Habitus: Norm und Transgression in Text und Bild. Festgabe für Lieselotte E. Saurma-Jeltsch 3050050942, 9783050050942

Der Begriff "Habitus", so er in der kunsthistorischen Forschungsliteratur gebraucht wird, scheint der Soziolog

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Habitus: Norm und Transgression in Text und Bild. Festgabe für Lieselotte E. Saurma-Jeltsch
 3050050942, 9783050050942

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Table of contents :
Vorwort 9
I. Der Habitus des Körpers
Stasis und Bewegung im Herrscherbild Karls des Kahlen / Christoph Winterer 15
Mittelalterliche Selbstminderungsriten im Bild / Ulrich Kuder 37
Sankt Martin oder: Die Schönheit des Heiligen / Walter Berschin 59
Die unmögliche Gleichheit. Zur Personenverdoppelung in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit / Ute von Bloh 65
Das Schächerfragment des Meisters von Flémalle: Reue und Erkenntnis. Ein Beispiel emotionaler Selbstkontrolle / Martin Büchsel 93
II. Ordnung, Macht und Transgression
Der Schuss auf den Apfel. "Macht" und "Gewalt" in den Meisterschützensagen von Saxo Grammaticus bis Schiller / Stephan Müller 119
Gehorsam und Widerstand, Herrschaft und Freiheit in mittelalterlicher Politiktheorie / Jürgen Miethke 131
Ordnung und Verstoß in illuminierten Rechtshandschriften / Susanne Wittekind 151
Hugo und die Bauern. Zur Thematisierung gesellschaftlicher Ordnung im Renner des Hugo von Trimberg / Daniela Güthner 175
Farb- und Bildsignale des Domkapitels Regensburg / Renate Kroos 189
Politische Kommunikation in Herrschereinzügen. Tugendprogramme an Ehrenpforten der Renaissance / Marion Philipp 197
Kosmopolitische Weltsicht: die Umdeutung des mittelalterlichen Europa in Versailles 1919 / Madeleine Herren 215
III. Identität und Distinktion
Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission / Beat Brenk 245
Entstehung und Wandel der Kaiserkrone / Hermann Fillitz 259
'Privat' und 'Amtlich'. Anmerkungen zur Bildausstattung der ersten 'Schweizer Bilderchroniken' / Kristina Domanski 265
Der doppelte Habitus, oder: Fragen an die 'Masken' von Reims / Michael Hoff 285
Christus als Fürst der Tafel. Ein neu entdecktes Wandmalereifragment im Schloss von Babenhausen / Margit Krenn 297
Goltzius, Honor, and Gold / Larry Silver 315
Van Goghs Sinnbild "Ein Paar alte Schuhe" von 1885, oder: ein Holzweg Heideggers / Dietrich Schubert 331
Jeder nach seinem und doch alle nach einem Geschmack! Aspekte der Friedhofsreformbewegung in Dresden zu Beginn des 20. Jahrhunderts / Petra Klara Gamke-Breitschopf 355
IV. Habitus in Form und Stil
Säulen – geknickt und gebogen / Matthias Untermann 377
L’invention entre rupture et habitudes visuelles. Modèles intellectuels et modèles formels dans la mise en page de la Bible moralisée / Christian Heck 393
Landpartie mit Cotman und Taylor. Vom Habitus derer, die sich ein Bild der Vergangenheit machen / Bernd Carqué 413
Farbabbildungen 229
Abbildungsnachweis 435

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Habitus Norm und Transgression in Bild und Text

Habitus Norm und Transgression in Bild und Text

Herausgegeben von Tobias Frese und Annette Hoffmann in Zusammenarbeit mit Katharina Bull

Festgabe für Lieselotte E. Saurma-Jeltsch

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung: Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung, Basel Verein zur wissenschaftlichen Förderung der europäischen Kunstgeschichte am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Rebecca Milner Umschlaggestaltung: hauser lacour Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005094-2

Inhalt Vorwort ............................................................................................................................. 9 I. Der Habitus des Körpers Stasis und Bewegung im Herrscherbild Karls des Kahlen Christoph Winterer ......................................................................................................... 15 Mittelalterliche Selbstminderungsriten im Bild Ulrich Kuder ................................................................................................................... 37 Sankt Martin oder: Die Schönheit des Heiligen Walter Berschin .............................................................................................................. 59 Die unmögliche Gleichheit. Zur Personenverdoppelung in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Ute von Bloh ................................................................................................................... 65 Das Schächerfragment des Meisters von Flémalle: Reue und Erkenntnis. Ein Beispiel emotionaler Selbstkontrolle Martin Büchsel ................................................................................................................ 93 II. Ordnung, Macht und Transgression Der Schuss auf den Apfel. „Macht“ und „Gewalt“ in den Meisterschützensagen von Saxo Grammaticus bis Schiller Stephan Müller ............................................................................................................. 119 Gehorsam und Widerstand, Herrschaft und Freiheit in mittelalterlicher Politiktheorie Jürgen Miethke ............................................................................................................. 131 Ordnung und Verstoß in illuminierten Rechtshandschriften Susanne Wittekind ........................................................................................................ 151 Hugo und die Bauern. Zur Thematisierung gesellschaftlicher Ordnung im Renner des Hugo von Trimberg Daniela Güthner ........................................................................................................... 175

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Inhalt

Farb- und Bildsignale des Domkapitels Regensburg Renate Kroos ................................................................................................................ 189 Politische Kommunikation in Herrschereinzügen. Tugendprogramme an Ehrenpforten der Renaissance Marion Philipp ............................................................................................................. 197 Kosmopolitische Weltsicht: die Umdeutung des mittelalterlichen Europa in Versailles 1919 Madeleine Herren ......................................................................................................... 215 III. Identität und Distinktion Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission Beat Brenk .................................................................................................................... 245 Entstehung und Wandel der Kaiserkrone Hermann Fillitz ............................................................................................................. 259 ‚Privat‘ und ‚Amtlich‘. Anmerkungen zur Bildausstattung der ersten ‚Schweizer Bilderchroniken‘ Kristina Domanski ........................................................................................................ 265 Der doppelte Habitus, oder: Fragen an die ‚Masken‘ von Reims Michael Hoff ................................................................................................................. 285 Christus als Fürst der Tafel. Ein neu entdecktes Wandmalereifragment im Schloss von Babenhausen Margit Krenn ................................................................................................................. 297 Goltzius, Honor, and Gold Larry Silver .................................................................................................................. 315 Van Goghs Sinnbild „Ein Paar alte Schuhe“ von 1885, oder: ein Holzweg Heideggers Dietrich Schubert .......................................................................................................... 331 Jeder nach seinem und doch alle nach einem Geschmack! Aspekte der Friedhofsreformbewegung in Dresden zu Beginn des 20. Jahrhunderts Petra Klara Gamke-Breitschopf .................................................................................... 355

Inhalt

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IV. Habitus in Form und Stil Säulen – geknickt und gebogen Matthias Untermann...................................................................................................... 377 L’invention entre rupture et habitudes visuelles. Modèles intellectuels et modèles formels dans la mise en page de la Bible moralisée Christian Heck ............................................................................................................. 393 Landpartie mit Cotman und Taylor. Vom Habitus derer, die sich ein Bild der Vergangenheit machen Bernd Carqué ................................................................................................................ 413

Farbabbildungen ........................................................................................................... 229 Abbildungsnachweis ..................................................................................................... 435

Vorwort Der Begriff „Habitus“, so er in der kunsthistorischen Forschungsliteratur gebraucht wird, scheint zweifelsohne ein der Soziologie entliehener zu sein, wodurch der gegenüber der Kunstwissenschaft des Öfteren geäußerte Vorwurf methodischer Fremdbestimmtheit seine Bestätigung zu finden scheint. Dabei verdankte Pierre Bourdieu, einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts und zugleich ‚Erfinder‘ des wohl bekanntesten Habitus-Konzepts, seinen wesentlichen theoretischen Impuls einem Kunsthistoriker. So berief sich Bourdieu mehrfach, vor allem aber in dem erstmals 1967 erschienenen Aufsatz „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“, auf Erwin Panofsky.1 Dieser hatte in einem vielbeachteten Essay einen strukturellen Vergleich zwischen scholastischen Denkschemata und gotischen Bauprinzipien angestellt. Verantwortlich für diese Analogien machte er die Ausprägung spezifischer „mental habits“, welche im 12. und 13. Jahrhundert die Werke der Schulakademiker und Architekten gleichermaßen beeinflusst hätten.2 So scharf die Thesen Panofskys von der jüngeren kunsthistorischen Forschung attackiert wurden und im einzelnen auch widerlegt werden konnten – seine nachhaltige, methodische Leistung bestand darin, das aktive, schöpferische Moment kollektiver „mental habits“ entdeckt zu haben. In diesem Sinne definierte Bourdieu den „Habitus“ nicht als statische Gesamtheit der einer Person oder sozialen Gruppe zukommenden Eigenschaften und Verhaltensweisen, sondern als dynamisches Erzeugungsprinzip von Praxisformen („modus operandi“). Diese grundlegende Neufassung des Begriffs ermöglichte es, soziale Prozesse – und somit auch kunsthistorische Entwicklungen – zu beschreiben, ohne auf mystifizierende, ontologische Erklärungsmodelle („Genie“, „Weltanschauung“, „Zeitgeist“) zurückgreifen zu müssen. Zugleich konnte die Frage nach der Funktions-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Kunstwerken radikaler als zuvor gestellt werden: Welcher Sinn kam Kunstwerken im sozialen Raum zu? In welcher Weise wirkten Architektur, Malerei und Plastik aktiv auf das soziale Leben ein? Welche Dynamik entwickelten Artefakte, die in einer Gemeinschaft präsentiert, inszeniert oder performativ aufgeführt wurden? Schließlich: Wie wurden alltägliche Praxisformen in Artefakten selbst dargestellt und dadurch geregelt, reproduziert, normiert, durchbrochen oder neu geschaffen?

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Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis [zuerst fr. 1967], in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1970, S. 125–158. Erwin Panofsky: Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe, Pa. 1951. Bourdieu hatte Panofskys Essay zusammen mit einem weiteren ins Französische übersetzt und mit einem Nachwort versehen. Bei Bourdieus ins Deutsche übersetztem Aufsatz „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“ handelt es sich um eine leicht veränderte Version des Nachworts zur Übersetzung: Architecture gothique et pensée scolastique. Traduction et postface de Pierre Bourdieu, Paris 1967.

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Vorwort

Der vorliegende Sammelband ist Lieselotte E. Saurma-Jeltsch in Dankbarkeit zugeeignet. In ihren Forschungen nimmt die Analyse der sozialen Bedingungen mittelalterlicher Kunstproduktion eine ebenso wichtige Stelle ein wie die Frage nach den Darstellungsmodi gesellschaftlicher Verhaltensformen und -normen. Bereits in ihren frühen Studien zur kommerziellen Produktion bebilderter Handschriften des späten Mittelalters beschäftigte sich die Jubilarin mit den medialen Funktionen von Bildern. Ihr besonderes Interesse galt dem Wandel der Bildsprachen im 15. Jahrhundert – in der Buchmalerei am Vorabend der ‚Medienrevolution‘ – und, damit verbunden, der Änderung der Rezeptionsweisen, dem Verhältnis von Kunst und Auftraggeberschaft, der Darstellung von Rang und Prestige, sozialen Codes, Benimmregeln und Normbrüchen sowie Habitus in Form und Stil. Der Themenband versteht sich als Beitrag zu einer Würdigung des für die Kunstgeschichte wichtigen Begriffs des „Habitus“. Er vereint Beiträge von Kolleginnen und Kollegen, von Freundinnen und Freunden, Schülerinnen und Schülern, die Lieselotte Saurma in den Lehr- und Forschungsjahren verbunden waren und sind – in Basel, Bern, Berlin, München, Wien, Frankfurt und Heidelberg. Die überwiegend von Kunstwissenschaftlern verfassten Aufsätze widmen sich dem Thema in seiner großen Spannbreite und Komplexität. Beiträge von Historikern und Philologen ergänzen das Spektrum und beleuchten zum Teil verwandte Themen (wie etwa ästhetische Ideale) aus der Perspektive einer anderen Disziplin. Der Fokus des Buches liegt dabei einerseits auf den generativen, dynamischen Aspekten des Habitus, der es vermag, sowohl die Ausbildung sozialer Strukturen und Normen als auch deren Transformierungen und Transgressionen aufzuzeigen. Andererseits ist der Blick zugleich auf Werke gerichtet, in denen ein bestimmter Habitus – als dessen Produkt – zum Ausdruck kommt. Der Habitus des Körpers steht im Mittelpunkt der Beiträge des ersten Kapitels. Besprochen werden hier Bedeutungen von Gesten, Konzepte der Ähnlichkeit, Schönheit, Symmetrie und Stabilität sowie deren Abweichung in Deformation und Bewegung. So hinterfragt Christoph Winterer am Beispiel der Bilder Karls des Kahlen das habituelle Ideal des unbewegten Herrschers, Ulrich Kuder befasst sich mit dem rituellen Kniefall als Akt der Selbsterniedrigung und Walter Berschin mit der hagiographischen Verunsicherung angesichts eines als hässlich beschriebenen Heiligen Martin. Ute von Bloh wiederum zeigt auf, dass die Gleichheit zum Verwechseln ähnlicher Personen in mittelalterlichen Texten und Bildern gerade über ihre „habitus corporis“ sichtbar wird. Moraltheologische Fragen und die Bedeutung der visuellen Konditionierung von Affekt, Frömmig- und Tugendhaftigkeit stehen in Martin Büchsels Untersuchung zum Schächerfragment des Meisters von Flémalle im Vordergrund. Thema des zweiten Kapitels sind Ausprägungen des Habitus, die sich in medialen, performativen Inszenierungen von Ordnungen, Rang und Macht zeigen oder selbst Ordnungen schaffen beziehungsweise verändern. Daniela Güthner untersucht Vorstellungen von Stand und Standesgrenzen am Beispiel eines illustrierten mittelalterlichen Lehrgedichts und Renate Kroos Farbordnungen des Regensburger Domkapitels anhand der Textildekorationen sowie des Habits der Domherren und ihrer Bediensteten. Marion Philipp

Vorwort

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hingegen zeigt auf, wie städtische Obrigkeiten Ehrenpforten mit ihren ikonographischen Programmen dazu nutzten, um ideale herrscherliche Handlungsnormen zur Anschauung zu bringen, und Madeleine Herren legt kosmopolitische Denk- und Handlungsspielräume in den Jahren 1919/20 offen. Um das Aufbrechen gesellschaftlicher Strukturen geht es indessen in den Texten von Stephan Müller, Jürgen Miethke und Susanne Wittekind – um das spannungsreiche Verhältnis von kollektiv begründeter Macht und individueller Gewalt in den Meisterschützensagen, um Legitimierung und Delegitimierung der Herrschaft in mittelalterlicher Politiktheorie und um die Verbildlichung von Rechtsverletzungen in illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts. Wie in Kunstwerken der Habitus als Mittel der sozialen, religiösen und politischen Distinktion wirkt, legen die Beiträge des dritten Teils des Buches dar. Bei Beat Brenk ist es die antiarianische Glaubenshaltung, die in der Bildsprache des frühchristlichen Trivulzio-Diptychons zum Ausdruck kommt, Hermann Fillitz verfolgt, wie sich die Krone des Kaisers zu einem Mittel der Differenzierung gegenüber dem König wandelte, und Kristina Domanski interpretiert die bildliche Ausstattung einer Berner Chronik als Ausdruck eines politischen Habitus. Margit Krenn untersucht die höfische Überformung eines jüngst entdeckten mittelalterlichen Abendmahlbildes und Petra Klara Gamke-Breitschopf Tendenzen der Grabmalskunst zu Beginn des 20. Jahrhundert zwischen Standardisierung und Individualisierung. Drei weitere Beiträge befassen sich mit dem Habitus der Künstler in Mittelalter, Renaissance und der anbrechenden Moderne: Michael Hoff versteht die Masken von Reims als Resultat von Gestaltungsgewohnheiten unter Baumeistern sowie einem neuen sich im theologischen Habitus-Begriff ausprägenden Menschenbild. Larry Silver legt dar, wie Hendrik Goltzius die Renaissance-Lehre vom pictor doctus adaptierte und zu einem ganz eigenen künstlerischen Habitus transformierte. Dietrich Schubert beleuchtet die hermeneutischen ‚Holzwege‘ Heideggers und deutet das „Paar alter Schuhe“ van Goghs als symbolisches Selbstporträt. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels schließlich stehen Form, Stil und rhetorische Figuren von Kunstwerken. Matthias Untermann untersucht Normdurchbrechungen in der Architektur, das Phänomen geknickter Säulen, als Ausdruck eines „erhabenen Stils“. Bernd Carqué versteht den „stilistischen Habitus“ romantischer Architekturdarstellungen als rhetorisch-bewussten Einsatz von Bildmitteln, während es Christian Heck in seinem Beitrag zu den Bibles moralisées um einen „visuellen Habitus“ geht, der – sowohl passiv-träge wie aktiv-schöpferisch – Bildelemente auch losgelöst von ihrer ursprünglichen Funktion zu tradieren vermag. Die Realisierung dieses Buches wäre nicht denkbar gewesen ohne die Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen. Ihnen allen sei unser herzlichster Dank ausgesprochen: Unersetzlich war Katja Richter vom Akademie Verlag, die die Entstehung des Buches von Anfang an begleitete. Katharina Bull, die die Mühe der Redaktion auf sich nahm, sind wir für eine wunderbare Zusammenarbeit zum Dank verpflichtet, ebenso Rebecca Milner, die für Satz und Layout verantwortlich war. Außerordentlich dankbar sind wir für die großzügige Unterstützung, die wir von der Geschwister Boehringer Ingel-

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Vorwort

heim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Claire SturzeneggerJeanfavre Stiftung, Basel, sowie dem Verein zur wissenschaftlichen Förderung der europäischen Kunstgeschichte am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg e.V. erhielten. Insbesondere Benno Lehmann danken wir für die erste spontane Zusage. Sie alle haben uns die Finanzierung des Bandes überhaupt erst ermöglicht. Nicht zuletzt im Sinne der Geehrten bleibt es zu wünschen, dass der Habitusbegriff, der seit den 70er Jahren in der Soziologie einen großen Siegeszug antrat, während er in der kunsthistorischen Literatur eher sporadisch, zaghaft und leihweise Anwendung fand, hier seinen angemessenen Platz findet. Heidelberg/Florenz, Januar 2011 Die Herausgeber

I. Der Habitus des Körpers

Stasis und Bewegung im Herrscherbild Karls des Kahlen Christoph Winterer „Nur auf dem Thron mit Szepter und Reichsapfel kann man sich einen mittelalterlichen König vorstellen.“ (Percy Ernst Schramm)1

Madeline Caviness hat eindrucksvoll demonstriert, dass der Gegensatz von Bewegungslosigkeit, Symmetrie und Ordnung auf der einen und Bewegung und Instabilität auf der anderen Seite einer der wichtigsten Bedeutungsträger in mittelalterlichen Bildern ist.2 Nach Caviness signalisiert dabei die stabile Ruhe Harmonie und göttliche Ordnung, also den Himmel oder die Teilhabe daran, während ihr Gegenteil für die Hölle oder den noch nicht im Göttlichen vollendeten Status steht. Selbstverständlich war die besondere Rolle der hieratischen Komposition schon vor Caviness bekannt und dürfte die Kunstgeschichte schon seit ihren Anfängen begleitet haben. Gerade für das Herrscherbild wurde schon lange betont, dass bereits in spätantiker Kunst der König oder Kaiser grundsätzlich unbeweglich, zentral und in der Regel frontal dargestellt wurde.3 Man kann annehmen, dass dies schon sehr alten römischen Habitus-Vorstellungen entsprach, doch wurden sie im mittelalterlichen Westen erneuert und noch gestärkt durch die zuerst von Cicero, später von christlichen Autoren wie Augustinus, Cassiodor und vor allem Gregor dem Großen erhobene Forderung, der Herrscher habe zuerst sich selbst zu beherrschen.4 In Byzanz galt es ohnehin als das habituelle Ideal, statuengleich zu erscheinen.5

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Percy Ernst Schramm: Das Herrscherbild in der Kunst des frühen Mittelalters, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, I, 1922/23, S. 145–239, hier S. 206. – Daniel Föller (Mainz), Beatrice Kitzinger (Washington, DC), Margit Krenn (Heidelberg) und Gregor Rohmann (Frankfurt a.M.) haben mir mit wertvollen Hinweisen und Kritik bei der Abfassung dieses Beitrags geholfen. Ihnen sei hiermit ganz herzlich gedankt. Die Fülle der Anregungen schloss es aus, sie alle aufzugreifen; die Verantwortung für alle Fehler und Irrtümer bleibt bei mir. Madeline H. Caviness: Images of Divine Order and the Third Mode of Seeing, in: Gesta, XXII, 1983, S. 99–120. Wegweisend für eine ikonologische Betrachtung, die auch die formale Gestaltung einbezieht, war Adolf Katzenellenbogen: Allegories of the Virtues and Vices in Medieval Art. From Early Christian Times to the Thirteenth Century (Studies of the Warburg Institute, 10), London 1939 (verschiedene Nachdrucke, u.a. Nendeln 1977, Toronto/Buffalo/London 1989), bes. S. 73f. Diese Zugangsweise dürfte heute zumeist auf Zustimmung treffen; s. etwa Jérôme Baschet: L’iconographie médiévale (folio histoire), [Paris] 2009, S. 158–160, 397–399. Hugo Steger: David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft, 6), Nürnberg 1961, S. 75f.; Schramm 1922/23 (wie Anm. 1), bes. S. 163–166, 189–197, 205f.

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Christoph Winterer

Caviness hat aber auch explizit auf die Bedeutung von Unordnung und Bewegung hingewiesen, die zumeist weit weniger Beachtung fanden als ihr Gegenteil. Die berühmten hochmittelalterlichen Bilder mit dem Sturz Tankreds unter das Rad der Fortuna auf fol. 146r und 147r des Berner Liber ad honorem augusti scheinen auch vollkommen zu bestätigen, dass Instabilität in Bildern von Herrschern nur negativ, als Zeichen von Machtverlust und Verdammnis gemeint sein kann.6 Dennoch müsste man sicher Unbehagen empfinden, wenn man jeder Form von Bewegtheit unausweichlich eine pejorative Aussage zusprechen würde. Auch Caviness tut das in ihren Beispielen nicht, jedoch sieht sie Bewegung zumindest relational zu dem Geordneten, Stabilen und damit aus ihrer Sicht Höherwertigen. Als ein Beispiel bringt sie eine romanische englische Zeichnung mit der Vision des Markus, in der dieser und der Mönch Marchianus im unteren Register in Bewegung dargestellt werden, während über ihnen der heilige Johannes Chrysostomos und die Majestas Domini in Ruhe verharren.7 Caviness deutet die bewegte Haltung der beiden Gestalten zwar nicht als Zeichen von Verworfenheit, aber offensichtlich als Ausdruck eines im Vergleich zur himmlischen Erscheinung weniger perfekten Zustands. Eine Schwierigkeit liegt aber darin, dass damit die Bedeutung von Bewegtheit immer als Opposition zur Stasis definiert wird. Das griffe jedoch eindeutig zu kurz. Zur Wertigkeit der verschiedenen Elemente eines mittelalterlichen Bilds betonte Wilhelm Messerer im Rahmen seiner systematischen Überlegungen: „Der Betrachter muß die Zuordnungen jeweils neu mitvollziehen.“8 Das kann nur heißen, dass bei der Deutung von solchen Zügen wie Bewegtheit auch andere kontextbestimmende Faktoren berücksichtigt werden müssen und daran nicht immer nur das Gegenbild zur harmonischen Ordnung gesehen werden kann. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Bewegung gerade in einigen frühmittelalterlichen Herrscherbildern weder als negative Determination noch als Herabminderung angesehen werden darf, und dies sogar in Fällen, in denen sie in Nachbarschaft zur ruhigen Ordnung auftritt. Stattdessen kann Bewegung selbst in Herrscherbildern eine durchaus positive und im Bildgefüge eigenständige Wertigkeit besitzen. Allerdings ge4 5 6

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S. Hans Hubert Anton: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner historische Forschungen, 32), Bonn 1968, S. 384–389. S. Alexander Kazhdan: Body Language, in: Oxford Dictionary of Byzantium, hg. v. dems., 3 Bde., New York/Oxford 1991, Bd. I, S. 299f. Bern, Burgerbiliothek, Cod. 120 II; Abb. in Petrus de Ebulo: Liber ad honorem Augusti sive de rebus siculis. Bern, Burgerbibliothek Cod. 120 II, hg. v. Theo Kölzer/Marlis Stähli, Textrevison und Übers. v. Gereon Becht-Jördens, Sigmaringen 1994, S. 239 und 243; s. Sibyl Kraft: Ein Bilderbuch aus dem Königreich Sizilien. Kunsthistorische Studien zum Liber ad honorem Augusti des Petrus von Eboli (Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern) (Zürcher Schriften zur Kunst-, Architektur- und Kulturgeschichte, 5) (Diss. Zürich, 2002), Weimar 2006, bes. S. 317–321. Hereford, Cathedral Library, MS O.V.XI, fol. 147r; Caviness 1983 (wie Anm. 2), S. 99, 115f., auch 112f., Abb. 1; zur Handschrift s. Claus M. Kauffmann: Romanesque Manuscripts 1066–1190 (A Survey of Manuscripts Illuminated in the British Isles, 3), London 1975, Nr. 51. Wilhelm Messerer: Zu einer Grammatik der mittelalterlichen Kunstsprache, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien, XXIX/3–4, 1977, S. 1–6, hier S. 3.

Stasis und Bewegung im Herrscherbild Karls des Kahlen

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schieht dies unter bestimmten Vorbehalten, die im Folgenden noch näher zu bestimmen sind. Da im Verlauf des Mittelalters die theologischen und kulturellen Kontexte erheblich verändert sein können, wurden als Beispiele für die folgenden Untersuchungen eine Gruppe von Herrscherbildern ausgesucht, bei denen Bewegtheit eine auffallende und positive Rolle spielt, nämlich die Bilder Karls des Kahlen. Der prinzipiell für das ganze Mittelalter wirksame Hintergrund, vor dem die Darstellung eines bewegten Herrschers möglich wurde, war von dem jüdisch-christlichen Bild eines einzigen allmächtigen Gottes geprägt. Diese Gottesvorstellung führte zum einen dazu, dass der König, mochte er auch über dem ganzen irdischen Reich stehen, gegenüber Gott selbst ein Untertan blieb. Deswegen konnte eine in anderen Zusammenhängen negativ besetzte Haltung des Herrschers eine positive Bedeutung annehmen, weil sie seine aktive Unterordnung unter Gott ausdrückte. Robert Deshman hat im Zusammenhang mit dem Bild Karls des Kahlen im Münchner Gebetbuch auf diesen Umstand hingewiesen, der noch von der Grundannahme Caviness’ gedeckt wird; dabei hat er allerdings das Thema der Bewegung noch nicht dezidiert aufgegriffen.9 Zum anderen konnte der Herrscher als Vertreter und Instrument Gottes in der Welt erscheinen. Wegen der latent antinomischen Vorstellung eines absoluten und jenseitigen, aber zugleich in die Welt hineinwirkenden Gottes konnte diese Vermittlung, mit der sich mittelalterliche Bilder auch sonst immer wieder beschäftigten, überraschende Formen annehmen und zum Beispiel die Darstellung von Bewegtheit nutzen. Dennoch bleibt eine unauflösbare Dialektik zu beachten: Denn mit all dem soll nicht bestritten werden, dass die Herrscher in den Bildern der Karolinger- und mehr noch der Ottonenzeit überwiegend in hierarchischer und unbewegter Ordnung dargestellt wurden. Ihre Rolle als Herrscher gegenüber den Menschen erforderte diese Art von statischem Habitus, während das Verhältnis des Königs zu Gott in verschiedenen Formen der Bewegung ausgedrückt werden konnte. Diese Dialektik führt dazu, dass man nicht allein auf die Figur des Herrschers selbst schauen darf, sondern für die Interpretation auch scheinbar sekundäre Figuren und benachbarte Bilder betrachten muss, weil in sie Impulse einfließen konnten, die das eigentliche ‚Herrscherporträt‘ vermeiden musste. Karl der Kahle als David in der Viviansbibel Unseren Ausgangspunkt bildet die karolingische Viviansbibel mit ihrem außergewöhnlichen Psalterfrontispiz (Abb. 1) und dem abschließenden Bild Karls des Kahlen (Abb. 2).10 Beide Bilder sind gegen 845 in der Abtei Saint-Martin in Tours geschaffen worden; nach einer neueren Theorie wurden sie der bereits weitgehend fertiggestellten Bibel im Zuge einer Planänderung hinzugefügt, um diese dem König bei seinem Besuch

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Robert Deshman: The exalted Servant: the Ruler Theology of the Prayer-Book of Charles the Bald, in: Viator, XI, 1980, S. 385–417, bes. S. 392–402. Paris, Bibliothèque nationale de France (BNF), Ms. lat. 1, fol. 215v und 423r.

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Christoph Winterer

Abb. 1: Viviansbibel, Psalterfrontispiz, Der tanzende David zwischen seinen Leibwachen und Chorführern, gegen 845 (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 1, fol. 215v)

Abb. 2: Viviansbibel, Dedikationsbild, Übergabe der Bibel an König Karl den Kahlen, gegen 845 (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 1, fol. 423r)

in Tours überreichen zu können.11 Im eigentlichen Herrscherbild am Schluss der Handschrift thront zentral der westfränkische König, flankiert von zwei Beratern und zwei Leibwachen. Der junge König ist nicht ganz frontal und statisch gezeigt, sondern wendet sich leicht der Gruppe von Kanonikern zu seiner Rechten zu, neigt sich sogar leicht vor, um den Bibelband entgegenzunehmen. Diese Lebendigkeit, die noch nicht die kompromisslose Strenge ottonischer Bilder besitzt, ist schon von Schramm bemerkt worden12; sie markiert einen der wesentlichen Unterschiede zwischen karolingischer und ottonischer Kunst. Dennoch würde es sich bei dieser Miniatur mit den vier Assistenzfiguren zu Seiten des Herrschers um ein klassisches ‚Trabantenbild‘ handeln13, wären nicht in ihrem unte11

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Paul Edward Dutton/Herbert L. Kessler: The Poetry and the Paintings of the First Bible of Charles the Bald (Recentiores: Later Latin Texts and Contexts), Ann Arbor 1997, zur Planänderung bes. S. 45–56, zur Bestimmung S. 24, 35; zur Handschrift s. a. Wilhelm Koehler: Die Schule von Tours (Die karolingischen Miniaturen, 1), 2 Teile und Tafeln [Erstdruck 1930–33], Nachdruck, Berlin 1963, bes. Textbd., Teil 1, S. 396–401 sowie ebd. S. 250–255, Teil 2, S. 27–64. Schramm 1922/23 (wie Anm. 1), S. 196f. Grundlegend zu diesem Bildtypus Schramm 1922/23 (wie Anm. 1), S. 165, 177–181.

Stasis und Bewegung im Herrscherbild Karls des Kahlen

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ren Bereich die Kanoniker von Saint-Martin in Tours im Halbkreis aufgestellt und zeigten sich nicht von oben die Hand Gottes und zwei Personifikationen von Tugenden. Alles zusammen spricht eine deutliche Sprache: Wie im spätantiken Schema der Gelehrtenversammlung, die beispielsweise im vatikanischen Agrimensorenkodex überliefert ist14, soll mit der Kreisanordnung der qualifizierte Konsens aller Anwesenden im Bild dargestellt werden. Tugenden und Dextera Dei müssen obendrein als Bedingung und Ausweis von Karls Sapientia verstanden werden15, die wiederum als Quelle der Eintracht gelten darf. Bewegung kommt in diesem Bild nur gedämpft vor: als Handgesten einzelner Kanoniker und Laien oder in der Schrittstellung von Karls Ratgebern. Es überwiegt die von Caviness in anderen Bildern beobachtete ruhige Harmonie. Allerdings enthält die Handschrift mit dem Davidbild noch ein zweites, kaum kaschiertes Bild des Königs (Abb. 1). Erkennbar als Bild Karls wird es dadurch, dass Davids Gesichtstypus und Krone sowie die Wachen und Personifikationen der Tugenden mit der Darstellung Karls im Dedikationsbild der Bibel übereinstimmen.16 Die Ikonographie dieses Davidbilds ist nicht bruchlos in den biblischen Berichten oder den Psaltervorreden zu verorten. Wirklich einzigartig ist jedenfalls die Situierung der Szenerie in einer blauen Mandorla, die außen von den Kardinaltugenden umrahmt wird.17 Diese scheinen dabei im unteren Bereich einen maritimen Cha14

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Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1564, fol. 2r; 3. Jahrzehnt 9. Jahrhundert; s. zuletzt Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland, Bd. I: Karolingische und ottonische Kunst, hg. v. Bruno Reudenbach, München 2009, Nr. 295 (Dieter Blume) mit Farbabb. auf S. 174. – Eine nicht unerhebliche Bedeutung kommt hier auch der durch Gesten ausgedrückten diskursiven Verständigung der Kleriker zu; s. Fritz Saxl: Frühes Christentum und spätes Heidentum in ihren künstlerischen Ausdrucksformen, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, (N.F.) II (XVI), 1923, S. 63–121, bes. S. 64–77; Christoph Winterer: An den Anfängen der Stadtsiegel: Das Volk und seine Anführer zwischen Heiligkeit und feudaler Ordnung, in: Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch (sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunstgeschichte, 1), hg. v. Markus Späth, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 185–208, hier S. 207f. Zur Sapientia als wichtigem Instrument in der Herrschaftspropaganda Karls des Kahlen s. Nikolaus Staubach: Rex Christianus. Hofkultur und Herrschaftspropaganda im Reich Karls des Kahlen (pictura et poesis, 2), Bd. II: Die Grundlegung der religion royale, Köln/Weimar/Wien 1993, bes. S. 21–104. Herbert L. Kessler: The Illustrated Bibles from Tours (Studies in Manuscript Illumination, 7), Princeton, NJ 1977, S. 109; ausführlicher Ders.: A Lay Abbot as Patron: Count Vivian and the First Bible of Charles the Bald, in: Committenti e produzione artistico-letteraria nell’alto Medioevo (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto Medioevo, 39, 1991), 2 Bde., Spoleto 1992, Bd. II, S. 647–675, 23 Taf., bes. S. 662; s. a. Dutton/Kessler 1997 (wie Anm. 11), S. 43. Auf Übereinstimmungen bei der Kleidung verweist obendrein Isabelle Marchesin: Temps et espaces dans le frontispice du Psautier de la Première Bible de Charles le Chauve, in: Die Methodik der Bildinterpretation. Les methodes de l’interpretation de l’image, Deutsch-französische Kolloquien 1998–2000, (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 16), hg. v. Andrea von Hülsen-Esch/ Jean-Claude Schmitt, Göttingen 2002, Bd. II, S. 317–353, hier S. 331. Am nächsten vergleichbar ist nur das untergegangene Metzer Bild, Bibliothèque municipale, Ms. 24, fol. 1r; s. Steger 1961 (wie Anm. 3), Denkmal 24. Zu den Tugenden in diesem Bild s. a. Katzenellenbogen 1939 (wie Anm. 2), S. 31f.

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rakter zu besitzen und in der oberen Hälfte auf Wolken zu schweben. Die vier sitzenden Musiker dürften aus dem recht verbreiteten Bildtypus übernommen worden sein, der sich an der Vorrede Origo prophetiae David orientiert, die Asaph, Eman, Ethan und Idithun als die vier Chorführer Davids aufzählt.18 Wiederum ungewöhnlich ist es aber, dass alle vier beim Musizieren sitzen. Die Leibwache Davids kommt sehr wohl auch in anderen karolingischen Bildern vor, wenn auch die Beischrift „Cerethi Et phelethi“ singulär ist.19 Völlig ungewöhnlich in einem Bild Davids und seiner vier Chorführer ist es aber auch, dass der jüdische König darin tanzt. Nach dem biblischen Bericht tanzte David vor der Bundeslade, als er diese auf einem Wagen aus dem Haus Obed-Edoms nach Jerusalem überführte (2 Sam 6, 14; 1 Chr 15, 27–29). Diese Episode ist zwar in mehreren frühmittelalterlichen Psalterien illustriert20, doch ist in der Viviansbibel die Lade nicht zu sehen. Der Tanz Davids ist also aus einem erzählerischen in einen viel allgemeineren Kontext überführt worden. Hinzu kommt, dass dies eine der wenigen Darstellungen ist, bei denen David beim Tanz bis auf den Mantel nackt ist.21 Das unkönigliche Gebaren Davids wird weithin als Ausdruck seiner Demut vor Gott gedeutet, und zwar nicht erst in der christlichen Exegese22, sondern bereits in seiner eigenen Rede gegen Michal: „(F)ür ihn (den Herrn) will ich mich gern noch geringer machen als diesmal und in meinen Augen niedriger erscheinen.“ (2 Sam 6, 22). Herbert Kessler hat in der Ikonographie der Viviansbibel und der Parallelisierung von westfränkischem König und David propagandistische Absichten erkannt: In dem Bild sei die Humilitas Karls des Kahlen ausgedrückt worden, die ihn in den Augen der Kanoniker von Saint-Martin vor seinem Bruder, Kaiser Lothar, ausgezeichnet hätte. Und da auch David von Gott allen älteren Söhnen Jesses vorgezogen wurde, sei damit außerdem die Legitimität von Karls Machtanspruch gegenüber seinen Brüdern bestätigt worden.23 Isabelle Marchesin hat jüngst auf zwei andere Aspekte dieses Davidbilds hingewiesen, die mir – mit einigen Variationen – mindestens ebenso wichtig erscheinen. Zum einen erkannte sie in David, dem Gründer des alttestamentlichen Gottesdienstes im Tempel, ein Vorbild für den fränkischen König Karl, der die Liturgie in seinem Reich zu pflegen und zu fördern hatte.24 Zum andern deutete sie die von David gespielte Musik als Ver18 19 20

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S. Steger 1961 (wie Anm. 3), S. 75–77, 113–117 (mit teilweise unglücklicher Konzentration auf das Thema des ‚Spielmanns‘). S. ebd., Denkmäler 12, 15. S. ebd., Denkmäler 10, 11, (13), 16, 26a, (43), (44), 53, 64 (in Klammern Bilder, bei denen David keine Tanzbewegungen macht); s. a. ebd., S. 258, Tab. 10. Zur Deutungsgeschichte dieser Episode s. Herbert Schade: Zum Bild des tanzenden David im frühen Mittelalter, in: Stimmen der Zeit, CLXXII, 1962/63, S. 1–16. Leider erfüllt Schades Aufsatz nicht mehr die zeitgemäßen Bedingungen einer solchen Übersicht. Insbesondere die Kontextualisierung der exegetischen Meinungen, bei der sogar die Titel der zitierten Werke verschwiegen werden, ist völlig unzureichend. Andere Beispiele bei Steger 1961 (wie Anm. 3), Denkmäler 11, 26a und 53; s. hier S. 25–27. S. die Beispiele von Hrabanus Maurus und Dante bei Schade 1962/63 (wie Anm. 20), S. 2f. Kessler 1992 (wie Anm. 16), S. 663–666. Marchesin 2002 (wie Anm. 16), S. 334–336.

