und ihrer Leitung, in letzter Linie im Gewissen des einzelnen auszutragende Frage. Zunächst sollte gefragt werden : welche Weisungen kann und darf einem staatsanwaltschaftlichen Beamten dessen Vorgesetzter ertheilen? Sicherlich keine, die auf bewusste Parteilichkeit oder auf Missachtung des Gesetzes hinauslaufen, eben darum aber auch keine, die über das hinausgehen, was derjenige, der die Weisung ertheilt, zu der Zeit, wo dies geschieht, verlässlich kennt und übersieht. Es kann keinem Vorgesetzten zugemuthet werden, dass er die Absicht habe, seinem Untergebenen eine Haltung vorzuzeichnen, welche dieser festhalten soll, auch wenn der Verlauf des Prozesses die Gestalt der Sache verändert. Was immer für eine Weisung der Beamte erhält, so muss es für ihn selbstverständlich sein, dass sie nur mit diesen Vorbehalten gegeben wird und zu verstehen ist, und eben darum wird auch kaum anzunehmen sein, dass ihm — wo nicht besondere Verhältnisse obwalten — verwehrt sein sollte, sich, wenn dies zur Beruhigung seines Gewissens dient, auf die erhaltene Weisung zu berufen. Es kann andrerseits den Leitern der Staatsanwaltschaft, die ja die Beschwerdeinstanz innerhalb derselben bilden, das Recht zur Ertheilung von Weisungen bezüglich diese das Einschreiten jener entbehrlich machte. Und wenn Art. 129 des ang. Ges vom 6. Dec. 1865 die Staatsanwaltschaft als „rappresentante del potere esecutivo presso l'autorità giudiziaria" bezeichnet und unter die Leitung des Justizministers stellt, so berufen sich die genannten Commentatoren dagegen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Staatsanwälte, welche also in die Ministerverantwortlichkeit nicht aufgehe : In tutto l'ordine del servizio e nella disciplina è rappresentante del potere esecutivo. Neil' azione della giustizia è sempre ed unicamente organo della legge. I l codice è la legge muta, il pubblico ministero è la legge parlante. — Vgl. noch T a r a n t o , Le persone necessarie § 18, wo das Für und Wider de lege ferenda, jedoch mit erkennbarer Hinneigung zur Unterwerfung der Staatsbehörde unter höhere Weisungen dargelegt wird.

§ 71.

Die Staatsanwaltschaft.

bestimmter Sachen nicht bestritten werden, und noch weniger ist zweifelhaft, dass sie berufen sind, durch Rüge vorgekommener Fehler und durch allgemeine Weisungen auf eine Haltung der Staatsanwälte hinzuwirken, welche i h r e r Auffassung des Gesetzes und des durch die Zweckmässigkeit und die Bedürfnisse der Rechtspflege gebotenen entspricht. Der einzelne wird mit dem ihm in diesem Sinne vorgezeichneten öfter nicht einverstanden sein. Dem Conflict wird er aber am sichersten dadurch entgehen, dass er, der ja ohnehin i n n e r h a l b des Prozesses nichts zu entscheiden hat, überhaupt eine streng objective Haltung sich zur Regel macht, nicht versucht, die Lebhaftigkeit seiner Eindrücke und Ueberzeugungen als ein Mittel zum Hinreissen anderer zu benutzen, sondern sowohl bei der Erörterung der Thatfrage als bei der von streitigen Rechtsfragen, statt einseitig vorzugehen, auch alles erhebliche ungeschmälert vorträgt, was gegen den von ihm eingenommenen Standpunkt sich vorbringen lässt. Es wird dann nicht auffallend sein und sein Gewissen nach allen Seiten hin erleichtern, wenn er durch eine solche objective Darstellung das Gericht in die Lage bringt, auch dasjenige zu erwägen, was geltend zu machen ihm aufgetragen ist. So wie endlich der Vorgesetzte durch einen Personenwechsel sich jederzeit eine seiner Auffassung entsprechende Führung der Sache sichern kann, so ist auch dem Untergebenen die Möglichkeit geboten, dem Conflict dadurch zu entgehen, dass er um Enthebung von der Führung dieser Sache bittet, eine Bitte, welche billigerweise nicht abgeschlagen werden kann, während andrerseits dieser letzte Ausweg demjenigen jede Entschuldigung abschneidet, der, ohne ihn eingeschlagen zu haben, die Sache in Händen behält und bei deren Führung die ihm ertheilten Weisungen unbeachtet lässt. Bei allem vorstehenden ist selbstverständlich von in gehöriger Form ertheilten amtlichen Weisungen die Rede, nicht von verschämt ertheilten Winken oder von vermutheten oder zu errathenden Wünschen des Vorgesetzten. VI. Vorschriften über A u s s c h l i e s s u n g und A b l e h n u n g der Staatsanwaltschaft bestehen nach d e u t s c h e m Recht 2 1 nicht; dies wird damit motivirt (Mot zu §§ 142 ff. GVG), dass die Staatsanwaltschaft zwar „eine Reihe von Amtsverrichtungen vorzunehmen hat, welche zweifellos keine Parteihandlungen darstellen", dass aber die Organisation der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit biete, dass die Er21

Die ö. StPO (§§ 75. 76) schliesst die Beamten der Staatsanwaltschaft, die an der Sache mittelbar oder unmittelbar betheiligt sind oder in anderen Functionen in den Prozess eingriffen, ausdrücklich aus, legt ihnen die Verpflichtung auf, sich des Einschreitens zu enthalten, gewährt aber den Beschwerden der Parteien dagegen keine das Verfahren hemmende Wirkung.

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§ 72.

Zuständigkeit d. Gerichte u. Staatsanwaltschaften.

Setzung eines staatsanwaltschaftlichen Beamten durch dessen Vorgesetzten auf Antrag oder von Amtswegen bewirkt werden kann, ohne dass es eines förmlichen Verfahrens hierbei bedarf. § 72.

Z u s t ä n d i g k e i t der S t r a f g e r i c h t e und der Staatsanwaltschaften 1. I. Die Strafgerichtsbarkeit ist nicht mehr Gegenstand eines vom Staate abgelösten, dem Staate gegenüber geltend zu machenden Rechtes ; 1 Literatur: C l a r u s , Sent. ree. 1. Y § fin. qu. 38. M a t h a e u s , ad 1 48 Dig. tit. 13 cap. 15. R e n a z z i , Elementa 1. I l l c. V. St ü b e l , Criminalverf. §§ 196 if. K l eins ehr od, Lehre v. d. peinl. Gerichtsbarkeit. Frankf. a. M. 1812. S 121 ff. G r o l m a n §§ 417 ff. F e u e r b a c h §§ 510 ff. T i t t m a n n §§ 624 ff. M a r t i n §§ 35 ff. B a u e r §§ 34 ff. M ü l l e r §§ 53 ff. A b e g g §§ 48 ff. H e n k e , Handb. IV §§ 36 ff. M i t t e r m a i e r , Strafverf. §§ 51 ff. Z a c h a r i a e , Gründl. S 28 ff.; ders., Handb. §§ 54 ff. P l a n c k , Syst. Darst. §31. J e n u l l zu §§ 218 ff. ö. Ges von 1803. W ü r t h zu §§ 61 ff. ö. StPO von 1850. R u l f zu §§ 38 ff. ö. StPO von 1853. v. H y e - G l u n e k , Leitende Grunds. S 129 f. Oppen h ο f f zu Art.2—10preuss. Ges von 1852. v. S t e m a n n , Preuss. Strafverf. §§24—26. L ö w e , Preuss. StP §§ 17-27. E b m e i er zu §§ 39—49 preuss. StPO von 1867. Schwarze zu Art. 44 ff. sächs. StPO von 1855 (I 101 f.). W a i t h er, Bayer. StPR §§ 34 f. H o l z i n g e r , StPO für Württemberg (1843) Art. 22 ff. (I 267 f.). A m m a n n zu §§ 9 ff. bad. StPO von 1864. D o l l m a n n , System §§ 12 ff. 35 ff.; ders., Comm. S 61 ff. 134 ff. B e c k , Bern, über den Criminalgerichtsstand im K. Sachsen. Leipzig 1842 (dar. anknüpfend: Hitzigs Ann 1842 I I 229-235). AA I I Heft 3 S 35 ( K l e i n s c h r o d ) ; NA I I I 151 ( T i t t m a n n ) , X 134 (Spangenberg); ANF 1839 S 142 (Abegg). Ζ f. d. Strafverf. NF I 343 f. ( L o w , über Prävention). GA 1857 S 183 ff. (v. B e r i r a b , Zur Kritik der Competenzbestimmungen ratione materiae). StRZ 1870 S 353. 409 ( S c h n e i d e r , Geschichte der Einzeln- und Collegialcompetenz). Verh. des deutschen Juristentags IX B 2 a S 359. 377 ff. ( R o o s ) , Β 3 S 144 ff.; XV Β 1 S 60 ff. ( L i s z t ) , Β 2 S 262 ff. — T r é b u t i e n Nr 397—410. 514. 658. 659. 695. H é l i e , Pratique Nr 135—147. 387—393. R o l l a n d de V i l l a r g u e s zu Art. 63. 69. 179—181 C. d'I. R a u t e r , Droit criminel (éd. Brüx.) Nr 676 ss. 708. D u v e r g e r , Juge d'instruction Nr 88 ss. M a n g i n , Instruction écrite I I Nr 159 ss. S e 11 y er, Etudes historiques et pratiques sur le droit criminel. 3e partie: traité de la compétence. 2e éd. 2 vol. Paris 1874. — M e l , Cod. di procedura penale Art. 9—37. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 316—372. — Engl. Recht: G l a s e r , Engl.-schott. Strafverf. S 42 ff. S t e p h e n , Digest of the law of crim. proc. Art. 79—87. — N e u e s t e s d e u t s c h e s u n d ö s t e r r . R e c h t : Commentare zu §§ 7 - 2 1 d. StPO, §§ 27—29. 72-76. 78. 80. 123 Nr 2. 3. 5. 136 GVG. — Oesterr. StPO §§ 9—16. 5 1 - 6 6 ; EG Art. VI. U l l m a n n , HH I 143. 150.; ders. §§ 29. 30. 43—51. Geyer §§ 61. 63. 70. 72. 79—92. B i n d i n g , Grundr. d. StP §§ 25—35. L u e d e r , Grundriss §§ 26—28. 39—41. K a y s e r S 58 ff. 114 ff. R u l f , OesteiT. StP §§ 9 ff. 31—36. V a r g h a , StPR §§ 23—29. v. M a r e k , Staatsanwaltschaft S 96 ff. 101 ff. R i c h t e r , Die Zuständigkeit in Strafsachen. Dresden 1879. O r t l o f f , Ueber die Wahl zwischen dem Gerichtsstand der Delictsverübung und dem des Wohnsitzes, GS 1884 S 319. 488. — Entscheidung von Zuständigkeitsstreiten zwischen Richtern desselben Gerichtes GA 1884 S 59 ff.

