Habsburger Aporien? Geisteshaltungen und Lebenskonzepte in der multinationalen Literatur der Habsburger Monarchie 978-3-89528-196-9

Beiträge von E. Kiss, L. D'Ascia, A. Corbea-Hoisie, E. Reichmann, A.A. Wallas, A. Herzog, R. Rischin, W. Kummer, I.

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German Pages 204 Year 1998

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Habsburger Aporien? Geisteshaltungen und Lebenskonzepte in der multinationalen Literatur der Habsburger Monarchie
 978-3-89528-196-9

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Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft

Eva Reichmann (Hg.)

Habsburger Aporien? Geisteshaltungen und Lebenskonzepte in der multinationalen Literatur der Habsburger Monarchie

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Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft

Im Auftrag der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld herausgegeben von Jörg Drews und Dieter Metzing

Band 10

Eva Reichmann (Hg.)

Habsburger Aporien? Geisteshaltungen und Lebenskonzepte in der multinationalen Literatur der Habsburger Monarchie

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AISTHESIS VERLAG Bielefeld 1998

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Abbildung auf dem Umschlag: Habsburger Ansicht. Bleistiftzeichnung von Verena Reuter

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefeld

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme

Habsburger Aporien? : Geisteshaltungen und Lebenskonzepte in der multikulturellen Literatur der Habsburger Monarchie / Eva Reichmann (Hg.). - Bielefeld : Aisthesis-Verl., 1998 ISBN 3-89528-196-4 NE: Reichmann, Eva [Hrsg ]

©Aisthesis Verlag, Bielefeld 1998 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Druck: AV-Druck, Bielefeld Umschlag und Bindearbeiten: AJZ-Druck GmbH, Bielefeld Alle Rechte Vorbehalten ISBN 3-89528-196-4

Inhalt

Vorwort.

7

Endre Kiss (Budapest): Wiener Impressionismus als strukturbildende Lebensform Österreich-Ungams.

13

Luca D’Ascia (Pisa): Triest: das italienische Mitteleuropa.

23

Andrei Corbea-Hoisie (Ja§y): Das Bild vom Anderen: Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in der Bukowina zur Jahrhundertwende.

41

Eva Reichmann (Bielefeld): „Man ist als Österreicher in der Welt noch immer besser aufgehoben.“ Robert Müllers Entwurf des kulturbildenden Austrogermanen.

59

Armin A. Wallas (Klagenfurt): Aufzeichnungen aus der Welt des Exterritorialen. Lebensflüchtlinge und Vorstadt-Ahasvers. Albert Einsteins (un)sentimentale Reise in die Untergründe Kakaniens.

77

Andreas Herzog (Leipzig). „Der Segen des ewigen Juden“. Zur ‘jüdischen Identität’ Joseph Roths.

113

Eva Reichmann (Bielefeld): „Kannst Du Dir etwas Verwandteres denken als die Begriffe: Heimat und Kuchengeruch?“ Heimatlosigkeit als Heimat im Werk Joseph Roths.

133

Ruth Rischin (San Francisco): Art and Empire in Philip Latinovicz’s Discourse of Becoming.

147

Werner Kummer (Bielefeld): Max Brods deutsch-jüdischer Nachsommer von 1932: „Die Frau, die nicht enttäuscht“.

163

Iris Hermann (Bielefeld) Als eine Ästhetik des Schmerzes: Spiegel, Höhlenausgänge, Körper im Werl Georg Trakls.

175

Zu den Autorinnen und Autoren.

195

Eva Reichmann (Bielefeld)

Vorwort

Das Habsburgerreich wird oft mit Mitteleuropa gleichgesetzt, obwohl sich beide Räume nur teilweise decken: Mitteleuropa umfaßte auch deutsche, nordpolnische und balkanische Sprachgebiete, die nicht zum Gebiet der Monarchie gehörten. Die Gleichsetzung mit Mitteleuropa hat jedoch für viele Schriftsteller der Monarchie - vielleicht unbewußt - etwas Programmati¬ sches: Die Monarchie als das Zentrum eines Kontinentes, der kulturelle und geistige Mittelpunkt einer allumfassenden Idee, welche nicht mit den Gren¬ zen der Monarchie endet, weshalb viele Österreicher sich als Europäer im weitesten Sinn verstehen können und rege Verbindungen zu südlicheren, westlicheren oder östlicheren Gebieten und Kulturen Europas pflegen. Slawomir Wollmann1 weist nach, daß die Literatur der Habsburger Monar¬ chie aufgrund politischer Entwicklungen einen gewissen Sonderweg geht, der sich allerdings erst zeigt, wenn man nicht nur die deutschsprachige Literatur betrachtet. Es herrscht jedoch keine mystische, totale Einheit zwischen den Literaturen der verschiedenen Nationen; vielmehr sind durch parallel und ähnlich verlaufende Entwicklungen der einzelnen Nationalliteraturen Motiv-, Themen- und Formverwandschaften nachweisbar. Anfang des 19. Jahrhunderts ist im gesamten Raum der Monarchie eine Emanzipation zum nationalen Bewußtsein und zu einer Literatur in der eige¬ nen Sprache feststellbar. Dies fühlt zu einem erstarkten Interesse an den je¬ weiligen Sprachen, die dadurch eine Erneuerung erfahren; aus manchen Sprachen, die bis dahin lediglich Sprachen des alltäglichen Gebrauchs waren, werden Schriftsprachen, Literatursprachen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhun¬ derts haben alle Völker der Monarchie neue Grammatiken und Wörterbücher der jeweiligen Nationalsprachen geschaffen, welche die Basis bilden für die Entwicklung von nationalen Literaturen. Diese Literaturentwicklung steht in engem Zusammenhang mit der volkstümlichen Poesie. Neben den Nationalsprachen existiert die deutsche Sprache weiterhin in den Schulbüchern, als Verwaltungssprache und als dominierende Sprache der Zeitungen und Zeitschriften. Der interkulturelle Austausch ist anfangs sehr rege: Wichtige Werke der Nationalliteraturen wurden ins Deutsche übersetzt, deutschsprachige Werke (nicht nur österreichischen Ursprungs) in die jewei¬ lige Nationalsprache. Wie der deutschsprachige Volkstheaterdichter Johann Nestroy (1801-1862) schreiben auch der ungarische Dichter Jöszef Katona (1791-1830) oder der tschechische Schriftsteller Josef Kajetan Tyl (18081856) Possen und Volksstücke. Az ember tragediäja des ungarischen Schrift-

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Eva Reichmann

Stellers Imre Madäch (1823-1864) wird in Übersetzungen in der gesamten Monarchie verbreitet, ebenso die Romane des Pragers Jakub Ahrens (18401914).2 Die Moderne schließlich kann als weitgehende Kulturrevolution der ge¬ samten Monarchie bezeichnet werden, sie ist nicht auf die Wiener Moderne beschränkt.3

Zu den einzelnen Beiträgen: Es ist Ziel dieser literarischen Essaysammlung, durch Aufsätze zu verschie¬ denen Sprach-Räumen der Monarchie und zu Autoren, die in ihren Werken Bezug nehmen auf Konflikte, die sich durch das Zusammenleben verschie¬ dener Nationen und verschiedener Glaubensgemeinschaften ergeben, oder auf andere Probleme der Multinationalität, ein Bild von der Vielfalt der un¬ terschiedlichsten Geisteshaltungen und Lebenskonzepte zu zeichnen. Endre Kiss versteht den Wiener Impressionismus als Lebensform, und nicht nur als literarische Strömung. Als Lebensform wirkt der Impressionis¬ mus strukturbildend auf die Wiener Moderne. Er bezeichnet ihn als stark durchintellektualisierte Lebensform der Wiener Bürgerssöhne, der wirt¬ schaftlichen und technischen 'Erbauer' der Monarchie; eine Lebensform, die sich auch künstlerisch manifestieren kann. Für Kiss ist der Impressionismus eine spezifische, moderne Lebensform Österreich-Ungams, die sich von ihren Alternativen in London, Berlin oder Paris unterscheidet. Der Beitrag von Luca D'Ascia beschäftigt sich mit den jungen Triestiner Intellektuellen, welche durch die Betonung ihrer "italianita" auf kultureller Ebene die politische und wirtschaftliche Bindung an die Österreicher wett¬ machen wollen. D'Ascia stellt sehr ausführlich den Kreis um die Zeitschrif und den Verlag "Voce" dar und legt den Schwerpunkt auf das Werk von Scipio Slataper. Die ethnischen, politischen und gesellschaftlichen Widersprü¬ che des Triester Raumes drücken sich in expressionistischer Literatur aus. D'Ascia schildert die spezifische Struktur und Problematik Triests weiter an¬ hand der Werke von Italo Svevo. Er geht auf die jüdische Komponente des Triestiner Kulturlebens ein und auch auf die Rolle der Psychoanalyse und ih¬ re italienische Adaption. Andrei Corbea-Hoi§ie diskutiert das aktuelle, rege Interesse an der Litera¬ tur der Bukowina und stellt fest, daß das Klischee der Bukowina als Muster des harmonischen Zusammenlebens aller Völker und Religionen bislang nicht korrigiert worden ist. Diese idyllische Darstellung ist für ihn ein Man¬ gel an "imagologischer" Reflexion. Anhand eines Werkes des rumänischen Historikers und Schriftstellers Nicolae lorga, welches die Grundlage des Bukowinaer "Dakoromanismus" bildet, zeigt Corbea-Hoi§ie antisemitische und

Vorwort

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nationalistische Tendenzen in dieser Region auf, indem er ausführlich das entscheidende Werk von Iorga analysiert. Im Mittelpunkt des Essays von Ruth Rischin steht der Roman Die Rück¬ kehr des Filip Latinovicz von Miroslav Krleza. Rischin weist auf die Ver¬ wandtschaft zu Andre Gide's La nausee hin. Latinovicz kehrt in seine kroati¬ sche Heimat zurück und beginnt dort seine künstlerische Entwicklung; wäh¬ rend seine Wahrnehmung im Süden, wo er vorher gelebt hatte, vom Grün be¬ stimmt war, nimmt ihn nun das Sepiafarbene alter vergilbter Familienphotos gefangen, das abblättemde Gold aristokratischer Einrichtungen und die flammenden Farben bäuerlicher Feste. Latinovicz will seine Vergangenheit durch einen 'malerischen' Diskurs überwinden, welcher sich auch auf die un¬ tergegangene multinationale Vergangenheit Kroatiens bezieht. Eva Reichmann behandelt das Bild des Austrogermanen, welches in den theoretischen Scliriften von Robert Müller entwickelt wird. Für Müller ist der Österreicher aufgrund seiner multinationalen, aber dennnoch germanischen Herkunft die entscheidende kulturbildende Kraft und somit die Rettung für ganz Europa. Müllers oft widersprüchliche Ansätze lassen ein Bild entstehen, welches teilweise an Äußerungen von Franz Grillparzer erinnert. Auch nach dem Zerfall der multinationalen Monarchie ist Müller weiterhin von der kul¬ turstiftenden Fähigkeit des multinationalen Österreichers überzeugt. Albert Ehrenstein steht im Zentrum der sehr ausführlichen Darstellungen von Armin A. Wallas. Ehrenstein, der durch seine Kindheit vor allem mit den Kehrseiten der Monarchie in Berührung kam, arbeitet in seinem Werk das Konfliktpotential, die Heterogenität und die Brüche der krisengeschüttelten Kulturen der Monarchie heraus. Wallas untersucht Erzählstrukturen Ehren¬ steins,

speziell

die

Erzählhaltung

des

'Flaneurs'.

Besonders

die

"exterritoriale" Rolle des Juden im Werk Ehrensteins ist interessant: Der Diaspora-Jude wird zum potentiellen Träger revolutionärer Ideen. In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag von Andreas Herzog zu Joseph Roth und dessen Einstellung zum Judentum. Auch für Roth ist das ahasverische Schicksal des Juden eigentlich positiv: Aus der Fleimatlosigkeit des jü¬ dischen Volkes leitet Roth eine übernationale Sendung der Juden ab. Joseph Roth ist noch ein zweiter Beitrag gewidmet: Eva Reichmann be¬ schäftigt sich mit dem Thema "Heimat" im Werk von Roth. Heimat ist für Roth nicht unbedingt ein konkreter geographischer Raum, sondern eine mentale Disposition. Auf diese Weise bekommt die Heimatlosigkeit einen positiven Aspekt, als Dynamik im Gegensatz zum Stillstand des an-einemOrt-verhaftet-Seins. Werner Kummer liest Max Brods Roman Die Frau, die nicht enttäuscht als Versuch, Konzeptionen für die Möglichkeit interethnischen Zusammenlebens auf Basis gegenseitiger Akzeptanz zu finden, wobei Brod sich auf den euro-

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Eva Reichmann

päischen Liebesdiskurs platonischen Ursprungs bezieht und diesen mit un¬ auflösbar scheinenden interethnischen Konflikten des 20. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Iris Hermann liest Georg Trakls Werk als eine Dichtung des Schmerzes. Sie untersucht die Metaphorik Trakls unter diesem Aspekt und entwickelt daraus das Konzept einer für Trakl spezifischen Geisteshaltung.

Vorwort

Literatur

1 Slawomir Wollmann, "Die Literaturen in der österreichischen Monarchie im 19. Jahrhun¬ dert in ihrer Sonderentwicklung." Vorträge der Nordrhein-Westfalischen Akademie der Wissenschaften G 327, Opladen 1994. 2 Wollmann weist explizit auf Themenverwandtschaften und Parallelen zwischen Mihäly Vörösmarty und Jan Kollar oder Karel Havlicek und Sändor Petöfi hin. 3 In diesem Zusammenhang sei auf den Band Avantgardistische Literatur aus dem Raum der (ehemaligen) Donaumonarchie, hg. von Eva Reichmann, St. Ingbert 1997, verwiesen.

I

Endre Kiss (Budapest)

Wiener Impressionismus als strukturbildende Lebensform Österreich-Ungarns In unserer Zeit vertritt die literarische Öffentlichkeit vor allem zwei gewich¬ tige Argumente gegen jene literarische Welt, die man unter dem Namen 'Wiener Impressionismus' zu subsumieren pflegt. Das erste meint, die Impres¬ sionisten hielten ihre Persönlichkeit, ihr Inneres oder wenn man will, ihre ex¬ plizit auf sich genommene Partikularität in einem übertriebenem Ausmaß für wichtig, sie verhielten sich zu unkritisch und ohne Distanz zu ihrer eigenen existentiellen Problematik, auf die die spätere Nachwelt, bereits in Kenntnis von den späteren Katastrophen des Jahrhunderts nicht nur mit Vorliebe etwas herablassend zu blicken geneigt ist, sondern diese Einstellung nicht selten sogar als moralisch 'verantwortlich' für diese Katastrophen gemacht hatte. Zwar wird dieser Einwand gegen das Menschenbild des Wiener Impressio¬ nismus nicht oft lautstark artikuliert, trotzdem darf man sein Gewicht nicht unterschätzen. Eine der wohl verbreitetsten intellektuellen Einstellungen un¬ serer Jahre (auch Jahrzehnte) ist nämlich eine unpersönliche, desubjektivierte Attitüde. Auf der Wertskala von literarischen Einstellungen steht demnach der in seiner Persönlichkeit lebendig präsente, auf seine individuelle und in ihrer Präsenz stets betonten Identität geradezu pochende Mensch nicht gerade an der Spitze. Als 'unsichtbare Dimension' unserer Überzeugungen gilt es als durchaus effektives Hindernis beim Zugang zum Wiener Impressionismus, wie auch zur ganzen umfassenderen Zweiten Welle der europäischen Moder¬ ne. Weil sich das rezeptive intellektuelle Bewußtsein äußerst ungern offen mit Persönlichem identifiziert, ist heute Peter Altenbergs hypertrophische Persönlichkeit beispielsweise nur geistig Vorbereiteten genießbar. Die Stärke, aber auch die Virulenz einer literarischen Richtung hängt im¬ mer damit zusammen, welche Stellung sie im Gefüge des literarischen Le¬ bens einnimmt. Es gibt keine Phänomenologie des 'literarischen Lebens'. Im Wien des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts hat die Struktur des literari¬ schen Lebens vornehmlich der Impressionismus geprägt. Etwa für den jungen Hermann Broch war diese Situation nicht gerade einfach. Bei seinem ersten Auftritt im literarischen Leben herrscht dort bereits eine deutliche nach¬ impressionistische Suche nach neuen künstlerischen und intellektuellen Möglichkeiten. Namen wie Kraus, Carl Dallago, von Ficker, Chamberlain be¬ stätigen diese Tendenz. Man kann jedoch die Bedeutung der ungestörten He¬ gemonie des Impressionismus während des gesamten intellektuellen Reife¬ prozesses kaum hoch genug einschätzen. Die Relevanz dieses Problems er¬ scheint voll, wenn man bedenkt, daß der Impressionismus und der anti-

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Endre Kiss

impressionistische Radikalismus beide legitime Strömungen der Zweiten Welle der europäischen Moderne gewesen sind. Wenn eine Richtung das lite¬ rarische Leben strukturell bestimmt, so bedeutet es, daß sich die anderen Strömungen nur im Vergleich, sogar im Gegensatz zu ihr profilieren können und sich tatsächlich auch so identifizieren. Diese Tatsache ist von hoher Be¬ deutung, zumal wir heute Zeuge dessen werden können, in welchem Maße gerade die Strukturlosigkeit, mit anderen Worten, die Beziehungslosigkeit und die daraus erfolgende Dialogsunfähigkeit der verschiedenen Ansätze zu¬ einander die Entstehung literarischer Kommunikation vereiteln. Dadurch, daß die Gesellschaft gegen keinen literarischen Ansatz mehr Widerstand leistet, läßt er die Bewegung der einzelnen Richtungen nicht in den mehr oder weni¬ ger 'natürlichen' Schwung kommen. Bleibt dieser künstlerische, aber auch so¬ ziale Kampf aus, so fällt die Möglichkeit der Identifizierung der größeren so¬ zialen Gruppen mit dieser oder jener Richtung auch aus. Es entsteht somit auch keine Ordnung struktureller Positionen. Diese strukturelle Vorherr¬ schaft, falls sie entsteht, ist ein synthetisches Ineinander von immanent künstlerischen und soziologischen Komponenten. Die strukturell zentrale Richtung setzt Maßstäbe auch für die anderen: auf der einen Seite findet man die künstlerisch konservativeren Strömungen, auf der anderen die radikalen Ansätze, die über die Literatur der zentralen strukturellen Position in jeder Form hinausgehen wollen1. Es gab damals, etwas übertrieben gesagt, nur Überwinder und Gegner auch des Wiener Impressionismus. Es ist aber geradezu ein spezifischer Zug des Wiener Impressionismus, daß er zwar in der Literatur sich manifestiert und bis jetzt auch größtenteils als literarische oder literaturhistorische Kategorie erschlossen wird. Er ist jedoch vielmehr eine Lebensform, die sich literarisch realisiert und keine literarische Strömung, auch wenn der Sprachgebrauch im literarischen Diskurs nicht im¬ mer einzuhalten ist. Es versteht sich von selber, daß Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie ein literarisches Werk ist, obwohl sein 'Impressionismus' kei¬ ner der literarischen Darstellung oder des literarischen Stiles, vielmehr die gegenständliche Bestimmung der Lebensauffassung der Protagonisten ist. Um unsere These nun in diesem Kontext weiter zu präzisieren, ist Wiener Impressionismus als Lebensform die strukturbildende Komponente der Wie¬ ner Moderne. Er ist strukturbildend als Lebensform und nicht als literarischer Stil. Daraus entsteht selbstverständlich gleich die nicht leicht zu lösende Pro¬ blematik der Überschneidung der verschiedenen Terminologien. Es versteht sich von selber, daß der Wiener Impressionismus als Lebensform, die sich ja des öfteren literarisch manifestiert, nicht identisch mit dem für die universale Moderne bestimmenden Impressionismus in der Malerei, aber auch nicht mit dem spezifisch dichterischen, poetischen Impressionismus von vielen zeitge¬ nössischen Dichtern identisch ist. Der Wiener Impressionismus ist die stark

Wiener Impressionismus

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durchintellektualisierte Lebensform der zweiten Generation der Wiener Bür¬ gersöhne der großen Väter, die Österreich-Ungarn, die Moderne und die Ei¬ senbahn- und Banknetze ausgebaut haben. Es ist selbstverständlich eine an¬ dere Frage, daß diese Lebensform sich des öfteren eben künstlerisch manife¬ stiert. Ein weiterer Ausbau der Analyse der strukturellen Position im literarischen Leben würde mit Notwendigkeit zu einer kulturphilosophischen Theorie der Gründung führen. Das Phänomen der Gründung ist ursprünglich keine kul¬ turhistorische oder kulturphilosophische Kategorie, da man die selbe quasi¬ theoretische Bedeutung auch Gründungen in der Wirtschaft oder in der Poli¬ tik zuschreiben kann. Durch eine erfolgreich vollzogene Gründung entsteht in der historischen Kontinuität etwas, was früher nicht existierte. Dies be¬ deutet aber mit Notwendigkeit, daß konkrete, gegebenenfalls sogar kontin¬ gente oder ganz zufällige Bestimmungen der Gründung gerade durch diesen Akt zu bleibender historischer Geltung kommen. Amerikas Gründung im Kampf gegen die Indianer, Deutschlands Gründung durch Bismarck und an¬ dere Beispiele können klarmachen, daß Momente des Umfeldes durch ihre aktive, strukturbildende Anwesenheit zu bleibenden Eigenschaften des Ge¬ gründeten gehören können2. Nun scheint es uns durchaus sinnvoll, diese geschichts-pragmatische und geschichts-theoretische Kategorie der "Gründung" auch in die Forschung der europäischen Moderne einzuführen. Auf den Wiener, aber auch auf den Budapester Impressionismus gewandt, bedeutet dieser Aspekt, daß diese Rich¬ tung mit der Gründung der Moderne identisch war. Das Wesentliche besteht in dem spezifischen Konstitutionsprozeß der Gründung selber: Viele und an sich wohl kontingente Elemente des Gründungszusammenhanges werden in das zu Gründende integriert und später als unzertrennliche Bestandteile des zur historischen Würde und Norm gekommenen Begründeten empfunden und gewertet. Auf diese Weise ist der Wiener Impressionismus die "Gründung" der spezifisch modernen Lebensform Österreich-Ungams und, wenn man will, Mittel-Europas, die Gründung einer Lebensform, die sich in sehr we¬ sentlichen Punkten von ihren Alternativen in London, Paris oder Berlin deut¬ lich unterschieden hat. Für den Wiener Impressionismus in seiner Qualität als "Gründung einer strukturbildenden neuen Lebensform" auf einem bis dahin angesichts der neuen und kreativen Lebensformen eher "peripheren" Gebiet, gelten aber auf konsequente Weise all jene wesentlichen Bestimmungen der "Gründung", von denen vorhin die Rede gewesen ist. Das heißt, um nur den für uns wesentlichen Zusammenhang hervorzuhe¬ ben, daß die spezifischen Charakterzüge des Wiener Impressionismus als Le¬ bensform - eben als Motive der Gründung - zu einer bestimmten Zeitlosigkeit gelangen und als die Gründungsmodeme für lange Zeit und für viele Be-

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Endre Kiss

urteilungen als die moderne Lebensform par excellence fungieren. Es ist selbstverständlich auch mit ein Moment, weshalb der Wiener Impressionis¬ mus als Lebensform seine strukturkonstituierende Funktion erfüllen konnte. Ein stetes und in der Tat auf sachliche Gründe zurückgehendes Problem stellt die Beurteilung der zwiefachen Natur des Wiener Impressionismus in jenem Zusammenhang, ob man seine positivistisch-szientistischen Wurzeln oder ob man - in direktem Gegenteil dazu - seine, 'irrational¬ antipositivistische' Qualität in den Mittelpunkt stellt. Für die erste Einstellung kann man Arnold Hauser als theoretischen Kronzeugen anführen: Der Impressionismus verliert in der neuen Literatur seine Verbindung mit dem Realismus, Positivismus und Materialismus verhältnismäßig früh und vertritt beinahe von Anfang an diejenige idealistische Reaktion, die in der Malerei erst nach der Auflösung des Impressionismus kundtut.3

Eine von Hausers Deutung grundsätzlich verschiedene Einsicht gewinnen wir aber bei einer genealogischen Anschauungsweise, die etwa im Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Arthur Schnitzler unschwer zu studieren ist4. Der innere Kern des mitteleuropäischen Impressionismus ist eine existenti¬ elle Evidenz, die sich aus dem Nacheinander der Akte der inneren Geschichte und der inneren Sensationen der Persönlichkeit konstituiert. So nahe dieser Kern beispielsweise dem Kierkegaardschen ästhetischen Stadium steht5, un¬ terscheidet es sich von ihm dadurch, daß diese Kette innerer Sensationen sich zu keiner einheitlich-homogenen Attitüde summieren läßt. Dieses Kemphänomen erklärt, warum der Impressionismus zwischen Positivismus und Le¬ bensphilosophie stehen kann. Gerade das Feld der punktuellen inneren Sen¬ sationen enthält beide Dimensionen und vereint sie harmonisch. Die wichtigsten Züge des Wiener Impressionismus als Geisteshaltung und Lebeskonzept, als "Lebensform" sind die folgenden: L Der Impressionist ist grundsätzlich Relativist. Er ist gegenüber absolut gesetzten Werten, die sich in ihrer Evidenz seiner Unmittelbarkeit nicht be¬ haupten können, methodisch-relativistisch eingestellt. Die impressionistische Lebenshaltung praktiziert ihren Relativismus aber nicht vor allem auf kognitivistischer Grundlage, sondern verbindet den Wertrelativismus mit existenti¬ ellen Ansprüchen und Überlegungen. Von der anderen Seite her gesehen aber erreicht der existentielle Ansatz des Wertrelativismus nie die Schwelle einer kohärenten philosophischen Einstellung, und sei es einer nur 'existentiell' motivierten philosophischen Attitüde. Dadurch erlangt die impressionistische Fhnstellung ihren spezifischen quasi-theoretischen oder semi-theoretischen Charakter. Die impressionistische Lebenshaltung läßt sich ohne Schwierig¬ keiten als eine kohärente Denkweise rekonstruieren, diese Kohärenz ist je¬ doch eher ein Produkt der Rekonstruktion und nicht so sehr die Eigenschaft

Wiener Impressionismus

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der wirklichen impressionistischen Einstellung. Die impressionistische Ein¬ stellung liegt auf einer sehr einmaligen und singulären Grenze zwischen normaler Alltäglichkeit, moralischem Wertrelativismus, existentialphilosophischem Ansatz und vorgeformter literarischer Option. Kein Wunder, daß die Diskussion um die Kategorisierung des Wiener Impressionismus unter sehr vielen Namen sogar nie aufhört (Wiener Moderne, Ästhetizismus, Deka¬ denz, Faiakentums etc). Diese spezifische Position verstärkt jedoch die Kraft der impressionistischen Lebenshaltung, ihre fundamentale strukturelle Positi¬ on erfüllen zu können. 2. Der Impressionist sucht unaufhörlich nach 'Weltanschauung, er leidet stets am Mangel an einer zusammenhängenden Weltdeutung. Nichtsdestowe¬ niger findet er nie eine solche Weltanschauung, da sie sich in jeden begriffli¬ chen Ausarbeitungen seinen stets wechselnden Evidenzvorstellungen ent¬ zieht. Der Impressionist erscheint dadurch als Exponent der modernen "condition humaine" der Jahrhundertwende, als der Benachteiligte und der ins Dasein Geworfene, kann und will aber zu keinem kohärenten und - was noch viel wichtiger ist - ihn in der weiteren Existenz verpflichtenden Ergeb¬ nis kommen. Diese Lebensauffassung wird in unserem Jahrhundert noch eine aufsehenerregend lange Nachgeschichte haben. Das Individuum stilisiert sich als geistiges Opfer der großen Transitionsprozesse und instrumentalisiert sei¬ ne Defizite, um seinen aktuellen Existenzmodus zu legitimieren. Ein definiti¬ ves 'Ende1 dieses Defizits ist nicht vorgesehen, denn es hätte schon Konse¬ quenzen für die Veränderung der Lebenshaltung. Es versteht sich, daß da¬ durch auch das Dilemma von "Ethik" und "Ästhetik" gleichzeitig angespro3. Der Wiener Impressionist lebt in einer spezifischen Unmittelbarkeit. Weder die Kategorien einer systematischen Ethik, noch die einer - wie wir soeben gesehen haben - Weltanschauung oder irgendeine andere mögliche Gestalt der Vermittlung bestimmt ihn. Er erlebt, handelt, urteilt unmittelbar, er hat eine unmittelbare Relation zur Wirklichkeit. Seine spezifische Fixie¬ rung auf die Unmittelbarkeit als authentische Existenz tragt die Potenz der Amoralität jederzeit in sich. Existentielle Evidenzvorstellungen, euphorische Erlebnisse des Augenblicks, existentiell erfüllte Stunden stimmen nämlich nicht notwendig mit der Moral überein. Darin findet man den Kern des un¬ aufhörlichen Konfliktes des Impressionisten zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen, dessen Präsenz für den Impressionisten im wahren Sinne des Wortes bestimmend ist. Man könnte es auch so formulieren, daß das Aufge¬ riebensein zwischen der Logik der erfüllten Unmittelbarkeit und der Logik der Moral die wahre und dauernde Existenzform des Wiener Impressionisten ausmacht Die Herrschaft der Unmittelbarkeit in der Existenz hat aber auch noch viele andere Dimensionen. Um nur die für die ästhetische Darstellung

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Endre Kiss

wesentliche Konsequenz zu erwähnen, erwächst aus ihr mit Selbstverständ¬ lichkeit eine ästhetische Wahrnehmung der Unmittelbarkeit, die auf verschie¬ dene Weisen ihre ästhetische Realisierung in der "impressionistischen" Kunst erleben kann. 4. Für den Impressionisten hat der andere Mensch eine zweifache, parado¬ xe und im Endeffekt nur innerhalb des eigenen Diskurses interpretierbare Bedeutung. Einerseits verfugt der Impressionist über eine grenzenlose Identi¬ fizierungsgabe, schon aufgrund der ihn stets begleitenden Unmittelbarkeit er¬ blickt er in jedem anderen - narzistisch - nur sich selber oder einen anderen 'Menschen der Unmittelbarkeit', der von ihm so verschieden doch nicht sein kann. Andererseits, wenn er in seinen Evidenzvorstellungen oder im Laufe seiner impressionistischen Selbstverwirklichung mit anderen Menschen kon¬ frontiert wird, ist sein Verhalten ihnen gegenüber nicht moralisch, sondern "ästhetisch" oder, anders genannt, "impressio-nistisch". Die impressionisti¬ sche Behandlung von moralischen Auseinandersetzungen und Konflikten entsteht aus der Konsequenz einer einmaligen Motivation, von der man eben¬ falls nur sagen kann, daß sie auch in den späteren Jahrzehnten unseres Jahr¬ hunderts reichlich praktiziert worden ist, man könnte sogar sagen, daß diese Motivation sich so stark erwiesen hat, die traditionelle bürgerliche Moral bei¬ seitezuschieben. Denn die impressionistische Unmittelbarkeit verhält sich dem anderen gegenüber unmoralisch, nicht aber deshalb, weil der Mangel an Moral ihr aus irgendwelchen Gründen von Belang wäre, sondern einfach um ihre innere Neigung zur Unmittelbarkeit zu verwirklichen. Nicht primär we¬ gen des anderen verhält sie sich unmoralisch, sondern um sich zu verwirkli¬ chen. 5. Der Impressionist arbeitet Tag und Nacht aktiv daran, sich im Leben wie in der Kunst, Kunstkritik oder in anderen Objektivationen zu befreien. Seine Existenz ist ein permanenter Freiheitskrieg gegen bürgerliche Vorschriften und Erwartungen. So erhält seine Aktivität eine emanzipative Note, auch wenn sie alles andere als politisch ist. Der Impressionist ist nämlich prinzipi¬ ell apolitisch, steht der politischen Sphäre ohne Verständnis gegenüber und betrachtet das Feld des Politischen als eines, auf dem keine impressionisti¬ schen Evidenzvorstellungen zur Geltung kommen können und welches eine Sphäre der notwendig entfremdeten und menschenfeindlichen Mechanismen darstellt. Der emanzipative Charakter seiner Existenz kamt freilich auch nicht ganz problemlos interpretiert werden. Denn der gewaltige Unterschied zwi¬ schen dem Wiener Impressionisten und dem emanzipativen Individualismus eines Goethe oder eines Nietzsche besteht eben darin, daß letztere sich die Emanzipation des einzelnen stets durch eine gleichzeitige Realisierung von Gattungswerten vorstellen. Nun leugnet zwar der Wiener Impressionist die Existenz und die Bedeutung der zu verwirklichenden Gattungswerte keines-

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wegs, es steht aber fern von ihm, seine Befreiungsakte mit der Realisierung von Gattungswerten und anderer Universalien zu verbinden. 6. Der Impressionist ist auf seine nicht-emanzipative Weise tief demokra¬ tisch, auch wenn dieser Demokratismus wenig mit Politik zu tun hat. Es ist ein Demokratismus des Kreatürlichen und des Unmittelbaren. Die Einschät¬ zung dieses impressionistischen Demokratismus kann sehr unterschiedlich sein. Ganz ohne Konsequenzen ist eine solche Haltung jedoch auch in Hin¬ sicht auf das Politische nicht. Wichtiger als diese sekundären und nur sehr abstrakt wahrnehmbaren Konsequenzen der impressionistischen Demokratie sind aber die kulturellen Folgen. Die Moderne produziert Entwürfe, die in ih¬ ren Vorstellungen über Kultur grundsätzlich demokratisch oder anti¬ demokratisch sind. Für den Impressionisten ist selbst der höchste Grad der modernen Kultur für jeden nicht nur erreichbar, sondern auch erlebbar, und gibt die von Hermann Broch so meisterhaft kategorisierte Erscheinung der Stil-Demokratie ab. Diese Grundzüge des mitteleuropäischen Impressionismus reichen wohl aus, die verbreitetsten und in der Mehrheit nicht korrekten Meinungen über den Impressionismus zu relativieren. Sicherlich übertreiben zum Beispiel Hamann und Hermand, wenn sie "Impressionismus" als "individualistische Genußkultur" etikettieren6, auch wenn gewisse Motive dieser Einschätzung in der impressionistischen Unmittelbarkeit und ästhetischen Einstellung tat¬ sächlich gegeben sind. Ebenfalls nicht exakt scheint uns Arnold Hausers Be¬ zeichnung des Impressionismus als "idealistische Reaktion unter anderem auf Positivismus und "Materialismus"7. Dem widersprechen eben die positi¬ vistischen Restbestände des Impressionismus am stärksten. Ganz symme¬ trisch artikuliert sich auf dieser Grundlage Hermann Bahrs Identifizierung des Impressionismus mit einer Art Positivismus (mit dem Emst Machs), die wir aber ebenfalls als einseitig ablehnen8. Wie der Wiener Impressionismus tatsächlich von strukturbildender Positi¬ on war, soll das Beispiel Hermann Brochs andeuten, der vor allem aus intel¬ lektuellen Konsequenzen der Generationsfolge entscheidend anti¬ impressionistisch eingestellt war. Im Gegensatz zum Relativismus des Im¬ pressionisten ist Hermann Broch ein Mann von theoretischen und praktischen Absolutsetzungen, auch wenn er einer ist, der um diese Relativität enzyklo¬ pädische Kenntnisse und ein breites Verständnis hat. Für Broch ist eine Ein¬ sicht eigen, die sich nicht mehr mit der traditionellen Suche nach Weltan¬ schauung beschreiben läßt. Seine Diagnose zeigt zwar eine Menschheit, die nach Weltanschauung sucht, in ihrem Zustand der neuen Einsamkeit abei nicht einmal im Besitz einer Weltanschauung ihre welthistorische Situation erlösen kann. Daß er den impressionistischen Immoralismus nicht teilte, ha¬ ben wir bereits erwähnt. Daß für ihn der andere stets hoch stand, ist ebenfalls

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eindeutig, seine Devise hier ist anstatt impressionistischer Gleichgültigkeit die "Hilfe". Hermann Broch bezieht ebenfalls metapolitische Positionen, so daß die normale Politik auch für ihn kein ausgezeichnetes Feld ist. Ihn führen aber in der Ablehnung der Politik nicht impressionistische Evidenzvorstel¬ lungen, vielmehr geschichtstheoretische Überlegungen und ganz unkonven¬ tionelle, geniale politische Einsichten selber. In der gleichen Zeit werden auch in Budapest zahlreiche existentielle und intellektuelle Formen des "Wiener Impressionismus" dominant, um außer dem jungen Georg Lukäcs jenen 'Antiphilologismus' eines Lajos (Ludwig) Hatvany zu erwähnen, dessen Die Wissenschaft des Nichtwissenswerten (Berlin, 1908) eine wahre Deklaration des Wiener (und nunmehr des Budapester) Impressionismus gewesen ist, jenen Impressionismus des Alltags und der Lebensführung, der in den Tagebüchern von Bela Baläzs manifest wird oder jenen durch impressionistische Züge durchwobenen historischen No¬ stalgismus von Gyula Krudy, der den Wiener (und den Budapester) Impres¬ sionismus mit der - wenn man will - 'nationalen' Problematik verbindet.

Wiener Impressionismus

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Literatur

1 Auf Grund dieser Teilung entsteht jenes gleichzeitig literarische und soziologische Phä¬ nomen, als sich die (literarische) Gesellschaft um eine neue literarische Richtung in zwei einander bekämpfende Teile spaltet. Bei diesen Gelegenheiten, die für den literarischen Prozeß von hervorragender Bedeutung sind, wird die spezifisch strukturelle Position einer konkreten literarischen Strömung oder eines konkreten literarischen Phänomens unmittel¬ bar einsichtig. Die strukturelle Position ist also keine, wie immer auch zu verstehende äs¬ thetische Qualität, sie steht einfach für eine "Position", die für den literarischen Prozeß in einem konkreten Zeitpunkt strukturbildend ist. 2 Siehe dazu Richard Hamann/Jost Hermand, Gründerzeit. München, 1971. (erste Ausga¬ be: 1965). Die Autoren dieses Werkes machen jedoch nicht den Versuch, die von ihnen be¬ schriebenen Phänomene der Reichsgründung auch kultursoziologisch oder kulturhistorisch zu verallgemeinern. 3 Arnold Hauser, A Müveszet es irodalom tarsadalomtörtenete (Die Sozialgeschichte der Kunst und der Literatur). Budapest, 1974. Band II. S. 330. 4 S Kurt Bergeis folgenden Text: "In ihrem naturwissenschaftlichen Denken sind Brandes und Schnitzler ganz von dem Geist des Positivismus bestimmt, dem beide entstammen" (in: "Vorwort" zu Georg Brandes - Arthur Schnitzler Ein Briefwechsel. Bern, 1956. S. 26. 5 S. von dieser Ähnlichkeit Endre Kiss, Der Tod der K.u.K. Weltordnung in Wien. WienKöln-Graz, 1986. 6

Richard Hamann/Jost Hermand, Impressionismus. Zweite, unveränderte Auflage. Berlm,

1966. S. 141. 7 Ähnliche Vorwürfe werden schon in der Vorkriegszeit formuliert. Siehe ein sozial¬ demokratisches" Beispiel: "Die vollkommene Anarchie unter dem Namen 'Individualismus ,m Reiche der Kunst entspricht nur der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft . In: Die Neue Zeit, Jg. 1913. Es geht um den bestimmenden Versuch Hermann Bahrs, Emst Machs fundamentale The¬ se über die empiriokritizistisch motivierte Auflösung des Ichs im Namen der Wiener im¬ pressionistischen Evidenzvorstellungen in Besitz zu nehmen, um damit den Wiener Im¬ pressionismus mit einem sachlich-philosophischen Hintergrund zu versehen, ihn gewis¬ sermaßen zu ontologisieren (auch wenn gerade der Machsche Empiriokritizismus im enge¬

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ren Sinne des Wortes mit Ontologie wenig zu tun hat).

Luca D'Ascia (Pisa)

Triest: das italienische Mitteleuropa

1."Barbarei" und "Arbeit" "Ich möchte Euch sagen, ich sei im Karst geboren, in einer Hütte mit Stroh¬ dach, vom Regen und Rauch geschwärzt... Ich möchte Euch sagen, ich sei in Croatien geboren, im großen Eichenwald ... Ich möchte Euch sagen, ich sei auf der mährischen Ebene geboren ... Ich möchte Euch betrügen - doch wür¬ det Ihr mir nicht glauben. Ihr seid gescheit und scharfsinnig. Ihr würdet sofort einsehen, daß ich ein armer Italiener bin, der sich darum bemüht, seine ein¬ samen Sorgen verwildern zu lassen". So versuchte 1910-12 Scipio Slataper, junger Triestiner Student in Florenz, der schwierigen Identität seiner Heimatstadt, ihrer "mühseligen Originalität" ("originalita d’affanno") Symbolcharakter zu verleihen. Mein Karst (II mio Carso), dieser eigenartige Roman, den man eher als ein Tagebuch in aller Öffentlichkeit" bezeichnen würde, setzt mit einer Anrede an: "Ich möchte euch sagen", "Vorrei dirvi". Adressaten sind die Florentiner Freunde, die Verfasser der Voce - der Zeitschrift also, welche 1908-1912 mehr als jede an¬ dere für ein weitreichendes, oft auch widersprüchliches Programm der kultu¬ rellen Erneuerung im Sinne der europäischen Moderne eintrat. Die jungen Intellektuellen aus Triest wollten sich bei der gebildeten Öffentlichkeit des italienischen Königreiches Gehör verschaffen; die Betonung der "italianita" auf kultureller Ebene sollte die anhaltende Bindung an Österreich auf Staats¬ und Handelsebene wettmachen. Diese Trennung von Bildung und politischer Zugehörigkeit entsprach der damaligen Stellung des Direktors der Voce, Gi¬ useppe Prezzolini, welcher von der nationalistischen Partei Abstand gewon¬ nen hatte und nun einen bildungsbetonten, mittelinks orientierten Reformis¬ mus vertrat Die Voce zeichnete sich sogar durch ein reges, im damaligen Ita¬ lien äußerst ungewöhnliches Interesse für die Wiener Moderne aus: "ein gu¬ tes Buch über Österreich" gehörte zu den Desideraten, die Giovanni Papim Ende 1910 als künftige Aufgabe der italienischen Intellektuellen auflistete. Es verwundert nicht, daß unter diesen Voraussetzungen sogar Ansätze eines "Habsburgermythos" auftauchen. Der Dichter Umberto Saba (1883-1957) wollte ein guter Patriot sein: In seiner Novelle Der Krieg im Traum (Alla zuerra in sogno) (1912-13) beschreibt er dennoch den alten, ehrwürdigen Feldmarschall Radetzky mit einer Nostalgie, die beinahe Joseph Roth vor¬ wegnimmt und die außerhalb Triests undenkbar gewesen wäre: Schließlich ging es auch um ein Stück eigener Geschichte.

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Luca D'Ascia

Diese österreichisch-kosmopolitische Prägung der Stadt wurde aber auch als ein Manko empfunden. Die Triestiner Mitarbeiter der Voce brachten keine italienischen "Bildungstraditionen" mit, zumindest was die rhetorisch¬ ästhetische Kultur betraf, wie Slataper in einer Artikelreihe bedauerte, welche in der Voce im Frühling 1909 erschien: die Triestiner Briefe. Ihrer Prosa da¬ gegen entströmte, wie Slataper es sich wünschte - ob Aufsätze, Briefe oder lyrische Erzählungen - , der Emeuerungswind beider "Barbarismen": des nordisch-zerebralen und des slawisch-urwüchsigen. 1910 machte Slataper die italienische Öffentlichkeit mit Hebbels Judith bekannt, indem er in der Figur des Holofernes eine Vorform des Übermenschen zu erkennen meinte. Hebbel wurde zu einem Kampfruf für alle, welche mit geschlossenen Formen und klassischem Gleichgewicht unzufrieden waren und nach einer aggressiven Schönheit verlangten. Neben Hebbel stand Kleist im Mittelpunkt des Interes¬ ses bei dieser verspäteten Rezeption der echten, unidyllischen deutschen Ro¬ mantik. 1915 schrieb Giani Stuparich, ein Freund von Slataper, die Einlei¬ tung zu einer Auswahl der Briefe des großen Romantikers, welche aber erst 1919 erschien. Tagebuch und Briefwechsel: Diese subjektiven Ausdrucks¬ formen waren auch die bevorzugten Gattungen der "Vociani", wie eben II mio Car so beweist. Damit schenkte Slataper der italienischen Literatur eine intakte Stimmungslandschaft, welche erscheint, als sei sie einer natumahen Ursprache abgehört worden. Die expressionistische Sprachgewalt galt aller¬ dings, in Triest wie in Wien, als subjektivistische Antwort auf eine philoso¬ phische Sprachkrise, welche ihren bewußten Ausdruck auf Italienisch in Carlo Michelstaedters Die Überzeugung und die Rhetorik (La persuasione e la retorica, 1913 postum veröffentlicht) gefunden hatte. Jene Faszination für das Elementare, welche die Generation des Expres¬ sionismus insgesamt kennzeichnet, nimmt bei den Triestinem unverwechsel¬ bare ethnische Züge an. Der Sozialist und österreichische Föderalist Angelo Vivante konnte wohl anhand von Statistiken beweisen, daß die Analphabe¬ tenrate unter den Slowenen niedriger war als unter den Italienern des "Küstenlandes". Giani Stuparich, Student in Prag, konnte auch wohl das Vor¬ bild der friedlichen, wirtschaftlich regen Selbstbehauptung der "tschechischen Nation", der er 1915 ein grundlegendes Werk widmete, seinen Landsleuten vor Augen halten. Masaryk, mit seiner immanentistischen, aber nicht materialistischen Philosophie, mit seiner Ablehnung des Marxismus, konnte wohl als derjenige charismatische Vertreter der Demokratie gelten, dessen italienisches Äquivalent die jungen Triestiner schmerzlich vermißten. Trotz dieser Ansätze einer positiven Beurteilung bleibt das Verhältnis der italienischen Intellektuellen zum "Slawismus" tief gespalten. Das slawische "Erwachen" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welches die Vorrang¬ stellung des italienischen Bürgertums bedrohte und wofür die nationalistische

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Propaganda die österreichische Regierung verantwortlich machte, rief ein breites Spektrum an Reaktionen hervor. Die Nationalisten befürworteten ei¬ nen von den italienischen Schulen und Vereinen getragenen Kulturkampf. Ihnen gesellten sich die Futuristen zu, die 1910 eine "serata" zu Triest veran¬ stalteten - der dazugehörige Bericht erschien gebunden mit Palazzeschis Incendiario. Die "Vociani" dagegen versuchten zuerst, den Weg der Verständi¬ gung einzuschlagen: Eine tiefere Ambivalenz gegenüber dem "Slawismus" bleibt in der Struktur des literarischen Werkes allerdings eingeschrieben. Slataper, unter dem Einfluß von Hamsun und D'Annunzio, fühlte sich stark vom "panischen" Vitalismus angezogen. Ausgangspunkt seiner lyrischen Autobiographie, Mein Karst, ist das jugendliche Entgrenzungserlebnis, die freie Expansion des Ichs in einer Natur, die überall romantisch beseelt ist. Bei diesem Abstieg zu den Müttern bäuerlichen Ursprungs konnte Slataper sich als Slawe empfinden und mit der Zerstörungs- und Emeuerungskraft der "Barbarei" sympathisieren. "Barbarei" eben schrieb der versprengte Italiener denjenigen serbisch-kroatischen Völkern zu, deren Literatur in episch¬ grausamen Kriegsliedem zu gipfeln schien. Zumindest in einem Fall fand diese "jugoslawische" Epik tatsächlich Einlaß in die triestinische Literatur: bei der heroisch-volkstümlichen Darstellung des Todes des Soldaten Marko aus Banja Luka im Kampf um Görz (1916) im Kriegsgedicht La buffa von Giulio Camber-Bami. In Mein Karst bleibt die "Barbarei" zuerst symbolisch. Alboinus, der langobardische Führer, ist die symbolische Identifikationsfigur für den slawi¬ schen "Slataper" (auf italienisch "Pennadoro"). In der Erzählung wird eben der "Untergang" dieser Figur - nach dem Muster Nietzsches: "Also begann Zarathustras Untergang" - beschrieben. Alboinus-Pennadoro steigt den Berg hinab, um in der "Stadt der Arbeit", Triest, Isolation, Entwurzelung und Versuchung des Nihilismus zu erleben. Die industrielle Stadt als Ort der lyrischen Emargination. des Verlustes der Aura: Gerade in der kurzen Zeitspanne vor dem Ersten Weltkrieg erobert die¬ ses große Thema der europäischen Moderne auch die traditionsbewußte Fe¬ stung der italienischen Literatur. Die "barbarische" Frische geht verloren. An ihrer Stelle verschärft sich der kritische Blick des Außenseiters. Der Handel, Grundlage des Wohlstandes und des sozialen Selbstweltgefühls des italieni¬ schen Bürgerturms, versinnbildlicht eine entfremdete Menschheit. Diese "moderne" Masse wird gegeißelt bzw. geißelt sich selbst, damit sie voran¬ kommt: Die Arbeit, der wirtschaftliche Aktivismus wirkt als Ablenkung von dem gegenwärtigen "Schmerz", welcher aus dem blinden "Willen" immer wieder hervorgeht. Aber die Menschheit, welche nur für die Zukunft lebt, "täuscht" sich selbst durch "Rhetorik", hat keine "Überzeugung" - wie es Carlo Michelstaedter, Schüler Schopenhauers und Leopardis, ausdrückte

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welcher dreiundzwanzigjährig mit einem Schuß einen Schlußstrich unter sei¬ ne pessimistischen Reflexionen gezogen hatte. Ohne über das theoretische Bewußtsein eines Michelstaedters zu verfügen, steht Slataper-Pennadoro im zweiten Teil seines Werkes, einem tagebuchartiges Protokoll einer existenti¬ ellen Krise, vor ähnlichen Überlegungen. Aber zu stark wirkt bei ihm das Er¬ be einer romantischen "Sendung" fort, die aus dem Dichter den Führer eines nicht näher bestimmten "Volkes" machen sollte, als daß er sich, wie der "unpolitische" Michelstaedter, mit einer rein individualistischen Lösung zu¬ frieden hätte geben können. Das letzte Wort des Hauptwerkes Slatapers ist weder die slawische und bäuerliche Sehnsucht nach Ursprünglichkeit noch die existentielle Ratlosigkeit, von Slataper selber als Merkmal der "demokratischen Ära" gedeutet, kosmopolitischer Ausdruck der psychologie contemporaine. Mein Karst endet im Gegenteil mit der sublimierten Verall¬ gemeinerung der Arbeitsmoral des italienischen Bürgertums. Diese Moral wird von ihrer provinziellen Beschränktheit befreit, welche die jungen Intel¬ lektuellen kritisierten. Sie verbindet sich mit einer Verherrlichung des mo¬ dernen Lebens, welche dem Futurismus ziemlich nahe kommt - gerade jenem Futurismus, dem Slataper den Mangel an "innerlicher Tragik" vorgeworfen hatte. Parallel zu Mein Karst, aber ohne dessen feine symbolische Bearbeitung, verläuft die politische Entwicklung Slatapers: Am Ende steht die Versöhnung mit der "Triestiner Ideologie", Alboinus bekennt sich zu der höherstehenden Kultur, zu der italienischen selbstverständlich. Zuerst teilt Slataper die Linie der Voce und der Sozialisten wie Angelo Vivante: Respekt vor den Slawen, Ablehnung des Separatismus, eventuell - wie der Rumäne Popovici vorge¬ schlagen hatte - "die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich". Aber in den Artikeln von 1914-15 ergreift er bedenkenlos für die Kriegsintervention Par¬ tei und rechtfertigt dabei die gesamten Ansprüche der italienischen Nationali¬ sten: ganz Istrien, ganz Dalmatien, trotz der überwiegend slawischen Bevöl¬ kerung. Somit fand er sich in der Gesellschaft eines anderen Triestiners, des Futuristen Italo Tavolatos, ohne allerdings je natürlich dessen typisch futuri¬ stische

Turbulenz

nachzuahmen.