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wirklichung der himmlischen, nach einem harmonischen Ordo gestalteten Musik, die es wiederum über die Vermittlung durch die irdische Musik zu betrachten und als Zugang zum Schöpfer zu nutzen galt.25 Der erste Punkt ist bereits von immenser Bedeutung: Das Bild des tanzenden David ist in der Viviansbibel zweifellos auch das Bild von David als Autor26, weiter gehend sogar als auctor: Nicht zufällig ist die Komposition ja derjenigen der Majestas Domini angeglichen, sind also die vier Chorführer genauso wie die Evangelistensymbole rund um die zentrale Gestalt angeordnet. Diese Person im Zentrum, Christus oder David, ist damit offensichtlich als die Quelle markiert, aus der die Schrift der Evangelien oder die Musik der Chorführer hervorgeht. In seiner Spiegelung in David wird Karl auch an seine Herrscherpflicht und seinen Anspruch erinnert, auctor – Veranlasser und Förderer – des rechten christlichen Kultes zu sein. Schon bei seinem Großvater Karl dem Großen begleitete die David-Metapher seine Rolle als Stifter und als Liturgieund Kirchenreformer.27 Unbefriedigend wirkt es allerdings, dass Marchesin keine politischen, sondern ausschließlich spirituelle Absichten hinter der Darstellung vermutet. Diese Auslassung ist erstaunlich, denn schließlich hatte schon Herbert Schade in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf eine Stelle in Augustins De civitate Dei hingewiesen, nach der der Zusammenklang der Musik aus verschiedenen Tönen der Einheit eines Staates entspräche.28 Zudem wurde der Tanz Davids von ihm gerade mit Blick auf die Viviansbibel als Abbild der Planetenreigen und damit als kosmisches Motiv gesehen.29 Dass dieses platonische 25

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Dies.: L’image organum. La représentation de la musique dans les psautiers médiévaux 800–1200, Turnhout 2000, S. 131–134; Marchesin 2002 (wie Anm. 16), S. 337–353. Es fällt allerdings schwer, Marchesin in jedem Detail ihrer Analyse zu folgen. Sie rekonstruiert in der Miniatur genau berechnete bedeutungstragende Proportionsverhältnisse für die Abstände zwischen den Musikinstrumenten untereinander. Unmittelbar erkennbar sind diese allerdings nicht, und die Ansatzpunkte der gemessenen Abstände erscheinen reichlich willkürlich bestimmt. Steger 1961 (wie Anm. 3), S. 75–77. Staubach 1993 (wie Anm. 15), S. 5–9; Ders.: Cultus divinus und karolingische Reform, in: Frühmittelalterliche Studien, XVIII, 1984, S. 547–581, bes. S. 553–555; s. a. Josef Fleckenstein: Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der Norma Rectitudinis, Bigge-Ruhr 1953, S. 67–69, 82; zur konkreten Tätigkeit Karls des Kahlen s. die Bilanz bei Yitzhak Hen: The royal patronage of liturgy in Frankish Gaul. To the death of Charles the Bald (877) (Subsidia, 3), LondonWoodbridge 2001, S. 121–147. Hen konzentriert sich allerdings auf die Sakramentare und vernachlässigt damit die restlichen Arten von Stiftungen, die vom Herrscher erwartet wurden und die zum Teil – wie die vom Autor S. 128–131 angeführten Briefe aus Ferrières klar zeigen – einfach nur der materiellen Absicherung des liturgischen Ablaufs, zum Teil aber auch der übrigen Ausschmückung des Cultus divinus dienten. „Erat autem David vir in canticis eruditis, qui harmoniam musicam non vulgari voluptate, sed fideli voluntate dilexerit eaque Deo suo, qui verus est Deus, mystica rei magnae figuratione servierit. Diversorum enim sonorum rationabilis moderatusque concentus concordi varietate compactam bene ordinatae civitatis insinuate unitatem“; Aurelius Augustinus: De civitate Dei, lib. XVII, 14, in: Aureli Augustini opera, Bd. XIV (Corpus Christianorum, Series Latina, 47–48), hg. v. Bernhart Dombart/Alfons Kalb, 2 Bde., [Leipzig 1928–29] Turnhout 1955, S. 578; Schade 1962/63 (wie Anm. 20), S. 6. Ebd., S. 6; s. a. Tilman Seebass: Musikdarstellung und Psalterillustration im früheren Mittelalter.

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Motiv des kosmischen Reigens auch für die christianisierte Weltvorstellung des Frühmittelalters von großer Bedeutung war, ist in jüngster Zeit wieder mehrfach betont worden.30 Damit kämen wir aber erst zum Kern der ungewöhnlichen Szenerie in der blauen Mandorla: Offensichtlich wird damit dem Herrscher, insofern er den Kult für den einen Gott betreibt und fördert, eine Mitwirkung an der göttlichen Harmonie zuerkannt. Was die Bildformulierung bereits vermittelt, lässt sich, wenn ich ihn richtig verstehe, auch dem Titulus über dem Bild entnehmen: „PSALMIFICUS DAVID RESPLENDET ET ORDO PERITUS / EIUS OPUS CANERE MUSICA AB ARTE BENE“31, zu Deutsch wohl: „Der psalmenschaffende David strahlt (zurück), und das Orchester ist durch die Musikkunst darin kundig, sein Werk gut zu spielen.“32 Es ist nicht zwingend, resplendere als „widerstrahlen einer anderen Lichtquelle“ zu deuten und damit David als Vermittler eines von außen kommenden Scheins zu verstehen: Das Verb ist zweifellos auch in einer aktiven Bedeutung im Sinne von „strahlen“ verwendet worden.33 Dennoch wird jene Deutung zumindest als Möglichkeit angeboten. Bei Davids Musikanten jedenfalls ist es nach dem Titulus so, dass sie ihren Beitrag nicht allein aus sich selbst leisten, sondern mit Hilfe der Ars musica. Dies kommt noch zur ihrer Anleitung durch den auctor David, die durch die Bildkomposition verdeutlicht wird. Einerseits tritt hier also David als Quelle oder Vermittler einer kosmisch-harmonischen Musik auf, andererseits ist er ja selbst der Tänzer, muss also in irgendeiner Weise von der Musik ergriffen sein. Beides muss als aufeinander bezogen und einander bedin-

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Studien ausgehend von einer Ikonologie der Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, Fonds latin 1118, 2 Bde., Bern 1973, S. 118 (ohne Erwähnung der Viviansbibel). Françoise Carter: Celestial Dance: A search for perfection, in: Dance Research, V/2, 1987, S. 3–17; Ergänzungen bei Günter Berghaus: Neoplatonic and Pythagorean Notions of World Harmony and Unity and their Influence on Renaissance Dance Theory, in: Dance Research, X/2, 1992, S. 43–70; s. a. Gregor Rohmann: The Invention of Dancing Mania. Frankish Christianity, Platonic Cosmology and Bodily Expressions in Sacred Space, in: Medieval History Journal, XII/1, 2009, S. 13–45, bes. S. 19–25, 28–30. Aus der älteren Literatur ist der Aufsatz von Hugo Rahner: Der spielende Mensch, in: Eranos-Jahrbuch, XVI, 1948, S. 11–87, hier bes. S. 64–83, zu nennen. Edition: Monumenta Germaniae Historica (MGH). Poetae latini 3, hg. v. Ludwig Traube, Berlin 1896, S. 249. – Arwed Arnulf: Versus ad picturas. Studien zur Titulusdichtung als Quellengattung der Kunstgeschichte von der Antike bis zum Hochmittelalter (Kunstwissenschaftliche Studien, 72) (Diss. Berlin, 1992), München/Berlin 1997, S. 171–200, demonstriert, dass die Tituli der touronischen Bibeln auf jeden Fall als karolingische Hervorbringungen gelten müssen. Zu dem zitierten Titulus s. S. 191f. Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt. Bei Dutton/Kessler 1997 (wie Anm. 11), S. 115 ist der Titulus wie folgt übersetzt: „The psalm maker David shines brilliantly, and the company is / Well trained in the art of music to sing his work.“ Ich habe mich dagegen entschieden, „canere“ mit „singen“ zu übersetzen, weil keiner von Davids Musikern in dem Bild singt. Außer Dutton und Kessler verstehen auch andere „resplendere“ als aktives Leuchten. So wird „resplendet“ von Ganz ebenfalls mit „shines“ übersetzt; s. David Ganz: ‚Pando quod Ignoro‘: In Search of Carolingian Artistic Experience, in: Intellectual Life in the Middle Ages. Essays presented to Margaret Gibson, hg. v. Lesley M. Smith/Benedicta Ward, London/Rio Grande 1992, S. 25–32, hier S. 27.

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gend verstanden werden: David/Karl ist Vermittler einer höheren Kraft, einer von Gott kommenden dynamischen Ordnung. Das mag zunächst überraschen, da nach verbreiteter Überzeugung das offizielle Christentum dem profanen Tanz feindlich gegenübergestanden und dabei auch den sakralen Tanz marginalisiert und zurückgedrängt haben soll.34 Doch wurde der Tanz auch von mittelalterlichen Autoren als legitimer Ausdruck von Freude und Geistbeseeltheit oder als Abbild einer höheren Ordnung angesehen. Hrabanus Maurus formulierte das in seiner Enzyklopädie wie folgt: „Mit aller Kraft tanzen heißt, sich im Herrn freuen, wie im Buch der Könige über David gesagt wird: ‚Und er tanzte mit aller Kraft vor der Lade des Herrn‘ (vgl. 2 Sam 6, 14) und andererseits im Evangelium: ‚Wir haben euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt‘ (Lk 7, 32).“35 Ambrosius hatte in De poenitentia (lib. II, 6) die von Hrabanus zitierte Lukas-Stelle spirituell erklärt: „Da also liegt das Geheimnis: ‚Wir haben euch gesungen‘, den Gesang nämlich des Neuen Testamentes; ‚ihr aber habt nicht getanzt‘, d.h. ihr habt euren Geist nicht zu himmlischer Gnade erhoben.“36 Und im Brief an Bischof Sabinus schreibt er Davids Tanz ausdrücklich eine mystische und prophetische Funktion zu: „Dies ist der glorreiche Tanz des Weisen, den David tanzte; und deshalb stieg er durch die Erhabenheit seines geistigen Tanzes bis zum Thronsitz Christi auf, damit er sehen und hören sollte, wie der Herr zu seinem Herrn sagte: ‚Setze dich zu meiner Rechten‘ (Ps 109, 1).“37 Obendrein war die pythagoräische Vorstellung eines dynamischen, aber nach Zahlen und durch die von ihnen bestimmten geometrischen und musikalischen Proportionen ge-

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Rahner 1948 (wie Anm. 30), S. 76–79; Carl Andresen: Altchristliche Kritik am Tanz – ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirche gegen heidnische Sitten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, LXXII, 1961, S. 217–262, bes. S. 226–235, 249–254; Julia Zimmermann: Teufelsreigen - Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 76) (Diss. Berlin FU, 2006), Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 52f. „Saltare totis viribus in Domino gaudere, sicut in libro Regum de David dicitur: Et saltavit coram arca Domini totis viribus; et in aliam partem in Evangelio: Cantavimus vobis tibiis, et non saltastis“; Hrabanus Maurus: De naturis rerum (De universo), lib. XX, 19, in: Rabani Mauri Fuldensis abbatis et Moguntini archiepiscopi opera omnia. Bd. V (Patrologiae cursus completus, Series Latina [PL], 111), hg. v. Jacques-Paul Migne, Sp. 9–614, hier 548CD. „Hoc est ergo mysterium: Cantavimus vobis, novi utique canticum Testamenti; et non saltastis, hoc est, non elevastis animam ad spiritalem gratiam“; Ambrosius von Mailand: De poenitentia, lib. II, 6, 44, in: Sancti Ambrosii Mediolanensis episcopi opera omnia, Bd. II/1 (PL, 16), hg. v. Jacques-Paul Migne, Sp. 508 AB; Übersetzung nach Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius, Bischofs von Mailand (Bibliothek der Kirchenväter, 1: Serie, 13), übers. v. Franz Xaver Schulte, Kempten 1871, S. 231– 318, hier S. 296. „Haec gloriosa sapientis saltatio, quam saltavit David; et ideo usque ad sedem Christi sublimitate spiritalis saltationis ascendit, ut videret atque audiret dicentem Dominum Domino suo: Sede a dextris meis“; Ambrosius von Mailand: Epistolae, in: PL, 16 (wie Anm. 36), Sp. 1080B; Übersetzung nach Schade 1962/63 (wie Anm. 20), S. 10.

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ordneten Kosmos38 über Platon, Neuplatonismus und die Kirchenväter in das christliche Weltbild des Mittelalters eingegangen.39 Eine besondere Rolle spielt der wohl entschiedenste christliche Neuplatonist, Pseudo-Dionysius Areopagita: Bei ihm ist der Tanz der Engel um Gott nicht einfach auf die Bewegung der Planeten zurückzuführen, sondern ist ein ganz eigentümlich unbewegter Tanz im Dienst der stufenweisen Vermittlung der unfassbaren Gottheit: „Dies ist also, soweit meine Wissenschaft reicht, die erste Gliederung der himmlischen Gedanken, die ‚im Kreis um Gott‘ (Jes 6, 2) in seiner unmittelbaren Umgebung steht und sich um die zeitlose Erkenntnis Gottes dreht, ungeschieden und ohne Unterlass, wie es der unter Engeln oberste ewigbewegte Stillstand verlangt. Sie nimmt dabei in Reinheit viele seligmachende Anschauungen auf (…).“40 Der Tanz der höchsten Engelshierarchie aus Seraphim, Cherubim und Thronen um Gottes Thron ist der Ausdruck ihrer Teilhabe am göttlichen Wissen und ihrer Ergriffenheit durch die Betrachtung Gottes. Die oberen Mächte geben diesen Tanz an die jeweils niedrigeren Ränge weiter, die ihrerseits die Tänze der oberen Hierarchien imitieren.41 Die Verbindung von Geistbeseeltheit und Vermittlung des Göttlichen im Tanz mag wiederum erstaunlich wirken, doch hat sie eine lange Vorgeschichte. Wie Gregor Rohmann noch einmal in Erinnerung gerufen hat, war der Tanz schon bei Platon Mania, also Ergriffenheit, ja Besessenheit durch den kosmischen Reigen.42 Die Ergriffenheit soll in der Viviansbibel nach Ausweis der kosmischen Mandorla aber dem Kreislauf der Gestirne zugeschrieben werden und nicht dem Reigentanz der Engel um Gottes Thron. Unmittelbar geht es hier um die Harmonie der diesseitigen Welt, die schon deswegen Abbild der himmlischen Ordnung sein kann, weil sie sonst niemals die sakrale Musik des Psalmengesangs hervorrufen könnte. Hinzu kommen noch die vier Virtutes, die die Mandorla rahmen. Nimmt man die neuplatonische Vorstellungswelt ernst, für die am radikalsten Pseudo-Dionysius steht, sind sie nämlich nicht nur ‚Tugenden‘ im Sinne normativer Ideen, sondern Kräfte, die auf den König einwirken. Es greift deswegen zu kurz, wenn Schade das Bild „eine Abbreviatur eines Fürstenspiegels“ nennt43: Der König wird 38 39

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S. hierzu Berghaus 1992 (wie Anm. 30), bes. S. 45. S. Carter 1987 (wie Anm. 30), S. 5–11; Berghaus 1992 (wie Anm. 30), S. 47f. und das erhellende und materialreiche Buch von James Miller: Measures of Wisdom. The cosmic dance in classical and Christian antiquity (Visio, 1), Toronto 1986. Auch Marchesin 2000 (wie Anm. 25), S. 131f., vermutet, dass sich hier bereits vor dem Auftreten Johannes Scottus Eriugenas neuplatonische Einflüsse bemerkbar machen. Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie (Bibliothek der griechischen Literatur, 22, Abt. Patristik), eingel., übers. und mit Anm. vers. von Günter Heil, Stuttgart 1986, lib. VII, 4, S. 46f.; ausführlicher hierzu Carter 1987 (wie Anm. 30), S. 10f. und erst recht Miller 1986 (wie Anm. 39), S. 483–521; s. a. Zimmermann 2007 (wie Anm. 34), S. 100f., für den weiteren Kontext S. 95–99. S. etwa Pseudo-Dionysius, ed. Heil, 1986 (wie Anm. 40), lib. VII, 2, S. 54: „Die ehrwürdigsten offenbaren Gott den Beweger, ihnen analog die übrigen das von Gott Bewegte.“ Rohmann 2009 (wie Anm. 30), S. 16f.; ausführlich hierzu Gilbert Rouget: Music and Trance: A Theory of the Relation of Music and Possession, Chicago, IL 1985, S. 188–201. Schade 1962/63 (wie Anm. 20), S. 11.

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weniger ermahnt, den Tugenden zu folgen, sondern es wird gezeigt, dass sie bereits auf ihn einwirken und ihn erst eigentlich in den Tanz versetzen. Das Psalmenbild der Viviansbibel gibt eine Sicht auf den alttestamentlichen und zugleich den karolingischen König wieder, in der der Herrscher von der kosmischen Harmonie und den Virtutes erfasst wird und zugleich ihr Vermittler ist. Diese Aussage kann trotz aller Sapientia-Thematik das eigentliche Herrscherbild nicht leisten, weil es in ihm selbst nicht möglich ist, den Herrscher in Bewegung zu zeigen.44 Ein neuplatonisch inspiriertes kosmologisches Konzept, das dem König eine entscheidende Rolle zuspricht, könnte man sich auch anders vorstellen – etwa indem der König als Vermittler des Lichts auftritt45 – doch ist ein Bezug auf die sich bewegende kosmische Harmonie offensichtlich besonders gut durch ergriffene Bewegung bildlich anschaulich zu machen. Es ist keine westliche Theorie des Königtums überliefert, die sich ungebrochen in diesem Bild spiegeln würde. Die Viviansbibel ist allem Anschein nach auch nicht im Auftrag des Königs konzipiert worden, sodass man in ihr keine offizielle Verlautbarung Karls sehen muss.46 Was aber schon unter Karls Vater Ludwig dem Frommen formuliert worden war, war ein Konzept von abgestufter Teilhabe der kirchlichen und weltlichen Amtsträger an dem von Gott verliehenen Ministerium des Königs. Hubert Anton hat darin eine Annäherung an byzantinische Vorstellungen gesehen, wo selbstverständlich neuplatonische Vorstellungen weiter verbreitet waren als im Westen.47 In der Admonitio ad omnes regni ordines von 823/825 heißt es: „Wenn auch freilich die Spitze dieses Dienstes (Ministerium) in unserer Person zu bestehen scheint, so erkennt man dennoch, dass es sowohl durch göttlichen Auftrag als auch durch menschliche Einrichtung so in Teile geteilt ist, dass ein jeder von Euch an seinem Ort und in seinem Rang als Teilhaber unseres Ministerium erkannt werden kann.“48 Das zeigt, dass in der Mitte des 9. Jahrhunderts im lateinischen 44

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Eine ähnliche Dichotomie im Großen Einzug des byzantinischen Kaisers bemerkt Wolfgang Christian Schneider: ‚Abtun der Sorge und Tanz.‘ Der ,Große Einzug‘ und die Kuppel der Hagia Sophia Justinians, in: Architektur und Liturgie, Akten des Kolloquiums vom 25. bis 27. Juli 2003 in Greifswald (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz. Kunst im ersten Jahrtausend, Reihe B: Studien und Perspektiven, 21), hg. v. Michael Altripp/Claudia Nauerth, Wiesbaden 2006, S. 143–161, hier S. 149: „ […] seine Bewegung ist, selbst wenn sie – im Sinne der neuen Vorstellung von der Bewegungslosigkeit des hierarchisch Höchsten – wenig bewegt ist: Entäußerung und ‚Tanz‘.“ Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Das Gebetbuch Ottos III. Dem Herrscher zur Ermahnung und Verheißung bis in alle Ewigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien, XXXVIII, 2004, S. 55–88, bes. S. 70f., hat den König im letzten Bild des Gebetbuchs Clm 30111 der Bayerischen Staatsbibliothek München, ehemals Pommersfelden, als Erleuchteten beschrieben. Die nächste Stufe wäre dann die Weitergabe dieses Lichts. Von Dutton/Kessler 1997 (wie Anm. 11) wird selbst dem Laienabt und Vertrauten Karls, Graf Vivian, keine Rolle bei der Konzeption der Bibel zuerkannt; s. bes. S. 33–38. Vgl. den in dieser Hinsicht konservativeren Standpunkt von William J. Diebold: The Ruler Portrait of Charles the Bald in the S. Paolo Bible, in: Art Bulletin, LXXVI, 1994, S. 7–18, hier S. 15. Anton 1968 (wie Anm. 4), S. 413f.; s. Otto Treitinger: Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Jena [1938] 21956, S. 219. „Sed quamquam summa huius ministerii in nostra persona consistere videatur, tamen et divina auc-

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Westen durchaus neuplatonische Konzepte des Königtums greifbar waren, auch wenn man in dem Bild nach unserem heutigen Wissensstand keine wortwörtliche Umsetzung einer ausformulierten Herrschertheologie sehen darf. Das ‚Visionsbild‘ im Codex aureus von St. Emmeram Bewegung bleibt gerade in den Herrscherbildern Karls des Kahlen ein wiederkehrendes Motiv. Hingewiesen sei hier nur am Rande auf das Bild Karls in seinem Gebetbuch in der Münchner Residenz. Deshman hat durchaus erkannt, dass der König nicht ruhig kniet, doch hielt er die Beinstellung für den Ausdruck eines Vorwärtskriechens zum Kreuz.49 Doch verdeutlichen Karls gegeneinander verschobene und nicht auf dem Boden aufruhende Beine, dass der König geradezu nach vorne stürzt. Damit wird ein Motiv aufgenommen, das zum Bußpsalm Miserere (Ps 50) im Westen sicher bekannt und vielleicht auch viel weiter verbreitet war, als der heute erhaltene Bestand belegen kann.50 Mit diesem Bewegungsmotiv soll vor allem die Eile verbildlicht werden, mit der der Herrscher – ob David oder Karl – Gott seine Reue und Demut zeigen will. Noch bemerkenswerter ist aber das zweiseitige Bild Karls im einst Regensburger Codex aureus, heute Clm 14000 der Bayerischen Staatsbibliothek in München (Abb. 3).51 Als Bildformulierung ist es schlicht singulär. In dem Herrscherbild weit vorne in diesem Evangeliar, noch vor Majestas Domini und Kanontafeln, geschieht wiederum etwas Ähn-

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toritate et humana ordinatione ita per partes divisum esse cognoscitur, ut unusquisque vestrum in suo loco et ordine partem nostri ministerii habere cognoscatur“; Capitularia regum francorum (MGH. Leges, 2: Capitularia, 1), hg. v. Alfred Boretius, Hannover, Nr. 150, S. 303. Deshman 1980 (wie Anm. 9), S. 389. Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 12, fol. 53r; s. ebd., S. 395–397 für die entsprechende Bildformel in Byzanz. Aus der reichhaltigen Literatur zu Handschrift und Doppelseite seien genannt: Florentine Mütherich/ Joachim E. Gaehde: Carolingian Painting, New York 1976, Taf. 35–38; Wilhelm Koehler/Florentine Mütherich: Die Hofschule Karls des Kahlen (Die karolingischen Miniaturen, 5), 2 Bde., Berlin 1982, S. 175–198, Taf. 45–70; Percy Ernst Schramm: Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 751–1190, hg. v. Florentine Mütherich [Erstaufl. 1928], München 1983, Abb. 40, S. 170; Das Evangeliar Heinrichs des Löwen und das mittelalterliche Herrscherbild, Ausstellungskatalog (München, 1986) (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge, 35), hg. v. Horst Fuhrmann/Florentine Mütherich, München 1986, Nr. 2; Michael Herren: Eriugena’s ‚Aulae Sidereae.‘ The ‚Codex Aureus‘, and the Palatine Church of St. Mary at Compiègne, in: Studi medievali, 3. Ser., XXVIII, 1987, S. 593–608; Katharina Bierbrauer: Die vorkarolingischen und karolingischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek (Kataloge der illuminierten Handschriften der Bayerische n Staatsbibliothek in München, 1), 2 Bde., Wiesbaden 1990, Nr. 248; Staubach 1993 (wie Anm. 15), bes. S. 261–281; Elisabeth Wunderle: Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München: Die Handschriften aus St. Emmeram in Regensburg (Catalogus co dicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, 4: Ser.nov. Ps. 2), Bd. I: Clm 14000–14130, Wiesbaden 1995, S. 3–7; Bianca Kühnel: The End of Time in the Order of Things. Science and Eschatology in Early Medieval Art, Regensburg 2003, S. 180f., 194.

Stasis und Bewegung im Herrscherbild Karls des Kahlen

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Abb. 3: Codex aureus von St. Emmeram, Herrscherbild Karls des Kahlen und Verehrung des Lammes durch die Vierundzwanzig Ältesten, 870 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14000, fol. 5v-6r)

liches wie in der Viviansbibel: Nicht der König selbst (in seinem eigentlichen Porträt) gerät in Bewegung, sondern andere Figuren – diesmal mehrere davon – an seiner statt. Der König bleibt auf dem linken Flügel des Bilddiptychons mit nur einer ganz geringen Drehung des Oberkörpers auf seinem Thron sitzen, die Hand leicht in Richtung der Szene gegenüber erhoben, die Beine höchstens minimal angespannt. Wenn etwas auffällt an diesem Körper, dann sind das nicht etwa Anzeichen von Bewegung, sondern die weit aufgerissenen Augen. Wie Otto Karl Werckmeister bemerkt hat, entsprechen sie auch der Formulierung im Titulus der zweiten Seite: „Et princeps Karolus vultu speculator aperto.“52 Und für den heutigen Betrachter – der ottonische Regensburger Kopist in Clm 13601 hat es hingegen ignoriert53 – ist auch nicht zu übersehen, dass der Baldachin über Karl schräg steht und damit die Frontalität zugunsten einer Ausrichtung auf das Nebenbild einschränkt. Ob Werckmeisters Folgerung, der König sei „als Teilnehmer am Gottes52

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Otto Karl Werckmeister: Der Deckel des Codex Aureus von St. Emmeram. Ein Goldschmiedewerk des 9. Jahrhunderts (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 332) (Diss. Berlin, 1958), Baden-Baden/Straßburg 1963, S. 77; Edition der Tituli zu dieser Doppelseite MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 252f. Fol. 11v; Farbabb. Regensburger Buchmalerei. Von frühkarolingischer Zeit bis zum Ausgang des Mittelalters, Ausstellungskatalog (Regensburg, 1987), Red. Florentine Mütherich/Karl Dachs, München 1987, Abb. 7.

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dienst“54 dargestellt, das Richtige trifft, kann man aber bezweifeln: Die apokalyptischen 24 Ältesten, die dort im Halbkreis unter dem Christuslamm zu sehen sind, nehmen an ihrem Gottesdienst – oder besser: Gottespreis – ja gerade dadurch teil, dass sie erregt aufspringen, ihre Kronen absetzen und dem Lamm darbringen. Karl, der doch selbst eine Krone trägt, die er darbringen könnte, ist sicher kein Teilnehmer, sondern nur Beobachter dieses Geschehens.55 Gerade das offensichtliche Schauen des unbeweglich gezeigten Herrschers betont seine Passivität noch. Dieses rätselhafte und komplexe, durch die vielen Bei- und Inschriften noch einmal angereicherte Doppelbild kann man zwar nicht auf den Kontrast von unbewegtem königlichem Zuschauer und aufgewühlten Ältesten reduzieren, doch erscheint dieser bei unvoreingenommener Betrachtung so prominent, dass er eigentlich bei keinem Deutungsversuch übergangen werden darf.56 Zweifellos verbreiten diese zwei so unterschiedlichen Bildseiten auch unterschiedliche Botschaften, die aber wiederum miteinander verzahnt sind. Die Hauptbotschaft der Texte auf der Thronseite ist eine königliche Propaganda, die ironischerweise alle tatsächlichen Schwächen dieses Herrschers unterschwellig anrührt. So wird ausdrücklich der durch beide Elternteile herausragenden Abstammung Karls gedacht und eigens erwähnt, wie richtig es gewesen sei, Karl eigene Königreiche anzuvertrauen.57 Man wird aber durch diese Ausführungen regelrecht dazu herausgefordert, an die Ordinatio imperii von 817 seines hier als Vorfahre erwähnten Vaters Ludwig zu denken, die es gerade ausgeschlossen hätte, dass ein Nachgeborener wie Karl ein Teilreich erhält, und an deren Aufhebung, die den karolingischen Bruderkrieg weiter befeuert 54 55

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Werckmeister 1963 (wie Anm. 52), S. 76. Percy Ernst Schramm: Vom Kronenbrauch des Mittelalters, in: Ders.: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, mit Beiträgen verschiedener Verfasser (Schriften der MGH, 13), Bd. III, Stuttgart 1956, S. 909–919, hier S. 916–918, macht wahrscheinlich, dass der König im Gottesdienst keine Krone getragen hat. S. a. Deshman 1980 (wie Anm. 9), S. 399f. und Christine Strube: Die westliche Eingangsseite der Kirchen von Konstantinopel in justinianischer Zeit (Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa, 6), Wiesbaden 1973, S. 46–48. Überraschenderweise wird aber gelegentlich noch immer das linke Bild ohne das rechte besprochen. So wird es von Boshof nur äußerst punktuell ausgewertet; s. Egon Boshof: Karl der Kahle – novus Karolus magnus?, in: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes, Leipzig 15. –18. März 1999, hg. v. Franz-Reiner Erkens, Berlin 2001, S. 135–152, hier S. 150. Es ist umso bedauerlicher, dass Boshof dieses innovative Bild in dem Augenblick praktisch fortlässt, in dem er, wie er S. 145f. vorausschickt, nach den Wirkungsabsichten von Herrscherbildern fragen will und dabei die Übernahme traditioneller Bildformeln als Problem für die Deutung der Bilder nennt. Zudem wird die für sein Hauptthema, den Bezug auf Karl den Großen, zentrale Frage nicht gestellt, ob mit der zweiten Miniatur eine Anspielung auf die Aachener Pfalzkapelle vorliegt. „Hludowic iustus erat (quo rex non iustior alter), / Qui genuit prolem hanc tribuente deo. / Alma viro peperit Iudith de sanguine claro, / Cum genitor regnis iura dabat propriis. / Hic nomen magni Karoli de nomine sumpsit, / Nomen et indicium sceptra tenendo sua“; MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 252.

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hatte.58 Auch wird man bei der Gabendarbringung der „lieblichen Francia“59 daran denken, dass der Adel des Westfrankenreichs mehrfach versucht hatte, einen ostfränkischen Karolinger an Karls statt auf den Thron zu befördern.60 Es entspricht ganz dieser apologetischen Ausrichtung, wenn Karl hier in starrer Majestät und nicht etwa in demutsvoller oder ergriffener Bewegtheit dargestellt ist. Auch der Typus des Buchs, das Evangeliar, das ja dem öffentlichen Kult und der Repräsentation von Karls Rolle als königlicher Statthalter Christi dient, erscheint erst recht nicht als der beste Ort, den König seiner Hoheit entkleidet zu zeigen.61 Auf der rechten Seite scheint dem Herrscher dann auch am ehesten das ruhig über dem Geschehen stehende Lamm zu entsprechen, nicht aber die Schar der Kronenträger. Und tatsächlich richtet sich Karls Gebet nach Auskunft des Titulus der rechten Seite direkt an das Lamm: „Orans, ut tecum vivat longevus in aevum.“62 Anscheinend blickt das apokalyptische Lamm auf Karl, antwortet also seinem Blick und seinem Gebet. Doch damit beantwortet sich nicht die Frage, wieso dieses Gebet von der Darstellung der Anbetung der 24 Ältesten begleitet wird, ja wieso dieses Thema überhaupt in zwei weitgehend selbständige Bilder zerlegt wird. Ausgeschlossen ist es, dass Karl bei einer Gottesvision als Vorwegnahme seiner Erlösung gezeigt werden sollte, denn mit dem Lamm aus der Vision in Offb 5, 6 ff. sieht Karl nur ein Sinnbild Christi und nicht das eigentliche Antlitz Gottes.63 Eine historische Deutung suggerierte beiläufig Hermann Schnitzler, indem er versuchte zu beweisen, dass das Bild der Verehrung eine Kopie des ursprünglichen Kuppelmosaiks der Aachener Pfalzkapelle darstelle. Das linke Bild, mit dem Enkel Karls des Großen auf seinem Thron, wäre „wie ein Abbild dessen, was wohl die Caroli praesentia in der Pfalzkapelle war.“64 Zwar ist die Basis dieser Deutung, die Annahme, dass in Aachen ursprünglich nicht der thronende Christus, sondern das Lamm

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S. dazu zuletzt Dieter Hägermann: ‚Diviso imperii‘ von 817 und ‚diviso regni‘ von 831. Überlegungen und Anmerkungen zu ‚Hausgesetzen‘ Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter (Norm und Struktur, 29), hg. v. Brigitte Kasten, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 291–299 und die Darstellung bei Rudolf Schieffer: Die Karolinger (Urban-Taschenbücher, 411), Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 117f., 132–142. „Francia grata tibi, rex inclite, munera defert. / Gotia te pariter cum regnis inchoat altis“; MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 252. Schieffer 1992 (wie Anm. 58), S. 151f., 154f. In der Tat sind im lateinischen Westen in den Evangeliaren Bilder des Herrschers selten, die diesen in Demut zeigen. Es stellt sich sogar die Frage, wie es zu Ausnahmen von dieser Regel – etwa das Speyrer Evangeliar im Escorial – kommt. MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 253. Diese Einschränkung gilt auch für die verführerische Deutung bei Staubach 1993 (wie Anm. 15), S. 267, die in der visionären Erhebung die Vollendung von Karls salomongleicher Weisheit sieht. Hermann Schnitzler: Das Kuppelmosaik der Aachener Pfalzkapelle, in: Aachener Kunstblätter, XXIX, 1964, S. 17–44, hier S. 38f., das Zitat S. 39; zustimmend Koehler/Mütherich 1982 (wie Anm. 51), S. 36f.; in ähnlicher Richtung bereits Werckmeister 1963 (wie Anm. 52), S. 77.