§ 72. Zuständigkeit d. Gerichte u. Staatsanwaltschaften.

die umfangreichen Untersuchungen, zu welchen zumal die Verhältnisse des deutschen Reiches einst Anlass gaben, die Erörterungen über die Arten der Gerichtsbarkeit, ihre Erwerbung, ihren Verlust sind jetzt vollständig antiquirt. Sieht man ab von den bereits Band I § 26 Ι Π und IV und § 28 erwähnten Ausnahmen von der eigentlichen und ordentlichen Strafgerichtsbarkeit und lässt man die einer Erörterung an dieser Stelle nicht bedürfende Frage nach dem Antheil des Reiches und der einzelnen Bundesstaaten an der Strafrechtspflege ausser Betracht, so haben wir die Strafgerichte und die Staatsanwaltschaft lediglich als die Organe zu betrachten, durch welche der Staat die ihm in Bezug auf den Strafprozess zukommende Aufgabe löst, indem er durch die eine die öffentliche Klage erheben, durch die anderen über die erhobenen Strafklagen entscheiden lässt. Innerhalb des Staatsgebietes und (soweit die Gemeinsamkeit reicht, welche die einheitliche deutsche Gesetzgebung über Strafrecht, Strafprozess und Gerichtsverfassung für das ganze Deutsche Reich hergestellt hat) 2 innerhalb des Reiches besteht kein berechtigtes Interesse an einem Conflict der Jurisdictionen: jedes Gericht hat die Pflicht, den eignen gesetzlichen Wirkungskreis voll auszufüllen, sich der daraus erwachsenden Aufgabe zu unterziehen ; sein Recht reicht nicht weiter als seine Pflicht ; oder vielmehr, es besteht für dasselbe keinerlei an die Ausdehnung seiner Wirksamkeit geknüpftes rechtliches Interesse. Eben darum ist ein Uebergriff in den Wirkungskreis eines andern inländischen Gerichts nur zu yenneiden als eine Abweichung von der gesetzlichen Ordnung, nicht aber als Verletzung des subjectiven Rechtes eines andern Gerichtes. Das gleiche gilt von der Staatsanwaltschaft. II. Der Kreis von Aufgaben und von zu ihrer Lösung erforderlichen Machtmitteln, welcher einem Gerichte nach der gesetzlichen Ordnung zukommt (competit), bezeichnet, soweit mehr die Aufgaben betont werden, seine Z u s t ä n d i g k e i t (competentia), soweit mehr auf den Machtkreis Gewicht gelegt wird, seine G e r i c h t s b a r k e i t (juris2 Es ist das Verhältniss nicht das gleiche in Bezug auf materielles und Prozessrecht. Insoweit neben dem Reichsrechte noch Landesstrafrecht bestehen kann, gilt dieses natürlich nur in dem betreifenden Lande und kann nur von den für letzteres bestellten Gerichten angewendet werden; dagegen richtet sich das Verfahren wegen der nach Landesrecht strafbaren Handlungen nicht blos nach der Strafprozessordnung, sondern es darf auch in Bezug auf Rechtshilfe keinen Unterschied machen, ob sie zum Zweck der Geltendmachung des Landesstrafrechts in Anspruch genommen wird; nur wird thatsächlich das forum domicilii und der Gerichtsstand des Zusammenhanges unanwendbar sein, wenn derjenige, der sich gegen das Landesstrafrecht eines Landes verging, in einem anderen seinen Wohnsitz hat. Vgl. J o h n , StPO I 204. 205.

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dictio), G e r i c h t s z w a n g , G e r i c h t s b a n n , welchem wieder die G e r i c h t s » oder D i n g p f l i c h t i g k e i t der jenem Unterworfenen gegenübersteht 3 . Die Zuständigkeit der am Strafverfahren betheiligten Behörden beruht auf Normen, welche dieselbe theils unmittelbar, theils mittelbar begründen. So ist zunächst die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft bedingt durch die des Gerichtes, bei welchem sie bestellt ist. Soweit es sich wenigstens um die Erhebung der Strafkage und die Durchführung derselben und um die Mitwirkung bei der Strafvollstreckung handelt, kann nur eine Staatsanwaltschaft einschreiten, welche bei einem für die Sache zuständigen Gericht besteht; dabei übt dann aber freilich die Staatsanwaltschaft wieder einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des thatsächlichen Wirkungskreises des Gerichtes in denjenigen Fällen, in welchen zwischen mehreren Gerichten, die möglicherweise mit einer Sache befasst werden können, der Umstand den Ausschlag giebt, dass die Sache gerade bei diesem bestimmten Gerichte anhängig gemacht i s t 4 . Mittelbar bestimmt wird ferner die Zuständigkeit der Rechtsmittelinstanz durch die eines ihr unterstehenden Gerichtes, die Zuständigkeit des Untersuchungsgerichtes durch diejenigen Normen, welche das zur Aburtheilung der Sache in erster Instanz berufene Gericht bestimmen. Damit hängt auch zusammen die Verschiedenheit der gegenseitigen Beziehungen der Gerichte, die einander bald b e i g e o r d n e t (coordinirt), bald u n t e r g e o r d n e t (subordinirt) sein können. Die Unterordnung kann auf gewisse Classen von Aufgaben sich beschränken, so dass ein Gericht, welches in dieser Hinsicht dem anderen untergeordnet ist, in anderen Beziehungen demselben beigeordnet, gleichgestellt sein kann. Eben darum fällt auch das Verhältniss der Unterordnung keineswegs zusammen mit derjenigen Verschiedenheit zwischen mehreren Gerichten, welche sich daraus ergiebt, dass einem derselben eine u m f a s s e n d e r e G e r i c h t s b a r k e i t (in der Ausdrucksweise der Strafprozessordnung : die höhere Zuständigkeit) beiwohnt, so dass dasselbe den ande3

Der Ausdruck „Gerichtsstand" bezeichnet eine bestimmte Art von Thatsachen, welchen im allgemeinen die Wirkung beigelegt ist, die Zuständigkeit des Gerichts für eine bestimmte Rechtssache zu begründen; die StPO gebraucht den Ausdruck aber nur für Verhältnisse, welche die örtliche Zuständigkeit begründen. Vgl. J o h n , StPO I 126 ff. 4 In einer Beziehung geht die Macht der Staatsanwaltschaft noch weiter; indem sie die Verfolgung einer strafbaren Handlung übernimmt, welche Gegenstand der Privatklage sein kann, tritt an die Stelle der sonst begründeten Zuständigkeit des Schöffengerichts die der Strafkammer des Landgerichtes. Vgl. GVG § 27 Nr 3 mit § 75 Nr 4 das.