Tavolatos

"reversibler

Extremismus"

(Isnenghi) fand in dem "Fluch an die Demokratie", 1914 in der Zeitschrift Lacerba erschienen, seinen adäquaten Ausdruck. 1915 fiel Slataper an der Front. Demselben Schicksal erlag Carlo Stuparich, der jüngste unter den Triestiner Koce-Mitarbeitern. Der Krieg erscheint ihm beinahe als die einzige mögliche Lösung für eine tiefe persönliche Krise, welche sogar dem neuen Religionsersatz, dem Aktualismus Giovanni Gentiles, zu heilen mißlungen war. Bei Slataper, bei Stuparich schlägt bald die Kriegsbegeisterung in passive Resignation um. So mancher triestinische Briefwechsel aus den Schützengräben scheint diesselbe Stimmung wiederzu-

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geben, die Giuseppe Ungaretti im Kriegsgedicht Lontano zum Ausdruck brachte: "Sehr weit, sehr weit / Wie ein Blinder / Hat man mich gebracht, bei der Hand genommen" Die ethnischen, politischen und gesellschaftlichen Widersprüche Triests fanden auf der Ebene der Machtpolitik und der Gewalt ihre Lösung: Die große expressionistische Literatur, welche sie genährt hat¬ ten, erschöpfte sich zugleich, ihre Autoren waren entweder tot oder gereifte Überlebende. Als man sich in den Zwanziger Jahren jener Zeit des Aktivis¬ mus und der Unschlüssigkeit erinnerte, wurde aus der damaligen Spannung die Gedächtnisidylle, wurde aus der Stakkato-Prosa ein zögernder lyrischer Realismus. Der typische Ausdruck dieser neuen Geschmacksrichtung sind die Erzählungen und Romane von Giani Stuparich, von psychologischer Feinheit und spätromantischer Weitschweifigkeit.

2. Krankheit und Gesundheit. Triest entbehrte aber der "Bildungstraditionen" keineswegs in dem Maße, wie Slataper gezielt polemisch seinen selbstzufriedenen Bürgertum dargestellt hatte. Besser gesagt: der weltbürgerlichen Handelsstadt mangelte es vielleicht an "Nationalkultur", auch weil die Italiener nicht über eine eigene Universität verfugten und dazu gezwungen waren, in Graz oder Innsbruck zu studieren. Die Bemühungen, der Zentralregierung mindestens eine nationale Hoch¬ schule zu erkämpfen, scheiterten unter anderem an der italienischen Verwei¬ gerung, ein slowenisches Fach für Wirtschaft und Jura und slowenische Grundschulen im Kommunalbezirk von Triest zu akzeptieren. Neben der Handelskultur hatte sich aber in der Stadt an der Adria eine wissenschaftliche und medizinische Kultur wienerisch-positivistischer Prägung eingebürgert. Diese Kultur hatte daran Interesse, auf den problematischen Begriff des Or¬ ganismus ein klareres Licht zu werfen, und scheute nicht davor zurück, die Grauzone zwischen Physiologie und Pathologie, bewußten Absichten und 'dunklen' Beweggründen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. In dieser Kultur entsteht das Gesamtwerk Italo Svevos, angefangen von be¬ deutsamen Einzelheiten (z.B. das Interesse für den Zusammenhang von Wil¬ lensintentionen und optischer Wahrnehmung, die vielleicht auf Helmholtz zurückgeht, oder die Erklärung des Funktionierens des menschlichen Körpers als 'thermische Maschine') bis hin zu seiner allgemeinen intellektuellen Hal¬ tung. Svevo eignete sich zwar die italienischen Klassiker mit der gewissen¬ haften Begeisterung eines triestinischen Patrioten an: vom Typus des italieni¬ schen Literaten blieb er aber meilenweit entfernt. Der größte Romanschrift¬ steller aus Triest war ein selbstbewußter Weltbürger. Im Profilo autobiografico von 1927 erklärte Ettore Schmitz die Wahl des Pseudonyms Italo Sve-

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Luca D'Ascia

vos, mit dem er alle seine Werke (abgesehen von einigen kleinen Jugend¬ schriften, die unter dem Namen von "Ettore Samigli" erschienen) Unterzeich¬ nete: "Um die Begründung eines Pseudonyms zu verstehen, welches die ita¬ lienische und die germanische Rasse offenbar verbrüdem will, muß man sich die Funktion vergegenwärtigen, die Triest schon seit fast zwei Jahrhunderten am Osttor Italiens ausübt: die eines Schmelztiegels der heterogenen Elemen¬ te, welche der Handel und auch die fremde Herrschaft in die alte welsche Stadt zogen". Svevo (1861-1928), der Skeptiker und Ironiker, ist viel 'österreichischer' als der "dilettantische Siegfried" Slataper. Das 19. Jahrhundert, welches Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen als "gewissenhaft, aber finster" bezeichnete, prägt ihm seinen Stempel auf. Der Kriegsbegeiste¬ rung der "jungen Studenten" setzt er seine Theorie des Friedens entgegen, welche auf der Hypothese beruht, man könne den bewaffneten Konflikt einer Regelung unterziehen, damit er sich in einen liberalen Wettbewerb verwan¬ dele. Auf eine Veröffentlichung verzichtet er aber im vorhinein und schreibt auf private Art und Weise weiter. Als Kaufrnann und Unternehmer, strebt Svevo nach bürgerlicher 'Gesundheit', will tätig und pragmatisch sein -, der Gedanke ist nur ein Werkzeug, um seine Beute zu fangen, um im struggle for life seinen Mann zu stehen. Um sich selber zu verstehen, greift er aber zu "jenem unnütz und schädlichen Ding namens Literatur" -, und dann ist es um die bürgerliche Gesundheit geschehen. Näher besehen, erweist diese sich als reines Produkt der Streichung des Nichtzutreffenden. Svevos ganzes Werk ist ein Versuch, den dunklen verdrängten Triebgrund spürbar zu machen, wel¬ cher dem oberflächlichen Bewußtsein des Alltags zugrunde liegt. Dabei ver¬ fährt er mit analytischer Rationalität, ohne die Grenzen des gewöhnlichen Erlebens jemals zu überschreiten. "Im Dunkel schauen" ist für Svevo kein augenblickliches Erlebnis, welches das Subjekt blitzartig zu vernichten scheint, wie bei Pirandello oder auch - um in Triest zu bleiben - bei dem Alptraumdeuter Michelstaedter. Vielmehr handelt es sich um ein 'Verschwie¬ genes', welches seinen Schatten auf die Behauptungen der handelnden Per¬ son, ja des Erzählers wirft und das ganze psychische Leben als etwas 'Ver¬ gängliches' und Unberechenbares erscheinen läßt. Svevo trug in sich selber den kontemplativen Menschen Schopenhauers, "ein Produkt der Natur, in sich vollkommen wie der Kämpfer": Zeitlebens mußte er den Widerspruch zwischen dem Leben und sich selber als Lebenden sehen, zwischen Praxis und Literatur austragen, ohne sich der Täuschung hinzugeben, durch den aktivistischen 'Sprung' darüber hinwegzukommen. Zunächst bildet Schopenhauers Philosophie den Leitfaden seiner psycho¬ logischen Analysen: Der Charakter offenbart sich in der Handlung, welche den Täter selber in tiefes Erstaunen stürzt; aus einem Milieu ist er nicht ab-

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leitbar. Der erste Roman Svevos, Ein Leben, Una vita, 1887-89 geschrieben, 1892 veröffentlicht (der ursprüngliche Titel Un inetto - "Einer, der dem Da¬ sein einfach nicht gewachsen war" - wurde von dem Verleger abgelehnt), nimmt zu einer europäischen Debatte über Schopenhauer und die decadence Stellung, an der Zola, Bourget und Nordau beteiligt waren. Die Hauptperson, Alfonso Nitti, verkörpert den Grübler und Träumer, welcher unter der schwe¬ ren Last der Selbsterkenntnis leidet -, nach der Theorie Schopenhauers stellt der Typus des Träumers mit seinem willkürlichen Subjektivismus die voll¬ kommene Antithese zum kontemplativen Menschen dar. Das beliebte Thema des Romans des 19. Jahrhunderts - der Provinzler, der wagt, die bürgerliche Großstadt zu erobern - wird verdreht. Der Protagonist, ein Triestiner Bankan¬ gestellter, empfindet ein sonderliches Bedenken, sich rücksichtslos im Kampf zu engagieren. Die Introjektion des sozialen Minderwertigkeitsgefühls gibt sich als stoische Verzichtsmoral aus. Dieser abstrakte, introvertierte Ehrgeiz leitet ihn bis zum Freitod irre, eigentlich eine Selbstaufopferung, von der Al¬ fonso sich verspricht, die Hochachtung seiner Vorgesetzten zurückzuerlan¬ gen. In diesem Roman stehen Soziologie und Psychologie noch gleichbe¬ rechtigt nebeneinder. In seiner späteren Entwicklung wird Svevo lernen, die Konditionierung, welche die bürgerliche Ordnung auf den Einzelnen ausübt, auf indirektere, somit auch wirkungsvollere Weise zu schildern. Schon im zweiten Roman, Senilitä, Ein Mann wird älter (1898), verzichtet der Triestiner Erzähler auf programmatische Milieu-Beschreibungen und widmet sich stattdessen ganz der psychologischen Dynamik. Senilitä ist der charakteristischste fin de siecle-Roman der italienischen Literatur. Alle Mo¬ tive der Jahrhundertwende werden hier aktualisiert: die Anfangssituation ei¬ nes hortus conclusus, von grauem Dämmerlicht beleuchtet, die keusche Zweisamkeit der Geschwister Emilio und Amalia Brentani, durch den bald der Wind des eros fegt; die Verdrängung des eros, die bei Emilio zum rohen halbbewußten Aufstand eines niederen gegen den überlegenen Freund Stefa¬ no wird, bei Amalia die etilistische Sucht verursacht; Wagners Musik, deren "große Welle" "dem Schmerz aller" Ausdruck verleiht und in welcher Amalias Individualität dionysisch aufgeht; die Beschreibung der auseinanderfallen¬ den Materie in der grausamen Szene des Todeskampfes Amalias, welche "die Töne ausstößt, die sie während des langen bewußten Schmerzes gelernt hat¬ te": der Hang zum Sublimieren, wodurch aus der vulgären Kokotte Angiohna eine "erkennende und weinende" Symbolfigur wird; die sich unmittelbar dar¬ an anschließende pointierte Demaskierung: jenes Bild der Angiohna, mit dem der Roman endet, wird gleich darauf als Inbegriff des "müßigen Literaten¬ tums" des Protagonisten abwertend gekennzeichnet. Svevo schreibt aber so nuanciert-gewöhnlich, ist so weit vom Ästhetizismus entfernt, nimmt so deutlich von dem Pathos eines D'Annunzio Abstand, daß der Begriff der

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decadence bei ihm zu kurz kommt. Der Triestiner "Mangel an Bildungstradi¬ tionen" kommt dem Autor von Senilitä literarisch zugute. "Dekadent" in ei¬ nem anderen Sinn wirkt eher die kritische Analyse des ressentiments: sämtli¬ che Beziehungen unter den Romanpersonen erscheinen als Kraftproben, bei denen ein Schwacher den noch Schwächeren auf subtile Art psychologisch unterdrückt.

3. Die Autobiographie eines anderen. Während der fünfundzwanzig Jahre, die zwischen Senilitä und La Coscienza di Zeno {Zeno Cosini, 1923) liegen, bildet sich der "Dilettant" Svevo philo¬ sophisch in eine Richtung fort, die zugleich gesamteuropäisch und spezifisch österreichisch ist. "Und du wirst denken und nicht aus dem Standpunkt des Denkers" (Aphorismen-sammlung Nietzsche, Aph.

1). Zu Schopenhauer,

Darwin und Nietzsche gesellen sich Freud und sogar Einstein (letzterer wird an einer Stelle des autobiographischen Fragmentes Soggiorno londinese aus¬ drücklich erwähnt). Während der italienische Futurismus Zeit mit augen¬ blicklicher Bewegung gleichsetzte, hob der Triestiner und 'Österreicher' Sve¬ vo die relative Zeit oder 'gemischte Zeit' des Gedächtnisses hervor. Freuds Psychoanalyse (bekannt davon waren Svevo die einfuhrenden Vorlesungen von 1916, ein Werk über den Traum, das er zu übersetzen dachte, und die Psychopathologie des Alltagslebens) wird als Mittel der Therapie abgelehnt, als Methode der psychologischen Erkenntnis dagegen im Grunde angenom¬ men und originell angewandt. Zeno Cosini (der italienische Titel La coscienza di Zeno ist unübersetzbar, da

coscienza

auf Italienisch sowohl "Gewissen" wie auch "Bewußtsein"

bedeutet) ist alles andere als ein "psychoanalytischer Roman" im engeren Sinne des Wortes. Svevo beabsichtigte weder die psychoanalytische Technik an einem Beispiel zu erklären noch einen klinischen Fall naturalistisch zu be¬ schreiben. Der Roman entsteht vielmehr aus der Reflexion über die Grenzen einer möglichen Autobiographie, also über Wahrheit und Lüge in der Litera¬ tur. Der Protagonist, Zeno Cosini, der davon überzeugt ist, nervenkrank zu sein, versucht zuerst, seine Kindheitserinnerungen wachzurufen. Wäre er ein Genie im Sinne Weiningers gewesen, hätte diese Aufgabe ihm wohl keine Schwierigkeiten bereitet; da er aber keiner war, blieb sein Gedächtnis sehr fragmentarisch. Svevo persifliert die Thesen des Wiener Philosophen dessen Misogyme er auch an einer anderen Stelle des Romans eher sarkastisch er¬ wähnt. Nachdem dieser erste Versuch gescheitert ist, registriert Zeno die wichtigsten Episoden seines Lebens zum Gebrauch des Analytikers Er er zahlt von sich selber mit britischem Humor und Selbstironie, zuweilen sogar

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karikaturhaft. Verschweigungen und Widersprüche des Erzählers, Versäum¬ nisse und lapsus der handelnden Hauptperson weisen aber auf schwerwie¬ gende, kaum bewältigte unterbewußte Konflikte hin. Somit wird Zeno Cosini tatsächlich der Roman des psychopathologisch beladenen Alltagslebens. Die unbewußten Konflikte sind im allgemeinen auf eine grundsätzliche Ambiva¬ lenz gegenüber der bürgerlichen Gesundheit der 'Väter' zurückzuführen. Dar¬ aus entsteht eine quälende Verschränkung vom Willen nach Selbstbehaup¬ tung und dem Bedürfnis nach Selbstbestrafung. Bis zu einem gewissen Punkt ist also Zeno Cosini eine ironische Erzählung mit unglaubwürdigem Erzähler: Autor und Leser verbinden sich auf Kosten der erzählenden Hauptperson, die natürlich nicht bereit ist, schonungslos zu erkennen, wie sie psychisch beschaffen ist. Aber die Ironie des Autors spart auch den Analytiker nicht aus, der Zeno doch Lügen strafen möchte. Der Pa¬ tient beginnt, nachdem er die Spielregeln gelernt hat, die Karten des Gegners zu erraten. Die Analyse verfälscht er durch frei erfundene Träume und Erin¬ nerungen. Zenos Behauptungen werden in der Rahmenerzählung vom Ana¬ lytiker für unglaubwürdig erklärt, welcher sein autobiographisches Manu¬ skript "aus Rache" drucken läßt. Die Autorität des Arztes bezweifelt der Le¬ ser aufgrund der methodologischen Naivität, die aus den ihm (übrigens nur von Zeno!) zugeschriebenen Äußerungen hervorgeht. Bei dieser detektivi¬ schen Erzählung bleibt also der 'Täter' (d.h. der Ursprung von Zenos 'Krank¬ heit') bis zuletzt unbekannt: Am Ende ist sogar das ungewiß, ob ein 'Verbre¬ chen1 je stattgefunden hat. Die zeitgenössischen Rezipienten des Romans in Triest gingen davon aus, Svevo habe Edoardo Weiss, einen Schüler von Freud und den ersten Triestiner Analytiker, später Mitgründer der Italienischen Psychoanalytischen Ge¬ sellschaft und Übersetzer von Totem und Tabu, verspotten wollen. Tatsäch¬ lich gab Svevo seine persönliche Antipathie gegen die Psychoanalyse deut¬ lich zu verstehen - dabei versuchte er nicht zu verhehlen, daß es sich um eine Abwehrreaktion handelte. Aber die bissige Ironie von Zeno Cosini wollte auf ein allgemeineres Ziel hinaus. Die Psychoanalyse beansprucht, das Dunkle zu erhellen, die verwischten Bilder der frühesten Kindheit in die Erinnerung zurückzurufen. Somit ver¬ spricht sie eine Tiefe, die keine 'bewußte' Autobiographie erreichen kann. Die Struktur des Romans läßt aber aus der Therapie eine Selbstanalyse, fast eine Selbsthypnose werden, ein Spiel des Patienten mit sich selber, welches auf den Willkürcharakter jedes autobiographischen Ansatzes hinweist. Als die 'Kindheitsmuster' im letzten Kapitel endlich ihren Auftritt auf der Bühne der "coscienza" haben, sind es keine naturalistischen 'Tatsachen', sondern 'ver¬ fälschte' Ergebnisse einer im Grunde immer nur literarischen Rekonstruktion. Die Aufklärungsrolle des Analytikers wird von dem Schriftsteller übemom-

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men

und dieser braucht sich nicht vor "außermoralischen Lügen" zu fürch¬

ten. "Und wer bin ich jetzt? Nicht derjenige, der lebte, sondern derjenige, den ich beschrieb". Mit der Unmöglichkeit einer 'objektiven' Erinnerung hängt die einer 'voll¬ kommenen psychischen Gesundheit' zusammen. Das Leben ist ja - wie Svevo in seiner Aphorismensammlung Nietzsche schreibt - "eine Krankheit der Materie". Am Schluß des Romans verteidigt Zeno nicht mehr seine zweifel¬ hafte kaufmännische "Gesundheit", sondern erklärt verallgemeinernd die psychische Krankheit für unausweichlich -, es sei denn, daß der entfremdete Fortschritt der Menschheit auf eine Katastrophe hinausläuft, wovon der erste Weltkrieg nur ein Vorspiel gewesen wäre. "Das Unbehagen an der Kultur" steht also bis zuletzt im Mittelpunkt des Werkes des größten Triestiner Au¬ tors - eines Werkes übrigens, welches sehr tief in jener großbürgerlichen, mitteleuropäischen 'Kultur' verwurzelt ist. Diese philosophisch-weltbürgerliche Prägung übte einen negativen Einfluß auf die italienische Rezeption Svevos aus. Zwei Jahre lang (1923-1925) fand Zeno Cosini bei der italienischen Öffentlichkeit keine Gnade. Den Nachklang der Tradition hörte man dort beim besten Willen nicht. Es waren nicht die etablierten italienischen Kritiker, sondern James Joyce, die französischen Li¬ teraten Larbaud und Cremieux und der junge Dichter Eugenio Montale (der u.a. mit Bobi Bazlen befreundet war, einer interessanten, höchst exzentri¬ schen Figur der Triestiner Avantgarde), die dem "schlecht geschriebenen" Roman mühsam Anerkennung verschafften. Unter den Triestinem machte der bekannteste Kritiker, Silvio Benco, seine frühere Gleichgültigkeit wieder gut, während Federico Stemberg, der den Lehrstuhl für Germanistik in Turin inne hatte, dem großen Landsmann eine höchst lobende, wenn auch emphatische und etwas oberflächliche Monographie widmete. Offensichtlich galt das größte Werk der Triestiner Literatur noch als 'fremd' und 'ausländisch', nach¬ dem die Adria-Stadt politisch schon seit einigen Jahren dem Königreich Itali¬ en endgültig angehörte. Die Sympathie für Svevo implizierte eine deutliche Stellungnahme gegen italienische Kulturisolation und für eine intensivere Aneignung europäischer Literaturströmungen der "Moderne": Nicht umsonst wurde der Autor von Zeno Cosini als der "italienische Proust" gefeiert. Diese als "der Fall Svevo" bekannte Polemik beweist, wie stark Triest auf kulturel¬ ler Ebene von dem österreichischen Kosmopolitismus geprägt worden war, dessen Einfluß noch lange nach der Finis Austriae spürbar blieb.

4. Die Jahre der Psychoanalyse. Ein besonders ausgeklügeltes literarisches Spiel zeichnet Zeno Cosini aus

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Was das Interesse für die Psychoanalyse angeht, ist Svevos Roman übrigens kein Sonderfall, sondern eine typische Erscheinung der Triestiner Literatur der Zwanziger Jahre. In der italienischen Nationalliteratur wird man bis auf die Dreißiger und Vierziger Jahre, auf Carlo Emilio Gadda und Alberto Moravia warten müssen, bevor die Lehre Freuds volle Anerkennung gewinnt. In Triest dagegen war es Weiss gelungen, die Psychoanalyse populär zu ma¬ chen. Auch hier hatte die Voce den Weg bereitet: Schon 1910 hatte der Venetianer Psychoanalytiker Roberto Assagioli Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ausführlich besprochen. Auch die Popularität Weiningers, wel¬ cher in Geschlecht und Charakter (1903) Freuds Studien über Hysterie (1895) zitiert, wirkte nicht als Ersatz der Psychoanalyse, sondern als Anre¬ gung zu deren Studium. Seither nahm die Triestiner Literatur zunehmend den Charakter einer "Pubertätsliteratur" an (Saba, Voghera, Quarantotti Gambini). Dem Ursprung der "Begierde" ("brama") - um einen beliebten Ausdruck Um¬ berto Sabas zu benutzen - kam eine Schlüsselrolle bei der kathartischen Selbstanalyse des Schriftstellers zu. Diese Begeisterung für die Lehre Freuds war unter dem Faschismus alles andere als politically correct. Der Verherrlichung der Männlichkeit setzte man ein vorurteilsloses Studium der Sexualität, dem nationalistischen Hel¬ dentum die Betonung des "Menschlichen, Allzumenschlichen", der italieni¬ schen Tradition "jüdische Wissenschaft" entgegen (obwohl dieses letzte Ele¬ ment nur allmählich an Bedeutung gewann). Die starke jüdische Komponente ist übrigens ein weiteres 'mitteleuropäi¬ sches' Merkmal des Triestiner Kulturlebens. Nicht von ungefähr war Spaini, der erste italienische Übersetzer Kafkas, der auch Kocß-Mitarbeiter gewesen war. Triestiner. 1931 erschien II processo (Der Prozeß) mit einer Einleitung Spainis. Sie beinhaltete eine Stellungnahme gegen Max Brod und afkas, Al¬ berto die mystisch-religiöse Deutung; eine Inanspruchnahme Kafkas für den Idealismus (mehr im Sinne Adriano Tilghers als Croces und Gentiles - der "Prozeß" wird als Grenzsituation des absoluten Ichs gedeutet, welches das eigene Produkt im "Nicht-Ich" verkennt); aber vor allem eine energische Po¬ lemik gegen die Abwertung des großen Schriftstellers als nur jüdisch, eine implizite Ablehnung jeder 'rassischen' Beurteilung der Literatur. Triestiner Jude war auch der Freud-Verehrer Umberto Saba (seine Ambi¬ valenz gegenüber der jüdischen Herkunft, seine Konfrontation mit dem Anti¬ semitismus Weiningers drückte er in der Novellensammlung Die Juden 1912 - aus). Der Dichter rechnete sich seinen "Heroismus der Schwäche mit gutem Recht zur Ehre. "Wandelnder Jude" und Homosexueller, am Vater¬ verlust ödipal leidend, spürte er trotzdem nie die Versuchung, sich als Vate¬ rersatz den "Übermenschen" aus Predappio auszuwählen, wie viele andere Mussolini-Verehrer es taten, ganz besonders unter den Intellektuellen und

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deracines. Freuds Methode war für Svevo ein Mittel der Erkenntnis; für Saba ist sie ein Versprechen der persönlichen Rettung von neurotischem Leiden. Das durchaus ironiefreie Emanzipationspathos, mit dem der Dichter sein Bekenntis zugunsten der Psychoanalyse ablegt, läßt sich im wesentlichen von Nietz¬ sche herleiten. Saba glaubte an eine grundsätzliche Übereinstimmung zwi¬ schen Nietzsche und Freud. Ersterer blieb für ihn trotz faschistischer Vereinnahmung immer noch der sanfte Seelenarzt, "mein guter Nietzsche". Wahr¬ scheinlich wurde seine Kenntnis des deutschen Philosophen von Giovanni Papini vermittelt. Der Triestiner hielt sich in der Toskana auf, als Papini im Leonardo (1903-1905) ein neues Bild Nietzsches entwarf: Nicht mehr der Übermensch "ä la D'Annunzio", sondern der philosophische Wanderer, der Perspektivist. Während aber Papini sich rasch zu einem grimmigen Vulgärnietzscheaner entwickelte, hielt der spröde, zurückgezogene, unpolitische Saba intuitiv an dem Unterschied zwischen dem Psychologen Nietzsches und dem "grotesk und fanatisch gewordenen" (Thomas Mann) Ideologen fest. Der Trost, den Nietzsche spendet, ist nicht die Heldentat, sondern die Be¬ freiung aus dem "Schuldgefühl" - diesem nach Saba "typisch jüdischen" Komplex. Viele Themen und Symbole Nietzsches finden sich in der großen Gedichtsammlung Sabas (II Canzoniere) wieder: die Behauptung von der Unschuld des Werdens, die Verherrlichung der "Leichtigkeit" und des kindli¬ chen Spieltriebes, die Lebensbejahung jenseits von Lust und Leiden, die ewi¬ ge Wiederkehr des Gleichen als Überwindung der zeitlichen Polaritäten Wiedervereinigung des "müden Alten" und des "kühnen Knaben", wie Saba den Gegensatz dichterisch immer wieder zum Ausdruck brachte. Neben dem thematischen stellt man einen formellen Einfluß des deutschen Philosophen fest. Die Verflechtung der beiden Stimmen der Lust und des Schmerzes nach musikalischen Kompositionsprinzipien in Preludio e fughe läßt sich z.B. durch das Kapitel Die sieben Siegel von Also sprach Zarathustra inspirieren, welches von Gustav Mahler vertont worden war. "Wir sind tief, wir wollen wieder klar sein", behauptete Saba in Anlehnung an Nietzsche. Seine Dichtung entsprach programmatisch der italienischen Tradition Petrarcas und Leopardis: psychologische Introvertiertheit, Neigung zum Moralisch-Sentenziösen, edle Sprache, die aber jede Seltenheit aus¬ schließt, präzise und klar umrissene Bilder, keine subjektivistischen Verdre¬ hungen, keine launischen Spielereien: Melancholie mit Haltung. Die Moder¬ ne spielt bei Saba keine Rolle: Seine Sprache wurzelt im 19. Jahrhundert, der "Provinzler" verrät sich auf Schritt und Tritt. Triest war 1910 Italien gegen¬ über sprachlich rückständig. Svevo wird es in Zeno Cosini nachdrücklich be¬ stätigen.

mit jedem italienischen Wort lügen wir". Als Ausweg bot sich die

Flucht nach vorne an, der Expressionismus. Saba mochte aber die "Vociani"

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nicht: dem "Journalisten" Slataper verzieh er nie die vernichtende Rezension zu seinem ersten Gedichtband. Er neigte eher dem anderen Extrem: einem bewußten, 'unzeitgemäßen' Konservativismus. Gerade als Konservativer bleibt Saba aber ein echter Triestiner. In einer Zeit, in welcher der Hermetis¬ mus in der Dichtung dominierte, vertrat er eine relativ 'realistische' Richtung und schilderte gern Figuren und Situationen aus dem volkstümlichen Milieu. In seiner Privatheit nannte Saba sich selber einen "höchst merkwürdigen Menschen", trotzdem oder gerade deshalb war er von einem Ideal der Nor¬ malität, auch der sprachlichen und stilistischen Normalität, besessen. Daher rührte auch seine Vorliebe für geschlossene Versformen, traditionelle Sprachmusik, sogar Opemlibretti her. Diese - nicht immer ganz aufrichtige Sympathie für das "warme Leben" erlaubte ihm, vielleicht besser als Slataper, die "mühselige Originalität" seiner Heimatstadt als Thema der Dichtung auf¬ zuwerten. Triest - besagt ein berümtes Gedicht - ist "wie ein harter und wilder Knabe / mit blauen Augen und allzu großen Händen / Um eine Blume zu schenken". Diese Verse sind unter anderem auch ein einprägsames Symbol des Triestiner Strebens nach einer von rhetorischen 'Blumen' befreiten Lite¬ ratur. Alles andere als blumig ist auch das wichtigste Prosa-Werk Sabas, der Roman Ernesto. Hier wird alles beim Name genannt, was im Canzoniere nur sehr indirekt angedeutet worden war. Ernesto wurde 1953 geschrieben und erst 1975 postum veröffentlicht. Trotzdem gehört dieses autobiographische Fragment der goldenen Epoche der Triestiner Literatur durch seinen zeitli¬ chen (die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts) und sozialen Rahmen (das Kleinbürgertum zwischen Rebellion und Anpassung) an. Auch literarisch wird eine Jahrhundertwende-Stimmung evoziert. Ernesto ist ein homoeroti¬ scher Roman (die sexuelle Initiation eines Jungen) und zugleich ein Bil¬ dungsroman über die moralische Überwindung von Gut und Böse. Dieser 'teleologische' Aufbau, der durch die psychoanalytischen Deutungen des Er¬ zählers bekräftigt wird, steht in spürbarem Gegensatz zu der mimetischen, fast realistischer Erzählweise. Diese schlägt sich vor allem in den Dialekt¬ dialogen nieder (Dialekt bildet eher eine Ausnahme für die Triestiner Litera¬ tur, die man insgesamt als "eine hochsprachliche mit schlechtem Gewissen bezeichnen könnte). Das morbide Element löst sich nicht in einer neuen Ein¬ heit von Erleben und Erkenntnis auf, wie bei Musils Törleß. Die Schuld wird eher sublimiert, indem Saba zu seiner typischen Mythisierung der Ju¬ gend als Inbegriff schwereloser, anmutiger Leichtigkeit greift. Jugendmythos und Psychoanalyse, wie schon bemerkt, waren stete Be¬ standteile der Triestiner Literatur. Ein spätes Produkt dieser Tendenz ist der zwischen 1926 und 1949 geschriebene, erst 1961 veröffentlichte Roman II segreto (Das Geheimnis). Hinter dem Pseudonym "Triestiner Anonymus"

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verbirgt sich Guido Voghera, Gymnasiallehrer, Mathematiker, Freund von Saba und bedeutende Figur in den engen gebildeten Kreisen der Provinzstadt. II segreto stellt einen Sonderfall in der Literaturgeschichte dar. Ein Vater, der Erzähler, schreibt in erster Person die fiktive Autobiographie des Sohnes. Dadurch kommen in der Erzählung diejenige Sorgen und Schuldgefühle zur Geltung, die im realen Leben kaum freien Lauf gefunden hatten. Die Vaterfi¬ gur wird nur in perspektivischer Verkürzung, eher negativ geschildert. Es kommt zu einer sonderlichen "Selbstverfremdung des Erzählers", zu einem indirekten "Geständnis". Trotz dieser Zurückhaltung bleibt sie aber die ver¬ steckte, treibende Kraft der Handlung. Die Willenlosigkeit und Depression des "verlorenen" Sohnes, welche im Zentrum dieses Romans steht, rührt von dem "Fluch der späten Geburt" her. Der Aufstand gegen bürgerlichen Konformismus hatte in der Familie Voghera durch die freie Liebe der Eltern schon einmal stattgefünden: Dem Sohn ist nichts übriggeblieben, wogegen er rebellieren könnte. Wie andere Triestiner Intellektuelle, wie Italo Svevo und Scipio Slataper, hatte auch Gui¬ do Voghera Sympathie für den Sozialismus empfunden. Aus seiner jugendli¬ chen Begeisterung war aber kein skeptischer Liberalismus, kein neuromanti¬ scher Aktivismus geworden, sondern eine fast kantisch anmutende morali¬ sche Strenge und Gewissenhaftigkeit. Eine solche Weltanschauung war übri¬ gens bei den damaligen Sozialisten nicht unüblich. Der Sohn empfand die ganze Last eines Andersseins, das nicht mehr wie beim Vater gewollt, son¬ dern passiv erlitten wurde. Diese Seelenqual wird im Roman unerbittlich geschildert. Der Protagonist nimmt sich als junger Schüler vor, sexuelle Enthaltsamkeit einzuhalten. Sol¬ che Kraftproben mit sich selber waren nicht ganz ungewöhnlich in einem kulturellen Milieu, in dem die misogyne Philosophie Weiningers sich großer Beliebtheit erfreute: z.B. auch bei dem 'milden' Saba, dessen Ricordi-racconti von 1912-1913 eine direkte (und deshalb auch mißlungene) literarische Um¬ setzung der Lehre des Wieners darstellen. Bei dem jungen Giorgio Voghera existiert aber jene "Ich-Empfindung", die der Autor von Geschlecht und Cha¬ rakter dem Idealtypus Mann vorbehielt, sie fällt aber mit der völligen Unterwerfung unter ein willkürliches, abstraktes Gesetz zusammen. Dadurch wird die Persönlichkeit vor jedem unerwarteten Erlebnis, vor jedem Zwang geret¬ tet, spontan handeln zu müssen". Jüdische "Heteronomie" im Sinne Weinin¬ gers (diejenige Kulturtradition, welche die Familie Voghera bewußt ver¬ langt hatte) und gestörte kindliche Entwicklung (als deren Symptom die aszination für die körperliche Bestrafung erscheint) werden als mögliche hrklarungsmuster sehr verhalten im Text angedeutet. II Segreto ist im Grunde ein Bildungsroman ohne Ereignis: die Handlung d.e Geschichte einer "ersten Liebe", bleibt eine rein geistige. Das Objekt de!

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Liebe ist eine gewöhnliche Familientochter, eine "vollkommene Frau" Weiningers. Da sie keine "Innerlichkeit" hat, wird sie der räsonnierenden Hauptperson zum Rätsel. Die Grundsituation, eine Liebesgeschichte, die nur über den Blick vermittelt wird, erinnert deutlich an die Vita Nuova nicht von ungefähr ist die Lektüre Dantes eines der wenigen Bücher, welches der depressive Giorgio noch erträgt. "Beatrice im Versteck" hat aber diesmal wirklich wenig anzubieten. Der Traum der absoluten Liebe entpuppt sich als eine der vielen Selbsttäuschungen, wodurch der morbide "Trieb nach Ver¬ zicht" sich ins moralische Gewissen des Erzählers einschleicht. Der Verzicht, das Schuldgefühl und seine ethische Sublimierung können zu Lebensnotwendigkeiten werden, genau so gut (oder so schlecht) wie ande¬ re, 'normalere' und 'gesündere' Bewertungen: darüber ist sich der Erzähler völlig im klaren. Aber diese eigentümliche (und nicht besonders erfreuliche) Triebökonomie hatte auch ihre guten geschichtlichen Gründe: das Scheitern des Sozialismus, der großen Hoffhung des Vaters Giorgio Vogheras, die of¬ fene Wunde des Ersten Weltkrieges, der Faschismus, zu weit über jede ratio¬ nelle Verständlichkeit hinaus gewachsen, als daß er als politischer Gegner noch hätte bekämpft werden können. II segreto ist das späte Ergebnis einer mitteleuropäischen Kultur der Analyse der Empfindungen und der Erlebnisse, welche ihre Daseinsberechtigung gegen eine ganz anders ausgerichtete, do¬ minante Staatskultur stillschweigend erkämpft. Ende der Dreißiger Jahre ist die größte Zeit der Triestiner Literatur vorbei. Weiss war nach Rom umgezogen, um später infolge der Rassengesetze nach Amerika auszuwandem. Der Außenseiter Saba blieb sich selber über: die dramatische Geschichte der Vierziger Jahre hinaus treu. Der Zweite We tkrieg brachte die Ausrottung der Triestiner Juden mit sich, welche Kul¬ turleben der Stadt eine so große Rolle gespielt hatten; hinzu kam die endgül¬ tige Zerstörung der politisch-kulturellen Einheit Mitteleuropas. Damit verlor Triest jene herausgehobene Stellung als Treffpunkt verschiedener intellektu¬ eller und literarischer Strömungen, welche sie in ihrem "goldenen Zeitalter inne hatte.

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Literatur

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Mondadori, 1988. Edoardo Saccone. Commento a "Zeno". Saggio sul testo di Svevo. Bologna: II Mulino, 1973. Gennaro Savarese. Scoperta di Schopenhauer e crisi del naturalismo nel primo Svevo. Rassegna della Letteratura ltaliana: a. LXXV. 1971.411 -433. Scipio Slataper. Scritti letterari e critici. Raccolti da G. Stuparich. Roma: Edizioni della "Voce", 1920. Scipio Slataper. Scrittipolitici. Raccolti da G Stuparich. Roma: Alberto Stock, 1925. Scipio Slataper. Epistolario. A cura di G. Stuparich. Milano: Mondadori: 1950. Scipio Slataper. II mio Carso. A cura di G. Stuparich. Milano: Mondadori: 1962. Federico Stemberg. L'opera di Italo Svevo. Trieste: C.E.L.V.I., 1928. Carlo Stuparich. Ombre e cose di uno. A cura di G. Stuparich. Roma: Libreria della "Voce", 1919. Giani Stuparich. La nazione czeca. Catania: Battiato, 1915. Giani Stuparich. II ritorno delpadre. Torino: Einaudi, 1961. Italo Svevo. Opere. A cura di B Maier. 4 Bände. Milano: Dall'Oglio, 1969. Rosita Tordi (a cura di). Umberto Saba, Trieste e la cultura mitteleuropea. Atti del Convegno, Roma 29 e 30 marzo 1984. Milano: Mondadori 1986. Giorgio Voghera. Gli anni della psicanalisi. Pordenone. Studio Tesi, 1980. Angelo Vivante. Irredentismo adriatico. Firenze: Edizioni della "Voce", 1912. Angelo Vivante. Dal covo dei "traditori". Note triestine. Milano: Edizioni "Avanti!", 1914. Otto Weininger. Sesso e carattere. Tradotto dal tedesco dal Dr. Giuseppe Fenoglio. Milano - Torino - Roma. Bocca, 1912.

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Andrei Corbea-Hoi§ie (Ja§y)

Das Bild vom Anderen: Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in der Bukowina zur Jahrhundertwende

Die "Karriere", die in der Forschung der letzten Jahre die Beschäftigung mit Bukowinaer Themen gemacht hat, verdankt das Interesse der Literaturwis¬ senschaftler und Historiker nicht nur dem Ruhm Paul Celans und der von dem Holocaust vernichteten deutschsprachig-jüdischen Kulturlandschaft, aus der er stammte1, sondern auch einer besonderen Konstellation in dem Infor¬ mationsstand über das ehemalige k.u.k. Kronland, die eigentlich als Folge der dokumentarischen Defizite der Celanschen Exegese der ersten Stunde zu be¬ trachten sei. Das durchaus unsichere Wissen der Literaturhistoriker und kritiker, was die nordmoldauische Provinz mit Czemowitz als Hauptstadt be¬ traf, favorisierte die einst marginalen, aber in jenem Augenblick einzig in dem deutschsprachigen Raum verfügbaren Beiträge aus 'landsmannschaftli¬ cher' Richtung, die gegenüber den die historischen Fakten grob falsifizieren¬ den Produkten der sowjetischen bzw. lumänischen Geschichtsschreibung, die sich nicht scheuten, die Opportunitäten der kommunistischen Ideologie mit nationalistischen Argumenten zu melangieren, sogar eine gewisse wissen¬ schaftliche Legitimität behaupten konnten2. Indem sie eigenen ideologischen Voraussetzungen im Geiste der restaurativen Stimmen des viel später ausge¬ lösten 'Historikerstreits' verpflichtet waren, prägten diese die dem Schicksal der Bukowina gewidmete historische Hermeneutik mit einem unverwechsel¬ baren nostalgischen Beigeschmack3, dem entsprechend man im literarischen Bereich z.B. vor dem Hintergrund eines vermeintlich interethnischen "weitgehend konfliktfreien Zusammenlebens"4, das von der integrativzivilisatorische Rolle der Deutschen im Osten des Habsburger-Reiches zeu¬ gen sollte, die merkwürdige Vision der kontinuierlichen und einheitlichen Entwicklung einer regionalen Kultur deutscher Zunge von den Gymnasialleh¬ rern des 19. Jahrhunderts bis zu der expressionistischen Gruppe um die Zeit¬ schrift "Der Nerv" und von den Volksdeutschen und nazinahen Heimatdich¬ tern ä la Heinrich Kipper bis Celan entwarf.5 Auch wenn inzwischen ver¬ schiedene Forschungsergebnisse, darunter die der neuen Wiener sozial¬ historischen Schule, ein viel differenzierteres Bild der Lage in der Czernowitzer Provinz vermittelten6, w-urde das alte Klischee von der Bukowina als Muster eines für die Monarchie typischen ethnischen Gemischs, in dem die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungen: Rumänen, Ruthenen, Juden, Deutsche, Polen, Armenier, Ungarn, russische Lipowaner, u.a. unter dem Zeichen einer harmonischen Vernunft gestaltet zu sein schienen7,

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immer noch nicht korrigiert. Der Bruch von 1918, als die 'historischen Rech¬ te' Rumäniens in der nordmoldauischen Provinz nur mit dem Preis der De¬ mütigung der ukrainischen Seite wiederhergestellt wurden, gefolgt von der gerade in der Region symptomatischen Blüte der nationalistisch¬ antisemitischen Sympathien für die faschistoiden Bewegungen der 20. und 30. Jahre und dann von der mit dem Ribbentrop-Molotov Pakt inaugurierten Dauerkrise des 2. Weltkriegs, die in den massiven Bevölkerungsversehiebungen, Deportationen und dem organisierten Massenmord kulminierte, wurden aus dieser Perspektive als von 'äußeren' Kräften verursachte Momente inter¬ pretiert, der im Gegensatz zu einer 'inneren' Logik des Bukowinaer ethni¬ schen Gleichgewichts gestanden hätte. Natürlich kann man in dieser fast idyllischen Darstellung und Erklärung eines historischen Dramas einen tiefen Mangel an 'imagologischer' Reflexion gera¬ de im Hinblick auf die Realität einer multiethnischen Region wie Bukowina erkennen. Die grundsätzliche These der Edward Saids Studie über den soge¬ nannten 'Orientalismus', laut der der Orient als Objekt der westlichen For¬ schung eine von verschiedenen kolonial-utilitaristischen Sätzen abhängige diskursive Konstruktion sei8, paßt nicht minder zu unserem Kontext, in dem die alte Auffassung einer 'kulturellen' Mission Österreichs im europäischen ('halb-asiatischen') Osten9 sich in eine fast binäre Repräsentation der in dem 'sozialen Raum' der Provinz agierenden Kräfte projiziert: Die von Toleranz begleitete aufklärerisch-fortschrittliche Initiative befand sich immer auf der 'westlichen1 Seite10, während die östlichen Empfänger ihre Ergebnisse immer passiv und oft mit einem gewissen Widerstand aufnahmen. Die Tatsache, daß der hermeneutische Maßstab bewußt (oder nicht) in den nationalen Kategori¬ en gefangen blieb, wobei die oft emotional-ethische Selbstidentifikation des historischen Diskurses mit einer dieser Kategorien keineswegs in Frage ge¬ stellt wird, bestätigt letzten Endes die irrationelle Macht der von einer kol¬ lektiven und tyrannischen Tradition instaurierten images auf das autonome Urteil des darstellenden Individuums; da es sich nicht von dem mythischen Szenario, in dem es sich ständig wie ein mitwirkender Akteur benimmt, di¬ stanzieren kann und will, besitzt es keine Fähigkeit, den prozessuellen Cha¬ rakter der geschichtlichen Ereignisse zu begreifen, wie z.B. im Bukowinaer Fall die komplexe Dynamik der Konstituierung des sozialen Raumes der Re¬ gion11 und deren Elemente, von denen es eine statische Vorstellung hat, und die es als mehr oder weniger konstante und 'substantielle' Grössen behandelt. Der 'Entzauberungs'vorgang, den sich die moderne historische oder litera¬ rische Imagologie zu eigen machte, bleibt unserer Meinung nach die einzige Alternative der wissenschaftlich-hermeneutischen Vernunft zur Verfügung der Historiographie sogenannter 'multiethnischen' Regionen: Die weitest-

Das Bild vom Anderen

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mögliche Befreiung der historischen Rede von dem im Dienste der 'tribalen' Egoismen stehenden parteilichen Engagement setzt die Foucaultsche Bemer¬ kung voraus, nach der die sozialen Repräsentationen nichts anderes als 'dis¬ kursive Gebilde' seien.12 Die Rolle, die solche Konstrukte im Laufe des euro¬ päischen 19. Jahrhunderts in der Definierung des sogenannten 'nationalen Selbstbewußtseins' als massenpsychologisches Kriterium gespielt haben, ist heute unumstritten13; die 'List' der aufklärerischen Dialektik erfand sie als kollektive Alibis, um die soziale Kohäsion des Bürgertums zu stärken, wobei die Konversion des völkeranthropologischen Programms Kants zum romanti¬ schen Mythos von 'nationalen' Wesenseinheiten symptomatisch genug ist für die Wirkung des ideologischen Verschleierungswerks selbst in einer Epoche, in der die modernen Öffentlichkeitsmechanismen noch im Keime standen.14 Es kann nicht zufällig gewesen sein, daß gerade die Sprachen zu versam¬ melnden Symbolen des Nationalen wurden, denn nur durch ihre diskursiven Mittel konnte die subjektive Vorstellung des Eigenen von der subjektiven Vorstellung des Fremden getrennt werden. Insofern die sozialen Repräsenta¬ tionen Produkte objektiver Umstände und ihrer Träger in dem sozialen Raum sind, produzieren sie ihrerseits mittels der ungeheuren Kraft der instrumenta¬ lisierenden Sprechakte soziale Effekte, die gerade in multisprachlichen Re¬ gionen (auch durch die fast automatische Übersetzung der Sprachpluralität als 'ethnische Pluralität') die historischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte entscheidend beeinflußten.15 Die Rekonstituierung ihrer Ge¬ schichte führt unmittelbar zu dem Versuch, die Felder zu identifizieren, auf denen sich die feindlich-entgegengesetzten Diskurse konfrontierten - die wissenschaftliche Erfüllung einer solchen Aufgabe würde bedeuten, im Un¬ terschied zu der ideologischen Rechtfertigung der Zielsetzungen oder (Sprach)Handlungen der einen oder anderen Gruppe den scheinbar 'natürli¬ chen' Verlauf der Dinge als solchen zu verdächtigen und ihn zu historisieren, indem man prioritär seine geschichtlichen Bedingtheiten und Verflechtungen hervorheben würde. Das heißt mit anderen Worten, die konkurrienden, sprachlich fixierten Images des Anderen als irrationale Denkstrukturen durch die Demontage ihrer äußeren und inneren Artikulationen, sowie der medialen Mechanismen ihrer Propagierung völlig zu rationalisieren16, was sich leider bisher keine der altneuen, national gesinnten Historiographien der Bukowina zum Vorhaben vomahm.17 Erst an der gemeinsamen Schwelle der multiplen und wechselseitigen Images der sprachlichen, konfessionellen, sozialen oder beruflichen Gruppierungen einer solchen Region erhält der für den Beob¬ achter scheinbar chaotische 'Verlauf der Geschichte' einen zu begreifenden Sinn. Ohne den Anspruch auf Musterhaftigkeit zu erheben, versucht unser heutiger

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Beitrag ein Fragment dieser langjährigen im nationalen Namen geführten, diskursiven Auseinandersetzungen, die die Geschichte der nordmoldauischen Region seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts gezeichnet haben, näher zu be¬ trachten. Es soll trotz seiner anscheinenden Beschränktheit und Einseitigkeit stellvertretend für das komplexe und kaleidoskopartige Ganze dargestellt werden, indem man eine Kette von in ihrer intimen Struktur analysierten Images in abime einer bekannten Geschichte plaziert, um wieder einmal das Verhältnis zwischen Sprache und Handlung in seiner nackten Konkretheit zur Schau zu stellen. Im Hinblick auf das Schicksal der Bukowina und deren Be¬ völkerung im 2. Weltkrieg haben wir nicht zufällig einen Text des rumäni¬ schen Historikers und Politikers Nicolae Iorga dafür ausgewählt: Es handelt sich um ein im Jahre 1905 in Bukarest veröffentlichtes Büchlein mit dem Ti¬ tel Neamul romänesc in Bucovina ("Das rumänische Volk in der Bukowina"), in dem der Autor eine Reise durch das ganze k.u.k. Kronland beschreibt und seine Eindrücke im Geiste seiner national gesinnten Politik darstellt. In sei¬ nem monumentalen Werk wird es kaum beachtet, und trotzdem glauben wir, daß es eine enorme Bedeutung für die ideologische Klärung und für die Definierung

der

Romanismus

Zielsetzungen

des

sogenannten

Bukowinaer

"Dako-

hatte'*, um dessen Siege und Niederlagen sich die gesamte

Geschichte der nordmoldauischen Provinz im 20. Jahrhundert dreht. Um me¬ taphorisch zu sprechen, fokussiert es eine Menge von in der Öffentlichkeit präsenten Ideen, Themen, Motiven, Stereotypen, sogar Gemeinplätzen, es läutert sie, ordnet sie zu einem System und formuliert sie mittels der gewalti¬ gen rhetorischen Begabung des Autors als kohärente Images um, um sie dann in der Öffentlichkeit als prägnante und einfühlungsbietende Formel wieder zu lancieren und sie mit der symbolischen Autorität des Geschichtsschreibers glaubwürdig zu machen, zu decken und schließlich zu rechtfertigen. Vor Ior¬ ga gibt es nur bei Mihai Eminescu, dem Nationaldichter und Vordenker des rumänischen Nationalismus, vergleichbar militante und zugleich expressive Texte in Bezug auf die nationalen Ziele der Rumänen in der k.u.k. Bukowina19, aber ihre Wirkung blieb in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhun¬ derts wegen der für die rumänischnationalen Projekte noch nicht reifen politi¬ schen Umstände ziemlich begrenzt; der Historiker soll einer ihrer Leser ge¬ wesen sein und scheint sich in dem obengenannten Reisebericht ihr Modell inhaltlich und förmlich völlig angeeignet zu haben. Nach Iorga wird sich bis heute noch fast die ganze Literatur des theoretischen und propagandistischen Nationalismus in Rumänien von der Fülle der einprägsamen diskursiven formein ernähren, die in Neamul romänesc in Bucovina so expressiv und konzentriert auftauchen. Die Tatsache, daß gerade eine auf die Bukowina am Anfang des 20. Jahrhunderts bezogene Schrift so produktiv für die in die un¬ mittelbare politische Programmatik konvertierte Sprache des rumänischen