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dargestellt war, heftig bestritten worden65, doch lässt sich nicht endgültig ausschließen, dass Schnitzler Recht hatte. Schnitzler hat aber anscheinend bisher als einziger Vermutungen angestellt, aus welcher Bildtradition die Darstellung auf fol. 6r kommen könnte: Hier sei wie in dem am Karlshof entstandenen Evangeliar von Saint-Médard in Soissons (Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 8850, fol. 1v) und im Kuppelmosaik auf die Illustrationen zu dem zu Lebzeiten Karls des Großen verfassten Apokalypsenkommentar des Beatus von Liébana zurückgegriffen worden.66 Von dort sei es übernommen worden, dass im Codex aureus die Ältesten bärtig dargestellt seien, sich von ihren Sitzen erhöben und ihre Kronen darbrächten. Tatsächlich ist heute noch belegbar, dass in Aachen die Darbringung von Kronen dargestellt war.67 Wenn doch das Lamm in der Kuppel zu sehen war, hätte sich das auch hier an Offb 5, 16 angelehnt, wo ein Niederfallen der Ältesten vor dem Lamm erwähnt ist: „(…) et quattuor animalia dicebant amen et seniores ceciderunt et adoraverunt“, und nicht an die viel häufiger illustrierte Stelle Offb 5, 6, wo dem Lamm ausdrücklich und ausschließlich Schalen und Musikinstrumente dargebracht werden.68 Nur in Aachen und im Codex aureus wäre dann in dieser Zeit eine Darbringung der Kronen an das Lamm dargestellt gewesen, wie sie danach erst wieder in illustrierten Apokalypsencodices des 14. Jahrhunderts zu finden ist.69 Karl war nun gerade 869, in dem Jahr bevor der Codex aureus fertig gestellt wurde, in Lotharingien eingefallen und 65

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So von Hubert Schrade: Zum Kuppelmosaik der Pfalzkapelle und zum Theoderich-Denkmal in Aachen, in: Aachener Kunstblätter, XXX, 1965, S. 25–37, bes. S. 25–30; Wolfgang Grape: Karolingische Kunst und Ikonoklasmus, in: Aachener Kunstblätter, XLV, 1974, S. 49–58; Uta Schedler: Die Pfalzkapelle in Aachen und St. Salvator zu Germigny-des-Prés – Vorbild und Widerspruch, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, Akten zweier Symposien (Februar und Oktober 1994) anläßlich der 1200-Jahrfeier der Stadt Frankfurt am Main (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 80), hg. v. Rainer Berndt, 2 Bde., Mainz 1997, Bd. II, S. 677–698, 1081–1092, bes. S. 694–696. Unter Auswertung der Befunde in Aachen und der älteren Dokumente zeigt sich auch Ulrike Wehling ablehnend gegenüber Schnitzlers Vorschlag; s. Ulrike Wehling: Die Mosaiken im Aachener Münster und ihre Vorstufen (Arbeitshefte der rheinischen Denkmalpflege, 46), Köln 1995, S. 12–39, bes. S. 34–39. Schnitzler 1964 (wie Anm. 64), S. 31 und 33. Auffallend zurückhaltend in dieser Frage ist hingegen Peter K. Klein: The Apocalypse in Medieval Art, in: The Apocalypse in the Middle Ages (Cornell paperbacks), hg. v. Richard K. Emmerson/Bernard McGinn, Ithaca, NY/London 1992, S. 159–199, hier S. 162f. – Wenn überhaupt eine Bebilderungstradition eine Rolle spielte, müsste wohl zuerst auf die spätere sog. romanische Redaktion oder Familie III (s. ebd. S. 183–188) verwiesen werden mit Bildern wie fol. 105v der Bibel von Roda (Paris, BNF, lat. 6) und fol. 38r des ungewöhnlichen Berliner Beatus (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. 2° 561). Hier erheben sich ebenfalls die Ältesten zur Verehrung des Lammes. S. Wehling 1995 (wie Anm. 65), S. 14f. mit Abb. 5f., S. 24 mit Abb. 14. Wehling spricht von „Regnum“ nicht von Krone, Kranz oder „Corona“. So etwa in der karolingischen Handschrift Trier, Stadtbibliothek, Cod. 31, fol. 18v. Zuerst in den mitteldeutschen Apokalypsen aus dem zweiten Jahrhundertdrittel rund um die Handschrift Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Hs. Fol max 4, fol. 13v; s. das Faksimile dieser Handschrift Biblia pauperum. Apocalypsis. Die Weimarer Handschrift, komment. v. Rainer Behrends/Konrad Kratzsch/Heinz Mettke, Frankfurt a.M. 1977.

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hatte in Aachen das Weihnachtsfest sowie im Januar 870 seine zweite Hochzeit gefeiert.70 Das wäre dann vermutlich der aktuelle Hintergrund gewesen, vor dem man die Münchner Miniatur als Bezugnahme auf die Pfalzkapelle und den herrscherlichen Ort Aachen konzipiert hätte.71 Doch selbst wenn man ein Zitat der – weiterhin hypothetischen – Aachener Ikonographie annimmt, sind damit noch nicht alle Fragen beantwortet. Denn nicht nur stellt sich immer noch die Frage nach der genauen Bedeutung dieser so seltsam isolierten Ikonographie, sondern es bleibt auch das bereits angedeutete Faktum zu beachten, dass die Lammanbetung im Münchner Codex durch ihren von Aachen unabhängigen Titulus mit dem Thronbild verbunden wird. Das „ut tecum vivat longevus in aevum“72 steht nun auf der Seite mit dem Lamm und nicht beim König. Gerade diese Formulierung kann in der Frage der Deutung weiterhelfen. Das Wort „longevus“ bedeutet „alt“, „betagt“, und im Kontext des Satzes kann es eigentlich nur bedeuten, dass Karl in der Ewigkeit „betagt“ leben solle. Es kann jedenfalls nicht darum gehen, dass er erst ein hohes Alter erreicht, bevor er in die Ewigkeit eintritt.73 Im Zusammenhang mit der Darstellung der 24 grauhaarigen „seniores“ der Apokalypse klingt dies wie der Wunsch, der König möge selbst als einer der Ältesten am ewigen Lob des Lammes und damit Christi teilnehmen.74 Diese Vorstellung ist nicht ohne Beispiel, hatte doch schon Dagulf in dem von ihm geschriebenen Psalter für Karl den Großen eine Aufnahme in den Chor Davids erbeten: „Davitico et demum consociere choro.“75 Doch was bedeutet es theologisch und ikonologisch, wenn Karl einst in den Chor der Ältesten aufgenommen werden sollte? Dass mit den 24 Ältesten die Apostel und die Patriarchen und somit die Einheit der Heiligen aus Altem und Neuem Testament gemeint ist (im Titulus: „Cana caterva cluens, vatum et venerabilis ordo, / Coetus apostolicus sertis coelestibus instans“76), ist zwar damals in der Exegese keineswegs Standard, wurde aber

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S. Staubach 1993 (wie Anm. 15), S. 206–210; Schieffer 1992 (wie Anm. 58), S. 163, und auch oben, Anm. 56. Für Staubach 1993 (wie Anm. 15), S. 268–281, etwa in Form einer Stiftung für das Marienstift Compiègne, die wiederum selbst einen Ersatz für die an seinen Bruder Ludwig verlorene Aachener Kirche darstellte. MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 252. Am Schluss seines Gedichts Aulae sidereae formuliert Johannes Scottus Eriugena zwar mit ähnlichen Worten für Karl den Wunsch nach langem Leben, doch wird der Bezug auf das irdische Leben hier unmittelbar deutlich: „Heros magnanimus longaevus vivat in annos“; MGH. Poetae latini 3, S. 527–553, hier S. 552, V. 101. Staubach 1993 (wie Anm. 15), S. 96 bezieht dieses Gebet zwar auch auf das zukünftige Leben im Himmel, doch nimmt er unter einer – wie mir scheint – unzutreffenden Bezugnahme auf die gewählte Formulierung an, dass die apokalyptische Vision Karl „dereinst zur Vereinigung mit Christus, zur deificatio führen soll.“ Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1861, fol. 4v; Edition: MGH. Poetae latini 1, hg. v. Ernst Dümmler, Berlin 1880, S. 91f., Nr. IV. MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 252f.

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immerhin in karolingischer Zeit von Beatus von Liébana formuliert.77 Andere, wie Haimo von Auxerre, nennen die 24 Ältesten „universalis ecclesia“ und meinen damit nicht viel anderes.78 Es ist also die Einheit der vollendeten Kirche, die in den Ältesten erscheint. Was diese Kirche tut, indem sie in Verzückung ihre Kronen darbringt, ist zunächst im Titulus formuliert: „Laudat, adorat, amat devoto pectore temet [i.e. agne].“79 Bewegung und Geste sind also Ausdruck von äußerer Anbetung und innerer Stimmung. Die Exegese ergänzt noch etwas, was der Zeitgenosse auch ohne theologische Bildung verstanden hat und was nach den oben zitierten Stimmen zu Davids Tanz nicht mehr überraschen kann: Mit dem Niederfallen und Kronenablegen demütigen die Ältesten sich selbst. Nach Haimo gilt für sie: „Humilia de se sentiunt.“80 Auch für Karl würde der Anschluss an den Chor das Verlassen seiner majestätischen Position und eine Selbstdemütigung bedeuten; doch hier im Evangeliar, anders als im Münchner Gebetbuch, kann er diese Rolle offenbar (noch) nicht selbst einnehmen. Im Unterschied zur Viviansbibel wird sie aber auch nicht wirklich auf ein anderes Bild, auf eine andere Gestalt delegiert, sondern zeitlich verschoben: Der König kann sich hier nicht demütigen, aber will dereinst zu denen gehören, die sich „in aevum“ demütigen werden. Zusammenfassung und Aussicht Die Bilder, die von Karl dem Kahlen, dem Enkel Karls des Großen, gefertigt wurden, entsprechen fast alle zunächst der klassischen Vorstellung, die man sich vom mittelalterlichen Herrscherbild gemacht hat. Sieht man einmal von dem Bild in seinem Gebetbuch ab, ist Karl selbst immer in einer nur vom karolingischen Klassizismus gemilderten starren Frontalität auf dem Thron dargestellt.81 Offensichtlich gab es dazu in diesen ‚öffentlichen‘ Büchern für einen König, zumal einen ständig in seiner Position gefährdeten König, keine Alternative. Dennoch spielt sowohl in der Viviansbibel als auch im Codex aureus von St. Emmeram Bewegung für das Bild des Königs eine große Rolle. In den 77

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Beatus von Liébana: Commentarius in Apocalypsin (Scriptores Graeci et Latini), hg. v. Eugenio Romero-Pose, Rom 1985, Bd. I, S. 450: „Ecce apertissime manifestavit patriarcharum et apostolorum chorum, qui sanctae cathedram supersedere doctrinae.“ Haimo von Auxerre: Expositio in Apocalypsin beati Ioannis, in: Haymonis Halberstatensis episcopi opera omnia, Bd. II (PL, 117), hg. v. Jacques-Paul Migne, Paris 1852, Sp. 937–1220, hier 1012C (zu Offb 4, 1). MGH. Poetae latini 3 (wie Anm. 31), S. 253. Die Stelle in ihrem Umfeld: „Agnus librum aperuit, quando ea quae multo ante de seipso fuerant praenuntiata, opere implevit, unde omnes sancti cognoscentes illum veraciter Deum suum, de quo tanta mysteria sunt praedicta cadunt, id est humilia de se sentiunt et ipsum imitantur. Unde et sequitur: Habentes singuli citharas et phialas aureas plenas odoramentorum, quae sunt orationes sanctorum. In cithara est lignum et chordae, sed tamen diverso modo tensae“; PL, 117 (wie Anm. 78), Sp. 1019C; s. a. Sp. 1012C zu Offb 4, 1: „Procidunt viginti quatuor seniores, qui humiliant seipsos.“ Das gilt selbstverständlich auch für Karls Bild in dem für ihn gefertigten Psalter (Paris, BNF, lat. 1151), fol. 3v, das hier nicht besprochen wird; Staubach 1993 (wie Anm. 15), Abb. 14; Farbabb. The

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Miniaturen der Bibel wird die Bewegung auf sein Kryptoporträt in der Figur des David delegiert. Damit wird der Frankenkönig zum beseelten Förderer des Kultes, zugleich zu einem Herrscher im Einklang mit der kosmischen Harmonie. Im Evangeliar hingegen ist die Bewegung der Ältesten ein zweiseitiges Versprechen: Karl erhofft das ewige Leben, das er nutzen will, um Christus demütig und mit Inbrunst zu loben. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser prominente Platz, der der Bewegung im Bild Karls des Kahlen in unterschiedlicher Weise zukommt, im frühen Mittelalter singulär ist und nur unter den Bedingungen einer hochentwickelten intellektuellen Kultur82 und einer immer noch an der Antike orientierten Malerei möglich war. Wie wir gesehen haben, gab es ja selbst im 9. Jahrhundert schon die Einschränkung, dass Karl nur in seinem privaten Gebetbuch selbst in Bewegung erscheinen konnte. Kann aber das Bild des Herrschers auch in der erst recht zu Hieratisierung neigenden ottonischen Kunst Bewegung aufnehmen? Zunächst einmal erfasste im England des 10. Jahrhunderts die Bewegung sogar den König selbst: Im Stifterbild der Charta für das New Minster in Winchester wird 966 König Edgar in einer abgewandelten Himmelsfahrtsszene dargestellt, wie er sich Abb. 4: Charta für das New Minster in Winchester, Stifterekstatisch Christus zuwendet (Abb. bild, Flankiert von Maria und Petrus wendet sich König 4)83. Der gegenübergestellte Titulus Edgar Christus in der Mandorla zu, 966 (London, British bezeichnet Edgar als „laudans“ und Library, Cotton Vespasian A. VIII, fol. 2v)

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Utrecht Psalter in Medieval Art: Picturing the Psalms of David, Ausstellungskatalog (Utrecht, 1996), hg. v. Koert van der Horst/William Noel/Wilhelmina C. M. Wüstefeld, ’t Goy 1996, S. 88. Neben der Darstellung bei Staubach 1993 (wie Anm. 15), bes. S. 21–46 und passim, ist jedenfalls lesenswert der Aufsatz von John Michael Wallace-Hadrill: A Carolingian Renaissance Prince: The Emperor Charles the Bald, in: Proceedings of the British Academy, LXIV, 1978, S. 155–184, der ja auch die positive Neubewertung Karls eingeleitet hat. London, British Library (BL), Cotton Vespasian A. VIII, fol. 2v; zur Handschrift und ihrer Datierung s. Elzbieta Temple: Anglo-Saxon Manuscripts 900–1066 (A Survey of Manuscripts Illuminated in the

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Abb. 5: Abschrift der Regularis concordia, Titelbild, Detail, König Edgar von England zwischen den Bischöfen Aethelwold und Dunstan (?), Mitte des 11. Jahrhunderts (London, British Library, Cotton Tiberius A.III, fol. 2v)

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lässt damit zumindest Assoziationen sowohl mit David vor der Bundeslade als auch den lobpreisenden Ältesten aufkommen. Damit nicht genug, scheint aus der Zeit desselben Königs eine Ikonographie überliefert – wenn auch in einer etwa 80 Jahre jüngeren Kopie –, bei der die Bewegung den König nur berührt, sie aber von einer anderen Figur übernommen wird. Gemeint ist die Regularis concordia in der Abschrift aus Canterbury aus der Mitte des 11. Jahrhunderts (London, British Library, Cotton Tiberius A.III, Abb. 5, Taf. I).84 Hier ist es einerseits der Mönch im unteren Register, der von den Geboten der monastischen Verfassung geradezu in Tanz versetzt wird. Aber auch Edgar und seine bischöflichen Begleiter Dunstan und Aethelwold, die gegen 970 für die Zusammenstellung der Regularis concordia gesorgt hatten, werden durch das wellenförmige Schriftband von der Bewegung – man möchte sagen: vom Geist der Klosterreform – erfasst. Allerdings muss man einschränken, dass die angelsächsische Kunst damals

British Isles, 2), London 1976, Nr. 16; Robert Deshman: The Benedictional of Aethelwold (Studies in Manuscript Illumination, 9), Princeton, NJ 1995, bes. S. 225–227. – Die Lesart dieses Bildes, die William Noel unter Berufung auf ein Gespräch mit George Henderson vorschlägt, nämlich dass Edgar flach auf dem Boden liegend zu denken sei, erscheint mir unzutreffend. Sie berücksichtigt auch nicht die doch gut erkennbare Orientierung an Himmelsfahrtbildern mit der nach oben schauenden Maria, wie z.B. im Aethelwold-Benediktionale (London, BL, Add. 49598), fol. 64v; s. William Noel: The Utrecht Psalter in England: Continuity and Experiment, in: Utrecht Psalter 1996 (wie Anm. 81), S. 120–165, hier S. 145. S. Temple 1976 (wie Anm. 83), Nr. 100; Insular and Anglo-Saxon illuminated manuscripts: an iconographic catalogue c. A. D. 625 to 1100, hg. v. Thomas Ohlgren, mit Beiträgen v. Carl T. Berkhout u.a., mit techn. Unterstützung v. William J. Bormann, New York/London 1986, Nr. 205; Robert Deshman: ‚Benedictus Monarcha et Monachus.‘ Early Medieval Ruler Theology and the AngloSaxon Reform, in: Frühmittelalterliche Studien, XXII, 1988, S. 204–240, bes. S. 205–223; auch erwähnt bei Caviness 1983 (wie Anm. 2), S. 113.

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viel dichter an ihren karolingischen Vorbildern geblieben ist als in den Jahrzehnten danach die ottonische Buchmalerei auf dem Festland. Tatsächlich wird man bei den ottonischen Herrscherbildern nur selten fündig, wenn man nach Bewegung sucht. Eine prominente Ausnahme findet man jedoch: das Bild im Aachener Ottonenevangeliar (Abb. 6). Die Miniatur gilt natürlich als das Musterbeispiel für die abstrahierenden, die Hierarchie kompromisslos umsetzenden Darstellungen der ottonischen Zeit. Deswegen lag anscheinend auch die Verführung besonders nahe, sie als Ausdruck einer konkreten politischen Absicht zu werten, bei der Rangunterschiede verbildlicht werden sollten.85 Erinnert man sich an das Bild Edgars und der angelsächsischen Bischöfe (Abb. 4), wird einem leicht auffallen, dass auch hier das Schriftband Bewegung in das Bild bringt. Die vier Evangelistensymbole tragen es an das „Herz des Königs“ heran, wie es der Titulus der gegenüberliegenden Seite verlangt.86 Das geschieht zwar mit äußerster Ruhe, aber doch nicht ohne ein Heranstreben der vier Wesen von außen. Vor allem aber gerät das Evangelium selbst, das offensichtlich nicht nur der Codex ist, in dem sich das Bild Abb. 6: Ottonenevangeliar, rechter Teil des Dedikatibefindet, in wellenförmige Bewegung onsbilds, Das Herz Ottos III. wird vom Evangelienround schlägt sogar an mehreren Stellen tulus umkleidet; die weltlichen Hierarchien, um 990 (?) um. Dieses Motiv wird aus einem Lü- (Aachen, Domschatzkammer, o.S., p. 32)

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So in der Deutung von Johannes Fried: Otto III. und Boleslaw Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars, der ‚Akt von Gnesen‘ und das frühe polnische und ungarische Königtum, Stuttgart 1989. Eine gute Summe der kunsthistorischen Argumente gegen die These einer Umsetzung des ‚Akts von Gnesen‘ und darüber hinaus eine gelungene Deutung der Bildmotive bietet Ulrich Kuder: Die Ottonen in der ottonischen Buchmalerei, in: Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen, 46), hg. v. Gerd Althoff/Ernst Schubert, Sigmaringen 1998, S. 137–234, hier S. 162–190. Inzwischen wird aber die religiöse und überzeitliche Absicht des Bildes stärker betont, s. aus den letzten Jahren: Ludger Körntgen: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonischfrühsalischen Zeit (Orbis mediaevalis, 2) (Habil. Tübingen, 1998), Berlin 2001, S. 179–211; Steffen

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nettenbild einer Kanontafel übernommen worden sein.87 Gerade in dieser Zeit bewegen sich in einigen Evangeliaren die Evangelistensymbole über den Canones mit bis dahin nicht dagewesenem Elan und tragen wie in Aachen gemeinsam die Evangelienrolle.88 Ihre Bewegungen sind sicher nicht nur Ausdruck ihrer Disputation über das Wort Gottes, sondern auch ihrer Ergriffenheit bei diesem Dialog. Selbst in dem Aachener Evangeliar, wo das ottonische Herrscherbild am starrsten und abstraktesten geworden ist, bleibt auch in ihm weiterhin die Möglichkeit, ‚unmajestätische‘ Züge über die Bewegtheit von Nebenfiguren einzufügen.

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Patzold: ‚Omnis anima potestatibus sublimioribus subdita sit.‘ Zum Herrscherbild im Aachener OttoEvangeliar, in: Frühmittelalterliche Studien, XXXV, 2001, S. 243–272; Franz-Reiner Erkens: Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, S. 184f.; Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel (Bibliotheca Germanica, 50) (Habil. München, 2003), Tübingen/Basel 2006, S. 100f.; Karolingische und ottonische Kunst 2009 (wie Anm. 14), Nr. 61 (Andrea Hauff/Steffen Patzold). Auf p. 30; vollständig: „Hoc auguste libro tibi cor induat Deus Otto / Quem de Liuthario te suscepis memento“; schon zutreffend gedeutet von Wilhelm Messerer: Zum Kaiserbild des Aachener Ottonenkodex, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I, Philol.-hist. Klasse, 1959, Nr. 2, S. 27–36, hier S. 27–31. So zu Recht auch Kuder 1998 (wie Anm. 85), S. 165. S. Christoph Winterer: Das Wolfenbütteler Evangeliar mit den Federzeichnungen (Cod. Guelf. 16.1. Aug. 2°). Ikonographische Vielfalt und Dialogdarstellungen im ottonischen Corvey, in: Präsenz und Verwendung der Heiligen Schrift im christlichen Frühmittelalter: exegetische Literatur und liturgische Texte (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 20), hg. v. Patrizia Carmassi, Wiesbaden 2008, S. 373–404, hier S. 386 und Abb. 16.

Mittelalterliche Selbstminderungsriten im Bild* Ulrich Kuder Die Gattin des deutschen Bundeskanzlers wollte, nachdem ihr Mann am 7. 12. 1970 das Programm ‚Kranzniederlegung an der Gedenkstätte des Ghettos‘ in unvorhergesehener Weise erweitert und durchbrochen hatte (Abb. 1), wissen, „ob es eine spontane Geste gewesen war“: „Hattest du dir das vorher überlegt?“ Willy Brandt reagierte mit Schulterzucken und der Antwort: „Irgend etwas musste man tun.“1 Am Abend nach seinem Kniefall hatte er dem „Spiegel“ mehr mitgeteilt: „Heute morgen […] habe ich das gewusst: dass das nicht so einfach geht wie bei anderen Kranzniederlegungen, nur so den Kopf neigen. Dies ist doch eine andere Qualität.“2 Außer der Frage ‚spontan oder nicht?‘ wurde die der Angemessenheit des Warschauer Kniefalls diskutiert. Das Allensbacher Institut für Demoskopie startete eine Blitzumfrage. 48% der Bundesbürger hielten den Kniefall für übertrieben, 41% Abb. 1: Bundeskanzler Brandt kniet am Denkmal für die Gefür angemessen und 11% hatten fallenen des jüdischen Ghetto-Aufstandes von 1943 nieder. keine Meinung.3 Historisch Be- Warschau, 7. 12. 1970. (Foto: Hanns Hubmann © Bildarchiv wanderte verstanden ihn als eine Preussischer Kulturbesitz, Berlin)

* Eine erste Fassung dieses Aufsatzes wurde am 13.11.2008 im Rahmen des 29. Mediävistischen Alicja Karłowska-Kamzowa-Seminars, das dem Thema ‚Die Tradition der Antike im Mittelalter’ gewidmet war, auf Einladung der PTPN (Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften) und des Kunsthistorischen Instituts der Adam Mickiewicz-Universität in Poznań vorgetragen. 1 Rut Brandt: Freundesland. Erinnerungen, Hamburg 1992, S. 244. Rut Brandt war damals nicht die einzige, der „die Frage: spontane Haltung oder Inszenierung wichtig war“; Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 281, Anm. 66; Ders.: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 13. 2 Das Interview erschien am 14. 12. 1970 im „Spiegel“; Zitat nach M(ichael) Wolffsohn/Th(omas) Brechenmacher: Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München 2005, S. 7. 3 Ebd., S. 8.

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„christliche Geste der Demut“, wobei christliche Demut die Pointe hat, dass derjenige erhöht wird, der sich erniedrigt.4 Mit seinem unerwarteten Kniefall aktivierte Willy Brandt ein Verhaltensmuster aus Zeiten, in denen der Kniefall als Selbstminderungsritus üblich war. „Der gesamte Zeitraum des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bietet unzählige Beispiele für diesen Akt der Selbsterniedrigung vor himmlischen oder irdischen Mächten.“5 Ohne hier die Frage, ob Brandts Kniefall spontan oder geplant war, klären zu können, ist jedenfalls für das Mittelalter festzustellen, dass zur Demonstration von Unterwerfung, Zerknirschung, Buße, Bitte, Gebet und Ähnlichem eine ganze Reihe von Selbstminderungsriten zur Verfügung stand, die bei gegebenem Anlass in der Regel überlegt und gezielt, doch mit dem Anschein der Spontaneität eingesetzt wurden. Das Instrumentarium dieser Riten wurde ohne Worte verstanden, auch wenn bei Unterwerfung bzw. Selbstübergabe (deditio) „etwas Rituelles im Sinne von: ‚Mache mit mir, was du willst‘“6 geäußert werden konnte oder musste. Man trat dabei „barfuß, im Büßergewand oder mit einem Lendenschurz bekleidet an, trug zum Teil Schwerter im Nacken oder Ruten in Händen, die auf die eigentlich verdiente Strafe wiesen, warf sich vor dem Gegner zu Boden, ihm zu Füßen.“7 Das Knien war in sich abgestuft, man konnte es steigern, „indem man nicht nur mit

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Ebd., S. 159: „Willy Brandt, sicher nicht die Personifizierung des Christentums, triumphierte durch die christliche Geste der Demut“; vgl. Mt 23, 12, Lk 14, 11; 18, 14; Gerd Althoff: Das Grundvokabular der Rituale: Knien, Küssen, Thronen, Schwören, in: Spektakel der Macht: Rituale im Alten Europa 800–1800, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger u.a., Darmstadt 2008, S. 149–154, hier S. 151: „Dass derjenige erhöht wird, der sich erniedrigt, und dass gerade der Mächtigste sich am tiefsten erniedrigt, war der christlichen Kultur der Vormoderne selbstverständlich.“ Ebd., S. 150. Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 35, 100, 123, 212, 238, 263f.; vgl. bereits Ri 10, 15, 2 Kön 10, 5. Ebd., S. 238. Die Übergabe Tivolis im Januar 1001 nach der von Kaiser Otto III. erfolgreich durchgeführten Belagerung vollzog sich, laut Thangmars Vita Bernwardi, cap. 23, so, dass der Papst und Bischof Bernward, die mit den Bewohnern Tivolis verhandelt hatten, aus der Stadt zum Kaiser zurückkehrten, „gefolgt von einem denkwürdigen Triumphzug“ („nobili triumpho subsequente“). Denn alle angesehenen Bürger der Stadt folgten ihnen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Rechten ein Schwert und in der Linken eine Rute tragend, und bewegten sich so zum Palast („nudi, femoralibus tantum tecti, dextra gladios, laeva scopas ad palatium praetendentes“): Dem Kaiser seien sie mit Hab und Gut verfallen, nichts ausbedungen, nicht einmal das nackte Leben; wen er für schuldig halte, möge er mit dem Schwert hinrichten oder, wenn er Mitleid üben wolle, am Pranger mit Ruten auspeitschen lassen“; Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe [FSGA], 22), übers. v. Hatto Kallfelz, Darmstadt ²1973, S. 316f.; s. a. Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 237 sowie S. 101, 213, Anm. 45. – Die Übergabe der belagerten Burg Werle durch Wertislaw an Herzog Heinrich den Löwen schildert Helmold von Bosau in der Cronica Slavorum, cap. 93: „Da verließen Wertislaw und alle Edlen der Slawen, geleitet von dem hochangesehenen Grafen, die Festung und warfen sich dem Herzog zu Füßen; jeder hatte sein Schwert um den Hals gehängt“; zitiert nach Gerd Althoff: Heinrich der Löwe in Konflikten. Zur Technik der Friedensvermittlung im 12. Jahrhundert, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235, Ausstel-

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einem, sondern mit beiden Beinen kniete [wie übrigens auch Willy Brandt; U.K.], sich zusätzlich mit dem Oberkörper zu Boden neigte oder sich sogar mit dem ganzen Körper auf dem Boden ausstreckte und die Hände ausbreitete.“8 Auch der Fußkuss bedeutete eine solche Steigerung der Selbstminderung, „um den Ernst und die Dringlichkeit einer Bitte zu unterstreichen.“9 Die Frage der Angemessenheit war im Mittelalter von noch größerer Bedeutung als in der Bundesrepublik. Das in sich abgestufte Instrumentarium von Selbstminderungsriten kommt auch bei deren bildlicher Darstellung ins Spiel. Die Frage, ob es tunlich sei, ein Mehr oder ein Weniger an Selbstminderung im Bild festzuhalten, dürfte Auftraggeber, Konzepteure, Miniatoren und andere Bildkünstler beschäftigt haben. Im Folgenden soll exemplarisch gezeigt werden nicht nur, dass in manchen mittelalterlichen Darstellungen Selbstminderungsriten vorkommen, sondern auch, dass die Berücksichtigung dieser Riten zum Verständnis jener Bilder nicht unwesentlich beiträgt. In unserem Blick sind, um den Untersuchungsgegenstand einzuschränken, nur Darstellungen rituell geprägter einmaliger historischer Ereignisse, nicht solche regelmäßig bzw. zyklisch wiederkehrender Riten der Selbstminderung wie etwa der Kasteiung (disciplina), der Mönchstonsur, der Selbsterniedrigung bei der Begründung eines Lehnsverhältnisses, des Fastens und SichVerhüllens im Kontext der Trauer. Letztere finden allenfalls am Rande Erwähnung.

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lungskatalog (Braunschweig, Herzog Anton-Ulrich-Museum, 1995), hg. v. Jochen Luckhardt/Franz Niehoff, Bd. II, München 1995, S. 123–129, hier S. 124. – Zu einem ähnlichen Aufzug formierten sich die Mailänder bei der ersten Übergabe ihrer Stadt an Friedrich Barbarossa im Jahre 1158: „Nachdem beide Parteien diese Friedensbedingungen angenommen hatten, kam Mailand, um wieder in Gnaden angenommen zu werden, nachdem es freies Geleit erhalten hatte, in folgender Ordnung und Haltung mit den Seinen an den Hof. Voran der gesamte Klerus und die Angehörigen des kirchlichen Standes mit ihrem Erzbischof mit vorangetragenen Kreuzen, nackten Füßen und in ärmlichem Gewand („nudis pedibus, humili habitu“); dann die Konsuln und angesehensten Bürger der Stadt, ebenfalls ohne Obergewand, mit nackten Füßen, entblößte Schwerter auf dem Nacken tragend („item abjecta veste, pedibus nudis, exertos super cervices gladios ferentes“). Es war ein großartiges Schauspiel („ingens spectaculum“)“; Bischof Otto von Freising und Rahewin: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica (FSGA, 17), übers. v. Adolf Schmidt, hg. v. Franz-Josef Schmale, Darmstadt 1965, S. 500f.; s. dazu Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 103–107. – Vergleichbar ist das Verhalten der Bürger von Brescia gegenüber Heinrich VII. am 18. 9. 1311, wie es in der Bilderchronik von Kaiser Heinrich VII. und Kurfürst Balduin von Luxemburg auf dem Bild mit der Unterschrift „Rex intrat Brixia[m] per fossata planata“ („Der König zieht über die eingeebneten Gräben in Brescia ein“) dargestellt ist: Die Bürger, in Büßerhemden, mit Stricken um den Hals, halten deren Enden hoch und weisen so auf ihre eigentlich verdiente Strafe hin. Die Miniatur: Staatsarchiv Koblenz, Abteilung 1C Nr. 1 (Trier, dreißiger Jahre des 14. Jh.), Bild 15 oben; Franz-Joseph Heyen: Kaiser Heinrichs Romfahrt. Die Bilderchronik von Kaiser Heinrich VII. und Kurfürst Balduin von Luxemburg (1308–1313), Boppard a. Rh. 1965, Bild 15 sowie in der Taschenbuchausgabe (München 1978), S. 81. Althoff 2008 (wie Anm. 4), S. 150. Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 268; s. a. das Bild in der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog-AugustBibliothek, Cod. Guelf. 11.2 Aug. 4° (Gumpold von Mantua: Vita des heiligen Wenzel; Böhmen, vor 1006), fol. 18v: Christus setzt dem heiligen Wenzel die kreuzbekrönte Märtyrerkrone des Sieges

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Eine Illustration in der Vita Mathildis des Donizo (Abb. 2, Taf. IIa)10 zeigt Heinrich IV. (1050–1106), seit 1056 regierender König, 1080 zum Kaiser gekrönt, zu Füßen Hugos (1024–1109), des Abts von Cluny (seit 1049), kniend vor Mathilde von Canossa (1046– 1115), der Markgräfin von Tuszien. Unter dem Bild steht: „Rex rogat abbatem, Mathildim supplicat atq[ue]“ („Der König bittet den Abt und fällt vor Mathilde zu Füßen“). Ohne diese Bildunterschrift könnten wir zwar nicht die Personen identifizieren, aber sehr wohl erkennen, dass sich hier ein Ranghöherer, ein durch seine Krone und durch den (irrtümlich blau statt golden kolorierten) Reichsapfel in seiner Rechten ausgewiesener Herrscher vor einer gewiss adligen, doch im Rang niedrigeren Dame demütigt. Sie ist durch eine Würdeform, eine Arkade, die wohl dreidimensional als Baldachin zu verstehen ist, ausgezeichnet. Die Spitze dieser Architektur ist beim Beschneiden des Pergamentblatts verloren gegangen. Vielleicht war sie ursprünglich von einem Kreuz bekrönt. Die hohe Frau unterhält Abb. 2: Vita Mathildis des Donizo, König Heinrich IV. sich mit einem Geistlichen, der kniet vor Mathilde von Canossa, Markgräfin von Tuszien, durch Krümme und Kukulle als Abt hinter ihm Abt Hugo von Cluny, um 1115 (Rom, Bibliotegekennzeichnet ist. Mit der offenen ca Apostolica Vaticana, Cod. lat. 4922, fol. 49r) Handfläche ihrer Rechten nimmt

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auf. Die Herzogin (H)emma, die Gemahlin Herzog Boleslaws II. von Böhmen, kniet vor Wenzel und küsst ihm den Fuß. Ihre dringende Bitte ergibt sich aus der goldenen Beischrift: „Hunc libellum hemma uenerabilis principissa pro remedio anime sue in honore beati uenceslaui martiris fieri iussit.“ Farbabb. bei Helmar Härtel: Tradition als Herausforderung: Zimelien aus den Sammlungen der Herzog August Bibliothek. Eine Führung von der Spätantike bis zur Reformation, Wiesbaden 2007, S. 51, Nr. 15, s/w-Abb. bei Wolfgang Milde: Mittelalterliche Handschriften der Herzog August Bibliothek (Kataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sonderbd. 1), Frankfurt a.M. 1972, S. 65, Nr. 32 und Althoff 2003 (wie Anm. 1), Abb. S. 107. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 4922 (Oberitalien [Canossa oder Polirone], um 1115), fol. 49r; zur Handschrift s. Gian Casper Bott: Donizo, Vita der Gräfin Mathilde von Canossa (De Principibus Canusinis), in: Heinrich der Löwe 1995 (wie Anm. 7), Bd. I, S. 91–94, Nr. B 11.

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sie seine Worte entgegen11, während sie mit der Linken zu einer Antwort ansetzt. Der Abt ist von niedrigerem Rang als der König. In diesem Bild aber, auf einem Faldistorium thronend, überragt er als mächtiger Patron seinen Schützling. Er war Heinrichs Taufpate. Unmittelbar über dem König hält er seinen Abtsstab senkrecht aufgerichtet. Mit dem Zeigefinger seiner Rechten, über des Königs Haupt, wendet er sich der hoch thronenden Adligen zu. Abt und König sind einander nah, zwischen dem König und Mathilde aber ergibt sich eine Distanz, die der König durch den Kniefall und sein schräg nach oben gerichtetes Haupt kaum überwinden kann.12 Mathildes Gesicht und Hände sind eindeutig dem Abt, weit weniger deutlich aber, wenn überhaupt, auch dem König zugewandt.13 Was dieses Bild verschweigt, erfahren wir, wenn wir uns mit seinem Kontext in der Handschrift, in der es steht, und mit dem dargestellten Geschehen befassen. Donizos 1115, also etwa vierzig Jahre nach dem hier geschilderten Geschehen vom Januar 1077 verfasste Vita Mathildis ist eine Laudatio auf Mathilde von Tuszien. Eine ihrer ruhmreichen Taten war, nach Donizo, dass sie durch ihre Fürsprache bei Papst Gregor VII. den Frieden zwischen diesem und Heinrich IV., ihrem Vetter, erreichte. Dabei ging es um die Aufhebung des Banns, was Donizo durch Heinrichs Rede eher angedeutet als ausgesprochen sein lässt: „[…] mulctavit me quia papa: / Consobrina valens, fac me benedicere valde“ („Der Papst hat mich übel zugerichtet, mächtige Cousine, mach, dass ich gar sehr gesegnet werde“)14, so der König mit gebeugten Knien (poplitibus flexis)15 zu Mathilde. Der Tendenz, die Markgräfin als die zentrale, das Geschehen lenkende Figur erscheinen zu lassen, folgt auch, mit Mathildes Arkade und ihrem erhöhten Thronsitz, die Illustra-

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Die hier vorliegende Entsprechung von Anrede (mit einem oder zwei zum Gesprächspartner hin ausgestreckten Fingern) und Vernehmen der Anrede (mit der zum Gegenüber hin ausgestreckten offenen Handfläche) ist ein in der Bildkunst des 10. und 11. Jh. ungezählte Male belegtes Motiv. Über Nähe und Ferne in der Bildkunst des 9. bis 11. Jh. s. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Nähe und Ferne. Zur Lesbarkeit von Raum in der ottonischen Buchmalerei, in: Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, 2 Bde. und Katalog, erschienen anlässlich der 27. Europaratsausstellung in Budapest, Krakau, Berlin, Mannheim, Prag und Bratislava, hg. v. Alfred Wieczorek/Hans-Martin Hinz, Bd. II, Stuttgart 2000, S. 813–818. S. hingegen Harald Zimmermann: Der Canossagang von 1077. Wirkungen und Wirklichkeit (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, 5), Mainz 1975, S. 42: „Dieser [Heinrich] hat sich […] der Gräfin zugewandt, die ihm mit ihrer offenen Rechten aufzustehen bedeutet, während an der Linken der Zeigefinger mahnend erhoben ist“; ähnlich Benjamin Bussmann: Die Verbannung aus himmlischen Sphären. Zwei Miniaturen des frühen Hochmittelalters im Vergleich, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation (Europäische Geschichtsdarstellungen, 7), hg. v. Christina Jostkleigrewe u.a., Köln/Weimar/Wien 2005, S. 79–108, hier S. 94f. Zimmermanns und Bussmanns Bildbeschreibungen belegen an dieser Stelle, wie leicht unrichtige Thesen willkürlich in Bilder hineingesehen werden können. Vita der Mathilde von Canossa. Codex Vaticanus Latinus 4922 (Belser Faksimile Editionen, 62), transkr. v. Carlo Golinelli, übers. v. Axel Janeck, Kommentarband. Eine Einführung, Zürich 1984, S. 142, Z. 96f. Ebd., Z. 94.