§ 72. Zuständigkeit d. Gerichte u. Staatsanwaltschaften.

reii gegenüber als ein Gericht „ h ö h e r e r O r d n u n g " erscheint. Dasselbe beruht vielmehr darauf, dass ein Gericht dem andern gegenüber mittelbar oder unmittelbar Rechtsmittelinstanz oder dass es berufen ist, durch Zuweisung oder Abnahme von Strafsachen dessen Wirkungskreis zu bestimmen. I I I . Für die Zuständigkeit der Gerichte ist zweierlei maassgebend : die Art der zu besorgenden Geschäfte ( s a c h l i c h e Zuständigkeit) und deren Beziehung auf ein bestimmtes Gebiet ( ö r t l i c h e Zuständigkeit). Jedem Gericht ist durch die Gerichtsverfassung ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, für welches es das berufene Gericht ist. Dieses Gebiet ist sein G e r i c h t s b e z i r k , S p r e n g e l . Wären nun diesem Gerichte auch alle im Strafprozess irgend vorkommenden Geschäfte überwiesen, so wäre es auch für dieses Gebiet das einzige Strafgericht: örtliche und sachliche Zuständigkeit fielen zusammen ; da dies aber nicht ausführbar ist, so müssen für dasselbe Gebiet mehrere Gerichte mit verschiedener sachlicher Zuständigkeit bestellt werden, wobei es dann in der Regel sich ergiebt, dass demjenigen Gerichte, welchem die wichtigeren, schwierigeren und daher auch verhältnissmässig selteneren Geschäfte zukommen, dem Gerichte höherer Ordnung, ein weiterer Sprengel zugewiesen werden kann, welcher die Sprengel mehrerer Gerichte niederer Ordnung umfasst. IV. Die Verschiedenheit der sachlichen Zuständigkeit beruht auf der Verschiedenheit der Prozessakte und auf der Verschiedenheit der Strafsachen : 1. So wie sich das Strafverfahren in die Vorbereitung der Strafklage, die Voruntersuchung und die daran anschliessende Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens, das Hauptverfahren und das Rechtsmittelverfahren gliedert, so sind auch verschiedene Gerichte zur Vornahme der in diese Theile des Verfahrens einschlagenden Prozessakte berufen, wobei aber zu beachten ist, dass die Rechtsmittelinstanz schon in den früheren Stadien des Verfahrens angerufen werden kann. Wie sich in dieser Hinsicht die sachliche Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte gestaltet, ist oben § 69 dargestellt. 2. Von grösserer Bedeutung ist die Verschiedenheit der Strafsachen. Im wesentlichen ist es die grössere Wichtigkeit der Strafsachen (insbesondere die schwerere Strafe, welche dem Angeklagten droht), mitunter aber auch die besondere Vorsicht erheischende Eigenart einzelner Sachen, was die Gesetzgebung bestimmte, ein höheres Maass von Vorsicht für sie anzuwenden, so wie umgekehrt das häufige Vorkommen, die Einfachheit oder geringere Wichtigkeit mancher Strafsachen es

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nöthig macht, dass Einrichtungen getroffen werden, welche verbürgen, dass Zweck und Mittel im richtigen Verhältniss stehen. Dies übt Einfluss auf die Bildung des betreffenden Gerichtes, sowie auf die Regelung des Verfahrens, und da das Verfahren oft eine besondere Einrichtung des Gerichtes und umgekehrt letztere Eigenthümlichkeiten dés Verfahrens bedingt, so besteht eine naturgemässe Wechselwirkung zwischen beiden: das Gericht bedingt das Verfahren, letzteres das Gericht. Eben daraus folgt, dass die Zuweisung einer Strafsache vor ein Gericht höherer Ordnung Formen des Verfahrens mit sich bringt, die das Gesetz bestimmten Strafsachen unbedingt sichern, auf andere aber in der Regel auszudehnen nicht für nöthig erachtet. Wird daher dem Gericht höherer Ordnung eine vor dasselbe gehörige Strafsache entzogen, so liegt hierin eine Verletzung einer Fundamentalnorm des Verfahrens: die Verhandlung und Entscheidung der Sache entbehrt eines Theiles der vom Gesetz für sie als unerlässlich bezeichneten Bürgschaften. Wird umgekehrt eine an sich vor ein Gericht geringerer Ordnung gehörige Sache vor ein Gericht höherer Ordnung gebracht, so ist damit ein Nachtheil für die einzelne Sache gar nicht verbunden, wohl aber kann darin eine Verletzung der Regeln liegen, welche im Interesse richtiger und sparsamer Verwendung von Zeit und Kraft für die Gerichte aufgestellt sind. V. Mit Rücksicht auf die sachliche Zuständigkeit für die Urtheilsfällung in erster Instanz erscheinen die Gerichte in folgender Ordnung vom niedersten zum höchsten gereiht: 1. das Amtsgericht als Einzelgericht (vgl. oben § 69 II), 2. das Schöffengericht, dessen sachliche Zuständigkeit theils durch das Gesetz bestimmt ist, theils mittelbar dadurch geregelt wird, dass dem Landgerichte bei gewissen Vergehen die Macht eingeräumt ist, deren Aburtheilung dem Schöffengerichte zu überlassen. a. Die unmittelbare Zuständigkeit der Schöffengerichte umfasst: α. alle Uebertretungen (GVG § 21 Nr 1) ; ß. alle Strafsachen, welche durch Privatklage verfolgt werden (GVG § 27 Nr 3) ; γ. alle Vergehen, welche höchstens mit Gefängniss in der Dauer von drei Monaten oder mit Geldstrafe von 600 Mark bestraft werden können, jedoch mit Ausnahme der im § 320 StGB und im § 74 GVG aufgezählten Vergehen (§ 27 Nr 2 GVG); δ. die in § 27 Nr 4—7 GVG näher bezeichneten Fälle des Diebstahls, der Unterschlagung, des Betruges, der Sachbeschädigung, sofern der Schaden 25 Mark nicht übersteigt (s. darüber § 28 GVG) und die auf solche strafbare Handlungen sich beziehende Begünstigung oder Hehlerei in den Fällen des § 258 Nr 1

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und § 259 StGB (§ 27 Nr 4—8 GVG). Das oben erwähnte Höchstausmaass der Strafe ist nicht etwa eine Grenze der Strafbefugniss des Schöffengerichtes; selbst für die ihm unmittelbar überwiesenen einzelnen Sachen gilt es nicht durchaus. Es kommen also Fälle dahin, bei welchen von Anfang an eine bedeutend höhere Strafe als zulässig erscheint. Ebenso bleibt das Schöffengericht für concurrirende strafbare Handlungen zuständig, wenngleich die Concurrenz eine beträchtliche Erhöhung der Strafe zur Folge hat, sofern diese nur für den einzelnen Fall sich innerhalb der angegebenen Grenze halten muss. Ueberdies gilt die Abgrenzung nach der Höhe des Schadens nur prima facie, nur für die Einleitung des Verfahrens; selbst wenn sich im Laufe der Hauptverhandlung herausstellt, dass der Werth oder Schaden mehr als 25 Mark beträgt, ist darum allein die Zuständigkeit des Schöffengerichts nicht beseitigt und wird dieses natürlich eine entsprechend höhere Strafe zu verhängen haben (§ 28 GVG). Tritt dagegen in einem solchen Falle aus anderen Gründen die Notwendigkeit ein, die Verhandlung auszusetzen, dann h a t das G e r i c h t wegen der hervorgetretenen Höhe des Schadens s e i n e U n z u s t ä n d i g k e i t a u s z u s p r e c h e n , und dieser Ausspruch ist, wie aus den Verhandlungen der Justizcommission des Reichstages sich ergiebt, für die Strafkammer bindend, wie es scheint nicht blos hinsichtlich der Competenzfrage, sondern auch hinsichtlich der schon ausgesprochenen Eröffnung des Hauptverfahrens. b. Mittelbar zuständig 5 im oben bezeichneten Sinne wird das Schöffengericht für eine Anzahl von Vergehen, aufgezählt im § 75 Nr 1—15 GVG. Die hienach der Strafkammer überlassene Zuweisung der Verhandlung und Entscheidung an das Schöffengericht ist von folgenden Bedingungen abhängig: α. Nur Verhandlung und Entscheidung kann überwiesen werden; die Eröffnung des Hauptverfahrens muss noch von der Strafkammer beschlossen sein; andrerseits kann die Ueberweisung nur b e i der Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen werden, also ζ. B. nicht, wenn nachher sich die Geringfügigkeit der Sache herausstellt und ohnehin eine Aussetzung des Verfahrens eintreten muss. ß. Der Antrag der Staatsanwaltschaft muss vorliegen; da die Ueberweisung nur b e i Eröffnung des Hauptverfahrens, diese 5 Diese Ai*t der individuellen Competenzbestimmung ist eine Nachbildung desjenigen Vorganges, der zuerst in B e l g i e n unter dem Namen der correctionalisation des crimes eingeführt wurde, um in concreto sich als minder schwer erweisende Straffälle dem Schwurgericht entziehen zu können ; vgl. darüber namentlich Rivista penale IV 164 ss., V 438 (Pergameni), X X I I 31 (Vacca).

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aber auch gegen den Antrag des Staatsanwalts beschlossen werden kann, so wird unter Umständen ein Eventualantrag der Staatsanwaltschaft gestellt werden müssen, y. Antrag und Beschluss sind in das Ermessen des Staatsanwaltes und der Strafkammer gestellt und nur davon abhängig, dass „nach den Umständen des Falles anzunehmen ist, dass wegen des Vergehens keine andere als die oben bezeichnete Strafe zu erkennen sein werde". Dabei handelt es sich aber blos um eine vorläufige Annahme, welche das freie Ermessen des Schöffengerichts weder bei unveränderter, noch bei sich ändernder Sachlage beirrt, und auch hier gilt das oben von der Concurrenz gesagte. — Gegen den Beschluss auf Zuweisung der Sache an das Schöffengericht ist keine Beschwerde offen 6 , wohl aber gegen den mit ihm zusammenhängenden Beschluss auf Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn und soweit solcher auch sonst der Beschwerde unterliegt. 3. Die S t r a f k a m m e r des L a n d g e r i c h t e s ist nach § 73 GVG erkennendes Gericht a. für die Vergehen, welche nicht zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehören; b. für folgende Verbrechen: α. bei welchen das Höchstausmaass der Zuchthausstrafe fünf Jahre beträgt, soweit nicht einer von drei Specialfällen politischer Natur, StGB §§ 86. 100.106, vorliegt (Z. 2); ß. bei Personen, welche zur Zeit der That das 18. Jahr noch nicht vollendet hatten (Z. 3 ; im Falle der Concurrenz mit älteren ist Verbindung der Strafsachen und daher Verweisung vor das Schwurgericht zulässig); y. Unzucht mit Personen unter 14 Jahren StGB § 176 Z. 3 (Z. 4); Vgl. O p p e n h o f f Bern 14 zu A. 79 pr. G von 1852: G e r n e r t h , Allg. österr. GZ 1880 Nr 30 und gegen diese M a y e r Bern 86 zu § 255 österr. StPO. Letzterer beruft sich auf die französische Praxis. In der That erklärt ein vielfach angeführtes E des pariser CH vom 5. Mai 1826 (z. B. R o l l a n d A. 335 § 3 Nr 69

§ 96. Die Hauptverhandlung.