Das Bild vom Anderen

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Nationalismus halten wir für äußerst symptomatisch - indem er 1938 in einer ganz anderen geistigen und politischen Konstellation den Text aus dem Jahre 1905 völlig unverändert in den Sammelband Romänismul in trecutul Bucovinei20 wiederaufnahm, scheint Iorga selbst unserer dem alten Büchlein ge¬ widmeten Aufmerksamkeit Recht zu geben. Ein Wort noch über die Entstehung des Neamul romänesc in Bucovina beti¬ telten Büchleins. Der 1871 geborene Autor, der nach glänzenden Studien in Rumänien und dem Ausland in einem außergewöhnlich jungen Alter zum Professor für Geschichte an die Bukarester Universität berufen wurde, stand erst am Anfang seiner öffentlichen Karriere als Journalist und Politiker21, die er als Wortführer der unlängst konstituierten "Liga pentru unitatea culturala a tuturor romänilor" (Liga für die kulturelle Einheit sämtlicher Rumänen) mit einer Serie von Kampagnen zugunsten der Rumänen Siebenbürgens begann. Die nationale Agitation in der cisleithanischen Bukowina galt aber dem Moldauer Iorga als eine besondere Aufgabe, die ihn allmählich dazu führte, daß er trotz seiner offiziell marginalen Position als rumänischer Staatsbürger durch eine ständige Präsenz in öffentlichen Veranstaltungen und in der Pu¬ blizistik diesseits und jenseits der Grenze eine wichtige Rolle in den innen¬ politischen Wirren des Habsburgischen Kronlandes bis zu seinem Anschluß an Rumänien 1918 spielte.22 Seine immer leidenschaftlichere Implizierung in die Bukowinaer Angelegenheiten kurz nach der Jahrhundertwende war kei¬ neswegs zufällig, da das lokale rumänische Bürgertum sich zu derselben Zeit ein politisches Programm formulierte, in dem als Ziel eher eine institutioneile Reform und der nationale Ausgleich im Rahmen der Monarchie als der aktive Irredentismus formuliert war. Die Demokratische Partei Aurel von Onciuls ging mit der Mäßigung und der Kompromißbereitschaft soweit, daß sie zu¬ sammen mit den politischen Gruppierungen der Ruthenen und den Juden ei¬ nen sogenannten "Freisinnigen Verband

bildete, der bei den Landtagswah¬

len des Jahres 1904 gegen die konservative Oligarchie der meist rumänischen Großgrundbesitzer eine große Mehrheit bekam.23 Es galt deswegen, füi den von der "Liga culturala" inspirierten rumänischen Nationalismus eine andere und verläßlichere politische Anhängerschaft in der Bukowina zu gewinnen, und an ihr soziales Profil sollte man auch die Rhetorik der nationalen Argu¬ mentation anpassen. Es handelte sich bei diesen neuen Veibündeten, neben wenigen wegen ihrer politischen Entmachtung unzufi ledenen Großgiundbesitzem, meistens um ökonomisch nicht kompetitive und deswegen frustrierte, aus dem Bauerntum stammende Kleinbürger erster Generation, darunter viele Lehrer und orthodoxe Geistlichen bzw. Studenten der Philosophie und Theologie, die ihr wirtschaftliches Außenseitertum als direkte Folge der unter der Habsburger Obhut etablierten Konkurrenz der Fremden, hauptsächlich Juden, empfanden und sich im Namen des historischen Rechts für berechtigt

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hielten, ungeachtet oder sogar trotz des parlamentarischen Ausgleichs aus dem Jahre 190924 eine privilegierte Stellung für die Rumänen der Bukowina gegenüber den Ruthenen im politischen und den Juden im ökonomischen Be¬ reich zu fordern25, was - sei es nebenbei gesagt - im totalen Dissens mit der Bukowinaer Politik der Wiener Regierung stand. Nicolae Iorga wußte es mei¬ sterhaft, die Sensibilität dieser in dem Moment zahlenmäßig gar nicht sehr starken Kategorie des rumänischen Publikums des Kronlandes zu treffen, in¬ dem es ihm eine sehr geschickte Kombination von den in der Bukowina als Echo der immer heftigeren nationalen und sozialen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt und in anderen Regionen der Monarchie rezipierten antihabs¬ burgischen und antisemitischen Motiven mit den Argumenten des von ihm selbst und von A. C. Cuza auf der innenpolitischen Bühne Rumäniens inau¬ gurierten, neuen militanten Nationalismus gelang. Selbstverständlich sind die ideologischen Quellen Iorgas in dem Spektrum der zeitgenössischen, von den antiliberalen Reaktionen gezeichneten geistigen Landschaften Österreichs Deutschlands oder Frankreichs der Dreyfuss-Affäre ziemlich einfach rekonstituierbar. Es gibt andererseits eine sehr klare Kontinuitätslinie zwischen dem neuen politischen Nationalismus in Rumänien und den von der soge¬ nannten "kritischen Schule" geführten Debatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich mit dem politischen Denken von Mihai Eminescu26 indem die defensive Kritik der Konservativen auf die sogenannten inhaltslosen Formen" der als nicht "organisch" betrachteten liberalkapitalistischen Entwicklung des modernen rumänischen Staates27 in eine of¬ fensive Politik konvertiert wurde, in der die Lösung der sozialen Frage des pauperen Bauerntums sich unmittelbar mit der politischen und ökonomischen Ausgrenzung der angeblich unassimillierbaren Juden als Agenten eines für die patriarchalisch-traditionellen Verhältnisse des nationalen Körpers schäd¬ lichen Kapitalismus verband2*, während außenpolitisch die regressive Utopie eines romantisch gestalteten Mittelalters in einem ressentimentären Komplex gegenüber den westlichen Nationen und hauptsächlich gegenüber dem Habsui gischen Österreich gipfelte, von dem behauptet wurde, daß es die Tapfer¬ keit der ehemaligen rumänischen Verteidiger der christlichen Zivilisation Eu¬ ropas gegen die Osmanen nur auf imperial-annexionistische Weise und dann minner Feindlichkeit gegenüber deren nationalen Idealen zu bdohZ

kö?n7 re§e T6rkehr SOlCh6r Id6en Und Topo‘in der frühen Publizistik Iorgas konnte zu interessanten Schlußfolgerungen fuhren, was die Verbreitung und feld hGTCht d'eS6S Gedankenguts auf dem rumänischen KulturId an dei Jahrhundertwende im Vergleich zu synchronen west- oder osteu¬ ropäischen Kontexten betrifft. Sie bilden ein Thema für sich, und vom Standp nkt der von uns gewählten Perspektive auf den Bukowinaer Reisebericht

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des Historikers aus dem Jahre 1905 würden wir ihre Erforschung für eine se¬ kundäre Aufgabe halten, auch weil die Wirkung seines journalistischen Schriftums auf den intendierten und erreichten Lesekreis keinesfalls an dem Maßstab der intertextuellen Vermittlung nationalistischer Gemeinplätze ver¬ schiedener Herkunft evaluierbar ist, sondern im Gegenteil, durch seine durchaus originäre und singuläre Art die spezifischen Sensibilitäten dieses Publikums direkt anzusprechen und durch eine außerordentlich emotionale Handhabung des Imaginären es zu einer völligen Identifikation mit dem an¬ geblich Eigenen und zur schroffen Ablehnung des angeblich Anderen zu len¬ ken. Die imagologische Textanalyse wird uns deswegen wichtiger sein, und in diesem Sinne werden wir einen methodologischen Zugang vorziehen, der nicht nur die schriftstellerischen Ambitionen Iorgas und sein unbestreitbares Talent, seinen nicht-literarischen Texten eine gewisse sprachlich geformte, literarische Autonomie zu verleihen, berücksichtigen soll, sondern von vorn¬ herein von einer Konzeption der images ausgeht, die sie in ihrer Eigenschaft als ein "langage symbolique" unter den anderen, über die eine Gesellschaft verfugen kann, betrachtet. Daniel Pageaux, dessen Auffasung von der We¬ sensidentität der Begriffe Image und imaginaire wir völlig teilen30, hält im Falle solcher referentieller Repräsentationen des Anderen eine Untersuchung semiologischer Art für geeignet, trotz deren polysemischen Defizits, was sie von den ästhetischen Zeichen unterscheidet und sie von Autoren leicht pro¬ grammierbar und von Rezipienten leicht entzifferbar macht. Das heißt, daß sich das gesellschaftlich bedingte Imaginäre in kommunikationsrelevante und in dem Fall identifikationsstiftende Einheiten dekonstruieren läßt. Pageaux unterscheidet drei verschiedene Ebenen des Diskurses, wo sich diese AutorLeser Konvention instituiert: erstens das Wort - die minimale image, dann die sogenannten hierarchisch-differentiellen Beziehungen (Adjektivierung, Ver¬ gleich, usw.) zwischen Wörtern - eine 'Anthologie' von räumlich gegliederten Images, und schließlich das narrative Szenario (Verbalisierung, usw.) - ein zeitlich projiziertes Ensemble von bis zum Mythos dynamisierten und dra¬ matisierten images. Auf dieser theoretischen Grundlage sollte die Imagologie einem strikt wissenschaftlichen Vorgang im Text folgen, indem man zunächst jedes Element identifizieren, es nach seinem semantischen Eigenwert in Ka¬ tegorien klassifizieren und in letzter Instanz eine statistisch verifizierbare Konfiguration von images zu einem totalisierenden Bild konstruieren müßte. Der Rahmen unseres heutigen Beitrags erlaubt leider keine nach diesem sorg¬ fältigen Muster unternommene Analyse des Textes von Iorga. Wir müssen uns stattdessen auf eine Auswahl von einigen den drei erwähnten Ebenen (in umgekehrter Reihenfolge) zugehörenden images beschränken, die unserer Meinung nach die meisten Spuren in der topologisch-diskursiven 'Landschaft' des rumänischen Nationalismus hinterlassen hat3'.

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Das Szenario des Berichtes über eine Reise in die k.u.k. Bukowina, die der Autor um die orthodoxen Ostern unternimmt, ist absichtlich sehr schlicht konzipiert: Nichts Geschäftliches im Sinne sehr konkreter Ziele im Bereich der Politik, der Wissenschaft oder der einfachen Geselligkeit steht auf dem Plan, sondern die absolute Gratuität einer Wanderung ohne Route und präzise Termine, die ihn von dem zeitlichen Druck zu befreien scheint. Diese we¬ sentliche Zwecklosigkeit plaziert ihn automatisch in einem ästhetisierten Raum, den er geographisch zu rekonstituieren versucht, und den er ebenfalls implizit mit der Domäne des Wahren und des Guten assoziert. Die Kapite¬ leinteilung des Büchleins erfolgt nach den von ihm durchwanderten Tälern der Flüsse, die ihren Weg zur Mündung in der Bukowina anfangen, um ihn dann weiter über die rumänische Moldau fortzusetzen: Nicht die Stadt, als Einrichtung der Zivilisation, sondern nur das erhabene Werk der Natur kann ihm die Anhaltspunkte in einer patriarchalen Landschaft anbieten, die der willkürlichen Grenzziehung als widernatürliche und lügnerische Machen¬ schaft einer fremden und bösen Gewalt ausgeliefert wurde. Der Wanderer zieht die Einsamkeit vor und besucht selten jemanden; er kommt sich wie ein Pilger vor, der sich bei den Heiligen Stätten seines Volkes in aller Ruhe be¬ sinnen möchte (S. 129-130): Neben der edenischen Natur, die ihm die unbe¬ fleckte Reinheit suggeriert, in der die patriarchalischen Dörfer der Rumänen organisch integriert erscheinen, sind es die Denkmäler der heroischen Ver¬ gangenheit des moldauischen Mittelalters, die Burgruinen und vor allem die alten Klöster und Kirchen, ebenfalls Zeugnisse eines unerschütterlichen christlich-orthodoxen Glaubens, die er gleichzeitig mit fachmännischer Ge¬ nauigkeit auch als Kunstgegenstände beschreibt. Das Naturschöne und das Kunstschöne ergänzen sich in der friedlichen Harmonie einer Volksreligion und unter dem Zeichen einer rechtsstiftenden Geschichte, deren Präsenz für den Autor konkreter und lebendiger zu sein scheint als der nur als Störung wahrgenommene Alltag. Über allem glaubt er die Allmacht eines Gottes zu erkennen, dessen Entscheidungen, auch wenn sie für die Seinigen hart sind (S. 164), nicht in Frage gestellt werden, da sie die Gerechtigkeit selbst ver¬ körpern. Er ist aber vor allem ein Gott der Hoffnung, der jeden Frühling die Natur wiedererwachen und seinen Sohn Jesus auferstehen läßt - die Konturen einer solchen Hoffnung, auf deren Suche der Autor diese Frühlingsreise in die Bukowina unternimmt, will er im Kloster Putna in einer wunderschönen Ostemacht wahrgenommen haben, als der dort bestattete Fürst Stefan der Große aufzuerstehen schien (S. 260), um die symbolische Auferstehung sei¬ nes Volkes und das Ende dessen Martyriums anzukündigen. Die romantisch inszenierte Apotheose dieses bewaffneten Jesus-Stefan verbreitet trotz der fröhlich entspannten Natur eher eine warnende und drohende Botschaft als

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eine versöhnende: "Wie der Rauch im Winde und das Wachs vor dem Feuer" sollen die Feinde vernichtet werden, läßt der Autor den Prediger Gott bitten (S. 261). Das Szenario enthält neben der Hauptgestalt des Reisenden, der wegen seines langen Bartes von der Umgebung öfters für einen Priester gehalten wird, dem er halb ironisch, halb ernst gar nicht zu widersprechen versucht, - eine Reihe von Nebengestalten, von denen sehr wenige, meistens die wenigen ru¬ mänischen Geistlichen und Akademiker, denen er begegnet, personalisiert werden. Eine wichtige Rolle in dem Verlauf des Programms spielt jedoch der Kutscher, immer ein anderer, mit dem er fast die ganze Zeit zusammen ver¬ bringen muß. Diese notgedrungene Nachbarschaft ist ihm höchst unange¬ nehm, nicht nur weil sie seine innere Ruhe zu stören scheint, sondern weil (mit einer einzigen Ausnahme) diese mythische Figur des begleitenden Cha¬ rons auch eine fast als leiblich empfundene Konfrontation mit der harmonie¬ widrigen Andersheit ist. Die Feststellung, daß die meisten Fiaker keine Ru¬ mänen sind, hat einen symbolischen Wert: Die Wege des Landes, seine Ver¬ kehrsadern werden von Fremden beherrscht, die eine gewisse zerstörerische Dynamik den von der Geschichte selbst bestimmten autochtonen Lebensrhytmen aufzwingen; denselben Eindruck macht auf ihn auch die Bahn, mit der er einmal selbst fahren muß, und die ihm wie eine monsterhafte Ge¬ stalt erscheint, "die heult, tobt und Arbeits- und Rauschlieder singt", im Kontrast zu dem im Schatten der Vergangenheit und der Natur "eingeschlafenen Helden" des volkstümlichen Märchens (S. 213). Eine neue, fremde und häßliche Wirklichkeit schleicht sich in die eigene Landschaft des Schönen, Wahren und Guten ein, um sie von innen zu bedrohen: Wie vor ei¬ ner beweglichen Karte sieht der Autor die ständige Bewegung, den "fremden Wirrwarr" (S. 124) auf den Straßen, auf denen von anderswo Menschenmas¬ sen ununterbrochen kommen und in diese paradiesähnliche Welt eindringen. Keine sprachlichen Figuren werden ausgespart, um das Bild des listigen und feindlichen Überfalls so beeindruckend wie möglich zu malen, wobei unter den ironisch genannten "von Österreichs Händen gebrachten Gästen (S. 210) diejenigen, die als "asiatisches Ungeheuer" (S. 309) bezeichnet werden, für die gefährlichsten in dieser "Austeilung" aller Völker Österreichs (S. 149) gehalten werden. Es sind die Juden-^, der absolute Gegensatz zu der boden¬ ständig christlichen

und

patriarchalen

Gesellschaft,

die

sich raffiniert

"eingenistet" (S. 302) haben und "die heutigen Herren" des Landes (S. 128), die sie nach dem Autor "besudeln", geworden sind. Die hierarchisierenden Beziehungen, von denen wir vorher gesprochen haben, bilden die netzartige binäre Struktur einer permanenten Gegenüberstellung der zwei von dem Au¬ tor als verfeindet gesehenen Lager: Das äußere Aussehen, die Art zu blicken,

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zu gehen, zu reden, sich zu kleiden, zu wohnen, an Gott zu glauben, alles suggeriert die totale Unvereinbarkeit und Unverträglichkeit zwischen dem rumänischen und jüdischem 'Wesen'. Während z.B. alle Rumänen, die der Reisende trifft, "schön" "hochgewachsen", "langhaarig", "breitschultrig", "stark", mit "ausgezehrten" und "sonnengebrannten" Gesichtem, "blaß", "schwarzäugig", mit "tiefem", "schrecklichem" Blick, mit "langsamen" aber "sicheren" Schritt dargestellt werden, sollen die Juden "groß", "dick", "rotbackig", "langnasig", mit "tückischem" Blick und mit "rechnerischem", "wichtigtuerischem" Schritt usw. erscheinen; sogar die Kinder markieren die Opposition: Einige sind "scheu", die anderen häßlich und unsauber. Die Ru¬ mänen werden direkter, zumeist mittels physischer, d.h. durch eher "natürliche" Qualifikationen gekennzeichnet; was die Juden betrifft, über¬ wiegen in der Beschreibung die charakterlichen Komponenten, die eher zu den im Prozeß der Zivilisation erworbenen Zügen des Menschen gehören und die eine gewisse Entfernung von seiner eigentlichen "Natur" voraussetzen sollen, woher auch die Neigung des Autors, bei diesen das Künstliche und in letzter Instanz das Unmenschliche hervorzuheben stammt. In den von ihm geschilderten Szenen reagieren sie entweder als auf Gewinn programmierte Halbautomaten, die zu "lieben" oder zu "schonen" nicht imstande seien (S. 165), oder als den Instinkten preisgegebenen Geschöpfe, die man nur Ver¬ gleichen mit der tierischen Welt für würdig hält: Sie "schwärmen nach Ho¬ nig" (S. 148), "winseln", "winden sich", "räkeln sich", schließlich seien sie nichts anderes als "Biester" (S. 296), die in ihren schwarzen Kleidern mit Fuchspelzhütten mal den "Raben" (S. 145), mal den Raubtieren ähnlich seien, so daß die Erzählung eines Volksdeutschen Kutschers, wie er Juden geschla¬ gen hat, ihn nur zu erheitern scheint (S. 192). In ihrem "deutsch-semitischen Mauscheln" (S. 128) erkennt der Reisende keine Menschensprache, und dar¬ um glaubt er sich berechtigt, zwei Juden aufzufordem, Rumänisch zu lernen (S. 219); eigentlich aber erklärt er sich "verschämt" und "erschrocken" von dieser unassimilierbar "faulen" und bettelarmen Menge33 (S. 309) der "Geldjesuiten" (S. 306), die reich werden sollen, indem sie das Land parasi¬ tären und ausbeuten. Das Bild der Invasion wird mehrmals mit der Metapher eines geologischen Winters assoziert (siehe S. 145), der durch den "völligen Sieg Israels" (S. 129) das Land tödlich verödet und ihre Menschen in ihrer Lebenskraft getrof¬ fen hätte (S. 232). Einer der jüdischen Kutscher, die den Reisenden fahren, scheint die Wärme des symptomatisch freundlichen Frühlings draußen gar nicht wahmehmen zu können und zu wollen, indem er stets "sein Gesicht vor Kälte krümmt" (S. 125) - übrigens haben hier alle jüdischen Kutscher, die so¬ gar ihre Pferde grausam quälen, etwas Dämonisches im Ausdruck und Be-

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nehmen. Das Schwarze der jüdischen Kaftane (S. 183), die an ihren "finsteren" Gott (S. 321) erinnern, überwältigt die bunte Natur, die Habgier dieser "niederträchtigen" Entwurzelten, deren Emblemfiguren der Schenker und der Wucherer sind (S. 304)34, erobert Boden und Seelen, der Schmutz und der Gestank des jüdisch-galizischen sthetls dringt in die sauberen rumä¬ nischen Dörfer mit ihren mit Blumen geschmückten Häusern ein, selbst die Kirchen und die orthodoxen Feiertage laufen Gefahr, von den "Christenfeinden" (S. 306), die sogar zu privilegierten ökonomischen Mitar¬ beitern des orthodoxen Religionsfond befördert wurden (S. 145), geschändet zu werden (S. 216). Neben den primären Adjektiven schön und häßlich sind die Schlüsselwörter, um die sich die konkurrierenden semantischen Felder mit ihren moralisch-religiösen, aber auch rassisch-biologischen Konnotationen konstituieren, rein und schmutzig: Die Adjektive "staubig", "kotig", "schmierig", "ekelhaft" u.a. häufen sich, wenn von der jüdischen Gasse, von den jüdischen Geschäften,Märkten, Gasthäusern, Cafes, Kutschen oder Men¬ schen die Rede ist. Sie sollen suggestiv genug sein, um für den Leser die pro¬ fanierende Andersartigkeit der angeblich von den Juden hierher gebrachten und aufgezwungenen Zivilisation des Unnatürlichen und Künstlichen, eine Epoche des Egoismus, ohne Begeisterung und ohne Erinnerung, ohne Hoff¬ nung" (S. 133) in der nur das Geld zählt, prägnant darzustellen.35 Das Dorf als Ort des Bewahrens der alten Volkstugenden wurde den meist von Juden bewohnten und zu ökonomischen und Verwaltungszentren gewordenen Kleinstädten der Bukowina allmählich untergeordnet und marginalisiert; Czemowitz, Radautz, Sereth und Doma Watra sind für den Autor "jüdische Städte" mit schlecht gebauten und häßlichen Häusern, in denen die Bürger¬ meister, Notare, Lehrer, Gendarmen und Beamten ebenfalls fremd , wenn nicht auch jüdisch sind. Hier sollen sich die fremdartigen Mentalitäten einer für das gesunde Volk unerwünschten unmoralischen (S. 315) und kranken Zivilisation (S. 194) entwickelt haben: "Klassengeist, Staatsfetischismus, die Liebhaberei der materiellen Güter" (S. 234), daran haben sich auch viele ru¬ mänische Intellektuelle, - Onciul wird mehrmals namentlich erwähnt - dar¬ unter auch Geistliche, angesteckt und damit ihr Volk verraten (S. 171). Die Differenz zum bäuerlichen Geschlecht der Moldauer, "einem reinen und stol¬ zen Volk von alten Kämpfern mit offenen Herzen" (S. 280), das vor der neu¬ en Herrschaft ratlos und erschrocken steht (S. 164), wird letzten Endes auch physiognomisch von dem "heutigen Herren" mit seiner Brille und seiner Ar¬ roganz fixiert (S. 146); ob er Österreicher oder Jude ist, kann niemand mehr wissen (S. 231). Auf diese Weise wird der eigentliche Höhepunkt des Diskurses erreicht, wo¬ durch die im Sinne des vorgegebenen ideologischen Programms bisher kon-

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struierte image vollendet wird: Der als "provisorisch" (S. 304) betrachtete Sieg des "Fremden" über die Rumänen wäre nicht ohne die unheilige Allianz zwischen dem "fremden" Kaiser (S. 126) und den Juden möglich gewesen, die unter seiner Herrschaft absichtlich ins Land gebracht worden seien, um die Autochtonen besser in Griff zu bekommen und es Schritt für Schritt durch die neuen politischen, ökonomischen und erzieherischen Institutionen zu entnationalisieren.36 Diese Komplizenschaft lasse sich, behauptet der Autor mehrmals, bis auf das unterste Niveau der Verwaltung beobachten, wo die korrumpierten und selbst entnationalisierten Beamten nur im Interesse der Juden handeln, während diese Agenten der Germanisierung sich als das "Staatsvolk" eines infolge des willkürlichen Abschnitts der Bukowina von dem Körper der Moldau (S. 165) künstlich entstandenen Staatsgebildes be¬ trachten: "Das Volk wurde dem Juden verkauft und von der Regierung mit den Füßen zertreten" (S. 206). Dieser Parallelismus wird von dem Autor wie¬ derholt hervorgehoben und oft durch die mit der üblichen Formel "österreichisch-ungarisch" kalkierte und durch eine Art Dualismus konnotierende adjektivische Gruppe "österreichisch-jüdisch" betont, zum Beispiel in Verbindung mit den Professoren der Czemowitzer Franz-Josef-Universität (S. 325), die allerdings für ihn nur eine "österreichische Universität für Ju¬ den" (ebd.)37 sei und keine deutschnationale, da sie in dem Fall "wegen der Ungunst der Juden" (ebd.) der Regierung nicht genehm sein würde. Die Kari¬ katur soll hier und anderswo das Absurde und wiederum das Künstliche eines widernatürlichen und auf dem Unrecht gegründeten Zustandes betonen, der apokalyptische Züge erhält, wenn es darauf ankommt, die Dimension des immer noch offensiven Bösen darzustellen; die Anspielung auf die Ursituation der Konfrontation der mythisch-märchenhaften Gestalten mit dem mehr¬ köpfigen Drachen soll nicht zufällig die Vielfältigkeit der Gesichter, unter denen die tödliche Gefahr lauere, evozieren. Indem er sich mit den Juden verbündet, wird der "christliche Kaiser" in Wien zum Anti-Christus, der seine Lust auf die Weltherrschaft zunächst mit Hilfe des Katholizismus, dann des "übernationalen" Beamten und schließlich des Juden verwirklichen wollte.38 Dieser von Habsburg verkörperte "internationalistische" Glaube wurde zum erbitterten Feind des rumänischnationalen Widerstandes in der Bukowina, gegen den er alle anderen Völker der Monarchie, hauptsächlich die Ruthenen und die Juden, mobilisierte39; indem er sich gegenüber dem sich überall be¬ findenden und ihn einkreisenden fremden Feind in seine anarchische Land¬ schaft" schließen soll, wäre - in einer für den Autor von Byzance apres Byzance40 üblichen grandiosen Vision - der Auftrag des notwendig antisemiti¬ schen, rumänischen Nationalismus, die "internationalistische" und moderni¬ sierende westliche Hydra im allgemeinen im Namen seiner identitätsstiften¬ den Orthodoxie zu bekämpfen. Mit pathetisch-apostelhaffer Rhetorik und

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hieratisch-makabren Bildern von öligen Heiligengebeinen, Särgen und Nachtprozessionen mit Ikonen und Fackeln, die an die rituelle Mystik der extrem-rechten rumänischen "Legionäre" der 20er und 30er Jahre erinnern (S. 126), ruft der Autor zu deren Renaissance, gerade zu dem den endgültigen Sieg Christus gegen seine Mörder und Verräter feiernden Ostern auf. Ein letzter Spaziergang durch Czemowitz, bevor der Reisende weiter über die Grenze ins von den Russen beherrschten Bessarabien fahren soll, führt ihn symbolisch zum Cafe Habsburg, "wo sich die Juden treffen" (S. 357), um über Politik und Geschäfte zu reden. Die Nacht wird er dann in dem Hotel "Zum schwarzen Adler" verbringen; 36 Jahre später werden dort durch Genickschuß von den in Czemowitz zusammen mit den rumänischen Trup¬ pen einrückenden SS-Leuten die ersten Juden der ehemaligen k.u.k. Landes¬ hauptstadt, darunter der Oberrabbiner Dr.Abraham Mark, ermordet werden. Auch wenn bis heute kein rumänischer Philologe ein Buch wie Viktor Klemperers LTI geschrieben hat, mit dem die Sprache des rumänischen Nationa¬ lismus systematisch studiert werden sollte, bezweifelt heute niemand, daß der ideologische Einfluß Nicolae Iorgas auf die rumänische rechts-extreme Be¬ wegung der Zwischenkriegszeit enorm war.41 Die Paternität ihrer Xenopho¬ bie und ihres Antisemitismus wird der Historiker bis spät in die 30er Jahre selbst behaupten; die erneute Auflage seines alten und gar nicht mehr aktu¬ ellen Buches über die k.u.k. Bukowina sollte es 1938, als die politische Tren¬ nung zwischen dem ehrwürdigen Gelehrten und der von seinen ehemaligen Schülern geführten "Eisernen Garde" endgültig war, vielleicht nochmals be¬ stätigen lassen. Zwei Jahre später wurde Nicolae Iorga von einem Kommando der "Eisernen Garde" ermordet, als gleichzeitig eine der schwierigsten Epo¬ chen in der Geschichte der Juden Rumäniens begann.

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Literatur

1 Siehe Dietmar Goltschnigg/AntonSchwob (hrsg.), Die Bukowina. Studien zu einer ver¬ sunkenen Literaturlandschaft, Tübingen 1990; Andrei Corbea/Michael Astner (hrsg.), Kulturlandschaft Bukowina. Studien zur deutschsprachigen Literatur des Buchenlandes nach 1918, Ia$i 1990; Herbert Wiesner/Emest Wichner (hrsg.), In der Sprache der Mörder. Eine Literatur aus Czernowitz, Bukowina, Berlin 1993. 2 Siehe z.B. einige Studien aus Franz Lang (hrsg.), Buchenland. 150 Jahre Deutschtum in der Bukowina, München 1961 oder die faktenreichen Beiträge Rudolf Wagners (eine Bi¬ bliographie seiner Schriften in Vom Moldauwappen zum Doppeladler. Festschrift für Ru¬ dolf Wagner, Augsburg 1991). 3 Meistens sind es Memoirenbücher, die das Vergangenheitsbild idyllisieren, wie z.B. das von Georg Drozdowski, Damals in Czernowitz und rundum, Klagenfurt 1984 - eine erwäh¬ nenswerte Ausnahme bilden die Memoiren Gregor von Rezzori, Blumen im Schnee, Frank¬ furt am Main 1991. 4 Johannes Hoffmanns Vorwort zu Emanuel Turczynski, Geschichte der Bukowina in der Neuzeit, Wiesbaden 1993, S.VIII. Das Buch selbst, obwohl es dieselbe Grundauffassung teilt, stellt die Fakten differenzierter und kritischer dar. 5 Kurt Rein, Politische und kulturgeschichtliche Grundlagen der "deutschsprachigen Lite¬ ratur der Bukowina", in Goltschnigg/Schwob, a.a.O., S. 27-48. Siehe den entgegengesetz¬ ten Standpunkt in Andrei Corbea, "Gesellschaftsbildender" und identitätsstiftender Expres¬ sionismus. Zur aktivistischen Episode in Czernowitz 1919, in Südostdeutsche Vierteljah¬ resblätter, 1/1993, S. 16-26. 6 Wir meinen in erster Reihe die sechs erschienen Bänden von Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Wien 1980. 7 Siehe Karl Gottfreid Hugelmann/Wilhelm Braumüller (hrsg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreichs, Wien/Leipzig 1934, S. 724-738. 8 Edward Said, L'Orientalisme. L'Orient creepar l'Occident, Paris 1980. 9 Der Ausdruck wurde bekanntlich von Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien, Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien, Leipzig 1876 geprägt. 10 Auch Turczynski, a.a.O., neigt zu einer solchen Vision. 11 Hier als diacrisis "qui introduit par decret une discontinuite decisoire dans la continuite naturelle entre les regions de i'espace" (Pierre Bourdieu, L'identite et la representation. Elements pour une rcflexion critique sur l'idee de region, in Actes de la recherche en scien¬ cessociales, 35/1980, S. 65). 12 Michel Foucault, L'Archeologie du Savoir, Paris 1969.

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13 Siehe unter vielen Beiträgen zum Thema den Aufsatz von Shmuel Noah Eisenstadt, "Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive", in Bernhard Gie¬ sen (hrsg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Be¬ wußtseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main 1991, S. 21-38. Zum Begriff der "sozialen Repräsentation" siehe Serge Moscovici, La psychanalyse. son image et son public, Paris 1961, S. 39-80. 14 Gerd Wolandt, Kants Völkeranthropologie als Programm, in Hugo Dyserinck/Karl Ul¬ rich Syndram (hrsg.), Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Proble¬ me in Literatur, Kunst und Kultur des 19 und 20. Jahrhunderts, Bonn 1988, S. 39-52. 15 Otto Dann, Nationalismus und sozialer Handel, Hamburg 1978, hauptsächlich S. 9-23. 16 Manfred S. Fischer, Nationale Images als Gegenstand vergleichender Literaturge¬ schichte, Bonn 1981, S. 24 und S. 27. 17 Eine durchaus verdienstvolle imagologische Studie über die Rumänen aus deutsch¬ österreichischer Sicht, in der auch Bukowinaer Quellen benutzt wurden, hat Klaus Heit¬ mann, Das Rumänenbild im deutschen Sprachraum 1775-1918, Köln/Wien 1985, verfaßt. 18 Erich Prokopowitsch, Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina und der Dako-Romanismus, Graz/Köln 1965. 19 Siehe Mihai Eminescu, Bucovina si Basarabia. Studiu istorico-politic, hrsg. von Ion Cretu, Bucuresti 1941; im folgenden werden wir nach Opere; Bd.9, Bucuresti 1980, zitie¬ ren. 20 Der in Bukarest erschienene Band Romänismul in trecutul Bucovinei enthält neben dem in Romänismul in Bucovina inainte de razboiul unitatii nationale umbenannten Text aus dem Jahre 1905 noch zwei andere Texte: Rapirea Bucovinei de Austrieci und Inscriptii bucovinene. Die weiteren Seitenangaben entsprechen dieser Edition. 21 William 0. Oldson, The historical and nationalistic though of Nicolae Iorga, Boulder/New York 1973. 22 Siehe Prokopowitsch, a.a.O. und Turczynski, a.a.O. Zwei Momente haben für heftige Polemik gesorgt: Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Grafen Bellegarde, dem Reichsratsabgeordneten von Kimpolung um seine beabsichtigte Präsenz bei einer Veran¬ staltung der Rumänen in Kimpolung 1908 und seine Ausweisung aus der Bukowina wegen antisemitischer Hetze 1909. 23 Aurel von Onciul hat diese neue Orientierung in der Broschüre Politische Bekenntnisse, Czemowitz 1905 einem den Juden und Ruthenen durchaus mißtrauisch gesinnten rumäni¬ schen Publikum mit dem Argument zu erklären versucht, daß erst auf diese Weise das Na¬ tionalitätenprinzip in die Bukowinaer Politik eingedrungen ist, - was retrospektiv von Philipp Menczel, zu der Zeit einer der einflußreichsten Czemowitzer Politiker und Mei¬ nungsmacher für fatal für die Entwicklungen in der Provinz gehalten wurde (siehe Philipp

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Menczel. Trügerische Lösungen Erleb nisse und Betrachtungen eines Österreichers, Stuttgart/Berlin 1932). Er und seine Partei¬ genossen werden sich trotz Polemiken bemühen, eine gewogene Sprache über Juden anzu¬ wenden, wobei sie aus dem Antisemitismus ihrer rumänischen Gegner sogar eine politische Waffe machten. (Siehe Die Affaire Dr. Ianku von Flondor vor dem landtäglichen Mißbilligungsausschuße, Czemowitz 1903). 24 Siehe Wandruszka/Urbanitsch, a.a.O., Bd. 3, S. 1187-1198, und Turczynski, a.a.O., S. 186-208. 25 Iorga hat mehrmals die Politik der Demokratischen Partei angegriffen und ihre radikalen Gegner unterstützt; siehe seine Polemik mit Florea Lupu in Florea Lupu, Conflictul meu cu dl. Nicolae Iorga, Cemauti, 1910. Nach 1910 fuhren die immer heftigeren nationalen Kon¬ flikte mit den Ruthenen zu einer Stärkung des irredentistischen Flügels des rumänischen Bildungsbürgertums; siehe I. E.Toroutiu, Romänii ft clasa intelectuala din Bucovina, Cemauti 1911, Ders., Romänii fi clasa de mijloc din Bucovina, Cemauti 1912 und Ion Nistor, Un capitol din viata cultural a romänilor din Bucovina, Bucuresti 1916. 26 Siehe u.a. D. Murarasu, Nationalismul lui Eminescu, Bucuresti 1932. 27 Siehe u.a. Z. Omea,Junimismul, Bucuresti 1966. 28 William O. Oldson, A providential anti-semitism. Nationalism and Polity in NineteenthCentury Romania, Philadelphia 1991. 29 Siehe Mihai Eminescu, Inßuenta austriaca asupra romänilor din Principate, in a.a.O.,

30 Daniel-Henri Pageaux, Image/lmaginaire, in Dyserinck/Syndram, a.a.O., S. 367-379. 31 Siehe unter anderem Stephen Fischer-Galati, Fascism, Communism and the Jewish Question in Romania, in Bela Vago & George L. Mosse, Jews ans Non-Jews in Eastern Europe 1918-1945, Toronto/Jerusalem 1974, S. 157 ff, Radu Ioanid, The Sword ofthe Archangel Fascist Ideology in Romania, Boulder/New York 1990 und Leon Volovici, Natio¬ nalist Ideology and Antisemitism. The Case of Romanian Intellectuals in the 1930s. Oxford

32 Zu der Niederlassung und Geschichte der Juden in der Bukowina siehe Hugo Gold (hrsg.), Geschichte der Juden in der Bukowina, Bd. 1, 2, Tel Aviv 1958-1960; unter den zahlreichen Beiträge zum Thema siehe unter anderem Martin Broszat, "Von der Kultumati°n zur Volksgruppe. Die nationale Stellung in der Bukowina im 19. und 20 Jahrhundert" in Historische Zeitschrift, 200/1965, S. 572-604, David Schaary, Jewish Culture in Multi¬ national Bukowina between the World Wars, in Svut, 16/1993, S. 281-296 und Andrei Corbea, La culture juive germanophone de Bucovine et de Czernowitz" in Revue Germa nique Internationale, 1/1994, S. 165-181. 33 Über das Phänomen der Armut und die sozialen Integrationsprobleme der armen ostiüdischen Masse in der Bukowina gab es eine ganze Reihe von zeitgenössischen Überlegun¬ gen, von denen wir die Broschüre von Charles N. Reichenberger, Wie kann das Eiendeines

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Teiles der Juden in Galizien und der Bukowina durch die Baron Hirschsche 12 Millionen¬ stiftung gemildert werden?, Wien 1891 und den Vortrag des Rechtssoziologen Eugen Ehr¬ lich, Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten, Czemowitz 1909 für bei¬ spielhaft halten. Für das heutige Interesse an der Problematik sei z.B. das Buch von Yehu¬ da Don/Victor Karady (hrsg.), A social and economic history of central european Jewry, New Brunswick/London 1990 und der Syntheseaufsatz von Gottfried Schramm, Die Juden im europäischen Osten um das Jahr 1900: Zwischenbilanz eines Minderheitenproblems, in Gotthold Rohde (hrsg.), Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation zum Zweiten Weltkrieg, Marburg an der Lahn 1989, S. 3-19, erwähnt. 34 Antisemitisch geprägte Schilderungen der ökonomisch-sozialen Stellung der "galizischen" Juden in der Bukowina haben aus der Richtung deutsch-österreichischer Czemowitzer Universitätskreise Julius Platter, Der Wucherer in der Bukowina, Jena 1878 und Marie Mischler, Soziale und wirtschaftliche Skizzen aus der Bukowina, Wien/Leipzig 1893 verfaßt. Für dieselbe Haltung siehe auch einen Trivialroman der Radautzerin Anna Pawlitschek, Ob ich dich liebe, Wien 1897. 35 In wenigen Sätzen (S. 304-306) faßt Iorga eine ganze Theorie Werner Sombarts zu¬ sammen, die sich bemüht, ein religiös und psychisch bestimmtes Verhältnis zwischen Ju¬ dentum und der kapitalistischen Zivilisation zu demonstrieren; siehe Freddy Raphael, Judaisme et capitalisme, Paris 1978. 36 Im Vergleich zu den zeitgenössischen Beschreibungen der inneren Verhältnisse in der Bukowina von rumänischer Seite, in denen man die wachsende Entnationalisierung der Rumänen und die jüdische Vorherrschaft in der Wirtschaft des Kronlandes hervorhebt (wie P. S. Aurelian, Bucovina. Descriere economica insotita de o harta, Bucuresti 1876, oder George Sion, Notitie despre Bucovina, Bucuresti 1882) wird Mihai Eminescu (a.a.O. S. 163, S. 173, S. 190, S. 253, S. 430) derjenige sein, der daran eine absichtliche Indienstnahme der Juden von der österreichischen Politik sieht. Nicolae Iorga und Ion Nistor, ( a.a.O. und Der nationale Kampf in der Bukowina, Bukarest 1918) werden Eminescus Ar¬ gumente wiederholen und entwickeln, bis sie zu Gemeinplätzen des Gedankenguts des ru¬ mänischen Nationalismus wurden. 37 Eminescu behauptet dasselbe schon 1875, bei der Gründung der Francisco-Josephina, a.a.O., S. 160. 38 Die Quelle Iorgas scheint wiederum Eminescu zu sein, a.a.O., S. 171. Fast alle seine antisemitischen Motive und sogar eine Fülle von images sind allerdings in Eminescus Pu¬ blizistik wieder zu finden, wie z.B. in dem folgenden Zitat, in dem die Tiefe des Verhält¬ nisses zwischen dem Historiker und den Texten des Dichters in ihrer ganzen Brisanz er¬ scheint: "Das Bistum Radauti wird heute von Beamten und Juden verwaltet. In den Schulen dieses Bistums lehrt man den Stoff in deutscher Sprache und mit deutschen Lehrern und jüdischen Schülern. Herr über diesen Boden sind die galizischen Juden und die Schwaben aus Bayern geworden. Was haben die Juden aus der Bukowina gemacht? Ein Sumpf aller¬ korruptester Elemente, ein Sammelplatz derer, die nirgendwo sonst im Babylonischen Reich leben konnten. Obwohl nach altem Recht die Juden kein Recht besaßen, Steinsyn¬ agogen zu bauen, haben sie jetzt in der Mitte von Czemowitz ein Bethaus, sie haben sich jetzt wie schwarze Raben über das ganze Land gestürtzt, sie enteignen nach und nach die

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Andrei Corbea-Hoisie

Bauern, die durch Steuern und Darlehen verschuldet sind, vernichtet durch den Judazins... Und das heißt im Wiener Pressejargon, 'die Zivilisation in den Orient zu tragen'. Menschen, deren einziges Wissen Falsch und Betrug ist, werden gerufen, den schönsten Teil der Moldau zu zivilisieren. Das Paradies der Moldau füllt sich mit dem verfaultesten Volk” (ebd., S. 430 f.). Selbstverständlich kann man ebenfalls viele Spuren der deutschnationalen und christlich-sozialen Angriffe auf das 'judaisierte' liberale Wien, mit dessen Sprache der Karl Lueger-Bewunderer lorga vertraut zu sein schien, wie auch alte anti-österreichische Ressentiments der rumänischnationalen Politik leicht erkennen. 39 Es ist interessant, daß jenseits der prinzipiellen Reserve gegenüber der Bukowinaer "Völkermischung", die seiner Auffassung der territorial-nationalen Homogenität wider¬ sprach, lorgas Antipathie den Juden und Slawen (Ruthenen und Lipowaner) und nicht den Volksdeutschen und sogar Ungarn galt. Mehrmals lobt er den guten Einfluß der arbeitsa¬ men Deutschen auf die Rumänen und gibt zu verstehen, daß sie sich nicht mit der "brutalen" und "verächtlichen" "deutschen" Herrschaft des Wiener Kaisers identifizieren (S. 164). 40 Unter "Byzance apres Byzance" versteht lorga das geistige Erbe des Oströmischen Rei¬ ches, das sehr lange von den Rumänischen Fürsten der Moldau und der Wallachey bis spät ins 17. Jahrhundert behauptet wurde. Seine berühmte, Byzance apres Byzance betitelte Studie erschienen Bukarest 1909. 41 Volovici, a.a.O.

Eva Reichmann (Bielefeld)

Man ist als Österreicher in der Welt noch immer besser aufgehoben.1 Robert Müllers Entwurf des kulturbildenden Austrogermanen.

Der Weg der neueren Bildung geht Von Humanität Durch Nationalität Zur Bestialität (Franz Grillparzer)2 Die theoretischen und essayistischen Schriften des Wiener Expressionisten und Aktivisten Robert Müller sind voll von oft widersprüchlichen Ideen und Theorien zur politischen und kulturellen Rolle und Aufgabe einer österreichi¬ schen multinationalen Monarchie 'germanischer' Prägung. Die Widersprüche ergeben sich nicht nur daraus, daß Müllers ideologische Einstellung gegen¬ über dem Krieg und österreichischer und preußischer Machtpolitik sich im Laufe des ersten Weltkrieges änderte; auch in der historischen Herleitung seines Begriffes einer germanischen Rasse oder Kultur ist Müllers Argu¬ mentation oft sprunghaft und teilweise inkonsequent. Allerdings läßt sich bei der Darstellung der österreichischen Kultur, ihrer Aufgaben und ihrer Wir¬ kung und der österreichischen Staats form der Monarchie durch die Jahre hin eine Konstanz in Müllers Schriften erkennen, die sich etwa aut folgende Formel bringen läßt: die Multinationalität Österreichs unter germanischer zentraler Monarchie ist die Garantie für den kulturellen und politischen Be¬ stand ganz Europas und hat somit auch Vorbildcharakter für den Rest der Welt. Besonders interessant scheinen mir einige Parallelen der Argumente Mül¬ lers zu Ansichten von Franz Grillparzer zu sein. Nicht nur die Widersprüch¬ lichkeit und der Wandel der Ansichten ist bei beiden Schriftstellern in vielen Punkten vergleichbar; vielmehr hat man oft das Gefühl, Müller habe Grill¬ parzer fast zitiert, wenn es um Positionen gegenüber den Slawen geht oder die Einschätzung der kulturpolitischen Aufgaben Österreichs gegenüber dem Osten. Zwar sind Müller und Grillparzer, was den Liberalismus angeht, sehr unterschiedlicher Auffassung, ihre Ansichten bezüglich der Multinationalität Österreichs und dem aufkeimenden Nationalismus hingegen sind wieder in der Mehrzahl der Punkte vergleichbar. Wie der späte Grillparzer spricht sich auch Müller gegen eine Vereinigung Österreichs mit Deutschlands aus und

Eva Reichmann

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gibt der deutschen "Kultursprache" (Müller) aus "praktischen Gründen" (Grillparzer) den Vorrang. Um auf die teilweise Geistesverwandtschaft der beiden Dichter hinzuweisen - Müller war ein großer Grillparzerverehrer sind einigen Kapiteln dieses Aufsatzes passende Zitate von Grillparzer als Überschriften vorangestellt; eine genaue und intensive Untersuchung der Pa¬ rallelen zwischen Müller und Grillparzer würde jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen und soll deshalb späteren Arbeiten Vorbehalten bleiben. Müllers multinationale Idee tritt keineswegs für eine Gleichberechtigung aller Völker innerhalb der Monarchie ein, die Führung im Staate gebührt sei¬ ner Ansicht nach allein den 'Germanen'. Im Folgenden seien die wichtigsten Aspekte des paradoxerweise doch intoleranten multinationalen Staatskon¬ zeptes von Müller — ausgehend von seiner Definition des Germanischen — erläutert. Die wesentlichen Quellen sind die folgenden Werke, welche im Text mit bezug auf ihr Erscheinungsjahr zitiert werden; Was erwartet Öster¬ reich von seinem jungen

Thronfolger?

1914; Macht.

Psychopolitische

Grundlagen des gegenwärtigen atlantischen Krieges. 1915; Österreich und der Mensch. Eine Mystik des Donaualpenmenschen. 1916; Europäische We¬ ge. Im Kampf um den Typus. 19173; vereinzelt wird auch auf übrige feuilletonistische Schriften Müllers Bezug genommen. Es ist nicht Ziel dieser Darstellung, das multinationale Konzept Müllers auf seine Tauglichkeit oder seinen Realitätsbezug hin zu untersuchen, seine Auffassung des Germanentums' zu kritiseren oder seine politischen und hi¬ storischen Irrtümer aufzuklären. Vielmehr sollen Müllers eigene Argumente zu diesen Aspekten im Vordergrund stehen und erläutert werden.