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tion. Entscheidend für die Gewichtung zugunsten Mathildes aber ist bereits, dass unter den vielen möglichen Szenen gerade diese für die Darstellung ausgewählt wurde. Nicht die von Donizo ebenfalls geschilderte Selbstminderung Heinrichs IV. vor dem Papst zu Canossa, sondern die vor Mathilde in der Nikolauskapelle ihrer Burg Montezane wurde für bildwürdig gehalten. Montezane liegt zwischen dem königlichen Quartier in der Burg Bianello (Blanello) und Canossa.16 Dorthin begab sich der König, um Abt Hugo und Mathilde um ihre Vermittlung zu bitten.17 Indem, was in der Nikolauskapelle geschah, zur Illustration bestimmt wurde, kam es zu einem Bild, in dem der König vor Mathilde die Knie beugt und das von allen Selbstminderungen, die Heinrich im Zusammenhang mit Canossa vornahm, nur das Knien zeigt. Nach den in diesem Punkt übereinstimmenden Berichten war er in einer höchst bedauernswerten Lage.18 Vom 25. 1. 1077 an stand er drei Tage lang barfuß im Büßergewand vor dem Burgtor von Canossa und erflehte vom Papst, ihn um Verzeihung bittend, die Aufhebung des Banns.19 Donizo notiert die ungewöhnliche Schneemenge und die Kälte jenes Januars („Solitoque nivem mage, frigus / Per nimium magnum Ianus dabat hoc et in anno“).20 Mit nackten, von Kälte erfassten Fußsohlen („cum plantis nudis a frigore captis“) hatte sich der König mit ausgestreckten Armen vor dem Papst auf den kalten Boden geworfen, sodass sein Leib ein Kreuz bildete („In cruce se iactans“).21 All dies ist uns in Worten, nicht aber in Bildern überliefert. Dass die mittelalterliche Kunst keine Darstellung einer vergleichbaren Selbstdemütigung des Königs oder Kaisers – auf dem Boden und vor anderen Sterblichen hingeworfen – kennt, obwohl doch schriftliche Quellen von solchen königlichen Aktionen berichten, lässt vermuten, dass das Fehlen eines solchen Bildes in der Vita Mathildis nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass 16 17 18

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S. die Karte mit den Reiserouten des Königs und des Papstes bei Stefan Weinfurter: Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006, S. 14, Abb. 1. Bussmann 2005 (wie Anm. 13), S. 98, 102f.; Weinfurter 2006 (wie Anm. 16), S. 17. Lambert von Hersfeld: Annalen (FSGA, 13), neu übers. v. Adolf Schmidt, Darmstadt 1957, S. 399– 409; Das Register Gregors VII. (Epistolae selectae in usum scholarum ex Monumentis Germanicis historicis separatim editae, 2), hg. v. Erich Caspar, Bd. I, Berlin ²1955, S. 311–313, Nr. IV, 12. Unstrittig ist, dass Heinrich IV. vor Canossa seine Selbstminderung inszenierte, strittig hingegen, ob er damit dem Ritual der Selbstübergabe (deditio) oder dem der Kirchenbuße folgte. Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 240: „Daß dieses Verhalten weniger aus der Tradition der Kirchenbuße als aus dem Ritual der deditio verständlich wird, zeigt die Darstellung der wichtigsten Quellen sehr deutlich.“ Anders Weinfurter 2006 (wie Anm. 16), S. 21: „[…] letztlich war es die Rückführung auf die Kirchenbuße durch das Handeln Heinrichs IV. selbst, das Gregor VII. dazu zwang, den König doch vom Bann zu lösen.“ Die Alternative ‚Kirchenbuße oder deditio‘ wird entschärft, wenn man den Hinweis von Timothy Reuter berücksichtigt, dass in der deditio Rituale zur Anwendung kommen, „die der (zugegebenermaßen im 11. Jh. schon etwas obsolet gewordenen) Bußpraxis entnommen“ sind; Timothy Reuter: Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand: Gewalt und Frieden in der Politik der Salierzeit, in: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier (Die Salier und das Reich, 3), hg. v. Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 297–325, hier S. 321. Vita der Mathilde von Canossa 1984 (wie Anm. 14), S. 142, Z. 105f. Ebd., Z. 110.

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Mathilde im Zentrum stehen, sondern auch darauf, dass bei der bildlichen Darstellung der Selbstminderungsaktion eines Herrschers eine gewisse Grenze nicht überschritten werden sollte. Schriftliche Geschichtsquellen berichten ohne Scheu, dass Kaiser Heinrich II. („toties prostratus humiliatur“)22 und, in anderem Zusammenhang, Erzbischof Willigis sich mit dem ganzen Körper zu Boden warfen, um ihre politischen Ziele zu erreichen.23 Bildlich dargestellt wurden solche Inszenierungen der Demut nicht. Das Knien reichte aus, um an den höchsten Repräsentanten – und gerade an ihnen – das Grundprinzip zu veranschaulichen, dass erhöht wird, wer sich selbst erniedrigt. Mit der Haltung der Heiligen Drei Könige vor dem Christusknaben und seiner Mutter war für die Kaiser und Abb. 3: Egbert-Evangelistar, Anbetung der HeiKönige ein Vorbild gegeben. Auf der Mi- ligen Drei Könige, vor 993 (um 985–990) (Trier, niatur aus dem Egbert-Evangelistar (Rei- Stadtbibliothek, Cod. 24, fol. 17r) chenau, vor 993 [um 985–990]; Abb. 3) zur Perikope von Epiphanias (Mt 2, 1–12) zwischen Vers 10 („Uidentes autem stellam, gauisi sunt gaudio magno ualde“) und 11 („Et intrantes domum, inuenerunt puerum cu(m) maria matre eius. Et procidentes, adorauerunt eum. Et apertis thesauris suis, obtulerunt ei munera: Aurum, thus, et murram“) zeigen oben die Könige, entsprechend Vers 10, auf den Stern, während sie unten vor Christus und Maria niederfallen, anbeten und ihre Gaben darbringen. Die Gottesmutter und ihr Sohn haben mit Joseph einen überdimensionierten Wächter bei sich, der ihren Thron hält. Das Haus, dessen Giebel Mariens Nimbus überhöht und in dem (nicht etwa: vor dem) sich Maria, Christus und Joseph befinden, ist dasselbe wie das, in das die Könige eintreten („Et intrantes domum“) und in dem sie niederfallen und anbeten („Et procidentes adorauerunt“).24

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Thietmar von Merseburg: Chronicon/Chronik (FSGA, 9), neu übertr. u. erl. v. Werner Trillmich, Darmstadt 1966, S. 276, Z. 27f. (Chron. VI, 32). Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 253f. Über das Verhältnis der Figuren zur Architektur im frühmittelalterlichen Bild s. Ulrich Kuder: Frühmittelalterliche Architekturwahrnehmung und -darstellung, in: multiplicatio et variatio: Beiträge zur Kunst (Festgabe für Ernst Badstübner zum 65. Geburtstag), hg. v. Matthias Müller, Berlin 1998, S. 123–138.

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Der vorderste König hält eine silberne Schale mit goldenem Inhalt. Was seine königlichen Gefährten bringen, ist nicht sichtbar gemacht. Deutlich sind jedoch ihre verhüllten Hände, zumal die Rechte des vordersten Königs, „MELCHIAS“ (seine Linke ist unverhüllt), und die von König „CASPAR“ hinter ihm. Die verhüllten Hände sind hier weder Trauergestus noch ‚Ausdruck praktischer Hygiene‘, vielmehr Element eines Selbstminderungsritus, entsprechend dem byzantinischen Hofzeremoniell, dem zufolge es untersagt war, „sich dem Herrscher […] mit bloßen, unreinen Händen“ zu nähern.25 Die irdischen Könige demütigen sich vor dem himmlischen König und vor seiner Mutter, der Himmelskönigin. Tief verneigen sich die beiden hinteren Könige, wobei zumindest der mit dem roten Pallium, „CASPAR“, der nicht durch den andern verdeckt ist, mit beiden Beinen niederkniet. In dieser Haltung könnte er keinen Augenblick bleiben, er müsste sofort nach vorn kippen. Jedoch: Wer ihn so wahrnimmt, mit neuzeitlichem oder fotografischem Blick, missversteht seine Haltung. In Caspar kommen zwei miteinander unvereinbare Aktionen in einer Figur zur Darstellung: Sich-nach-vorn-Bewegen und Niederknien. Beides ist im Text der Perikope (Mt 2, 11) vorgesehen. Aber auch die Haltung des vorderen Königs, der Christus am nächsten ist, wäre missverstanden, wollte man in ihr ausschließlich ein eiliges Herantreten erkennen. Sein gekrümmter Rücken und sein angewinkeltes linkes Knie – demjenigen Heinrichs IV. vergleichbar (Abb. 2) – machen ihn zu einem König, der auch niederkniet und anbetet. Im Unterschied zu Joseph und zum Christusknaben selbst, die zum Zeichen ihrer Demut barfuß sind, haben die Heiligen Drei Könige ihre Schuhe nicht abgelegt. Auch ihre Kronen tragen sie weiterhin. Ihre Selbstminderung ist das Ergebnis eines Abwägens. Nicht alle Elemente des komplexen Systems der Selbstminderungsriten sind den anbetenden Königen und ihrer Darstellung angemessen. Sie als Barfüßige ins Bild zu bringen, würde zu weit gehen. Barfüßigkeit bedeutete eine so tiefe Selbsterniedrigung, dass im Jahre 1158 die Mailänder Friedrich Barbarossa anboten, „ihm viel Geld zu zahlen für die Erlaubnis, den Unterwerfungsakt mit Schuhen an den Füßen durchführen zu dürfen. Die königliche Ehre (honor regius), so wird in einem anderen Fall gesagt, erfordere es, dass die deditio barfuß ausgeführt“ werde.26 Da aber Christus durch seine Inkarnation die Demut schlechthin verkörpert, unterscheidet er sich, der König der Könige, in bildlichen Darstellungen von den Heiligen Drei Königen durch seine Barfüßigkeit. Auf dem so genannten Teppich von Bayeux (wohl Canterbury, Saint Augustine’s Abbey, 1067–1068)27 besucht in einer der ersten Bildszenen Harold, ehe er sich einschifft,

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Petrus de Ebulo: Liber ad Honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern. Eine Bilderchronik der Stauferzeit, hg. v. Theo Kölzer/Marlis Stähli, Textrevision u. Übers. v. Gereon Becht-Jördens, Sigmaringen 1994, S. 66. Althoff 1997 (wie Anm. 1), S. 109; zur Übergabe Mailands an Friedrich Barbarossa im Jahre 1158 s. hier Anm. 7. Zur Lokalisierung und Datierung s. Ulrich Kuder: Der Teppich von Bayeux oder: Wer hatte die Fäden in der Hand? (Fischer-Kunststück, 11485), Frankfurt a.M. 1994 und Ders.: Der Teppich von

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mit einem Begleiter eine Kirche (Abb. 4). Beider Arme und Hände bekunden keine Gebetshaltung, wohl aber ihre gebeugten Knie. Die beiden gehen und knien. Ähnlich wie bei den Heiligen Drei Königen im Egbert-Evangelistar sind in ihrer Gestalt zwei nicht gleichzeitig ausführbare Aktionen kombiniert. Ihr Knien musste in der Darstellung abgeschwächt werden, weil auch ihr In-die-Kirche-Gehen zu zeigen war. Daher berühren ihre Knie nicht den Boden. Trotz dieser Abschwächung unterscheidet sich ihr Gehen deutlich von dem der vielen Gehenden auf dem Bayeux-Teppich, die nicht auch ein Knien vergegenwärtigen. Die beiden beten, und zwar in der Kirche, nicht etwa vor ihr.28 Kniend im Gebet erweist sich Harold von Wessex als demütig. Demut (humilitas) aber ist im frühen und hohen Mittelalter ein zentrales Element der Nachahmung Christi, zu der die Könige verpflichtet sind.29 Ihr Gegensatz ist die Todsünde des Hochmuts (superbia). Einem Prätendenten auf den Königsthron durfte die Demut nicht fehlen.30 Harolds kniend unter Abb. 4: Teppich von Bayeux, Detail, Harold von Beweis gestellte Demut wird belohnt. Wessex und ein Begleiter beten in einer Kirche, 1067– Dass, wer sich selbst erniedrigt, erhöht 1068 (Bayeux, Médiathèque municipale) wird, gilt auch für diesen König. Die Szene des Gebets in der Kirche, die für den Gang der Handlung und für das Thema dieses Wandbehangs, die Eroberung Englands und die Frage der Herrschaftslegitimation des Eroberers, überflüssig zu sein und einen lediglich ausschmückenden Charakter zu haben scheint, ist vielmehr bedeutsam, denn sie weist auf die Szene der Inthronisation Harolds

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Bayeux. Bildgeschichte und Geschichtsbild, in: Geschichtsbilder 2005 (wie Anm. 13), S. 3–29, bes. S. 25–29. Weitere mittelalterliche Beispiele von Figuren, die als sich in der dargestellten Architektur aufhaltend vorgestellt werden müssen, obwohl sie sich im Sinne neuzeitlicher Bildsprache vor dieser Architektur zu befinden scheinen, bei Kuder 1998 (wie Anm. 24); s. dazu auch hier Abb. 3. Althoff 2008 (wie Anm. 4), S. 151f. Eduard Hlawitschka: ‚Merkst du nicht, dass dir das vierte Rad am Wagen fehlt?‘ Zur Thronkandidatur Ekkehards von Meißen (1002) nach Thietmar, Chronicon IV c. 52, in: Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter (Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag), hg. v. Karl Hauck/ Hubert Mordek, Köln/Wien 1978, S. 281–311, bes. S. 300–302.

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als Rex Anglorum voraus. Demut aber ist eine Tugend, die den Verrätern in der französischen weltlichen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts bei aller Heldenhaftigkeit und allem sie auszeichnenden Edelmut fehlt. Die These, auf dem Bayeux-Teppich sei die Vorgeschichte der Schlacht von Hastings und diese selbst im Sinne der chansons de geste modelliert und insbesondere sei Harold entsprechend dem Verrätertypus der chansons gestaltet31, erweist sich im Hinblick auf die „ÆCCLESIA“-Szene – und nicht nur im Hinblick auf diese – als untauglich zur Erklärung der positiven Beleuchtung, die auf dem Bayeux-Teppich dem dux und später rex Harold zuteil wird. Allein die besondere Entstehungssituation dieses Werks, dass es die siegreichen Normannen (wohl Odo von Bayeux, Wilhelms Halbbruder, und sein Umkreis) in Auftrag gaben, die besiegten Engländer aber herstellten, bietet eine Erklärungsmöglichkeit dafür, dass dieser Bildstreifen nicht nur im Sinne der normannischen, sondern auch in dem der englischen Sicht vom Ablauf der Ereignisse gelesen werden kann.32 Zum Geschichtsbild der Engländer gehört nicht 31

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Diese von Charles Reginald Dodwell vertretene These, die die Forschungen zum Bayeux-Teppich maßgeblich bestimmt hat, ist für viele bis heute noch von großer Anziehungskraft; Ders.: A brief note on the secular aspects of the Bayeux Tapestry, in: Gazette des Beaux-Arts, CVIII, VIe période, LXVIII, 1966, S. 227–232; Ders.: The Bayeux Tapestry and the French Secular Epic, in: The Burlington Magazine, CVIII, 1966, S. 549–560; kritisch zu Dodwells These Ulrich Kuder: Besprechung von King Harold II and the Bayeux Tapestry, hg. v. Gale R. Owen-Crocker, Woodbridge/Rochester/NY 2005, in: Journal für Kunstgeschichte, X, 2006, S. 245–249, bes. S. 248f. Benjamin Bussmann: Die Historisierung der Herrscherbilder (ca. 1000–1200), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 240 meint, ich sähe, ebenso wie Bernstein oder Grape, „die profanisierte Sichtweise“ des Bayeux-Teppichs einzig in „dem historischen Einzelfall der Schlacht von Hastings und deren Nachwirkungen“ begründet. Mein Versuch, die Bildsprache des Bayeux-Teppichs zu verstehen, geht jedoch nicht allein von der ungewöhnlichen Entstehungssituation (Auftrag der Sieger, Herstellung durch die Besiegten) – und damit, wenn Bussmann so will, von den ‚Nachwirkungen‘ der Schlacht von Hastings – aus. Dass im Bayeux-Teppich „hinter den menschlichen Taten nirgends die göttliche Lenkung oder die göttliche Antwort sichtbar wird“ (Bussmann etikettiert dieses von mir beobachtete Phänomen mit dem Begriff ‚profanisierte Sichtweise‘), ist vielmehr, wie ich darlege, „im wesentlichen der kontinuierenden Darstellungsweise“, somit einer alten Tradition bildlicher Darstellung, die ich bis ins 2. Jh. v. Chr. zurückverfolge (Kuder 2005 [wie Anm. 27], S. 6–12), und nicht einem „historischen Einzelfall“ geschuldet. Bussmann sieht den Grund der ‚profanisierten Sichtweise‘ des Bayeux-Teppichs in der von ihm so genannten „Historisierung der Herrscherbilder“, d.h. darin, dass „in diesem Kunstwerk […] die mehrdeutige liturgische Vergegenwärtigung vergangener Geschehnisse von der eindeutigen, mittels schriftlicher Quellen verifizierbaren Erinnerung an profane historische Ereignisse abgelöst“ wird (Bussmann 2006, S. 233f.). Er hat im Rahmen seiner Untersuchung ausgewählter Werke der bildenden Kunst „des frühen Hochmittelalters (ca. 1000–1200)“ (Ebd., S. 1) große Mühe auf die Begründung seiner These verwandt, „dass sich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zweifellos ein allgemeines quellenunabhängiges Phänomen bemerkbar macht, das sich als Wandel hin zur eindeutigen Vergegenwärtigung diesseitiger historischer Ereignisse, also als Historisierung beschreiben lässt“ (Ebd., S. 232). Diese Historisierungsthese beruht jedoch auf teils unrichtigen, teils methodisch fragwürdigen Voraussetzungen: a) Biblische Texte, also die Schriften des Alten und des Neuen Testaments können, da sie zu einem nicht unwesentlichen Teil Geschichtswerke sind, nicht mit Bussmann 2005 (wie Anm. 13), S. 107, Anm. 76 generell als „überzeitliche Texte“ bezeichnet werden. Bussmann scheidet Bildzyklen, die

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zuletzt die Demut ihres rechtmäßigen Königs Harold. Die normannischen Auftraggeber aber konnten oder wollten die Darstellung des kniend betenden Harold nicht verhindern. Von großer Bedeutung für das Mittelalter war die Welt des Alten Testaments. Dort ist ein breites Spektrum von Selbstminderungsriten überliefert33: Man zerreißt seine Gewandung, legt Schmuck, Kopfbund und Sandalen ab, rauft sich das Haupthaar, lässt das Haar wild hängen oder schert es ganz, schneidet sich eine Rand- oder eine Stirnglatze, stutzt den Kinnbart, verhüllt den Lippenbart oder auch das ganze Haupt, kleidet sich mit dem Saq – einem Gewand oder einem Schurz, in der Regel aus dunklem Haartuch –, fastet, salbt sich nicht, schlägt sich auf die Brust oder die Lenden, streut Staub und Erde aufs Haupt, setzt oder legt sich auf die Erde oder in den Staub; man wälzt sich im Dreck.

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eindeutig diesseitige historische Ereignisse vergegenwärtigen, dann aus seiner Untersuchung aus, wenn die Berichte über diese Ereignisse in der Bibel überliefert sind. Eine Bildfolge wie die in Sankt Gallen um 925 und auf der Reichenau um 972 – also längst vor der zweiten Hälfte des 11. Jh. – entstandene zum 1. Makkabäerbuch in der Makkabäer- und Vegetius-Handschrift Leiden, Universitätsbibliothek, Periz. Fol. 17, die, darin dem Bayeux-Teppich vergleichbar, eine, mit Bussmann zu sprechen, ‚profanisierte Sichtweise‘ aufweist, wird von ihm mit keinem Wort erwähnt; zu diesen Illustrationen s. Anton von Euw: Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, 2 Bde., Sankt Gallen 2008, S. 473–479, Nr. 133, Abb. 625, 626, 628–640. b) Bussmann hat die Bildbeispiele für seine Untersuchung so gewählt, dass die Möglichkeit der Falsifizierung seiner Historisierungsthese von vornherein ausgeschlossen ist. Sein Versuch, das Feld früh- und hochmittelalterlicher Herrscherdarstellungen auf der Grundlage einer thesenorientierten, gemessen am Bestand aber willkürlichen Auswahl von Bildern „schlaglichtartig“ zu beleuchten und so zu belastbaren Ergebnissen zu kommen, ist im Ansatz verfehlt. Sämtliche erhalten gebliebenen, aber auch die verloren gegangenen, durch schriftliche Quellen bezeugten Bildzyklen müssten in die Untersuchung einbezogen werden (s. hingegen Bussmann 2006, S. 2, Anm. 5). Liudprand von Cremona: Antapodosis, II.31, berichtet, dass Heinrich I. (König 919–936) in seiner Merseburger Pfalz seinen Ungarnsieg vom 15. 3. 933 außerordentlich lebensecht darstellen ließ: „Diesen glorreichen und denkwürdigen Sieg ließ der König in der oberen Halle seiner Pfalz zu Merseburg durch ein Gemälde darstellen, in dem man mehr die Begebenheit selbst als ihr Abbild sieht („ut rem veram potius quam veri similem videas“)“; Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (FSGA, 8), neu bearb. v. Albert Bauer/Reinhold Rau, Darmstadt 1971, S. 324f. Warum sollte in dieser 933–936 datierbaren Wandmalerei die Ungarnschlacht nicht ebenso in ‚profanisierter Sichtweise‘ präsentiert worden sein wie später die Schlacht von Hastings auf dem Bayeux-Teppich? Umgekehrt gibt es nach der zweiten Hälfte des 12. Jh., also nach der angeblichen ‚Historisierung‘, ungezählte Herrscherbilder, die, auch bei großzügigster Dehnung der Terminologie Bussmanns, weder eindeutig diesseitige historische Ereignisse vergegenwärtigen noch eine ‚profanisierte Sichtweise‘ zu erkennen geben. Ich nenne nur die beiden Glasfenster mit dem nimbierten Kaiser Friedrich Barbarossa (spätes 12. Jh. bzw. um 1250–1270) im Straßburger Münster; Percy Ernst Schramm: Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 751–1190, Neuaufl. hg. v. Florentine Mütherich, München 1983, S. 270, 480, Taf. 221a–b. Die folgende Zusammenstellung nach Ernst Kutsch: ‚Trauerbräuche‘ und ‚Selbstminderungsriten‘ im Alten Testament, in: Kurt Lüthi/Ernst Kutsch/Wilhelm Dantine: Drei Wiener Antrittsreden, Zürich 1965, S. 23–42 (wiederabgedruckt in: Ernst Kutsch: Kleine Schriften zum Alten Testament (Zum 65. Geburtstag), hg. v. Ludwig Schmidt/Karl Eberlein, Berlin/New York 1986, S. 78–95). Dort auch die Belege im Einzelnen.

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Dem Volk Israel wurde es jedoch, nachdem der Trauerbrauch, sich Schnittwunden zuzufügen, noch bis zur Zeit des Propheten Jeremia (um 600 v. Chr.) üblich gewesen war34, ausdrücklich untersagt, sich blutig zu schneiden.35 Auch bei Homer36, im Alten Ägypten und im Zweistromland war das Sich-blutig-Kratzen gang und gäbe, doch wichen, jedenfalls in der griechischen Kunst, „die drastischen Trauergesten […] bereits ab dem 6. Jh. v. Chr. immer mehr der verhaltenen, stillen Trauer.“37 Manche Selbstminderungsriten des Mittelalters, wie etwa das Tragen eines besonders schäbigen Gewands, die Barfüssigkeit und das Fasten, haben Parallelen im Alten Testament. Auch die mit diesen Riten verbundenen Vorstellungen finden sich sowohl im Alten Israel als auch im Mittelalter, etwa die Selbstdemütigung, um bei Gott oder bei einem weltlichen Herrscher etwas zu erreichen, seiner Bitte ihm gegenüber Nachdruck zu verleihen, wie auch, als Reaktion auf die Nachricht von einem Todesfall oder einer Katastrophe, seiner eigenen dadurch herbeigeführten Minderung Ausdruck zu geben. Irreführend wäre es, diese Riten generell als Trauerbräuche oder -riten zu bezeichnen, da sie oft in einem Zusammenhang erscheinen, der nicht an Trauer denken lässt.38 Der Prophet Daniel suchte von Jahwe die Deutung einer Vision zu erlangen, indem er sich vor ihm durch verschiedene Selbstminderungsriten als gebeugt präsentierte: Er aß keine wohlschmeckenden Speisen, nahm weder Fleisch noch Wein zu sich und salbte sich nicht.39 Als der Aramäerkönig Benhadad von den Israeliten geschlagen worden und in die Stadt Aphek östlich des Sees Genezareth geflohen war, legten er und seine Diener, damit der König von Israel sie am Leben lasse, den Saq um ihre Hüften und Stricke um ihr Haupt – mit Erfolg.40 Mit Trauer haben weder das Verhalten des Propheten Daniel noch 34

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Jer 16, 6f.; 41, 4f.; 48, 37; dazu Silvia Schroer: Trauerriten und Totenklage im Alten Israel, in: Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte (Forschungen zum Alten Testament, 64), hg. v. Angelika Berlejung/Bernd Janowski, Tübingen 2009, S. 299–321, hier S. 303. Lev 19, 28: „Ihr sollt euch am Leibe nicht Einschnitte machen um eines Toten willen.“ Lev 21, 5 wird dies den Priestern, Dtn 14, 1 allen Kindern des Herrn verboten; s. dazu Schroer 2009 (wie Anm. 34), S. 311–315. Ilias 1, 244: die Brust zerkratzen; dazu Homer: Ilias, übertr. v. Raoul Schrott, komm. v. Peter Mauritsch, München 2008, S. 532; ferner Ilias 2, 704 u.ö. Schroer 2009 (wie Anm. 34), S. 309f. (mit Bildbeispielen), zu Ägypten und dem Zweistromland ebd., passim. Kutsch 1965 (wie Anm. 33), S. 37 (im Wiederabdruck S. 90) schlägt vor, Trauerbräuche und Selbstminderungsriten unter dem Oberbegriff ‚Minderungsriten‘ zusammenzufassen. Doch sind Lebensäußerungen einschränkender Riten wie sich Verhüllen, das Saq-Tragen, Staub-auf-sein-Haupt-Streuen auch dann Selbstminderungsriten, wenn sie durch einen Trauerfall veranlasst wurden. Um einen Selbstminderungsritus handelt es sich auch, wenn die betreffende Person durch andere dazu gedrängt wurde, ihn zu vollziehen. Daher ist es sinnvoll, ‚Selbstminderungsriten‘ als Oberbegriff auch für die einschränkenden Trauerbräuche beizubehalten. Dan 10, 1–12; dazu Ernst Kutsch: anava (‚Demut‘). Ein Beitrag zum Thema ‚Gott und Mensch im Alten Testament‘ (Habil. masch.), Mainz 1960, S. 25–27; Kutsch 1965 (wie Anm. 33), S. 29 (im Wiederabdruck S. 82).

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das Benhadads und seiner Diener etwas zu tun41, weshalb die Übersetzung des Begriffs ‚Saq‘ mit ‚Trauergewand‘ (so die Zürcher Bibel) irreführend ist. Ergänzt und verstärkt wird das Tragen des Saq im vorliegenden Fall durch das Anlegen von Stricken um den Kopf, womit offenbar eine Selbstfesselung, das Annehmen eines Gefangenenstatus, demonstriert werden sollte.42 Einen Saq trug auch David, als das aus seiner Verbindung mit Bathseba hervorgegangene Kind sterbenskrank wurde. „David suchte [den] Gott wegen des Knaben [d.h., er holte ein Orakel ein, ob das Kind gesund werde], er fastete, ging hinein und verbrachte die Nacht im Saq auf der Erde liegend.“43 Als aber das Kind gestorben war, änderte er sogleich sein Verhalten, „wechselte seine Gewänder [d.h., er zog sich frische Kleidung an], ging in das Haus Abb. 5: Wolfcoz-Psalter, Davids Reue, 820–830 (ZüJahwes und fiel nieder. Dann ging er in rich, Zentralbibliothek, Ms. C 12 [als Dauerleihgabe sein Haus, ließ sich Speise vorsetzen in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen], fol. 53r) und aß.“44 Mit dem Fasten und dem Anlegen des Saq war er keinem Trauerbrauch gefolgt; schließlich war das Kind zu dem Zeitpunkt noch nicht tot. Als die Diener David nach dem Grund seines ihnen unverständlichen Verhaltens fragten, antwortete er: „Solange das Kind noch lebte, fastete und weinte ich, weil ich dachte: Wer weiß, vielleicht ist Jahwe mir gnädig und das Kind bleibt am Leben.“45 David hatte also – vergeblich – gehofft, durch seine Selbstdemütigung vor Gott den Tod des Kindes verhindern zu können. Seine Selbstminderungsriten bestanden aus dem Tragen des Saq, Fasten, Verzicht auf Körperpflege und Auf-der-Erde-Liegen. Die Miniatur im Wolfcoz-Psalter (Sankt Gallen, 820–830; Abb. 5)46 steht am Ende von 40 41 42 43 44 45

1 Kön 20, 30–34. Zu dem Aramäerkönig Benhadad und seinem Verhalten s. Kutsch 1965 (wie Anm. 33), S. 30 (im Wiederabdruck S. 83). Vgl. hingegen hier Anm. 7 die Erklärung des Verhaltens der Bürger von Brescia, die sich Stricke um den Hals (nicht etwa um den Kopf!) legten. 2 Sam 12, 16; übers. nach Kutsch 1965 (wie Anm. 33), S. 28 (im Wiederabdruck S. 81). 2 Sam 12, 20; übers. nach Kutsch ebd. 2 Sam 12, 22; übers. nach Kutsch ebd.

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Psalm 50, bezieht sich auf dessen Überschrift: „[…] Psalmus David cum venit ad eum Nathan quando intravit ad Bethsabee“ („[…] Ein Psalm Davids. Als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er mit Bathseba geschlafen hatte“) und damit auf die Geschichte, von der eben die Rede war (2 Sam 11, 1–12, 25). Das Bild zeigt David kniend, mit betend ausgestreckten Händen, jedoch nicht im Saq. Gemeint ist die Situation unmittelbar nach Nathans Strafrede, auf die David mit dem Schuldeingeständnis reagiert: „Ich habe gegen den Herrn gesündigt“ (2 Sam 12, 13a).47 David trägt Schuhe, Kopfband, ein mit blauen Zierstreifen besetztes Gewand und, seiner inneren Erregung gemäß, ein wild flatterndes rotes Pallium. Sein nimbiertes Haupt ist durch die zentrale Stellung und durch die von oben mit der Hand Gottes hereinbrechende graublaue Lichtbahn hervorgehoben. Zentrales Bildthema ist Davids Gebeugtsein unter der Hand Gottes. Dieser inhaltlichen und formalen Verdichtung dienen auch die heftig ausgreifenden großen Hände: diejenigen Davids (übrigens zwei rechte), die zu einem Altar hin ausgestreckt sind, jene Nathans, die auf die Hand Gottes weisen („Nathan sprach zu David: ‚So hat auch der Herr deine Sünde vergeben; du wirst nicht sterben‘“ [2 Sam 12, 13b]), und die Hand Gottes selbst oben in der Mitte, die das Geschehen dominiert und dem König antwortet. Der Sankt Galler Buchmaler kannte wahrscheinlich eine nicht erhalten gebliebene byzantinische Darstellung von Davids Reue. In den erhaltenen östlichen Bildern dieser Szene erscheint David stets niederkniend und tief gebeugt im vollen königlichen Ornat, niemals im Saq.48 Das Bild im Wolfcoz-Psalter lässt, im Vergleich zu diesen byzantinischen Miniaturen, um der Konzentration auf Davids Selbstminderungsritus willen den thronenden König David49 und andere Figuren wie den Engel archestrategos (Oberfeldherr des Heeres Gottes), Bathseba und die Personifikation der metanoia (Reue) weg; die Architektur, auf die sich metanoia unter anderem im Pariser Psalter50 stützt, wurde in einen mit Stoffen umhängten

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Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 12, fol. 53r; von Euw 2008 (wie Anm. 32), S. 324–326, Nr. 32, Abb. 84–90. Der Wolfcoz-Psalter kam im Jahr 2006 als Leihgabe auf unbestimmte Zeit wieder in die Stiftsbibliothek Sankt Gallen zurück. Wegen des Altars, den David berührt, könnte auch an die Szene 2 Sam 12, 20, die ja im Haus des Herrn spielt, gedacht werden, doch ist es, unter anderem wegen der Gegenwart Nathans, weit wahrscheinlicher, dass hier Davids Schuldbekenntnis und Nathans bzw. Gottes Antwort darauf vorliegt. Ebendiese Bildszene ist auch in der byzantinischen Bildtradition verankert. Zusammenstellung byzantinischer Bilder von Davids Reue bei Georg Kauffmann: Der karolingische Psalter in Zürich und sein Verhältnis zu einigen Problemen byzantinischer Psalterillustration, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, XVI, 1956, S. 65–74 (mit Abbildungen auf Taf. 24–28). In der Handschrift der Homilien Gregors von Nazianz, Paris, Bibliothèque nationale de France (BNF), ms. grec. 510 (Konstantinopel, 880–883), fol. 143v, im obersten Register ist in einem entsprechenden Bild David ebenfalls nur einmal, auf beiden Beinen kniend, dargestellt; hinter seinem leeren Thron beobachtet ihn Bathseba; Henri Omont: Miniatures des plus anciens manuscrits grecs de la Bibliothèque Nationale du VIe au XIVe siècle, Paris 1929, Taf. XXXIII; Kauffmann 1956 (wie Anm. 48), Taf. 27, Abb. 12. Paris, BNF, ms. grec. 139 (Konstantinopel, frühes 10. Jh.), fol. 136v; Omont 1929 (wie Anm. 49),

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Altar verwandelt, weil man sich in Sankt Gallen ein Knien des Königs vor Gott nicht anders als in einer Kirche vorstellen konnte. Im Saq und auf der Erde liegend wurde König David niemals, weder im Osten noch im Westen, bildlich vergegenwärtigt. Der Liber ad honorem Augusti der Berner Burgerbibliothek, Cod. 120 II, eine Bilderchronik, die von der staufischen Eroberung des Königreichs Sizilien handelt, ist das 1195–1197 entstandene Autorenexemplar von Petrus de Ebulo, das somit zeitlich sehr nah an den berichteten Ereignissen, dem sizilischen Feldzug Heinrichs VI. und dem Sieg der Staufer Ende 1194, liegt. Die 53 Bildseiten weisen eine Fülle dargestellter Selbstminderungsriten auf. Herausgegriffen sei die Bildszene der ersten Begegnung der Kaiserin Konstanze mit dem Usurpator Tankred von Lecce (Abb. 6).51 Dem Miniator ist daran gelegen, die imperiale Gestalt der Kaiserin gegenüber dem mickrigen Tankred mit bildnerischen Mitteln hervorzuheben. Dies geschieht durch ihre Insignien, Krone und Reichsapfel, vor allem aber durch ihre Übergröße und auch dadurch, dass ihre Dienerin, unmittelbar hinter ihr, ihre beiden Hände entsprechend dem Hofzeremoniell verhüllt hat. Diese in der Nähe des Kaisers und der Kaiserin geforderte Verhüllung gehört, weil die eigenen Hände dabei als unrein angesehen werden, zu den Selbstminderungsriten. Dasselbe Phänomen war bereits bei den Heiligen Drei Königen Abb. 6: Liber ad honorem Augusti, Detail, Empfang der im Egbert-Evangelistar (Abb. 3) zu Kaiserin Konstanze bei Tankred von Lecce, 1195–1197 beobachten gewesen. (Bern, Burgerbibliothek, Cod. 120 II, fol. 120r) Vor dem Bild der Anbetung der Könige kommt in dieser Handschrift das des Bethlehemitischen Kindermords (Abb. 7). Es ist der Perikope zum Tag der Unschuldigen Kinder (28. Dezember; Mt 2, 13–18) vorangestellt. Die Mütter beklagen in „Bethleem“ ihre ermordeten Knaben (Mt 2, 18). Sichentblößen, Sich-die-Haare-Raufen, Barfüßigkeit, Auf-die-Erde-Knien, Sein-GesichtBedecken, hier als unmittelbare Reaktion auf die grausam herbeigeführte Katastrophe in einer Gruppe von vier Müttern zusammengefasst, sind bereits aus dem Alten Testament bekannte Gebärden, die der erfahrenen Minderung Ausdruck geben. Oben streckt

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Taf. VIII; Kauffmann 1956 (wie Anm. 48), Taf. 24, Abb. 2. Hinter David wurde Bathseba offenbar weggeschnitten; dazu Omont 1929 (wie Anm. 49), S. 8 (zu Taf. VIII). Petrus de Ebulo, ed. Kölzer/Stähli, 1994 (wie Anm. 25), S. 134f. (Kommentar und Abbildung).