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6. Nach vorstehendem hat das Gericht einen p o s i t i v e n Einfluss auf den Inhalt der Parteivorträge nicht zu üben, was nicht ausschliesst, dass mit Vermeidung jeder imperativen Form die Parteien auf Punkte aufmerksam gemacht werden können, bezüglich welcher es dem Gericht erwünscht scheint, dass sie sich darüber aussprechen. Viel grösser ist der n e g a t i v e , der beschränkende Einfluss, der theils vom Standpunkt der Sitzungspolizei, theils von dem der Sachleitung zu üben ist. Als Angelegenheit der S i t z u n g s p o l i z e i erscheint die Fernhaltung dessen, was an sich unzulässig ist oder den ruhigen, anständigen Gang der Verhandlung stören müsste, beleidigender Ausfälle, an sich strafbarer Aeusserungen u. dgl. mehr (s. oben V I Nr 4). Vom Standpunkte der S a c h l e i t u n g dagegen ist eine grössere Mannigfaltigkeit von zu beachtenden, oben bereits angedeuteten Gesichtspunkten in Betracht zu ziehen: aus mit die niss das

a. Es wird mitunter eine Beschränkung behauptet, welche sich dem Gesichtspunkte der M ü n d l i c h k e i t 5 6 ergebe. Soweit dagemeint ist, dass die Partei nicht berechtigt ist, Schriftstücke an Urtheiler zu vertheilen oder zu verlangen, dass davon Kenntgenommen werde, ist dies vollkommen begründet. W i l l man aber auf das Verbot, einen schriftlichen Aufsatz vorzulesen, aus-

und H é l i e 2. éd. Nr 3348), dass die Regel des A. 335, wonach der Angeklagte oder sein Vertheidiger „immer das letzte Wort haben sollen", „s'applique à tous les incidents". Indess ist nicht blos am 26. December 1873 ( R o l l a n d a. a. O.) eine entgegengesetzte Entscheidung ergangen : „eile ne s'applique pas aux incidents soulevés par la défense", sondern bei genauerer Betrachtung jenes CH E von 1826 zeigt sich, wie sehr man Ursache hat, auszugsweise Mittheilungen über Judicate vorsichtig zu behandeln; es hatte nämlich im fraglichen Falle (s. die ausführliche Mittheilung bei R o g r o n Art. 335) das Gericht einem A ertheidiger, welcher über die beantragte Verhaftung eines Zeugen sprechen wollte, das Gehör überhaupt versagt und dies damit begründet, dass das vom Gesetz dem Vertheidiger eingeräumte Recht, nach dem Staatsanwalt zu sprechen, sich auf Zwischenfälle, über welche der Präsident allein entscheidet, gar nicht beziehe. — Ueber eine andere Frage der Anwendung der Regel vom letzten Wort nach französischem Recht s. De W a l , Het regt van 't laatste woord in Cassatie. Leiden 1869. 56 S. namentlich M a y e r Bern 52-58. 61 zu § 255 österr. StPO. Bei R o l l a n d Art. 335 § 2 Nr 33 ist ein E d. Pariser CH vom 13. Juni 1834 erwähnt, welches das Verbot der V o r l e s u n g von Versen als Vertheidigungsvortrag für gerechtfertigt erklärt; in der Anfuhrung bei H é l i e 2. éd. Nr 3600 ist vom V o r l e s e n nicht die Rede (en interdisant à Bastide de présenter sa défense en vers et en l'autorisant à la présenter dans le langage ordinaire). H é l i e bemerkt, es handle sich dabei um die Wahrung der Würde und des Ernstes der Verhandlung. Auch in dieser Beziehung wird es also auf die Umstände ankommen. 34*

§ 96. Die Hauptverhanlung.

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dehnen, so fehlt der gesetzliche Anhaltspunkt dafür. Eine Verletzung der Mündlichkeit kann in einem mündlichen Vortrag sicher nicht blos darum gefunden werden, weil der Vortragende dabei ein Schriftstück vor Augen hat. Man macht den Versuch dazu, theils weil man besorgen kann, dass durch Vorlesen mehr Zeit in Anspruch genommen wird als durch freien Vortrag, theils weil man Beweismaterial im Auge hat, dessen Vorbringung den Grundsatz der Mündlichkeit verletzt. Letzteres kann auch noch auf andere Art als durch Vorlesen geschehen ; die Form ist hier also nur Nebensache. Auch ersteres beruht keineswegs auf einem nothwendigen Zusammenhang. Man kann den Fall sich denken, dass die Vorlesung das Mittel ist,, eine sorgfältig bearbeitete knappe Zusammenfassung an die Stelle einer weitwendigen Auseinandersetzung treten zu lassen. I n anderen Fällen, wie bei Citaten aus Gesetzen, Schriftstellern, aus in der Hauptverhandlung vorgelesenen Schriftstücken, aus Berechnungen u. dgl. ist das Vorlesen oder doch das Benützen von Vorlagen unvermeidlich. Es ist also nicht an sich unzulässig, dass etwas vorgelesen werde, sondern es kann der Grund zur Einsprache nur im I n h a l t des vorgelesenen liegen. b. Unbedingt des Prozessrechts, durchbrochen oder lung der Aufgaben 57

unzulässig ist, dass welche das ganze vereitelt werden. auf die einzelnen

im Schlussvortrage die Regeln übrige Verfahren beherrschen, Dazu gehört auch die VerkeiStadien des Verfahrens 57 ein-

Vgl. oben V I I Nr 6, ferner Bd. I § 46 I I Nr 5 u. 6; O p p e n h o f f Beni 5. 10 zu Art. 79 preuss. G von 1852; L ö w e Bern 4 zu § 248; S c h w a r z e Bern 7 zu § 257; M a y e r Bern 71—74 (dagegen aber auch Bern 80) zu § 255 ö. StPO. RG E vom 2. März 1881 Rspr I I I 96 rügt es, dass der Staatsanwalt im Schlussvortrag in der Hauptverhandlung nicht benutztes Aktenmaterial vorbrachte. Die f r a n z ö s i s c h e Praxis ist namentlich bezüglich der Hereinziehung von Beweismaterial in die Schlussvorträge eher zur Duldung geneigt, hauptsächlich um die Staatsanwaltschaft gewähren lassen zu können. Uebrigens wird in den zahlreichen Entscheidungen, wie sie z. B. R o l l a n d A. 335 §§ 1 und 2 Nr 14—26. 4 6 - 5 1 ; H è l i e, Instr. 2. éd. Nr 3594. 3606 (vgl. de s s. Pratique I Nr 795 ss.) anführen, nicht genügend unterschieden zwischen der Zulässigkeit des Beweismaterials an sich und der Gestattung seiner Vorführung im Schlussvortrag. Ein par. CH E vom 20. Juli 1826 cassirte eine Verhandlung, weil dem Vertheidiger nicht gestattet worden war, ein medicinisches Gutachten (?, une opinion de doctrine sur une question de médecine légale: so citirt H é l i e , R o l l a n d dagegen une consultation de médecin) vorzulesen. Immerhin finden sich beschränkende Vorbehalte; Vorlesungen des Staatsanwaltes werden nur geduldet, weil sich der Angeklagte nicht widersetzte ( R o l l a n d a. a. 0. Nr 14, dagegen freilich das. Nr 17), weil das verlesene Schriftstück sich bei den Akten befand und dem Vertheidiger mitgetheilt war (E vom 10. April 1873 das. Nr 17 und vom 7. Februar 1833 das. Nr 24). Vgl. übrigens R o l l a n d a. a. 0. Nr 26. 46—51, wo sich zeigt, wie ungleich die Praxis sei.

§ 96. Die Hauptverhandlung.