Der Germane als Idee Die ganze Nation geigt und bläst und hat auch keinen einzigen großen Mu¬ siker aufzuweisen " (Grillparzer über die Slawen)4 Müllers Definition des Germanentums nimmt nur in relativ geringem Maß Bezug auf ein körperliches Erscheinungsbild. Für ihn manifestiert sich das Germanische vor allem in einer bestimmten Idee von Kultur, Lebensführung und Mentalität. Der 'reinrassige' Germanentyp, der ohnehin nur noch auf dä¬ nischen oder friesischen Inseln zu finden sei, entspricht laut Müller diesem Ideal eines Germanen jedoch nicht; der ideale Germane ist der 'Mischgerma¬ ne', für Müller der Österreicher und nur in geringerem Maß auch der Deut¬ sche. Denn germanisch ist es, fremde Eigenarten zu pflegen und zu lenken (nicht, sie zu versklaven oder zu zerstören) und Typenvielfalt in der Bevölke-

Robert Müllers Entwurf des Austrogermanen

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rung aufrecht zu erhalten (Müller 1914). Diese Eigenschaften sieht Müller im österreichischen Staat und Volk verwirklicht, nicht unbedingt jedoch in Deutschland. Zwar ist der Österreicher körperlich ungermanisch, wobei lediglich die Aristokratie eine Ausnahme bilde; da Österreich jedoch Produkt des germani¬ schen Imperialismus ist, und die Idee vom Germanen allein genügt, um ein Volk zu Germanen zu machen, sind die Österreicher nach Müllers Argumen¬ tation doch wieder sehr nahe am Idealtyp des Germanischen (Müller 1914).5 Als Vertreter des Germanentums hat Österreich nun die Aufgabe, auf die ver¬ schiedenen Völker - ohne diese zu unterdrücken - germanisierend zu wirken. So würden auch die Slawen, speziell die Serbokroaten, durch den Austausch mit Österreich sozusagen den nötigen kulturellen Schliff bekommen. Als herausragende germanische Eigenschaften bezeichnet Müller Demut und Härte; demütig ist zwar auch der Slawe (der laut Müller keine eigene Kultur hervorgebracht habe), aber erst die Verbindung mit Härte schaffe den wirklich schönen Menschen, der zum Herren über andere die nötigen Quali¬ täten aufweist (Müller 1914).6 Dieser herrliche germanische Typ hat laut Müller die Pflicht zur Macht (Müller 1915). Überhaupt ist Macht - worunter Müller nicht unbedingt Politisches sondern "lauterste und ursprünglichste Menschlichkeit" versteht (Müller 1915)7 — eine deutsche und somit germani¬ sche Angelegenheit. An Beispielen von literarischen Gestalten aus der deut¬ schen Literatur, wie Faust oder Zarathustra, und am Beispiel literarischer Werke, etwa von Peter Altenberg bis hin zu Otto Soyka, begründet Müller diese These (Müller 1915).8 Im Österreicher und im Deutschen sieht Müller je eine Erscheinungsform des Germanischen; keiner entspricht zu 100% dem germanischen Ideal, jede Seite verkörpert aber andere wichtige Aspekte des Germanentums. Germani sehe Kultur ist laut Müller "metaphysisch im Ideellen, technisch im Prakti¬ schen" (Müller 1914)9, wobei der Deutsche eher die praktische Seite verkör¬ pert. Während der Preuße für eine steife Form von Macht steht, verkörpert der Österreicher eine geschmeidige Macht,

die deutsche Musik einei kom¬

menden weltdeutschen Welt" (Müller 1915)10, wobei Müllers langes und ausgiebiges Lob der österreichischen musischen Leistungen keinen Zweifel daran läßt, daß er die österreichische Variante des Germanentums trotz man¬ cher Mängel für die bessere hält. Im Germanischen sieht Müller zwei für die Kulturbildung wesentlichen Kräfte vereint: das "emotional Irrationale", welches eher ein österreichischer Wesenszug ist, und das "konstruktiv Rationale", wofür der Deutsche, respek¬ tive Preuße zuständig ist. Aus Müllers gesamter Argumentation ist jedoch er¬ sichtlich, daß eine Vereinigung der beiden germanischen Staaten Österreich und Deutschland - da es ja das Verschwinden dieser Staaten als solche be-

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Eva Reichmann

deuten würde - nicht erstrebenswert sei und auf keinen Fall das Ideal des Germanen hervorbringen könnte. Nur das getrennte Bestehen von Österreich und Deutschland kann Garant für eine kulturell und politisch stabile Lage in ganz Europa sein. Ebenso erhält nur die Polarität der beiden Ausprägungen von Germanentum das Germanische, in dessen Rahmen Österreich aufgrund der Verbindung von Vielvölkerreich und germanischer Idee den Ursprung ei¬ ner zukünftigen Weltkultur vorstellen kann.

Der Österreicher ist der bessere Germane "Wir Österreicher haben etwas, was man in ganz Deutschland vergebens sucht - wir haben wahres Gefühl [...] und wir kennen keinen Kopfenthusias¬ mus, der anderswo zu Hause ist. ">1 Müllers austrozentristisches Weltbild fuhrt ihn zu einer krassen Überschät¬ zung Österreichs und meines Erachtens auch zu einer Fehleinschätzung der Probleme des von ihm stark idealisiert gesehenen Vielvölkerstaates. So schreibt Müller etwa "Österreich ist infolge seiner territorialen Beschaffen¬ heit unzerstörbar" (Müller 1914).12 Der Österreicher wird von Müller sogar als eigene Rasse dargestellt, wobei gerade die Multinationalität Österreichs unter einem germanischen Monarchen diese Rasse als Typus prägt. Rasse ist für Müller kein völkerwissenschaftlicher Begriff, sondern eine ästhetisch¬ impressionistische Bewertung, "auf die Spitze getriebene Person" (Müller 1916).13 So kann er das "rassische Konglomerat Österreich", welches den straffen inneren Bau und Zusammenhang einer Einheit hat, als Rasse be¬ zeichnen: Die Rassenteile kompromittieren auf das Ferment hin, und das Ferment bindet die disparaten Rassen zu einer neuen Rasse. Dies ist der weltbedeutende Vor¬ gang, den wir sich seit tausend Jahren in Österreich vollziehen sehen (Müller 1916).14 Der Österreicher, aus deutschen, fremdstämmigen und fremdsprachi¬ gen Rassen abstrahiert, menschlich gebleicht, dann deutsch gefärbt f 1 hat Rasse. (Müller 1916).15 l"'J

Da der Österreicher "alle Abstufungen vom Arischen bis zum Reinmongolotschen ' aufweisen kann (Müller 1916)16, erwächst aus dieser Multinationahtat eine eigene Begabung und besondere Disponiertheit: der Österreicher ist "Eroberer", "Verführer zu sich" (wobei es nach Müllers Argumentation Sache des Eroberers ist, im Eroberten aufzugehen) und hat so kulturell assimilie¬ rende Wirkung.

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Robert Müllers Entwurf des Austrogermanen

Auf Fremde - ob nun Besucher oder vielleicht auch die Völker eroberter Länder - wirkt dies als "Verösterreicherung": Jede europäische oder asiatische Person, welcher Abstammung immer sie sein mag, unterliegt, sobald sie die Grenzen Österreichs überschritten hat, einem Zuchtprinzip. Sie gerät gleichsam in eine atmosphärische Ausstrahlung, unter der sie psychisch zergeht, von einem festeren in ein flüssigeres Aggregat schwindet, von einem schweren in ein leichteres Medium, dessen Urteilchen schneller, aber mit anderem Ausschlag schwingen. Ein kurzer Aufenthalt ge¬ nügt, um selbst an einem sehr eigensinnigen und strengartigen Charakter be¬ zeichnende Änderungen hervorzurufen. Ein Japaner, der in London oder Berlin auf einer geschlossenen japanischen Miniaturinsel im Strome dahintreibt, tritt in einer österreichischen Stadt aus sich heraus und in einen allgemeinen menschlichen Kreis hinein, der ihm behagt, ihm den Argwohn und die ideolo¬ gische Haltung nimmt und ihn in eine Stimmung nivelliert, demokratisiert. (Müller 19 io).17

Müller führt auch dies als Beweis für die kulturbildende Wirkung Österreichs an. Daß der Österreicher im Vergleich zum Deutschen der bessere Germane sei, leitet Müller unter anderem aus der Literatur und aus den besonderen österreichischen 'Verhältnissen’ ab. Eine Atmosphäre "die dem Einzelnen je¬ de auffallende Aktivität erübrigte und ihn für eine geschmeidige Auffassung des Lebens bereit machte" (Müller 1916)'* habe dafür gesorgt, daß in Öster¬ reich der interessante Mensch mehr gelte als der aktive oder der Wissen¬ schaftler; das orientalische Kaffeehaus läßt die sozialen Unterschiede ver¬ schwinden, es bringe "alle Schichten zur Fluktuation" (Müller 1916).'9 Zu dieser Mentalität passen die Habsburger, die Müller als

apart

bezeichnet,

denn "sie fesseln als problematische Naturen, als verzwickte Charaktere, als Seelen, als mystische, oft hieratisch versteifte Denker" (Müller 1916)20, und er vergleicht gar Rudolf 1. mit Woodrow Wilson. Zwar habe der Österreicher meist keine Geduld oder Liebe zur Ausführung seiner zahlreichen Pläne und Ideen, doch gerade in der Beschränkung auf das Intellektuelle sieht Müller das eigentlich Germanische 'herrisch-herrliche' des österreichischen Geistes, welches sich besonders bei Franz Grillparzer und dem oberösterreichischen Ferdinand Kümberger manifestiere und anziehend sei. Überhaupt die österreichischen Dichter: Der Österreicher ist der Spezialist für ein gewisses geistiges und künstlerisches Deutschtum. Daraus besteht seine Anziehungskraft, seine Schöpferkraft, aber seine Unvollkommenheit in jedem Stofflichem, das nicht dem Genüsse, das ist der geistigen Anregung, dient. (Müller 1916).21

Eva Reichmann

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Der Österreicher ist also der intellektuelle Germane, der Deutsche der eher technisch und praktisch veranlagte. Die Seele des Österreichers, speziell die der Dichter Nikolaus Lenau und Franz Grillparzer, ist "gesättigt mit steter Psychologie" (Müller 1916)22; Jo¬ hann Nestroy und Karl Kraus sind, als Ethiker und Dialektiker, sozusagen die Musterösterreicher. Es gibt auf dem ganzen Planeten keine Menschenkategorie, die das Sprechden¬ ken derart beherrschte wie der Österreicher. Diese Spezialität allein macht das Österreichertum innerhalb einer Weltkultur unüberwindbar. (Müller 1916).23

Diese österreichische Kulturfestung ist für Müller auf der Basis der von ande¬ ren Ländern so vielgescholtenen Völkermischung gebaut und entw ickelt sich durch diese vielfältigen Anregungen immer weiter. Aus der Multinationalität sind alle schöpferischen und künstlerischen Eigenschaften des Österreichers und seine großartigen - auch von anderen hoch anerkannten - Leistungen auf allen Gebieten der Kunst und Literatur, vor allem aber der Musik, hervorge¬ gangen. Die Vermischung mit den vielen Völkern der Monarchie macht den Österreicher somit zum besseren Germanen.

Die Multinationalität Österreichs "...ihm [Grillparzer] war klar, daß Deutsch-Österreich neben und mit Deutschland als mächtiger Staat bestehen, aber nur in seiner eigenen Art, in seiner vermischten und durch die Aufnahme anderer Völkerschaften von Deutschland verschiedenen Charaktereigenschaft bestehen könne, bestehen müsse...,'24 Österreichs Geschichte ist von Anbeginn die Geschichte eines Vielvölker¬ staates. Die Multinationalität Österreichs ist historisch gewachsen und war schon der Ausgangspunkt des Reiches, argumentiert Müller. Die Babenber¬ ger hätten bei ihrer Übernahme des heute österreichischen Gebietes ein 'Völ¬ kerchaos' aus einem slawomongolischen Mischvolk vorgefunden, welches sie teilweise - nach der Theorie vom Germanen als Idee - behutsam germanisiert hätten. Müller führt immer wieder an, daß nur eine Völkermischung kultur¬ bildend wirken könne; ein 'reinrassiges' Volk ohne fremde Einflüsse hinge¬ gen könne eine eigene Kultur gar nicht entwickeln, zumindest jedoch nicht weiterentwickeln. Die Mischung aus Hunnen, Awaren, Tschechen, Slowa¬ ken, Morawem, Podolen, Sorben, Mattyaren und dem germanischen Einfluß ist somit die Grundlage der österreichischen Kultur. In dieser Multinationa¬ lität liegt für Müller auch die Bedeutung und der Vorbildcharakter Öster-

Robert Müllers Entwurf des Austrogermanen

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reichs für die Zukunft: In eines Habsburgers Reich ging, lang vor dem angelsächsischen Globus, zum erstenmal die Sonne nicht unter. Wie ein roter Faden zieht sich die Lnternationalität Österreichs, die schon frühzeitig den Orient an den Okzident anschloß und vorderasiatische Völker ins Europäertum einschloß, durch seine Ge¬ schichte. Immer noch haben deutsche Österreicher für Welt, Menschheit und fremde Volksart gefühlt, und der Niederschlag davon zeigt sich in seiner klas¬ sischen Literatur. Für alles Menschliche ist der Österreicher der Mensch. Ihm sind im kleineren Probleme gestellt, die bald an alle Völker zugleich herantre¬ ten werden. (Österreich und die Menschheit 1918)25

"Die Rasse der Kulturschöpfer ist immer international" (Im Kampf um den Typus, 1918)26 argumentiert Müller auch noch im Angesicht des für die Monarchie verheerenden Kriegsendes und tritt so für den unbedingten Erhalt des Vielvölkerstaates ein. Der multinationale Charakter ist jedoch nicht nur Basis und Ausdruck österreichischer Kultur, er spiegelt sich auch in allen Erscheinungsformen ei¬ nes staatlichen Lebens positiv wieder: "Die Masse der Völker verleiht dem österreichischen Armeegeist einen in westlichen Staaten ungeahnten Tief¬ gang" (Müller 1914)27 womit sich Politik gestalten läßt. Der österreichische Katholizismus wird als "organischer Reflex des österreichischen Völkervie¬ len" dargestellt (Müller 1914).28 Österreich ist ein Fluidum, aus der mannigfachen Reibung von Rassen, Natio¬ nen, Sprachen entstanden. Dieses Fluidum haftet jedem einzelnen seiner Män¬ ner an. Es ist eine höhere gesellschaftliche Funktion, die Gesellschaft der Ge¬ sellschaftslosen, der Staat des Persönlichen, alle sozialen und staatsrechtlichen Begriffe scheinen gebrochen und laufen dennoch. (Müller 1917).29

Aus der Multinationalität erwachsen für Österreich, der besseren Hälfte des Germanentums in Europa, vor allem kulturstrategische Aufgaben, in erster Linie als Puffer gegenüber Asien und asiatischem Einfluß aus dem Osten. Österreichs Bedeutung für Deutschland sieht Müller in dessen Entlastung: "Österreich besorgt den näheren Osten und den Süden. Deutschland, nach dieser Richtung hin befreit, waltet der Welt." (Müller 1914).30 »Die Aufgabe Österreich-Ungams ist es, den deutschen Gedanken ins Mittelmeer zu tra¬ gen." (Müller 1914).31 Dies ist aber nur möglich, wenn der Vielvölkerstaat Österreich seine vielen Völker straff unter der germanischen Reichsidee zen¬ tral regiert und mit Deutschland ein Kulturabkommen verabredet. Der multinationale Staat Österreich ist nachahmenswert und Leitbild: durch ein entsprechendes kulturelles Abkommen mit Deutschland

streben

wir zu dem internationalen europäischen Rassestaat, zu dem unser so talen-

Eva Reichmann

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tiertes Österreich eine Ahnung ist: viele Sprachen, viele Völker, eine Rasse, eine Kultur!" (Müller 1915).32 Die Multinationalität muß deshalb unter allen Umständen beibehalten werden, Müller sieht in seiner idealisierten Vorstel¬ lung davon nur Vorteile darin: Die staatsgedankliche Geschlossenheit mehrerer Nationen ist eine stärker er¬ leuchtete und bewegte Fläche als die national einförmige. [...] Ein Staat mit gemischter Nationalität kann just der direkte Nachfolger der Reichspolitik ei¬ nes Karl des Großen sein. (Müller 1914).33

Ein Staat mit vielen fremden Einflüssen unter germanischer Leitung ist im¬ mer und auf jedem Gebiet 'kulturtreibend' und stellt keinerlei kulturelle Ein¬ schränkungen für die beteiligten Völker dar: "Die Kultursprachigkeit mehre¬ rer staatsgebundener Nationen verdrängt die Nationalsprache nicht, sondern belebt und befruchtet sie mittels Analogien." (Müller 1914).34 Zu einem ge¬ samteuropäischen Kultur- und Staatsgedanken ist gerade "das auf die Rasse¬ nidee gestützte und einheitlich inspirierte, national polychrome Österreich" das Vorbild (Müller 1914).35 Da es schon romanische, teutonische und slawi¬ sche Elemente zu einer Einheit verschmolzen hat, kann es auch zum Kristalli¬ sationspunkt für ganz Europa werden. Da die österreichischen Nationen musisch sehr hoch begabt sind, ist Öster¬ reichs vordringlichste Aufgabe die 'Kulturschöpfung', die Aufgabe des Deut¬ schen bezeichnet Müller 1914 als "Kulturwehr". Je stärker die multinationale Monarchie durch die politischen Veränderungen gefährdet wird, umso dring¬ licher beharrt Müller auf Österreichs kultureller Bedeutung und sieht 1916 die Aufgabe Österreichs in Kulturwehr und Kulturschöpfung, da diese beiden Aufgaben in Österreich ja durch die territoriale Lage identisch seien. Die Kultur nach dem Krieg wird zweifelsfrei eine österreichische sein. Der Austrozentrismus Müllers gipfelt schließlich in der Aussage, daß es - aufgrund des Versagens und Fehlverhaltens Deutschlands, welches sich im Verlauf des Krieges gezeigt habe - nur noch Österreichs Aufgabe sei, germanisch im Sinne des idealen Germanentums zu sein: "Da die Deutschen sich zu Preußen gründen, bleibt es nur einem übrig, deutsch zu sein, dem Österreicher " (Müller 1917).36 Müller verachtet den Liberalismus und verfolgt eine zentralistische Politik, welche die Existenz Österreichs zum Nutzen Europas sichern soll: In der Abhängigkeit der fremden Völker von einem magnetischen deutschen Kraftkern innerhalb Österreichs und in der Abhängigkeit Österreichs von einer leitenden, mit Deutschland ausbalancierten Kulturidee liegt das schöpferische Gesetz künftiger europäischer Gravitation beschlossen. Diesen Anziehungs¬ und Spannungskräften unseren Staat entziehen, heißt mehr, als nur ihn ver¬ nichten. (Müller 1914).37

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Die Erziehung der "Slawen und Mattyaren" zu europäisch-germanischer Kultur ist in diesem Rahmen eine Aufgabe für Österreich. Diese dürfte Öster¬ reich auch mühelos erfüllen können, da der Österreicher durch die Berührung mit fremden Völkern vor allem die Fähigkeit "Menschen fremder Herkunft zu sich zu bekehren" (Müller 1914)38 in außerordentlichem Maß entwickelt ha¬ be. Wieder ist es seine Multinationalität, die Österreich so zum Garant für die politische und kulturelle Stabilität Europas macht. Für Müller steht fest, daß die Zukunft Österreich gehört: Für das Deutschtum wird Österreich mit dem ersten Friedenstage die große Hoffnung. Das ist dem Deutschen mitzuteilen und dem Österreicher in Erinne¬ rung zu bringen. Ich glaube, Österreich, was es wirklich ist, was es für alle Welt bedeuten kann, wie es Zukunft macht, die ganze Umwertung, die es in der sozialen Anschauung heraufführen kann, dies alles kommt erst jetzt in seiner ganzen Tiefe und naturwahren Glorie zum Vorschein. [...] Die Neuzeit, zu der wir noch nicht einmal Mittelalter sind, wird sehr österreichisch aussehen. (Müller 1917)39

Österreich-Ungarn als Staat zum Völkervielen Der österreichische Staat ist für Müller die sinnfällig gewordene Idee, einen germanischen Kultur- und Entwicklungstyp auf Basis der Multinationalität zu schaffen. Ein Staat ist für Müller mehr wert als ein Volk oder eine Nation, denn seiner Ansicht nach kann sich nur in einem Staat eine form- und kultur¬ bildende Idee ausdrücken. Der österreichische germanische Staatsgedanke existiert laut Müller auf der Grundlage der Multinationalität, einer Sprachenvielfalt "bei einheitlichem Körperbau" (Müller 1914).4o Lobe ich einen Staat, so übernehme ich für seine Lumpe und Schafsköpfe keine Verantwortung; was unfehlbar geschieht, wenn ich schlechthin ein Volk lobe. Denn der Staat ist das gegliederte Volk; wobei es ganz gleichgültig bleibt, ob ein oder mehrere Völker in ihn vergliedert sind; die reichere Gliederung aus mehreren Völkern kann dem Staat sogar eine größere Organisationshöhe ver¬ leihen, als die einfache Ein-Volk-Gliederung. Man hat zwischen Land und Reich zu unterscheiden; Deutschland z.B. und Österreich tragen die Gliede¬ rungstendenz ihrer Staatsgedanken schon in ihren Namen, deren der österrei¬ chische das imperialistische Zentralmotiv stärker hervorhebt. (Müller 1914).41

Damit ist indirekt wieder die bessere, weil germanischere Haltung des öster¬ reichischen Staates gegenüber Deutschland bekräftigt. Aufgrund der multinationalen Basis sei Österreich

ein

Staat

mit

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"panslawischem Talent". Als Staat sei Österreich Garant für die Existenz al¬ ler übrigen Staatsgebilde in Europa; so müsse auch Serbien schon "aus Grün¬ den der Selbsterhaltung" bei Österreich bleiben. Allerdings fehlen dem öster¬ reichischen Staat nach Müllers Ansicht die für die aus der Multinationalität erwachsenden kultur-imperialistischen Aufgaben geeigneten Politiker: Der österreichische Staatsgedanke ruht territorial und kulturell, materiell und ideal auf gesunden Bedingungen und einer gleichmäßigen Geschichte, die erst in den letzten Jahrzehnten deutlich und sicher geworden ist. [...] Der kommen¬ den Generation liegt hier eine ethische Aufgabe bereitet. Die Entdeckung des imperialistischen Menschen steht bevor! Lasset uns über die einzelnen Spra¬ chen hinaus, in Kunst, Denken und Handeln den österreichischen Kulturcha¬ rakter prägen! Lasset uns ihn sein! Dann werden sich auch die Politiker finden, die, auf unsere Macht durchs ganze Land vertrauend, dem Sinnen in unseren Seelen praktisch den Weg weisen zu östlichen Kulturen: ans Mittelmeer! (Müller 1914).«

Müller hatte immer wieder beklagt, daß Österreich zur idealen Erfüllung sei¬ ner kulturstragtegischen Aufgaben wesentlich der Zugang zum Mittelmeer fehle. Der für Müller gegenwärtige Staat entspricht Müllers hohen ideellen An¬ forderungen jedoch nicht: "Was immer sich Staat nennt ist in Österreich schleppend, ungenau, ja leer, gleichwie ein halbmöbliertes, schön gelegenes Zimmer." (Müller 1916)« leitet Müller seine harsche Kritik an den bestehen¬ den Verhältnissen ein. Diese Mißstände sind seiner Ansicht nach auf den po¬ litischen Liberalismus zurückzuführen. Die Zukunft gehöre den Konservati¬ ven, womit Müller jedoch nicht konservativ im Sinne von fortschrittsfeind¬ lich versteht, sondern eine Neigung zum Erwerb alterprobter und längstge¬ übter Ideale" (Müller 1917).44 "Der heroisch-bürgerliche Mensch der Zukunft ist [...] ein Deutscher aus der Elohenstauffenzeit [...] sein Geist ist nicht mehr liberal sondern imperialistisch." (Müller 1917).« Selbstverständlich ähnelt dieser Mensch der Zukunft dem lebenden Österreicher. "Dem Staatsmann vielnationaler Staaten liegt es ob, diesen Kulturcharakter über die trennende Sprache hinaus als Ferment der Gesellschaftsgründung zu verwenden." (Müller 1914)« beschreibt Müller die Aufgaben eines österrei¬ chischen Politikers. Oberste Aufgabe des Staates jedoch ist die Beibehaltung des multinationalen Charakters, von dem die Zukunft in entscheidendem Ma¬ ße abhängt: Österreich wird keinerlei Sprachen verdrängen und keine, auch noch so kleine Völker ausrupfen; durch Wirtschaft im großen Stil (Dalmatien, Galizien, Bu¬ kowina!), vor allem durch seine hohe ausgebildete Intuition, seine schon aus Mischung entstandene Kunst und seine formende Sinnlichkeit aber müßte es

Robert Müllers Entwurf des Austrogermanen

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wenn die rechten weitblickenden Männer einer absoluten Kultur anträten, ein fremdsprachiges, ethnologisch schattiertes Deutschtum, einen überlegenen im¬ perialen Reichsmenschen erschließen können. [...] Heute schon stellt Öster¬ reich ein Vorbild dar, ein blendendes Stück Zukunftswelt in seiner Zukunfts¬ musik, der leichten Hand seines geselligen Bestandes, seinem Geiste, seiner Sinnlichkeit und Schönheit. Preußen dem anderen Deutschtum die Tüchtigkeit; Österreich die Schönheit; zusammen der Welt den Deutschen, einen Menschen. (Müller 1916)47

Das kulturstrategische Konzept des Österreichischen Staates sieht Müller durch die Auswanderungsbestrebungen "ganzer Völker" aus Galizien, Un¬ garn und Bosnien in die Vereinigten Staaten gefährdet, diese Volkskraft gin¬ ge Österreich verloren, weshalb man versuchen müsse, diese Völker in ihrer ursprünglichen Art als Kulturreservoir, eventuell in Form von Kolonien (Müller versteht, daß sie aus Mangel an Grund und Boden auswandem), für Österreich zu erhalten (Müller 1914).48 Den Gedanken der österreichischen Kolonien zum Erhalt des österreichischen Völkervielen greift Müller, auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie, wieder auf. In Der Kolonial¬ mensch als Romantiker und Sozialist 19194? schreibt er: "Afrikanisch¬ österreich ist geradezu die ideale Lösung aller donaustaatlichen sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen." Nur eine straffe zentralistische Politik kann den Staat Österreich zur Voll¬ endung seiner kulturpolitischen Aufgaben führen. Österreich hat große Aufgaben zu leisten. Manches hat es erwirkt, mehr wird es erwirken müssen. Es hat den germanischen Grundgedanken seiner Staatenbil¬ dung nach Osten und Süden zu tragen; slawischen Nationen zur Sonne zu hel¬ fen; den gemeinsamen österreichischen Charakter, als dessen Stimmungsbe¬ griff "Musik" gelten mag, zu prononcieren. Als jene Gesellschaft, die am stärk¬ sten unter der Zersetzungsarbeit des emanzipierten Juden leidet, hat es eine Entscheidung dieser drängenden Frage heraufzuführen. Diese Leistung kann nur durch straffe innere Zentralisation und energische Außenpolitik durchge¬ führt werden. (Müller 1914)5Ü

In diesem Zusammenhang scheint es angebracht, kurz auf Mülleis Position in Bezug auf die jüdische Bevölkerung der Donaumonarchie einzugehen. Hier sei nur soviel zu dem, von der Sekundärliteratur immer wieder in Müllers Werk bemerkten, Antisemitismus angemerkt: Müller lehnt jede Assimilation einer ausgeprägten Kultur ab; deshalb lehnt er in seiner Argumentation die Assimilation der Juden ab, da seiner Ansicht nach so die zweifellos beste¬ hende hohe Kultur der orthodoxen Juden zerstört werde. Die Aufrechterhal¬ tung einer jüdischen Kultur innerhalb Österreichs kann jedoch aufgrund von Müllers These, daß der Österreicher auf jede Nation kulturell und mental as¬ similierend wirke, nicht garantiert werden; als Ausweg schlägt Müller vor.

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einen eigenen jüdischen Staat im Osten zu errichten, um den Juden so den Status des 'Fremden' und einer eigenen Kultur (und einem der Kultur entspre¬ chenden Staat) zu ermöglichen. Während andere Nationen keine eigene Kul¬ tur hervorgebracht hätten (Müller nennt an verschiedenen Stellen vor allem die Serben und Mattyaren), durch ihre 'Verösterreicherung' also kein Schaden oder Verlust entstehe, sieht er durch die Assimilation konsequenterweise die orthodoxe jüdische Kultur - die als solche schützenswert ist - gefährdet.

Ablehnung von Nationalismus Wem man in neuester Zeit gar soviel Wesens von der Bewahrung der Na¬ tionalitäten macht, so sollte man bedenken, daß, was die Nationen unterein¬ ander scheidet, mehr ihre Fehler als ihre Vorzüge sind, und wenn Vorzüge, gerade ihr Hervortreten eine Übertreibung oder nicht gesunde Mischung be¬ urkundet. "51

"Sein Volk lieben heißt nicht, jedermann dieses Volkes lieben, sondern sei¬ nen höchsten Typus" (Müller 1914)52 Der nationalistische Gedanke jedoch ist laut Müller numerisch und nivelliert; Volk wird so zu einem Begriff für Durchschnitt und Mittelmaß. Nur innerhalb eines Staatsgedankens kann Müller Nationalismus akzeptieren, da er sich so in sinnvollen Bahnen bewe¬ ge. Nationalismus außerhalb eines Staatsgedankens "ist national, indem er Hinze und Kunze hebt", innerhalb eines Staatsgedankens jedoch strebe der Nationalismus "zu einer Gesellschaft Goethes und Schillers" (Müller 1914) 53 Aus diesem Grund würde auch "ein tschechischer oder mattyarischer Staat seine Sohne nicht sonderlich beglücken", da diesen Völkern Her

Müller lehnt nicht nur den Nationalismus und die Weg-von-Österreich-

TüH“ ^“1"“ VÖlker *5 Donaumonarchie ab, er spricht sich aus

XuT a;!i,eiS Pie“" ?b,.es kd“ Kul,ur' W» Feistigkeit, keine Ge-

Seilschaft, die, noch schäbig, doch inn höherem höherem Maße Maße einen Keim zum Kommenden bildete als Österreich. Es wäre ein Fehler, das Räsonnement, das

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Österreich kennzeichnet, etwa durch preußisches Tun abhärten, "stählen" zu wollen. Nicht um ein Haar soll es anders werden. (Müller 1917)55

Eine Vorherrschaft Deutschlands in Europa lehnt Müller - trotz seiner Favorisierung des Germanentums - rundweg ab (vgl. Daimlerpolitik. 1918).56 Vielmehr müsse man sich zu einem Ordnungsverhältnis durchringen "das je¬ de völklerische Vorherrschaft ausschließt, aber die Zusammenarbeit zugun¬ sten jedes Volkes, auch des kleinsten, sichert " (Der deutsche Kurs, 1918).57 "Der nationale Standpunkt muß zugunsten des [...] menschlichen überwunden werden " (Der Zusammenbruch des Nationalismus, 1918).58 Nur ein Natio¬ nalitätenstaat garantiert laut Müller einen produktiven, kulturerzeugenden Austausch der verschiedenen in ihm vereinigten Völker. (Politische Phanta¬ sie, 1916).59 Als Beispiele für Nationalitätenstaaten und deren Vitalität nennt Müller Großbritannien, Rußland und selbstverständlich Österreich. Nationa¬ lismus als Deckung von Staat und Nation existiert für ihn nur in Spanien oder Portugal, und kann deshalb nur dort akzeptiert werden. Das Eingehen von österreichischen Politikern auf nationalistische Bestre¬ bungen einzelner Völker bezeichnet Müller als nationale Verirrung: Sie zweigen in die verschiedensten Detailwünsche aus, die alle, ob deutsch, sla¬ wisch oder mattyarisch, die Tendenz haben, ihr nationales weltgeschichtlich berechtigtes Programm nicht innerhalb des Staatsgedankens, sondern gegen ihn durchzuführen. (Müller 1914).60 Müller erkennt die Wünsche der einzel¬ nen Völker also durchaus an, will sie aber innerhalb der multinationalen Monarchie erfüllt sehen. Nur eine strenge, zentralistische Politik könne die verirrten Völker der Monarchie zur Ordnung rufen und den germanischen Staats- und Reichsge¬ danken retten: "Straffe Zentralisation zugunsten der zu kurz gekommenen Nationen!" (Müller 1914)61 plädiert Müller und versucht mit der Begrün¬ dung, daß die nicht-germanischen Völker der Monarchie sich aus nationali¬ stischen Motiven gegenseitig schlecht behandelt hätten (Mattyaren, Polen und Türken hätten die Serben unterdrückt, Polen die Ruthenen mißhandelt, die Mattyaren wiederum die Kroaten und Slowaken schlecht behandelt - sie sind also die eigentlich am Kriege Schuldigen) die Rechtmäßigkeit einer germanischen Zentralregierung argumentativ zu untermauern; nur diese allein sei fähig, dieses Chaos aus Ungerechtigkeiten zu ordnen und den Vielvölker¬ staat zu erhalten.

Müller, der Monarchist Müllers idealer, zentralistisch regierter Vielvölkerstaat ist keine Demokratie,

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sondern für ihn nur in Form einer Monarchie denkbar. Die monarchistische Idee wird für Müller jedoch nicht durch den Kaiser am besten vertreten, son¬ dern ist durch den Kronprinzen personifiziert. Der Prinz ist laut Müller, auch wenn er volkswirtschaftlich betrachtet nutzlos ist, schon alleine als Erschei¬ nung wertvoll, denn er verkörpert einen "poetischen Wert eines Volkstums", und bedarf aus diesem Grunde keiner weiteren Rechtfertigung mehr. Als Verkörperung eines poetischen Wertes eines Volkstums avanciert der Prinz gleichermaßen zu einem der höchsten Kulturgüter eines Volkes oder einer Völkervereinigung. "Der Prinz ist ein Symbol für einen Lebenswillen und als solcher auch der modernen Gesellschaft noch sinngemäß." (Müller 1914)62 Vor allem aber verkörpert der Prinz sichtbarlich das Germanentum in an¬ nähernd idealer Form: Nur in der österreichischen Aristokratie sieht Müller noch die "herrlich-herrischen" germanischen Züge und den entsprechenden Körperbau, welche die Babenberger einst zu den Herren über das slawomongolische Mischvolk der Donauregion gemacht hatten. Seinem germanisch in¬ spirierten Schönheitsideal entsprechend, sind für Müller deshalb auch die Aristokraten die schöneren Österreicher (Müller 1914).63 Majestät an sich ist laut Müller eine urgermanische Idee und Ausdruck der germanischen Volksseele, weshalb der Despot eines Mongolenclans nicht majestätisch sein könne. "Die jeweiligen habsburgischen Prinzen mit dem Kaiser an der Spitze sind die edelsten Germanen in diesem Reich." Die Reichsidee selbst ist ebenfalls germanisch; Rudolf von Habsburg bändigte das Völkerchaos mit Hilfe der germanischen Reichsidee und machte es nur so zu einem kulturerzeugenden multinationalen Staat. Ohne den Prinzen als di¬ rekten Nachfolger derart glänzender historischer Gestalten sieht Müller die Kulturordnung in Österreich schwer geschädigt. Der wirkliche historische Wert einer Nation oder eines Staates läßt sich nach seiner Argumentation nicht an dem Stand der wissenschaftlichen Errungenschaften ablesen, viel¬ mehr sei die Existenz eines Prinzen und die Stellung dieses Prinzen innerhalb der Gesellschaft hierfür der geeignete Maßstab. Müller geht sogar so weit, das Ende der amerikanischen Nation zu prophezeihen, da die Amerikaner das Wesen der Prinzenschaft nicht verstehen: "Sie werden in erschreckend kurzer Zeit untergehen, ohne eine Kultur erzeugt zu haben." (Müller 1914)64 Ein Leben ohne Monarchie scheint Müller sich nicht vorstellen zu können: Er ist überzeugt, daß auch die Serben in ihrer großserbischen Politik nicht ei¬ ne Abschaffung der Monarchie bezwecken, sondern diese lediglich von ih¬ rem Standpunkt aus neu schaffen wollen (Müller 1914).« Da die Majestät aber eine germanische Idee ist, kann eine Monarchie ohne einen germani¬ schen Regenten nicht kulturfördem und kulturbildend wirken. Robert Müller vertritt in einer Zeit, als durch den Ausbruch des 1 .Weltkrieges und den aufkeimenden Nationalismus etlicher Völker der

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Monarchie das Ideal einer multinationalen Monarchie unter zentraler 'germa¬ nischer' Regierung nur noch als konservative Utopie bezeichnet werden kann, eine zentralistisch-monar-chistische Politik, welche zwar Toleranz gegenüber den nicht-germanischen Völkern der Monarchie und Multinationalität als Rahmenkonzept hat, die kulturelle und politische Vorherrschaft des 'Germa¬ nischen' jedoch als Grundlage des Bestehens und der kulturellen Größe des Staates betrachtet. Aufgrund der These Müllers, daß nur das produktive Zu¬ sammenleben vieler Völker Kultur entstehen läßt, zugleich aber der 'Germa¬ ne' allein die Fähigkeiten besitze, Völker zu leiten ohne sie zu unterdrücken, wird für Müller das durch einen 'germanischen' Monarchen zentral regierte Österreich zum Ausgangs- und Kristallisationspunkt jeder kulturellen und politischen Entwicklung in Europa, und so vielleicht auch zum Vorbild für die ganze Welt.

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Literatur

1 Robert Müller, Gesammelte Essays. Hrsg. Michael Matthias Schardt, Paderborn 1995, S.

22 2 Grillparzers Werke in drei Bänden, Bd. 1, Berlin 1980, S. 44 3 Alle Essays in: Robert Müller, Gesammelte Essays, Paderborn 1995 4 Grillparzers Gespräche und Charakteristiken seiner Persönlichkeit durch die Zeitgenos¬ sen. Hrsg. August Sauer, Wien 1904-1910. Hier Band 1, S. 395 5 Müller, o.a., S. 25-29 6 Müller, o.a., S. 8 7 Müller, o.a., S. 88 8 Müller, o.a., S. 88-91 9 Müller, o.a., S. 32 10 Müller, o.a., S. 130 11 Grillparzers Gespräche, o.a., Bd. 1, S. 157 12 Müller, o.a., S. 68 13 Müller, o.a., S. 145 14 Müller, o.a., S. 147 15 Müller, o.a., S. 151 16 Müller, o.a., S. 147 17 Müller, o.a., S. 143 18 Müller, o.a., S. 152 19 Müller, o.a., S. 153 20 Müller, o.a., S. 153 21 Müller, o.a., S. 168

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22 Müller, o.a., S. 189 23 Müller, o.a., S. 189 24 Grillparzers Gespräche, o.a., Band 4, S. 153 25 Robert Müller. Kritische Schriften Band 2, Hrsg. Emst Fischer, Paderborn 1995, S. 113 26 Müller, Kritische Schriften, o.a., S. 101 27 Müller, Gesammelte Essays, o.a., S. 61 28 Müller, o.a., S. 61 29 Müller, o.a., S. 275 30 Müller, o.a., S. 23. Müller dürfte mit diesen Ansichten in seiner Zeit nicht allein gestan¬ den haben. So heißt es in dem 1907 in Leipzig erschienenen historischen Werk Österreichs innere Geschichte von 1848-1907 von R. Charmatz (Band 2, S. 65). Der DeutschÖsterreicher strebt mit Recht nach der politischen Führerschaft und soll die Interessen des Germanentums im Orient wahren, in dem er als Bindeglied des Germanentums und des Slaventums das Aufeinanderplatzen derselben verhindert." 31 Müller, o.a., S. 22 32 Müller, o.a., S. 131 33 Müller, o.a., S. 37 34 Müller, o.a., S. 38 35 Müller, o.a., S. 42 36 Müller, o.a., S. 269 37 Müller, o.a., S. 24 38 Müller, o.a., S. 20 39 Müller, o.a., S. 278 40 Müller, o.a., S. 43 41 Müller, o.a., S. 30-31 42 Müller, o.a., S. 47 43 Müller, o.a., S. 161

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44 Müller, o.a., S. 206 45 Müller, o.a., S. 205 46 Müller, o.a., S. 36 47 Müller, o.a., S. 190-191 48 Müller, o.a., S. 74 49 Müller, Kritische Schriften, o.a., S. 230 50 Müller, Essays, o.a., S. 79

0A°S 230*"

Ta8ebüche[ ln: GrillP"zers Wtrke 'S. Teil, Hrsg. Stefan Hock, Berlin

53 Müller, o.a., S. 30 54 Müller, o.a., S. 19 55 Müller, o.a., S. 277

57 Müller, Kritische Schriften, o.a., S. 144 58 Müller, Kritische Schriften, o.a., S. 135

19»,“. 23H3r SChrlfien ^ '• H"e 60 Müller, Essays, o.a., S. 31 61 Müller, o.a., S. 69 62 Müller, o.a., S. 9 63 Müller, o.a., S. 16 64 Müller, o.a., S. 9 65 Müller, o.a., S. 68

H'"”eS “"d »S“ Berners, Paderborn

Armin A. Wailas (Klagenfurt)

Aufzeichnungen aus der Welt der Exterritorialen, Lebensflüchtlinge und Vorstadt-Ahasvers Albert Ehrensteins (un)sentimentale Reise in die Untergründe Kakaniens

1 Metropole und Peripherie - Orte der Ausgrenzung Seine Kindheit und Jugend verbrachte der expressionistische Lyriker, Erzäh¬ ler und Essayist Albert Ehrenstein im Wiener Vorort Ottakring. Der Arbei¬ terbezirk mit relativ geringem jüdischem Bevölkerungsanteil, in dem er 1886 geboren wurde und in dem sein Vater, Alexander Ehrenstein, als Brauerei¬ kassier tätig war, bildete gewissermaßen eine 'Provinz' innerhalb der Gro߬ stadt, einen Lebensbereich, in dem der junge Schriftsteller täglich mit sozia¬ lem Elend, kleinbürgerlichen Ressentiments und Antisemitismus konfrontiert wurde. Ein weiteres Erfahrungsfeld öffnete sich ihm in der (zur ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie gehörigen) Slowakei - genauer: In Vrädiste bei Hohe, dem Geburtsort seiner Mutter Charlotte Ehrenstein gebo¬ rene Neuer, wo er häufig die Ferien verbrachte.' In dieser Atmosphäre bildete sich Ehrenstein zum poetischen Historiker der ”ungeschriebene[n] Mensch¬ heitsgeschichte" heran2, wie einer autobiographischen Skizze zu entnehmen ist: "Am 22. Dezember 1886 geboren und aufgewachsen im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring, lernte ich früh materielle Ausbeutung kennen, während der Schulfe¬ rien nationale Bedrückung in der damals zum magyarischen Globus gehörigen Slowakei. Später bestätigte Studium österreichischer Geschichte diese Kind¬ heitseindrücke."3

Die Außenseiterrolle war zudem eine sprachlich vermittelte, wie Ehrenstein in einem Brief an seinen nach Großbritannien emigrierten Bruder Carl rück¬ blickend resümierte: Wir lebten in einem weder Ottakringer noch Leopoldstädter Ghetto, ohne nähe¬ ren Kontakt mit Juden oder Ariern; der Einfluß der Wien-Vradister [sic!] Spra¬ che wurde bei Dir durch Handelsschulung gekräftigt [,..].4

In den Kindheitslandschaften bzw. -orten Wien (Ottakring) und Slowakei (Vrädiste) begegnete Ehrenstein den Untergründen und Kehrseiten der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie. Nicht die ornamental verkleideten Fassa-

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den der Ringstraßenkultur interessierten ihn, sondern deren Hinterhöfe, jene peripheren — ausgegrenzten — Bereiche, in denen er den Spuren des Abgrün¬ digen, Verdrängten, Mißachteten und Gedemütigten nachforschte. Ehren¬ steins frühe Erzählungen und Gedichte entwerfen Topographien des Schrekkens, der sich im vordergründig Unscheinbaren und Alltäglichen verbirgt. Solcherart stellen die Texte — "erfüllt vom Leid der Welt, von Visionen des Grauens, vom Elend der Kreatur, von Düsterkeit, Schrecken und Bitternis"5 eine Kontrastfolie zu den (zumeist retrospektiv konzipierten) Mythisierungsversuchen der Habsburgermonarchie dar. Ehrensteins Beschreibungsversuche der ’kakanischen' Lebensrealität arbeiten auf unspektakuläre Weise das Kon¬ fliktpotential, die Heterogenität und die Brüche einer krisengeschüttelten Kultur heraus.6 Aufschlußreich für Ehrensteins Verfahrensweise, das Hervorbrechen bzw. die Anwesenheit des Untergründigen im Alltäglichen sichtbar zu machen, sind vor allem jene - während seiner Wiener Gymnasial- und Studienzeit ent¬ standenen - Erzählungen, die er in seinen späteren, in New York verbrachten Emigrationsjahren zu einer fiktionalisierten Autobiographie zusammenstellen wollte. In diesen Texten beschreibt er minuziös die soziale und existentielle Krise seiner Zeit - die latente Gewaltbereitschaft, die Wirkungsmechanismen von Feindbildern, die Ausgrenzung von Außenseitern, das Elend der Proleta¬ rier, die Einsamkeit des Menschen in der Großstadt -, aber auch den Utopie bleibenden Wunsch nach Entgrenzung sowie das Scheitern der aus der Tri¬ stesse des Alltags unternommenen Ausbruchsversuche. In einem treffenden Vergleich spricht der Literaturkritiker Hugo Wolf davon, daß Ehrenstein die österreichische Realität "kalt wie der Arzt mit dem Seziermesser" analysiert sie der "Säure des spürenden Intellekts" aussetzt.? Diese in Ich-Form erzähl¬ ten Texte tragen zwar autobiographische Züge Ehrensteins, dennoch muß zwischen Autor-Ich und Erzähler-Ich sorgfältig unterschieden werden. Eh¬ renstein weist der Figur des Ich-Erzählers eine artifizielle Rolle zu, die es ihm ermöglicht, das Geschehen aus der Perspektive eines (scheinbar) naiven eobachters/Teilnehmers (= Kind oder Jugendlicher) darzustellen. Beispielsweise berichtet der Ich-Erzähler der Anfang 1911 entstandenen mJet; Fackel erstveröffentlichten Erzählung Zigeuner« über den Schandfleck meines Lebens", als er als Kind wegen seiner kalligraphischen Fähigkeiten dazu ausersehen wurde, ein Majestätsgesuch zur Anschaffung einer Spritze für eine Dorf-Feuerwehr zu verfassen, woraufhin die Hütte des lgeuners Tonek angezündet wurde, um das neue Löschgerät auszuprobieren Die Handlung spielt in dem fiktiven Ort Motschidlan, in dessen Beschrei¬ bung man Erinnerungen an das slowakische Vrädiste wird vermuten dürfen Der jüdische Junge, der wegen seiner Schreibfähigkeiten (Anspielung auf die jüdische Tradition der Schnftgelehrsamkeit) ungewollt zum Werkzeug eines

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Pogroms wird, leidet als einziger der Beteiligten unter Schuldgefühlen und wird in seinen Träumen von Schreckensbildem gepeinigt, in denen er selbst zum Pogrom-Opfer wird und das Leiden des Zigeunerknaben Matjin wieder¬ holt, der vor Hunger tote Frösche gegessen hatte und daran gestorben war: Wenn ich schlafe, träume, [...] geht meine Hütte in Flammen auf und eine sün¬ dige Faust reißt mich, den schon Versengten, beim Haar aus dem Feuer. [...] Die blutige Staubkruste an den Füßen des kleinen Matjin kann ich nicht weg¬ denken. Und wenn ich sterbe, und man meinen Magen aufschneidet, wird man tote Frösche in ihm finden.

Die Selbstanklage des Erzählers bemißt seine Schuld nicht an den Kriterien des Strafrechts, denen zufolge er unschuldig wäre, sondern an den höheren Maßstäben seiner persönlichen moralischen Verantwortung. Ehrenstein analysiert jedoch nicht nur die Gewissensqualen des IchErzählers, der sich das bedrängende Kindheits-Erlebnis in Erinnerung ruft, sondern zeichnet in knapper, unsentimentaler Form eine komprimierte Sozi¬ alstudie über die Diskriminierung von Außenseitern. Die Zigeuner von Motschidlan hausen "nahe dem übelriechenden Schlachthaus, hart am Sumpf', ernähren sich von Abfällen, werden für ihre Handlangerdienste beim Schlachten statt mit Geld "mit Schimpfwörtern belohnt", bis ihnen "die er¬ sehnten Kaldaunen" - die Eingeweide der geschlachteten Tiere - "an den Kopf geworfen" werden, und auch bei der "Teilung des Tanz- und Trinkgel¬ des" kommt der alte Tonek, der auf Kirchtagen mit der Baßgeige spielt, "zu kurz". Auf exemplarische Weise verdichtet sich im Schicksal zweier Zi¬ geunermädchen die Schuld einer Gesellschaft, die den Ausgestoßenen das Lebensrecht verweigert: Die zwei Zigeunerdimen, als sie zwölf Jahre alt waren, stieß man vor die Brust, die Halbnackten schrien in ihren Fetzen: "Mammi!", so lange, bis sie das Offi¬ zierskorps der nächsten Garnison erhörte. Eine Weile humpelten sie noch mit Kinderskeletten auf dem Buckel umher, dann kam die Schwindsucht, dörrte sie und ließ sie ins Grab fallen.