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eine der Frauen bittend, die andere klagend die Arme aus. Nur an dieser Stelle und in dieser Extremsituation treffen wir im Egbert-Evangelistar eine Frau barfuss an. Ihre Gebärden, fraglos durch Trauer motiviert, kommen im Mittelalter – und im Alten Testament – auch in Zusammenhängen vor, die nicht von Trauer bestimmt sind.52 Jesus und seine Jünger haben stets nackte Füße. Die Barfüssigkeit kommt ihnen nicht etwa zu, weil sie als engelgleiche Wesen leichten Fußes über die Erde schweben würden. Sie ist vielmehr Ausdruck ihrer Demut. Ihre Barfüssigkeit entspricht dem christlichen Verständnis der Inkarnation und ist daher unverzichtbar. Der Menschensohn kommt auf die Erde und erniedrigt sich selbst. Seine Jünger folgen ihm auch hierin nach. Im FußwaschungsAbb. 7: Egbert-Evangelistar, Der Bethlehemitibild des so genannten Evangeliars Ottos sche Kindermord, vor 993 (um 985–990) (Trier, III. (Reichenau, 1004 oder etwas später; Stadtbibliothek, Cod. 24, fol. 15v) Abb. 8)53 bindet oder, wahrscheinlicher, löst nur der geduckte Jünger ganz rechts, wohl Judas54, der seinen Kopf zwischen die Schultern gezogen hat, die Riemen, die dazu gedacht sind, eine Sandale festzuhalten. Nur der Verräter trägt Sandalen, weil ihm die Demut, die den wahren Jünger Jesu aus-

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Beispiele für Entblößung als Selbstminderungsritus s. hier Anm. 7. München, Bayerische Staatsbibliothek (BSB), Clm 4453, fol. 237r; zur Datierung Ulrich Kuder: Die Ottonen in der ottonischen Buchmalerei. Identifikation und Ikonographie, in: Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen, 46), hg. v. Gerd Althoff/Ernst Schubert, Sigmaringen 1998, S. 137–234, hier S. 140, Nr. 16, S. 193–197; Gude Suckale-Redlefsen: Das zerkratzte Antlitz. Das Herrscherbild in der Bamberger Flavius-Josephus-Handschrift, in: Hortulus Floridus Bambergensis. Studien zur fränkischen Kunst- und Kulturgeschichte (Renate BaumgärtelFleischmann zum 4. Mai 2002), hg. v. Werner Taegert, Petersberg 2004, S. 345–362, hier S. 358 und Ulrich Kuder: Besprechung von Elisabeth Klemm, Die ottonischen und frühromanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Journal für Kunstgeschichte, X, 2006, S. 125–132, hier S. 130–132. Aus stilgeschichtlichen Gründen muss der Clm 4453 einerseits später datiert werden als das Tropar und Sequentiar, Bamberg, Staatsbibliothek (SB), Msc. lit. 5 (Reichenau, zwischen Ende 1000 und Januar 1002; Gude Suckale-Redlefsen: Die Handschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts der Staatsbibliothek Bamberg [Katalog der illuminierten Handschriften der Staatsbibliothek Bamberg, 1], 1. Teil: Texte, S. 81–85, Nr. 62, 2. Teil: Abbildungen, Abb. 10–15, 307–310), andererseits aber früher als der Clm 4452 (Reichenau, um 1007 oder eher um 1012). Saurma-Jeltsch 2000 (wie Anm. 12), S. 817.

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macht, fehlt. Bestätigt wird das Verständnis des Riemenlösers als Judas durch das Fußwaschungsbild in dem nur wenige Jahre späteren Perikopenbuch Heinrichs II.55, nicht allein, weil auch dieses Bild nur dem Jünger rechts außen Fußriemen gegeben hat, sondern vor allem, weil dort im Abendmahlsbild darüber sich wiederum nur am Fuß des Verräters ein Riemen abzeichnet. Anders als bei der Fußwaschung des Aachener Liuthar-Evangeliars (Reichenau, um 990)56, wo Petrus beide Beine nach vorn ausstreckt, hat er im so genannten Evangeliar Ottos III. sein rechtes Bein angewinkelt, sein linkes aber so hochgezogen, dass es, als ob der Oberschenkel fehlen würde oder zumindest stark ausgedünnt wäre, dem Körper gegenüber isoliert erscheint. Diese ungewöhnliche Gestaltung Petri erklärt sich durch die Annahme, dass sein Sitzen auch ein Knien vor Christus einschließt. Zunächst wollte er ja nicht dulden, sich von seinem Herrn die Füße waschen zu lassen (Joh 13, 6–8). In derselben Handschrift, zwischen den Kanontafeln und den Evangelien, auf zwei einander gegenüberliegenden Seiten, huldigen die vier Personifikationen „Roma“, „Gallia“, „Germania“ und „Sclauinia“ dem Herrscher, indem sie ihm kostbare Gaben darreichen (Abb. 11).57 Diese Komposition geht auf die etwas ältere mit „Italia“, „Germania“, „Gallia“ und „Sclavania“ auf dem einer Handschrift von De bello Iudaico des Flavius Josephus nachträglich vorgebundenen bzw. -geklebten Doppelblatt (Reichenau, kurz vor 1002; Abb. 10)58 zurück.59 Der Herrscher, dem die „Repräsentantinnen von vier tributpflichtigen Völkerschaften“60 auf dem Josephus-Doppelblatt huldigen, war ursprünglich Otto III. und wurde in „Hei[nric]hus“ umbenannt. Auf beiden Bildern sind die vier Personifikationen barfuss.61 Während sie sich jedoch auf dem Josephus-Doppelblatt dem Herr55

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München, BSB, Clm 4452 (Reichenau, um 1007 oder eher um 1012), fol. 105v; Hermann Fillitz/ Rainer Kahsnitz/Ulrich Kuder: Zierde für ewige Zeit. Das Perikopenbuch Heinrichs II. (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge, 63), Lachen am Zürichsee 1994, Taf. 24. Aachen, Domschatz, Liuthar-Codex, pag. 440 (fol. 220v); Ernst Günther Grimme: Das Evangeliar Kaiser Ottos III. im Domschatz zu Aachen, Freiburg/Basel/Wien 1984, Taf. auf S. 74; Saurma-Jeltsch 2000 (wie Anm. 12), S. 817, Abb. 529; zur Datierung Kuder 1998 (wie Anm. 53), S. 138, 162–190. München, BSB, Clm 4453, fol. 23v–24r; zur Handschrift s. hier Anm. 53. Bamberg, SB, Msc. Class. 79, fol. 1v–1ar; Bernd Schneidmüller: Otto III. – Heinrich II. Wende der Königsherrschaft oder Wende der Mediaevistik?, in: Otto III. – Heinrich II. Eine Wende? (Mittelalter-Forschungen, 1), hg. v. Dems./Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1997, S. 9–46, Farbtaf. 4f.; Suckale-Redlefsen 2004 (wie Anm. 53), Abb. 1; zur Datierung ebd., S. 358. Suckale-Redlefsen, ebd., S. 358 traut dem Maler des Josephus-Doppelblattes nicht „die Erfindung der neuen Bildlösung“ zu, „d.h. die Einführung der beiden Erzbischöfe als Repräsentanten des ottonischen Reichskirchensystems gegenüber der Weltlichkeit sowie die Anordnung der gabenbringenden Personifikationen auf einer separaten Seite.“ Demnach wäre eine verschollene Bildvorlage zu postulieren, die die ‚neue Bildlösung‘ enthielt und die der Maler des Josephus-Doppelblattes benutzt hat. Meines Erachtens ist diese Annahme überflüssig. Warum sollte jener Maler unfähig gewesen sein, zu erfinden, was er gemalt hat? Ebd., S. 345. Die Personifikationen von Städten im Kalender von 354 tragen in der Regel Schuhe oder Sandalen; Henri Stern: Le Calendrier de 354. Études sur son texte et ses illustrations, Paris 1958, Taf. II.1,

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scher mit bloßen Händen nähern, hat im so genannten Evangeliar Ottos III. die vorderste, „Roma“, ihre Hände verhüllt. Außerdem ist ihr linker Unterschenkel, ähnlich demjenigen Petri im Fußwaschungsbild (Abb. 8), vom Körper abgesetzt, als ob er sich selbständig gemacht und nach vorn geschoben hätte. Die vier gekrönten und vornehm gekleideten Frauen gehen auf dem Josephus-Doppelblatt aufrecht, im so genannten Evangeliar Ottos III. hingegen mit gebeugtem Rücken und abgeknickten, im Gehen auch ein Knien darstellenden Beinen. Somit lässt sich bei den Repräsentantinnen vom Josephus-Doppelblatt zum so genannten Evangeliar Ottos III. eine Steigerung der von ihnen vorgenommenen Selbstminderung feststellen. Der Vergleich mit dem etwas älteren Einzelblatt in ChantilAbb. 8: So genanntes Evangeliar Ottos III., Fußwaschung, ly, Musée Condé, Nr. 15654 (Trier, 1004 oder wenig später (München, Bayerische StaatsbibGregormeister, 996 oder wenig späliothek, Clm 4553, fol. 237r) ter; Abb. 9)62, dessen Komposition auf der Reichenau bekannt war, ergibt, dass die Tendenz, die Selbstminderung der Personifikationen zu steigern, bereits mit dem Josephus-Doppelblatt einsetzt. Auf dem Chantilly-Blatt halten „Francia“, „Italia“, „Germania“ und „Alamannia“, aufrecht stehend und beschuht, neben dem thronenden Otto III. mit bloßen Händen ihre goldenen Kugeln.

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III.1.2, L.1. Wenn Alexandria (Ebd., Taf. II.2) bloße Füße zu haben scheint, so mag dies daran liegen, dass Nicolas-Claude Fabri de Peiresc beim Kopieren entweder versäumt hat, ihre Sandalen wiederzugeben, oder daran, dass diese in seiner Vorlage schon verblasst und nicht mehr erkennbar waren. Jedenfalls sind barfuss huldigende Personifikationen nicht selbstverständlich. Ihr Vorkommen auf dem Josephus-Doppelblatt und im so genannten Evangeliar Ottos III. weicht vielmehr von den älteren (Codex aureus von Sankt Emmeram, Chantilly-Blatt) und jüngeren Darstellungen (Herrscherbild in der Bamberger Apokalypse) mit beschuhten Personifikationen ab. Zu diesem Blatt und seiner Datierung sowie zur Frage einer möglichen Zusammengehörigkeit oder Nichtzusammengehörigkeit mit dem Gregorblatt in Trier s. Kuder 1998 (wie Anm. 53), S. 138f. mit Anm. 6. Die Personifikationen dieser Miniatur haben entweder die Reihenfolge Francia, Germania, Italia, Alamannia oder Francia, Italia, Germania, Alamannia, je nachdem, ob man der Position von Francia und Germania zur Rechten des Kaisers oder der von Francia und Italia in der vorderen

Mittelalterliche Selbstminderungsriten im Bild

Wie Willy Brandt vor dem Denkmal für die Gefallenen des Ghettoaufstands von 1943 das übliche Kopfneigen für unzureichend hielt im Bewusstsein, hier sei eine andere Qualität der Selbsterniedrigung erfordert, so wurde für das Herrscherbild erst auf der Josephus-Doppelseite, dann aber, in nochmaliger Steigerung, im so genannten Evangeliar Ottos III. die auf dem Chantilly-Blatt wiedergegebene Huldigung der Personifikationen gegenüber dem Herrscher für nicht ausreichend gehalten. Die Erklärung dafür dürfte darin liegen, dass Otto III. kurz vor 1002 von Italia, Germania, Gallia und Sclavania und dass insbesondere Heinrich II. (nicht Otto III.) höhere und umfassendere königliche Ehre (honor regius) einforderte als Otto III. kurz nach seiner Kaiserkrönung (996) von Francia, Italia, Germania und Alamannia. Heinrich II. hat alles getan, die Kontinuität63 der Herrschaft seines „geliebten Vetters“ Otto III. zu seiner eigenen sichtbar zu machen. Er benutzte, um hier nur wenige Mo-

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Abb. 9: Francia, Italia, Germania und Alamannia huldigen Kaiser Otto III., Einzelblatt, 996 oder wenig später (Chantilly, Musée Condé, Nr. 15654)

Reihe größeres Gewicht beimisst. Erklärungsbedürftig sind, in beiden Fällen, die Vorrangstellung der Francia sowie das Erscheinen der Alamannia an letzter Stelle. Beide finden sich weder auf dem Bamberger Josephus-Doppelblatt (Abb. 10) noch auf dem Herrscherbild im Clm 4453 (Abb. 11). Suckale-Redlefsen 2004 (wie Anm. 53), S. 357 möchte in dem Fehlen der „Personifikation der Slawen“ und in der Hervorhebung der Francia „die älteren politischen Verhältnisse“ gespiegelt sehen und vermutet aus diesem Grund, das Chantilly-Blatt stelle Kaiser Otto II. dar. Sie datiert es „vor seinem Tod im Jahre 983“, verzichtet jedoch darauf anzugeben, welche politischen Verhältnisse zur Zeit der Herrschaft Ottos II. sich in der Reihenfolge der Personifikationen und insbesondere in der Voranstellung der Francia spiegeln. Mit Francia und Alamannia können jedenfalls nicht die betreffenden Stammesherzogtümer gemeint sein, die es zur Zeit Ottos II. und Ottos III. nur noch in der Erinnerung gab. Vielmehr verkörpern alle vier Personifikationen, als Repräsentantinnen politischer Mächte, die geistlichen Herren der verschiedenen Regionen, die dem Kaiser dienen. Francia, an erster Stelle, steht für Gerbert, Erzbischof von Reims 991–996, der 996 Otto III. in Rom so beeindruckte, dass dieser ihn schriftlich mit Erfolg bat, sein Lehrer und Berater zu werden, Germania für Willigis, Erzbischof vom Mainz 975–1011, der Otto III. 996 nach Rom begleitete, Italia für Gregor V., Papst 996–999, der ihn dort zum Kaiser krönte, und Alamannia für Gebhard, Bischof von Konstanz 979–995, der ihn 988 und 994 in seinem Bischofsitz empfangen hatte. Heinrich II. „sah sich in der Kontinuität zu seinem Vorgänger“; Schneidmüller 1997 (wie Anm. 58), S. 9 und passim; ebenso Stefan Weinfurter: Otto III. und Heinrich II. im Vergleich. Ein Resümee, in: Otto III. 1997 (wie Anm. 58), S. 387–413, bes. S. 388–396.

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Abb. 10: Italia, Germania, Gallia und Sclavania huldigen Kaiser Otto III., Detail einer Flavius Josephus-Handschrift eingebunden, kurz vor 1002 (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Class. 79, fol. 1v–1ar)

mente, an denen diese Kontinuität deutlich wird, zu notieren, „sofort das unter Otto III. eingeführte kaiserliche Thronsiegel.“64 Das Bild Ottos III. auf dem Josephus-Doppelblatt ließ er, wie wir sahen, mit seinem eigenen Namen versehen und für sein Herrscherbild im so genannten Evangeliar Ottos III., das eigentlich ‚Evangeliar Heinrichs II.’ genannt werden sollte, den Bildtypus seines jugendlichen Vorgängers Otto verwenden. Heinrichs II. Herrschaft unterschied sich von der seines Vorgängers unter anderem durch „eine ungewöhnliche Härte“ in Konflikten, die bereits den Zeitgenossen auffiel.65 Er vertrat einen „Absolutheitsanspruch“ und das Programm einer das Reich lückenlos umfassenden Königsgewalt, die allen Gewalten „im hierarchischen Sinne übergeordnet sein sollte.“66 Erst zwölf Jahre nach dem Antritt seiner Herrschaft wurde er in Rom durch den von Anfang an begehrten honor der Kaiserwürde „und die iura imperii erhöht.“67 Diesem Begehren entsprechend ließ er auf seinem Herrscherbild die erste der auf dem Josephus-Blatt (Abb. 10, Taf. IIb) huldigenden Personifikationen, „Italia“, durch „Roma“ ersetzen. Die 64 65 66 67

Thomas Zotz: Die Gegenwart des Königs. Zur Herrschaftspraxis Ottos III. und Heinrichs II., in: Ebd., S. 349–386, hier S. 366. Gerd Althoff: Otto III. und Heinrich II. in Konflikten, in: Ebd., S. 77–94, hier S. 87. Hubertus Seibert: Herrscher und Mönchtum im spätottonischen Reich. Vorstellung – Funktion – Interaktion, in: Ebd., S. 205–266, hier S. 264, Anm. 317 (nach Stefan Weinfurter). Zotz 1997 (wie Anm. 64), S. 366.

Mittelalterliche Selbstminderungsriten im Bild

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Gruppe der Demütigen wird nunmehr von der ihrerseits gebeugten „Roma“ angeführt. Als Heinrich II. schließlich die Kaiserwürde erlangt hatte, wurde dies, ganz im Sinne der Darstellung in seinem Evangeliar (Abb. 11), als „Beugung“ Roms verstanden: „Ista dies pulchro signetur clara lapillo, / Quia regi nostro se subdit Roma benigno“ („Merkt euch den glanzvollen Tag im Kalender mit leuchtenden Zeichen! Rom hat an ihm sich gebeugt vor unserem gütigen König“).68

Abb. 11: So genanntes Evangeliar Ottos III., Roma, Gallia, Germania und Sclauinia huldigen König Heinrich II., 1004 oder wenig später (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4453, fol. 23v–24r)

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Thietmar von Merseburg, ed. Trillmich, 1966 (wie Anm. 22), S. 350f., Z. 31f. (im Prolog zu Buch VII). Ähnlich wie im Herrscherbild des Clm 4453 wird, zu einer Zeit, als Heinrich II. noch nicht Kaiser war, im Preislied auf Bamberg von Gerhard von Seeon der Anspruch Heinrichs II. deutlich, Rom zu überflügeln. Erst begehrt er mit Bamberg, seiner Gründung, eine Burg, die derjenigen Roms gleich ist („Arcem Romanam se gestit habere coaequam“), dann aber ist die Tochter, Bamberg, größer als die alten Mütter („Matribus ut priscis sit filia maior“), schließlich ist nicht etwa Rom, sondern Bamberg das Haupt der Welt und in Bamberg hat aller Ruhm seinen Grund („Haec caput est orbis, hic gloria conditur omnis“); Die lateinischen Dichter des deutschen Mittelalters, Bd, V: Die Ottonenzeit (Monumenta Germaniae Historica. Poetae latini medii aevi, 5), hg. v. Karl Strecker/Gabriel Silagi, Leipzig/Berlin 1937–1979, S. 398, Z. 23, 31, 47.

Sankt Martin oder: Die Schönheit des Heiligen* Walter Berschin

Geboren im pannonischen Sabaria (Stein am Anger) ist Martin in Pavia aufgewachsen. Als Sohn eines Soldaten, der es bis zum Tribun brachte, wurde er, mit 15 Jahren und gezwungenermaßen, zunächst ebenfalls Soldat, wie sein Biograph Sulpicius Severus schreibt.1 Schon seit seinem zehnten Lebensjahr hatte er sich – anders als seine Eltern – für das Christentum interessiert, blieb aber bis zu seinem 18. Lebensjahr Katechumene. Als solcher vollbrachte er seine erste christliche Großtat, die Mantelteilung2: Einmal als er schon nichts mehr als die Waffen und einen einfachen Soldatenrock hatte, begegnete ihm mitten im Winter, der ungewöhnlich rauh war, so daß viele der eisigen Kälte erlagen, am Stadttor von Amiens ein nackter Armer. Der flehte die Vorübergehenden um Erbarmen an. Aber alle gingen an dem Unglücklichen vorbei. Da erkannte der gotterfüllte Mann, daß jener ihm vorbehalten sei, weil die anderen kein Erbarmen übten. Doch was tun? Er hatte nichts als den Soldatenmantel, den er umgeworfen, alles übrige hatte er schon für ähnliche Zwecke verwendet. Er zog also das Schwert, mit dem er gegürtet war, schnitt den Mantel mitten durch und gab die eine Hälfte dem Armen, die andere legte er sich selbst wieder um. Da fingen manche der Umstehenden an zu lachen, weil er ihnen hässlich in seinem zerstückelten Gewand vorkam [...]

„[…] quia deformis esse truncatus habitu videbatur.“ Mit einem einzigen Wort wird in diesem Text die äußere Erscheinung des Helden beschrieben. Deformis ist das Gegenteil von formosus oder pulcher, eben „hässlich.“ Das starke Wort deformis taucht wieder auf bei der Schilderung des nächsten Wendepunkts in Martins Leben, seiner Wahl zum Bischof von Tours. Da traten Gegner auf, „die sagten, er sei eine verächtliche Person […] nämlich ein Mensch mit abscheulichem Gesicht, schmutzigem Gewand und hässlichem Haar.“3 * Veränderte und z.T. erweiterte Fassung von Walter Berschin: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. V: Kleine Topik und Hermeneutik der mittellateinischen Biographie, Stuttgart 2004, S. l04–l06. 1 Sulpicius Severus: Vita S. Martini, c. 2. Die maßgebende Ausgabe der Martinsvita in allen ihren sieben Teilen ist diejenige von Carolus Halm: Sulpicii Severi libri qui supersunt, Wien 1866. Jacques Fontaine hat unter dem Titel Sulpice Sévère: Vie de saint Martin in drei Bänden die ersten vier Teile der Martinsvita lateinisch/französisch publiziert (Vita + Epistulae de vita S. Martini, I–III), Paris 1967–1969; dann unter dem Titel Sulpice Sévère: Gallus, Paris 2006, die restlichen drei Texte (Dialogi de vita S. Martini, I–III). 2 Vita S. Martini, c. 3; Übersetzung nach Pius Bihlmeyer, in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. XX, Kempten/München 1914, S. 22; weitere deutsche Übersetzungen: Wolfgang Rüttenauer: Das Leben des heiligen Martin, Freiburg i.Br. 1940, und Kurt Smolak: Sulpicius Severus: Leben des heiligen Martin, Eisenstadt 1997. 3 Diese Gegner waren Bischöfe: „Pauci tamen et nonnulli ex episcopis, qui ad constituendum antistitem fuerant evocati, impie repugnabant dicentes scilicet contemptibilem esse personam, indignum

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Mit dieser fast demonstrativen Vernachlässigung seiner äußeren Erscheinung steht Martin (gest. 397) zu seiner Zeit und in seiner Welt ziemlich allein. Sebastian, Leibgardist unter Kaiser Diokletian, tritt glanzvoll in seinem Soldatenmantel auf4; Agnes ist „schön von Angesicht, aber schöner noch durch ihren Glauben“5, der Bischof Epiphanius von Pavia (gest. 496) ist als achtzehnjähriger ein schöner Mann, dessen „männliche Eleganz“ sogar an der Stimme zu bemerken ist.6 Das Mittelalter hindurch ließe sich die Reihe der schönen Männer verfolgen7, die als Heilige dargestellt wurden (bei den Frauen waren die Hagiographen meist vorsichtiger und betonten – nach dem Vorbild der Agnespassion – rasch, dass sie schöner noch als von Angesicht in ihrer Seele waren). Der heilige Goldschmied Eligius ist „von hoher Gestalt, rötlichem Antlitz, schöner Haartracht mit Locken“, hat „feine Hände und lange Finger“8; diesem Klassiker merowingischer Biographie folgt Arbeo von Freising bei der Schilderung des Missionsbischofs Emmeram von Regensburg.9 Nach Jonas von Bobbio ist auch der irische Bußprediger Columban (gest. 615) in jungen Jahren ein schöner Mann.10 Mit dem römischen Adelsspross Hadrian I.‚ dem Freund Karls des Großen, beginnt die Reihe schöner Männer auf dem Papstthron (772–795).11 Papst Nikolaus I. (858–867), dem es gelingt, aus der Ehescheidung eines Karolingers eine das Reich erschütternde Affäre zu machen, ist – nach dem Liber pontificalis – schon der dritte Schönling auf dem Throne Petri. Die ottonische Biographie hat wiederum Freude am Kontrast. Brun von Köln (gest. 965), der Bruder Ottos des Großen, hat „anmutige Züge“, trägt aber betont einfache Kleidung inmitten kirchenfürstlichen Gepränges.12 Bischof Adalbero II. von Metz (gest.

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esse episcopatu hominem vultu despicabilem, veste sordidum, crine deformem“; Vita S. Martini, c. 9; Sulpicius Severus, ed. Halm, 1866 (wie Anm. 1), S. 119. Passio S. Sebastiani, c. 2 (Vorstellung sub chlamyde terreni imperii), c. 23 (große Rede indutus chlamyde, succinctus baltheo), c. 85 (Martyrium sub chlamyde); Acta Sanctorum Ian., Bd. II, Antwerpen 1643, S. 265, 268 und 278. Die Passio stammt aus dem 5. oder frühen 6. Jh. „Pulchra facie, sed pulchrior fide“; Passio S. Agnetis, c. 1; ebd., S. 351. Diese Passio stammt noch aus dem 4. Jh. Ennodius von Pavia: Vita beatissimi Epifani episcopi Ticinensis (Monumenta Germaniae Historica [MGH]. Auctores antiquissimi, 7), hg. v. Fridericus Vogel, Berlin 1885, S. 84–109, hier S. 86. Eine Reihe merowingischer Schönheitsbeschreibungen stellte Graus zusammen; František Graus: Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger, Prag 1965, S. 463–468. „Statura prolixus et facie rubicundus; gerebat caesariem formosam et crinem quoque circillatam; manus habebat honestas et digitos longos […]“; Audoin von Rouen: Vita S. Eligii, I, 12 (MGH. Scriptores rerum Merovingicarum, 4), hg. v. Bruno Krusch, Hannover/Leipzig 1902, S. 678. Arbeo: Vita S. Haimhrammi, c. 2; Arbeonis episcopi Frisingensis Vitae Sanctorum Haimhrammi et Corbiniani, hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1920, S. 28. „Formae elegantia“; Ionas: Vita S. Columbani, I, 3; Ionae Vitae Sanctorum, hg. v. Bruno Krusch, Hannover/Leipzig 1905, S. 155. „Elegans et nimis decorabilis persona“; Liber pontificalis, Vita Hadriani, c. 1; Le Liber pontificalis, hg. v. Louis Duchesne, Bd. I, Paris 1886, S. 486. „Liniamentorum gratia“; Ruotger: Vita domni Brunonis, c. 2; Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno von Köln, hg. v. Irene Ott, Köln/Graz 1952, S. 3; dazu die Kontrastschilderung des im

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1005) ist „in seiner körperlichen Erscheinung schöner als alle seine Zeitgenossen, von anmutiger Gestalt, schicklicher Form, mit überaus freundlichen Augen, mittlerer Nasenform und weiß in seinem Haar, das dünn und glatt“ ist. Von der Veranlagung her ist er „korpulent.“13 Hier kommt also einmal ein schöner dicker Mann vor. Bruno von Toul, später Papst Leo IX. (1048–1054), zeigt als Neugeborener eine auffällige Hautzeichnung, wird aber dann doch ein schöner Mann.14 Auch im Bild eines Abts kann man die epochentypische Spannung finden. Odilo von Cluny (gest. 1049) „war von mittlerer Statur; sein Gesicht voll Autorität und Anmut zeigte sich gegenüber den Sanften heiter und gewinnend, gegenüber den Hochmütigen und Unwilligen aber so schrecklich, daß man es kaum ertragen konnte.“15 Schöne Heilige des hohen Mittelalters können etliche genannt werden16: Jutta von Disibodenberg (gest. 1136), die Lehrerin Hildegards von Bingen, der Pommernmissionar Bischof Otto von Bamberg (gest. 1139), der ‚Gregorianer‘ Theotonius von Coimbra (gest. 1162), der Zisterzienserabt Aelred von Rievaulx (gest. 1167), Thomas Becket von Canterbury (gest. 1170). Ist die im lateinischen Westen so weit verbreitete, so oft zitierte und imitierte Martinsvita des Sulpicius Severus im Punkte der deformitas eines Heiligen also ohne Nachfolge geblieben? So scheint es – jedenfalls im Zeitraum bis 1220 – zu sein. Die Darstellung des „hässlichen“ Martin hat sogar explizit Widerspruch hervorgerufen in der spätkarolingischen Vita S. Hathumodae des Agius von Corvey. Demnach wurde im Jahr 874 die junge Äbtissin Hathumod von Gandersheim kurz vor ihrem Tod „von wunderbaren und ihr früher unbekannten Träumen beunruhigt“, die sie ihrem Bruder erzählte. Es war das Jahr, in dem, wie die Annalen von Fulda berichten, in Germanien und Gallien fast ein Drittel der Menschen von Hunger und Krankheit dahingerafft wurde. Auch in Gandersheim lag ein Teil des Konvents im Sterben. Die junge Äbtissin sah „im Traum ein großes Feld, das in verschiedenen Frühlingsblumen prangte […] sah auch fast alle ihre Mitschwestern, die in jugendlichem Alter standen. Als sie sich an diesem schönen und ergötzlichen Anblick freute, war es ihr, als ginge alles plötzlich in Flammen auf.“ Sie rief Christus und den von ihr besonders verehrten Martin zu Hilfe. „Da kam ihr unverzüglich eine hellglänzende Erscheinung von wunderbarer Schönheit entgegen, die sagte, durch ihre Verdienste und Fürbitte werde der Brand gelöscht […].“17 Die schöne Erscheinung war der heilige Martin.

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Schafspelz „inter purpuratos ministros et milites suos auroque nitidos“ einhergehenden Erzbischofs in c. 20, S. 31. „Corpore plus cunctis sui temporis venustus, statura decorus, forma elegans, oculis amantissimus, nasu mediocris, capillis albus, et ipsis raris et planis, ex genere corpulentus […]“; Konstantin von St. Symphorian: Vita Adalberonis, c. 10 (MGH. Scriptores, 4), hg. v. Georgius Heinricus Pertz, Hannover 1841‚ S. 661. Wibert von Toul (?): Vita S. Leonis IX. papae; La vie du pape Léon IX, hg. v. Michel Parisse/Monique Goullet, Paris 1997. Iotsald: Vita (I) S. Odilonis, I, 4; Iotsald von Saint-Claude, Vita des Abtes Odilo von Cluny, hg. v. Johannes Staub, Hannover 1999, S. 152. Nachweise in Walter Berschin: Biographie und Epochenstil, Bd. IV/2, Stuttgart 2001‚ passim. Agius: Vita S. Hathumodae, c. 13; MGH. Scriptores, 4 (wie Anm. 13), S. 172.

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Ein schöner heiliger Martin ist kein Problem für den modernen Betrachter. Was vom Bassenheimer Reiter über die gotischen Martinsfiguren bis zu den Umzügen am 11. November an Martinsgestalten entgegenkommt, ist schön oder zumindest ansehnlich: das Pferd, die Rüstung, der junge Soldat mit dem guten Herzen. Das war im Jahr 874 noch anders. Ein zweiter Traum musste der Zweifelnden und den Zweifelnden die Gewissheit bringen, dass Martin wirklich ein schöner Mann war. „Denn als eines Tages einige Schwestern an ihrem Bette saßen, rief sie [die kranke Äbtissin] plötzlich, der heilige Martin wäre da und ginge auf dem Pflaster hin und her, und sie forderte die Sitzenden auf, sich vor ihm zu erheben und ihm ihre Freude zu zeigen; es täuschten oder würden getäuscht die, die ihn ‚häßlich‘ genannt hätten, wie man in seiner Lebensbeschreibung liest. Sie habe noch nie etwas so Schönes gesehen.“18 Die Visionen der sächsischen Grafentochter Hathumod führten freilich nicht dazu, dass man Sulpicius Severus umschrieb. Eine Martinsvita, die man um 1200 in St. Gallen auf die Rückseite des St. Galler Klosterplans (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 1092) schrieb19, zeigt‚ dass die spätere Martinslegende tendenziell (nicht sprachlich) durchaus auf der Linie des spätantiken Autors bleiben konnte. Auf der Schlussseite des Textes20 steht folgende erbauliche Geschichte: uadam itaque die Martinus ad beatum Ambrosium antistitem casu pervenit. Erat etenim Ambrosius personatus ac vultu venerabilis; Martinus vero statura pusillusa erat. Porro cum digne sollemne incessioneb receptus fuisset, Ambrosius dei hominem orantem diligentius respiciens tacitus in corde suo admirans ait: ‚Mirabilis deus in sanctis suis‘, qui tantam gratiam et virtutem huic humili persone conferre dignatus es. Conversus Martinus dixit illi: Ambrosi frater, quid est quod loqueris? En quidem pauper sum et modicus, veroc tu non. possumus esse gigantes, quo ‚dominus fecit nos et non ipsi nos.‘ Ille prostravit se pedes eius. O, inquit, sanctissime hominum‚ ignosce mihi, ignosce. Tu en nosti corda hominum. Tunc vir discrecione plenissimus allevavit eum dicens: Noli de cetero iudicare. a

pussillus Ms.

b

ī cessiene Ms.

c

Ců . Ms.

Eines Tages kam Martin zufällig zum seligen Bischof Ambrosius. Nun war Ambrosius eine Persönlichkeit und von ehrwürdigem Angesicht; Martin aber war kleingestaltet. Als da [Martin] würdig mit einem feierlichen Einzug empfangen worden war, betrachtete Ambrosius den betenden Mann Gottes sorgfältiger und sagte zu sich still in seinem Herzen: ‚Wunderbar ist Gott in seinen Heiligen‘ (Ps 67, 36), der dieser bescheidenen Person so viel Gnade und Wunderkraft hat verleihen wollen. Martin wandte sich um und sagte: Bruder Ambrosius, was sprichst du da? Ich bin ein armer und bescheidener Mensch, anders du. Wir können nicht [alle] Riesen sein, ‚denn der Herr hat uns gemacht, und nicht wir uns selbst‘ (Ps 99, 3). Jener warf sich ihm zu seinen Füßen und

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„Fallere eos vel falli, qui eum deformem, ut in vita eius legitur, dixissent: nihil se umqam tantae pulchritudinis vidisse“; Vita S. Hathumodae, c. 14; ebd. Paul Lehmann: Eine Martinsvita vom karolingischen Bauplan des Klosters St. Gallen, in: Mélanges J. de Ghellinck, Bd. II, Gembloux 1951, S. 745–751. Diese Schlussseite des Martinstextes steht auf der Vorderseite des Plans. Sie ist mit Reagenzien in dieser Partie bearbeitet. Edition nach dem Faksimile des Klosterplans, hg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 21983. u/v-Schreibung, Worttrennung, Groß- und Kleinschreibung sowie Interpunktion sind normalisiert. Frühere Ausgabe Lehmann 1951 (wie Anm. 19), S. 751.

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sagte: Verzeih mir, verzeih, du heiligster der Menschen. Du kennst ja die Herzen der Menschen. [Martin,] der Mann, der in hohem Maß die Gabe der Unterscheidung besaß, hob ihn empor und sprach: Also urteile nicht mehr.

Hier ist das deformis des Sulpicius transponiert in pusillus, humilis und modicus; ein Teil des ursprünglichen Martinsbildes ist bewahrt. Auch Iacobus de Voragine, der mit seiner Legenda aurea das Heiligenbild des Spätmittelalters prägt, behält das alte Bild teilweise bei. Bei seiner Erzählung der Mantelteilung kommt deformis nicht vor.21 Wohl aber bei der Bischofswahl22: „Etliche aber von denen, die da versammelt waren, widerredeten seiner Wahl, weil er häßlich sei von Gebärde und garstig von Angesicht.“ Letzten Endes aber wird – jedenfalls in einer Erscheinung – aus Martin ein „schöner Greis“23: Nach seinem Tode […] weiterte der selige Perpetuus die Kirche des Heiligen mit großer Pracht und wollte seinen Leichnam darein überführen; aber ob sie gleich zu dreien Malen mit Fasten und Wachen darum baten, so mochten sie doch seinen Sarg in keiner Weise bewegen. Also wollten sie es lassen; da erschien ihnen gar ein schöner Greis und sprach: Was säumet ihr? Sehet ihr nicht, daß Sanct Martin bereit ist, euch zu helfen, so ihr Hand anleget? Also legte er mit ihnen Hand an […] Den Greis aber sah man hernach nimmermehr.

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Iacobus de Voragine: Legenda aurea, De sancto Martino; Iacopo de Varazze: Legenda aurea, hg. v. Giovanni Paolo Maggioni, Tavarnuzze-Florenz 1998, S. 1134–1136. Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lat. übers. v. Richard Benz, Heidelberg 81975, S. 863. Der lateinische Text lautet: „Quidam autem ex episcopis, qui convenerant, eo quod deformis esset habitu et vultu despicabilis, resistebant“; Iacobus de Voragine, ed. Maggioni, 1998 (wie Anm. 21), S. 1141. Iacobus de Voragine, ed. Benz, 1975 (wie Anm. 22), S. 871.

Die unmögliche Gleichheit. Zur Personenverdoppelung in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

(Ulrich von Etzenbach: Wilhelm von Wenden; Konrad von Würzburg: Engelhart; Olwier und Artus; Loher und Maller)

Ute von Bloh Wenn die Literatur des Mittelalters auch zum Teil von recht exzentrischen Gestalten bevölkert ist, so gehört ein monsterähnliches Äußeres oder die Bereitschaft zu Lüge, Betrug, Raub oder Mord dennoch nicht zum Persönlichkeitsprofil eines vorbildlichen Menschen. Verbindet sich eine derart fragwürdige Disposition mit einem der zumeist adligen Akteure, dann handelt es sich auch im Mittelalter um etwas beinahe Unglaubliches, zumal, wenn Rechtsbrüche dieser Art der Reputation ihrer Akteure nicht einmal schaden können. Zu diesen ungewöhnlichen, im göttlichen Schöpfungsplan zwar vorgesehenen, zugleich aber zweifelhaften Gestalten gehören Zwillinge und andere einander zum Verwechseln ähnliche Personen wie diejenigen, die wir seit Jean Paul gewohnt sind als Doppelgänger zu bezeichnen.1 Für diese Variante einer Personenverdoppelung gibt es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zwar keine Bezeichnung, doch phantasieren auch mittelalterliche Texte und Bilder das Thema der Doppelgängerei aus. Erzählt wird etwa von ununterscheidbar ähnlichen Freunden und auch von Zwillingen, und zwar seit dem 12. Jahrhundert überwiegend in Legenden und legendenverwandten Texten. Dort sind die Protagonisten, der Textsorte entsprechend, stets der besonderen Protektion Gottes unterstellt. Die als außerordentlich erachtete Gleichheit, die sich bisweilen mit einer solch zweifelhaften Disposition verknüpft, ist nämlich erklärungsbedürftig, und weil das nur schwer möglich ist, wird sie zu einem Wunder Gottes, das in den Legenden traditionell ungewöhnliche Phänomene zu rechtfertigen vermag.2 Auch das Konfliktpotential, das anhand der unterschiedlichen Entwürfe einer Personenverdoppelung verhandelt wird, unterscheidet sich, denn an diese stets suspekten 1

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Der Begriff geht auf Jean Paul zurück; s. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. II, Leipzig 1860, Sp. 1263 und Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, 2., verb. Aufl. Stuttgart 1980, hier S. 102. Im Siebenkäs sind Doppelgänger „Leute, die sich selbst sehen“; s. Frenzel, ebd. Die Gruppe der Wiedergänger, die ebenfalls in diesen Kontext gehört, spare ich aus, da das Thema der Gleichheit – soweit ich die Beispiele überblicke – keine Rolle spielt. Allein der Typus des Stellvertreters, der vorübergehend die Gestalt eines anderen annimmt, bevölkert die gesamte mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur. Auf diesen Typus werde ich in diesem Beitrag allerdings nur am Rande zu sprechen kommen.