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schliesslich der Anordnungen über die abgesonderte Behandlung einzelner Punkte. Die Schlussvorträge dürfen nicht Akte der Beweisaufnahme in sich schliessen, noch weniger aber Verletzungen der Regeln über die Zulässigkeit von Beweisen. Es ist daher unzulässig, Beweismittel mittelbar oder unmittelbar in dem Schlussvortrag vorzuführen, welche in der Beweisaufnahme nicht producirt wurden (vgl. RG E vom 2. März 1881 oben Anm 57); die Parteien dürfen nicht Schriftstücke vorlesen, die nicht bereits verlesen sind, nicht den Inhalt von nicht verlesenen Protokollen wiedergeben u. s. w. Weder der Staatsanwalt 58 noch der Vertheidiger dürfen Mittheilungen über ihre persönlichen Wahrnehmungen 59 in Bezug auf die Gegenstände der Beweisführung vorbringen; geschieht es dennoch oder thut es der Angeklagte, der daran allerdings nicht gehindert werden kann, so kann dies Anlass geben, die Sache in das Stadium der Beweisaufnahme zurückzuversetzen. Minder klar ist es, ob dagegen eingeschritten werden kann, dass thatsächliche Angaben gemacht werden, welche im Beweisverfahren nicht zur Sprache kamen oder dass die Ergebnisse des Beweisverfahrens unwahr wiedergegeben werden 6 0 ; erstere tragen den Charakter unbewiesener Parteibehauptungen, und bezüglich aller hier erwähnten Uebergriffe genügt es, dass der Gegner ihnen entgegentritt, nötigenfalls das Gericht die unbestreitbare Wahrheit klarstellt; wo das nicht genügen würde, läuft man Gefahr, durch Dazwischenfahren die Freiheit der Beweisdeduction zu beeinträchtigen oder zu verwirrendem und zeitraubendem Streit Anlass zu geben und 58 Wenn irgendwo, so muss hier gleiches Recht für beide Theile gelten; welchen Eindruck muss es machen, wenn z. B. Oppen h off Bern 11 zu Art. 79 (vgl. Bern 5—9 zu § 3), gestützt auf eine Ministerialverfügung vom 19. Mai 1853 (GA 1854 S 799) und mehrfache Obertribunalsentscheidungen dem Gericht gegenüber der Staatsanwaltschaft jedes Prozessleitungsrecht abspricht, nachdem er unmittelbar vorher aus diesem Recht zahlreiche Beschränkungen des Vertheidigers abgeleitet hat! Die Mittel, Ausschreitungen entgegenzutreten, mögen verschieden sein (s. oben V I Nr 4), aber wie sich am französischen Recht zeigt, kann man dem einen nicht versagen, was dem andern gestattet ist. 59 Mit Recht erklärt F u c h s , HH I I 83 es für unzulässig, dass Vertheidiger „Dinge zur Sprache bringen, die sie angeblich aus Privatunterredungen mit ihren dienten erfahren haben wollen". Man vgl. auch hier die pariser CH E vom 7. Februar 1833 und 1. August 1839 ( R o l l a n d a.a.O. Nr 24. 25), welche es geschehen lassen, dass der Staatsanwalt seine persönlichen Erinnerungen aus anderen Strafprozessen anruft sauf réfutation. 00 F u c h s a. a. 0. Vgl. O p p e n h o f f Bern 10 zu Art. 79; ders., Rspr I I I 223 IV 367 und GA 1859 S 521; M a y e r Bern 69 und 74 zu § 255 österr. StPO. Letzterer meint, die Rüge unrichtiger thatsächlicher Behauptungen sollte erst nach Schluss des Parteivortrages erfolgen.

534

§ 96.

Die Hauptverhanlung.

empfindliche Eingriffe vorzunehmen, die von der Nichtigkeitsinstanz nicht beurtheilt werden können. c. Der Vorsitzende und das Gericht müssen die Möglichkeit haben, der Verschleppung der Verhandlung durch weitwendige Ausführungen, durch Vorbringen von zur Sache nicht gehörigem entgegenzutreten. Die Freiheit und das rechtliche Interesse eines jeden Einzelnen findet auch hier seine Grenze an der Freiheit und dem Recht der Anderen. Es soll nichts überflüssiges und es soll das zur Sache gehörige nicht in lästiger Ausführlichkeit besprochen werden. Sehr ]läufig lässt sich die Ueberschrcitung dieser natürlichen Regel klar und zweifellos darthun ; wo dies nicht der Fall ist, insbesondere wo es noch möglich ist, dass der Erwähnung des scheinbar unerheblichen eine unerwartete Wendung gegeben wird, wird es rathsamer sein, sich in Geduld zu fassen, namentlich soweit es sich um den Angeklagten selbst oder dessen Beistand handelt. Vorschnelle Unterbrechungen könnten leicht die Freiheit der Vertheidigung beeinträchtigt erscheinen lassen, vielleicht auch wirklich wesentliches Vorbringen unterdrücken, oder bewirken, dass durch Erörterungen darüber, ob das besprochene zur Sache gehöre, noch mehr Zeit verloren geht 6 1 . Ganz unzulässig ist die Zumessung eines bestimmten Z e i t r a u m e s , innerhalb dessen ein Vortrag zu Ende gebracht werden muss 03 . 7. Die nach vorstehendem nöthige Aufrechterhaltung der Ordnung ist zunächst Sache des Vorsitzenden. Dieser hat allein das Recht, den Sprechenden zu unterbrechen, sei es dass er glaubt, eine Bemerkung machen, oder die Sitzung unterbrechen zu sollen. In letzterem Falle versteht es sich von selbst, dass bei Wiedereröffnung der Sitzung der unterbrochene Vortrag fortgesetzt werden kann. In ersterem wird gewöhnlich der Sprechende die Bemerkung des Vorsitzenden ruhig hinnehmen und sich ihr thatsächlich fügen. Es steht ihm aber frei, einen Gerichtsbeschluss darüber zu verlangen, ob ihm das vom Vorsitzenden abgesprochene Recht zukomme, den vom Vorsitzenden bezeichneten Gegenstand weiter zu erörtern; nicht minder würden andere Betheiligte das Recht haben, ein Einschreiten des Vorsitzenden, soweit ein solches zur Sachleitung gehört, in Anspruch zu nehmen, und wenn dies verweigert wird, einen Ge61 O p p e n h o f f Bern 10 zu Art. 79; F r y d m a n n S 375. 376; M a y e r a. a. 0. Bern 75. 76. 62 Ein für das Gegentheil öfter angeführtes E des pariser CH vom 3. Dec. 1833 (Hé l i e, Instr. 2. éd. Nr 3599) betrifft nur einen Fall, wo der Bemerkung, eine Viertelstunde scheine ausreichen zu sollen, weiter keine Folge gegeben wurde. Vgl. noch O p p e n h o f f Bern 9 zu Art. 79 pr. G von 1*52; M a y e r Bern 75 zu § 255 ö. StPO.

§ 96. Die Hauptverhandlung.

535

richtsbeschluss zu begehren. Fügt sich der Sprechende der Anordnung des Vorsitzenden nicht, so kann dieser ihm das Wort entziehen, ausser wenn es der Staatsanwalt ist (s. oben V I Nr 4) ; auch hierüber kann der Betroffene einen Gerichtsbeschluss verlangen. Einen solchen wird endlich der Vorsitzende herbeiführen müssen, wenn es sich darum handelt, durch eine der im § 178 GVG vorgesehenen Maassregeln dem beharrlichen Ungehorsam gegen seine Anordnungen entgegenzutreten. — Nur soweit ein Gerichtsbeschluss nöthig war und unterblieb oder durch einen Gerichtsbeschluss Parteirechte verletzt wurden, kann eine Vernichtung der Hauptverhandlung verlangt werden, nicht aber wegen der Ungebühr der zum Schlussvortrage Berechtigten an sich, beziehungsweise ihrer stillschweigenden Duldung durch das Gericht 0 3 . IX. Da die Lehre vom Urtheil, dessen Berathung und Verkündigung dem folgenden Paragraphen vorbehalten wird und bezüglich der B e u r k u n d u n g der Vorgänge in der Hauptverhandlung (§ 271 d. und ö. StPO) auf das oben § 70 V gesagte verwiesen werden kann, ist die Schilderung des normalen Ganges der Hauptverhandlung hiemit zu Ende geführt. Schon in dieser sind übrigens manche Abweichungen von dem gewöhnlichen (wie ζ. B. die Verhandlung bei Ausbleiben des Angeklagten) besprochen worden. Im übrigen kann man die möglichen Z w i s c h e n f ä l l e in solche eintheilen, welche den Abbruch der Hauptverhandlung bewirken, und in solche, die nur deren Gang und Umfang beeinflussen. 1. Die Hauptverhandlung muss abgebrochen werden, wenn Gründe hervortreten, welche deren Abhaltung überhaupt rechtlich unzulässig inachen ; alle die Hindernisse, welche, vor dem Beginne der Hauptverhandlung zur Geltung gebracht, bewirken, dass dieselbe gar nicht beginnen kann (vgl. oben § 92 H Nr 4) oder dass das Verfahren nach § 203 vorläufig eingestellt werden muss, müssen auch dahin führen, dass sie, in der Hauptverhandlung hervortretend, sofort einen Beschluss des Gerichtes erzwingen, welcher der Hauptverhandlung ein Ende macht (ζ. B. der Tod des Angeklagten, der Nachweis seiner Exterritorialität). 2. In anderen Fällen zeigt sich nur, dass d i e s e Hauptverhandlung nicht mehr zu Ende geführt werden kann, ohne dass jedoch die Strafsache damit abgethan oder auch nur in das Stadium des Vores

Mot zu § 257 (S 142); RG E vom 2. März 1881 Rspr I I I 96 (oben Anm 57); S c h w a r z e Bern 6 und 8, L ö w e Bern 7, K e l l e r Bern 1 zu § 257; O p p e n h o f f Bern 7 und 10 zu Art. 79 pr. G von 1852; M a y e r Bern 30 und 60 zu § 255 ö. StPO.

536

§ 96.

Die Hauptverhanlung.