In sarkastischem, nüchtern berichterstattendem Ton seziert Ehrenstein die In¬ humanität der Sozialordnung und die zerstörerischen Auswirkungen gesell¬ schaftlicher Diskriminierung. 1909 verfaßte Ehrenstein die Erzählung Mitgefühl9, die ebenfalls in der Fackel erschien und die er in einer späteren Version - unter ironischer An¬ spielung auf den gleichnamigen Titel eines Romans seines frühen Mentors Arthur Schnitzler - mit der Überschrift Der Weg ins Freie versah.10 Der Text berichtet über einen Spaziergang des Ich-Erzählers durch den Wiener Indu¬ strie- und Arbeiterbezirk Ottakring, wo der Flaneur unvermittelt das Elend

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der Proletarier zu Gesicht bekommt. Obwohl Ehrenstein auch diesen Text in seine 1943 konzipierte Autobiographie aufnehmen wollte, besteht zwischen empirischem Ich und Erzähler-Ich ein deutlicher Kontrast. Im Unterschied zu Ehrenstein, der in der Ottakringer Straße 114, gegenüber der Brauerei der Brüder Kuffner, in der sein Vater beschäftigt war, aufgewachsen ist, ist die Gegend für den fiktiven Ich-Erzähler "bis dahin unbekannt geblieben". An¬ ders als Ehrenstein, der sein in der Kindheit erfahrenes Leid in den bitteren Versen: Ich kenne die Zähne der Hunde, in der Wind-ins-Gesicht-Gasse wohne ich, ein Sieb-Dach ist über meinem Haupte, Schimmel freut sich an den Wänden, [-]

"Töte dich!" spricht mein Messer zu mir. Im Kote liege ich; hoch über mir, in Karossen befahren meine Feinde den Mondregenbogen...11

zusammengefaßt hat, gerät der Ich-Erzähler des Prosatexts Mitgefühl zufällig, auf einem ziellosen Spaziergang, ausgelöst durch ein flüchtiges Frauenerleb¬ nis, nach Ottakring. Nach dem Muster der Jahrhundertwende-Ästhetizisten, die die Erscheinungen der Außenwelt bestenfalls als Spiegelung ihrer Innen¬ welt wahmahmen, war der Ich-Erzähler - wie die einleitenden Sätze des Textes vermuten lassen - in seinem bisherigen Leben auf die Betrachtung seiner narzißtischen Persönlichkeit beschränkt geblieben. Bei seinem Spa¬ ziergang durch Ottakring wird er nun erstmals mit der Härte der sozialen Realität konfrontiert, die ihn mit unmittelbarer Wucht erfaßt, und seinem ge¬ wohnten Lebenskonzept den Boden zu entziehen droht. In den Beobachtungen des Flaneurs, der die Peripherie der Stadt wie eine exotische Landschaft durchstreift, spiegeln sich die materiellen, körperlichen und psychischen Nöte der sozial deklassierten Bevölkerungsschichten. Dem Ei Zähler schlagen üble Gerüche und Staub ins Gesicht, er beobachtet Kinder mit "merkwürdig dünne[n] Armefn], merkwürdig große[n] Köpfe[n], Hökkerfn] und Ausladungen mannigfaltigster Art" sowie andere Kinder, die in einem schmutzigen Tümpel baden und in Bedürfnisanstalten "Fangerl" spie¬ len, und sieht den derben Freizeitvergnügungen der Arbeiter und Dienstmäd¬ chen zu; im Schatten einer Wiese begegnet er den "vom Gebären erschöpf¬ te^ Frauen, die schon wieder schwanger sind", und alten Frauen die sich an ihre Jugend erinnern, als sie "aus der Schande der Arbeit in die kurze Ewig¬ keit, in das Asyl der Lust geflüchtet" waren. Der vermeintliche 'Weg ins Freie enthüllt sich auf groteske Weise als eine Reise in die Abgründe der

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Vorkriegsgesellschaft. Wie genau Ehrenstein das soziale Elend in Wiens in¬ dustrialisierten Vororten beschreibt, belegt ein Blick in die Statistik der Wohnverhältnisse: Um 1900 bestanden 11% der Ottakringer Haushalte aus Einzelräumen und 61% aus Zweizimmerwohnungen; zudem lebten in zirka 15% der ohnehin schon überfüllten Wohnungen - selbst in den Einzelzim¬ mern - familienffemde Bettgeher.12 Inmitten dieser Welt der »Armut, der Krankheit und des fremdbestimmten Lebens artikulieren Kinder ihre unerfüllten Sehnsüchte in Form imaginärer, ohne Antwort bleibender Kommunikationsspiele, ln der Schlüsselszene der Erzählung Mitgefühl wird ein Spiel der Kinder beschrieben, die die Röhren und Öffnungen der Kanalisation als 'Telefon' benutzen, indem sie bei einem Kanalgitter etwas hineinrufen, das von anderen bei der nächsten Kanalöff¬ nung gehört wird: "I möcht Erdbeer" schrie ein Kind in den stinkenden Kanal hinab... und da es nicht Weihnachten war [...] steht zu befurchten, daß der Wunsch nicht in Er¬ füllung ging. Der beim andern Gitter dürfte: "Ja" geantwortet haben... Beide konnten ihr Ideal - denn es gibt kein tieferes Symbol für den Begriff "Ideal" und alles Streben der Menschheit, der Wirklichkeit zu entrinnen, als seine Sehnsucht nach Erdbeeren in ein Kanalgitter hinabzurufen - ich sage, beide konnten ihren Wunsch nicht erfüllt sehen.

Wie sehr Ehrenstein an dieser Stelle sein eigenes utopisches Denken zum Ausdruck bringt, belegt ein Brief an Karl Kraus vom 4. Januar 1912, in dem er Kraus' Unterstützung bei der Veröffentlichung seines ersten Buches Tubutsch (1911) und dessen Besprechung des Buches in der Fackel mit der Er¬ füllung des Wunsches "I möcht Erdbeer" vergleicht.13 Im Wunsch nach Erd¬ beeren - als Symbol für das Unerreichbare den die Arbeiterkinder in die Kanalisation - als Symbol für die Unterwelt der Gesellschaft, den Ablage¬ rungsort ihres Unrats, ihrer Verdrängungen und Aggressionen - hineinrufen, kristallisiert sich ein Ansatzpunkt utopischen Denkens, dessen Irrealität sich in seiner Flüchtigkeit und seiner spielerischen Funktion enthüllt. Der Ruf der Kinder richtet sich - ebenso wie Ehrensteins spätere Briefe an Gott (1921) — an eine unsichtbare Kommunikationsinstanz, hinter der ein 'verborgener Gott’ vermutet werden kann, in erster Linie drückt sich hierin jedoch der Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Utopien oder metaphysischen Konstruktionen aus. Der in den Briefen an Gott emporgeschleuderte Leidensschrei bleibt ebenso ohne Antwort wie der Sehnsuchtsruf der Arbeiterkinder. Aus der Perspektive des 'Lebensflüchtlings'14 gesehen, der dem Elend und den Deformationen der Alltagsrealität eine selbstkonstruierte 'andere' Wirk¬ lichkeit - eine Welt der Phantasie und des Rollenspiels, aber auch des Wider¬ stands und der Verweigerung - entgegensetzt, erscheint 'Gott’ in der Rolle ei-

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nes 'Schaufensterdekorateurs', der "seine göttliche Welt [...] nicht für mich ar¬ rangiert" hat. Diese Worte legt Ehrenstein dem Erzähler der Travestie Erzie¬ hungsroman in den Mund.15 Dieser kurze Prosatext parodiert die literarische Gattung des Bildungsromans; hinter Spott und Sarkasmus verbirgt sich je¬ doch die existentielle Not des Erzähler-Ichs, eines Waisenknaben, der den letzten und einzigen Ausweg aus seinem erbärmlichen Dasein im Selbstmord zu finden vermeint. Durch "Gitter getrennt von der wilden Welt", eingeker¬ kert in eine Anstalt, verbringen die Waisenkinder "karge Tage der Kindheit und geschändeten Jugend"; selbst in den seltenen Momenten scheinbarer Freiheit erfahren sie die Demütigung, dem voyeuristischen Blick der Passan¬ ten preisgegeben zu werden: Wenn eine Herde von uns, bleichbackig, uniform vom grau in grau des Nebels gekleidet, unmunter die Vorortsstraßen durchstrich, fühlbar rottete sich das Mitleid in vorübergehenden Eltern zusammen und ballte sich zu Prügeln an die eigenen Kinder: "Sei folgsam und brav, Werner, sonst stirbt auch dir dein Vatti beziehungsweise Mutti."

In der Phantasie flieht der Knabe - aufgestachelt von der Lektüre der India¬ nergeschichten Karl Mays und Daniel Defoes Robinson Crusoe - mit Papiersegeljn]" auf "eine selige, selig lehrerlose Insel". Anstatt das ersehnte Utopta zu finden, wird er jedoch mit brutaler Wucht in die Anstaltsrealität zu¬ rückgeworfen: Aber statt des Eilands ward mir nur Influenza, Strafe und die späte Erkenntnis daß die Städte, in denen ich geboren zu werden pflege, von Kanälen triefen' Die stolzen Ströme weichen ihnen aus.

Vor die Alternative Selbstmord oder Leben gestellt, schwankt der Erzähler zwischen zwei Übeln, die beide keine Erlösung erwarten lassem "Der Selbstmörder hmtersinnt sich nachdenklich: soll er nicht Universitätsiahre riskieren und Syphihsangst und noch einen Selbstmord?" Das Leben - der 'andere Tod', wie es am Schluß der antikisierenden Er¬ zählung Apaturien heißt» - dieses resignative Resümee könnte als Motto über den meisten der frühen Texte Ehrensteins stehen. Die Protagonisten ir¬ ren ziellos durch ein Leben, das von der Wiederkehr des immer Gleichen (d.fr immer gleich Tristen) beherrscht ist. Karl Tubutsch etwa - "ein durch die Wiener Vorstadt getriebener Ahasver, begabt zum Scheitern und zur Verachtung dieses Scheitems" und ein "Chronist der bösen Belanglosigkeit" wie ihn Karl-Markus Gauß nennt»7 - kauft ein Straßenverzeichnis von Wien um sich für einen Augenblick der Illusion hingeben zu können, das Chaos’ der Außenwelt entwirren zu können:

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Leute wie ich, deren Schwerpunkt außer ihrem Selbst liegt, irgendwo im Uni¬ versum... jedem Eindruck hingegeben sind wie Wachs... die müssen ihr Sensorium unaufhörlich füttern und sei es mit Geschäftsschildem, um über die gäh¬ nende Leere hinwegzukommen.18

Unermüdlich wandert der Wiener Vorstadt-Ahasver19 Karl Tubutsch durch die Stadt, unablässig das Periphere protokollierend.20 Seine Reisen vollzie¬ hen sich 'im Kleinen', sein Blick richtet sich auf das Unscheinbare - auf Ge¬ schäftsschilder etwa oder auf zwei in einem Tintenfaß ertrinkende Fliegen, auf einen parfümierten Wachmann und anderes Skurrile, Abseitige und Ba¬ nale. Solche zufälligen Beobachtungen fügen sich zu Collagen des Heteroge¬ nen zusammen, in denen die dissoziierte, das beobachtende Subjekt verunsi¬ chernde Wahrnehmung in der modernen Großstadt beschrieben wird. Der Flaneur, der keinen Zusammenhang zwischen seinen Beobachtungen mehr finden kann, empfindet die Krise der Wahrnehmung als Krise der Exi¬ stenz. Er erlebt das Dahingleiten, ja das Ineinanderstürzen der Tage, "die ich nicht durch irgendein Erlebnis zu halten vermag".21 Tubutsch ist ein Nach¬ fahre der Wiener Moderne, die die "Unrettbarkeit" des Ichs (Emst Mach) analysiert hat, ebenso wie ein Kind des expressionistischen, die Strukturkrise des Subjekts zugleich leid- und lustvoll zelebrierenden Lebensgefühls. Welt, Zeit und Raum sind in Fragmente zersplittert, das erzählende Subjekt findet keinen Orientierungspunkt mehr, nur noch der Prozeß des Schreibens, d.h. das Be-Schreiben des eigenen Ich-Zerfalls vermag die chaotische Welterfah¬ rung zu strukturieren. Tubutsch lebt im Bewußtsein, das Gleichgewicht verloren" zu haben; es gelingt ihm nur noch, Oberflächenphänomene zu be¬ schreiben und zu benennen, ohne daß ihm eine Erklärung ihrer Ursachen möglich wäre: Um mich, in mir herrscht die Leere, die Öde, ich bin ausgehöhlt und weiß nicht wovon. Wer oder was dies Grauenvolle heraufgerufen hat: der große anonyme Zauberer, der Reflex eines Spiegels, das Fallen der Feder eines Vogels, das La¬ chen eines Kindes, der Tod zweier Fliegen: danach zu forschen, ja auch nur forschen zu wollen, ist vergeblich, töricht wie alles Fahnden nach einer Ursa¬ che auf dieser Welt. Ich sehe nur die Wirkung und Folge; daß meine Seele das Gleichgewicht verloren hat, etwas in ihr geknickt, gebrochen ist, ein Versiegen der inneren Quellen ist zu konstatieren.22

In den Beobachtungen des Karl Tubutsch spiegelt sich eine Welt, in der es keine Wertehierarchie mehr gibt, in der Ornament und Inhalt, Sinneswahr¬ nehmung und existentielle Krisenerfahrung zu austauschbaren Versatzstükken einer fragmentarisierten Selbstanalyse geworden sind, die nicht mehr zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden vermag.

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Jene Orte, die Ehrenstein bei der Beschreibung Wiens vornehmlich inter¬ essieren, sind die Straßen und Kanäle der Stadt. Die Stadt ist somit von ober¬ und unterirdischen Verbindungsnetzen durchzogen, die scheinbar Ordnung in das Chaos bringen, für Tubutsch jedoch nur als Anhaltspunkte seiner zer¬ splitteren Weltbetrachtung fungieren. Eine seiner bevorzugten Routen fuhrt ihn auf die Linzer Straße, "weil das die zweitlängste Gasse von Wien ist". Hier beobachtet er das unverbundene Nebeneinander des städtischen Lebens: Neben einem Laden, in dem Regenschirme feilgehalten werden, steht ein Lite¬ raturverschleiß, Papierstreifen posaunen den Ruhm des Buches der letzten Ta¬ ge, nebenan andere das endliche Eintreffen der neuen Heringe.

Das Flanieren durch die Großstadt-Straße löst bei Tubutsch keine impressio¬ nistische Schaulust aus (wie der ironische Hinweis auf Hermann Bahr, die Integrationsfigur 'Jung Wiens', vermuten ließeP, sondern konfrontiert ihn mit der existentiell erschütternden Erfahrung des Verschwindens der Unter¬ schiede. Angesichts der Heterogenität der Schau-Objekte verliert Tubutsch das Unterscheidungsvermögen; die Erscheinungen der Außenwelt werden in den Taumel, in den Bewußtseinsstrom des sich durch die Straßen treiben las¬ senden, auf die subjektiven, zufälligen Beobachtungen passiv reagierenden Flaneurs hineingerissen: Ich aber weiß nicht, welches die Regenschirme, welches die Bücher und wel¬ ches die Hennge sind: Vor meinen Augen verschwimmen alle Unterschiede sie werden mir zu minimal, als daß ich in den scheinbar so diversen Gegen¬ ständen mehr als geringfügige Abstufungen ein und derselben Materie zu erb icken vermöchte... Abstufungen, die ewig wiederkehren, während bloß die menschliche Ausdrucksweise wechselt.24

Die Kanäle wiederum repräsentieren das Untergründige, von dem die Zivili¬ sation unterhohlt ist. Das Bild der Kanalisation taucht in Ehrensteins GEuvre öfters und stets an einprägsamer Stelle auf: in Mitgefühl weist der Autor dem Kanal die Funktion eines imaginären Kommunikationssystems zu, das meta¬ phorisch auf die Verborgenheit Gottes verweist, in Erziehungsroman verichtet er seinen Haß auf Wien in der Metapher einer von Kanälen 'triefen¬ den Stadt und m Tubutsch ergänzt er diese Bilderfolge durch die Konnotierung der Kanalraumer mit Elementen des antiken Mythos: "Kanalräumer ho-

2‘n T

U"d ?ch'ckt“ sich herkulisch an, in die Unterwelt hinabzuigen Der Beruf des Kanalraumers wird so mit der Katabasis, dem Gang in die Unterwelt, assoziiert, der zugleich ein Erforschen des Jenseitigen wie auch der unbewußten und verdrängten Seiten des Diesseits ist. Ehrensteins Frühwerk analysiert die Krise des modernen Menschen, beStelen6'

Albert Ehrensteins (un)sentirnentale Reise

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schrieben im Lokalkolorit der Habsburgermonarchie. Das Panorama der von Ehrensteins satirischem Blick durchleuchteten Lebenswelten umfaßt das ge¬ samte soziale Spektrum von den herrschenden Eliten bis zu den Ausgestoße¬ nen der Gesellschaft. Die öffentliche Inszenierung der Macht kritisiert Ehren¬ stein in der Anfang 1908 entstandenen Erzählung Attentat (Teil des unvoll¬ endeten Erzählzyklus Seltene Gäste)26, in der er eine Parade Kaiser Franz Jo¬ sephs I. und des deutschen Kaisers Wilhelm II. über die Wiener Ringstraße karikiert. Von Interesse ist hierbei weniger der Einfall, daß sich das auf die beiden Majestäten geschleuderte Wurfgeschoß als "kandierte Walnuß" ent¬ puppt, sondern die präzise verwendete Technik des satirischen Wortspiels. Während der greise österreichische Monarch als "Kral von Danubien" (kräl ist die tschechische Bezeichnung ftir König) vorgestellt wird, mutiert der deutsche Kaiser in die Gestalt des (in späteren Ehrenstein-Texten wiederkeh¬ renden) 'Affenkönigs Hanuman', der "die Herzen der Wienerinnen" "im Flug" erobert, als er - "die schwerbehaarte Rechte [...] salutierend an den Tschako gelegt" - über Wiens gründerzeitliche Prachtstraße fährt. Die Fahrt der Monarchen der beiden - seit der im Jahre 1879 erfolgten Unterzeichnung des (später zum 'Dreibund' erweiterten) 'Zweibundes' - ver¬ bündeten Staaten führt sie vorbei an der Statue der Pallas Athene, die das historizistische, griechischem Stil nachempfundene Gebäude des Reichsrats (des cisleithanischen Parlaments) schmückt: Als Hanuman das tief symbolisch und mit Recht vor dem Parlament verharren¬ de Standbild der Hauseule und Landespatronin Oesterreichs: der PallawatschAthene passierte, hob die Göttin zum Zeichen des Grußes ihre Lanze.

Welch fatale Folgen der Untertanengeist haben kann, zeigt sich, als sich ein Offizier - fanatische Gläubige des hinduistischen Gottes ’Jaggemaut' (Jagannatha = "Herr der Welt", eine Erscheinungsform des Gottes Vishnu) nachahmend27 - unter die Räder der Hofequipage wirft. Bei den Vermutun¬ gen, um welchen der "Paladine des Donaulandes" es sich hierbei gehandelt habe, zählt das Publikum eine Reihe von Namen auf, in denen Ehrenstein die multinationale Zusammensetzung der österreichisch-ungarischen Armee iro¬ nisiert: G. d. J. Hawlatatsch von Hatschentreu? Strzoch von Aarenbrei? Baron Zsiga Märczibänyi? Elemer Saprdek von Eichenleu? Marschall Rückwärts? Man wußte es nicht.

Die Österreichisch-Ungarische Monarchie, die er des öfteren 'Donauland' oder ’Danubien' nennt, ist für Ehrenstein der "literarisch schwärzeste Erdteil", jene "terra incognita, auf der [Peter] Altenbergs ’Ashantee’ blühte und ver-

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Armin A. Wallas

sank wie Atlantis"2®, das Land, das im Jahre 1866 (der Niederlage gegen Preußen bei Königgrätz) "endgültig den Anschluß an die Zeit verloren" hat¬ te.29 Ergänzend stellte er in einem Brief an Paul Emst fest: Ich liebe dies Land, es ist herrlich, die Entvölkerung ward aber durch eine alles auseinanderregierende Protektionsschlamperei nicht gerade in der richtigen Weise in Angriff genommen. [. ..] Aber dem immer mehr magyarisierenden und durch das Nichtgewähren nationaler Autonomien gewiß noch neue Kämpfe heraufbeschwörenden Dualismus zu huldigen, liegt mir nicht recht

Kaiser Franz Joseph I. faßt er - fern aller rückwärtsgewandten Mythologisierung - als letztes Glied eines Geschlechts von "Usurpatoren" auf, als Gewaltherrscher [...], für den die Menschheit aus Untertanen bestand" und an dessen Händen "das Blut vieler Tausender revolutionärer Ungarn und Ita¬ liener klebte".31 Der unter dem Nachkriegselend leidenden Stadt Wien rief Ehrenstein in einem 1920 veröffentlichten Gedicht mit der Zomesstimme ei¬ nes alttestamentarischen Propheten zu:

Wien weint hin im Ruin. Wien, du alte, kalte Hure, Ich kauerte an deines Grabes Mauer, [...]. Du hurtest hurtig mit Hurradämonen [...]. Du hast ein Reich verpraßt, Das nie den Armen nährte, Der nie sich gegen der Gewalt Galgen empörte! Stumpf stiehlt er Holz vom Friedhof, Zu heizen mit den Grab kreuzen.32

™.d ohne VCTki䙫 h*g. v. John M. Spalek u. Joseph Strelka Bern 1989 S 186

193; Karl-Markus Gauß, "Karl Kraus und seine 'kosmischenSchliefet"Sr Rehabilitftl" von Albert Ehrenstein, Hugo Sonnenschein und Geore Kulka" in- 7 •/ u l (1982) S 43.S9- Derc "Vza nu , ueorg KUUca.> in. Zeitgeschichte 10

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Albert Ehrensteins (un)senlimentale Reise

Köster, Zerfall ohne Zauber: "Paradoxie und Resignation in Albert Ehrensteins 'Tubutsch'", in: The German Quarterly 63 (1990), S. 233-244; Uwe Laugwitz, "Albert Ehrenstein und Karl Kraus. Entwicklung einer literarischen Polemik 1910-1920", Wissenschaftliche Haus¬ arbeit Hamburg 1982 (masch.); Ou Li, "Zur Funktion der chinesischen Quellen im Werk Albert Ehrensteins am Beispiel des Romans 'Räuber und Soldaten'", Diss. Wien 1984 (masch.); Ders., "Albert Ehrenstein und China. Ein Beispiel für die Rezeption chinesischer Literatur in Österreich", in: Lesezirkel Literaturmagazin der Wiener Zeitung 3 (1986), H. 17, S. 26; Grazia Pulvirenti, "L'urlo nella notte: Albert Ehrenstein espressionista 'sui generis' e la lirica dei contrari", in: Siculorum Gymnasium 42 (1989), S. 287-296; Dies., "Tubutsch o l'anti-racconto come negazione di ogni possibilitä narrativa", in: Critica Letteraria 18 (1990), S. 487-496; Ingeborg Schrems, "Albert Ehrenstein. Briefe an Gott", Di¬ plomarbeit Salzburg 1991 (masch.); Margherita Versari, "Albert Ehrenstein. PräExistentialist ohne Existenz. "Tubutsch" (1911) - Erzählfigur des Nihilismus", in: Wege der Literaturwissenschaft, hrsg. v. Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe u. Hans Joa¬ chim Schrimpf, Bonn 1985, S. 269-283; Dies., "Albert Ehrenstein. Zwischen Religion und Postreligion. Die 'Btiefe an Gott1", in: Spiegel im dunklen Wort. Analysen zur Prosa des frühen 20. Jahrhunderts, Bd. 2, hrsg. v. Hans Schumacher, Frankfurt/M. 1986 (= Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Bd. 11), S. 249-259; Armin A. Wallas, '"Ich weiß bloß Tod und Liebe'. Albert Ehrensteins kalte Welt. Zum 100. Geburtstag eines Vergessenen", in: Die Presse, 20./21. 12. 1986, Beilage Spectrum, S. IV; Ders., "Twee 'anatomen van de ziel' of: De reizen van Albert Ehrenstein en Oskar Kokoschka door imaginaire en reele woestijnen - Deux 'dissequeurs d'äme' ou: Les voyages d'Albert Ehrenstein et d'Oscar Kokoschka dans des deserts imaginaires ou reels", in: Oskar Kokoschka, hrsg. v. Serge Sabarsky, Gent-Liege 1987, S. 19-27; Ders., "Zwei 'Seelenaufschlitzer' oder: Albert Ehrensteins und Oskar Kokoschkas Reisen durch imaginäre und reale Wüsten", in: Öster¬ reichisches Literaturforum 2 (1988), H. 2, S. 17-22; Ders., "'Von der Nacht beschienen'. Forschungsbericht: Neue Literatur über Albert Ehrenstein", in: Sprachkunst 19 (1988), S. 175-186; Ders., Albert Ehrenstein: Werke. Band 1: Briefe, hrsg. v. Hanni Mittelmann [Rezension], in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), S. 204-214; Alfred D. White, "Variations on the Theme of War: Notes on a Group of Poems by Ehrenstein", in: Modern Language Review 67 (1972), S. 118-126; Ders., "The Grotesque and its Applications: The Example of Albert Ehrenstein", in: New German Studies 1 (1973), S. 150-162; Ders., "Albert Ehrensteins Short Stories. Are They Autobiographical?", in: German Life and Leiters 42 (1988/89), S. 362-376.

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Andreas Herzog (Leipzig)

"Der Segen des ewigen Juden". Zur "jüdischen Identität" Joseph Roths

1 Die verlorene Identität eines österreichischen Juden Kaum ein österreichischer Schriftsteller wurde wohl in den vergangenen Jahrzehnten so häufig in seiner geistigen Beziehung zur multinationalen Habsburger Monarchie untersucht wie der 1894 im galizischen Brody gebo¬ rene Verfasser so weltbekannter Romane wie Hiob und Radetzkymarsch. Auch der Bedeutung des Judentums für sein Werk galt seit dem Ende der sechziger Jahre eine besondere Aufmerksamkeit.1 Wie sehr das Schaffen Roths als eines der berühmtesten Anhänger der Idee des habsburgischen Vielvölkerstaates von der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kultu¬ ren, Religionen und Nationen geprägt war, läßt sich an vielen seiner Werke ablesen. Immer wieder beschäftigte sich die Literaturwissenschaft mit der Rolle des slawisch-jüdischen Zusammenlebens2 bei Roth, mit der Haltung des Autors zu Katholizismus und Judentum3 und mit seinem Widerspruch zum Zionismus4, aber auch mit dem Bild Galiziens5, seinem literarischen Heimatbegriff5 sowie der verlorenen Welt des Ostjudentums.7 Das umfangreiche Werk des populären österreichischen Erzählers kann ohne Zweifel ganz wesentlich aus dem doppelten Verlust erklärt werden, den der aus dem östlichsten Kronland Österreich-Ungams stammende jüdische Autor mit dem Untergang der Vielvölkermonarchie erlitt. Mit der Herausbil¬ dung der osteuropäischen Nationalstaaten 1918 verlor Moses Joseph Roth ein Vaterland, das ihm "erlaubte, ein Patriot und Weltbürger zugleich zu sein"8. Mit dem Zerfall der Monarchie wurde dem österreichischen Juden darüberhinaus aber auch seine Heimat Galizien genommen. Wie andere osteuropäi¬ sche Juden konnte er sich im Unterschied zu den Polen, Tschechen und Un¬ garn auf keinen eigenen Boden berufen. Die Juden waren "der dritte, der im¬ mer verlor."9 So einsichtig die besondere Problematik dieses österreichischen Juden er¬ scheint, umso schwieriger ist es, seine "jüdische Identität" zu bestimmen -, hat sich Roth doch nie ungebrochen zu seiner Herkunft bekannt und dem Zionismus bis zu seinem Tode eine grundsätzliche Absage erteilt. Wie die zahlreichen Interviews belegen, die Bronsens Roth-Biographie zugrunde lie¬ gen, hat er um seine Herkunft immer neue, einander widersprechende Legen¬ den gerankt. Mehrfach verleugnete er seinen Geburtsort, in dem die Juden die

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Andreas Herzog

Bevölkerungsmehrheit bildeten, unterschlug seinen zweiten Vornamen Mo¬ ses und erfand die Identität seines Vaters mehrfach neu: einmal war es ein melancholischer und trunksüchtiger Österreicher, ein Eisenbahnbeamter oder Offizier, ein Wiener Munitionsfabrikant oder hoher Staatsbeamter, ein ande¬ res mal ein polnischer Graf oder ein zum Katholizismus konvertierter Jud. Einander widersprechende Angaben hat Roth jedoch nicht nur in bezug auf seine familiäre Herkunft, sondern auch auf seine geistige Identität geboten. Außer als Israelit gab er sich am Ende seines Lebens oft als getaufter Katho¬ lik aus. Zum Katholizismus aber soll er, wie verschiedene Zeugen bestätigen, in Wahrheit keine wirklich religiöse Beziehung gehabt haben11. Auch be¬ kannte er sich nicht nur zum Vielvölkerstaat Österreich-Ungams, sondern nicht minder zu Paris, als der Hauptstadt Europas; des öfteren zitiert wurden die mehr als widersprüchlichen Aussagen, die er gegenüber Benno Reifen¬ berg machte: Ich sehne mich nach Paris, ich habe es nicht aufgegeben, niemals, ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Ka¬ tholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär.12 In einem 1926 aus Odessa nach Deutschland geschriebenen Brief verknüpfte Roth scheinbar völlig Unvereinbares: Frankreich mit Osteuropa, den Ratio¬ nalismus mit der Religion, den Katholizismus und das Judentum. Einige sei¬ ner Briefe unterschrieb er mit "Mojsche Christus" oder "Jossel Roth aus Radziwillow" U Die Rollen und Ich-Entwürfe scheinen so gegensätzlich wie endlos, daß man sich mit einer Vielzahl von Fragen konfrontiert sieht, auf die es keine Antwort zu geben scheint: War der Österreicher Moses Joseph Roth ein Jude oder ein Christ? Ein Rationalist oder ein Mystiker? Ein gefühlssozialistischer Revolutionär oder reaktionärer Monarchist? Ein Franzose aus dem Osten oder gar ein Deutscher, dem sein Judentum "nie anders als eine akzidentielle Eigenschaft" erschien. H War Roth ein galizischer Jude oder wie er einmal selbst meinte, ein Mittelmeermensch?'5 In den bisherigen Bemühungen der Forschung, die Identität eines Autor zu bestimmen, über dessen Bekenntnisse sich eindeutig nur sagen läßt, daß sie offensichtlich uneindeutig sind, scheint sich fortzusetzen, was die Hinterblie¬ benen unmittelbar nach Roths Tod am 27. Mai 1939 versuchten. Auf dem Friedhof "Thiais", südöstlich von Paris, zeigten sich österreichische Katholi¬ ken und religiöse Ostjuden, Monarchisten und Kommunisten gleichermaßen uberzeugt, einen der ihren zu Grabe zu tragen.'6 Nach Anfängen in den sieb¬ ziger Jahren wurden im letzten Jahrzehnt mehrere, sehr emstzunehmende Studien vorgelegt, die Roths literarisches Werk mit Hilfe des Judentums er¬ klären Am Leviathan zeigte Gershon Shaked, daß die Erzählung ihre sym¬ bolische und mythische Tiefe aus der jüdischen Kultur bezieht.12 Nicht weni-

Zur "jüdischen Identität" Joseph Roths

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ger überzeugend hat Hans Otto Horch den jüdischen Gehalt von Roths nur vermeintlich "katholisierenden Erzählungen" nachgewiesen18. Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, inwiefern sich Jo¬ seph Roth, dessen Werk wiederholt vor dem Hintergrund ostjüdischer Tradi¬ tionen und Ideen erklärt wurde, selbst als Jude verstand. Gegen die These, daß er eine Wendung vom Juden zum Katholiken vollzogen habe, erlauben Lebenskonzept und Werk dieses "Franzosen aus dem Osten" unseres Erach¬ tens weder eine eindeutige Zuordnung zum religiös-traditionellen oder mo¬ dernen nationalen Judentum noch zur Idee eines katholisch universalen Habsburg. Die jüdische 'Identität' des von der multinationalen Idee der k.u.k. Monarchie ergriffenen Roth scheint vielmehr in einer multiplen Existenz zu bestehen, die sich der Identifizierung mit einem Vaterland, einem ideologi¬ schen System, einer Konfession, aber auch einer Idee konsequent verweigert. Wir halten es in diesem Zusammenhang für symptomatisch, daß Roth das ahasverische Schicksal der Juden nicht als Fluch, sondern als Mission be¬ griff, der Welt Gott zu geben"19.

2 "Juden auf Wanderschaft "oder der Mythos Osteuropas Mit dem 1927 im Verlag "Die Schmiede" veröffentlichten Essaybuch Juden auf Wanderschaft legte Roth eine Schilderung des Lebens der Juden in den

Städtchen Osteuropas und ihrer Lage nach der Auswanderung in die westli¬ chen Welt vor. Seine authentisch wirkende Anschaulichkeit läßt leicht über¬ sehen, daß dieser Essay strenggenommen nicht nur ein Bericht über eine be¬ sondere kulturelle Wirklichkeit und auch kein Bekenntnis des Autors zu sei¬ ner eigenen ostjüdischen Herkunft ist. So wird schon der einleitende Ab¬ schnitt über die "Ostjuden im Westen" von einem bipolaren Betrachtungs¬ schema bestimmt, das die noch "ursprünglichen" und gottesgläubigen Ostju¬ den zu Gegenfiguren einer entseelten und selbstgerechten westlichen Zivili¬ sation macht.20 Gegen die "Enge des westlichen Horizonts" wurde die gren¬ zenlose Weite Osteuropas gesetzt. Mit der echten Frömmigkeit der Ostjuden verbindet sich für Roth eine be¬ sondere Fähigkeit zur Selbstlosigkeit, die sich in ihrer dezidiert antizionisti¬ schen Haltung zeige. Der religiöse Ostjude glaube weder an sich selbst noch an die persönliche und nationale Freiheit des Menschen; in Bezug auf Palä¬ stina hoffe er allein auf Gott: Von den Menschen kann ihm nichts wirklich Gutes kommen. Ja, es ist fast eine Sünde, bei den Menschen um etwas zu kämpfen. Dieser Jude ist kein 'nationa¬ ler' Jude im westeuropäischen Sinne. Er ist Gottes Jude. Um Palästina kämplt er nicht. Er haßt den Zionisten, der mit den lächerlichen europäischen Mitteln

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Andreas Herzog

ein Judentum aufrichten will, das keines mehr wäre, weil es nicht den Messias erwartet...21 Roth weist den "nationalen Gedanken" hier als einen "westeuropäischen" aus-2, der dem Universalismus des Judentums widerspräche. Schon in Juden auf Wanderschaft fragt Roth, "ob die Juden nicht noch viel mehr sind, als ei¬ ne nationale Minderheit europäischer Fasson" und ob sie nicht "viel Wichti¬ geres aufgeben", wenn sie einen Anspruch auf "nationale Rechte" erheben.22 Seme Kritik gilt politischen Konzepten, die die Nationen voneinander abzu¬ grenzen versuchen, womit materielle menschliche Opfer kosten werden.

Interessen

verfolgt

würden

die

Die Vaterländer und Nationen wollen aber in Wirklichkeit noch mehr, noch weniger, nämlich Opfer für materielle Interessen. Sie schaffen "Fronten" um Hinterländer zu bewahren [...] 24 Aus der Heimatlosigkeit des jüdrschen Volkes, das über die ganze Welt zerder t ttete t °S‘emichische Schriftsteller eine übernationale Sendung der Juden ab, und er fährt fort: ä Und in dem ganzen tausendjährigen Jammer, in dem die Juden leben hatten sie nur den einen Trost: nämlich den, ein solches Vaterland nicht zu besitzen.22 Die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina bedeutete für Roth ei h« ot wf ' ,d7 - falsches VaterlL zu emzfehen. Die Volker, unter denen sie lebten, behandelten die Juden zwar nicht wie ihresgleichen, forderten von ihnen aber den "Heldentod". Roth meinte des S.J"1 Wm" SCh°"

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** WeS‘!iche" Nationalismus

Zur "jüdischen Identität" Joseph Roths

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Der jüdische Schriftsteller polemisierte nicht nur gegen die Besiedelung eines eigenen Landes, sondern gegen eine Identität, die sich über Begriffe wie "Vaterland", "Erde" oder "Scholle" zu definieren suchte. Obwohl Roth nicht verschweigt, daß die Juden inmitten einer slawisch¬ katholischen Umwelt unter religiös motivierten Anfeindungen zu leiden ha¬ ben, sucht er die frommen Juden mit den Christen gegen die um nationale Selbstbestimmung kämpfenden Zionisten zu vereinen. Eine sich über die un¬ terschiedlichen Nationen und Konfessionen erhebende Religiosität soll die Grenzen zwischen Juden und Christen überwinden. "Einem ostjüdischen Chassid und Orthodoxen ist ein Christ näher als ein Zionist."30, postuliert Roth, der zuvor schon hervorgehoben hat, daß in schwierigen Lagen "selbst christliche Bauern" beim Rabbi Hilfe suchten.31 In Juden auf Wanderschaft beschwört Roth nicht nur den Mythos des Ostjudentum, sondern läßt es als Teil eines osteuropäischen Universalismus' erscheinen. Nur so läßt sich etwa die Behauptung verstehen, daß slawische Bauern verhältnismäßig häufig zum Judentum übergetreten seien, obwohl sich das offizielle Judentum dagegen gewehrt habe.32 In komplementärer Er¬ gänzung wird die "bäuerliche Naturfrömmigkeit" vieler Ostjuden und die Existenz eines besonderen, mit seiner Scholle verwachsenen "Typus des ost¬ jüdischen Landmenschen" hervorgehoben.33 indem er betont, daß die Land¬ juden des Ostens stark, groß und gesund seien, tritt Roth keinesfalls nur dem antisemitischen Stereotyp des kränkelnden und unproduktiven Geistes- und Handelsjuden entgegen. Er beschwört hiermit auch das Ideal des Menschen, der die endlosen und mythischen Weiten des Ostens bebaut. Genau betrachtet wird in den Teilen des Essays, die sich mit dem Leben der Juden im Osten befassen, nicht deren isolierte Gemeinschaft, sondern ei¬ ne von der Moderne noch unberührte Vielvölkerlandschaft beschworen. Die Ostjuden haben Anteil an der "grenzenlosen Weite des Horizonts"34, unter dem sie wie die slawischen Völker und Katholiken ein "noch ursprüngliches" Leben führen können. In anderen Werken mögen die vormodemen Verhält¬ nisse einer multikulturellen Welt als "habsburgischer Mythos erscheinen, dessen eigentliches Zentrum ist jedoch vor allem in den multinationalen Randlandschaften Osteuropas zu suchen. Nicht zufällig betont Roth den gro¬ ßen Unterschied, der zwischen dem Leben der Ostjuden in ihren Geburts¬ städten, an der Peripherie Österreichs, und in der Hauptstadt, als seines ei¬ gentlichen Zentrums, besteht: "Es gibt kein schwereres Los, als das eines fremden Ostjuden in Wien."35 Roth wirft den Juden, die in die "westlichen Gettos" ausgewandert sind, vor, daß sie sich vom Versprechen einer falschen Freiheit locken ließen. Die

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Andr-eas Herzog

besonderen Vorzüge der osteuropäischen Heimat werden nicht etwa in der Abgeschlossenheit des jüdischen Shtetls, sondern unter anderem in der Ur¬ wüchsigkeit und "Güte des slawischen Menschen" gesehen, "dessen Roheit noch anständiger ist, als die gezähmte Bestialität des Westeuropäers..."36 Der universelle Mythos, den Roth nicht nur mit den grenzenlosen "Weiten des östlichen Horizonts", sondern auch mit seinen Bewohnern verbindet, verrät sich in einem Satz, der mehr als fragwürdig erscheinen muß: "Ohne Zweifel ist in den Ostjuden viel mehr slawisches Blut, als etwa in den deutschen Ju¬ den germanisches."37 Roths Interesse an den Ostjuden war weder nationalkulturell, noch spezi¬ fisch religiös motiviert, ebensowenig ging es ihm um die Bewahrung einer besonderen Identität der Ostjuden in der Differenz zu anderen Völkern. Die in Juden auf Wanderschaft mythisierte Welt des Ostjudentums läßt sich nur im Rahmen eines über diese hinaus reichenden, universalistischen Konzepts begreifen, das die noch ursprünglichen1 Identitäten Osteuropas gegen die Moderne Westeuropas setzt und vor dieser bewahren will.

3 Juden, Judenstaat und die - Katholiken" oder die universelle Religiosität Weit deutlicher als die ein Jahrzehnt zuvor veröffentlichte Bilanz Juden auf Wanderschaft markiert eine Replik auf eine Artikelserie des Zionisten Wolf¬ gang von Weisl den universalistischen Kern von Roths Verständnis vom Ju¬ dentum. Der Aufsatz "Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken'"3», den er im September 1937 im Christlichen Ständestaat veröffentlichte, macht den reli¬ giösen Zusammenhang, den es für den Schriftsteller zwischen Judentum und Katholizismus gab, deutlich. Der sich zum Katholizismus bekennende Jude, der als Vertreter der multinationalen Idee Österreichs auch ins öffentliche Bewußtsein eingegangen ist, leitet in diesem Aufsatz die auf Völkerverstän¬ digung gerichtete Mission des 'Katholizismus' aus der Universalität des ihm zugrundeliegenden Judentums ab. Der Wortmeldung vorausgegangen war der dreiteilige Beitrag eines Zioni¬ sten der zur revisionistischen Fraktion Wladimir Jabotinskys zu rechnen ist , und sich von katholischer Seite Unterstützung bei der Verwirklichung des Palastina-Projektes erbeten hatte. Die sich hier anbahnende Koalition, die eine von Zionisten und Katholiken gemeinsam betriebene Herauslösung der Juden aus Europa anstreben würde, mußte bei Roth auf doppelten Widerstand stoßen: Sie widersprach nicht nur dem Sendungsauftrag des Judentums, in der Diaspora (Zerstreuung) in allen Ländern der Welt zu wirken- sie verstieß darüber hinaus auch gegen die Mission des Katholizismus als einer das Zu¬ sammenleben von Christen und Juden schützenden geistigen Macht. Für Roth

Zur "jüdischen Identität" Joseph Roths

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beging ein Zionist wie Wolfgang von Weisl nicht nur Verrat an der univer¬ sellen Aufgabe des Judentums, mit der Bitte um Unterstützung suchte er die Katholiken auch zum Abfall von ihrer die Juden integrierenden Aufgabe zu verfuhren. Als Gegner der Zionisten wollte Roth das Judentum vor jeglichen realpoli¬ tischen "Erwägungen" und nationalen "Zwecken" bewahren.40 Aus seiner Sicht war dies im universalistischen Kern der an Gottes Volk ergangenen Botschaft begründet, der seiner "Selbstsucht" besonders enge Grenzen zog, und sie zu einem höheren, quasi heiligen Leben verpflichtete.41 Wie sehr Roths Judentum-Verständnis zeitgenössischen religiösen Auffassungen ent¬ sprach, zeigt der Vergleich mit Leo Baecks Schrift Das Wesen des Juden¬ tums: Auch der führende Rabbiner des deutschen Reformjudentums hatte in seinem Hauptwerk darauf hingewiesen, daß das Wort Gottes zwar an das Volk Israels ergangen sei, folglich von den Juden ausgehe, letztlich jedoch der ganzen Welt zu verkünden sei: "Der Mensch ist bestimmt, anders als die¬ se Welt zu sein, heilig zu sein".42 Das "wahre Judentum" sah der jüdische Schriftsteller Joseph Roth in den alttestamentarischen Prophetien eines messianischen Friedensreiches, das alle Völker eint. Die "wahren Katholiken" waren die Träger einer universellen Religiosität, die einem Heiland folgten, der nicht zufällig "aus dem Geschlechte Davids" stammt. Für Roth hatte die katholische Kirche den Sendungsauftrag des Judentums zu verwirklichen, in¬ dem sie gegen die "Unterdrückung der Minoritäten durch Majoritäten" zu kämpfen und die Nächstenliebe zum Fremden zu vertreten habe 43 Das christliche Gebot der Nächstenliebe führt Roth eindeutig auf das Ju¬ dentum zurück. Hans Otto Horch meint treffend, daß Katholizismus und Ju¬ dentum bei Roth nicht "als kontradiktorische Positionen anzusehen" seien; die Leistung des Autors bestehe vielmehr "in der Fähigkeit der Synthese" bzw. in der "Transzendierung nationaler, religiöser, philosophischer Prägun¬ gen zugunsten eines universalen Denkens."44 Über ihre gemeinsamen bibli¬ schen Wurzeln waren Judentum und Katholizismus für Roth in der Tendenz vereint, "den Haß nicht dadurch auszurotten, daß man den Gegenstand des Hasses' abschafft"45 (was bedeutete hätte, der angefeindeten Minderheit zu einer eigenen nationalen Heimat zu verhelfen). Der Judenhaß sollte durch die Liebe zum Fremden, der durch die Liebe der Nächste wird," bekämpft werden.46 Roths Vision einer Gemeinschaft, in der Juden und Christen, wie alle anderen Nationen und Konfessionen auch, in Zukunft gleichberechtigt miteinander leben können, basierte auf dem von dem einzigen Gott erlasse¬ nen Gebot der Nächstenliebe. Durch die Liebe zum Fremden sollte "der An¬ dere" zum Bruder werden. Da das Judentum im öffentlichen Bewußtsein bis heute statt mit dem Ge¬ bot der Nächstenliebe eher mit dem Racheprinzip des "Auge um Auge, Zahn

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um Zahn"47 identifiziert wird, muß angemerkt werden, daß die liebende Pflicht auch gegenüber dem "Anderen" in der Tat nicht erst eine christliche, sondern bereits eine jüdische war. Das Gebot der Nächstenliebe im 3. Buch Mose beruht auf dem allumfassenden Herrschaftsanspruch des einzigen Got¬ tes und erinnert an die Erfahrungen der Juden in Ägypten. Das Gebot "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr" (Lev. 19,18) erstreckt sich nicht etwa nur auf das eigene (jüdische) Volk. Als "Nächster" ist nach Kapitel 19, Vers 33-34 auch der Fremdling zu betrachten, der "wie ein Einheimischer", als seinesgleichen behandelt und geliebt werden soll. Roths Vision von einer multinationalen Gemeinschaft, in der alle Ethnien gleichberechtigt und gleichwertig sind, kann sich auf ein universalistisches jüdisches Gebot berufen. Im 3. Buch Mose heißt es: Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, denn sollt ihr nicht be¬ drücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Agyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott. (Lev. 19, 33-34)48 Sowohl der anti- als auch der projüdische Nationalismus, der die Juden aus den Völkern, unter denen sie lebten, herauszulösen versuchte, schuf für Roth ^ Frontlinien",

mit denen Partikularinteressen verfolgt wurden,

die

die

"Einheit der Welt" spalteten. Der Schriftsteller polemisierte nicht zuletzt des¬ halb so heftig gegen den Beitrag Wolfgang von Weisls, weil dieser der Kir¬ che eben jene Interessen unterstellt hatte, bzw. den Katholizismus in einer Weise apostrophierte, "wie man etwa Staaten, Nationen, Syndikate, Trusts Gewerkschaften anspricht, wenn man ihr Wohlwollen haben will. "49 Der ra¬ dikale Zionist suchte die Katholiken nicht nur zum Verrat an dem im Juden¬ tum wurzelnden Universalismus zu verfuhren. Der gänzlich areligiöse Jude, der den messianischen Charakter des Judentums mißachtete, hatte, zum Ärger Roths, dabei sogar biblische Psalmen herangezogen. Mit der Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk sah Roth Juden und Christen gemeinsam gegen die Lehre des einzigen Gottes verstoßen, der der Gott aller Völker und Glaubensrichtungen sei: "Es ist kein weife!. Der neuheidnische Rassen-Antisemit will den 'Judenstaaf ebenso wie der Zionist. Beide als Feinde des Heilands."™ Die Nationalisten unter¬ schiedlicher, ja entgegengesetzter Seiten zeigten sich Roth als gemeinsame Gegner des jüdischen Heilands, indem sie die gottgewollte universelle Ord¬ nung Europas zu zerstören suchten. Roth schloß nicht nur Rassenantisemi¬ tismus und Zionismus, sondern auch Materialismus und Kommunismus mit¬ einander kurz und führte alle Formen des Nationalismus auf das Heidentum

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Zur "jüdischen Identität" Joseph Roths

Der Materialismus, der den Nationalismus gebar, den Zionismus, den 'Rassen'Begriff, den Kommunismus [...] Die Zionisten wie die Rosenbergianer, sie möchten beide nicht wissen, daß der Heiland aus dem Geschlechte Davids stammt. Jabotinsky (der 'Führer' unter den Zionisten) verachtet Christus, genau¬ so wie Rosenberg es tut. [...] Beide wollen die Juden aus Europa ’loswerden'; 'national binden’.51 Daß der Schriftsteller mit dem Katholizismus dabei immer eine Idee und alles andere als eine institutioneile Realität meinte, wird mit seiner Empörung an¬ gesichts des Konkordates des Papstes, wenige Jahre zuvor, sichtbar. Nach dem Verrat des Papstes erklärte er die "Nachkommen der alten Juden" zu den "einzigen Repräsentanten Europas", bzw. zu den "einzigen deutschen Reprä¬ sentanten" seiner Kultur.52

4 "Ahasvers Sendung". Jenseits des habsburgischen Mythos und des Juden¬ tums Überblickt man die Reihe der wichtigsten Romanfiguren Roths, so scheinen sie alle gleichermaßen ein jüdisches, ein 'ahasverisches Schicksal zu haben. Gabriel Dan in Hotel Savoy (1924), Franz Tunda in Flucht ohne Ende (1927), Friedrich Kagan in Der stumme Prophet (1929), Mendel Singer in Hiob (’930) Franz Joseph Trotta in Radetzkymarsch (1932), Nikolaus Tarabas in

Tarabas Ein Gast auf dieser Erde (1934), Anselm Eibenschütz in Das fal¬ sche Gewicht (1937) oder Nissen Piczenik in Der Leviathan (1934/1937) nicht in jedem Fall handelt es sich bei Roths Protagonisten um Gestalten jü¬ discher Herkunft, dennoch tragen alle die Merkmale des unbehausten ewig wandernden Juden. Eva Reichmann stellt fest, die Figuren Roths "beziehen ihre Identität explizit aus dem Zustand der Heimatlosigkeit ; zur

Heimat-

und Ruhelosigkeit" seien sie nicht nur durch äußere Zustände gezwungen, sie entspräche vielmehr auch ihrer "mentalen Disposition".53 Wie die Vertreter anderer Völker, die mit ihm im Hotel Savoy wohnen, ist der russische Jude Gabriel Dan ein Heimkehrer, der nie irgendwo ankommen kann, weil er selbst überhaupt nicht ankommen will. Er verzögert seine Heimkehr ganz bewußt, und wenn er schließlich doch weiterfährt, dann nicht, um endlich sein Ziel zu erreichen, sondern ganz offensichtlich nur, weil er weiter unterwegs sein will: "'Wir sind Heimkehrer1, sage ich, 'und halten uns nur zum Spaß hier auf. Wir wollen weiterfahren, mein Freund Zwommir und ich' "54 Franz Tunda, der nicht im Hotel Savoy wohnt, sondern sich auf einer Flucht ohne Ende befindet, schreibt in einem Brief, daß er überhaupt nicht weiß, ob er morgen nach Australien, nach Amerika, nach China oder zurück

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nach Sibirien reisen wird. Scheinbar paradox heißt es, daß ihn dabei keine sogenannte "Unruhe", sondern im Gegenteil eine "vollkommene Ruhe" trei¬ ben würde.55 Indem er sich über alle konkret fixierbaren und festgelegten Le¬ bens- und Ordnungssysteme erhebt, bleibt er zwar heimatlos, erhält sich da¬ bei aber auch seine geistige Unabhängigkeit. In Roths Romanen und Erzählungen erscheint Heimat lediglich als Imagi¬ nation einer individuellen Sehnsucht56, durch die sich die Völker und Kon¬ fessionen nicht unterscheiden. In Hotel Savoy singen die Heimkehrer ihre ei¬ genen Heimatlieder, denen die jeweils gleichen Gefühle zugrunde liegen: "tschechische Lieder und deutsche, polnische und serbische, und in allen liegt die gleiche Trauer".5? Mit den gemeinsamen Sehnsüchten werden die natio¬ nalen Identitäten austauschbar, so daß Gabriel Dan einen Vertreter aller nach Westen ziehenden Völker darstellt, die auf Durchgangsstation im Hotel Sa¬ voy hausen. Nicht nur der russische Jude, die ganze Gesellschaft der Kriegs¬ heimkehrer bleibt lieber "in der großen Heimat" der Fremde, "statt in die kleine heimzukehren, zu Weib und Kind und Ofenwärme".58 Das Schicksal Gabriel Dans symbolisiert eine auseinanderfallende Welt, in der nicht nur dem Ostjudentum seine ursprüngliche Heimat verloren geht. Von einem ahasverischen Geschick ist auch der Russe und Katholik Tarabas betroffen, der, nachdem er sich an der Revolution beteiligt hat, seine Heimat verläßt. Wie später beim Juden Mendel Singer erwacht in der "steinernen Stadt" New York die Sehnsucht des Russen nach den Vögeln, Fröschen, Sümpfen und Grillen seiner Heimat.5? Wie bei anderen Figuren Roths taugen das Haus der Hof und das Land seiner Eltern jedoch "nur aus der Entfernung, unter einem sentimentalen Aspekt"6» als Projektionsraum heimatlicher Gefühle. Nachdem er aus Amerika zurückgekehrt ist, wurde der Krieg seine Heimat.6! Am Juden Schemarjah schuldig geworden, zieht er als Landstreicher durch Osteuropa Nachdem er durch das Verzeihen seines Opfers Ruhe gefunden hat stirbt er fern seines Elternhauses. Bis zum Schluß bleibt Tarabas nur "ein Gast auf dieser Erde". Trotz mancher Unterschiede erlebt der österreichische Offizier Carl Joseph Trotta in Radetzkymarsch ein dem Juden Gabriel Dan und dem Russen Niklaus Tarabas durchaus vergleichbares Schicksal. Die Uniform

die seinem

Großvater noch einen festen Platz in dem zum Mythos erhobenen Vielvölker¬ staat zuwies, legt er immer öfter ab, um in den Rausch des Alkohols und ei¬ ner illegitimen Liebesaffäre zu flüchten. Die gemeinsame Erfahrung einer smh stcgemden Fremde macht den Abkömmling des Helden von Solferino und den Enkel des "Königs aller jüdischen Schankwirte", Dr. Max Demant zu Freunden, deren Schicksal sich gleicht. Beide haben von ihren Großvätern nur wenig Kraft geerbt.62 In der "Chronik und Klage"65 über den Verlust der Heimat und den Aus-

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einanderfall des österreichischen Vielvölkerstaates hat Claudio Magris die Übereinstimmung zwischen der verlorenen Welt des Judentums und dem "habsburgischen Mythos" gesehen, die zum Verlust des ostjüdischen Shtetls geführt habe. Das Ende der Habsburger bedeute notwendigerweise auch das Ende des Ostjudentums.64 Magris spricht von einer "Symbiose zwischen Austriazität und Ostjudentum" sowie "zwischen Imperium und Shtetl"65; die kaiserlich-königliche Doppelmonarchie und das ostjüdische Shtetl deckten sich in Bezug auf die Realität der Heimat.66 Im Zentrum von Roths Erzähl¬ werk, das das Habsburgerreich "in eine verklärte übergeschichtliche Dimen¬ sion rückt"67, sieht der Triestiner Literaturwissenschaftler die Klage über die Auflösung, den Untergang und den Verlust des Habsburgerreiches als auch des ostjüdischen Shtetls".68 Juden auf Wanderschaft liest er als "Glaubensbekenntnis" bzw. "polemischen Epitaph des Shtetls"69; er betrach¬ tet Roth als Traditionalisten, der sich nach der verlorenen Ordnung und in die gesicherte "isolierte Gemeinschaft" des Ostjudentums zurücksehne.70 ° So einleuchtend diese Theorie auf den ersten Blick erscheinen mag, trifft sie jedoch weder den Kern von Roths Anschauungen, noch ließe sie sich an seinen Werken belegen. Von der "rühmende(n) Schilderung 71 eines sich mit dem Habsburger Reich deckenden Shtetls kann in Hiob zum Beispiel keines¬ falls gesprochen werden. In der steinernen Welt Amerikas preist der russische Jude Mendel Singer weder die Sabbatgemeinschaft noch die vertraute Enge seiner jüdischen Heimatstadt, und seine Sehnsüchte haben weder direkt noch vermittelt etwas mit der habsburgischen Idee zu tun. Als imaginierte Heimat erscheint nicht "das Shtetl", sondern die Landschaft und Natur, die das Städt¬ chen umgeben, wo "die Erde so weit ist wie in Amerika das Wasser."72 In der Fremde eines "westlichen Gettos" sehnt sich der Auswanderer nach der Ruhe und Stille der unzivilisierten Natur, nach dem Schatten des Waldes, dem Zir¬ pen der Grillen und dem Quaken der Frösche. Der Anblick gelber Schlüssel¬ blumen in einem amerikanischen Krankenhaus erinnert Mendel an den Him¬ mel, die Felder und die Wiesen seiner Heimat.73 Seine Sehnsucht ist an "Bilder, Geräusche, Gerüche und Geschmäcker geknüpft. Roths Heimatbild ist "synästhetisch".74 Die besondere Bedeutung seiner Landschafts- und Naturschilderungen mögen mit der Sinnlichkeit der ekstatisch tanzenden Chassidim korrespon¬ dieren, in der sich für Roth "nicht nur die Kraft eines fanatischen Glaubens", sondern ein "körperliches Verlangen und geistiger Genuß", "Brunst und In¬ brunst"76 ausdrückten. Aus dem spezifischen Charakter ostjüdischer Religi¬ onstraditionen allein sind diese jedoch nicht erklärbar. Der galizische Schrift¬ steller bricht aus dem religiösen Ostjudentum, dessen Enge für ihn in den "dunklen Chedem" symbolisiert war76, in die universelle Grenzenlosigkeit der osteuropäischen Landschaft aus.