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Gestalten sind in der Literatur weitreichende Komplikationsmöglichkeiten gekoppelt: Handelt es sich um Zwillinge, dann wird bevorzugt die Herrschaftssicherung und damit die für die feudaladlige Gesellschaft so bedeutsame genealogische Kontinuität problematisiert, zumal dann, wenn gleichgeschlechtliche Zwillinge nicht umstandslos als Erst- oder Zweitgeborene differenziert werden können; handelt es sich dagegen um zwei doppelgängerische Personen, dann gerät oftmals ihre unvergleichliche Verbundenheit in Freundschaft und Liebe in den Blick, die sich von anderen Bindungen – und damit auch gesellschaftlichen Pflichten – zu isolieren droht.3 Die erstaunliche Gleichheit zweier Personen bringt nämlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft mit sich, weswegen die beiden einander zum Verwechseln ähnlichen Personen buchstäblich unter allen Umständen zueinander finden. Die verschiedentlich zu tierähnlichen Wesen mutierenden Zwillingsbrüder4 bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme, auch wenn sie sich letztlich als domestizierbar erweisen. Und so erklärt sich, dass das alte, seit der Antike bekannte Erzählschema von der Trennung der Kinder im Säuglingsalter und dem Wiederfinden als Erwachsene besonders häufig zum Einsatz kommt. Was die Verdoppelung einer Person zum Sonderfall werden lässt, ist aber nicht nur die gegenseitige Anziehungskraft, die mit der Wahrnehmung eines ‚Double‘ einhergeht, sondern zuallererst die jedermann verblüffende Gleichheit selbst. Und obwohl diese außerordentliche Gleichheit oftmals nachdrücklich durch die göttliche Providentia und/oder naturwissenschaftliche Erklärungsmuster begründet wird, gerät die Ununterscheidbarkeit zweier Personen überwiegend zu einer Bedrohung für die Gesellschaft. Auslöser für die problemhaltigen, literarischen Doppelungen ist – wie bereits angedeutet – stets die maximale Ähnlichkeit zweier Menschen. Nicht zuletzt wohl, weil sich zwei Personen aufgrund ihrer Ununterscheidbarkeit der Kontrolle durch die Gesellschaft entziehen, wird Gleichheit derart rechtfertigungsbedürftig oder sogar gefährlich. Die Aura des Obskuren, die sich bis heute mit Zwillingen wie auch Doppelgängern verbindet, verdankt sich daher auch wohl der Tatsache, dass jede Art von Doppelgängerei Täuschung, Verstellung und damit Betrug ermöglicht. Und hier kommen auch die vielen Stellvertreter in der mittelalterlichen Literatur ins Spiel, die vorgeben, eine andere Person zu sein.5 Im Fall der Vergegenwärtigung von Gleichheit macht sich somit eine Normüberschreitung

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Unter diesen Fragen habe ich mich in älteren Arbeiten mit den zu besprechenden Romanen bereits befasst; s. dazu Ute von Bloh: ‚Engelhart der Lieben J(ger‘. ‚Freundtschafft‘ und ‚Liebe‘ im ‚Engelhart‘, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. II, 1998, S. 317–334 und Dies.: Doppelgänger in der Literatur des Mittelalters? Doppelungsphantasien im ‚Engelhart‘ Konrads von Würzburg und im ‚Olwier und Artus‘, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, CXXIV, 2005, S. 341–360. So etwa im Roman von Valentin und Orsus, in dem die Frage der Gleichheit allerdings nicht aufgeworfen ist. Orsus, der von einer Bärin aufgezogen wurde, behält sein tierähnliches Äußeres lange Zeit bei. Zu dieser Gruppe gehört auch der Octavianus, der wie der Roman von Valentin und Orsus in der Tradition französischer chansons de geste steht; s. dazu Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland, Darmstadt 1989, hier S. 221–223 und 227–229. Täuschung und Betrug verknüpfen sich insbesondere mit dem Motiv der Stellvertreterschaft, wenn

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geltend, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen als potentiell gesellschaftsgefährdende Abweichung von der Norm nach mittelalterlicher Auffassung, zum anderen als irritierende Abweichung von Wahrnehmungsgewohnheiten nach heutigem Verständnis. Von dem, was unserer eigenen Alltagserfahrung widerspricht, wird an späterer Stelle die Rede sein; vorab zu den Gewissheiten, die mit Blick auf die Doppelwesen nach dem Verständnis in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erschüttert werden: In den Texten wird zunächst einmal stillschweigend die Erwartung vorausgesetzt, eine Person anhand bestimmter äußerer Zeichen identifizieren zu können. Deswegen etwa müssen die einander verblüffend ähnlichen Freunde Engelhart und Dietrich am Hof des Königs von Dänemark Kleider tragen, die sich farblich unterscheiden.6 Und das heißt: Obwohl der Einzelne „nicht die Möglichkeit [hat], sich in seiner Besonderheit“7 von einer Gruppe abzusetzen, da Identität sich im Mittelalter durch die Beziehung zu den Repräsentanten des Sozialverbandes herstellt8, ist die personale Identität zugleich als je eigene begriffen.9 Dieses Verständnis beruht auf Differenz und erzeugt zugleich Differenz, auch in artifiziellen Zeugnissen. Verdoppeln sich die Merkmale einer Person aber, dann handelt

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sie in der Absicht erfolgt, die Gestalt eines anderen vorübergehend anzunehmen: so im Tristan und Isolde-Roman von Gottfried von Straßburg (Brangäne), im Nibelungenlied (Sîvrit) usw. Zum Engelhart liegt zwar eine Rückübersetzung ins Mittelhochdeutsche vor (Konrad von Würzburg: Engelhard, hg. v. Ingo Reiffenstein, 3., neubearb. Aufl. der Ausgabe v. Paul Gereke, Tübingen 1982; zur Geschichte der Edition s. S. VI–XII), doch zitiere ich im Folgenden – unter Verweis auf die Versangaben der Rückübersetzung – nach dem Druck Eine schöne Historia von Engelhart auss Burgunt. Der ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg in Abbildung des Frankfurter Drucks von 1573, mit einer bibliographischen Notiz zu Kilian Han (Litterae, 7), hg. v. Hans-Hugo Steinhoff, Göppingen 1987, hier Druck S. 61;V. 1300–1303. Zur Problematik s. von Bloh 1998 (wie Anm. 3), hier S. 317f. Jan-Dirk Müller: Identitätskrisen im höfischen Roman um 1200, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur, 23), hg. v. Peter von Moos, Köln u.a. 2004, S. 297–323, hier S. 298. Darauf ist vielfach hingewiesen worden; s. u.a. Cornelia Bohn/Alois Hahn: Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft, in: Identität und Moderne (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1439), hg. v. Herbert Willems/Alois Hahn, Frankfurt a.M. 1999, S. 33–61. Das habe ich in den in Anm. 3 genannten Aufsätzen zu erweisen versucht. Eine sich artikulierende Differenz arbeitet auch Andreas Kraß heraus, der u.a. festhält, dass der mittelalterliche Identitätsbegriff „zwischen sozialer und personaler Identität“ (S. 326) differenziere; s. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel (Bibliotheca Germanica, 50), Tübingen/ Basel 2006. Diese Differenz ist auch am Ende des Engelhart nicht beseitigt. Anders dagegen Judith Klinger/Silke Winst: Zweierlei ‚minne stricke‘. Zur Ausdifferenzierung von Männlichkeit im ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg, in: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts (Aventiuren, 1), hg. v. Martin Baisch u.a., Göttingen 2003, S. 259–289, die eine zunehmende ‚Verähnlichung‘ der beiden Freunde postulieren. Obgleich Winst die Differenzen in ihrer Dissertation ebenfalls herausstellt, hält sie an der „Verähnlichung der Freunde als grundlegende[r] Erzählstrategie“ fest; s. Silke Winst: Amicus und Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 57), Berlin/New York 2009, S. 273, Anm. 942.

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es sich um eine Irritation dieser Norm, hier mit Blick auf Wahrnehmungsgewohnheiten oder Erfahrungsmechanismen in der Literatur, und da es „galt, die gesellschaftlich vorgeschriebenen Muster möglichst vollkommen zu verkörpern“10, entsteht mit den Doppelwesen geradezu zwangsläufig ein Problem: „Was nicht dem allgemeingültigen Anspruch entspricht, widerspricht der idealen Norm. Es kann deshalb – als Abweichung vom Mustergültigen – in der Wertungsskala nur aufseiten des Defizienten, des Antiidealen, des Anarchisch-Bösen angesiedelt sein.“11 Wie aber wird diese staunenswerte, beunruhigende und sogar verdächtige Gleichheit in Szene und Raum vergegenwärtigt? Welches sind die Kriterien, die zur Wahrnehmung von Gleichheit führen, und wie wird die in Texten als ungewöhnlich wahrgenommene Gleichheit in denjenigen Bildern umgesetzt, die einige der Geschichten begleiten? Bei der Beantwortung der Fragen werde ich mich auf die Vergegenwärtigung und die Wirkung von Gleichheit in einigen Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit konzentrieren. Da aber die Seite der literarischen oder bildlichen Inszenierung wie auch die Seite der Wirkung soziokulturelle Voraussetzungen mitführt, die in einem uns zum Teil fremd gewordenen Kontext angesiedelt sind, lässt sich das, was die Inszenierungen anleitet oder dominiert, nur bedingt rekonstruieren. Nachzugehen ist daher im Folgenden allenfalls den Spuren – historisch bedingter und mehr oder weniger unbewusst verinnerlichter – symbolischer Wahrnehmungs- und Denkmuster, die Texte und Bilder im Prozess des Sichereignens und des Sichzeigens in einer bestimmten Situation legen. Dabei wird sich herausstellen, dass Gleichheit in Texten wie in Bildern insbesondere im Blick auf die habitus corporis sichtbar wird, über die sich nach mittelalterlichem Verständnis die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Statusgruppe, das gesellschaftliche Ansehen und damit auch der gemeinsame Wertehorizont vermittelt12 – gemäß der (universalistischen) Theorie Bourdieus: Wahrgenommen wird der Habitus, der abhängig ist von ‚sozialen‘, ‚symbolischen‘ und ‚kulturellen Ressourcen.‘13 Spezifische Verhaltensmuster, körperliche Ausdrucksformen, auratische Phänomene wie der körperliche Glanz 10 11

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Bohn/Hahn 1999 (wie Anm. 8), S. 40. So Annette Gerok-Reiter: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik (Bibliotheca Germanica, 51), Tübingen/Basel 2006, S. 46, die sich in ihrer Habilitationsschrift mit dem Individualitätsverständnis befasst und davon ausgeht, dass es „zum Bewusstsein einer individuellen Eigenart im Gegensatz zu einer sozialen Identität nur kommen [kann] durch die Absetzung von den bisherigen Normen der Identitätskonstitution“ (S. 47). Zu diesem Komplex zuletzt umfassend Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik (MTU, 135), Tübingen 2008; s. außerdem zum Engelhart Ders.: Notwendige Unterscheidungen. Zur Epistemik der Sinne bei Konrad von Würzburg, in: www. germanistik2001.de, Vorträge des Erlanger Germanistentages, Bd. I, Bielefeld 2002, S. 129–142. Wegen der bei Pierre Bourdieu nicht einheitlich definierten Kapitalarten orientiert sich der Begriffsgebrauch hier am Vorschlag Rehbeins, den Kapitalbegriff auf das ökonomische Kapital zu beschränken, ansonsten von ‚Ressourcen‘ zu sprechen; s. Boike Rehbein: ‚Sozialer Raum‘ und Felder. Mit Bourdieu in Laos, in: Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, hg. v. Ders. u.a., Konstanz 2003, S. 77–95.

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oder auch eine standesadäquate Sprache ordnen sich diesen sicht- und hörbaren, Gleichheit konstituierenden ‚Humanressourcen‘ zu. Der von Erwin Panofsky entlehnte – bei Bourdieu weit gefasste14 und unterdessen alltagssprachliche – Begriff des Habitus, der in den frühen kultursoziologischen Arbeiten Bourdieus nicht auf die Literatur und auch in späteren Arbeiten nicht auf die des Mittelalters abzielte, sondern auf die französische Literatur des 19. Jahrhunderts, soll im Weiteren lediglich dazu beitragen, Spuren historischer Wahrnehmungs- und Denkmuster zu rekonstruieren, die sich dem Habitus – als Erzeugungsprinzip spezifischer, buchstäblich einverleibter Dispositionen, Haltungen oder Bewegungen – einprägen.15 Und da Gesellschaft wie Literatur auf eine gemeinsame, sie umgebende kulturelle Matrix bezogen sind, könnte sich zu erkennen geben, wie zeitspezifische Erwartungen oder Vorgaben literarische Entwürfe als Ergebnis der Inkorporation sozialer Strukturen generieren, auch wenn literarische Fiktionen sich weit vom Alltagswissen entfernen können – an dem sie sich zugleich orientieren.16 Die thematischen Vorgaben durch die Herausgeber des Bandes und das Vorhaben, mittelalterliche Texte und ihre Bebilderung in die Überlegungen einzubeziehen, schränkten das Spektrum der zu behandelnden Beispiele erheblich ein. Als weitere, selbst auferlegte Bedingung kam hinzu, dass mindestens eine Handschrift aus der Werkstatt Diebold Laubers stammen sollte, denn die Historienbibeln aus dieser Werkstatt standen am Anfang einer unvergleichlichen Freundschaft mit der Jubilarin. So blieben nur drei Romane

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Zum Begriff des Habitus bei Bourdieu s. etwa Boike Rehbein: Die Soziologie Pierre Bourdieus (UTB, 2778), Konstanz 2006, S. 86–98. Das steht zwar im Widerspruch zur Theorie Bourdieus, für den der einmal herausgebildete Habitus eher träge ist, doch kann der sozial geprägte Habitus als Erzeugungsprinzip gelten, das in der Literatur weitgehend standardisierte Mechanismen des Erkennens, Identifizierens oder Verhaltens der Akteure zeitigt; s. dazu Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, übers. v. Günter Seib, Frankfurt a.M. 1987, S. 113f., und zum Habitusverständnis ebd. S. 98f.: „Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv [...] ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind“. Wie wenig etwa der soziologische Feld-Begriff Bourdieus dazu geeignet ist, ihn umstandslos auf mittelalterliche Literatur anzuwenden, zeigt etwa die Arbeit zum Artusroman von Ludgera Vogt: Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des ‚Imaginären‘ am Beispiel zweier literarischer Texte, in: Ehre. Archaische Momente in der Moderne, hg. v. Ders./Arnold Zingerle, Frankfurt a.M. 1994, S. 291–314. Selbst erzählerische Brüche (die Ablehnung des Lohnes im Rahmen des âventiure-Schemas) und Irrationalitäten (etwa ein Löwe als Waffenbruder) werden mit nutzenorientierten ökonomischen Kalkulationen der Protagonisten verrechnet – als handelte es sich nicht um Literatur, sondern um die Rekonstruktion der Gesetze des Sozialen. Widersprüche oder Aporien, anhand derer literarische Texte Geltungsansprüche narrativ reflektieren oder kommentieren, werden entsprechend eingeebnet und auf eine „offizielle Wahrheit“ reduziert, über die die „doppelbödige Ökonomie“ Bourdieu 1987 (wie Anm. 15), S. 234, zufolge aber gar nicht verfügt.

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übrig, die das Thema einer normüberschreitenden Ununterscheidbarkeit ihrer Protagonisten ausphantasieren und zugleich eine Ausstattung mit Bildern aufweisen: Aus der Werkstatt Diebold Laubers ist der Wilhelm von Wenden überliefert, mit dem eine bebilderte Geschichte über Zwillinge vorliegt. Diesen Roman hat Ulrich von Etzenbach zwar Ende des 13. Jahrhunderts verfasst, aber die einzige uns überlieferte illustrierte Handschrift stammt aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.17 Bebildert ist auch der Roman von Olwier und Artus, der einem spätmittelalterlichen französischen Prosaroman18 folgt und erstmals 1521 in Basel gedruckt wurde. Ins Frühneuhochdeutsche übertragen hat ihn Wilhelm Ziely. Der Roman von Olwier und Artus erzählt von einem Paar von Freunden, für die Gleichartigkeit und Ähnlichkeit konstitutiv sind, und das verbindet ihn mit dem Engelhart des Konrad von Würzburg, der ebenfalls eine doppelgängerische Freundschaftsgeschichte thematisiert. Entstanden ist der Engelhart zwar um 1260, überliefert ist er uns aber nur als Druck aus dem 16. Jahrhundert.19 Wie dem Roman von Olwier und Artus sind auch dem Engelhart Holzschnitte beigegeben und beide Romane stehen in der Tradition des in europäischen Legenden und Romanen weit verbreiteten Treueexempels von Amicus und Amelius.20 Dass sich die doppelgängerische Identität allein über ein soziokulturelles Zeichenarsenal herstellt, soll abschließend ein Bildbeispiel aus dem Epos von Loher und Maller erweisen, das den Komplex der Stellvertreterschaft repräsentiert. Zunächst aber zur ereignishaften Visualisierung von Gleichheit in den Geschichten über doppelgängerische Freunde, wobei in einem ersten Schritt der Identifizierung von Gleichheit anhand der Texte nachzugehen ist, um sie dann in einem zweiten Schritt zu denjenigen Bildern in Beziehung zu setzen, die diese Texte begleiten. Mit dieser Nachordnung nun ist keineswegs eine Hierarchisierung beabsichtigt. Wenn ich Texte und Bilder getrennt betrachte, dann trage ich lediglich der Besonderheit des jeweiligen Mediums Rechnung, und dies, ohne dabei die Leistung der Bilder in Hinsicht auf eine gesteigerte Merkfähigkeit zu unterschätzen, die Text und Bild zusammen für das

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Zur Organisationsform und den Produktionsbedingungen, die nicht dem gängigen Bild von einer Werkstatt entsprechen, s. die maßgebliche Arbeit von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, 2 Bde., Wiesbaden 2001. Zur Handschrift in Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, Ms IV. 488, Bd. II, S. 47–49. Am Beginn stand ein Kleinbetrieb. Zeitweilig handelte es sich dann um einen „Produktionszirkel“, „in dem je nach Arbeitsanfall verschiedene weitere Gruppen herangezogen wurden“; ebd., Bd. I, S. 225. Später verband sich Diebold Lauber mit dem Unternehmer Hans Schilling und bildete eine Art ‚Verlagskonsortium‘, „in dem weitgehend unabhängig voneinander arbeitende Gruppen von Illustratoren, Initialmalern und Buchbindern beschäftigt wurden“; ebd., Bd. I, S. 227. Der Druck erschien erstmals 1521 in Basel. Übersetzer ist Wilhelm Ziely (gest. um 1541). Seine Vorlage, der Philippe Camus zugeschriebene Prosaroman Olivier de Castille et Artus d’Algarbe (zwischen 1430 und 1460 entstanden), wurde zuerst in Genf (1482) gedruckt; s. dazu von Ertzdorff 1989 (wie Anm. 4), S. 223f. Der Druck liegt in einem Faksimile vor, ed. Steinhoff 1987 (wie Anm. 6). Zum überlieferten Amicus-Amelius-Textcorpus zuletzt umfassend Winst 2009 (wie Anm. 9).

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Gedächtnis bewirken können.21 Bild und Sprache „interagieren auf einem bestimmten kulturellen Niveau untrennbar“22, aber mit unterschiedlichen Mitteln und Möglichkeiten. Unter dieser Voraussetzung soll nun erst einmal von der diegetischen Perspektive im Engelhart des Konrad von Würzburg die Rede sein. I. Eine weitreichende, wesensmäßige wie äußerliche Übereinstimmung ist nach mittelalterlichem Verständnis wesentliche Voraussetzung für eine Bindung durch Freundschaft.23 So auch im Engelhart, wo die beiden Protagonisten Engelhart und Dietrich sich auf der Suche nach einem neuen Dienstherrn begegnen. Vom Erzähler werden sie gleich zu Beginn als unerhört gleichartig vorgestellt: Von „einer Hande forme“ (Druck S. 28; V. 486) und „Mit h=felicher zuchte gar“ (Druck S. 31; V. 560) sind sie; sie sprechen eine Sprache24 und sind äußerlich ununterscheidbar: „Sie waren ungesundert / An allen dingen beyde“, denn sie waren „geleich und ein gefahr / An allen Gliederen“ (Druck S. 27f.; V. 456f., 480f.).25 Ihre Kleider und Pferde stimmen zwar nicht überein26, doch evoziert der darauf folgende Vergleich mit einem Siegel (Druck S. 28; V. 472f.) das von Gott gefügte „wunder“ (unter anderem Druck S. 28; V. 483, 491) der konstatierten Gleichheit, wenn gesagt wird, dass das Siegel in beiden Fällen einen identischen Abdruck im Wachs hinterlassen hätte. Was die Gleichheit aber so unerhört macht, dass sie mit einem Wunder Gottes gleichgesetzt wird, das bleibt im Engelhart zumindest nach heutigem Verständnis ein Geheimnis. Aufgerufen sind tatsächlich allein idealtypische, literarisch vermittelte Vorstellungen von adelsmäßiger Vorbildlichkeit.27 Und dazu gehören die genannten formvollendeten Umgangsformen („h=feliche[…] zuchte“), die Eloquenz aufgrund von höfischer Erziehung und der bloß erwähnte, nicht weiter beschriebene, aber wohl als ideal gedachte Körper der beiden Männer – ihre „Gliederen“. Dabei ist auch die in diesem Verständnis unerlässliche Tugendhaftigkeit erwähnt (Druck S. 27f.; V. 462f., 466f.), die sich in mit-

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Anders als etwa im Fall der Forschungen Horst Wenzels gilt mein Hauptaugenmerk also nicht der „Unfestigkeit der Grenze“ zwischen Bild und Schrift, sondern der relativen Eigenständigkeit der Medien, den unterschiedlichen Möglichkeiten, die Bild und Schrift nutzen, sowie den je besonderen Modi des Erzählens; s. zuletzt Horst Wenzel: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen, 216), Berlin 2009, dazu S. 62f. Zitiert nach Wenzel, ebd., S. 63. Das habe ich in einem älteren Aufsatz herausgearbeitet; s. von Bloh 1998 (wie Anm. 3). Engelhart, Druck S. 28; V. 464. Der höfischen Erscheinung – besonders Engelharts – ordnet sich später noch der rote Mund als in der Literatur standardisiertes Merkmal adliger Schönheit zu (so etwa Druck S. 180; V. 4350). Engelhart: „Kein ander underscheide / An jren Bilden ward erkannt / Dann daß jr Pferd vnd jr Gewandt / An einander waren vngleich“, so Druck S. 27; V. 458–461. Ähnlich Schulz 2002 (wie Anm. 12), hier S. 134.

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telalterlichen Texten gemäß dem Kalokagathie-Ideal mit einem vorbildlichen, höfischen Äußeren verbindet. Was demnach im Vergleich mit einer anderen Person zu einer Ähnlichkeitserfahrung führt, ist ein Bündel adelsmäßiger Merkmale, welches die solchermaßen konstatierte Gleichheit vor allem als Bestandteil der Zugehörigkeit zum gleichen Sozialverband ausweist – oder in der Terminologie Bourdieus: Wahrgenommen werden symbolische (Tugendhaftigkeit), inkorporierte kulturelle (gute Erziehung) und soziale Ressourcen (die distinkte Sprache, gute Umgangsformen, der wohlproportionierte adlige Körper). Dieses Programm prägt die (literarischen) Vorstellungen von Adelsmäßigkeit einerseits dem Körper, andererseits aber auch dem Bewusstsein ein, wenn Engelhart beim Anblick Dietrichs in Gedanken auch dessen hövescheit konstatiert (Druck S. 32; V. 581) und Dietrich beim Nachdenken über Engelhart dessen schœne, seine „treuwe fahr“ (Druck S. 33; V. 604, 612), seine vertrauenserweckende Erscheinung also, und seine gute Erziehung resümiert. Auch der gemeinsame Wertehorizont ist thematisiert, wenn er „Treuwe und ein st(ten muht“ (Druck S. 33; V. 597) bei Engelhart annimmt. Dass der erwartbare ‚Normalfall‘ wohl Unverwechselbarkeit ist, bestätigt sich bereits an dieser Stelle, denn obwohl es Dietrich so vorkommt, als wären Engelhart und er „Gar gleich einer dem andern“ (Druck S. 33; V. 601), glaubt er dennoch, sich irren zu müssen: „Nein zware […] ich dencke vnrecht / bin betrogen / Dann sch=nre viel und baß gezogen / Ist er warlich danne ich sey“ (Druck S. 33; V. 604–607). Beide haben zudem die Absicht, an den dänischen Hof König Fruotes zu reiten (Druck S. 34; V. 624f.). Dort wird die erstaunliche Gleichheit erneut als ein Wunder Gottes interpretiert (Druck S. 36; V. 671–678), aber mehr als die äußerlich sichtbaren Merkmale von Adelsmäßigkeit nehmen auch die Mitglieder der höfischen Gesellschaft nicht wahr, allen voran die Königstochter Engeltrut, die wegen der irritierenden Gleichheit der beiden Freunde zunächst in heillose Konfusion gerät. Die vom König angeordnete, äußerlich wahrnehmbare Differenz in der Bekleidung28 reicht demnach nicht aus, um einen Konflikt zu verhindern. Weil sie zu Beginn keinen Unterschied wahrnehmen kann „An ir zweyer Leibe zart / Noch an jr sitten und jr art“ (Druck S. 55; V. 1164–1166f.), muss sie zwei Männer zugleich lieben. Was ihr schließlich bei der Entscheidung hilft, ist die Ähnlichkeit der Namen, die sie „über die Etymologie“ des gemeinsamen Namensbestandteils „Engel“ herstellt.29 28

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Ihre ungleichen Kleider tragen Dietrich und Engelhart offenbar beständig bei Hof, denn dem Boten, der Dietrich über den Tod des Vaters informieren soll, wird gesagt, er könne ihn an der Farbe des Gewandes erkennen (Druck S. 61; V. 1304 und 1308: „Bruneite“ im Unterschied zu Engelhart, der „Feitschale“ trägt; ebd. V. 1304). S. dazu auch Schulz 2008 (wie Anm. 12), S. 398f., Anm. 103f.; außerdem Dietmar Peschel: Geglückte Pubertät? Diet-rîch, Rîch-hart, Engel-hart, Engel-trût. Vom Erwachsenwerden eines jungen Adligen in der Erzählung ‚Engelhart‘ Konrads von Würzburg, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, XXXIII, 2001, S. 8–27; Peschel kommt allerdings zu ganz anderen Ergebnissen; so auch von Bloh 2005 (wie Anm. 3), hier u.a. S. 344f. – An der langwierigen Entscheidungsfindung ist neben dem Gleichklang des Namens außerdem auch der Wohlklang – und damit der Hörsinn – maßgeblich beteiligt, denn der Name wird auf die Möglichkeiten seiner Artikulation und das Hörerlebnis (das

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Im Roman von Olwier und Artus lernen sich die beiden Protagonisten bereits im Kindesalter kennen, als die jeweils verwitweten adligen Elternteile eine Ehe eingehen. Beim ersten Zusammentreffen bei Hof löst ihre Ähnlichkeit ebenfalls Verwunderung aus, denn vom ‚Normalfall‘ der Unterscheidbarkeit aus betrachtet, handelt es sich auch hier um Devianzfiguren, die allgemeines Staunen auslösen: „das nun ouch die herren so mit dem künig da waren / wunder nam“ (fol. Aijv). 30 Verblüfft stellen der König und sein Gefolge fest, dass sie „einander glich sahen / an leng vnd gr=sse / vnd mit aller wyß vnd geberd“ (fol. Aijv). Sie werden fortan gemeinsam erzogen (fol. Aiijr), denn die Kinder sind gleichaltrig, und so werden sie als „alwegen einander glich mit iren kleidern vnd allen dingen“ (fol. Aiijr) vorgestellt. „[W]az der ein wolt“, so heißt es später, „daz wolt ouch der ander vnd ir beider hertz was ein ding vnd gelichent sich baß ein andren denn sy mit ir gestalt“ (fol. H vr). Ausdrücklich ist hier festgehalten, dass die Gleichheit mehr noch in Hinsicht auf die innere Einstellung besteht als in Hinsicht auf das Äußere, ihre „gestalt“, aber sie sind sich zugleich – wie im Engelhart – zum Verwechseln ähnlich: „wann sy einander so glich sahen / das dick einer für den andren ward angesprochen“ (fol. Aiijr). Auch die adelsmäßigen Merkmale (fol. Aijv: „leng vnd gr=sse, wyß vnd geberd“, identisches Alter) wiederholen sich, und die reichen hier wie dort sogar dafür aus, dass die doppelgängerischen, brüderlichen Freunde einander problemlos, weil unerkannt, im Ehebett vertreten können. Das – freilich keusche – Beilager bleibt, wie auch im Engelhart, selbst von den Ehefrauen unentdeckt. Was allerdings im Roman von Olwier und Artus fehlt, ist die Perspektive der Protagonisten: Dass sie einander so „glich“ sind, ist in diesem Roman ausschließlich das Ergebnis der Wahrnehmung durch andere. Doch gilt auch hier, dass die verblüffende Gleichheit nicht anhand konkreter Physiognomien erkannt wird, sondern anhand eines Merkmalsets, das einen idealen höfischen Körper ausmacht. Festhalten lässt sich also bisher, dass Gleichheit in den Stereotypen höfischer Romane beschrieben ist, denen zufolge sich der doppelgängerische Freund und Bruder für uns eher unbestimmt als ständisch äquivalent präsentiert. Als solche erkennen sich die Protagonisten und das schafft sogleich Sympathie und Zuneigung. Die Gleichheit erweist sich damit als Produkt höfischer Sozialisation, das gekoppelt ist an einen unwiderstehlichen Effekt: den Wunsch nach Freundschaft, Liebe und Nähe. Die körperlich sichtbare soziale Oberfläche stiftet dabei (eine sich verdoppelnde) Identität und grenzt sich zugleich gegen ein Außen ab: zum einen, weil die Beweise der unvergleichlichen Treue unter Freunden buchstäblich das Licht der Öffentlichkeit scheuen müssen, weswegen sie allesamt (betrügerischer Stellvertreterkampf, Tausch der Ehefrauen, Tötung der Erben usw.) in der Sphäre der Heimlichkeit angesiedelt sind. Zum anderen überschreitet die wahrgenomme-

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„gellen“ und „thonen“, Druck S. 56; V. 1190) hin überprüft (Engeltrut lässt den Namen im Mund ‚zergehen‘, Druck S. 55f.; V. 1168–1171). Zum Tast- und Geschmackssinn, der nach mittelalterlichem Verständnis über den Mund unmittelbar Zugang zum Herzen besitzt, s. Schulz 2008 (wie Anm. 12), S. 400–403. Hier und im Folgenden zitiert nach dem ersten Druck in Basel, Adam Petri, 14. Februar 1521. Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst.

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ne Gleichheit das Gewöhnliche der erzählten Welt, weswegen sie unter anderem als Gotteswunder ausgewiesen ist. Diesem Verständnis entzieht sich zudem, Gleichheit in einer uns vertrauten Variante zu denken. Gleichheit, wie sie immer wieder genannt wird, verbindet sich nämlich stets auch noch mit Unterschieden. Auf allen Ebenen des Erzählens sind Differenzen mitgeliefert, die sich nach unserem Dafürhalten mit einer Gleichheit „in allen dingen“ nicht gut vermitteln lassen: Die jungen Adligen entstammen unterschiedlichen Herkunftsbereichen, im Engelhart unterscheiden sie sich lange Zeit sogar in ihrem adligen Rang und alle tragen unterschiedliche Namen. All das sind notwendige Merkmale, die nach mittelalterlichem Verständnis die personale Identität und damit Unverwechselbarkeit ausmachen.31 Entsprechend misstraut auch Dietrich gleich beim ersten Zusammentreffen seiner eigenen Wahrnehmung, die sich mit einem Sonderfall konfrontiert sieht, wenn er die unvorstellbare Ähnlichkeit seiner „forme“ (Druck S. 33; V. 602) mit der Gestalt Engelharts feststellt. Nimmt man hinzu, dass „Engelhart viermal mit weiblichen Zügen ausgestattet“ wird, „zweimal durch den direkten Vergleich mit einer scheuen Jungfrau“32, dann repräsentieren Engelhart und Dietrich außerdem differente, ebenfalls vornehmlich literarisch vermittelte Vorstellungen vom ‚Mann‘: Engelhart, dem empfindsameren, höfischen Jüngling, ist so der draufgängerische Dietrich kontrastiert, der seinen Namen nicht zuletzt deswegen wohl einem Heros aus der Heldenepik verdankt. Und auch im Olwier sind Differenzen eingebaut, wenn die beiden Brüder unterschiedlichen Adelsgeschlechtern entstammen und wenn der Erzähler über Olwier etwa mitteilt, dass er sich im Turnier als ein klein wenig geschickter (fol. Aiijv) bewähre. Unverwechselbarkeit gibt sich damit als soziales Erfordernis zu erkennen und das ist auch im Roman über Wilhelm von Wenden nicht anders, der von brüderlichen Zwillingen erzählt. Auch sie fügen sich nur mit Mühe in den feudaladligen Vorstellungs- und Erwartungshorizont ein, selbst wenn sie sich letztlich in den Herrschaftsverband integrieren lassen. Aber: Nicht die Gleichheit wird hier zum Problem, sondern eher noch die Tatsache einer Zwillingsgeburt, die nach dem Verständnis mittelalterlicher Naturgeschichte als Strafe für falsches Verhalten aufzufassen ist.33 Schon bei ihrer Geburt werden die Zwillinge Boizlabe und Dânus demgemäß als Abweichung der Natur vorgestellt, denn beide sind zwar „unmâzen schœn“ (V. 2201) 34, weisen aber bereits die Größe von Kindern auf, die ein 31

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Ein verbreiteter Vers fasste das so zusammen: „Forma, figura, locus, tempus, cum nomine sanguis / Patria: Sunt septem, quae non habet unus et alter“; zitiert nach L. Oeing-Hanhoff: Individualität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, Basel 1976, Sp. 300–323, hier Sp. 305. S. Kraß 2006 (wie Anm. 9), S. 330, der außerdem richtig festhält, dass diese Züge dem Engelhart erst nach Eintritt in die Liebesbeziehung mit Engeltrut zugewiesen werden; es ist also die Minne, die ihre Spuren hinterlässt. S. Ute von Bloh: Unheilvolle Erzählungen. Zwillinge in Geschichten des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Text und Kontext: Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 64), hg. v. Jan-Dirk Müller, München 2007, S. 3–20. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Ulrich von Etzenbach: Wilhelm von Wenden (Deutsche Texte des Mittelalters, 49), kritisch hg. v. Hans-Friedrich Rosenfeld, Berlin 1957.

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halbes Jahr alt sind (V. 2319). Entsprechend verhalten sie sich schon als Neugeborene: „sus was ouch ir gebâre“ (V. 2320). Schon bald werden die Zwillinge voneinander getrennt, denn die Eltern befinden sich als mittellose Pilger auf dem Weg ins Heilige Land, weswegen der Vater in der Not seine Kinder verkauft. Ohne ihn zu erkennen, trifft der eine Zwilling später – in der Fremde – im Alter von 18 Jahren auf seinen Bruder. Dazu hält der Erzähler fest, dass sie „glîcher gebâre unde site / an hôher geburt die klâren / von süezer natûre wâren“ (V. 5192–5194). Die Makellosen waren also von liebreizendem Wesen, aus vornehmem Geschlecht und identisch in Hinsicht auf das Verhalten und die Gewohnheiten. Wie sich im Gespräch herausstellt, verbindet sie auch das gemeinsame Schicksal (V. 5258: „unser beider leben glîche stêt“), von christlichen Kaufleuten erzogen zu sein, um bei ihnen niedere Dienste zu leisten; außerdem wissen beide nicht um ihre Herkunft und beide sind auf der Suche nach einem neuen Dienstherren. „Ietweder an den andern sach“ (V. 5269), heißt es dann weiter, doch was der Blick des anderen jeweils wahrnimmt, ist – dem Erzählerkommentar vergleichbar – weder physiognomische noch körperliche Gleichheit, sondern nur, dass ihre Gedanken oder ihre Haltung sowie ihre Überlegungen in gleicher Weise nach der Freundschaft des anderen verlangen: „ir muot, ir sin gelîche jach / friuntschaft an den andern“ (V. 5269–5271). Was sie also erkennen, ist Gleichheit in Hinsicht auf ihren Wunsch nach Freundschaft35, der sie in „wirdiclîcher ahte twanc“ (V. 5288), also in ehrenvoller Weise geradezu überwältigt. Und so schließen sie – wie im Engelhart und im Olwier und Artus – ein Freundschaftsbündnis, das hier wie im Engelhart die fehlende, für die mittelalterliche Feudalgesellschaft jedoch unerlässliche persönlich-personale Bindung kompensiert. Ihre wesensmäßige Gleichheit nimmt dann auch ein reicher Bürger wahr, bei dem sie um Herberge bitten: Er hat „nie kint sô glîche einander“ (V. 5346) gesehen. Seine „ougen blicke“ (V. 5352) haben an einem Menschen noch niemals solche „zuht“ (V. 5336) und „geb#rde“ (V. 5348) wahrgenommen, weswegen er erwartungsgemäß auf „hôhe [...] arte“ (V. 5344), auf ein Herkommen aus vornehmem Geschlecht also, schließt. Was er damit konstatiert, sind wieder die konventionellen Adelsqualitäten, also höfische Erziehung und entsprechendes Benehmen. Aufgrund der so weit augenscheinlichen Gleichheit hält er sie für Brüder (V. 5371). Anders also als im Fall der doppelgängerischen brüderlichen Freunde ist Gleichheit im Wilhelm von Wenden zunächst nicht den Körpern abzulesen, sondern es sind allein inkorporierte symbolische (V. 5270: erfahrbar durch „muot“ und „sin“), kulturelle (gute Erziehung) beziehungsweise soziale Ressourcen (gute Umgangsformen), die adlige Herkunft zu erkennen geben. Die auch körperliche Gleichheit nimmt in diesem Roman erstmals der Vater wahr, und „wan under disen kinden zwein / ir gestalt sô gar gelîche schein“ (V. 6485f.), hält er sie ebenfalls für Brüder (V. 6491). Er bittet außerdem um Aufklärung darüber, wer der „eldeste w#re“ (V. 6488), und stellt zu seinem Erstaunen fest: „wie glîche wesent diu gesiht, / doch sie einander kennent niht“ (V. 6623f.). Armin Schulz hat in seinem Buch zur „Personenidentifizierung in der mittelhochdeut35

Ähnlich noch einmal Wilhelm von Wenden, V. 5279f.