Verfahrens zurückversetzt würde ; sie tritt vielmehr — nach deutschem Recht, im Gegensatz zum französischen und auch zum neuesten österreichischen Recht — immer nur in das Stadium der „Vorbereitung der Hauptverhandlung" zurück 6 4 . Abbruch der Hauptverhandlung in diesem Sinne tritt ein: a. Wenn eine A u s s e t z u n g der begonnenen Hauptverhandlung unter Umständen beschlossen werden muss, wo die Fortsetzung nicht spätestens am 4. Tage darauf erfplgt (s. oben I I ) ; hier ist noch namentlich der Fall hervorzuheben, wo das Gericht von der im § 261 Abs. 2 ihm eingeräumten Befugniss Gebrauch macht, das Urtheil des Civilgerichtes über eine privatrechtliche Vorfrage abzuwarten. b. Wenn sich herausstellt, dass in den bereits vorgenommenen Verhandlungen eine Verletzung gesetzlicher Vorschriften stattgefunden hat, welche nicht mehr geheilt werden kann und welche die Vernichtung cler Hauptverhandlung zur Folge haben müsste, oder wenn in der Fortsetzung selbst eine solche Verletzung läge. Letzteres kann keinem Zweifel unterliegen; man braucht nur an die Fälle zu denken, wo ein Urtheiler wegfällt, der nicht durch einen anderen ersetzt werden kann, welcher der Verhandlung angewohnt hat, oder wo der Angeklagte zur Fortsetzung der Verhandlung nicht herangezogen werden kann, ohne dass die Bedingungen erfüllt sind, unter welchen in dessen Abwesenheit verhandelt werden kann, oder an den im Gesetz ausdrücklich entschiedenen Fall der ungenügenden Ladung des Angeklagten (§ 216 Abs. 2). Aber auch das erstere liegt in der Natur der Sache ; handelt es sich um eine Formverletzung, welche dem Angeklagten ein Recht geben würde, die Aufhebung des Urtheils zu verlangen, so wird man ihm sicher nicht das Recht einräumen können, zu verlangen, dass eine Verhandlung fortgesetzt werde, die nur zu einem freisprechenden oder zu einem der Aufhebung unterliegenden Urtheil führen kann; andererseits ist es nicht gewiss, ob der Angeklagte das Urtheil anfechten werde, das, wenn er dies unterlässt, trotz der dem Gericht bekannten Nichtigkeit seiner Grundlage in Rechtskraft erwachsen müsste. Das Gericht muss also die Möglichkeit haben, das offenbar ungesetzliche Verfahren abzubrechen, soweit nicht eben der Verzicht des Angeklagten die Nichtigkeit heilt. Nicht 64 * V a r g h a , Vertheid. S 738. 740. 741; RG E vom 1. Mai 1880 Rspr 1 712; K e l l e r Bern 6 zu § 259. Thatsächlich scheinen die Fälle gar nicht selten zu sein, wo die Voruntersuchung bei dieser Sachlage wieder eröffnet wird; eines der mehrfachen aus den Relationen über Revisionsverhandlungen hervortretenden Beispiele s. im RG E vom 29. Februar 1884 Rspr V I 161.

§ 96. Die Hauptverhandlung. i n gleichem 1 Maasse g i l t

dies von Formfehlern,

benachtheiligen, soweit der letzteren

537 welche die

wegen solcher

Anklage

nicht unbedingt

die Anfechtung des U r t h e i l s oifen steht ; allein hier liegt gerade wieder in

der Unmöglichkeit,

zu erlangen,

gegen das einmal ergangene

ein anderer G r u n d für die Forderung,

Urtheil

Abhilfe

dass das letztere

nicht auf ein Verfahren gegründet werde, das noch vor dem U r t h e i l als ungesetzlich erkannt ist. Gründen

die Verhandlung

D i e Befugniss, aus den hier besprochenen abzubrechen, k a n n missbraucht u n d miss-

deutet werden, und der von i h r gemachte Gebrauch entzieht sich jeder praktischen nachträglichen A b h i l f e ; F ä l l e n Gebrauch gemacht dass das fortzusetzende

werden,

Verfahren

es sollte daher von i h r wo es ganz

ausser Zweifel

an unheilbarer N i c h t i g k e i t

nur in steht, leiden

würder>5. 66

Die im Text vertretene Ansicht (s. auch P l a n c k , Syst. Darstellung S 452 Nr 4) hat, wie schon dort nicht verhehlt wird, auch gewichtige Gründe gegen sich. Doch scheint das Uebergewicht unzweifelhaft auf ihrer Seite bei Verhandlungen vor Richtercollegien, wo sie in der Regel nur dazu führt, dass dieselbe Verhandlung sofort unter Vermeidung des begangenen Fehlers, sonst aber unter wesentlich gleichen Umständen wiederholt wird. Viel bedenklicher steht es in Schwurgerichtsfällen, wo eine geänderte Zusammensetzung der Urtheilenden fast immer unvermeidlich sein wird und der Verdacht nahe liegt, dass es gerade auf diese, nicht aber auf die Verbesserung des Fehlers abgesehen war. Allein die Bestimmung des § 227, welche die Aussetzung der Hauptverhandlung dem Gericht anheimstellt, ohne diesem Schranken zu ziehen, gilt auch hier, und besteht die Absicht, sie zu missbrauchen, so kann sie ebensowohl und in weniger auffälliger Weise durch einen Beweisantrag erreicht werden. Auch in F r a n k r e i c h knüpfen die Erörterungen dieser Frage hauptsächlich an den die Verweisung einer begonnenen Verhandlung auf die nächste Session des Schwurgerichts besprechenden Art. 406 C. d'I. an. Es wird regelmässig ein E des par. CH vom 28. Februar 1883 (am ausführlichsten D a l l o z Rép. X X V I I I 521 verbo Instr. crim. Nr 2020 Anm 3; s. auch H é l i e 2. éd. Nr 3577; R o l l a n d Art. 406 Nr 22; C u b a i n Nr 390; P e r r è v e ρ 119. 120) angeführt, welches einen Fall betrifft, wo am dritten Tage der Verhandlung der Staatsanwalt seinen schon begonnenen Schlussvortrag unterbrach, um „auf einen Irrthum hinzuweisen, der auf der dem Angeklagten zugestellten Geschwornenliste begangen zu sein schien", und daraufhin der Schwurgerichtshof, die Zustellung als nichtig ansehend, die nahezu beendigte Hauptverhandlung abbrach. Der CH erklärte, es komme, wenn einmal die Hauptverhandlung begonnen hat, dem Schwurgerichtshof nicht mehr zu, über die vorher begangenen Nichtigkeiten, deren Würdigung dem Cassationshof zufalle, abzusprechen, . . . zumal „nicht n a c h Eröffnung der Hauptverhandlung ein Ereigniss eingetreten ist, welches nach den Worten des Art. 406 die Unterbrechung zu einer Sache der Nothwendigkeit machte". Diese Entscheidung findet in der Literatur nachdrückliche Billigung. H é l i e dehnt sie consequenter Weise auf den von ihr gar nicht berührten Fall aus, wo der Nichtigkeitsgrund nach Eröiftiung der Hauptverhandlung eingetreten ist; wo möglich,'sei er zu beseitigen (s. auch R o l l a n d Art. 153 § 5 Nr 97), wäre dies nicht möglich, so über-

538

§ 96. Die Hauptveranlung.

c. Wenn der Angeklagte den Einwand der ö r t l i c h e n U n z u s t ä n d i g k e i t in zulässiger Art (§ 16) vor der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses erhoben hat und dieser sofort oder im Laufe der Beweisaufnahme als begründet erkannt wird ; letzteres dann, wenn sich etwa der wahre Ort der That erst später herausstellt, in welchem Falle selbst der frühere Beschluss des erkennenden Gerichtes, welcher den Einwand zurückwies, widerrufen werden muss. d. Wenn das Gericht erachtet, dass die That sich als eine solche darstellt, vermöge welcher sie dessen Zuständigkeit überschreitet, d. h. nicht vor ein Gericht niederer, sondern höherer Ordnung gehört (§§ 269. 270); in diesem Falle ergeht zwar kein Urtheil, sondern ein Beschluss; da aber die Frage in innigem Zusammenhang steht mit der des Verhältnisses des Urtheils zur Anklage, wird deren nähere Besprechung bei der Lehre vom Urtheil erfolgen. 3. Andere Zwischenfälle hindern zwar nicht, dass die Hauptverhandlung mit einem Urtheil abschliesst, allein sie üben Einfluss auf den Umfang der Hauptverhandlung: a. S t r a f r e c h t l i c h e E x c e p t i o n e n im weitesten Sinne können in der Hauptverhandlung in solcher Weise hervortreten, dass das Gericht, wenn es sie vorläufig als in thatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet ansieht, sich der Beweisaufnahme über die hiernach als unentscheidend zu erachtenden Thatumstände entschlagen und die Parteien anweisen kann, ihre Vorträge auf den ausschlaggebenden Punkt zu beschränken mit dem Vorbehalt der Wiedereröffnung der Beweisaufnahme, falls das Gericht sich bei Berathung sehreite der Schwurgerichtshof seine Competenz, indem er die bisherige Verhandlung vernichte. Vgl. T r é b u t i e n Nr 584; D a l l o z 1. c. Nr 2017 ss.; R o l l a n d Art. 406 Nr 6. 7. 10; H é l i e 1. c. Nr 3776-3778); das. Anfuhrung von Entscheidungen, welche die Unterbrechung bald als durch den Verkehr der Geschwornen mit der Aussenwelt gerechtfertigt ansehen, bald nicht. — Aber selbst in E n g l a n d und Amerika, wo man aus rechtsgeschichtlichen Gründen im trial ein gefährliches Spiel (jeopardy, jeu perdu) sieht, dessen Wechselfälle dem Angeklagten zu statten kommen müssen, hat man in zahlreichen Fällen (Nachweise bei Glaser, Anklage etc. S 141. 142) die Nothwendigkeit anerkannt, die Hauptverhandlung abzubrechen, wenn während derselben zweifellos wird, dass ein Wahrspruch, wie ihn das Gesetz fordert, gar nicht mehr möglich sei. — O p p e n h o f f erwähnt vom Standpunkt des preussischen Strafprozesses mehrfach (§ 46 Bern 4, S 75 Bern 10, Art. 74 Beni 5) den Fall, wo in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht sich zeigt, dass die unbedingt vorgeschriebene Vernehmung des Angeschuldigten in der Voruntersuchung unterblieben ist, und erkennt an, dass die Hauptverhandlung nicht weiter gehen kann, ehe das entdeckte Gebrechen geheilt ist, obgleich er sich nicht darüber ausspricht, wie dies zu geschehen hat.