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Die märchenhafte Vielvölkerlandschaft seiner erzählerischen Werke, die allzu direkt mit dem Mythos des habsburgischen Reiches identifiziert wurde, findet sich nicht zufällig auch jenseits der Grenzen der österreichischen Kronländer. Die 'jüdischen' Romane Hiob und Leviathan spielen zum Bei¬ spiel überhaupt nicht in der Habsburger Monarchie, sondern auf russischem Herrschaftsgebiet.77 Obwohl es sich, wie Maria Klanska betont, "um den gleichen Landschaftstypus und um ähnliche Menschentypen handelt"™, sollte man diese Grenzüberschreitung ernst nehmen und feststellen, daß sich'Roths literarische Schauplätze diesseits und jenseits des habsburgischen Reiches, jedoch stets in osteuropäischen Vielvölkerlandschaften, befinden. Sie verkör¬ pern stets ein privates Heimatbild", können dabei aber nicht unbedingt als "Metonymie für die Habsburgermonarchie" aufgefaßt werden.79 Wo Öster¬ reich-Ungarn Handlungshintergrund ist, verkörpert es eine nur ironisch zu verstehende mythische Ordnungsmacht, die sich permanent selbst in Frage stellt. Daß das alte Habsburg bis zu seinem Untergang für den "Traditionalisten" und "habsburgischen Nostalgiker" Joseph Roth eine über¬ geschichtliche und übernationale Einheit verkörperte80, wird mit der Ver¬ zweiflung Carl Joseph Trottas weit vor dem Untergang des Reiches selbst am besten widerlegt. Claudio Magris selbst hat sehr treffend festgestellt, Roth erwiese "sich gerade darin als authentisch, daß er sein [Habsburgs AH] Versagen auf der geschichtlichen Ebene deutlich werden läßt und durch seine Verkleidung als Märchen zugibt".81 Die Sehnsüchte von ostjüdischen Gestalten wie Mendel Singer oder Nissen Piczemk gelten nicht etwa dem vom habsburgischen Kaisertum geschützten Shtetl. Österreich spielt weder in Hiob noch in Leviathan eine Rolle, und Nissen Piczemk bricht aus der beschränkten Welt seiner jüdischen Kleinstadt aus. Er beginnt, sein Geschäft zu vernachlässigen und hält die religiösen Ri¬ tualen nicht mehr ein, weil er Verlangen nach den Korallen wie der schran¬ ken- und grenzenlose Weite des Ozeans verspürt. Daß Roths Figuren in ihrem irdischen Leben nirgendwo ankommen, son¬ dern wechselnde geistige Entwürfe verfolgen bzw. sich stets nach einer 'anderen Fremde sehnen, hat Claudio Magris mit dem Titel seiner Studie über Roth und das Ostjudentum erfaßt: "Lontano da dove" - "Weit von wo". In einem Aufsatz über den "ostjüdischen Odysseus" arbeitete er heraus, daß die Sehnsucht des Schriftstellers niemals einem konkreten irdischen Ort gilt. Auch das habsburgische Reich sei nur eine "Dimension der Seele und eine geistige Struktur".82 Die Odyssee ist bei Roth eine Heimkehr auf der Suche nach einer Heimat die m keinerlei räumlichen und zeitlichem Maße zurückzugewinnen ist Im Kreis¬ lauf der historischen Erfahrung taucht Heimat nur in einer geschichts- und zeitlosen Gegenwart in Augenblicken ekstatischer Vergessenheit auf die keine

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bestimmte oder örtlich bestimmbare Vergangenheit zurückgewinnen

[...]83

Der besondere Charakter von Roths literarischem Schaffen kann insofern auf seine "jüdische Identität" zurückgeführt werden, als der Schriftsteller in der universellen Sendung der Juden, Gottes Botschaft unter den Völker zu ver¬ wirklichen, offensichtlich auch seine literarische Aufgabe sah. Die "Mission der Juden, der Welt Gott zu geben"84 aber setzte deren Unzugehörigkeit und geistige Unabhängigkeit voraus. In einem Aufsatz über den "Segen des ewi¬ gen Juden" meinte er, mit kritischem Blick auf den Zionismus, über die Ju¬ den: Sie waren über die Welt verstreut worden, um Gottes Namen zu verbreiten. Sie haben indessen Gott selbst vergessen und müssen sich nun wieder in eine geo¬ graphisch beschränkte Nationalität zurückziehen 8-

Auch wenn sich die meisten seiner jüdischen Zeitgenossen, die unter ihrer Ausgeschlossenheit litten, Roths Vorstellungen von der Aufgabe des Juden¬ tums verständlicherweise nicht anschließen konnten, und der Autor für seinen Aufsatz heftigen Widerspruch erfuhr86: Der österreichische Jude betrachtete das ahasverische Schicksal der Juden nicht als Fluch , sondern als Segen . 1929 hatte er in einer Polemik gegen die Berichterstattung der jüdischen Presse über die Unruhen in Palästina betont, daß nicht nur in Jerusalem eine Klagemauer stehe.87 Im "Willen der Geschichte", daß das Volk der Juden "kein Land bewohne, sondern Landstraßen bewandere"88, fand er einen "religiösen" Sinn. Anderthalb Jahre nach Hitlers Machtantritt meinte der ehemalige Feuilletonredakteur der "Frankfurter Zeitung in der Prager "Wahrheit", daß "wir jetzt ein paar Millionen Kosmopoliten" nötig hätten: "Beine und Füße hat Gott dem Menschen gegeben, damit er wandere über die Erde, die sein ist. Das Wandern ist kein Fluch, sondern ein Segen."89 Mit seinen Vorstellungen von einer übernationalen Mission des Judentums war Roth unter den jüdischen Schriftstellern und Intellektuellen seiner Zeit keinesfalls allein.90 Überdies hatte auch schon der führende Rabbiner des Re¬ formjudentums, Leo Baeck, in seinem Hauptwerk über Das Wesen des Ju¬ dentums Israels Zerstreuung als "eine Aussaat über alle Lande hin" betrach¬ tet, "durch die Gottes Wort überall erwachsen soll".91 In dem säkularisiert mythischen Sinne, wie er uns bei Joseph Roth begeg¬ net, verkörpert das osteuropäische Judentum eine universelle Humanität, die sich über die Zugehörigkeit zu bestimmten nationalen und konfessionellen Identitäten erhebt, unter seiner spezifisch "jüdischen Identität" eine allein Gott verpflichtete ideologische Unzugehörigkeit und geistige Unabhängigkeit versteht. Der intellektuelle Vagabund Roth, der seit seinem achtzehnten Jahr nur Hotels bewohnte, hat sein Leben lang in einer sehr bewußten 'Diaspora

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gelebt. Schon Hans Otto Ausserhofer hat festgestellt, daß Joseph Roth das "ahasverische Geschick" seiner Figuren "zeit seines Lebens selbst teilte", und dabei auf die äußerst aufschlußreiche Tatsache hingewiesen, daß "darüber in seinem gesamten Werk kein Wort der Klage zu finden ist".92

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Literatur

1 Vor allem: Hans Otto Ausserhofer. Joseph Roth und das Judentum. Ein Beitrag zum Ver¬ ständnis der deutsch-jüdischen Symbiose im zwanzigsten Jahrhundert. Bonn 1970. Diss. u. Magris, Claudio. Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974. 2 Maria Klanska. "Zur slawisch-jüdischen Nachbarschaft im Schaffen Roths" (Unveröffentlichter Beitrag auf der Tagung "Joseph Roth und Galizien". 31.8.-2.9.94.) 3 Hans Otto Horch: "Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben...". Zum Verhältnis von 'Ka¬ tholizismus' und Judentum bei Joseph Roth. Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationslite¬ ratur im 20. Jahrhundert. Hg. Itta Shedletzky und Hans Otto Horch. Tübingen: Max Nie¬ meyer, 1993, S. 205-235. 4 David Bronsen. "Joseph Roths lebenslange Auseinandersetzung mit dem Zionismus", Zeitschrift für Geschichte der Juden XU (1970), S. 1-4. Ausserhofer, Hans Otto. "Joseph Roth im Widerspruch zum Zionismus". Emuna 5 (1970) S. 325-330. 5 Maria Klanska. "Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths". Joseph Roth. Interpre¬ tation, Rezeption. Kritik. Akten des internationalen interdisziplinären Symposiums 1989. Hg. Michael Kessler/Fritz Hackert, Tübingen 1990, S. 143-146. 6 Klaus Bohnen: Flucht in die 'Heimaf. Zu den Erzählungen Joseph Roths. Galizien - Eine literarische Landschaft. Hg. v. Stefan H. Kaszynski, Poznan, 1987, S. 139-150. 7 Claudio Magris Weit von -wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974. 8 "Vorwort zu meinem Roman: 'Der Radetzkymarsch'." Joseph Roth Werke 5. Romane und Erzählungen 1930-1936, Hg. mit einem Nachwort von Fritz Hackert, S. 874. 9 "Juden auf Wanderschaft". Joseph Roth Werke 2. Das journalistische Werk 1924-1928. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln 1989, S. 827-891, hier: S. 834. 10 Vgl. David Bronsen. Joseph Roth Eine Biographie. Gekürzte Fassung. Köln 1993, S. 22-25. 11 Übereinstimmend bezeugten dies Irmgard Keun, Andrea Manga Bell, Pierre Bertaux und Rene Schickele. Vgl. David Bronsen. Joseph Roth. Eine Biographie, S. 270f. - Max von Riccabona hat kürzlich verraten, was er Bronsen im Brief vom 5.1 1.1969 verschwieg (Vgl. Bronsen, S. 270), daß er selbst Roth etwa zwei Wochen vor seinem Tod die Nottaufe verabreicht habe. (Vgl. Ulrike Längle. "'Ich bin ein Selbstbeobachter, der sich sozusagen unter dem Mikroskop analysiert'. Über den Schriftsteller Max Riccabona." Allmende 15 (1995), Nr. 46/47, S. 25) 12 Briefe 1911-1939. Hg. Hermann Kesten. Köln 1970, S. 98 (1.10.26). 13 Vgl. Briefe, S. 81 (16.2.26) bzw. S. 417 (24.7.35).

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14 Ebd. - Vgl. "Bekenntnis zu Deutschland" Frankfurter Zeitung, 27.9.31. Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939. Hg. u. mit einem Nachwort von Klaus We¬ stermann, Köln 1991, S. 391-395. 15 Briefe, S. 94 f. (26.9.26). 16 Bronsen, S. 341-343. 17 Gershon Shaked. "Kulturangst und die Sehnsucht nach dem Tode. Joseph Roths 'Der Leviathan' - die intertextuelle Mythisierung der Kleinstadtgeschichte. Joseph Roth. Inter¬ pretation, Rezeption, Kritik Akten des internationalen interdisziplinären Symposiums 1989, Hg. Michael Kessler/Fritz Hackert, Tübingen 1990, S. 279-298, hier: S. 279. 18 Hans Otto Horch. "Im Grund ist er sehr jüdisch geblieben...", a.a.O. 19 "Der Segen des ewigen Juden". [EV: Die Wahrheit, 30.8.34], Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939, Hg. u. mit einem Nachwort von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 531. 20 Zu dem geistesgeschichtlichen Kontext, in dem dies steht: Vgl. Ost und West. Jüdische Publizistik 1901-1928. Hrsg. v. Andreas Herzog mit einem Nachwort "Die Ostjuden. Kul¬ turelle Wirklichkeit und Fiktion", Leipzig: Reclam, 1996. 21 "Juden auf Wanderschaft", S. 842f. 22 Ebd., S. 834. 23 Ebd., S. 835. 24 Ebd., S. 837. 25 "Juden auf Wanderschaft", S. 837. 26 Ebd., S. 837. 27 "Betrachtung an der Klagemauer", [EV: Das Tagebuch, 14.9.1929], Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939. Hg. u. mit einem Nachwort von Klaus Wester¬ mann, Köln 1991, S. 86-89. 28 Ebd., S. 87. 29 Ebd., S. 88f. 30 Juden auf Wanderschaft, S. 843. 31 Ebd., S. 841. 32 Ebd., S. 856.

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33 Ebd., S. 854. 34 Ebd., S. 828 35 Ebd.. S. 858. 36 Ebd., S. 829. 37 Ebd., S. 856. 38 "Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken'", [EV: Der Christliche Ständestaat. Österrei¬ chische Wochenhefte, Nr. 38, 26.9.1937]. Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939, S. 737-742. 39 Der Arzt und Journalist Wolfgang von Weisl (geb. 1896) wanderte 1922 nach Palästina aus und gründete mit Wladimir Jabotinsky die rechtsnationale revisionistische Partei. Seine Artikelserie erschien in den Nummern 35, 36 und 37 des Christlichen Ständestaat (1937). 40 "Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken'", S. 739. 41 Vgl. Leo Baeck. Das Wesen des Judentums. Wiesbaden: Fourier, 1988, S. 201, bzw. 71, 73,75. 42 Baeck, S. 77f. 43 Ebd. S. 738f. 44 Horch, '"Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben...'", S. 214. 45 "Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken'", S. 738. 46 Ebd., S. 737 - Hervorhebung v. Roth. 47 "Entsteht aber ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß. Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde." (2. Mose 21, 23-24) 48 Vgl. Ex. 22, 20 u. Lev. 24, 22. 49 "Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken'", S. 737. 50 "Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken'", S. 741. 51 Ebd., S. 741 f. 52 "Autodafe des Geistes" [Cahiers Juifs, Sept./Nov. 1933] Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939, Hg. u. mit einem Nachwort von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 495.

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53 Eva Reichmann. "Heimatlosigkeit als Heimat im Werk Joseph Roths", S. 12. (Unveröffentlicher Beitrag auf der Tagung "Joseph Roth und Galizien". 31.8.-2.9.94.) Der Vortrag ist in leicht veränderter Form im vorliegenden Band abgedruckt; ich zitiere nach dem Manuskript des Vortrags. 54 "Hotel Savoy. Ein Roman". Joseph Roth Werke 4, Romane und Erzählungen 19161929. Hg. mit einem Nachwort von Fritz Hackert, Köln 1989, S. 216. 55 "Flucht ohne Ende. Ein Bericht". Joseph Roth Werke 4. Romane und Erzählungen 19161929. Hg. u. mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln 1989, S. 428. 56 Reichmann, S. 10. 57 "Hotel Savoy", S. 204. 58 "Hotel Savoy", S. 202. 59 Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde, Köln 1984, S. 9. 60 Reichmann, S. 11. 61 Tarabas, S. 29. 62 "Radetzkymarsch", Joseph Roth Werke 5. Romane und Erzählungen 1930-1936. Hg. Fritz Hackert, Köln 1989, S. 234. 63 Claudio Magris: Weit von Wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974. - Mit "Chronik und Klage" ist das Einleitungskapitel dieser Arbeit überschrieben, vgl S. 11-26. 64 Magris, Weit von wo, S. 24. 65 Ebd., S. 16. 66 Ebd., S. 18 u. S. 24. 67 Ebd., S. 15. 68 Ebd., S. 14 u. 24. 69 Ebd., S. 17. 70 Ebd., S. 17. 71 Ebd., S. 111. 72 "Hiob". Joseph Roth Werke 5. S. 82 bzw. 87 73 Ebd., S. 98.

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74 Klanska, "Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths", S. 153 bzw. S. 145. 75 "Juden auf Wanderschaft", S. 232. 76 Ebd. 77 Klanska, "Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths", S. 145 78 Ebd., S. 144f. 79 Vgl. ebd., S. 144. - Maria Klanska unterscheidet zwischen den außerhalb der staatlichen Grenzen Österreichs spielenden Werken, die ein "privates Heimatbild” verkörpern, aber "als galizisch" zu empfinden sind und Werken, in denen Galizien als Metonymie für die Habsburgermonarchie dient. Letzteres hat bei Werken wie Radetzkymarsch oder Das fal¬ sche Gewicht selbstverständlich seine Berechtigung. 80 Vgl. Claudio Magris: Weit von wo Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974, bes. S. 15 u. S. 24. 81 Vgl. ebd., S. 113. 82 Claudio Magris. "Der ostjüdische Odysseus - Roth zwischen Kaisertum und Golus Jo¬ seph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Hg. u. eingeleitet von David Bronsen. Darmstadt 1975, S. 181-225, hier. S. 184. 83 Ebd., S. 186. 84 "Der Segen des ewigen Juden", S. 531. 85 Ebd. 86 Vgl. Mannheimer, Georg. "Der Fluch des ewigen Juden. Eine Antwort auf Joseph Roths Artikel 'Der Segen des ewigen Juden'" [Die Wahrheit, 8.9.34] Joseph Roth Herke 3. S. 533-535; - Vgl. auch: Manfred Georg: "Der Segen der Wanderung. Zu Joseph Roths neuen Büchern, Jüdische Rundschau 39 (1934), Nr. 83, S. 7. 87 "Betrachtung an der Klagemauer", S. 87. 88 "Betrachtung an der Klagemauer", S. 87. 89 "Der Segen des ewigen Juden", S. 532. 90 Vel Andreas Herzog. "Die Mission des Übernationalen". Zu den Judentumskonzeptio¬ nen einiger deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller (A. Wolfenste,n, A Ehrenstein, R. Kayser L. Feuchtwanger, J. Roth), in: Das Jüdische Echo Zeitschrift für Kultur & Politik. Hrsg. v. den Jüdischen Akademikern Österreichs und der Vereinigung jüdischer Hoch¬ schüler Österreichs, 1996.

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91 Baeck, Das Wesen des Judentums, S. 79 92 Ausserhofer, "Joseph Roth im Widerspruch zum Zionismus", S. 329

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"Kannst Du Dir etwas Verwandteres denken als die Begriffe: Heimat und Kuchengeruch?" > Heimatlosigkeit als Heimat im Werk Joseph Roths Die bekannten literarischen Werke Roths stammen aus der Zeit nach 1918, als die Habsburger Monarchie längst aufgehört hatte zu existieren. Dennoch gilt Joseph Roth schlechthin als der Autor, der am besten das Lebensgefühl der Habsburger Monarchie beschrieben hat. Es ist kein Widerspruch, daß ihm dies erst gelungen ist, als der direkte Bezug zum beschriebenen Objekt nicht mehr gegeben war: Fehlt die Realität als Vergleichsmoment, vermittelt eine oft sentimental dargestellte - Erinnerung einen höheren Grad von Authenti¬ zität, als dies das Erleben einer konkreten Gegenwart hätte tun können. Das Lebensgefühl, welches uns Roth in seinen Romanen vermittelt, ist nicht das der Monarchie: Es ist das Gefühl der Zeit danach, das Gefühl, welches un¬ mittelbar aus dem Zerfall der Monarchie resultiert. Dieses Lebensgefühl Roths manifestiert sich in der Darstellung des Begriffsraumes "Heimat” in¬ nerhalb seines Werkes. Über die verschiedenen Darstellungsformen von Heimat im Werk Joseph Roths ist viel geschrieben und nachgedacht worden. Sehr oft wird Galizien als Heimat, nicht nur des Autors, sondern auch seiner Figuren, oft in biogra¬ phischem Kontext, untersucht. Hier sind vor allem die Arbeiten von Maria Klanska zu nennen. Sie bezeichnet Galizien als Roths verlorene Heimat, wel¬ che für ihn in der Zeit, als er die "große Heimat" (die Monarchie) verloren hatte, zum Sinnbild der Vielvölkermonarchie geworden sei.2 Galizien sei für Roth der Ort des Friedens. Die Autorin bemerkt, daß sich Roths Galizienbild eines "heimatlichen Arkadiens" aus Versatzstücken wie quakenden Fröschen im Sumpf, trillernden Lerchen, goldenen Kornfeldern oder zirpenden Grillen zusammensetzt3, und interpretiert diese Darstellungsweise als bloße Land¬ schaftsbeschreibungen; meines Erachtens zeigt sich hier, daß es sich bei Roths Galizienbild um eine sentimentale Kindheitserinnerungen handelt. Neben diesem örtlich-konkreten Heimatbezug von Roths Figuren wird in der Sekundärliteratur eine weitere, eher abstrakte Beheimatung der Figuren innerhalb der geistigen Zusammenhänge und des Lebensgefühls der k.u.k. Monarchie festgestellt. Dies geht vor allem auf die zahlreichen Arbeiten von David Bronsen zurück. Bronsen stellt in Roths Werk eine rückwärtsgewandte Utopie fest:

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Aber in Tagen der Not und des Exils vor dem zweiten Weltkrieg phantasiert sich Roth, in seinem Verlangen nach Zugehörigkeit und Geborgenheit, in hoff¬ nungsvolle Scheinbilder der Neubelebung alter österreichischer Formen und der Restauration der Habsburger hinein.4

Seiner Ansicht nach hing Roth zwar gefühlsmäßig an Galizien, sei von dort aber auf der Suche nach dem eigentlichen Österreich weggetrieben worden.5 Urheber dieser Interpretation des Rothschen Heimatbegriffs dürfte Hans Natonek gewesen sein, welcher bereits 1939 Roth zum literarischen und tat¬ sächlichen Kämpfer für die Habsburger Monarchie ernannt hatte.6 Seitdem wird Roth in der Sekundärliteratur sehr häufig unterstellt, der verlorenen Heimat - sei es nun Galizien oder die Monarchie - sehnsuchtsvoll nachgeweint zu haben. So ist für Otto Forst de Battaglia Roth "...der ewig wandernde, nie eingewurzelte, stets nach einer Heimat begehrende Jude Jo¬ seph Roth..."7. Sowohl Bronsen als auch Forst de Battaglia stellen jedoch fest, daß sich diese Art von Heimatsehnsucht eher in Roths Spätwerk zeigt; für das frühe Werk stellt Forst de Battaglia fest: "Zu Anfang war in ihm und seinen Wer¬ ken nichts als die Unrast derer, die unstet auf Wanderschaft sind."8 Bronsen bestätigt, daß Roths Zeitungsbeiträge aus den Jahren 1919-1920 ihn als skeptischen, aber dennoch zukunftsfreudigen linksorientierten Mann zeigen, der gegen Klerikalismus und Monarchismus Stellung bezieht.9 Bronsen er¬ wähnt auch, daß das Frühwerk Roths immer Flucht oder die Figur des Heim¬ kehrers thematisiere. Trotz dieser eindeutigen Hinweise darauf, daß die Monarchiesehnsucht Roths wohl nur für das Spätwerk zu dokumentieren ist, wird in neuerer Se¬ kundärliteratur diese Heimatsehnsucht als Topos dargestellt, welcher das ge¬ samte Werk strukturiere, wie dies zum Beispiel W.G. Sebald tut, welcher schreibt, daß sich alle Figuren Roths nach Heimat sehnen.10 Interessant ist der Standpunkt von Klaus Bohnen H, der feststellt, daß Heimat im Werk Roths auch einen reflektierten Ordnungsbegriff darstellt; die Monarchie, als ein das Recht aller garantierendes Ordnungssystem, oder die Religion, welche durch ihre Gesetze ähnliches leistet, ermöglichen den Figu¬ ren eine Identität im Rahmen dieser beiden Gebilde, welche, nach Bohnen, eine Identifikation mit deren Formen zuläßt und so den Figuren eine Heimat innerhalb dieser Ordnungsstrukturen bietet. Bohnen spricht eine weitere Möglichkeit der Interpretation des Rothschen Heimatbegriffs an: [...Herstellung einer "heimatlichen Heimat" in einer Welt, in der die Bedin¬ gung für die lebenswirkliche nicht mehr gegeben ist. [...] Diese Heimatkonzep¬ tion löst sich von jedem geographischen Umkreis und wird zur anthropologi¬ schen Größe.12

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Diese Lesart des Rothschen Heimatbegriffs stellt eine interessante Weiter¬ entwicklung der bisherigen Ansätze dar. Jedoch auch Bohnen unterstellt den Figuren Roths, gegen den Heimatverlust zu revoltieren13, den Zwang zur Ausbildung eines inneren Heimatbilds als Verlust und als Mangel zu empfin¬ den. Dies ist meines Erachtens falsch, sehr viele von Roths Figuren akzeptie¬ ren diesen Heimatverlust und nützen die dadurch gegebenen neuen Möglich¬ keiten für sich; bezeichnenderweise stützen sich anderslautende Darstellun¬ gen fast immer auf nur eine Figur, die des Trotta, der mit den neuen Umstän¬ den nicht zurechtkommt und trinkt; die Vielzahl der anderen Figuren wird übergangen. An diesem Punkt möchte ich mit meiner eigenen These ansetzen: Heimat stellt im Werk Roths keine feste Größe dar. Sie liegt für die Figuren in einem Lebensgefühl, weiches Zugehörigkeit oder Geborgenheit vermittelt. Dieses Geborgenheitsgefühl ist für die meisten männlichen Figuren Roths eng mit Kindheitserinnerungen verknüpft und durch das Erwachsenwerden verloren¬ gegangen, wie zum Beispiel das folgende Zitat aus Hotel Savoy belegt: Mein Zimmer schien mir vertraut, als hätte ich schon lange drin gewohnt, be¬ kannt die Glocke, der Druckknopf, der elektrische Taster, der grüne Lampen¬ schirm, der Kleiderkasten, die Waschschüssel. Alles heimisch, wie in einer Stube, in der man eine Kindheit verbracht, alles beruhigend, Wärme verschüt¬ tend, wie nach einem lieben Wiedersehen.14

Roths Figuren sind in der Heimatlosigkeit selbst beheimatet. Prämisse für diese These ist, daß man die Möglichkeit, daß ein Lebensgefühl eine emotio¬ nale oder auch mentale Heimat darstellen kann, akzeptiert; ist die Heimatlo¬ sigkeit das prägende Lebensgefühl eines Zeitabschnittes, so ist es eine Hei¬ matmöglichkeit für die sich in diesem Zeitabschnitt aufhaltenden Figuren. Es mag nicht Roths erzählerische Absicht gewesen sein, bewußt Figuren zu zeigen, welche in der Heimatlosigkeit ihre Identität gefunden haben; viel¬ leicht geht es dem Autor tatsächlich darum, durch die Darstellung von Ent¬ wurzelung den Zerfall einer Zeit und eines Lebens- und Zugehörigkeitsge¬ fühls als negativ zu beschreiben. Doch scheint dem Dichter hier wohl ein Versehen unterlaufen zu sein (zukünftige Untersuchungen mögen zeigen, ob es sich vielleicht doch um eine absichtliche Gestaltung in dieser Richtung handelt): Einige Figuren beziehen ihre Identität explizit aus dem Zustand der Heimatlosigkeit und sind gerade deshalb besonders glaubwürdig geschildert; zugleich wird das Klischee von Heimatbezug zu einem konkreten Land oder zur eigenen Herkunft von Roth oft, fast ironisierend, in Frage gestellt, so daß sich der Schluß ziehen läßt, daß gerade die Heimat- und Ruhelosigkeit die ei¬ gentliche (mentale) Heimat dieser Figuren darstellt.

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Roths Werk ist gekennzeichnet von einer großen Widersprüchlichkeit: Die konkrete Heimat seiner Figuren versucht er als ein Haus oder ein Dorf darzu¬ stellen, welches im Werk Synonym wird für Frieden, Sicherheit und Gebor¬ genheit sein soll; der Schwerpunkt der Darstellung liegt jedoch nicht in die¬ sem positiven Bezug zu einer konkreten Heimat, sondern in der Darstellung der Entwurzelung, des Verlustes dieser Heimat (oder besser der Werte, wofür sie steht), der Ruhe- und Rastlosigkeit der Figuren als eine sie vollständig prägende Eigenschaft. Die Art, in der Roth diese Ruhelosigkeit und Entwur¬ zelung darstellt, läßt nicht unbedingt den Schluß zu, daß es sich für die be¬ troffenen Figuren um eine negative Erfahrung handelt. Vielmehr bedeutet für die meisten der Verlust der Monarchie oder der örtlich-konkreten Heimat ei¬ ne charakterliche und innerliche Weiterentwicklung, welche sie beim Weiter¬ bestehen der Traditionen oder im Falle von Seßhaftigkeit an einem Ort nicht durchgemacht hätten. Nur ein kurzes Gedankenspiel zu diesem Punkt: Wel¬ che im Grunde langweilige und einförmige Existenz hätte ein Franz Tunda ohne den Krieg gehabt; Nikolaus Tarabas wäre nie gezwungen gewesen, sich Gedanken über sich selbst zu machen; Friedrich Kargan hätte sich in einer si¬ cheren Heimat nicht weiterentwickelt und Gabriel Dan hätte, ohne zu überle¬ gen, einfach die Tradition seiner Eltern fortgesetzt. Roth selbst hatte durch den Verlust der Heimat seine eigentliche Identität erst gefunden. Eilig verließ er bei der ersten Gelegenheit das "langweilige" Brody und Galizien, welches er in einem Feldpostbrief vom 24.8.1917 gar nicht verklärend oder sehnsuchtsvoll als "ostgalizischen Augiasstall"15 be¬ zeichnet. In rasendem Tempo vollzieht er seine Assimilation, gibt freiwillig seine bisherige Identität auf, um eine neue anzunehmen, und betrachtet wohl die Wiener Jahre als die Zeit seiner Menschwerdung. 1925 nennt er in einem Brief an Benno Reifenberg die Luft in Frankfurt "Heimatluft"16, lehnt aber zugleich eine Rückkehr dorthin oder nach Österreich kategorisch ab. Für Roth selbst war das Verlassen der heimat der Anstoß zu seiner journalisti¬ schen und schriftstellerischen Entwicklung. Auch Roths Äußerungen in Briefen lassen den Schluß zu, daß er selbst durch den Verlust der Monarchie und der örtlichen Heimat ebenfalls eine Weiterentwicklung erlebt hat, darunter zwar gelitten hat, sich über den dyna¬ misierenden Prozeß aber wohl im klaren war: Mich zu fixieren ist unmöglich. Ich habe keinen stabilen literarischen "Charakter". Aber ich bin auch sonst nicht stabil. Seit meinem achzehnten Le¬ bensjahr habe ich in keiner Privatwohnung mehr gelebt, höchstens eine Woche als Gast bei Freunden. Alles, was ich besitze, sind drei Koffer. Und das er¬ scheint mir gar nicht merkwürdig. Sondern merkwürdig "romantisch" kommt mir ein Haus vor, mit Bildern und so weiter. Auch habe ich in einem Anfall von Leichtsinn die Verantwortung für eine junge Frau übernommen.1^

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Er fühlt oder erkennt, daß man politischen Veränderungen nicht mit dem Be¬ harren auf Traditionen oder Althergebrachtem begegnen kann: Aber zwingen sollten Sie sich zur Unruhe. Denn diese allein kann uns noch zu unseren Lebzeiten zu unserem Ziel bringen. Ich trinke deswegen, wie Sie wis¬ sen, um nicht in der tödlichen Ruhe bleiben zu müssen. Denn wir können der Dynamik des Wahnisnns, die diese Zeit erfüllt, nur durch eine ähnliche Dyna¬ mik begegnen, eine besser intentionierte.18

Seine Figuren sind, was ihr Lebensgefiihl angeht, in vielen Punkten autobio¬ graphisch gestaltet; wie bei Roth selbst hat ihre Identität nicht unbedingt mit einer örtlich konkreten Heimat zu tun, sondern wird aus den neuen Zeitzu¬ sammenhängen bezogen: Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, daß ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle. Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der Fremde. Wenn ich mich nur einmal verlasse, verliere ich mich auch. Deshalb achte ich peinlich darauf, bei mir zu bleiben.19

Durch die Annahme, daß Roths Figuren in einem Lebensgefiihl, welches durch gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge determiniert ist, mental beheimatet sind, lassen sich sowohl die Protagonisten beschreiben, die inner¬ halb der Tradition der Monarchie oder einer Religion verwurzelt sind, als auch diejenigen, denen diese Art von Identifikationsmöglichkeit nicht (mehr) zur Verfügung steht; die letztere Gruppe wurde von der Sekundärliteratur bislang meist als "Sonderlinge”20 bezeichnet. An kurzen Beispielen aus der Zeichnung der Figuren Gabriel Dan, Franz Tunda, Friedrich Kargan und Ni¬ kolaus Tarabas soll belegt werden, daß der Zustand der Heimatlosigkeit als Lebensgefühl die eigentliche Heimat dieser Figuren darstellt, weil für sie eine Existenz außerhalb dieser Heimatlosigkeit, also innerhalb eines Vaterlandes, eines Staates, einer Religionsgemeinschaft oder eines Familienverbandes nicht möglich ist. Das hervorstechende Merkmal der Zeit zwischen den Weltkriegen, innerhalb der die genannten Figuren sich bewegen, ist Ruhelo¬ sigkeit und gesellschaftlicher und politischer Umbruch, die genannten Figu ren sind ruhelos, ungebunden und mobil und deshalb mit ihrer Lebenszeit und dem entsprechenden Lebensgefiihl identisch. In ihnen ist ein dynami¬ sches Potential, welches eine Weiterentwicklung erst möglich macht, bei Graf Morstin hingegen steht die Zeit still.

Gabriel Dan, Hotel Savoy21

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Bei seiner Ankunft im Hotel Savoy bezeichnet sich Gabriel Dan als einen Heimkehrer aus dem Krieg und aus der Fremde; doch gleich zu Beginn des Romanes fällt auf, daß Dan es nicht besonders eilig hat, an den Ort seiner Herkunft zurückzukehren. Er will in einer Stadt verweilen, die für ihn wohl so gut oder schlecht ist wie jede andere. Anstatt so schnell wie möglich zu seinem Heimatort zurückzukehren, wie man es wohl von einem Heimkehrer erwarten würde, freut er sich "wieder ein altes Leben abzustreifen, wie so oft in diesen Jahren." (Savoy, S. 7) Dieser Satz zeigt, daß Dans Leben auch bis¬ lang nicht konstant und traditionell verlaufen ist, sondern durch Brüche und Dynamik gekennzeichnet war. Die Ruhelosigkeit und Unbeständigkeit sind sein eigentliches Lebensgefühl, das Heimkehren ist nur Vorwand für das Fortsetzen eines wechselhaften, nicht abgesicherten Lebens in einem Hotel dessen Natur es ist, Durchgangsstation zu sein. Heimkehren ist ein weit ent¬ ferntes Ziel, welches Dan im Grunde gar nicht erreichen möchte, wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigt: "Sie sind ja fremd hier?" fragte Bloomfield und sah uns beide an Zwonimir und mich. [...] "Wir sind Heimkehrer", sage ich, "und halten uns nur zum Spaß hier auf. Wir wollen weiterfahren, mein Freund Zwonimir und ich.” "Sie sind schon lange unterwegs” fiel der höfliche Bondy ein. [...] "Sechs Mo¬ nate , sage ich, "sind wir unterwegs. Und wer weiß, wie lange noch " (Savoy S. 74). \

Angesichts der relativen Nähe des Heimatortes zeigt die Antwort Dans daß er eigentlich nicht die Absicht hat, dorthin zurückzukehren. Roth druckt die Unmöglichkeit eines konstanten, geregelten Lebens als Alternative zur nun freiwillig gewählten Heimatlosigkeit (denn Dan wird nicht daran gehindert, "nach Hause" zu fahren) selbst aus: Es ist wieder die Zeit der Heimkehrer [...] Sie wissen von fremden Ländern und fremdem Leben und haben, wie ich, viele Leben abgestreift. Sie sind Landstrei¬ cher. Ob sie mit Freuden nach Hause wandern? Wären sie nicht lieber in der großen Heimat geblieben, statt in die kleine heimzukehren, zu Weib und Kind und Ofenwarme? (Savoy, S. 60)

Wenig später wird im selben Text das Konstante eines geregelten Lebens gegenüber den freien Entscheidungsmöglichkeiten eines Heimatlosen - sogar eindeutig als die schlechtere Alternative dargestellt: g Es ging ihnen schlecht, den Menschen. Das Schicksal bereiteten sie sich selbst n glaubten, es käme von Gott. Sie waren gefangen in Überlieferungen ihr z hing an tausend Faden. Auf allen Wegen ihres Lebens standen die Ver-

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botstafeln ihres Gottes, ihrer Polizei, ihrer Könige, ihres Standes. Hier durften sie nicht weitergehen und dort nicht bleiben. Und nachdem sic so ein paar Jahr¬ zehnte gezappelt, geirrt hatten und ratlos gewesen, starben sie im Bett und hin¬ terließen ihr Elend den Nachkommen. (Savoy, S. 78)

Diese Beständigkeit und die Einbindung in Traditionen, die Roth später in Radetzkymarsch für den Helden von Solferino und seinen Sohn, den Bezirks¬ hauptmann Trotta, als positive Komponenten von Heimat darstellt, werden hier nicht als Vermittlung von Geborgenheit und Zugehörigkeit, sondern als Einschränkung und Lebenslüge bezeichnet. Heimat wird in diesem Roman als austauschbare, vor allem aber individu¬ elle Größe dargestellt: Die Heimkehrer hören zu, und dann singen sie Lieder, jeder sein Heimatslied, und alle klingen gleich. Tschechische Lieder und deutsche, polnische und ser¬ bische, und in allen liegt die gleiche Trauer. (Savoy, S. 62)

Jeder dieser Menschen hat seine eigene Vorstellung von Heimat, allen ge¬ meinsam ist aber eine sentimentale Beziehung dazu. Auch das Ende des Hotels im Feuer - und mit ihm das Ende des Romans bringen für Gabriel Dan nicht die Fortsetzung der 'Heimkehr' an den Ort der Herkunft, sondern eine Fortsetzung der sogenannten Heimreise mit unbe¬ stimmtem Ziel, ein bewußtes Verharren im Zustand der Heimatlosigkeit. "Wir fahren in einem langsamen Zug mit südslawischen Heimkehrern" (Savoy, S. 100) schreibt Roth, ohne zu nennen, wo der Zug eingentlich hin¬ fährt, und er schließt mit dem Entwurf einer möglichen, aber auch kaum zu erreichenden Ersatzheimat: "Amerika." Da Gabriel Dan nicht der einzige Heimkehrer ist, eigentlich sein gesamtes soziales Umfeld aus ruhe- und ziellos Wandernden besteht, bildet sich so et¬ was wie eine Solidargemeinschaft der Heimatlosen, welche die durch den Verlust der Kindheit verlorene Geborgenheit und Sicherheit vermitteln kann. Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen [...] Heute aber bin ich nicht mehr allein in der Welt, heute bin ich ein Teil der Heimkehrer. (Savoy, S. 93)

Die Heimatlosigkeit von vielen verbindet sie, und macht sie zu einer starken Gruppe.

Franz Tunda, Flucht ohne Ende22 In einigen Punkten sehr ähnlich verläuft die Geschichte von Franz Tünda. Auch Tunda ist ein Heimkehrer, der sein örtlich-konkretes Ziel erst sehr spät

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erreicht, als es auch als Utopie inhaltsleer geworden ist. Zwar wird Tunda von Roth ausdrücklich als Österreicher, der sich über die Monarchie identifi¬ ziert, bezeichnet: "Die österreichisch-ungarische Monarchie war zerfallen. Er hatte keine Heimat mehr." (Flucht, S. 9) Im weiteren Verlauf des Romans wird jedoch klar, daß die eigentliche Verbindung zur Monarchie und somit zur Vergangenheit die Beziehung Tundas zu seiner Braut gewesen ist: Nun erst entschwand ihm seine Braut, mit ihr sein ganzes früheres Leben. Sei¬ ne Vergangenheit war wie ein endgültig verlassenes Land, in dem man gleich¬ gültige Jahre verbracht hat. Die Photographie seiner Braut war eine Erinnerung wie die Ansichtskarte von einer Straße, in der man gewohnt hat, sein früherer Name auf einem echten Dokument wie ein alter polizeilicher Meldezettel, nur der Ordnung wegen aufgehoben. (Flucht, S. 19)

Tunda hat kaum Schwierigkeiten, sich mit den veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen abzufinden, vielmehr identifiziert er sich sogar mit ihnen: "Er erinnerte sich manchmal an seine alte Welt, wie man sich an alte Kleider erinnert, er hieß Baranowicz, er war ein Revolutionär " (Flucht S. 23) ' v Er wechselt ohne große Mühe Wohnorte, Beziehungen und Identitäten, da dies seiner inneren Disposition entspricht: Vor zwei Monaten bin ich heimgekehrt - ich weiß nicht, ob dieses Wort ange¬ bracht ist [...] Du fragst mich, warum ich Rußland verlassen habe. Ich weiß keine Antwort. [...] Ich weiß nicht, ob ich morgen nach Australien, nach Ame¬ rika. nach China oder zurück nach Sibirien zu meinem Bruder Baranowicz gin¬ ge, wenn ich gerade könnte. Ich weiß nur, daß nicht eine sogenannte "Unruhe" mich getrieben hat, sondern im Gegenteil - eine vollkommene Ruhe Ich bin weder mutig noch abenteuerlustig. Ein Wind treibt mich, und ich fürchte nicht den Untergang. (Flucht, S. 50/51)

In diesem Darstellungszusammenhang scheint es unglaubwürdig, daß Roth unda, der in den verschiedensten Existenzen und Lebensumständen zu Hau¬ se gewesen ist, am Ende an der sentimentalen Sehnsucht nach dem zerfallen¬ den Wien emotional scheitern lassen will.

Friedrich Kargan, Der stumme Prophet23 Friedrich Kargan ist schon von Geburt an heimatlos: "Er hatte keinen Vater fPmnhTVIslT' kT ™ ZUr Kenntms genommen." (Prophet, S. 15) beschreibt Roth seinen Protagonisten, den er später innerhalb s

ezugsrahmens der zerfallenen Monarchie zu gestalten versucht.

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Kargan ist eine Figur, die keiner Gemeinschaft angehört. Er sucht Zugehö¬ rigkeitsgefühl und Gemeinschaft, indem er sich zuerst mit ganzem Herzen der Revolution verschreibt; nachdem diese Ideen für ihn keine Identifikations¬ möglichkeiten bieten, sucht er Geborgenheit und Sicherheit in der Beziehung zu Frauen; beides sind sehr instabile und dynamische Größen, die nicht ge¬ eignet sind, Konstanz zu gewähren. Dies entspricht jedoch der Disposition Kargans, der aufgrund der Internalisierung des Begriffes Heimatlosigkeit, der fast eine Lebensmaxime für ihn wird, gar nicht im Stande ist, dauerhafte Be¬ ziehungen zu einem konkreten Ort oder einem bestimmten Menschen aufzu¬ bauen. In keinem anderen Text beschreibt Roth Heimat als konkreten Ort oder so¬ zialen Zusammenhang derart utopisch-ironisch: Alle anderen wurzeln in einem Haus. Alle anderen sind festgefügt wie Ziegel in einer Mauer. Sie haben die köstliche Gewißheit, daß ihr eigener Untergang auch das Ende der andern ist. Die Gassen sind still und erfüllt von friedlichem Sonnenlicht. Verschlossene Fenster. Herabgelassene Jalousien. Lauter Glück und Liebe wohnen hinter den gelben und grünen Vorhängen. Söhne verehren Väter, Mütter verstehen ihre Kinder, Frauen herzen Männer, Brüder umarmen einander. (Prophet, S. 17)

Für Kargan, der seine Identität in der Revolution, also einer Ausdrucksform von Heimat- und Ruhelosigkeit, sucht, kann dieses scheinbare Idyll, welches eher einem Gefängnis entspricht, keine Heimatmöglichkeit sein. Roth geht sogar noch weiter: "Die Flüchtlinge bekamen Heimweh nach Südamerika" (Prophet, S. 9), heißt es; sie bekommen Heimweh nach einem Ort, an dem sie noch nie in ihrem Leben gewesen sind. Heimat wird somit utopisiert zu einer Imagination der individuellen Sehnsucht.

Nikolaus Tarabas, Tarabas24 Tarabas rebelliert bereits als Jugendlicher gegen das bestehende stabile Ord¬ nungssystem Staat und die darin liegende Identifikationsmöglichkeit. Auch sein weiteres Leben verläuft nicht konstant: Der Krieg wird für Tarabas zur Heimat: Vergessen waren Haus, Hof, Vater und Mutter und die Cousine Maria. Als er sich ihrer aller eines Tages erinnerte, war es zu spät, ihnen Nachricht zu geben; Tarabas Heimat war damals von Feinden besetzt. Wenig bekümmerte ihn dies, denn der Krieg war seine große, blutige Heimat geworden. (Tarabas, S. 30).