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schen Epik“ richtig festgehalten, dass es dann vor allem die Lebensgeschichte ist, die Sicherheit beim Erkennen der eigenen Kinder schafft – zusammen mit einem Stück des Pilgerrocks, in den der Vater die Säuglinge gewickelt hatte, bevor er sie an Kaufleute verkaufte. Aber es scheint im Wilhelm von Wenden darüber hinaus eine Art Wahrnehmungsprivileg engster Verwandter zu sein, die Gleichheit auch in Hinsicht auf die gestalt und die gesiht erkennen zu können, die aufs Ganze gesehen eine Art ‚Sippenkörper‘ bilden.36 Und den kann nur ein Familienmitglied, hier der Vater der Zwillinge, erkennen. Das eben erwähnte „gesiht“ (V. 6623) nun ist im Mittelhochdeutschen nicht etwa als ‚Gesicht‘ im heutigen Verständnis aufzufassen, sondern als ‚Erscheinung‘.37 Wenn ich die einschlägigen Stellen in den Texten richtig überblicke, dann wird das Gesicht in der uns vertrauten Variante nicht als gesiht, sondern als antlütz/antlitze bezeichnet. Als Erkennungsmerkmal ist es aber ebenfalls unmaßgeblich. In den betreffenden Texten ist es allenfalls Teil eines Ganzen, das die ‚Erscheinung‘ ausmacht, und dazu gehören Hand, Brust, der ganze Körper. Kommt das antlütz/antlitze zur Sprache, dann demgemäß im Verbund mit der gesamten körperlichen Erscheinung.38 Und dieses Verständnis trifft sich mit der Feststellung im Wilhelm von Wenden, dass es die gestalt der Zwillinge ist, die „sô gar gelîche schein“ (V. 6485f.) oder dass die „zwêne man / sô glîche und wünneclich getân“ (V. 6705) sind. Als derart herrlich und dazu ganz identisch gestaltet stellt der Vater, der sein Wissen – ebenso wie die Mutter unabhängig davon ihres – lange Zeit

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Schulz 2008 (wie Anm. 12) interpretiert demgegenüber die im Wilhelm von Wenden nicht weiter befragte Tatsache der „Verzögerung“ und der „Asymmetrien im Einander-Erkennen“ (S. 235) (dass der Ehemann seine Ehefrau später nicht wiedererkennt, wohl aber die Ehefrau ihren Ehemann anhand der Lebensgeschichte usw.) als ein Strukturproblem, wenn er einen „Kompromiß zwischen der legendarischen radikalen Familienabgewandtheit des Christentums und dem Konzept der adeligen familia“ (s. u.a. S. 235) konstatiert. Deswegen könne das, „was an den Leibern“ ablesbar sei, „keine Sicherheit“ herstellen (ebd.). Formulierungen wie „glaubstu meinen worten nicht, / so glaub du paß dem deinen gesicht“, dem Augenschein also, begegnen entsprechend häufig (u.a. Hans Rosenplüt: ‚Der Knecht im Garten‘, V. 121f., in: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts (MTU, 12), hg. v. Hanns Fischer, München 1966, S. 178–187). Zum mhd. gesiht, das daneben auch ‚Anblick‘ oder ‚Traum‘ meinen kann, s. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I [Leipzig 1872–1878], Nachdruck, Stuttgart 1992, Sp. 913. „[...] nie dehein ouge erkande / vlaetiger antlütz noch lîp“ (191, 14f.), heißt es entsprechend etwa von Rennewart im Willehalm, und d.h. auch, dass „al sîn antlütze gar / ze wunsche stuont und al diu lit“ (271, 8f.). Das antlütz/antlitze wird demnach auch hier bloß metonymisch für den Kopf stehen, der sich zusammen mit der körperlichen Gestalt zu einer sichtbaren, gewissermaßen ‚sozialen Oberfläche‘ fügt. Und die kann der erkennende Blick dann wie in den vorliegenden Texten als der höfischen Gesellschaft zugehörig identifizieren. Auch das Gesicht (antlütz) ist mithin bloß Merkmal eines Gesamtbildes, das im Willehalm zudem Gruppenzugehörigkeit zu einer Sippe erahnen lässt: „ich muoz im antlützes jehen / als eteslîch mîn geslehte hât“ (272, 26f.), meint Gyburc beim Anblick Rennewarts. Als Indiz allein aber taugt das Merkmal ganz offensichtlich nicht, denn der Schwester ist es letztlich unmöglich, Rennewart als Bruder zu identifizieren – der, nebenbei bemerkt, als Riese beschrieben ist und dazu die Augen eines Drachen besitzt (270, 26: „ougen als ein trache“). Und die-

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für sich behält, die Zwillinge der – noch unerkannten – Ehefrau vor. Dabei wird auch wieder das Ungewöhnliche beim Anblick der Zwillinge angemerkt (V. 6704: „sô gesâht ir nie bî iuwern tagen“), ebenso, dass „al ir tuon und ir gebâr / […] nâch hôhem arte gar“ ist (V. 6707f.). Wie in den Geschichten von doppelgängerischen Freunden, ist die Existenz von Doppelwesen auch hier als gesellschaftsfeindlich ausgespielt: Engelhart und Dietrich müssen – wie auch Olwier und Artus – ihre Umgebung betrügen, um ihre unverbrüchliche Treue unter Beweis stellen zu können, weshalb Engelhart wie auch Olwier am Ende sogar ihre männlichen Erben im Kindesalter töten, damit mit deren Blut der Freund vom Aussatz geheilt werden kann. Die Zwillinge im Wilhelm von Wenden verdingen sich demgegenüber gemeinsam als Raubritter im Wald, der in mittelalterlichen Dichtungen bevorzugt als hof-, gesetzes- und/oder zivilisationsfern semantisiert ist. Mit dem bedrohlichen Wald, aber auch mit der unwegsamen Fremde, in der sich die beiden ununterscheidbaren, vom Sozialverband isolierten Zwillinge Boizlabe und Dânus – ebenso wie die Freunde Engelhart und Dietrich – erstmals begegnen, mit diesen unberechenbaren Räumen artikuliert sich der Logik der Narration nach noch einmal der obskure Status der Doppelwesen.39 In der feudaladligen Gesellschaft ist die wesensmäßige und körperliche Gleichheit aber auch insofern verdächtig, als „jede Besonderheit [...] als eine eher negativ konnotierte Abweichung“40 galt. Die Integrierbarkeit von Doppelwesen wird deswegen in der Literatur überwiegend als ein Problem verhandelt, wobei die Außenwahrnehmung die maßgebliche Instanz ist, die über die Identität des einzelnen entscheidet. Auch der verdoppelte Einzelne ist das, „was [er] in dem [sic] Augen der anderen zu sein hat“41, und so ist die Feststellung von Gleichheit im Wilhelm von Wenden wie auch in Olwier und Artus ausschließlich das Ergebnis der Wahrnehmung durch andere. Im Engelhart dagegen nehmen die Freunde ihre ungewöhnliche Gleichheit auch selbst wahr, wobei auch in diesem Text die kollektive Wahrnehmung den Fortbestand der Freundschaft gefährdet, weswegen sie von den Treuebeweisen (betrügerischer Stellvertreterkampf, Ermordung

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se Merkmale wiederum teilt er mit Gyburc nicht, was noch einmal auf ein Verständnis von Gleichheit verweist, das allenfalls Vergleichbarkeit im Erscheinungsbild meint, besonders aber die sichtbare ‚soziale Gleichheit‘. Zitiert nach Wolfram von Eschenbach: Willehalm, nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen (Bibliothek des Mittelalters, 9), hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a.M. 1991. – Zum Antlitz s. außerdem Schulz 2002 (wie Anm. 12), S. 134; dazu Ders.: 2008 (wie Anm. 12), S. 11; ebd. zum Willehalm S. 109–151; zum Antlitz auch Alois Hahn: Wohl dem, der eine Narbe hat: Identifikationen und ihre soziale Konstruktion, in: Unverwechselbarkeit 2004 (wie Anm. 7), S. 43–62, hier S. 52f. Sei es im Gregorius von Hartmann von Aue, in der Crescentia-Geschichte in der Kaiserchronik oder im Roman von Valentin und Orsus, Zwillinge sind sogar ganz besonders verdächtig. Und so werden sie in der mittelalterlichen Literatur bevorzugt mit noch schlimmeren Gefährdungen als im Wilhelm von Wenden in Verbindung gebracht: mit Ehebruch oder sogar mit Inzest als Bedrohung feudaladliger Genealogie; s. dazu von Bloh 2007 (wie Anm. 33). Bohn/Hahn: Selbstbeschreibung, 1999 (wie Anm. 8), S. 40. Müller 2004 (wie Anm. 7), S. 313.

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der Erben im Kindesalter) nichts merken darf. Erzählstrategisch kann dieses Problem nur dadurch beseitigt werden, dass alles gesellschaftsabgewandte Handeln konsequent in die Sphäre der Heimlichkeit verlegt wird, wodurch es in der erzählten Welt der Wahrnehmung durch andere entzogen bleibt. Was aber Ähnlichkeit genau ausmacht, war und ist ein heikles Thema.42 Für den heutigen Leser erwartbare Identifikationskriterien, die – über die körperliche Gestalt, vergleichbare Umgangsformen und Eloquenz hinaus – zur Feststellung einer außergewöhnlichen Ähnlichkeit führen müssten, werden in den hier betrachteten Texten jedenfalls nicht genannt. Besonders explikationswürdig ist demgegenüber die Außerordentlichkeit dieser ‚Gleichheit‘, die im Engelhart mit dem Willen Gottes43, im Olwier und Artus dagegen zusätzlich noch humoralpathologisch mit einer gleichartigen Komplexion begründet ist.44 Die in den Romanen konstatierte Gleichheit beruht auf einer Gemengelage konventionalisierter Indizien, die zumal Übereinstimmung in Hinsicht auf ethische Überzeugungen und soziale Gleichheit signalisieren. Und zu diesen Indizien gehören vor allem der Körperbau, die Kleidung, der höfische Habitus als Ergebnis von Erziehung, die Sprache und auch der Wertehorizont, der gemäß dem Kalokagathie-Ideal auch nach außen hin sichtbar wird. Bestaunt wird in den Texten mithin nicht die Ähnlichkeit eines Gesichts mit einem anderen, sondern die über den Augenschein wahrnehmbare soziale Gleichheit. Bildliche Darstellungen folgen zwar eigenen Gesetzmäßigkeiten, aber stellt man die vorangehenden Ergebnisse in Rechnung, dann könnten die den Texten zugeordneten Bilder etwas weniger befremdlich wirken. Zu bedenken ist zwar, dass sowohl im späten Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit mit neuen (Porträts), auch unterschiedlichen Wahrnehmungsgewohnheiten zu rechnen ist; doch dass das Sehen als eine historischkulturelle Praxis gedeutet werden muss, darüber besteht Konsens. Insofern stehen auch die Wahrnehmungskategorien, die im Fall der betreffenden Bilder noch in der Frühen Neuzeit die Erwartungen zufrieden stellen konnten, mit ihrem soziokulturellen Kontext in Verbindung. Anhand einiger weniger Beispiele ist nun abschließend darüber nachzudenken, für welchen Blick die ununterscheidbaren Doppelwesen der Texte in den Bildern konzipiert worden sein könnten. Die Bilder ‚unterbieten‘ das im Text Erzählte zunächst einmal, weil der bildlichen Präsentation in Handschriften und Drucken eine Selektion aus dem vorgegebenen Material vorausgeht. Im Rahmen des besonderen Mediums knüpfen sie außerdem an je eigene 42

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Dazu etwa Dieter Kartschoke: ‚Der ain was grâ, der ander was chal.‘ Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter, in: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. v. Johannes Janota, Tübingen 1992, S. 1–24, oder Gottfried Böhm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985, S. 28 zum prekären Thema der Ähnlichkeit: „Ähnlich kann schon ein Stuhl dem anderen sein, ohne daß deshalb der zweite das Bild des ersten wäre.“ Druck S. 27; V. 454f. im Engelhart u.ö. Olwyer und Artus, fol. Kijv: „des soll sich nyemant verwundren / wann wo zwey kind mit einander vfferzogen werden / vnnd in eim alter sind vnnd eyner complex [...] do was es keyn wunder das man eynen nit fFr den andren erkant.“

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historische Traditionen und auch Konventionen an, und auch die Modi des ‚Zeigens‘ unterscheiden sich. Dabei ‚überbieten‘ die Bilder das im Text Erzählte aber zugleich, indem sie es in einen höheren Grad an Anschaulichkeit überführen und nicht selten – über das im Schrifttext Erzählte hinausgehend – steigernd vergegenwärtigen. Bilder verfügen bekanntlich über ihnen eigene Ausdrucksmöglichkeiten, über je besondere Mittel der Aufmerksamkeitslenkung, und was dabei zur Anschauung gebracht wird, ist – verglichen mit dem Schrifttext – ein zweiter, sich zwangsläufig unterscheidender ‚Text‘, der zudem einer Perspektive verpflichtet sein kann, die nicht unbedingt mit dem Schrifttext kongruieren muss. Die Bilder in Handschriften und Drucken bieten so eine eigene Wirklichkeit, und die lässt sich seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts – trotz der Verbundenheit mit dem Schrifttext – unter anderem wegen des zeitlichen Abstandes mit all seinen veränderten Interessen-, Herstellungs- und/oder Verstehensmöglichkeiten immer weniger mit ihm verrechnen. Insbesondere die Holzschnitte in den Drucken werden im Verlauf der Zeit erfahrungsgemäß zunehmend mehr Unabhängigkeit erlangen und sich als eigenes Medium ins Recht setzen. Doch zunächst zu den kolorierten Federzeichnungen im Wilhelm von Wenden (Abb. 1). Die Handschrift wurde etwa 1433 bis 1437 in der städtischen Werkstatt Diebold Laubers gefertigt.45 Was diese und andere Handschriften des Malerkollektivs A unter anderem charakterisiert, ist der „Gemeinschaftsstil“, den eine dort beschäftigte „heterogene Malergruppe im Laufe der Arbeit“46 entwickelt. Im vorliegenden Fall gehören dazu die prägnanten Umrisszeichnungen mit „[s]charfe[n] Parallelbahnen“ und „kurze[n] Hakenoder Haarnadelfalten“ zur Binnengliederung.47 Damit im Zusammenhang stehen sich wiederholende, in unterschiedlichen Kontexten einsetzbare Bildmuster, die auch eine effiziente Herstellungsweise gewährleisteten. Und dazu gehört wiederum die Anordnung der einzelnen Szenen auf einer Art Bühne, zumeist in der Form eines Rasenstücks. Die ursprüngliche Farbigkeit dieser Federzeichnungen lässt sich allerdings nur noch erahnen, denn wegen eines Wasserschadens ist die Deckfarbenschicht „nur in verblaßter und veränderter Form zu erkennen.“48 Deswegen sind auch die ehemals roten Bild- beziehungsweise Kapitelüberschriften nicht mehr zu entziffern. Die dargestellte Szene lässt sich allerdings identifizieren, denn sie ist einem Gespräch integriert, das ein Bürger, der die Zwillinge beherbergt, mit einem König (Honestus) führt. Der möchte die beiden – dem geschriebenen Text entsprechend – in sein Gefolge bei Hof aufnehmen. In der Federzeichnung fol. 136r (Abb. 1) gliedern und verbinden zumal Gebärden und Blicke die beiden Figurengruppen, die sich auf der typischen Rasenbühne in höflichem Abstand zueinander befinden. Dabei lenken die Zeigegebärde des Bürgers im blauen Ge-

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So Saurma-Jeltsch 2001 (wie Anm. 17), Bd. II, S. 47. Die Ausstattung der Handschrift mit Bildern wird dort der Gruppe A zugeordnet. Ebd., Bd. I, S. 101. Ebd., S. 101. Ebd., S. 104.

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wand und der Blick des Königs, der an seiner Krone erkennbar ist, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die beiden in die Knie gehenden Zwillinge. Auch sie schauen auf den König, dessen offene Hand wie die Hände des äußeren Zwillings eine Redegebärde aufweist, die zumeist Teilnahme signalisiert. Der erhobene Zeigefinger bittet demgegenüber um Aufmerksamkeit. Ganz pointiert ist hier also eine Gesprächssituation wiedergegeben, in die selbst die Figur hinter dem König durch Redegestus und Blickrichtung involviert ist. Und zu einer Gesprächssituation passt auch die ein Warten signalisierende, nach unten abgewinkelte linke Hand des Bürgers. Der zweite Zwilling richtet sich mit einer höflichen Bittgebärde an den standeshöheren König. In Hinsicht auf den Gesprächsgegenstand ist innerhalb des Bildes so das Interesse des Königs an den Zwillingen formuliert, die sich ihm gegenüber sichtbar ehrerbietig verhalten, während der Bürger das Ergebnis des Gesprächs abwartet. Dem Betrachter des Bildes sieht hier niemand mit einem Blick entgegen; indem der Betrachter den Gebärden und Blickrichtungen nachgeht, folgt er einer bildimmanenten Entscheidungsfindung in processu. Und damit setzen die Maler ergänzend etwas in Szene, was im Schrifttext lapidar grGz oder hovelichez Abb. 1: Wilhelm von Wenden (Hannover, NiederGespräch heißt.49 sächsische Landesbibliothek, Ms IV. 488‚ fol. 136r) Wie konstituiert sich also im Bild die im Text so verblüffende Ununterscheidbarkeit der Zwillinge? Diese Frage gilt es in diesem Medium wohl zu suspendieren. Nun handelt es sich bei den Zwillingen zwar nicht um derart langgezogene Figuren wie im Fall des Königs oder des Bürgers. Und deren Bärte tragen die Zwillinge auch nicht. Hohe Stirnpartien und mit wenigen Strichen gezeichnete Gesichtszüge, die etwas eng „beieinanderstehende[n] Augen“, die „feinen, kurzen und nur leicht gewölbten Augenbrauen“ sowie die in Kringeln und Wellen locker gezeichneten Haare beziehungsweise

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Im Engelhart geht „Ir Gruß vnd jr emphahen“ bloß „gar schone“, „Mit viel tugentlicher art“ und mit „h=felicher mGze, hart vnd sFze“ miteinander (Druck S. 29; V. 494–497, S. 508f.). Im Wilhelm von Wenden bieten sie lediglich einander „gruoz“ (V. 5217) oder fragen, sprechen usw. Gesten und Gebärden, welche die Unterhaltung begleiten, finden dabei keine Erwähnung.

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Bärte50 aber lassen alle Gesichter, nicht nur diese beiden also, stereotyp und formelhaft erscheinen. Die genannten Merkmale gehören geradezu zu den Charakteristika des Malerkollektivs A. Und das trifft entsprechend auch auf die Figur hinter dem König zu, deren Größe, Kleid und Haartracht mit dem Äußeren des einen Zwillings nahezu identisch ist. Nicht zuletzt aufgrund des kollektiven Stils der Malergruppe sind in den Federzeichnungen aus der Werkstatt Diebold Laubers alle Figuren weitgehend übereinstimmend ausgeführt. Das ist einerseits den Konventionen mittelalterlicher Malerei, aber auch den produktionsspezifischen und arbeitsökonomischen Gegebenheiten der Werkstatt verpflichtet. Dabei richtet sich das Interesse der Malergruppe ganz offensichtlich nicht auf die Anatomie der Körper, die auf dem Terrain mehr oder weniger „rutschend zu kleben scheinen“51, noch weniger auf die Physiognomie. Und doch machen die Bilder dem Betrachter ein bestimmtes Angebot, sie höchstwahrscheinlich zusammen mit dem Text zu rezipieren, und dieses Angebot wiederum ist zeitgenössischen Erwartungen und Wahrnehmungsgewohnheiten verpflichtet. Stellt man dies in Rechnung, dann wird der Betrachter zunächst einmal nicht nach einer äußerlich wahrnehmbaren Gleichheit der Zwillinge im heutigen Verständnis gesucht haben. Außerdem formuliert sich in den Bildern eine ganz eigene Perspektive, wenn sie die Zwillinge unabhängig vom geschriebenen Text nicht als Riesenbabys oder Räuber, sondern ausschließlich als untadelige Helden präsentieren.52 Betrachtet man das Bildprogramm insgesamt, so rücken – wie auch hier – allein ihre vorbildlichen Umgangsformen und ihr vornehmes Äußeres in den Blick. Ihnen fehlt mithin die Aura des Bedrohlichen, denn eine Abweichung von der Natur wie im geschriebenen Text sollen sie nicht darstellen. Diskrepanzen dieser Art widersetzen sich beständig dem im Schrifttext Erzählten, weswegen weniger nach Übereinstimmungen als vielmehr danach gefragt werden sollte, wie sich die Bilder gegenüber dem Verbaltext behaupten. Und das gilt erst recht für die Holzschnitte, an denen noch die jüngste Forschung die „Zerrüttung des Text-Bild-Verhältnisses“53 beklagt hat, was dann in der Regel mit ökonomischen Erfordernissen begründet wird. Hinzu kommen jedoch wohl auch hier kulturelle Dispositionen, die sich dem Produktionsprozess ebenso eingeprägt haben wie dem Re-

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Saurma-Jeltsch 2001 (wie Anm. 17), Bd. I, S. 102. Zu den Charakteristika dieser Malergruppe gehört außerdem der „weitgehende Verzicht auf Schraffuren“; ebd. Ebd. Durch das vorspringende Kinn, die große Nase und die Keule sind die Raubritter etwa auf fol. 160v als gesellschaftliche Außenseiter gekennzeichnet. Diese Darstellung trifft sich mit der mittelalterlichen Semantisierung, wonach ein körperlicher Makel in der Regel zugleich Zeichen eines Defizits ist. Und aufgrund dieses Defizits, hier der sozialen Ächtung, wird ein räuberischer outcast zu einem hässlichen Wilden, der zudem mit einer Keule anstelle eines höfischen Schwertes bewaffnet ist. Die gleichfalls räuberischen Zwillinge aber sind in der Darstellung von dieser Sicht ausgenommen. So Manuel Braun: Illustration, Dekoration und das allmähliche Verschwinden der Bilder aus dem Roman (1471–1700), in: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period (Intersections, 4/2004), hg. v.. Karl A. E. Enenkel/ Wolfgang Neuber, Leiden/Boston 2005, S. 369–408, Zitat S. 393.

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zeptionsprozess.54 Das, was sich dem Blick darbietet, verbindet sich unter dieser Voraussetzung mit je historischen Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten, weswegen das, was in den Holzschnitten zu sehen ist, in Einklang mit dem gestanden haben dürfte, was man gewohnt war und wohl auch erwartet hat. Ihre erläuternde Funktion haben die hier zu betrachtenden Holzschnitte jedenfalls weitgehend verloren: „Der Text emanzipiert sich vom Bild, das Bild ist vornehmlich Illustration, die für das Verständnis der Texte eine untergeordnete Rolle spielt.“ 55 Vom Text aus betrachtet, trifft das zweifellos zu, aber im Hinblick auf die Verselbständigungstendenzen der Holzschnitte könnte man auch sagen, dass das Bild sich zunehmend vom Text emanzipiert: Mehr denn je werden die Holzschnitte oder Kupferstiche der Phantasie der Betrachter übereignet, und ihnen wird ganz offensichtlich ein in der Buchillustration bisher ungeahnter Eigenwert zuerkannt. Es sind Holzschnitte „des neuen Typs Buch, das den typo- und xylographischen Reproduktionstechniken verpflichtet ist und nicht mehr den traditionellen Überlieferungsträger Handschrift imitieren will.“56 Und „damit werden auch die Grenzen zwischen Buchillustration und sogenannter freier Graphik fließend.“ 57 An den Holzschnitten zeigt sich auch, wie der Buchdruck mit seinen neuen Möglichkeiten der Vervielfältigung die Austauschbarkeit von Szenentypen noch weitertreibt. Wenn nun identische Holzschnitte, die dazu versatzstückartig kombiniert mit einem zweiten wiederholt in immer neue Kontexte integriert werden, dann machen sich die Bilder schon aus diesem Grund mehr noch als die in den mittelalterlichen Handschriften unabhängig vom Erzählten. Eine der Konsequenzen besteht zunächst einmal darin, dass die Protagonisten nun in Abweichung von der Gleichförmigkeit in den Federzeichnungen aus der Diebold Lauber-Werkstatt beständig ihr Erscheinungsbild wechseln. Außerdem

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Ähnlich Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Helmut Gier/ Johannes Janota, Wiesbaden 1997, S. 337–352, der ebenfalls festhält, dass die Verselbständigungstendenzen „nicht als bloßer Zufall oder als Folge drucktechnischer Erfordernisse“ (S. 349f.) aufzufassen sind, sondern mit der „Tendenz zur Ausbildung eines literarischen Publikums [in Verbindung stehen], das erst allmählich lernen musste […], in stiller Lektüre den Text in sich aufzunehmen“ (S. 350), sowie mit einer Funktionsverschiebung, wenn Bilder nun „weniger eine semantische als [vielmehr] eine ästhetische Funktion“ (S. 352) besitzen. So Jan-Dirk Müller zum Augsburger Druck der Magelone (Heinrich Steiner) von 1535, in: Ders.: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten (Bibliothek der Frühen Neuzeit, 1), Frankfurt a.M. 1990, S. 1228. Norbert H. Ott: Leitmedium Holzschnitt: Tendenzen und Entwicklungslinien der Druckillustration in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert, 2 Halbbde., Hamburg 1999, zweiter Halbband, S. 163–252, hier S. 226; ähnlich Braun 2005 (wie Anm. 53), der konstatiert, dass seit dem 16. Jahrhundert die „Illustrationen zunehmend autonom“ werden (S. 398). Damit einher geht die vermehrte namentliche Nennung der Holzschneider oder Kupferstecher und die Entbehrlichkeit der Bilder in den Romanen des 17. Jahrhunderts. Kunstwerke geraten zunehmend in Privatbesitz, Sammlungen entstehen usw; ebd., S. 400–407. Ott 1999 (wie Anm. 56), S. 244.

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unterscheidet sich auch die Art der Wahrnehmung, die beim Betrachten der Holzschnitte gefordert ist. Im Unterschied zu dem über die Federzeichnungen langsam gleitenden Blick, der eindringlich durch lebhafte Gebärden und Blickrichtungen geführt wird, vermag der Blick des Betrachters der Holzschnitte eine Szene nun rascher zu erfassen: Durch die Reduktion auf ein Minimum an Figuren treten einerseits die rezeptionslenkenden Wahrnehmungsappelle zurück, andererseits beschränken sich die einzelnen szenischen Details nun überwiegend auf wenige, zur Identifikation eben nötige Elemente. So auch in den beiden Holzschnitten zum Roman von Olwier und Artus (Abb. 2). Das Holzschnittprogramm hat Urs Graf 1521 geschaffen58, für den der kalligraphische Stil mit energischen (Parallel-)Schraffuren, unter anderem für die Binnenstruktur, kennzeichnend ist. Abb. 2: Olwier und Artus. Basel, Adam Petri, 14. Februar Im Druck sind die beiden Szenen 1521 (fol. Aiiijr) auf fol. Aiiijr in verschiedenen Kombinationen und Zusammenhängen eingesetzt. Die Szene mit dem thronenden König kehrt insgesamt siebenmal wieder (Biiv, Dir, Diiijv, Eiijr, Fiijr, Fiiijr), die mit der vor der Burganlage sitzenden Königin insgesamt dreimal (Eiir, Kir). Schon diese unter anderem arbeitsund kostenökonomisch zu begründende Gegebenheit treibt auch die Verselbständigung des Mediums Bild maßgeblich voran. Liest man nun den Titulus zu fol. Aiiijr, der wie in den Handschriften oft noch als Bild- und Kapitelüberschrift zugleich fungiert, dann nimmt dieser nur auf Olwiers Begegnung mit der begehrlichen Königin Bezug: „Wie die künigin gab zGuerstan Olwier wie sy im hold wer / vnd sy begerte mit im zGsünden in vnluterkeit / vnd wie Olwier ir antwurt gab verborgenlich / vnd als sich den eren zympt.“ Berücksichtigt man aber den umgebenden Schrifttext, dann sind Olwier und Artus ge58

S. Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kupferstichkabinett. Beschreibender Katalog der Zeichnungen, Bd. III: Die Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, Teil 2B: Urs Graf. Die Zeichnungen im Kupferstichkabinett Basel, bearb. v. Christian Müller, Basel 2001, zum Druck S. 319.

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meinsam dargestellt: einmal zusammen mit anderen vor dem König, dann allein vor der in einer Burganlage sitzenden Königin. Von beiden heißt es nämlich ebenda: „Olwier vnd sin gesel stunden vff vnd leyten sich an / vnd in dem giengen sy beyd zG hoff“, wo die Königin „sy beyd mit fruntlichen eren worten vnd geber […] empfieng.“ In der Darstellung links gerät der König, der majestätisch auf seinem Herrschaftsstuhl thront, aufgrund der Blicklenkung ins Zentrum. Vor ihm steht eine Gruppe von vier, äußerlich sich erheblich unterscheidenden Personen. Eine Person, wohl einer der doppelgängerischen brüderlichen Freunde, kommuniziert mit dem König, ehrerbietig sich verneigend und durch den Redegestus Teilnahme oder Einsicht signalisierend. Auf ihn richtet sich scheinbar der Blick des Königs. Rechts ist es die Königin, der sich die beiden Brüder, welche in den beiden nebeneinander angeordneten Szenen als identische Figuren geboten sind, zuwenden. Einer der beiden Brüder ist im Begriff, die ihm dargebotene Hand der Königin zu ergreifen, die ihren Blick in höfischer Manier senkt. Auch aus diesem Holzschnitt schaut niemand dem Betrachter entgegen; Gesten und Gebärden signalisieren links in nachdrücklicher Klarheit ein Gespräch, rechts eine Begrüßung. Inhaltlich geht das bildlich Dargestellte zwar wieder über das im Schrifttext Erzählte hinaus, denn weder ist vom Empfang des Königs ausdrücklich die Rede noch davon, dass die Königin die beiden brüderlichen Freunde vor der Burg empfängt. Gleichwohl ist das Bildthema mit dem gedruckten Text verbunden, in dem von Empfang, Begrüßung, Gesprächen usw. erzählt wird. Von dem im Titulus angesprochenen begehrlichen Ansinnen der Königin, die Olwier „on alle scham“ und „wider sinen wille[n]“ bedrängt, weil sie „mit vnzimlicher inbrünstiger liebe enzünt [wart] gegen im / das es vnseglichen ist“, ist erst an späterer Stelle die Rede (fol. Avv und Aiiijv). Davon lässt die sittsam den Blick senkende Königin im Holzschnitt überdies nichts erahnen. Doch es sollte klar geworden sein: Um die Erwartung eines allzu engen Text/Bild-Bezuges kann es hier nicht gehen. Von Interesse ist vielmehr, welche Art von Gleichartigkeit dem Betrachter in der Frühen Neuzeit präsentiert wird. Vergleicht man daraufhin den kräftigeren bartlosen Jüngling, welcher der Königin zur Begrüßung die Hand reicht, mit dem schlanken Jüngling mit Bart und Barett, dann lässt sich mit einiger Sicherheit nur eines sagen: Ähnlichkeit im heutigen Verständnis hat der Blick des Betrachters im 16. Jahrhundert ebenso wenig gesucht wie jener der spätmittelalterlichen Lauber-Handschrift. 59 Folgt man den Tituli im Weiteren, dann sind Olwier und Artus gemeinsam fast nur noch in Massenszenen präsentiert, wo es auf die Identifizierung einzelner Personen gar nicht ankommt. Das allerdings lässt sich nicht umstandslos als Vermeidungsstrategie interpretieren, die ein Darstellungsproblem geschickt umginge. Der Druck des Engelhart scheut vor diesem Problem nämlich nicht zurück, und dieser Druck ist 1573, also 50 Jahre später, in der Frankfurter Offizin von Kilian Han verlegt worden. Auch der Holzschnitt, von dem nun die Rede sein soll (Abb. 3), wurde wiederholt im Druck eingesetzt, 59

Und diese Annahme findet Bestätigung, wenn man Einzeldarstellungen der Protagonisten hinzu nimmt wie die beiden fol. Avv, in denen es sich nicht nur um zwei sich erheblich voneinander unter-

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und zwar insgesamt viermal (Cjv, Ivjv, Kvjr, Kviijv). Und auch er enthält mit Blick auf das im Roman Erzählte einen Überschuss an Informationen, der auf Sinnzusammenhänge verweist, die außerhalb des im Schrifttext Erzählten liegen, gleichwohl aber in der Auffassung des Betrachters mit dem Erzählten interagieren können, um so eine bestimmte Vorstellung zu erzeugen. Der Titulus oberhalb des Bildes kündigt an: „Wie der K=nig von Dennmarck die zwen junge Herrn vor sich fordert / vnd jhres Dienstes sehr erfreuwet wirdt.“ Die beiden im Titulus genannten jungen Herren sind demnach Engelhart und Dietrich, die zu dem für seine Freigebigkeit berühmten König Fruote in Dänemark aufgebrochen sind. In vollem Ornat sitzt der König in herrscherlicher Richterpose mit gekreuzten Beinen auf einem Thron. Ins Bild gesetzt ist wieder eine Gesprächssituation, in deren Zentrum einer der beiden doppelgängerischen Freunde ehrerbietig steht. Auf ihn weist der ihnen zugewandte König mit dem Zeigefinger, um die Aufmerksamkeit des Betrachters für den Redegegenstand zu sichern. Die beiden Freunde kommunizieren mit ihm über Redegesten. Dass der kräftige Mann mit Bart, der ein Tierfell über der Schulter trägt, mit dem schlanken bartlosen Höfling vor dem König physiognomisch Abb. 3: Engelhart, Frankfurt a.M., Kilian Han, 1573 aber auch gar nichts miteinander gemein (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbehat, ist vermutlich wieder nur für den heu- sitz, Abteilung Historische Drucke, fol. Cjv) tigen Betrachter ein Problem. Dieser Holzschnitt stammt allerdings auch aus einem ganz anderen Roman, denn der Drucker beziehungsweise Verleger hat für den Engelhart auf vorhandene Holzstöcke aus verschiedenen Romanen zurückgegriffen, die in seiner Offizin verlegt worden waren. Der Holzschnitt fol. Cjv war für die Melusine gefertigt worden, in der Reimund „Bertram scheidende Personen handelt, von denen die links ziemlich genau dem bärtigen Jüngling mit Barett vor der Königin auf fol. Aiiijr (Abb. 2) gleicht. Wohl begegnen also – nicht zuletzt wegen der sich wiederholenden Holzschnitte – immer wieder bestimmte Personen in den verschiedenen Holzschnitten. Wer aber nun wer ist, danach hat der Betrachter, dem aufgrund der hermetischen, bildinternen Blickregie wieder die Position des externen Beobachters zufällt, eher nicht gesucht.