§ 96.

Die Hauptverhandlung.

539

des Urtheils nicht in der Lage sehen sollte, auf Grund des bisherigen Ergebnisses der Verhandlung ein Urtheil zu fällen. So wird ζ. B., wenn behauptet wird, dass die That im Ausland unter Umständen begangen ist, unter welchen das inländische Gesetz darauf keine Anwendung findet, — wenn Verjährung, — wenn Mangel des gesetzlich erforderlichen Antrages behauptet wird, die Erhebung der thatsächlichen Grundlage der Einrede und deren Erörterung durch die Parteien genügen ; dass § 244 Abs. 1 kein Hinderniss der Verkürzung der Beweisaufnahme bilde, ist schon Bd. I § 41 I I Nr 5 lit. b bemerkt worden. Selbstverständlich ist solche Kürzung der Hauptverhandlung nur zulässig, soweit von ihr unverkennbar eine Vereinfachung zu erwarten ist. Das Gericht kann es aber — zumal wenn ausgesprochene Wünsche einer Partei dahin gehen — zweckmässiger finden, über die Hauptsache voll verhandeln zu lassen, zumal wenn die Zulässigkeit der Einrede von der Charakteristik der That selbst abhängt und diese bestritten ist. Es besteht daher auch kein Recht der Parteien, die Einlassung auf die Verhandlung in der Hauptsache bis nach erfolgter Entscheidung über die erhobene Einrede zu verweigern 6 6 . b. Aber auch abgesehen von dem unter a besprochenen Falle kann in der Hauptverhandlung ein Beweismaterial von solcher Beschaffenheit auftauchen, welches es als überflüssig erscheinen lässt, die Beweisaufnahme in dem ihr ursprünglich zugedachten Umfang vor sich gehen zu lassen ; ζ. B. der Angeklagte, welcher in der Voruntersuchung geleugnet hat, legt gleich bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung ein völlig überzeugendes G e s t ä n d n i s s 6 7 ab — oder umgekehrt, derjenige, wegen dessen Tödtung die Anklage erhoben ist, stellt sich dem Gerichte vor — oder die Beweisführung über einen entscheidenden Thatumstand giebt ein solch klares Ergebniss, dass es auf die Feststellung anderer Thatumstände nicht mehr ankommen kann: wie wenn sich herausstellt, dass das missbrauchte Mädchen das zum Thatbestand erforderliche Minimalalter überschritten hatte, dass die angeblich Genothzüchtigte eingewilligt hat, dass derjenige, wider welchen Gewalt geübt wurde, nicht Beamter war u. dgl. m. In der 66

S. über die Behandlung der strafrechtlichen Exceptionen namentlich R i n t e l e n § 845 Nr 4. Dieser scheint indess von der Ansicht auszugehen, dass nur die Wahl bleibt, dieselben unmittelbar nach Verlesung des Eröffnungsbeschlusses auf Grund blosser Constatirungen aus den Akten nach Anhörung der Parteien abzuthun oder, wenn ein Beweisverfahren überhaupt nöthig ist, „förmlich zum Srhluss zu verhandeln". Vgl. oben § (>4 IV Nr 2. 67 Vgl. Bd. I S 52 II Am» 6 und 7.

§ 96. Die Hauptverhanlung.

540

Regel wird die Sache keine Schwierigkeit machen, da das im § 244 geforderte Einverständniss aller Betheiligten über die Einschränkung der Beweisaufnahme nicht fehlen wird, wenn die Sache wirklich klar ist. Fehlt es, so kann den Parteien nicht zugemuthet werden, auf ihre Rechte bezüglich der Beweisführung über einen erheblichen Thatumstand zu verzichten; wird dieser als erwiesen oder nicht erwiesen angenommen, ungeachtet die Beweisführung darüber abgeschnitten war, so muss im zweiten Falle der im Gegenbeweis, im ersten der im Beweis Beschränkte die Aufhebung des Urtheils erlangen können. Keinesfalls kann dagegen das Gericht genöthigt weiden, eine Beweisaufnahme über Thatumstände vor sich gehen zu lassen, die nach seiner Rechtsauffassung unentscheidend sind; zeigt sich aber bei der Berathung des Urtheils, dass letztere nicht festgehalten werden kann, so muss die Beweisaufnahme entsprechend ergänzt werden 6 8 . c. Umgekehrt e r w e i t e r t sich der Umfang der Hauptverhandlung, wenn der Angeklagte im Laufe der Hauptverhandlung noch einer anderen That beschuldigt wird, als wegen welcher das Hauptverfahren wider ihn eröffnet wurde (§ 265). Letzteres kann auf diese ausgedehnt werden, wenn sie nicht ein Verbrechen im eigentlichen Sinn oder eine die Zuständigkeit des Gerichtes überschreitende strafbare Handlung begründet und wenn Anklage und Angeklagter mit der sofortigen Aburtheilung einverstanden sind. Es handelt sich in solchem Falle um ein abgekürztes Verfahren, welches auf der Verbindung einer schon in das Stadium der Hauptverhandlung gediehenen Strafsache mit einer anderen beruht, die erst neu angeregt w i r d 6 9 ; eine Verletzung des Anklagegrundsatzes liegt darin n i c h t 7 0 , vielmehr nimmt die Verhandlung insofern einen strengeren accusatorischen Typus an, als dies der einzige Fall ist, in welchem 68

Vgl. Bd. I § 36 V und G l a s e r , Beiträge zur Lehre vom Beweis S 66 ff. Die einmal eingetretene Verbindung wird dadurch nicht gelöst, dass etwa die ursprüngliche Anklage zu einer Freisprechung führt. L ö w e Bern 9 zu § 265. 70 S. namentlich L ö w e Bern 1 zu § 265. Der Bericht der Comm. S 71 sagt von der Bestimmung, welche der Entw nicht enthalten hatte, es haben derselben die Regierungscommissare vorgeworfen, sie sei „mit einer strengen Durchführung des Anklageprincips nicht vereinbar" ; es können aber doch nur die Grundsätze über die Versetzung in Anklagestand gemeint gewesen sein; nach den Prot S 460 war die Rede von dem „Grundprincip, dass die Urtheilsündung lediglich auf die in der Klage und dem Verweisungsbeschluss enthaltenen Thatsachen beschränkt sei". Im wesentlichen war es auf eine Milderung der Schroffheit des Legalitätsprincips abgesehen. (Für Oesterreich, wo §§ 263 und 321 den Gegenstand behandeln, war das im Strafgesetz herrschende gemilderte Absorptionsprincip maassgebend, s. das nähere G l a s e r in HRLex I I I 995, Art. Urtheil IV.) 69

§ 96. Die Hauptverhandlung.

541

nicht ein Gerichtsbeschluss, sondern ein A n t r a g der Staatsanwaltschaft die die Grundlage der H a u p t v e r h a n d l u n g bildende Anklage f o r m u l i r t . Obgleich das Gesetz n u r von einem A n t r a g des Staatsanwaltes spricht, scheint es doch keinem Bedenken zu unterliegen,

dass auch der A n -

t r a g des Privatklägers genügt, wenn es sich u m einen Gegenstand der Privatklage handelt. mung

des

forderlich.

Andererseits

Angeklagten71 Die neue T h a t

und

ist die a u s d r ü c k l i c h e

Zustim-

die Genehmigung des Gerichtes

des Angeklagten,

wegen welcher

er-

dieses

abgekürzte Verfahren stattfindet, k a n n auch i n der H a u p t v e r h a n d l u n g selbst begangen s e i n 7 2 .

(Das nähere s. unten § 97 I V N r

1.)