Als diese Identifikationsmöglichkeit nicht mehr existiert, wählt Tarabas die Obdachlosigkeit und ein Wanderleben, anstatt auf das Gut des Vaters zu-

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rückzukehren, was rein faktisch möglich wäre, durch seine innere Disposition aber nicht für ihn in Frage kommt. Wie schon in Hotel Savoy beschreibt Roth auch hier die Gemeinschaft der Obdachlosen als eine Gruppe, welche für die Zugehörigen Sicherheit und Geborgenheit vermittelt, also funktioniert wie Heimat: Es gibt in dem Lande, in dem die Geschichte unseres Nikolaus Tarabas spielt, eine Gilde der Bettler und Landstreicher. Eine sichere, gute Gemeinschaft der Heimatlosen, mit eigenen Sitten, eigenen Gesetzen, einer eigenen Gerichtsbar¬ keit zuweilen, eigenen Zeichen, einer eigenen Sprache. (Tarabas, S. 120)

Tarabas war "neugierig auf die Heimat" (Tarabas, S. 20) als den konkreten Ort der Kindheit, muß jedoch feststellen, daß die damit verbundenen Asso¬ ziationen nur aus der Entfernung, unter einem sentimentalen Aspekt, funktio¬ nieren: Er wunderte sich, daß Haus, Hof, Land, Vater und Mutter ihm näher gewesen waren im weiten, steinernen New York als hier, und obwohl er doch hierherge¬ kommen war, sie zu umarmen und seinem Herzen nahe zu fühlen. Tarabas war enttäuscht. (Tarabas, S. 23)

Heimatlosigkeit als freiwillig gewählter Lebensweg Die vier untersuchten Figuren aus Roths Werk haben geimsam, daß sie die Heimatlosigkeit freiwillig wählen; sie werden nicht durch äußere Umstände gezwungen, ihre mentale Disposition läßt keine andere Entscheidung zu. Dem jungen Trotta (wie auch seinem Vater) hingegen ist der Lebensweg durch Traditionen und väterliche Autorität vorgezeichnet, eine eigene Ent¬ scheidung wäre zwar möglich, ist innerhalb der dort dargestellten sozialen Strukturen jedoch kaum denkbar. Gabriel Dan jedoch wird nicht daran gehindert, seinen Weg in die Heimat ortzusetzen; er selbst verzögert die Heimkehr, indem er vorgibt, ausruhen zu müssen Spaß haben zu wollen, usw. Praktische Hindernisse stehen seiner Rückkehr nicht im Weg er wählt selbst den Zustand des 'Auf-dem-WegSeins, der Heimatlosigkeit. Ebenso, wenn nicht noch deutlicher, zeigt sich les im Falle Tundas: Er verlängert ohne zwingende Notwendigkeit seine Heimreise, baut an jeder Station eine neue Existenz auf; anstatt schnell wei¬ terzuziehen und bleibt auf diese Weise freiwillig heimatlos. Auch für Kargan hätte es Momente gegeben, in denen er hätte seßhaft werden können; er laßt sie jedoch ungenutzt vorübergehen (den Aufbau einer stabilen Beziehung mit Familiengründung zum Beispiel, oder die Mitarbeit beim Aufbau der revolutionären Partei). Niemand zwingt Tarabas, nachdem

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er seinen Abschied aus der Armee genommen hat, umherzuwandem; seine fi¬ nanziellen Mittel hätten zur Gründung einer eigenen Existenz gereicht, auch eine Rückkehr aufs Gut der Eltern wäre möglich gewesen. Da die vier beschriebenen Figuren in ihrer selbstgewählten Heimatlosig¬ keit beheimatet sind, scheitern sie eigentlich nicht an dem Leben, welches Roth sie führen läßt, denn es entspricht ihrer Veranlagung. Diesen Figuren fehlt die Überzeugung und der Glaube an eine übergeordnete Gemeinschaft oder sie gehen ihnen im Lauf der Geschichte sehr schnell verloren; ihre Be¬ ziehung zu einer örtlich-konkreten Heimat ist aus der örtlichen und zeitlichen Distanz heraus nostalgisch, eine Art Kindheitserinnerung. Anders verhält es sich bei Figuren - doch dies sei nur kurz angemerkt - die nicht bereit sind, ihre emotionale Bindung an eine verlorengegangene Welt aufzugeben. Sie halten verzweifelt an einer Lebenslüge und einer inhaltsleer geworden Form fest und müssen gewaltsam zum Bruch mit diesen Traditio¬ nen gebracht werden, was für die Figuren sehr großes Leid und einen tat¬ sächlichen Verlust bedeutet. Andreas Pum in Die Rebellion gibt auch nach dem verlorenen Krieg, im Dienste seiner Majestät zum Krüppel geworden, die mit dieser Majestät und seinem früheren Leben verbundenen tradierten Werte und Gefühle nicht auf; er scheitert gewaltsam an den neuen Zeitum¬ ständen und findet auf einer Herrentoilette sein Ende. Ähnlich verhält es sich mit dem Grafen Morstin in Die Büste des Kaisers, welcher per Dekret gezwungen werden muß, die Vergangenheit endgültig zu begraben; er kann in der neuen Heimatlosigkeit ebensowenig heimisch wer¬ den wie Pum; beide scheitern an den neuen gesellschaftlichen Zusammen¬ hängen. Heimat ist gleichzusetzen mit einem nostalgischen Gefühl von Geborgen¬ heit und Sicherheit, welches den Protagonisten bei Roth für kurze Dauer durch zwischenmenschliche Beziehungen vermittelt werden kann. Fast jeder männliche Protagonist im Werk Roths (und es gibt eigentlich nur Männer) sucht und findet das Gefühl von Geborgenheit in der Beziehung zu einer Frau. Am augenfälligsten ist dies bei den vier eben geschilderten Figuren. Gabriel Dan fühlt sich von dem Moment an, da er sich verliebt hat, nicht mehr alleine: "Lange war ich einsam unter Tausend gewesen. Jetzt gibt es tausend Dinge, die ich teilen kann." (Savoy, S. 18) Jeder Lebensabschnitt des Franz Tunda ist durch die Beziehung zu einer Frau gekennzeichnet. Die Vergangenheit, die er manchmal mit einer sehr va¬ gen Zukunftsvorstellung in Übereinstimmung zu bringen versucht, ist be¬ stimmt durch die Braut Irene; die erste Station der sogenannten Heimreise gehört Natascha, die zweite Alja; zwischendrin erscheint Klara und wird für kurze Zeit das Lebensziel Tundas. Friedrich Kargans Alternative zur Revolu¬ tion ist die Beziehung zu Hilde.

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Tarabas' Leben in Amerika ist geprägt durch seine Beziehung zu Kathari¬ na; in der Heimatregion auf dem Gut des Vaters versucht er, sich durch die eher gewaltsame Beziehung zu seiner Cousine Maria Geborgenheit zu ver¬ schaffen; beide Beziehungen müssen scheitern. Roth formuliert jedoch deut¬ lich, daß Frauen den Männern als Ersatz für Heimat dienen: Ein paar Monate nach seiner Ankunft hatte er Katharina kennengelemt, ein Mädchen aus Nischnij Nowgorod. [...] Tarabas liebte sie wie seine verlorene Heimat. Er konnte mit ihr sprechen, er durfte sie lieben, schmecken, riechen. Sie erinnerte ihn an die väterlichen Felder, an den heimischen Himmel, an den süßen Duft bratender Kartoffeln auf den herbstlichen Äckern der Heimat. (Tarabas, S. 10)

Und: "Er war gut zu ihr gewesen, sie hatte ihm die Heimat ersetzt." (Tarabas, S. 20). Da Stabilität und Konstanz jedoch nicht der inneren Disposition der Figuren entsprechen, kann diese Sicherheit nur von kurzer Dauer sein. Die wahre Heimat dieser Figuren Roths liegt im Gefühl der Heimatlosigkeit, in der Entwurzelung und den sich aus der Loslösung von bindenden Traditionen bietenden Vorteilen für die eigene Entfaltung - auch wenn sie nicht in Wohl¬ stand und materieller Sicherheit endet. Da auch ein Lebensgefühl oder eine innere Disposition Heimat sein kann, sind einige Figuren Roths innerhalb der Heimatlosigkeit beheimatet; dies entspricht den gesellschaftlichen und geisti¬ gen Verhältnissen ihrer Lebenszeit und somit den innerhalb dieser Zeit verorteten Figuren.

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Literatur

1 Joseph Roth in einem Brief an Paula Grübel, 1915 oder 1916. In: Joseph Roth, Briefe 1911-1939, hg. Hermann Kesten, Köln 1970. 2 Maria Klanska, "Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths." ln: Michael Kessler und Fritz Hackert, Joseph Roth. Interpretation, Rezeption, Kritik. Akten des internationalen in¬ terdisziplinären Symposions 1989. Tübingen 1990, S. 143-156. Hier Seite 144. 3 Klanska, o.a., S. 145. 4 David Bronsen, Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Darmstadt 1975, S. XV. 5 David Bronsen, "Joseph Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich." ln: Bronsen, o.a., S 3-16. Hier Seite 5. 6 Natonek Hans. "Die Legende Joseph Roth." In: Bronsen, o.a., S. 74-77. 7 Otto Forst de Battaglia, "Wanderer zwischen drei Welten." In: Bronsen, o.a., S. 77-86. Hier Seite 78. 8 Forst de Battaglia, o.a., S. 80. 9 Bronsen, o.a., S. 9 10 W.G. Sebald, Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Salzburg 1991, S. 109. 11 Klaus Bohnen, "Flucht in die 'Heimat'. Zu den Erzählungen Joseph Roths." In: Bernd M. Kraske, Joseph Roth. Werk und Wirkung. Bonn 1988, S. 53-70. 12 Bohnen, o.a., S. 67. 13 Bohnen, o.a., S. 67 14 Joseph Roth, Hotel Savoy. Ein Roman. Köln 1989., S. 9. 15 Roth, Briefe, o.a., S. 35. 16 Roth, Briefe, o.a., S 64-65. 17 Brief an Stefan Zweig, 27.2.1929. In: Roth, Briefe, o.a., S. 145. 18 Brief an Emst Krenek, 31.10.1934. In: Roth, Briefe, o.a , S . 390. 19 Brief an Gustav Kiepenheuer 1930. In: Roth, Briefe, o.a., S. 165.

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Eva Reichmann

20 Bohnen, o.a., S. 67. 21 Joseph Roth, Hotel Savoy Ein Roman. Erstausgabe 1929. Hier Köln 1989. 22 Joseph Roth, Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht. Erstausgabe 1927. Hier München 1988. 23 Joseph Roth, Der stumme Prophet Erstausgabe posthum 1966. Hier Hamburg 1987. 24 Joseph Roth, Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde. Erstausgabe 1934. Hier Köln 1984.

Ruth Rischin (San Francisco)

Art and Empire in Philip Latinovicz's Discourse of Becoming

O where are the pictures of my dead consciousness? Krleza (1969:305)'

On an April moming, waiting for a ride to the Croatian provinces, artist Philip Latinovicz looks about the caf, in his native Kaptol where he has been finishing his breakfast. He glances at the hunchbacked sweeper gathering up cigarette butts and scraps of silver paper, at the empty butcher's van before the ffiary wall, at the caged squirrel before the tulips in the flower bed, and he realizes, "this moming he retumed to an old picture that was still assailing him"2 (Krleza, 1966:45). The meditative stance of the hero - his mood of feit urgency to reconcile past and present - fixes this city moming as an image of Philip Latinovicz's mind, and it is he, who in his quest for authenticity, determines the narrative line of Krleza's celebrated novel, Povratok Filipa Latinovicza [The Return of Philip Latinovicz, 1932]. The theme is not new in Miros'av Krleza's oeuvre. Indeed, it had appeared in the Croatian writer's early poetry, where the motif of a fläneur in search of a continuous identity, unifies a cycle of lyrics. Krleza s essays had dwelt on the problem of the modern consciousness as reflected in the works of George Grosz and Wasily Kandinsky, Marcel Proust, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, and George Bernard Shaw, as well as in the writings of the historian Karl Kraus. In his diary, Davni dani [Days Long Past ], Krleza had recorded over and over his personal awareness of the bürden of a defunct past and an undefined future that can be read as the notebooks to his fictional prose. Thus, on 14 January 1918, Krleza writes: "Sketch for a picture of a small city. The city under the Kaptol walls. A bishophric and archbishophric city, the royal cathedral city beyond the grave" (Krleza, 1956:426).3 The Kaptol Identification, the suggestive social topography of churches and houses of the nobility, the spectral motif - all suggest that this passage may have been the comerstone of the portrait of Kaptol that was to become both the setting of the action, if not the extemalization of the mind of the hero, in The Return of Philip Latinovicz. By 1931, more than the walls of fictional Kaptol had been constructed. With a draft of his novel in hand, Krleza had arrived in Prague in January 1932, hoping to complete the novel and continue on through Eastem Europe.

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Ruth Rischin

Whatever may have thwarted his Creative impulses, he abandoned his itinerary, returned to Zagreb, soon completed the work, and in the same year arranged for its publication (Lasic, 1982:219, 224, 233).4 If The Return of Philip Latinovicz was written at a time of disquiet, projecting thereby the prevailing European mood of the early 1930s, it reflects an anxiety predicated less on the disillusionment of the Geneva Convention, than on a skepticism elicited by the protracted collapse of the Austro-Hungarian Empire that had left the South Slav peoples in limbo. In his novel, Krleza objectifies the pervasively modern, yet specifically national, and ultimately, individual, problem of self-definition, as the quest of an artist for an authentic identity. To do so, he foregrounds the consciousness of the hero as the subject of the narrative and the transmitter of the narrative point of view; he simplifies the action to a dramatization of the hero's philosophical dilemma; and he lets his Philip loose as a fläneur, first in his native city of Kaptol and then in the Croatian provinces. Chapters 1 through 8, set in the city of Kaptol on the Sava River are a recapitulation through Philip's point of view, of his formative boyhood years chmaxed by his loss of innocence in a brothel, for which he is ousted from home by his mother. Then follows an account of his flight to Europe, where he becomes an artist, and of his return to Kaptol. At the very opening of the narrative the hero is shown, Standing before the heavy entrance door to his house where his eye alights on the plaster head of a Medusa figure, trimming the hntel The Medusa comes to stand for his mother, who would entrap him in the ambiguities of his past, withhold the secret of his patrimony, and leave unexplained, her son's conscious recollections of all who comprise the realia of his personal history. In these chapters, forming the Vorgeschichte of the novel, we are given the initiating action: that moment, when sitting in a uropean cafe he senses that "his hie somehow had been broken off from its nnpnd, “ (krl.eZa’ 1966:37)-’ Chapter 5 ends with the realization that on06 back home, he must pursue the secret of his patrimony and move to the provinces, where his mother now owns a vineyard and a cottage. Chapters 6 through 8, in which Philip leaves Kaptol in a cart dnven by the ßfshop's coachmen, form the bridge to the Kostanjevec section Chapters 9 through 30 extemalize Philip's problem in the present, and they can be viewed as the drama of the seif to find its authentic defmition. In this narrative segment, Philip is not seen in isolation (earlier chapters had focused ennsemb.0e ThremimSCenCeS °f ^ ^ but &S Part lapidamo, teäko" ["everything was oilv m the heavy strokes of the brush, too wet and too rieh in color lamda™ ponderous J (Krleza, ,966:2.9)“ links his style with tha of ,he Express,°n,sts. Ftnally, startling images such as ,hose of «he harlS's

Z(

hke an ovempe Cameraberf and of Kyriale's father for instanc» »wirh ,h swollen face „f a drowned coTse and an u^ealthy, pa,e com^xb» of I

Art and Empire in Philip Latinovicz's Discourse of Becoming

cultivated mushroom" (Krleza,

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1966:177):i) belong to the language of

Expressionism. The Vienna Secessionist painters proclaimed their position as a revolt against academicism. Breaking with the past, they remained nonetheless captive to a retrospective aesthetic. In the twentieth Century, the real revolt against inherited strictures occurred within another semiotics of forms - that of non-representation and the leap into abstraction. Philip's aesthetics and his artistic practice, formed by the Wiener Secession movement, thus become the conclusive evidence by means of which Krleza depicts the failure of his artist-protagonist to realize his search for authenticity. ***

As a twentieth-century novel exploring the themes of art and the identity quest of a young European, The Return of Philip Latinovicz offers a provocative comparison, indeed, if not anticipation of Sartre's La Nausee [Revulsion, 1933]. Each novel unfolds a path to becoming that calls for the rejection of the past. Sartre's concept of self-definition, set forth in "Critique de la raison dialetique" (1960), might serve as the philosophical premise of both works: Donc l'homme se definit par son projet. Cet etre materiel depasse perpetuellement la condition qui lui est faite; il devoile et determine sa Situation en la transcendant pour s’objectifier, par le travail, l'action, ou le geste. Man then is defined by his project. This material being exceeds perpetually the condition that is given to him; he uncovers and determines his Situation by transcending it so that he can objectify himself through work, action, or gesture (Sartre, 1960.95).30

In acting on the awareness that he must alter his 'fundamental project (discover the secret of his patrimony and reject it), Philip fails. Unable to revolt against an inherited social and familial world, he fails as an artist as well. Nonetheless, he keeps faith with the premise of authenticity, and, as such, he may be considered to be an existentialist hero manque. By contrast, Antoine Roquentin, the hero of Sartre's novel, rejecting as halt-way Solutions, not only his formet liaison, but the artefacts of the past to which he can attach his artistic needs ( his biography in progress of the Marquis de Rollebon of Marie Antoinette's court) and reacting against the falseness of official art, (the statue of the Bouville pedagogue, Gustave Impetraz and the paintings in the municipal museum) - does succeed. Antoine rejects art in favor of the

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freedom of becoming, of finding himself within the turbulence of existence. Sartre thus draws a different narrative curve. Nonetheless, a striking number of congruencies can be noted in the two works. Each hero, obsessed with the need to get to fundamental, lives at an mtense moral pitch. Philip queries: "Where is the proof that our T is lasting, that 'we' continue to be, are always, and uninterruptedly 'we'? Where truly do we have a measurement of that?" (Krleza, 1966: 41).31 Antoine tries to explicate the same problem: Et moi aussi, j’ai voulu etre. Je n'ai meme voulu que cela; voilä le fin mot de ma vie: au fond de toutes ces tentatives qui semblaient saus liens, je retrouve le meme desir: chasser l'existence hors de moi I too have wanted to be. That is all I've wanted; it's the main point of my life :at the bottom of all of these attempts which seemed to have no bonds, I find the same desire: to chase existence outside of myself. (Sartre, 1938:243)32

For Sartre’s and Krleza's heroes this quest begins with a retum: Philip from Western Europe to Kaptol; Antoine - from Indo-China to Bouville

A

moment of introspection initiates that retum: Philip’s realization that "his own hfe at some time had been broken from its own foundation" and Antoine's glimpse of a Khmer Statuette that had taken his fancy but that now makes him impatient with his exotic wanderings. Each has an acute physical reaction to the unchosen hfe: Philip feels disgust for the mores of the Kostanievec backwater, while Antoine experiences revulsion - la nausee - in the face of spiritual stasis. Each is a narrator on whom nothing is lost - despite the difference in point of view used in the novel - third person by Krleza, first person by Sartre. For each hero, an impressionability to sound determines his i e choices. Philip is supersensitive to auditory impressions. He recalls how in Europe Street sounds and house noises had obstructed his visual Imagination:

the DiacK. American vocahst lrritates Philip, the Some of these days/You'll miss me, honey!

Art and Empire in Philip Latinovicz's Discourse of Becoming

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inspires Antoine Roquentin, and it becomes the model for his search. In the jazz performance he finds an expression of essence as opposed to his own state of mere existence: Oui, c'est ce que je voulais - hetas! C'est ce que je veux encore. J'ai tant de bonheur quand une Negresse chante: quels sommets n'atteindrais-je point si ma propre vie faisait la matiere de la melodie. Yes, that's just what I've wanted — alas! It's what I want again. I'm so happy when a Black woman sings: what heights could I not reach if my own life were to become the raw material of a song? (Sartre, 1938:61).34

Each protagonist has a Medusa figure: Philip, his mother; Antoine - Anny: Soudain eile fait paraitre sur sa face son superbe visage de Meduse que j'aimas tant, tout gonfle de haine, tout tordue, venimeux. Suddenly her face took on the Medusa expression that 1 loved so, all bulging with hate, contorted in every which way, and truly venomous. (Sartre, 1938:202)35

Unlike Sartre's novel, Krleza’s portrait of the artist is initiated by the imperial moment. If elsewhere in Europe, a centuries-old common culture had unified a multinational, multiethnic social composition, Yugoslavia lacked such a past. As A. J. Taylor reminds us, "there had always been an ideal Italy and Germany, existing in the consciousness of men.” And he goes on to say that Yugoslavia as a national entity had been "invented by Strossmayer in the spirit of Palacky's quip: [ItJ was necessary and therefore had to exist'’ (Taylor, 1948: 252).36 Transcending a personal equation, Philip's quest can be read as a national project: His reflections and his exposure of the defunct society of the AustroHungarian empire emerge as a meditation on multinational selfdetermination.

Through Philip's musings,

Krleza's commentary on the

historical destiny of the South Slav peoples appears as subtext, one that has been created by pastiche and period imagery in the form of satiric portraiture. This meditation looks back to the remote past. Philip reiterates his revulsion for the Pannonian mire, a response that must be read as more than an expression of existentialist despair. In Chapter 22, from the shade of a walnut tree, viewing the plowed fields before him, Philip holds in his hand a small bronze sculpture depicting Europe on the humped back of a bull:

Is

this a child's toy or a funerary monument dug up from the dead Pannonian times," he questions (Krleza, 1966:157).37 The "Rape of Europe" bronze sets

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in motion his thoughts on the Pannonian period of Croatian history (3-5 A./d.) when Ilyria was divided into Dalmatia and Pannonia: Imperial Pannonia had once stood where these plowed fields were now imperial Pannonia with its marble towns, its foundries and its artists; workshops, where talented sculptors created such wonderful works of art with theirown hands. (Krleza, 1966:157)38

A time of primitive vigor and indigenous art, the period of "cezarska Pannonija" ["Caesai ian Pannonia"], öfters a glimpse of historical authenticity before an unspoiled land was plundered by its neighbors. Such is Philips awareness of what once existed and what since has been lost. Four years after completing his portrait of the young artist, Philip Latinovicz, Krleza wrote "The Ballad of Petrica Kerempuh," a work in the Kajkavian dialect that combines an apocalyptic vision of Croatian history and an expression of a hoped-for rebirth. However tentatively, Philip, too, senses this promise. In his vision of antique Pannonia as an epoch of fertile creativity, Philip Latinovicz sums up the themes of art and empire, which passing through his consciousness, form the story given to the reader. In the image of the bronze, the hero offers one small hope of past glory as a potential for regeneration. The truthfulness of Krleza s narrative does not allow that momentary perception to be developed.

Art and Empire in Philip Latinovicz's Discourse of Becoming

Literature

1 All Translations from the Serbo-Croatian, except where indicated, are mine. 2 Povratok Filipr Latinovicza, Sarjevo: Svetlost 1966, S. 45 3 Davni Dani. Zagreb: Zora 1956 4 S. Lasic, Krleza. Kronologija zivota i rada, Zagreb: Graficki Zavod Hrvatske 5 Siehe Anm. 2 6 Siehe Anm. 3 7 Siehe Anm. 2 8 Siehe Anm. 2 9 Siehe Anm. 2 10 Siehe Anm. 2 11 Siehe Anm. 2 12 Siehe Anm. 2 13 Siehe Anm. 2 14 Siehe Anm. 2 15 Siehe Anm. 2 16 Siehe Anm. 2 17 Siehe Anm 2 18 I follow here, ihe Depolo transiaüon with my changes (1959: 149-150 19 Siehe Anm. 2 20 Siehe Anm. 2 21 Siehe Anm 2 22 See Vereinigung Bildender Künstler Vienna Session (1971: plate 12) [Klimt, „Lady with a Hat and Feather“].

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Ruth Risch in

23 See Vereinigung Bildender Künstler. Vienna Session (1971: plate 18) [Schiele, „Reclining Woman“]. 24 See, Ihid, Frontispice. 25 See, Ibid., 1971: plate 16) [Laske: „Ship of fools“]. 26 Siehe Anm. 2 27 See, Ibid., (1971: plate 34) [„Still Life with Dead Pigeon“]. 28 Siehe Anm. 2 29 Siehe Anm. 2 30 Translations fforn the Sartre are mine. 31 Siehe Anm. 2 32 Siehe Anm. 5 33 Siehe Anm. 2 34 Siehe Anm. 5 35 Siehe Anm. 5 36 Siehe Anm. 6 37 Siehe Anm. 2 38 Siehe Anm. 2

Werner Kummer (Bielefeld)

Max Brods deutsch-jüdischer Nachsommer von 1932: "Die Frau, die nicht enttäuscht" Als zentrales Kennzeichen dieses Romans von Max Brod wurde immer die Koppelung des europäischen, in der Hauptsache platonischen Liebesdiskurses aus dem Phaidros, an den Diskurs über interethnische Konflikte am Bei¬ spiel des virulenten, nationalsozialistischen Antisemitismus und des jüdisch¬ arabischen Konflikts im damaligen Palästina erkannt.1 Meines Wissens aber wurde bisher die narrative Form dieses Zusammenhangs noch nicht untersucht2, obwohl Max Brod in seinem Nachwort darauf hinwies, daß die im Roman verwendeten Diskurselemente und Konstellationen nicht verabsolu¬ tiert werden sollten, sondern erst in der dynamischen, narrativen Logik des Werkes ihre Funktion erhalten: Das Buch verlangt, auf besondere Art gelesen zu werden, in einer gewissen Zusammenschau. Der Leser muß mitarbeiten. So bequem, jede da und dort auf¬ tauchende Ansicht für die letzte und gültige halten zu dürfen, so bequem wird es ihm hier nicht gemacht. Das wäre auch unmöglich. Es läßt sich eben bei so komplizierten Dingen nicht alles zugleich sagen. Erst die Summe der einander widersprechenden und ergänzenden Aspekte ergibt das, was dem Autor als Wahrheit vorschwebte.3

Das Buch erweist sich in diesem Sinne als narrative Durchquerung der anein¬ andergekoppelten Diskurse über die Möglichkeiten der zwischengeschlecht¬ lichen Liebe und des interethnischen Zusammenlebens, die durch die Aporien der Extremlagen fuhrt, in denen diese Diskurse in der sozialen Situation Deutschlands vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten durchlebt werden In diesem Sinn erweist sich der Plan des Buches als vergleichbar mit dem Musilschen Projekt der Verkoppelung einer Durchquerung von Liebesdiskurs und politischem Diskurs vor dem ersten Weltkrieg, obwohl die narra¬ tiven Techniken des Brodschen Romans sich von denen des Mannes ohne Eigenschaften deutlich unterscheiden. Gemeinsam ist beiden Romanen je¬ doch die starke intertextuelle Anreicherung durch Bezüge auf zeitgenössische diskursive und ideologische Bestände sowie deren historische Tiefendimen¬ sionen. . , . , r-,. i Die Verbindung des Liebesdiskurses und des interethnischen Diskurses er¬ gibt sich aus der gemeinsamen Fragestellung, ob ein dauerhaftes harmoni¬ sches Zusammenleben von Individuen oder Ethnien, das gleichzeitig die In¬ dividualität der Beteiligten achtet und fördert und dabei auf echten Gemein-

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samkeiten beruht, möglich ist, wenn man davon ausgeht, daß es sich bei die¬ sen notwendigen Versuchen um unvollkommene und geschädigte Beteiligte mit einer jeweils problematischen Vorgeschichte und dementsprechenden Dispositionen handelt. Im Verlauf der narrativen Diskursdurchquerung wird zur Lösung dieser Problematik, ähnlich wie in Musils Konzept des "anderen Zustandes", die Lösungsmöglichkeit der Distanzliebe entwickelt, aber in den Aporien ihrer Realisierung in der Lebenswelt von 1932 und 1933 wieder destruiert, obwohl sie als utopisches Potential am Ende des Buches erhalten bleibt. Das innovative Potential von Brods Konzeption besteht in der An¬ wendung der Ressourcen des europäischen Liebesdiskurses, den er nicht wie Musil hauptsächlich aus den Traditionen der Mystik, sondern aus Platons sokratischer Liebeslehre bezieht, auf die unlösbar scheinenden interethnischen Konflikte des 20. Jahrhunderts. Der komplexe sokratische Liebesdiskurs im Phaidros soll hier nur so weit s izziert werden, wie er für die Brodsche Adaptation relevant ist. Er beruht auf einem begrifflichen Oppositionspaar, das die begierdegeleitete Liebe als destruktive Form zwischenmenschlicher Integration von der Liebe als Prozeß der Erinnerung der Seele an die ihr angeborenen, aber in der Lebenswelt nicht realisierten Potentiale einer Konstellation von Ideen trennt. Während sich die erste Form der Liebe in einer Dynamik der Aneignung des Geliebten durch den Liebenden zur Befriedigung eigener Begierden erschöpft, die nach Möglichkeit zu vermeiden ist, gehört die zweite Form der Liebe in den Um^eeWeltSd§0tl yt?SinnS’ dUrCh d6n die Lebenswelt auf eine angeboreWeit idealer Möglichkeiten hin durchsichtig wird. Da diese Welt aber nur im lug, durch das Wachsen geistiger Flügel im Prozeß der Liebe selbst gereift werden kann, ist die Gegenwelt, die die eigentliche Heimat der Seele ist, in der Lebenswelt nicht realisierbar, woraus sich die Aporien eines VerrerXn

nSChliChCr Integrati°n auf der Basis dieser Liebeskonzepti-

such d^LthfafT311 CrWeiSt SiCh ^ K°nZept der D'stanzliebe als Ver¬ such, die Liebe als Anamnesis eines 'anderen Zustandes' in die Lebenswelt einzubauen, indem die begierdegeleitete Einverleibung des Liebesobjektes n ft m!thilfe einer 'Sperrplatte', die durch die interethnische .stanz geschaffen wird und den 'Ringelpiez' der immergleichen gegenseiti-

DisLn

gen

estruktion verhindern soll, unmöglich gemacht wird. Positiv gewendet

besteht diese Distanzliebe in dem Versuch, aus den erkannten, g gensXn Potent,ahtaten der Liebenden Hilfe und Dienst an der Verwirklichung diese" Möglichkeiten abzuleiten, was im Fall Justus Spiras den Dienst an den Möo lichkeiten Carola Webers, eine Sängerin zu werden, bedeut Arheb'Td n” a eberS "" Seiner li,erarischl!n Arbeit. Die künstliche Arben ist dabe, die anamnetische Arbeit an den Möglichkeiten der angeborl

Max Brods deutsch-jüdischer Nachsommer

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nen Ideenwelt, und die Utopie der Gemeinsamkeit dieses Fluges in die Hei¬ mat der Seele wird durch die gemeinsame Arbeit von Sänger und Klavierbe¬ gleiter in der Tradition des deutschen Kunstliedes symbolisiert. Diese Distanzliebe scheitert lebensweltlich an den konkreten Schwierig¬ keiten einer Sängerinnenkarriere, speziell auf der Grundlage einer deutschjüdischen Symbiose, woraus sich für die Frau die Notwendigkeit ergibt, den Distanzpartner als Garanten einer materiellen Versorgung zu beanspruchen, wodurch sie in den 'Ringelpiez' des Kreislaufs von Liebesprozessen als Dy¬ namik der Absicherung eigener Begierden und Bedürfnisse zurückkehrt und mittels eines Liebesverrats ironischerweise statt beim Literaten bei seinem fi¬ nanzkräftigen Verleger landet. Trotz dieses Scheiterns bleibt jedoch, entspre¬ chend der platonischen Liebeskonzeption, die Tatsache des gemeinsamen, versuchten Fluges unaufgehoben, da die Unmöglichkeit seiner Realisierung in der Lebenswelt im platonischen Diskurs ja vorgegeben ist und durch das Scheitern nur bestätigt wird. Die Trennung bestätigt die Authentizität des gemeinsamen Flugversuchs. Der Prozeß der Anamnesis der Seele in ihrer Befiederung beim Flugver¬ such der Liebe ist bei Max Brod ein intertextueller Versuch der Wiederauf¬ nahme in den Künsten dokumentierter Flugversuche. Zentrales Modell für die Distanzliebe ist dabei das Verhältnis zwischen Risach und Mathilde in Stifters Nachsommer, in dem die Trennung zwischen den Liebenden sich in die Energie praktischer Tätigkeit umsetzt und in der nächsten Generation aufgehoben wird. Ein ähnliches Modell ist das Eichendorff-Schumannsche Lied

Zwielicht,

in dem der Liebesverrat Carolas vorausgesagt wird, jedoch

die Möglichkeit einer Reintegration offen bleibt. Dabei konstituieren die ge¬ lungenen Texte den platonischen ideenhimmel, in den sich der Text des Ro¬ mans selbstreferentiell als bleibender Anteil der Liebe zwischen Justus und Carola einschreibt. Das Vertrauen in die Tradition deutsch-jüdischer gemein¬ samer Geschichte zeigt sich in der Wahl der Modelle, in denen immer eine schuldhaft verursachte Disruption nicht endgültig ist, sondern die Integration zumindest im geistigen Raum der Texte überlebt und aus ihm wieder ins Le¬ ben integrierbar ist. Der Zusammenhang zwischen dem interpersonellen Liebesdiskurs und dem interethnischen Diskurs ergibt sich für Brod daraus, daß interkulturelles Verstehen auf einem analogen Prozeß zum platonischen Eros beruht. Wah¬ rend der reale 'Ringelpiez' zwischen den Ethnien ähnlich wie in der begieidegeleiteten Liebe auf den Versuchen der Bemächtigung der Ressourcen der anderen Ethnie für eigene wirtschaftliche und politische Zwecke beruht, kon¬ stituiert das Schrifttum als geistiger Raum einer Ethnie den Ideenhimme in den der Flugversuch interkulturellen Verstehens führt. Obwohl dieser F ugversuch nicht in das politische und wirtschaftliche Alltagsgeschaff lebens¬ weltlich integrierbar ist, garantiert er doch die gegenseitige Akzeptanz, die zu

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einer Distanzliebe zwischen Ethnien notwendig ist und das heillose Wirken der begierdegeleiteten Interaktionen partiell aussetzt. Für Justus Spira ist die kulturelle deutsch-jüdische Symbiose, in der er selbst lebt und schreibt, der Garant für diese Möglichkeit einer Distanzliebe zwischen Deutschen und Ju¬ den, die auch die Schrecken des Nationalsozialismus überleben kann. Der Roman Brods ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Intensität eines Ret¬ tungsversuchs dieser Tradition auch gegenüber immer unerträglicher wer¬ denden Bedingungen, ohne die Aporien eines solchen Versuchs aus den Au¬ gen zu verlieren. Spira versucht, die Gründe des vehementen Antisemitismus in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg zu verstehen und als vorübergehende historische Etappe im deutsch-jüdischen Verhältnis einzustufen. Als Ursache für diesen Antisemitismus sieht er die Bedingungen des Versailler Friedens: [...] im Versailler Frieden ist es geschehen: Das stärkere Volk ist besiegt wor¬ den, das schwächere ist Sieger geblieben. Frankreich. Nicht durch Willensin¬ tensität und Substanz (obwohl es auch in dieser Hinsicht Heroisches geleistet hat), sondern eher durch Glück, Zufall, guten Stern - oder wie man es nennen mag - durch Stützung auf die angelsächsischen Mächte, in deren vorüberge¬ hendem Interesse gerade zur Frankreich wichtigsten Stunde dieses Bündnis lag ... Und nun will Frankreich 'Sicherheit', nachdem es Deutschland in einen dünnwandigen Kessel gesperrt hat, der so eng ist, daß in ihm die Leidenschaf¬ ten förmlich Tobsucht kriegen und rasend an die Ventile bollern. Die Juden sind nur ein Nebenventil, eigentlich unwichtig für die Deutschen. Sie kriegen nur nebenher was ab. Hauptsache ist: Die Unmöglichkeit Europas, ja der Welt mit diesem zur Weißglut angefachten Deutschland in der Mitte. (S. 102)

Man muß berücksichtigen, daß diese Einschätzung 1932, also noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, geschrieben worden ist. Für das deutsch-jüdische Verhältnis ergibt sich daraus die Aporie, daß die Empathie völlig einseitig ist. Während Max Brod als Vertreter der jüdischen Minorität noch Verständnis für die Gründe aufbringt, die zu dem flagranten Antisemi¬ tismus der Zwischenkriegszeit in Deutschland geführt haben, reagiert die Majorität der Deutschen blind mit Machtpolitik und Dämonisierung der Mi¬ norität. Eine Distanzliebe zwischen Ethnien ist jedoch nur auf der Basis der Gegenseitigkeit möglich, speziell wenn die politisch und wirtschaftlich mächtigere Ethnie freiwillig auf die Anwendung von Machtmitteln verzichtet Spira sieht, wie noch zu zeigen sein wird, in der geistigen Tradition des Judentums Ansätze für die Möglichkeit eines solchen freiwilligen Verzichts obwohl er ähnlich wie Martin Buber befürchtete, daß sich in Palästina die Is¬ raelis gegenüber den minoritären Palästinensern ähnlich verhalten könnten wie alle machtbewußten Majoritäten: Der Kriegerische der Antiaraber aber - hier wird die Sache ernst, hier beginnt d.e eigentliche Gefahr- Dann sieht nämlich die Gesamtsituation so aus: Solange

Max Brods deutsch-jüdischer Nachsommer

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wir machtlos unter den Völkern lebten, waren wir gegen Macht, gegen Waffen und Krieg, gegen Härte, für Dulden und Gerechtigkeit (also "zersetzend", wie man sagt). Kaum sind wir im eigenen Land, fangen wir selbst mit der Bekämp¬ fung der Schwächeren an. So haben wir um einer Selbsttäuschung, einer Illusi¬ on willen gearbeitet? Nur um die wilden Nationalismen um einen neuen zu vermehren? (S. 275)

Gerade am Ende des Romans wird jedoch anhand der Gründung von gemein¬ samen israelisch-arabischen Schulen die Utopie einer integrativen Lösung interethnischer Konflikte in diesem Fall beschworen, wobei ironischerweise Brods Einstellung zu den Arabern als zu zivilisierenden Wilden nicht allzu¬ viel Distanzliebe gegenüber der Minorität beweist. Eine weitere Aporie für eine deutsch-jüdische Distanzliebe ergibt sich aus den Selbst- und Fremddefinitionen, die einen Teil der einschlägigen Diskurse ausmachen. Während die diskursive Selbstdefinition für die Deutschen nach der Goethezeit auf ein heroisch-tragisches Weltbild zurückgeführt wurde, das Gegensätze oppositiv zuspitzt und auf den Widerspruch zwischen römischer Herrschaftslogik und germanischer Schicksalsgläubigkeit rekurriert, beruhte die jüdische Selbstdefinition seit der Aufklärung eher auf dem Glauben an die grundsätzliche Ausgleichbarkeit von Widersprüchen. Nach Ansicht Brods führten diese Selbstdefinitionen im Zusammenhang mit den Assimilation¬ stendenzen des Judentums im 19. Jahrhundert zu dem Vorwurf des Unau¬ thentischen gegenüber den Juden, da die deutsche Tendenz zur Selbstbe¬ hauptung und Selbstabgrenzung auf den Versuch der assimilierten Juden stieß, Gemeinsamkeiten zu betonen. Aus diesem Grund optiert Brod für den Zionismus als Behauptung einer eigenen jüdischen Identität, die an die eige¬ ne Geschichte und ihren geistigen Raum anschließt. Erst auf dieser Basis er¬ weist sich der Glaube an die Vermittelbarkeit von Widersprüchen als Stärke, die auch in der deutschen Tradition des Weltbürgertums der Goethezeit als Studium der Völker und ihrer Wesenheiten enthalten war. Die notwendige zionistische Selbstbehauptung Spiras ist jedoch innerhalb seines Status als Schriftsteller deutscher Sprache im deutschen Verlagswesen mit einer deut¬ schen Leserschaft nicht möglich und er optiert daher für den Status eines deutschen Schriftstellers außer Dienst, d. h. er liquidiert seine finanziellen Anteile an dem Verlag, dem er angehört und will aufhören, für einen deut¬ schen Markt zu schreiben. Der Roman beginnt mit diesem Beschluß, der je¬ doch durch die private Distanzliebe zu Carola zunächst aufgehoben wird, da mit dieser Liebe auch die interethnische Akzeptanz der deutsch-jüdischen Verbindung garantiert zu sein scheint, während mit dem Zerfall der zwi¬ schenmenschlichen Distanzliebe auch der endgültige Rückzug aus dem Sta¬ tus eines deutsch-jüdischen Schriftstellers für Spira besiegelt ist. Die letzte Lösung bleibt offen, da Spira weder Hebräisch schreibt noch endgültig nach Palästina auswandert.

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Narrativ wird der Widerspruch zwischen der postulierten deutsch¬ germanischen Selbstdefinition als tragische Ethik der Austragung von Wider¬ sprüchen und der jüdischen Kompromißbereitschaft, ironisch in der Dynamik der privaten Liebesbeziehung zwischen Spira und Carola durchgeführt. Wäh¬ rend Spira entsprechend der platonischen Eroskonzeption versucht, Carolas Wunsch nach der Verwirklichung ihrer Sängerinnenkarriere zu unterstützen und dafür viele Abstriche für seinen eigenen Schriftstellerberuf auf sich nimmt, besteht Carola tragisch-heroisch auf einem Alles-oder NichtsStandpunkt, in dem sie die völlige Zugehörigkeit der beiden Liebenden zu¬ einander zentriert, um Heim und Kind einzufordem. Spiras Beharren auf der ursprünglich aus ihrer Liebe entwickelten Konzeption, die Carola selbst vor¬ geschlagen hat, sieht sie als eine Mischung jüdischer Inauthentizität und künstlerischer Bindungsunfähigkeit. In Wirklichkeit ist jedoch ihre Flucht¬ tendenz in die Abgesichertheit von Heim und Kind ein Verrat an ihren ur¬ sprünglichen Plänen unter dem Druck der Schwierigkeiten, die der Verwirk¬ lichung ihrer Karriere im Weg stehen. Spira erscheint also ironischerweise am Ende der narrativen Dynamik heroisch-deutsch als derjenige, der seine existentiellen Bindungen an die deutsch-jüdische Verbindung mit schweren persönlichen Opfern gelöst hat, während Carola weiblich-jüdisch, wie es das von Brod angeführte Goethezitat angibt, ihren Kompromißfrieden mit der Ehe als Versorgungssicherung gemacht hat. Die Ironie der narrativen Durch¬ führung enthüllt jedoch nicht nur die Großmäuligkeit der Selbstdefmition durch Nibelungentreue bis zum Untergang, sondern entschuldigt ihre De¬ montage noch graziös aus der realen Versorgungsbedürftigkeit großbürgerli¬ cher Töchter aus der Zwischenkriegszeit. Die Selbstreflexion des Brodschen Textes gegenüber seinen eigenen Be¬ dingungen macht auch vor der Koppelung zwischen privatem Liebesdiskurs und interethnischem Diskurs nicht halt, sondern enthüllt auch die Destrukti¬ vität dieser Koppelung. Nach dem Scheitern seiner Beziehung zu Carola denkt Spira darüber nach, inwiefern das interethnische Konzept der Distanzliebe für dieses Scheitern verantwortlich war und kommt zu dem Schluß, daß seine Identifikation Carolas mit dem wesensmäßig Deutschen zu einer ideo¬ logischen Verzerrung seines Verhältnisses zu ihr geführt hat. Dieser sanatori¬ umsreifen ’Madchen-Dame' die Verkörperung des Ideenhimmels der Modelle des deutschen Schrifttums für gelungene Weiblichkeit aufzubürden ist die Projektionsarbeit eines Schriftstellers, der brutal seine existentielle Ausein¬ andersetzung mit den Problemen deutsch-jüdischer Gemeinschaft auf ihren schwachen Schultern ablagert. Der unerbittliche Anspruch der platonischen rotik der keine Schwächen in dem gemeinsamen Flugversuch der Seelen in ihre Heimat duldet, ist ein heroisch-tragisches Unternehmen, dessen Schei¬ tern vorprogrammiert ist, und dessen psychische Kosten der Partnerin beden-

Max Brods deutsch-jüdischer Nachsommer

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kenlos zugemutet werden. Die ironischen narrativen Brechungen wissen al¬ lerdings auch von dieser Schuld des platonischen Liebesritters, und entschul¬ digen sie durch den guten Ausgang des Experiments für die abgesicherte Minnedame. Die Grundlage der ironischen Distanz gegenüber dem platonischen eroti¬ schen Diskurs ist die Einsicht in den Widerspruch zwischen der kausalen Welt des "seinesgleichen geschieht", wie es bei Musil heißt, und dem "anderen Zustand", in dem diese Kausalität stillgestellt ist, und sich in einer quasi-zeitlosen Existenz der Lebensprozeß mit Sinn auflädt. Der Bereich der Kausalität folgt prinzipiell wissenschaftlich erforschbaren sozialen, psycho¬ logischen etc. Gesetzen und bewirkt in der Narration einen metonymischen Fortgang syntagmatischer Art, in dem sich die Wirkungen von Ereignissen und Handlungen entfalten. Der andere Zustand, der das Liebeserlebnis von Spira und Carola auf Georgshöh ausmacht, ist hingegen durch eine metapho¬ rische Struktur gekennzeichnet, in der sich über einem "nunc stans" immer weitere Schichten konnotativer Bezüge an die stillstehende Erlebnisbasis an¬ reichem. Dabei werden intertextuell in diese Erlebnisbasis die textuellen Ver¬ fahren der Goethezeit eingebracht, die mit dem böhmisch-schlesischen Grenzgebiet geistesgeschichtlich verbunden sind. Die Landschaft wird inner¬ halb des Liebesdiskurses zur Seelenlandschaft von Caspar David Friedrichschem Typus, in der die Texte von Goethe, Eichendorff, Schumann, Stifter etc. aufgehoben sind, die dem Wandern in der Landschaft einen Raum von unabsrenzbaren Echos und Spiegelungen verleihen, in den sich die geflügel¬ ten Seelen der Liebenden erheben können. Gleichzeitig ist diese Seelenland¬ schaft, in der die Distanzliebe erprobt wird, der hermeneutische Raum für die Auslegung des Liebesdiskurses der Goethezeit und konstituiert mit den Tex¬ ten ein geschlossenes System, in dem im Sinne von Foucault die gelebte Pra¬ xis eine Verkörperung der textuell vorgegebenen Diskurskonfigurationen konstituiert und umgekehrt den Texten selbst immer neue erlebte Auslegun¬ gen und Nuancen zurückgibt. Dieser nach außen hermetisch abgeschlossene hermeneutische Raum ist gleichzeitig das Laboratorium, in dem die deutsch¬ jüdische Gemeinschaft aufgehoben ist, während in der umgebenden Wirk¬ lichkeit, für die Spiras Versuch der Hilfe für verarmte Arbeiter im Erzgebirge steht, diese Gemeinschaft sofort durch das antisemitische Mißtrauen an die Authentizität des jüdischen Engagements zerbricht. Gegenüber dieser zerbro¬ chenen Realität konstituiert der Übergang in den hermeneutischen Raum eine innere Emigration zu zweit, die sich in der platonischen Gemeinsamkeit des Gehens und Sprechens verwirklicht, aber gegenüber der bedrohlichen außerhermeneutischen Welt mit unsichtbaren Wänden abgeschirmt ist. Der textuelle Entwurf dieses hermeneutischen Raums ist bei Brod parallel zu dem Mu¬ sischen Raum der endlosen Gespräche über die Liebe im

Mann ohne Eigen-

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Werner Kummer

schäften, die in einer arkadischen Landschaft immer erneuerte Auslegungen

des mystischen Liebesdiskurses sind. Die gelebte Wirklichkeit dient dabei als Kette von verkörperten Signifikanten, deren Signifikate die Textbedeutungen aus den lebendig ausgelegten Diskursen der Goethezeit sind, sozusagen ge¬ lebte Intertextualität konstituieren, in die sich die gelebte Liebesbeziehung zwischen Justus und Carola einschreibt. Der philosophische Bezug dieser Lebensform auf die platonische Akademie und die sokratische Dialektik ist unübersehbar, und die Liebesform, die ihr entspricht, trägt deutlich die ho¬ moerotischen Bezüge, die als pädagogischer Eros dieser Dialektik entspre¬ chen, wie Justus auch Carola liebevoll während der vielen Gespräche zu ei¬ nem 'Karlchen" umstilisiert. Die "Lust, im Schönen zu zeugen" ist nicht nur die Distanzliebe zur körperlichen Schönheit Carolas, sondern hauptsächlich die Lust, durch das dialektische Gespräch das Tugendpotential im Sinne der in Carola angelegten Verwirklichungsmöglichkeiten zu fördern und heraus¬ zuarbeiten. Mit ironischer Distanzierung wird allerdings angemerkt, daß für Carola Spiras pädagogischer Eros auch als das pausenlose Salbadern eines Pädagogen erlebbar ist. Das Leben in einem gemeinsamen hermeneutischen Raum erzeugt auch die rational unerklärlichen Effekte innerhalb eines Lie¬ besdiskurses, die Spira als Gedankenübertragung erlebt, und die ihm bezeu¬ gen, daß sein Konzept der Distanzliebe funktioniert, da die beiden Liebenden unabhängig voneinander ähnliche Gedankenbahnen gehen und zu analogen Entschlüssen kommen. Daß dieser Effekt jedoch ein Scheineffekt ist, der sich aus den Spiegelungs- und Echoeffekten im gemeinsamen hermeneutischen Raum ergibt, wird ironisch dadurch deutlich gemacht, daß Spira den Liebesverrat Carolas und die damit verbundene Eheanbahnung mit seinem Nachfol¬ ger nicht bemerkt und aus allen Wolken des "anderen Zustands" fällt als er damit konfrontiert wird. Wie im Mann ohne Eigenschaften ist der Weg in den "anderen Zustand" eine Fluchtbewegung aus einer disrupten Welt nichtintegrierbarer Diskurse in eine historisch ältere Welt von Diskursformationen, die als quasi-platonische eenwelt textuell fixiert ist, und die als Korrektiv gegenüber der unerträgli¬ chen Gegenwart fungiert. Es ist klar, daß eine solche extraterritoriale Welt der inneren Emigration zu zweit gegenüber der umgebenden Welt nicht auf¬ rechterhalten werden kann, und in ihr wie eine Seifenblase zerplatzt Trotz¬ dem uberdauert die Gegenwelt, indem sie textuell fixiert wird und dadurch in die platonische Konstellation der Ideenkonstruktionen, also in den geistigen Raum einer Ethnie, eingeht. Dieser geistige Raum ist im Fall von Max Brod die ^f die Zeit der Aufklärung zurückgehende Tradition deutsch-jüdischer Kunst, für die bei Brod so illustre Namen wie die von Heine, Mendelssohn, Mahler etc. stehen, und in die er sich unter den erschwerten antisemitischen Bedingungen von 1932 einschreibt. Der Raum der Texte bewahrt aber die

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nichtverwirklichten positiven Möglichkeiten auf und kann sie in eine bessere Zukunft weitergeben. In diesem Sinn wird bei Brod wie bei Musil das Schei¬ tern der Liebesutopie eines "anderen Zustands" nicht zynisch belacht und der zerstörenden Wirklichkeit recht gegeben, sondern in der Tradition des grie¬ chischen Liebesdiskurses verwandelt sich das Nichtlebbare in eine Konstel¬ lation von Bedeutungen, die im unzerstörbaren Raum der Sprache aufgeho¬ ben bleiben, während der erbärmliche Erdenrest des Liebesversuchs zwischen verfeindeten Ethnien unrühmlich untergeht. Ironischerweise ist auch diese Denkfigur Anteil eines heroisch-tragischen Erbes, das von Brod diskursiv der jüdischen Tradition abgesprochen wird. In diesem Sinn ist Brods Roman von 1932 eine echte Wiederaufnahme des Stifterschen Nachsommer, der auch einen hermetisch abgeschlossenen her¬ meneutischen Raum um den Risachschen Rosenhof schafft, in dem die dis¬ kursiven Bestände der Goethezeit aufgehoben werden, während nach 1848 in Österreich die Welt, der diese Diskurse angehörten, endgültig zerbrach, und der Autor langsam von den unlösbaren Widersprüchen seiner umgebenden Welt bis zum Selbstmord aufgerieben wurde. Im Gegensatz zu Stifter jedoch wird die unerträgliche Wirklichkeit nicht aus dem Brodschen Text verbannt, sondern erscheint in der Tradition der romantischen ironischen Brechung von Welt und Gegenwelt im textuellen narrativen Geschehen. Die Empathie Spiras gegenüber diskursiven Entwicklungen in Deutsch¬ land, die sich aus seiner Distanzliebe ergibt, reicht selbst bis zu dem den An¬ tisemitismus fundierenden Rassismus, den er aufnimmt und umdeutet. Er wendet sich einerseits gegen oberflächlichen Internationalismus, nach dem alle Menschen aller Ethnien gleich sind, für den im Roman die Friedensbe¬ mühungen des Dr. Türck stehen, andererseits gegen eine Mystifizierung einer genetisch angelegten "Rassenseele". Er glaubt dagegen an die Ablagerung hi¬ storischer Erfahrungen einer Ethnie in den kulturell tradierten Einstellungen und Stereotypen, die sich im Habitus von Vertretern dieser Ethnie niederschlagen. Dabei erlauben diese kulturell erworbenen Eigenschaften natürlich eine weite Bandbreite individueller Verwirklichungsmöglichkeiten, die sind jedoch als typische Dispositionen von Vertretern einzelner Ethnien nicht ab¬ zuleugnen. Große Belastungen dauernder und struktureller Art in der Ge¬ schichte einer Ethnie können nach Spira zu Deformationen führen, die einen Handlungsbedarf in Richtung der Veränderung der Lebensbedingungen der Ethnie erzeugen. Nach seiner Meinung haben die Bedingungen der Diaspora für die jüdische Ethnie zu einer solchen Deformation geführt, die durch den Erwerb eines eigenen Staatsgebiets und den Aufbau eines eigenen Staates aufhebbar sind: Wo Völkergebiete aneinandergrenzen, sehen die Nachbarn gegenseitig überall mehr die schlechten als die guten Eigenschaften ihres Wesens. Und sehen sie

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Wer per Kummer

Gutes aneinander, so weckt es fast immer nur Neid. Peripherie schärft den Haß. Schicksal des Judentums: es lebt ausschließlich und zur Gänze an seiner eige¬ nen Peripherie, es hat nichts als Peripherie, ohne territorialen Kern. - Infolge¬ dessen wurden gute Eigenschaften der peripheren Wachheit: Intellekt, Unruhe, Psychologismus, Verständnis für fremde Art u.s.f. überzüchtet, und in allzu starker Dosis schlugen sie uns zu Fehlem um. Die Dauerkritik aber, der das Ju¬ dentum und jeder einzelne Jude ausgesetzt ist, erzeugte Mißtrauen gegen sich selbst, den typisch jüdischen Selbsthaß, Minderwertigkeitskomplexe und ihre Überkompensation als hysterische Aggressivität, Luftmenschentum im Seeli¬ schen und sein Korrelat: Familienherdengefühl, die ganze Dämonie des in Angst und Unsicherheit oder Selbstgerechtigkeit sich austobenden überhitzten Temperaments. - Bei Erkenntnis all dieser Nationallaster darf man doch fest¬ stellen, daß sich das Judentum als Ganzes besser gehalten hat als sonst irgend¬ ein Volk in derartig gefährdeter, jahrhundertelang mit gänzlichem Verderben drohender Situation. (S. 277f.)

Die antisemitischen Argumente der Rassisten halten sich an die Oberfläche der von Spira konstatierten Verhaltensformen und hypostasieren sie zu ge¬ schichtsunabhängigen Konstanten einer angeborenen Disposition. Spira hin¬ gegen sieht sie als Auswirkungen eines ethnischen historischen Schicksals und verlangt als Zionist nach einer Aufhebung dieses Schicksals, die auch den Habitus der Vertreter der Ethnie verändern wird. Die Geschichte hat ihm in diesem Sinne recht gegeben, daß einem in Israel aufwachsenden Menschen wahrscheinlich nur mehr durch historisches Studium von Texten aus der Zeit der Diaspora klar gemacht werden kann, welche Eigenschaften und Disposi¬ tionen Juden in Europa einmal zugesprochen worden sind. Die Schuld des antisemtischen Rassismus ist nach Spira seine ressenti¬ mentgeladene Abreaktion der Wut über den verlorenen Krieg und der Ängste vor der Zerstörung der eigenen ethnischen Identität an den Juden als Sünden¬ böcken, ohne daß die historische Bedingtheit der eigenen Situation erfaßt wird. Spira faßt diese Topik des Ressentiments zusammen, indem er einen Abriß antisemitischer Äußerungen gibt: (Die Juden) verderben uns. Sie zersetzen uns. Sie entheroisieren uns. Sie er¬ nüchtern uns. Sie verweltlichen uns. Wir aber wollen im Wirklichen das Über¬ wirkliche. Um dieses "Reiches" willen, das ein Höheres ist, jüdisch¬ materialistischer Berechnung entrückt, scheuen wir auch den Krieg nicht, wie¬ wohl wir um seine Furchtbarkeit wissen, wir wollen ihn nicht etwa aus Will¬ kür, Laune oder Bosheit, aber er ist unser Schicksal, er ist unsere Tragik er ist uns auferlegt, sonst zerfließen wir gegen den Westraum hin, auferlegt bei son¬ stiger Selbstpreisgabe, bei Verlust unseres Erbguts, unserer Rassenseele. Das verstehen die Juden nicht, können sie, auch wenn sie den guten Willen dazu hätten, nie verstehen. Es fehlen ihnen die Verständnisorgane, ja es fehlt ihnen alles Organische dazu, sie sind eben unnatürliche Gewächse an unserem Leib sie sind die Widernatur selbst, überaltert, dürr, abstrakt, Gefangene im luftlee¬ ren Raum ihres Verstandes, ohne Bindung an Blut und Boden. Sie verstehen

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uns nicht und reden uns doch in unseren lebenswichtigsten Dingen drein. Das ist ihr Verbrechen. (S. 37)

In dieser Argumentation verbindet sich der Glaube, nur durch einen Krieg könnten die Folgen des verlorenen Weltkrieges gelöscht werden, mit dem Ressentiment gegen die Juden als Vollzugsorgane der Aufhebung deutscher Identität. Spiras Versuch, dieser Abgrenzungslogik gegenüber die Tradition deutsch-jüdischer Zusammenarbeit wiederzubeleben, ist gegen die^ schreckli¬ che Simplifikation der antisemitischen Sichtweise hoffnungslos. Einen Aus¬ weg gibt es nur in den textuellen Raum der deutsch-jüdischen Gemeinschaft und den damit verbundenen Glauben an eine mögliche Wirkung dieser Texte in der Gegenwart oder zumindest in der Zukunft. Max Brods Roman von 1932 ist in diesem Sinn eines der wichtigsten Zeuenisse für den Versuch, unter den immer härter werdenden Bedingungen des "Heraufkommens der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland Konzeptionen für die Möglichkeiten eines interethnischen Zusammenlebens auf der Basis gegenseitiger Akzeptanz zu finden, die sich aus den Traditionen des europäischen Liebesdiskurses speisen sollten. Die Aponen dieses Diskur¬ ses zerstören zwar das zwischenmenschliche Zusammenleben der Liebenden, erhalten aber als utopisches Potential die Möglichkeit, die Brod als Voraus¬ setzung für eine Heilung zwischenmenschlicher und interethnischer Kon¬ flikte sieht, nämlich, daß derjenige Pol, der Macht ausüben könnte, freiwillig darauf verzichtet: Wer ist es denn, der den Weg in die Tiefe sucht und antntt, wenn oben an der Oberfläche der Zusammenhang verweigert wird? Ist es nicht immer (und not¬ wendigerweise, weil genötigt) der Schwächere? Ist es nicht immer die Minori¬ tät'7 Der Starke, das Majoritätsvolk, bleibt gerne an der Oberfläche, bezeigt we nig Lust zu solcher Tiefenschau und Tiefenverbundenheit. Für das Minontatsvolk aber, das dahin, zu solcher Verfeinerung der Seele gestoßen wird bedeutet das Dringen auf Gerechtigkeit nichts besonders Löbliches ist vielleicht nur die selbstverständliche Reaktion, ist eine ihm gemäße Waffe des Ressentimen , also wieder nicht: das Leben in der Wahrheit? Erst werm irgendemmaf ir¬ gendwo in der Welt, der Stärkere freiwillig, ritterlich die Eigenart des Schwä¬ cheren in ihrer Tiefe aufsuchte und respektierte, dann konnte man zum ersten mal sagen: hier ist Wahrheit. (S. 77)

In einer Welt, in der die zwischenmenschlichen und interethmschen Konflite lmmer iioch unlösbar erscheinen, is, die Arbeit Max Brods an ihrer konzeptuellen Lösung noch immer so aktuell wie zur Zeit der Niedersehr des Romans.

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Werner Kummer

Literatur

1 Der bisher beste Überblick über das Werk von Max Brod stammt von Margarita Pazi' Max Brod Werk und Persönlichkeit, Bonn 1970, wo sich auch eine kurze Besprechung des Romans "Die Frau, die nicht enttäuscht" findet. Der Roman erschien 1934 im Verlag E.P. Tal & Co, Leipzig und Wien und wurde meines Wissens bisher nicht nachgedruckt. Eine ausführlichere Analyse des Romans unter einem speziellen Gesichtswinkel findet sich bei Claus-Ekkehard Bärsch in "Max Brod im Kampf um das Judentum. Zum Leben und Werk eines deutsch-jüdischen Dichters aus Prag" und in seinem Aufsatz "Brods politische EthikDie 'Attacken erlebter Ungerechtigkeit'" und "Das Unzerstörbare" in dem Sammelband hrsg. von Margarita Pazi Max Brod 1884-1984, Peter Lang Verlag, New York 1987. 2 Die Grundsätze zur Analyse der narrativen Logik des Romans stammen aus Philip J M Sturgess Narratmty. Theory and Practice, Oxford 1992. 3 Die Frau, die nicht enttäuscht, E.P. Tal & Co, Leipzig/Wien 1934, S. 372.

Iris Hermann (Bielefeld)

Als eine Ästhetik des Schmerzes: Spiegel, Höhlenausgänge, Körper im Werk Georg Trakls

Wenn hier von Trakls "Weltanschauung" die Rede ist, dann im Wortsinn. Die Frage ist, wie Trakl auf die Welt schaut in seinem Werk, welches Empfinden von ihr sich in seinen Texten zeigt. Die These ist und man kann sie nicht be¬ weisen, sondern nur zu zeigen versuchen, daß sich Trakls Wahrnehmung vor allem eines erschlossen hat: den Schmerz in vielen Schattierungen. Auch die Lesenden machen so Schmerzerfahrungen. Nicht die Poesie ist es, die sich aussetzt (Celan), sondern die Lesenden müssen sich Trakls Werk preisgeben. Was ihnen geschieht, ist der immer schwierige Dialog mit sich selbst.1

Spiegel Trakls Dichtung ist eine des Spiegels. Rilkes Kommentar zu Sebastian im

Traum ist bekannt und doch so wichtig, daß er hier noch einmal zitiert wer¬ den soll: Ich denke nur, daß selbst der Nahstehende immer noch wie an Scheiben ge¬ preßt diese Ansichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakls Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel.2 Von zwei verschiedenen Glasflächen ist hier die Rede. Einerseits reflektieren Spiegel Bilder, die sichtbar werden, erscheinen. Die Spiegelbilder sind alles, was der Blick trifft. Der Blick aber fällt nicht ungehindert auf die spiegelnden Flächen Er muß hindurch durch die Mittelbarkeit von Glasscheiben, die zwar Einblick gewähren, nicht aber eine tatsächliche Annäherung an die Bilder. Womöglich ist aber diese Verunmöglichung Schonung, würde es vielleicht schmerzen, im Versuch, die Bilder als Dinge anzutasten, zu erfahren, daß sie keinen realen Dinge, sondern nur gespiegelte sind. Umgekehrt aber sind auch die Bilder Trakls eingesperrt, dringen auch sie nicht heraus aus ihrer vergla¬ sten und so auch noch einmal verspiegelten Sichtbarkeit. Trakl thematisiert in seinem Werk den Blick, macht ihn im Spiegel doppe t sichtbar und verändert ihn zugleich. Er zeigt, wie jemand in den Spiegel

in-

einblickt und sich dort seiner selbst vergewissernd sucht. Ihm aber tritt dabei etwas entgegen, und das Gleiche geschieht den Lesenden, die dabe, Zusehen.

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Iris Hermann

Man stößt an seine sichtbaren Grenzen und gelangt sichtlich darüber hinaus, indem ein Anderes, ein Gegenüber begegnet, das/der dann auftaucht, wenn die Figur über sich selbst reflektiert. Was bei Trakl so beunruhigend im Spie¬ gelmotiv sich zeigt, gilt Lacan als die ursprüngliche Ich-Verfassung, in der das Ich sich zunächst als verschiedene, womöglich auseinanderstrebende Einheiten sieht, zerstückt und nicht ganz. Ursprünglich ist eben nicht das, was später sich ausbildet, die Auffassung von dem einen unteilbaren Subjekt. Die Entwicklung der Ich-Funktion im Spiegelstadium, wie sie der frühe La¬ can in den vierziger Jahren skizziert hat3, geht von einem zerstückelten Bild des Körpers4 aus, der sich verwandelt in ein Bild von einem ganzen Körper, nicht wirklich, aber als Geschehen im Schein und als solches doch realitäts¬ verwandelnd. Das Ich, das so gebildet wird in einem labilen, immer gefähr¬ deten Prozeß (Lacan spricht davon, daß das Werden des Subjekts nur asym¬ ptotisch erreicht wird), entgeht nicht seinen Anfängen der Zerstückelung und der mitunter qualvoll erlebten Differenzierung. Sie bleiben präsent und wach im Traum und auch hier, in Trakls Traumdichtungen (immer wieder appellie¬ ren seine Bilder an ihr Traumartiges, nicht nur in Traum und Umnachtung). Trakl kehrt gerade, indem er das Sehen thematisiert, das ja die Welt 'zerlegt', zum Ausgangspunkt des zerstückelten Körpers zurück. Fast scheint es, als bestünde seine Radikalität darin, zu behaupten, daß die Verwandlung in ein Bild von der unbedrohten Ganzheit des Körpers nicht funktioniert und wenn, dann nur als die imaginäre Ganzheit, wie sie sich im Spiegelstadium als Ver¬ heißung herausbildet.6 In seinen Spiegelbildern erzählt Trakl den Narzißmythos neu. Narziß sieht sich nicht selbst, sondern, "er hält für Körper, was Schatten".7 Trakl kehrt dies um und radikalisiert es zugleich: "Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen."» Während Narziß Wirklichkeit und Schein vertauscht, leugnet Trakl, daß es noch Realität in Gestalt eines festen Körpers geben könnte. Aus dem Körper mit klar definierten Grenzen ist die Ahnung von ihm geworden, das Wissen um sein Geschlecht, nicht mehr: "Männliches rot über schweigende Wasser geneigt."? Der Blick, der in Trakls Werk voreeführt wird, trifft auf Verborgenes, ihm erschließt sich nur Abgeschattetes. Die Spiegel selbst können nichts zeigen, sie sind blind geworden. Ihre Mattigkeit und die Schatten, für Trakl in negativer Synästhesie ihr Schweigen, sie sind dasselbe. Trakl hat den Moment des sich im Spiegel Erblickenden aber gera¬ de gewählt, um in ihm noch etwas zu zeigen. Etwas, das sich nur im flüchti¬ gen, nicht genau akkomodierendem Sehen ergibt, etwas, das auf die eine oder andere Weise erscheint, von dem man nicht mehr sagen kann, ob es diese war oder jene. Das ist es, was das Spiegelbild ausmacht: Man sieht die Welt noch einmal als verkehrte und weiß, das (nur vermeintliche) Gegenteil ist genauso richtig. Spiegelbilder sind die Welt in Augenblicken. Die Welt ist da als die

Eine Ästhetik des Schmerzes

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die erblickt wird, so lange bis das Augenlid geschlossen werden muß und dann für ein neues Bild sich öffnet. In Psalm werden Bilder gezeigt, noch nicht so schnell wie im Film, aber in Prosasätzen, konstatierend, jedes für sich ein Augenblicksbild: Es ist ein Licht, das der Wind ausgeiöscht hat. Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.10 Spiegelresultate, Blicke, Schatten, Doppelgänger zu sein, das ist es, was die einzelnen heterogenen Bilder im Reihungsstil, der an Rimbaud" erinnert, eint Stetig wiederkehrendes Thema aber ist der Blick, dem sich nichts mehr zeigt, der im von Trakl eingefangenen Moment mit seinem Blindwerden kon¬ frontiert wird. So entstehen Bilder von der Grundfarbe Schwarz, letzte Bilder vor dem baldigen Erblinden: Hinter Kreuz und braunem Hügel Blindet sacht der Weiherspiegel, [...] Bald entgleitet Fisch und Wild. [...] Abend wechselt Sinn und Bild.12 Einem solchen Blick werden die Dinge austauschbar, weil sie in ihren auf¬ gelöst erscheinenden Konturen sich gleichen. Rosige Spiegel: ein häßliches Bild, Das im schwarzen Rücken erscheint, Blut aus brochenen Augen weint Lästernd mit toten Schlangen spielt. Schnee rinnt durch das starrende Hemd Purpurn über das schwarze Gesicht, Das in schwere Stücke zerbricht Von Planeten, verstorben und fremd. Spinne im schwarzen Rücken erscheint Wollust, dem Antlitz verstorben und fremd, Blut rinnt durch das starrende Hemd Schnee aus brochenen Augen weint.13 In diesem Nachlaßgedicht aus den Jahren 1912-14 wird ein 'schönes' Bild zum Ort der Reflekt.on über das Häßliche. Das Spiegelmotiv ist hier nicht nur als Bild vorhanden, es erscheint zudem als sprachliche Struktur ist

le-

derholung, als solche aber Metonymie. Wie in einem Drehspiegel vertau¬ schen sich die Bilder und erhalten so alle den gleichen Stellenwert:

Blut aus

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brochenen Augen weint" wird in der letzten Strophe zu: "Schnee aus brochenen Augen weint" und aus: "Schnee rinnt durch das starrende Hemd" wird: "Blut rinnt durch das starrende Hemd". So offensichtlich das ist, so deutlich legt es Trakls Mechanismus des Verschiebens frei. Was sich inhaltlich als Manifestation von Zerstückelung (purpurn über das schwarze Gesicht, / Das in schwere Stücke zerbricht) und Kastration präsentiert ("Blut aus brochenen Augen weint" heißt es in einem Bild, trauriger noch als die blutigen Augen¬ höhlen bei E.T.A. Hoffmann und so leer wie Ödipus toter Blick) und dafür auf eine Metaphorik des Blickes und des Gesichtes zurückgreift, wird durch metonymisches Verschieben übertragen (und so auch metaphorisch) auf ur¬ sprünglich außenweltliche Bildbestände: Eine innere Welt, mag man sie überhaupt von äußerer getrennt begreifen, heftet sich an äußere Erfahrbarkeiten: Schnee wird so heiß, so nah empfunden wie Blut (größte Kälte ver¬ brennt). Die äußere Welt wird mehr als nah (und ganz tastbar, und so mag Rilke auch nicht recht behalten) zur eigenen Körperwelt der lyrischen Figur Der Preis für dieses mehr als Wunderbare ist das Zerbrechen des Körpers. In seiner Zerstücktheit kann er sich verschieben, denn verschoben werden kann nur, was in extremer Beweglichkeit gedacht werden kann, ausgerenkt ist. Der Spiegel ist bei Trakl, und genau das macht ihn zu einem essentiellen Bild, als Schnittpunkt sich kreuzender, antagonistischer Linien gesetzt. Als Schnittpunkt zwischen eigenem Begehren und dem Begehren des Anderen erscheint er in der frühen Ballade Die junge Magd. Silbern schaut ihr Blick im Spiegel Fremd sie an im Zwielichtscheine Und verdämmert fahl im Spiegel Und ihr graut vor seiner Reine. Traumhaft singt ein Knecht im Dunkel Und sie starrt vom Schmerz geschüttelt.14

Die Reflektion im Spiegel ermöglicht der Figur der Magd eine (Selbst-) Re¬ flexion, die sie aber als so befremdend erfährt, daß das Bild nicht nur vor ih¬ ren Augen verschwindet, sondern auch der Spiegel mit Angst besetzt wird Resultat ihres phantasierten oder real erlebten Schmerzes (und der Lust) ist daß aus der Ich-Fremdheit der tatsächliche Ich-Verlust wird, die Auflösung des Ich: B Schaut ihr Antlitz durch den Weiler, Weht ihr Haar in kahlen Zweigen.

So eindeutig der Ich-Verlust projiziert ist, so erstaunlich anders 'klingt' der weitere Kontext der letzten Strophe:

Eine Ästhetik des Schmerzes

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Traumhaft klingt im braunen Weiler Nach ein Klang von Tanz und Geigen. Das Traumlied des Knechts erfährt ein verdoppelndes, korrespondierendes Echo (eine akustische Spiegelung mithin), zerfetzt aber erscheint zugleich das Gesicht der Magd, mithin ihre Identität. Die erfüllte Lust des männlichen, der Schmerz des weiblichen Begehrens, beide sind präsent. Im Spiegelmotiv artikulieren sich diese unterschiedlichen Wahrnehmungen, die Gegensätze treffen umnittelbar aufeinander. All das aber kann Funktion von Sprache sein: Die Spiegel werden 'befragt'. Ihre Funktion ist das Sprechen. Nachtlied Des Unbewegten Odem. Ein Tiergesicht Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit. Gewaltig ist das Schweigen im Stein. Die Maske eines nächtlichen Vogels. Sanfter Dreiklang Verklingt in Einem. Elai! dein Antlitz Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser 0! Ihr stillen Spiegel der Wahrheit. Aus des einsamen elfenbeinfarbener Schläfe Erscheint der Abglanz gefallener Engel.15 Hier korrespondieren Gesicht und Spiegel, sie werden austauschbare Bilder. Das Sprechen aber liegt hier als Schweigen vor oder als Verklingen. Schwei¬ gen ist der leere Raum für das Sprechen. Als Markierung von Beginn oder Ende des Sprechens ermöglicht es Epiphanie, das Erscheinen (das ja nur be¬ merkt wird, wenn es sich von etwas abzuheben vermag): "An des Einsamen elfenbeinfarbener Schläfe / Erscheint der Abglanz gefallener Engel." Das Bild fängt ein stemschnuppenartiges Erscheinen ein, das verlöscht im Auf¬ tauchen. Es scheint, als habe sich Sprache bei Trakl so zurückgezogen, wie es sich in den Bildern von schweigenden Spiegeln zeigt. Es ist Sprache als das Sprechen über ihr Schweigen. "Dark Mirrors">6 nennt Eric Williams die Spiegel bei Trakl. Die Weigerung, ihre Funktion zu erfüllen, verbindet sich damit. Verwestes gleitend durch die morsche Stube; Schatten an gelben Tapeten; in dunklen Spiegeln wölbt Sich unserer Hände elfenbeinerne Traurigkeit.17 In überwiegender Dunkelheit (auch die hellen Farben gelb und elfenbeinern

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sind dunkler als weiß, sind Synonyme der unmittelbaren Todesnähe), spie¬ geln Spiegel nicht mehr einfach zurück, sondern bewirken vor allem Anaund Metamorphosen. Als eine Art Hohlspiegel wölbt sich etwas hervor, ab¬ strakt "Traurigkeit" und sinnlich als die zu einer Art Höhle sich schließenden Hände. Dieser Spiegel bei Trakl schließt mit ein, daß er, der eigentlich nur als plane Fläche vorstellbar ist, sich zu einer Höhle zu weiten vermag.

Höhlenausgänge Die Metapher der Höhle ist bei Trakl ähnlich wichtig und von umgekehrter und doch mitunter gleicher Funktion wie das Spiegelmotiv. Die Höhle ist die basale Metapher schlechthin, der Ursprungsort des Lebendigen, und als Äquivalent für den Mutterleib mit einer unstillbaren Rückkehrsehnsucht aus¬ gestattet. In seinem Werk Höhlenausgänge bezeichnet Hans Blumenberg die Höhle

als

"Verwahrform,

als

Schutzort",

der

den

Charakter

eines

"Umhüllenden" hat und dem Bedürfnis nach Traulichkeit1« entgegenkommt. Voll Früchten der Hollunder; ruhig wohnte die Kindheit In blauer Höhle.19

heißt es bei Trakl. Geborenwerden, das In-die-Welt-Kommen, ist der Austritt aus der Höhle, der vor allem als schmerzhafter Vorgang zu denken ist, gerade auch ffir den, der da geboren wird.20 Wer aus einer immer dunkel imaginierten Höhle ans Licht tritt, wird sichtbar. Er kann in den Blick genommen wer¬ den. Das ist zunächst gefährlich, denn wer sichtbar wird, ist angreifbar.21 Und es jagte der Mond ein rotes Tier Aus seiner Höhle; Und es starb in Seufzern die dunkle Klage der Frauen.22

Bei Trakl ist selbst in der Höhle die Unsichtbarkeit und somit Unangreifbar¬ keit nicht mehr gewährleistet. Die Geborgenheit der Höhle ist immer schon bedroht, und sogar die Hölle bleibt so nicht undenkbar. Wie bei der Metapher des Spiegels im Spiegelblick, wählt Trakl auch hier einen bestimmten Mo¬ ment, den des Erscheinens der Figur vor der Höhle, das heißt der Augenblick ihres Heraustretens. Geburt und Anfang, der erste Kontakt mit der Außen¬ welt, die Schnittstelle zwischen Innen und Außen, Erinnerung und Gegen¬ wart, das alles findet sich in dieser epiphanischen Struktur, in der der ent¬ scheidende Augenblick des Erscheinens erfaßt wird als eine Erlösung im Schein im Sinne Nietzsches. Trakls Werk konzentriert sich wie in der Meta¬ pher der Spiegelbegegnung auf die Momente, in denen dieses Entscheidende,

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Eine Ästhetik des Schmerzes

das sich jäh Verändernde, geschieht. Die Spiegel in Trakls Werk sind auch als Höhlen zu denken, wie die bekannte Stelle aus Traum und Umnachtung zeigt. "Aus blauem Spiegel trat die schmale Gestalt der Schwester und er stürzte wie tot ins Dunkel. Nachts brach sein Mund gleich einer roten Frucht auf."23 Drei Bewegungen sind hier eingefangen. Das Heraustreten der Schwester beim Blick in den Spiegel, das Hineinstürzen des Knaben in den Spiegel, der aber nur noch als Dunkel existent ist, und wiederum die Gegenbewegung, das Aufbrechen seines Mundes, der auch eine Höhle ist. Diese Hin- und Herbe¬ wegungen auf der bildlichen Ebene zeigen einen weiteren Grundzug der Weltanschauung Trakls. Mit dem Erscheinen ist sein Verschwinden immer schon mitgedacht und mitbeobachtet; mit dem Hinaustreten in die Welt be¬ ginnt der Tod sein Werk. Das ist das Leben im Zeitraffer, letztlich sind Ge¬ burt und Tod eines, zwischen ihnen kaum ein Wimpemschlag. Trakl schaut das Auftauchen und er schaut fast zugleich den Niedergang^ Das Verschwin¬ den ist zumeist von großer Sanftheit, ein Hinsinken und Absterben, kein jä¬ hes Zerstören (bis auf Ausnahmen), ein Verlöschen aller Kräfte so als lose sich nur eine Halluzination oder eine Fata Morgana (eine

u §

mithin) auf, kein wirklicher Körper. Trakl führt die Reflexe die Bilder un Spiegel die Schatten in der Höhle vor; anders als in Platons Hohlengleichms sL ihm Schein und Schatten das Wirkliche, und realer ist mellt das was man nach Verlassen der Höhle (dr)außen vorfindet. Sehr bewußt wählt- Trakl den Moment des aus der Höhle Heraustretens, um eine ganze Problematik d Todes auf ihm zu versammeln: Gerade in jenem Augenblick also der e.gentlich der verheißungsvoll aufklärerische Neubegmn sein soll Das alles ist dialektisch, Auftauchen und Auflösen verfließen in eins, von

em

schieden werden kann, als was es gelten soll, als Beginn oder Ende. Di 1S1 Fü^Hans^Bhomenberg ist auch Sprache eine "Höhle". Trakl aber wehrt den Gedanken ab, die Höhle der Sprache könne noch ein guter Ruckzugsort

.

Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen, Daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt Und langsam die schweren Lider senkt.24 Wie der Spiegel verbindet sich auch dieses Bild von der Höhle mit Verstummen

mit Schweigen. Auch Schallen sind nicht mehr möglich, wenn d e

Höhle schwarz imaginiert wird. Da erscheint es nur ft. genc Tierfigur

we

die aus der Höhle heraustntt, den Blick senkt. Hohlenausg

korrespondieren bei Trakl mit einem innerlichen

Versenken. Aus

ausgehen wird so der Rückzug. Im Gedicht De profundts findet sich das ähnliche Assoziationen hervorruft.

g

dem He Bil ,

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Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht.25

Auch der Mund ist eine Höhle, eine Sprechhöhle. Ein verlöschendes Licht in der Mundhöhle ist ein Bild, das mit dem Schweigen korrespondiert. Sprechen wird abgewehrt, gleichzeitig erlischt das Licht (eine mögliche Metapher für Erkennen). Die Bewegung ist ein 'Höhleneingang', kein Heraustreten, son¬ dern eher ein Verschlucken. In Helian heißt es: "O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern."26 Ein ebenso paralleles wie gesteigertes Bild. Zu¬ sammengefugt werden in ihm die Zerstückelung des Körpers, die Unmöglichkeit von Schauen als verschluckendem Schweigen. Ein Heiliger tritt aus seinen schwarzen Wundenmalen. Die Purpurschnecke kriecht aus zerbrochenen Schalen. Lind speien Blut in Domgewinde starr und grau.22

Die Bewegung des Heraustretens beendet und beginnt etwas. Die Höhlen (h.er sind ste "Wundenmale" und "zerbrochene Schalen") sind geronnene abgelebte Zeit, sind gewesene Verletzung und Gewalt. Es ist eine Erinnerung an den erlebten Schmerz, der in den Höhlen aufbewahrt bleibt, und auf Trakl trifft zu, was Blumenberg über Proust schreibt: Attfang, wie er hier genommen wird, ist Ausgang. Ausgang aus dem Zustand der Abwesenheit von der Welt, der nicht festgehalten werden kann, in dem sich nicht Lbcn laßt, obwoh! das Leben in ihm aufzugehen scheint. Dies genau ist Stelle, für die Proust nach der Metapher der Höhle greift. Sie vereint die reine Verschlossenheit des Lebens bei sich selbst und die Unmöglichkeit bei i zu verweilen, weil es die Erinnerung gibt und sie am Ausgang der Höhle

Das is, paradox, und gerade das aber kennzeichnet im wesentlichen Trakls prechen über die Anfänge, über Geburt und Leben, ln ihnen ist die Erinne¬ rung an den Tod präsent. Leben als Gewinn der Realität ist der Verlust des Vertrauten. Die Höhle is, der Ort, der, wie Nietzsche es nennen wSde da Ur-Eme repräsentiert, und Trakl läßt keinen Zweifel daran daß die von ihm entworfenen Höhlen auch das nie waren. Sie sind keine Orte tsZg™ sens . sondern sie werden verlassen, weil die Verletzungen in ihnen schon egonnen haben. Selbst die Rückkehrsehnsucht ist bei Trakl eine sehr zwei den zufiigte?0

S°" ^ “ ei"em 0rt' der die erste"> ™ geheilten Wun-

Blumenberg begreift die Höhlen als die Orte, die in ihrer Weitabgewandt, he,t auch die Möglichkeit bieten, sich auf die Außenwelt vorzubereiten und S rateg,en zu entwickeln, deren Realismus (den der Außenwelt) zu entschär ten. Insbesondere aber waren es mythische Erzählungen, "welche die na

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menlose und übermächtige Wirklichkeit zurückdrängten und in der Folge selbst als Wirklichkeit genommen wurden. Als abgeschlossene Sinngehäuse mit orientierungsverleihender Kraft nahmen sie den Charakter von Schutz¬ höhlen an, die den Absolutismus der Wirklichkeit außen vor ließen."30 Wie erscheint Mythisches bei Trakl? Ist es die in den Höhlen aufbewahrte kollek¬ tive Erinnerung? Auch Trakl denkt Mythisches als Unhintergehbares, als letzte Phänomene angesichts eines alles beenden könnenden Todes. In sei¬ nem Gedicht An den Knaben Elis scheint er zunächst eine biblische Mytholo¬ gie durchzuhalten: An den Knaben Elis Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft, Dieses ist dein Untergang. Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells. Laß, wenn deine Stime leise blutet Uralte Legenden Und dunkle Deutung des Vogelflugs. Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht, Die voll purpurner Trauben hängt, Und du regst die Arme schöner im Blau. Ein Domenbusch tönt. Wo deine mondenen Augen sind. O, wie lange bist, Elis, du verstorben. Dein Leib ist eine Hyazinthe, In die ein Mönch die wächsernen Finger taucht. Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen, Daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt Und langsam die schweren Lider senkt. Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, Das letzte Gold verfallener Sterne.31 Die Bilder: Im Dornbusch (Moses) klingt auch Christus Dornenkrone an (Elis Stirn blutet leise), aus dem Fels entspringt Wasser wie für das Volk Israel in der Wüste, Hyakinthos wird nicht mehr erschlagen, aber Elis Leib ist eine Hyazinthe, in die wie in die Leibseite Jesu die Finger des ungläubigen Tho¬ mas getaucht werden: "in die ein Mönch die wächsernen Finger taucht". Der Vogelflug, nein, er soll nicht mehr gedeutet werden und es ist an dieser Stel¬ le, daß die Mythologie zerbricht: Nicht jüdisch, christlich, römisch:

Laß [...]

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uralte Legenden". Elis: El-isch, Gottmensch, kein gewöhnlicher Mensch, ein synästhetisch inszenierter Leib, ein Leib, der tönt: blutend, und auch nicht ohne Ton sieht. Ich-Du sind die lyrischen Figuren, das lyrische Ich scheint diesen Elis anzubeten, und seinen Untergang fast zu beweinen Sprechen aber ist unmöglich. Das Schweigen ist sichtbar unsichtbar. Die Mythologie ist nicht nur in den versprengten, aber ungeheuer dicht gesetzten Bildern des Mose-Elis-Auguren-Jesus-Elis aufzufmden. Im Gedicht gibt es eine mythi¬ sche Zeit: "O, wie lange bist, Elis, du verstorben". Lange her, lange zum Sterben gebraucht, es ist schon gewesen, das Sterben Elis, und doch ist Elis, ein sehr lebendig imaginierter, schöner Körper präsent. Elis ist da, tot und umso schöner als Sterbender, es geschieht hier alles zugleich. Da verwundert es auch nicht, wenn Bilder aus dem (aus christlicher Perspektive betrachtet) Alten Testament, dem Neuen Testament und Bilder aus anderen Mythologien in einem merkwürdigen synkretistischen Flickenteppich zusammengefügt er¬ scheinen. Neben den jüdisch-christlichen Traditionen sind es symbolistische Bilder, denen Trakl hier wie andernorts einen Auftritt gibt. Aber: das Gold verfallt ("das letzte Gold verfallener Sterne"), rosig vorgestelltes Liebesspiel verstummt an Elis Leib. Zeichen, Bezeichnen geht unter: "Zeichen und Ster¬ ne Versinken leise im Abendweiher".32 Das Bild des Abendweihers gibt auch den Ton an, in dem das Gedicht An den Knaben Elis zu lesen ist: in einem weihevollen. Zugleich ist er als Weiher ein Spiegel. Im Abendweiher gelingt das Spiegeln aber nur schemenhaft: "dark mirror". Der Tod aber, von dem hier die Rede ist, tritt leise ein, er ist schön, das nackte Grauen kündet sich bei Trakl erst im allerletzten Gedicht an. Ästhet, der er ist, stößt er sich an der Außenwelt, die ihm den Stachel ins Fleisch senkt, aber ihn nicht entstellt, noch nicht, ihn ganz läßt, aber leise zur Ader, so als gäbe die Schönheit noch Rettung. Aber auch wer langsam verblutet, mit Locken im Mondschein wie

Lenz33,

verblutet. Trakl weiß das. Alle Figu¬

ren bei Trakl erleiden Schmerz, leiden an der Krankheit zum Tode. Die Reli¬ gion und die Mythologie sterben gleich mit, kein Entwurf, der als lebensret¬ tende Brücke etwas taugt. Was bleibt, ist dem unaufhaltsamen Tod seine Schönheit zu geben. Der Schmerz, er wird umso schärfer, je mehr er ästhetisiert wird, nicht umgekehrt.

Körper

Die Figuren der Trakltexte sind Angriffspunkte von Gewalt, ihr Erleben ist der Schmerz. Dieser Schmerz wird von den agierenden Figuren erlitten, gera¬ de da, wo sie ihn anderen zufugen. Er ist fast immer beides zugleich: der Schmerz der Opfer und der Schmerz der Täter. Dazu paßt die grundlegende

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Ambivalenz der Figuren. Am deutlichsten wird das an der Gestalt der Schwe¬ ster sichtbar. Zum einen ist sie das bevorzugte Objekt des Begehrens der Knabenfigur, zum anderen birgt die in verschlüsselten Bildern angedeutete Verschmelzung die Gefahr nicht nur des in jeder Entgrenzung möglichen Verlierens, sondern, viel tödlicher, des Schuldigwerdens, der Berührung mit dem Untergang. Trakl inszeniert die Verquickung von Liebe und Tod im Schnittpunkt der Figur der Schwester: In ihr verdichten sich Liebe, Begehren und Tod zu einem nicht mehr voneinander zu Differenzierenden. Wer sie be¬ gehrt. stirbt, wer mit ihr verschmilzt, die ja das Begehren zu erwidern scheint, fugt ihr nicht endenwollende Schmerzen zu. Die Oppositionen sind nicht immer als solche erkennbar, sie stehen sich nicht unmittelbar gegenüber, sondern können sich auch im Verschwimmen einer klar erkennbaren Stel¬ lungnahme zeigen. Diesem Befund korrespondieren die oft sehr amorph komponierten Figuren, deutlichstes Beispiel sind Adverb und Substantiv ver¬ schmelzende Wortschöpfungen wie ein Träumendes, ein Schweigendes34, die Trakl vielleicht seiner Hölderlin-Lektüre verdankt. In Brod und Wein heißt es: "Dort ein Liebendes spielt".35 Aus Tätigkeiten werden Zustände, 'Dinge'. Die Substantivierungen gleichen Erstarrungen, ja Versteinerungen. Ähnlich mehrdeutig sind bei Trakl die Körperbilder seiner Texte. In Traum

und Umnachtung sind sie auffällig versammelt. Wenige, doch reich entfaltete Wortfelder liefern in Traum und Umnachtung das Material für immer wieder neu kombinierte Wortketten. Neben den Farbwerten sind es Begriffe für harte Materialien, die eines der größten Wortfelder im Text bilden: Stein, Metall, Kristall, Eisen; Stahl, Knochen, Ton. Trakl setzt aus diesen Materialien, bei denen die anorganischen überwiegen, die Leiber seiner Figuren zusammen. Oft unterliegt der Leib dabei einem Prozeß der Versteinerung. Ausgangs¬ punkt ist das Gesicht der Mutter als das Gesicht, das so lange vertraut ist und auch als Spiegel dient: Es wird starr und unbeweglich, zu Stein. Die Blicke, die auf dieses Gesicht treffen, zerbrechen an ihm. Der Knabe, der sich ausge¬ rechnet in einer Höhle vor dem regungslosen, unheimlichen Mutterbild ver¬ birgt, hat selbst einen steinernen Mund. Er, der mit erschauernden Händen die Kühle des alten Steins befühlte36, bleibt nicht verschont, sich fürchtend vor dem Versteinern wird er selbst zu Stein, und zuerst scheint ihm mit dem Mund das Sprechen zu erstarren. In der mythischen Zeit der Nacht, ihres Raumes für Traum, Angst und Tod, scheinen selbst Schatten zu zerschmet¬ ternden Felsen zu werden. Zur Säule erstarrt33 der Knabe, wenn er weiche Körper, "das blaue Rauschen eines Frauengewandes"j8 wahmimmt. Da mag Seide auf seinen Körper treffen, jener Stoff, der sich von allen Stoffen der menschlichen Haut am ähnlichsten anfühlt und schon verspricht, was doch nur die Haut darunter einzulösen vermag. Er erstarrt vor Schreck, vor Er¬ wartung, aber auf jeden Fall nicht so, als könne er als harter und unbewegli-

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eher Körper auf Weiches, Fließendes reagieren. Zu nah steht neben jedem anderen Frauenkörper auch hier das steinerne Gesicht der Mutter. Wo sich die Verlockung mythisch überhöht wie im sanften Antlitz des Engels39» schlägt die Erstarrung um in Gewalt. Der Stein wird zum Geschoß, der Engel wird gesteinigt, so wie es die im Alten Testament übliche Hinrichtungsme¬ thode war: Propheten sterben im Hagel der Steine. Das Versteinern macht auch vor der Figur der Schwester nicht halt, steinern sind ihre Augen, nur noch das Steinerne der Mutter widerspiegelnd, und gar nicht mehr mit der Tiefe versehen wie der Spiegel, aus dem sie zu treten schien, als sich der Knabe darin erblickte. Steinerne Augen sind eigentlich keine, sie sind schon fast zerbrochene, leblose. Die steinerne Beschaffenheit der Körper ist nur ei¬ nes der Bilder, mit der der Leib als hart, unnahbar, aber auch, das ist die Kehrseite der ansonsten so stabil erscheinenden Härte, zerbrechlich gezeigt wird; zerbrechlich und zart wie die Leiber bei Egon Schiele. In einer Ritterrüstung aber scheinen die Schultern des Knaben zu stecken, wenn von ihrem metallenen Charakter die Rede ist. Wie alle Bilder, so wiederholt sich auch das des Metallkörpers mehrere Male. So wird das Haar des Knaben in einem paradoxen Bild zum "stählernen Haar".49 Wen wundert es da, daß niemand diese Stirne je berührt, wo stählerne Palisaden der sich annähernden Hand die Berührung verwehren. Im Bild des Kristalls wird die harte Konsistenz mit dem Empfinden von Kälte verbunden, was ja auch in den anderen ’Härtebildem' indirekt anklingt: "Da es Nacht ward, zerbrach kristallen sein Herz und die Finsternis schlug seine Stirne. Unter kahlen Eichbäumen envürgte er mit eisigen Händen eine wilde Katze".41 Kristall- Eis-Kälte ist hier die Wortkette, und sie stattet den Leib sichtbar so aus, wie er auch im übertragenen Sinn agiert: Er ist äußerlich so kalt und starr, daß ihm nichts mehr Mitleid entlockt, auch nicht die Todesschreie eines Tieres. Und ähnlich wie Lenz Schritte, "so klang kristallen sein Schritt" 43 Im Unterschied zu Lenz wandert der Knabe jedoch nicht im winterlichen Gebir¬ ge, sondern geht über eine frühlingshaft grünende Wiese.43 Der innere Zu¬ stand Lenzens korrespondierte noch mit der eisigen Natur, hier ist der Leib resistent gegen die in der Außenwelt anklingende Wärme. Er bleibt der eis¬ harte Körper. Die extremen Härtegrade von Metall, Stein und Eis erreichen Knochen nicht, gleichwohl gehören sie zu den harten Leibmaterialien und ge en dem Körper seine Struktur. Darüber hinaus evoziert das Wortfeld Knochen und knöchern Todesbilder, auch in Traum und Umnachtung Der Tod ist ein

gräulich Gerippe"44 "die Schwestern flohen in dunkle Gärten zu

knöchernen Greisen"43, am Ende ist auch der Knabe dem Tod geweiht derart daß seme Schritte beinern schwanken4*. Der harte Körper, hier ist er reduziert au sem hartes> aber organisches Material, sein Gebein. Allzuhart muß er sei¬ ne augenscheinliche Unangreifbarkeit damit bezahlen, daß er zerbirst. So

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zerbricht dem Knaben sein kristallenes Herz in der Nacht, das noch in der Dämmerung "leise geläutet hatte"47 (auch hier eine Parallele zu Lenz). Der kalte, harte Körper ist dennoch, trotz aller naheliegender Assoziationen, kein fühlloser, und seine Eiseskälte hindert ihn nicht daran, zugleich auch flam¬ mend und brennend zu sein. Die Körperbilder in Traum und Umnachtung entwickeln als Bilder, die bei aller Eigenständigkeit einer symbolistischen Tradition zugeordnet werden können, gegensätzliche Merkmale, sie sind hart und fließend, kalt und heiß, und als solche verletzen sie sich an ihren extre¬ men Befindlichkeiten. Die Körperbilder dienen der Versinnlichung abstrakter Verflechtungen des Textes, in dessen Mittelpunkt ein Begriff der Schuld steht. Religiöse Bilder sind aber nicht einfach der 'Inhalt', sondern bilden zu¬ sammen mit mythischen Zeitbezügen ein kommentierendes Geflecht, mit dem die Körperbilder verknüpft sind. Trotz ihrer unnachgiebigen, gleichwohl fra¬ gilen Konsistenz zeichnen sich die Körperbilder gerade dadurch aus, daß Grenzen bei ihnen tendenziell aufgehoben erscheinen. Statt klar Umrissen zu sein, sind sie amorph. Ihre zentralen Merkmale werden zu Subjekten des Textes, was Trakl durch die Substantivierung und somit Verselbständigung von Adjektiven erreicht. Da hinzugesellte Verben wie gleiten, auflösen, ver¬ blassen, schweben, schwanken usw. verstärken diesen Eindruck. Während einerseits menschliche Figuren versteinern, sind es unbewegte Dinge, die als bewegte Körper imaginiert werden: "Tiefer liebte er die erhabenen Werke des Steins; den Turm, der mit höllischen Fratzen nächtlich den blauen Sternen¬ himmel stürmt".48 Körper werden abstrakt, Abstraktes körperlich, und das ist ein Befund, der auch für andere expressionistische Texte gilt. Die Innenwelt verwandelt sich in Gegenständlichkeit, sie verkörpert sich. Die Außenwelt wird nur so weit in den Blick genommen, wie die Innenwelt sie braucht, um ihre Befindlichkeit zu zeichnen. Sind so die Grenzen von Innen- und Außenwelt aufgehoben, dann ist es nur folgerichtig, daß Abstraktes zu Körpern wird, während Körper sich 'entkörpem'. Bei Trakl heißt das, daß Körper sich in einem ständigen Sterben befinden, in einem Verbrennen, Auflösen und Versteinern. Trakl wünscht sich das Gegenteil dessen, was Pygmalion ersehnte: nicht die Bele¬ bung der geliebten Statue, sondern das Stillstellen, Totstellen und Abkühlen der heißen Körper. Versteinert ist der Schmerz, ein Festgefügter, wie einge¬ mauert ist er, nicht mehr abwehrbar, sondern massiv und zugleich marmor¬ haft erhaben. Aus ihm ist die Zeit fortgenommen und gerade deshalb wie ein¬ gefroren präsent. Eingehend beschäftigt sich Martin Heidegger in seiner Er¬ örterung mit dem Schmerz (und auch dem Versteinern) in Trakls Gedicht (wie er es bewußt im Singular nennt). Für ihn inszeniert Trakl seine Dichtung an "Orten der Abgeschiedenheit" 49 An Orten der Abgeschiedenheit (besser in ihnen, denn sie sind Höhlen, Spiegelhöhlen, schwarze Spiegelhöhlen) läßt

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Trakl Entgrenzungen stattfinden. An solchen inneren, Versenkung ermögli¬ chenden und bewirkenden Orten verdichten und steigern sich Entgrenzungen zu Erfahrungen, die nur als schmerzhafte empfunden werden können (auch für die Lesenden). Die Abgeschiedenheit aber wird gesprengt.50 So aber kann Trakls Dichtung auch als eine des Übergangs gekennzeichnet werden51, die es ihm vor allem ermöglicht, die Dinge zwei- und mehrdeutig zu präsentie¬ ren. Auch der Schmerz, wie Trakl ihn artikuliert (und Heidegger ihn hier be¬ greift), hat eine große Ambivalenz und bezieht gerade daraus seine Aussage¬ kraft: Alles, was lebt, ist schmerzlich. Nur was seelenvoll lebt, vermag seine We¬ sensbestimmung zu erfüllen. Kraft dieses Vermögens taugt es zum Einklang des wechselweisen Sichtragens, wodurch alles Lebendige zusammengehört. Gemäß diesem Bezug des Taugens ist alles, was lebt, tauglich, d.h. gut. Aber das Gute ist schmerzlich gut. Alles Beseelte ist dem Grundzug der großen Seele entsprechend nicht nur schmerzlich gut, sondern einzig auf diese Weise auch wahrhaft; denn kraft der Gegenwendigkeit des Schmerzes kann das Lebende sein Mitanwesendes in seiner jeweiligen Art verbergend entbergen, wahr-haft sein lassen.52

Wichtig ist hier der Gedanke von der "Gegenwendigkeit” des Schmerzes, wie Heidegger formuliert. Aus einer solchen mitunter positiven Bewertung des Schmerzes ergibt sich Trakls eigentümliche Schmerzrhetorik, die die leisen Töne zu bevorzugen scheint: "Elai!".55 In Abendland heißt es: Silbern weint ein Krankes Am Abendweiher, Auf schwarzem Kahn Hinüberstarben Liebende. [...] So leise schließt ein mondener Strahl Die purpurnen Male der Schwermut.54

Das ist ein leises, zurückgenommenes Sprechen vom Schmerz, das an jene Figuren Odtlon Redens erinnert, die die Augen geschlossen halten, träumend und ertragend wie es scheint, vielleicht im stillen Einverständins mit dem Schmerz. Mitunter scheint Trakl den Schmerz bewußt nicht zu artikulieren, sondern ihn gewissermaßen auszulassen. Das ist so wirkungsvoll,' wie paradox. Wenn Trakl die Zerstückelung des Körpers vorfuhrt, ohne den Schmerz zu zeigen, dann ist der Schmerz gerade dadurch präsent als einer, der immer schon da ist und der durch Erwähnung nur gemindert würde. Das Schweigen ist der Frei¬ raum, in dem der Schmerz sich erst entfalten kann. In die leise, mitunter unhörbare Ästhetik mischen sich aber immer wieder

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laute, schreckliche Momente: "Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kind¬ lich Gerippe."55 heißt es in einem Bild, das an Kleists Erdbeben in Chili ebenso erinnert wie an Hölderlins Hälfte des Lebens .5