71 Schon aus dem früher gesagten ergiebt sich, dass eine ausdrückliche Formulirung der Anklage, welche die sonst im Eröffnungsbeschluss enthaltene Anklageformel ersetzt (RG E vom 12. Mai 1880 Rspr I 757), und ein ausdrücklicher Antrag erforderlich ist, das Gericht möge die Verhandlung hierauf ausdehnen. Zweckmässig ist es gewiss, dass der Angeklagte sofort auch um seine Zustimmung ausdrücklich befragt, ja dass er auf sein Recht, sie zu verweigern, aufmerksam gemacht werde. Immerhin genügt aber auch eine vor der Urtheilsfällung abgegebene ausdrückliche Zustimmung, wie eine solche das RG E vom 12. April 1881 Rspr I I I 225 darin fand, dass der Angeklagte mit der Stellung der Frage an die Geschwornen (nicht blos mit der Art der Fassung) sich einverstanden erklärte. Auf Personen, welche nicht von Anfang an als Angeklagte an der Hauptverhandlung betheiligt sind (etwa auf Mitschuldige an der neu hervorgekommenen That), kann die Hauptverhandlung nicht ausgedehnt werden. P u c h e l t Bern 4 Abs. 7 zu § 265 ff.; D a l c k e Bern 5 das. 72 D a l c k e Bern 6 zu § 265; s. dagegen P u c h e l t Bern 4 letzter Abs. zu § 265; S c h w a r z e Bern 6 das. Letzterer stützt sich offenbar darauf, dass § 185 GVG, welcher umso weniger den Angeklagten berücksichtigen konnte, weil er auch auf Civilgerichte passen soll, von einer solchen Ermächtigung nicht spricht. Sie ist aber bezüglich des als Angeklagter in der Sitzung Erscheinenden eben im § 265 ertheilt. L ö w e macht nur (Bern 3 zu § 185 GVG) darauf aufmerksam, dass es oft nicht passend sein mag, in solchem Falle den Angeklagten um seine Zustimmung zur sofortigen Aburtheilung zu befragen. Da indess die Frage nur auf Anregung des Anklägers zu stellen ist und also nur als Aufforderung zur Aeusserung über einen Antrag des Gegners erscheint, glaube ich dies nicht; auch liegt die Zustimmung zumeist gerade im Interesse des Angeklagten. — Mit der Bestimmung des § 185 GVG hängt übrigens auch die Frage zusammen, was zu geschehen hat, wenn sich der Verdacht falschen Zeugnisses in der Hauptverhandlung ergiebt? (Vgl. G l a s e r , Beiträge zur Lehre vom Beweis S 227.228.) Sofortige Aburtheilung ist hier nicht möglich, wohl aber Aufnahme eines Separatprotokolles, geeignetenfalls auch vorläufige Festnahme auf Grund des § 185 GVG, und nach Ermessen des Gerichtes auch Aussetzung der Verhandlung, um die Aufklärungen, welche duuch die so veranlasste Untersuchung herbeigeführt werden könnten, abzuwarten. Vgl. namentlich H é l i e , Pratique I Nr768ss.; S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO von 1855 I I 138; GA 1858 S 186 ff.; österr. StPO §§ 277—279 und die Commentare dazu. Im § 279 ö. StPO ist ausdrücklich ausgesprochen, dass die Bestimmungen über eine erst in der Hauptverhandlung erhobene neue Beschuldigung

542

§ 97.

Das Urtheil.

d. Wesentlich verschieden von der Heranziehung einer n e u e n strafbaren Handlung ist das Hervortreten von Anlässen dazu, dass die im Eröffnungsbeschluss bezeichnete That eine von diesem abweichende Beurtheilung erfahre, welche zur Folge hat, dass entweder das Gericht sich für unzuständig erklärt oder ein anderes Urtheil ergeht, als welches der Eröffnungsbeschluss in Aussicht nahm. Durch solche Anregungen ändert sich natürlich oft auch Gang und Inhalt der Hauptverhandlung; doch muss das nähere im Zusammenhang mit der Lehre vom U r t h e i l besprochen werden. § 97.

Das U r t h e i l 1 .

I. „Die Hauptverhandlung schliesst mit der Erlassung des Urtheils. Das Urtheil kann nur auf Freisprechung, Verurtheilung oder Einstellung der Verfahrens lauten." (§ 259 Abs. 1.) Mit diesen kurzen Sätzen ist in knapper Weise der Inhalt des Urtheils und dessen Verhältniss zur Hauptverhandlung ausgedrückt. Das Urtheil ist die auf Grund der Hauptverhandlung ergehende, für die Instanz endgiltige Erledigung der Strafklage, der regelrechte Abschluss der Hauptverhandlung und des Strafprozesses. Die gesetzliche Regel ist: auch auf eine strafbare Handlung, die der Angeklagte in der Hauptverhandlung beging, Anwendung finden. 1 Deutsche StPO §§ 259. 2 6 8 - 2 7 5 ; österr. StPO §§ 257—263. 266 — 270. S. die Commentare hiezu. — F u c h s in HH I I 84 ff. D o c h o w § 69. Geyer §§ 197.213-217. U l l m a n n §§ 124 -130. V a r g h a , StPR §§ 133 ff. R u l f , Oesterr. StPO §§ 154 ff. B i n d i n g , Grundr. d. StP §§ 85. 86. 89. 90. v. B a r , Systematik S 80-83. L u e d e r , Grundriss §§ 98—102. K a y s e r S 235 ff. R i n t e l e n § 348. M e v e s , Strafverfahren S 84-86. H e i n z e, ErörterungenS 105 ff. R u l f , Praxis der österr. StPO S 69 ff. — T r é b u t i e n 2. éd. Nr 670-673. 699. H é l i e , Pratique I Nr 333—370. 487—501. D e r s . , Instr. crim. §§ 514-519. 564 bis 567 (vol. V I I ρ 450 ss. 779 ss.), 2. éd. Nr 2700-2731. 2939-2980, éd. Brüx. Nr 3889—3953. 4290—4360. Β or s a n i e C a s o r a t i §§ 1564—1628 (vol. IV ρ 471 ss.). Ρ e ss i n a , Elem. di proc. penale (ed. Mandalari, Napoli 1876) ρ 17ó bis 180. C a r r a r a , Programma parte generale vol. I I (5. ed. Lucca 1877) §§ 1000—1027. — M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I I 519 ff. Z a c h a r i a e , Grundlinien S 257 - 262. 270. 271. Ders., Handbuch I I 459 ff. 508 — 527. 560 ff. W a l t h e r , Bayer. StPR S 321 ff. 390 ff. v. AVürth, Oesterr. StPO von 1850 S 469 ff. v. H y e - G l u n e k , Die leitenden Grundsätze der ö. StPO von 1853 S 312 ff. R u l f , Oesterr. StPO von 1853 I I 140 ff. Oppen ho ff, Die preuss. Gesetze über das Verf. . . . in Strafsachen S 1G0—197. Verhandl. des d. Juristentages I I I Β 2 S 73. 74. 356—363. A b e g g , Beiträge zur Lehre von der Rechtsfindung durch Richtercollegien, GA 1858 S 738 ff., 1859 S 3 ff. 145 ff. (Die Abhandlung Aheggs im ANF 1856 S 40: „Das richterliche Urtheil nach Recht und Gesetz", ist nicht prozessualer Natur.)

§ 97.

Das Urtheil.

„Keine Hauptverhandlung ohne Urtheil, kein Urtheil ohne Hauptverhandlung." Während letztere Regel kaum eigentliche Ausnahmen erleidet (Befehl, Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren § 411 deutscher, §§ 300. 362 österr. StPO), ist die erstere allerdings tief eingreifenden Ausnahmen in solchen Fällen unterworfen, wo sich der ordnungsmässigen Beendigung der Hauptverhandlung Hindernisse entgegenstellen, welche dahin führen, dass dieselbe a b g e b r o c h e n werden muss. Welche diese Fälle seien, ist oben § 96 I X Nr 1. 2 unter Bezugnahme auf § 92 I I Nr 4 eingehend erörtert worden. In diesen Fällen erfolgt die Einstellung der Hauptverhandlung durch einen B e s c h l u s s , sofern nicht das hereinbrechende Hinderniss solcher Art ist,. dass selbst ein ausdrücklicher und förmlicher Beschluss nicht gefasst werden kann und nichts übrig bleibt, als die Thatsache des Abbruches (ζ. B. bei eintretender unheilbarer Beschlussunfähigkeit des Gerichtes). Andere Fälle giebt es, bezüglich welcher das Gesetz selbst es theils geradezu ausspricht (§ 270), theils keinen Zweifel daran lässt (§ 16), dass die Hauptverhandlung durch einen B e s c h l u s s zu beendigen sei. Allein es tritt eine unverkennbare Neigung hervor, gestützt auf einzelne in den Materialien der StPO 2 vor2 Die Geneigtheit, an der einheitlichen Form des Urtheils festzuhalten, musste im reformirten deutschen Strafprozess um so leichter Eingang finden, als die Gegnerschaft gegen die Häufung der Formen nicht verurtheilender Erkenntnisse mit unter den treibenden Motiven der Reform wirksam war (vgl. Bd. I § 10 S 105. 106 u. S S 127) und als sie keineswegs durchschlagenden Erfolg hatte, wie sich in der ö. StPO von 1853 und in der sächs. von 1855 zeigte. (Vgl. Verh. d. IX. d. .luristent. Β 3 S 128 if.) Am schärfsten ausgeprägt ist das System des einheitlichen Urtheils in der preuss. StPO von 1867 §§ 44. 47 und 259. (Siehe O p p e n h o f f , Bern 9 zu § 9 V von 1849, vgl. mit Bern 59 zu § 1 das.; F rane ko. G A 1872 S 306 ff.) Demgemäss hatte der 1. E der cl. StPO von der Regel, dass die Hauptverhandlung mit einem verurteilenden oder freisprechenden Urtheil abzuschliessen habe, nur eine Ausnahme gemacht: bei Zurücknahme des Antrages sollte „Einstellung des Verfahrens ohne Urtheil stattfinden", dem Angeklagten aber gestattet sein, durch rechtzeitigen Widerspruch ein Urtheil zu erwirken (§ 210). Die Motive S 176 lassen erkennen, dass man dabei an die Fälle „namentlich