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[um] soviel Land zu Lehen [bittet], wie eine Hirschhaut umschließen kann.“60 Im Engelhart kommt eine Hirschhaut gar nicht vor. Doch das erschließt sich nur demjenigen, der sich vergleichend mit den Holzschnitten aus der Frankfurter Offizin befasst. Der Betrachter im 16. Jahrhundert nimmt dagegen nur eine Gesprächssituation wahr, in der eine der Personen ein Tierfell über der Schulter trägt. Die für uns heute kaum mehr einholbare Polysemie konventionalisierter Szenentypen lässt dem Betrachter im Rahmen der historischen Möglichkeiten zwar Raum für vielfach beziehbare Assoziationen, aber um ein personenbezogenes Wiedererkennen geht es auch in diesen Holzschnitten nicht. Darauf, dass auch Engelhart und Dietrich in diesem Holzschnittprogramm beständig ihre äußere Erscheinung wechseln, weil auf vorhandene Vorräte aus der Offizin zurückgegriffen wurde, darauf jedenfalls scheint es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht angekommen zu sein. Schlüssel zur Identifikation von Ähnlichkeit oder sogar Gleichheit ist in Bildern wie auch in Texten schließlich nicht das Gesicht, sondern das äußere Zeichen. Sei es nun die elegante Schecke, der knappe Rockansatz, der in den Federzeichnungen über Beinlingen getragen wird, oder sei es das stoffreiche Wams mit Muffe in den Drucken aus dem 16. Jahrhundert, was die Doppelwesen in den Bildern als zusammengehörig erweist, sind unter anderem ihre vornehmen modischen Gewänder. Vergleichbar ist außerdem ihre höfisch-höfliche Haltung, wenn sie ehrerbietig und in höflichem Abstand vor hochgestellten Personen stehen, die wiederum anhand ihrer Standesattribute wie den Herrschaftszeichen identifizierbar sind. Dem individuellen Antlitz kommt weder in den Federzeichnungen noch in den Holzschnitten eine erkennbare Bedeutung zu. Aber diese Art von Ähnlichkeit oder Gleichheit ist ja auch in den Texten nicht aufgerufen. Das letzte Bildbeispiel (Abb. 4, Taf. III) für eine doppelgängerische Identität, die sich wie in allen bisher betrachteten Fällen ausschließlich über ein soziokulturelles Merkmalensemble herstellt, stammt aus einer Handschrift des 15. Jahrhunderts. In der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg wird ein Codex aufbewahrt, der zu einer Gruppe von drei Handschriften gehört, die vier Epen enthalten. Auftraggeber war Johann III., der jüngere Sohn Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, in deren Umgebung die ersten Übertragungen aus dem Altfranzösischen entstanden.61 Die Handschriftengruppe für Johann III. entstand in den fünfziger Jahren des 15. Jahrhunderts und Konsens herrscht dahingehend, dass der Maler „mit der französischen Buchmalerei vertraut war.“62 Charakteristisch für diese Bilder ist die Einbettung der Handlung in großräumige Landschaftskulissen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein großes Zeltlager vor mehreren Gebäudegruppen, die wiederum von beackerten Feldern und einem Fluss umgeben sind. Überall sind zudem Personen mit unterschiedlichen Verrichtungen befasst: mit dem Beladen von Schiffen, 60 61

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S. Steinhoff 1987 (wie Anm. 6), S. 5. Zu dieser Gruppe von Handschriften Ute von Bloh: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ‚Herzog Herpin‘, ‚Loher und Maller‘, ‚Huge Scheppel‘, ‚Königin Sibille‘ (MTU, 119), Tübingen 2002, u.a. S. 32f. Eva Wolf: Historie von Herzog Herpin. Übertragen aus dem Französischen von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek,

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dem Götzendienst, der Bewachung der Zelte, der Verfolgung einer Person und so weiter. Der Blick des Betrachters wird hier – wie so oft in mittelalterlichen Darstellungen – von links ins Bild geführt, wobei die Aufmerksamkeit zunächst einmal zwei übergroßen Figuren am linken Bildrand gehört, von denen eine, bekrönt, sich eine Maske vors Gesicht hält, während die andere im Begriff ist, jene Person mit einem Kurzschwert Abb. 4: Loher und Maller (Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, zu erstechen. Dieser Cod. 11 in scrinio, fol. 134v) Mörder ist es dann, der den Blick des Betrachters weiter ins Bild hineinführt, denn er flieht – gut erkennbar an seinem Äußeren – zu Pferd in Richtung einer der Burganlagen, verfolgt von einigen Reitern, die ihm aus einem der Eingänge zum Zeltlager nachsetzen. In diesem Fall nun geht es nicht um einen doppelgängerischen Freund oder Bruder, sondern um einen Stellvertreter. Ein König (Germon) fürchtet in diesem Epos um sein Leben und beauftragt aus diesem Grund einen Gefolgsmann (Durffier), ihn für eine gewisse Zeit in der Öffentlichkeit zu vertreten. Im Bild ist ausgeführt, wie der Stellvertreter des Königs vor dem Zeltlager zusammen mit dem verräterischen Reynhart aus Hennegau steht, der im Begriff ist, ihn zu ermorden. Das ist auch im Titulus festgehalten: „Hie stalt germon eynen Ritter in sine stat der gabe rede vnd antwurt als obe [er] germon selber were vnd eyn ritter vsz hennegauwe genant der bösse reynhart kam zu ym vnd stach yn dot vnd wont es were konnig germon“ (fol. 134v). Der als König agierende Stellvertreter verbirgt sich hinter einer Maske, und sie ist es, die das Wissen um einen Stellvertreter überhaupt erst erzeugt. Ohne sie wäre die täuschende Personenverdoppelung durch den Stellvertreter für den Betrachter nicht sichtbar, zumal von rechts aus dem Zeltlager der in seiner äußeren Erscheinung übereinstimmende ‚echte‘ König naht. Cod. Guelf. 46 Novissimi 20 (Codices illuminati medii aevi, 57), München 2000, S. 46; s. a. Robert Schmidt, in: Der Huge Scheppel der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken nach der Handschrift der Hamburger Stadtbibliothek (Veröffentlichungen aus der Hamburger Stadtbibliothek, 1), eingel. und hg. v. Hermann Urtel, Hamburg 1905, S. 20–25.

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Das Mysterium der Gleichheit ist mithin anders gelagert und doch vergleichbar. Im Unterschied zu den anderen Darstellungen handelt es sich nun um einen Stellvertreter, der vorübergehend die Identität eines anderen angenommen hat. Zum anderen liegen im Unterschied zu den bisherigen Beispielen nun recht eindeutig identifizierbare Personen vor.63 Aber hier wie dort ist der Stellvertreter nicht als der König in seiner Unverwechselbarkeit geboten, sondern es sind unterschiedliche Zeichen versammelt, die den falschen König ‚bedeuten‘: Krone, Kleidung, Habitus. Vergleichbar ist mithin die Auffassung, dass ein soziales Zeichenensemble, bestehend aus Körper, Kleidung und Statuszeichen, genügt, um die Umgebung davon zu überzeugen, dass der König agiert. Allein die Maske erzeugt dabei die Vorstellung einer Personenverdoppelung, denn die „wichtigste Funktion der Maske ist wohl die ‚sprechende‘ Verwandlung. Ganz offensichtlich hat jeder, der eine Maske anlegt, die Absicht, sich zu verwandeln, als ein anderer zu erscheinen und eine neue Identität, die nicht seiner natürlichen entspricht, anzunehmen.“64 Der Maske in der Hamburger Handschrift Cod. 11 in scrinio kommt allerdings eine doppelte Funktion zu: Auf der Figurenebene will der Stellvertreter wirklich für den König gehalten werden, was ja auch gelingt und was für den Stellvertreter tödliche Folgen hat.65 Für den Bildbetrachter aber bringt die Maske zum Ausdruck, dass der Stellvertreter ein Mann ist, der wie der König aussehen will. Man könnte also sagen, dass im Prozess des Zeigens und Verhüllens die Verdoppelung in einer Person ‚zusammengefaltet‘ ist. In den Worten Roland Barthes’ weist dabei die Maske, die das „Gesicht auf ein einziges maßgebliches Bild festlegt“66, „jegliches Signifikat, das heißt alle Expressivität, ab.“67 „Bezeichnet, aber nicht dargestellt“ ist der König, dessen Zeichen der Stellvertreter auf sich versammelt.68 Was dieses letzte Beispiel außerdem über die bisherigen Fälle hinaus veranschaulicht, ist, dass identitätsrelevante Merkmale auch lügen können.

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Wie in spätmittelalterlichen Handschriften häufiger zu beobachten, sind hier die Akteure recht gut, vor allem anhand ihrer Kleidung, voneinander zu unterscheiden. Ein vergleichbarer Fall liegt in der Heidelberger Herpin-Handschrift vor; s. dazu Ute von Bloh: Historie von Herzog Herpin. Übertragen aus dem Französischen von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 152, Farbmikrofiche-Edition (Codices illuminati medii aevi, 17), München 1990. Moshe Barasch: Tiermasken, in: Die Sprache der Masken (Eranos, 9), hg. v. Tilo Schabert, Würzburg 2002, S. 123–147, Zitat S. 123. Möglicherweise in ‚epischer Gerechtigkeit‘, denn die „Geschichte der Maske im Mittelalter ist die Geschichte ihrer Entfernung aus dem Bereich des Göttlichen und ihres Übergangs in den Bereich des Dämonischen“; Zitat ebd., S. 133. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (Bild und Text), München 2001, S. 37. Roland Barthes: Das Reich der Zeichen (edition suhrkamp, 1077), übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1981, S. 123; Barthes spricht hier allerdings vom ‚geschriebenen Gesicht‘ im japanischen Theater (S. 122). Ebd., S. 126.

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II. In der Literatur konstituiert sich Gleichheit und damit die Ununterscheidbarkeit der Doppelwesen vorrangig im Blick der anderen. Und die wiederum ist in den Bildern und in der Literatur in einer Weise imaginiert, die sich von dem, was wir heute erwarten würden, doch sehr weit entfernt. Wenn sich das Selbst in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten weitgehend im Blick auf die anderen sowie im Blick der anderen definiert, dann heißt das im vorliegenden Zusammenhang: Identifizieren bedeutet Klassifizieren, insbesondere in sozialer Hinsicht, denn soziale Gleichheit hat sich als wichtiger erwiesen als irgendein Grad von Ähnlichkeit im heutigen Verständnis. Gleichheit oder Ähnlichkeit ist demnach eine Idee, die im Verlauf der Geschichte je anders definiert wird: „Wahrnehmung ist über ihre individuelle Ausrichtung hinaus auch ein sozialer Prozess der Aufmerksamkeitslenkung, und ein sozial beaufsichtigter Vorgang der Wissensaneignung und -strukturierung geht dabei immer schon voraus.“69 Diese Vorstrukturierung ist als Erzeugungsgrundlage für die literarischen Entwürfe zu betrachten, innerhalb derer die Protagonisten den ständisch Gleichen anhand bestimmter Ressourcen und Handlungsmuster (distinkte Sprache, höfische Umgangsformen, Tugendhaftigkeit, hövescheit der äußeren Erscheinung und so weiter) erkennen. Verhandelt wird dabei in den Geschichten jeweils etwas Unerklärliches, das eine Irritation der gedachten Ordnung bewirkt, und die hat ihren konfliktträchtigen Ursprung in der nicht akzeptablen Gleichheit der Doppelwesen. Was jemand ist, das ist maßgeblich vom bestätigenden Urteil des Hofes abhängig. Und für die Umgebung gerät die verdoppelte Identität zum einen deswegen zum Problem, weil sich Möglichkeiten von Täuschung und Betrug eröffnen (Loher und Maller, Engelhart), zum anderen, weil die personale Identität zugleich als je eigene aufgefasst ist. Was den Doppelwesen in den literarischen Texten fehlt, sind also die nötigen Unterschiede, die aufgrund der übergroßen Ähnlichkeit unterschritten werden. Insofern verbindet sich mit den zugleich faszinierenden wie auch bedrohlichen Existenzen etwas zutiefst Ambivalentes, das erzählstrategisch nur mühsam mit den mitlaufenden Ordnungsvorstellungen harmonisiert werden kann. Die Irritation, welche die Personenverdoppelung auslöst, erscheint dabei als Reaktion einer Gesellschaft, in der die personale Identität wie auch die Konstruktion der feudalen genealogischen Ordnung auf Unterschieden aufbaut. Das trifft sich mit dem, was René Girard und andere zumal über die gemeinschaftbedrohenden und Angst einflößenden Zwillingsgeburten dargelegt haben: „Wo die Unterschiede fehlen, droht Gewalt.“70 Aber auch für die doppelgängerischen Freunde im Engelhart und in Olwier und Artus scheint zu gelten: Je größer die Ähnlichkeit, desto größer ist die Gefahr, die von den ununter-

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Harald Haferland: Kontiguität. Die Unterscheidung vormodernen und modernen Denkens, in: Archiv für Begriffsgeschichte, LI, 2009, S. 61–104, Zitat S. 77. René Girard: Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a.M. 1992, S. 88.

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scheidbaren Freunden für die Gesellschaft ausgeht (Betrug in den Gottesurteilen und an den Ehefrauen, Opferung der Erben usw.). Die katastrophalen Folgen einer derartigen „Generaloffensive [...] gegen die Gemeinschaft“71 können nur umgangen werden, indem sie sozialverträglich umcodiert wird wie im Wilhelm von Wenden, wo die als Raubritter sich verdingenden Zwillinge nach einvernehmlichen Verhandlungen ein Amt bei Hof erhalten.72 Dabei bestätigt die Aura des Bedrohlichen oder Obskuren, welche die Doppelwesen umgibt, zugleich verschärfend, was im Wissen der Zeit vorausgesetzt wird: Bei den Doppelwesen handelt es sich um potentiell verdächtige Gestalten.73 Dieser Art ‚Erklärung‘ arbeiten die Bilder aber gerade nicht zu. Mit den ihnen eigenen Mitteln entfalten sie eine andere Art von Eindrücklichkeit, und die kann sich zugleich weit vom Schrifttext entfernen. Das betrifft nicht nur die Perspektive auf das Erzählte, sondern etwa auch die Gespräche, die in den Bildern durch appellative Gesten und Gebärden beredter noch in Handlung überführt werden als in der Literatur. Was die Bilder mit den Texten allerdings verbindet, ist das fehlende Interesse daran, äußerliche Gleichheit in einer uns heute vertrauten Variante zu imaginieren. Gleichheit definiert sich in Texten wie in Bildern als eine literarisch beziehungsweise zeichenhaft vermittelte Summe verschiedener Merkmale, die zusammengenommen in erster Linie Zugehörigkeit zum gleichen Sozialverband demonstrieren und damit Adelsrang signalisieren. Sichtbar wird daher allein die ungewöhnliche Ähnlichkeit in Hinsicht auf Status und Habitus, über die sich nach mittelalterlicher Logik auch der gemeinsame Wertehorizont vermittelt. Unter dieser Voraussetzung geraten dann auch die ökonomischen Gründe etwas mehr in den Hintergrund, welche die Ausstattung der Drucke mit Bildern zweifellos mitbestimmten, nicht aber vollends begründen können. Das Identifizieren ist noch lange Zeit ein Vorgang, der ohne physiognomische Merkmale des Gesichts auskommt, weshalb etwa der Augsburger Bankier und Buchhalter Matthäus Schwarz im 16. Jahrhundert sein Hauptaugenmerk noch ganz selbstverständlich auf die Kleidung richtet: „Schwarz, der in seinem zwischen 1521 und 1560 entstandenen kleider büchlin die Geschichte seines Lebens und seiner städtischen Karriere auf fast 140 Porträts als die Geschichte seiner wechselnden Kleider aufmalen ließ, machte darin deutlich, dass er die äußere Form seines Selbst – mein gestalt, wie er schreibt – nicht auf seinen Körper, sein Gesicht oder auf seine auffällige Devise beschränkte, die er als Rebus auf dem Ärmel trug. Seine Kleider, das war er selbst: aber eben in wechselnder Gestalt.“74

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Ebd., S. 91. Oder indem die Doppelung beseitigt wird wie im Fall eines der Zwillinge im Gregorius; s. dazu von Bloh 2007 (wie Anm. 33), S. 10f.; dort auch zur besonderen Art der ‚Erklärung‘, die voraussetzt, „was sie vorgibt zu reproduzieren“; ebd., S. 14. Bei Zwillingen handelt es sich in den Naturgeschichten um Mängelwesen der Natur; s. dazu ebd., S. 17f. Valentin Groebner: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München 2004, S. 61.

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Die Entdeckung des Gesichts bleibt der Neuzeit vorbehalten, und diese jeweils neu von der Zivilisation erfundene Erscheinung gerät dann bei Guattari und Deleuze zu einer „Schreckensvision – mit seinen Poren, seinen Abflachungen, seinen matten und glänzenden Partien, seinem Weiß und seinen Löchern [...] eine scheußliche Kapuze.“75 Von dieser ‚Schreckensvision‘ sind die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texte und Bilder weit entfernt, wenn die ‚Vergesichtlichung‘76 den gesamten Körper mit all seinen soziokulturellen Eigenheiten umfasst.

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Gilles Deleuze/Félix Guattari: Das Jahr Null – Gesichtlichkeit, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik (edition suhrkamp,1475), hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a.M. 1990, S. 430–467, hier S. 464. Susanne Lüdemann: Défaire le visage, in: Ästhetik und Kommunikation, XXV/94–95: Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft, Berlin 1996, S. 33–45, hier S. 39.

Das Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle: Reue und Erkenntnis. Ein Beispiel emotionaler Selbstkontrolle Martin Büchsel Die niederländische Kunst, wie sie sich in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts ausgebildet hat, gilt als Meilenstein der Entwicklung des Mittelalters zur Renaissance. Es ist der Realismus, der die Brücke zwischen zwei Epochen bilden soll. Aber der Realismus ist abhängig von Rezeptionsformen und den darin realisierten Konditionierungen des Betrachters. Wie sehr er von solchen Schemata bestimmt wird, hat schon Otto von Simson an der Madrider Kreuzabnahme (Abb. 1–3) von Rogier van der Weyden demonstriert1, die meistens zwischen 1430 und 14352, neuerdings sogar erst „vor 1443“ datiert wird.3 Angelpunkt der Überlegungen von Simsons ist die Passionsmeditation, die, in mehreren Schritten vollzogen, zum Wechsel der Bildbetrachtung anregt. Der Devote soll sich in einen Zustand des Mitleidens mit dem Ziel versetzen, auch die heilende Wirkung des Leidens Christi zu schauen. Die Erinnerung an die Passion, die Gegenwart der Passion im Mitleiden, die Hoffnung, gebunden an das Erlösungsversprechen der Passion, bezeichnen verschiedene Stationen des meditierenden Sehens. Diese Meditation hat in den Niederlanden durch Gert Groote den Namen und die spezifische Gestalt der devotio moderna erhalten.4 Sie adressiert, unabhängig davon, wie sie im einzelnen gestaltet wird, den Inhalt der Passion derart an den einzelnen Devoten, dass er seinen eigenen Status erkennen und die Devotion – nicht das Sakrament – auch

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Otto von Simson: Compassio und die Co-Redemptio in Roger van der Weyden’s Descent from the Cross, in: The Art Bulletin, XXXV, 1953, S. 9–16; s. Dirk de Vos: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk, München 1999, S. 25. Die Kreuzabnahme hat in der Literatur eine überaus breite Auseinandersetzung gefunden. S. de Vos 1999 (wie Anm. 1), S. 15; hier die Diskussion der umfangreichen Literatur. Aus der später publizierten Literatur seien Stephan Kemperdick: Rogier van der Weyden, Köln 1999, S. 12ff. und Felix Thürlemann: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog, München u.a. 2002, erwähnt. Die meditativen Strukturen hat jüngst Christine Taxer in ihrer noch unpublizierten Dissertation Seele ordnen. Aspekte der Darstellung und Erzeugung von Affekten in der Malerei Rogier van der Weydens, Frankfurt a.M. 2007, herausgearbeitet. Stephan Kemperdick/Jochen Sander: Der Meister von Flémalle, Robert Campin und Rogier van der Weyden – ein Resümee, in: Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ausstellungskatalog, hg. v. Stephan Kemperdick, Frankfurt a.M./Berlin 2008/09, S. 149–159, bes. S. 159. Im gleichen Katalog gibt Peter Klein, S. l62, als wahrscheinliches Entstehungsdatum 1427–1435 an. Aus der umfangreichen Literatur zu Groote seien erwähnt Mark S. Burrows: Devotio Moderna: Reforming Piety in the Later Middle Ages, in: Spiritual Traditions for the Contemporary Church,

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Abb. 1: Rogier van der Weyden, Kreuzabnahme, vor 1443 (Madrid, Museo Nacional del Prado)

außerhalb der Messe vollziehen und zur Richtlinie seiner Lebensführung machen kann. Neuartig ist weniger die Art der Meditation, die viele Vorläufer im monastischen Bereich kennt5, sondern mehr die große Verbreitung unter den Laien. Diese bestätigt die Relevanz der kunsthistorischen Überlegung, die sich in der Interpretation von Altarbildern, besonders von solchen aus Privatkapellen, auf die Passionsmeditation beruft. Die Madrider Kreuzabnahme stellt eine Kernszene des Leidens Christi so dar, dass nicht nur der liturgisch relevante Inhalt vermittelt wird, sondern dass sich das Sujet für den in der devotio moderna geschulten Betrachter meditativ entfaltet. Das Personal umgibt in der Madrider Kreuzabnahme in alternierenden Trauerhaltungen die zentrale Szene und regt damit – durch Mimiken, Gesten und Bewegungsmotive – zum Mitleiden an. Indem es verschiedene Episoden anspricht, gliedert es die Trauer und verbindet mit ihr ein Spektrum von unterschiedlichen Inhalten. Die Klage der großen

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hg. v. Robin Maas/Gabriel O’Donnell, Nashville, TN 1990, S. 109–132; Georgette Epiney-Burgard: Gérard Groote, fondateur de la Dévotion Moderne, in: Revue des sciences religieuses, LXXI, 1997, S. 345–353; Dies.: Geert Grotes Anliegen, in: Ons geestelijk erf Peters, LIX, 1985, S. 117–129. S. etwa Bernhard Mc Ginn: Die Mystik im Abendland, Bd. II, Freiburg u.a. 1996; John R. Sommerfeldt: Bernard of Clairvaux: The Mystik and Society, in: The Spirituality of Western Christendom, hg. v. Rozanne Elder, Kalamazoo, MI 1976, S. 72–84.

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Sünderin Maria Magdalena schließt die Reue ein. Als zentrales Motiv ist die imitatio Christi durch Maria, die Mutter des Herrn, beschrieben worden, die in ihrer Ohnmacht, der Vollendung der compassio, schon die Sphäre des Klagens verlassen hat. Sie wiederholt die niedersinkende Haltung des Gekreuzigten. Im Vergleich zu Maria haben die umgebenden Personen ein lebhaftes Kolorit. Das porzellanene Angesicht Mariae steigert

Abb. 2: Rogier van der Weyden, Kreuzabnahme, Ausschnitt, vor 1443 (Madrid, Museo Nacional del Prado)

Abb. 3: Rogier van der Weyden, Kreuzabnahme, Ausschnitt, vor 1443 (Madrid, Museo Nacional del Prado)

noch das Leicheninkarnat des corpus Christi. Darauf sind Spuren der Trauer, Tränen und eine für die Trauermimik formelhafte Kontraktion der Stirn zu sehen. Während aber die Augen Christi geschlossen sind, hat Maria die ihrigen leicht geöffnet, so dass die Iris unter dem Oberlid hervorkommt. Als Interpretation bietet sich die Vorstellung an, dass die vollkommene imitatio transitorisch ist und über das unmittelbar Gesehene hinausführt. Maria sieht schon die Auferstehung, die auf dem Gesicht Christi noch nicht zum Ausdruck kommt. Aber Maria, vollkommen im Mitleiden, ist gerade dadurch schon dem Mitleiden entrückt. Der realistische Unrealismus ihres Gesichtes enthebt sie dem Trauerpersonal, das für die compassio die Vorbilder liefert. Es ist bemerkt worden, dass Rogier van der Weyden in der Madrider Kreuzabnahme Motive der Beweinung und der Grablegung aufnimmt.6 Indem Rogier van der Weyden 6

De Vos 1999 (wie Anm. 1), S. 22; Erwin Panofsky: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen, übers. v. Jochen Sander/Stephan Kemperdick, Bd. I, Köln 2001, S. 254.

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die Ohnmacht Mariae zu einer Darstellung der imitatio steigert, findet er eine neue Formulierung der Trauerbeziehung zwischen Maria und Christus. Dabei dürfte er sich mit der Konzeption der Pietà, wie sie in der böhmischen Kunst des Internationalen Stils ihren Ausgang nahm, auseinandergesetzt haben.7 Die böhmische Kunst des Internationalen Stils hat zu einer neuen Komposition der Pietà geführt. In dem vorhergehenden Typus (Abb. 4) wird die Traueridentität von Christus und Maria gezeigt, wobei Maria in abgeschwächter Form auch die Pathognomie Christi wiederholt. In der böhmischen Pietà verschiebt sich die Relation, wie das 1945 verschollene Breslauer Vesperbild (Abb. 5, 6) demonstriert.8 Maria trauert; Christus wird so hingebettet, dass er fast nach oben zu schauen scheint; sein Gesicht ist im Vergleich zum älteren Typus entspannt. Er hat leicht geöffnete Augen, die Iris kommt unter den Oberlidern hervor.9 Das Gesicht Christi ist so zu verstehen, dass der tote Christus, der doch nicht tot ist, seine Auferstehung antizipiert, die aber Maria noch nicht realiAbb. 4: Vesperbild, 1360-70 (?) (Coburg, Sammsiert. Die Madrider Kreuzabnahme wiederlungen der Veste) holt nicht nur das Motiv, dass die Iris unter den Oberlidern hervorkommt, sondern verweist auch auf dieses antizipierende Erkennen. So hat auch Hugo van der Goes dieses Wechselspiel von Trauer und Verklärung im Todesangesicht verstanden, der es – wohl in Abhängigkeit von der Madrider Kreuzabnahme – im Brügger Marientod (Abb. 7, 8) wiederholt.10 Maria, von der jedes Inkarnat gewichen ist, sieht schon den herannahenden Christus, was den in Trauer versunkenen Aposteln noch verborgen ist. Der Gegensatz wirkt umso stärker, desto mehr deren Trauermimiken gesteigert werden. Ein Apostel vermittelt sogar den Eindruck geschwundener Geisteskräfte.11 Andere Beispiele der niederländischen Kunst, so die Kreuzabnahme von Hugo 7

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Martin Büchsel: Conrad von Soest und die Anfänge der altniederländischen Malerei. Das Visualisierungsverlangen der „devotio moderna“ im Widerstreit ästhetischer Konzepte: Dortmund – Prag – Brügge – Tournai, in: Dortmund und Conrad von Soest im spätmittelalterlichen Europa, hg. v. Thomas Schilp/Barbara Welzel, Bielefeld 2004, S. 233–257, bes. S. 246f. Karl Heinz Clasen: Der Meister der Schönen Madonnen, Berlin/New York 1974, S. 50ff., Abb. 28. Die Iris gehörte wohl nur der Fassung an, was jedoch der ursprünglichen Konzeption entsprechen dürfte. Ob die Fassung original ist, kann zumindest derzeit nicht überprüft werden. Zum Marientod s. Jochen Sander: Hugo van der Goes. Stilentwicklung und Chronologie, Mainz 1992, S. 254; Elisabeth Dhanens: Hugo van der Goes, Brügge 1998, S. 333–360. Martin Büchsel: Die wachsame Müdigkeit des Alters. Realismus als rhetorisches Mittel im Spät-

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van der Goes in amerikanischem Privatbesitz12 und Memlings Reaktion darauf (Abb. 9)13, können angeführt werden. In beiden Bildern erscheint Christus mit halb geöffneten Augen – jeweils ist die Iris, nicht aber die Pupille zu sehen. Wiederum ist der Mund leicht geöffnet und die Lippen haben ihre rote Farbe verloren. Die Madrider Kreuzabnahme steigert noch das im Vesperbild entwickelte Vokabular. Das porzellanene Mariengesicht behält die Kontraktion der Stirn bei, übernimmt aber die halb geöffneten Augen des toten Christus der Pietà. Die Trauer, die in Ohnmacht erstarrt, verwandelt sich in einen transitorischen Zustand. Die compassio wird zur imitatio und diese wiederum führt zur visionären Schau der Auferstehung; das sind Schritte, die die Passionsmeditation anstrebt. Im älteren Typus der Pietà wird ebenfalls die compassio gezeigt (Abb. 4): Das Leid und das Mitleid verbinden Christus und Maria. Die Breslauer Pietà verwandelt jedoch das Verhältnis von Christus und Maria in eine vielschichtigere Aussage. Die klagende Maria schaut auf das Angesicht Christi wie auf die vera icon. Die-

Abb. 5: Vesperbild, um 1400 (ehemals Breslau, Kunstgewerbemuseum)

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Abb. 6: Vesperbild, Ausschnitt, um 1400 (ehemals Breslau, Kunstgewerbemuseum)

mittelalter, in: artibus et historiae, XLVI, 2002, S. 21–35, bes. S. 25; Sander 1992 (wie Anm. 10), S. 254. Hans Belting/Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, Abb. 188. Ebd., Abb. 190.

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ses enthält die Tröstung für die Trauer Mariae. Die Madrider Kreuzabnahme macht das Angesicht Mariae zum Zentrum der Bildaussage. Der Übergang von Trauer in die Antizipation der Auferstehung hebt das Gesicht, von dem die Lebendigkeit der Klage gewichen ist, aus dem Kreis der Klagenden heraus. Die Antizipation der Auferstehung vollzieht sich als Umschwung von dem größten Mitleiden, das sich in der Christus imitierenden Ohnmacht ausdrückt, zur vorweggenommenen Schau. Der Scheintod Mariae spiegelt den ‚Auferstehungstod‘ Christi wider. Otto von Simson unterstreicht diese Funktion von Maria mit dem Hinweis auf die mariologische Verdoppelung von Eigenschaften Christi. So wird Maria zur co-redemptrix. Man könnte auch anführen, Abb. 7: Hugo van der Goes, Marientod, um dass sie seit Radbertus ihres Mitleidens unter 1480 (Brügge, Groeningemuseum) dem Kreuz wegen zur obersten Märtyrerin aufrückte, obwohl sie nicht für Christus gestorben ist.14 Das gibt dem Mitleiden Mariae besonders Gewicht; kein anderes Mitleiden kann gleichermaßen für sich beanspruchen, vorbildhaft zu sein. Das Gesicht Mariae wird in der Madrider Kreuzabnahme en face präsentiert, so als würde nur sie aus dem Bild herausschauen. Ähnlich fixiert das Antlitz Christi bei der Kreuztragung häufig als einziges Gesicht den Betrachter. Dabei blickt jedoch Maria nicht auf diesen, sondern macht ihn zum Zeugen Abb. 8: Hugo van der Goes, Marientod, Ausder Verwandlung von compassio und imitatio schnitt, um 1480 (Brügge, Groeningemuseum) in visio, ohne dass er aber an diesem letzten Schritt selbst schauend teilnehmen könnte. Die Sehstrategie, die es erlaubt, alle Meditationsschritte zu durchlaufen, die die Passionsmeditation fordert, gliedert die Szene. Der Realismus der Darstellung zielt darauf ab, die Vorbilder der compassio affektiv nacherleben zu können. Er verschafft auch den Vorbildern die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu

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Radbertus: De assumptione, in: Ders.: De partu Virginis (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis, 56 C), hg. v. Edith Ann Matter/Albert Ripberger, Turnhout 1985, S. 119; s. Leo Scheffczyk: Das Mariengeheimnis in Frömmigkeit und Lehre der Karolingerzeit, Leipzig 1959, S. 435.

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durchdringen. An vielen Beispielen ist die Wirkung der Passionsmeditation ausgelotet worden.15 Hierbei steht die compassio im Mittelpunkt der Überlegung. Es ist aber nicht die einzige Kategorie der Passionsmeditation, mit der sich die frühe niederländische Malerei beschäftigt hat. I. Hier soll der Blick auf das SchächerFragment im Städel (Abb. 10, 11, Taf. IV) gerichtet werden, das seit langem schon im Kontext der Madrider Kreuzabnahme diskutiert wird.16 Es war Teil eines Kreuzabnahme-Triptychons, was aufgrund der Liverpooler Kopie (Abb. 12) nachvollziehbar ist. Die Kopie ist von geringer Qualität und kann damit nur bedingt einen Eindruck von dem Triptychon verschaffen. Sie hat nicht nur den goldeAbb. 9: Memling, Kreuzabnahme-Diptychon, linker Flünen Hintergrund, der beim Schächergel, um 1485 (Granada, Capilla Real) Fragment als Brokatstoff ausgebildet worden ist, durch eine durchgehende Landschaft ersetzt, sondern sie hat auch das Format verändert. Jochen Sander kommt zu dem Ergebnis, dass das Triptychon etwa 2, 8 × 4, 7 m gemessen haben muss.17 Die Kopie hat das Retabel in die Breite gezogen. Die steilen Proportionen müssen ein anderes Spannungsverhältnis erzeugt haben. Die Kopie vermittelt den Eindruck einer ungewöhnlichen Komposition. Die drei Flügel werden durch den Golgathahügel zusammengehalten, der ein Kreissegment formt.

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Peter Schmidt: Bildgebrauch und Frömmigkeitspraxis: Bemerkungen zur Benutzung früher Druckgraphik, in: Spiegel der Seligkeit und Frömmigkeit im Spätmittelalter, Nürnberg 2000, S. 69–83; Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau, in: Visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit, hg. v. Klaus Schreiner, München 2001, S. 176–216. Albert Châtelet: Robert Campin - Le Maître de Flémalle. La fascination du quotidien, Antwerpen 1996, S. 78–91; de Vos 1999 (wie Anm. 1), S. 25; Thürlemann 2002 (wie Anm. 2), S. 137–140; Stephan Kemperdick: Der Meister von Flémalle. Die Werkstatt Robert Campins und Rogier van der Weyden, Turnhout 1997, S. 29–42; Jochen Sander: Niederländische Gemälde im Städel. 1400–1500, Bestandskatalog, Mainz 1993, S. 129–153; Meister von Flémalle 2008/09 (wie Anm. 3), S. 218–223. Ebd., S. 218.

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Erstaunlich ist, dass der Schächer zur Rechten Christi außerhalb dieses Bezirks an seinem Kreuz hängt. Demonstrativ ist dieses durch einen Weg von dem Golgathahügel getrennt. Diese Beobachtung führt zu einer bisher viel, aber dennoch eher beiläufig diskutierten Frage: Wer ist der Gute Schächer?18 Der Gute Schächer hat gewöhnlich seinen Platz zur Rechten Christi. Wir erwarten, dass sich der Stifter unter diesem Schächer darstellen lässt. Damit scheint die Frage beantwortet worden zu sein. Der Vergleich mit dem Seilern-Triptychon (Abb. 13, 14) aus der Tournaiser Werkstatt, das meistens zwischen 1410 und 1420 datiert wird19, zeigt jedoch, dass sich die Frankfurter Figur an den Guten Schächer dieses Triptychons anlehnt. Die Liverpooler Kopie macht die Umwandlung der Komposition nachvollziehbar. Auch der Schächer auf dem linken Flügel ist eindeutig aus dem Bösen Schächer des Seilern-Triptychons entwickelt worden. Er krümmt sich über

Abb. 10: Meister von Flémalle, sog. Schächer-Fragment, um 1430 (Frankfurt, Städel Museum) 18

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Abb. 11: Meister von Flémalle, sog. SchächerFragment, Ausschnitt, um 1430 (Frankfurt, Städel Museum)

Eine Zusammenfassung der schon lang zurückreichenden Diskussion bietet Sander 1993 (wie Anm. 16), S. 142. Als erster hat Georg Rathgeber: Annalen der niederländischen Malerei, Formschneideund Kupferstecherkunst, Gotha 1843, Sp. 439, in dem Fragment den Guten Schächer gesehen. Während Kemperdick 1997 (wie Anm. 16), S. 32, und Jochen Sander, in Meister von Flémalle 2008/09 (wie Anm. 3), S. 218–223, wieder für die Identifikation als Bösen Schächer plädieren, sehen Châtelet 1996 (wie Anm. 16), S. 81, und Thürlemann 2002 (wie Anm. 2), S. 138f., darin den Guten Schächer. Von Kemperdick 1997 (wie Anm. 16), S. 71–73 – hier die weitere Literatur – wird das Triptychon aber erst in die Mitte der zwanziger Jahre datiert.

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Abb. 12: Meister von Flémalle (Kopie nach), Kreuzabnahme-Triptychon (Liverpool, Walker Art Gallery)

die Querstange. Das Motiv der Blindheit ist noch verstärkt worden. Nun trägt der Schächer eine Augenbinde – wie sie etwa von der Synagoge bekannt ist. Er findet sein Ende an einem derart gedrehten Astkreuz, dass der Querbalken kaum sichtbar ist. Dagegen wird auf dem rechten Flügel der Schächer fast frontal präsentiert. Auch hierin wird eine auf dem Seilern-Triptychon angelegte Tendenz verstärkt. Das Kreuz des Schächer-Fragments hat einen Vierkant-Längsbalken und einen Sechskant-Querbalken und überragte einst – folgt man der Kopie – sein Pendant auf dem linken Flügel. Der Schächer des Kreuzabnahme-Triptychons stellt die imitatio crucifixi dar. Selbst das Lendentuch – ein zum Lendentuch gebundenes Hemd20 – lehnt sich an das gebräuchliche Vokabular des Gekreuzigten an und unterscheidet sich dadurch von den üblichen Unterhosen, in der Art, wie auch die Liverpooler Kopie den Schächer auf dem gegenüberliegenden Flügel zeigt. Auch das corpus hat im Crucifixus sein Vorbild. Eine Nähe zwischen Gutem Schächer und Gekreuzigtem ist schon im Seilern-Triptychon angelegt. Aber mit den zur Seite ausknickenden Beinen, dem markanten Brustkorb und dem hin zur rechten Schulter geneigten Kopf ist die Anlehnung gesteigert worden. In der Gegenüberstellung der beiden Kreuzabnahmen ist das Mariengesicht niemals mit dem Gesicht des Schächers des Frankfurter Fragments (Abb. 2, 11) verglichen worden, wohl aber mit demjenigen des toten Christus (Abb. 3). Den Schächer verbinden mit Maria einige Motive: der halb geöffnete Mund, die gleichartige Kontraktion der Stirn und die halb geschlossenen Augen. Wer sind die beiden Männer unter dem Kreuz des Schächers? Die Bibel berichtet vom Hauptmann, der bei dessen Sterben erkennt, dass Jesus Gottes Sohn ist. Daher ist die 20

Meister von Flémalle 2008/09 (wie Anm. 3), S. 218–223.

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Abb. 13: Meister von Flémalle, Seilern-Triptychon, um 1425 (London, The Courtald Institut of Art)

vorgeschlagene Identifizierung der vorderen Gestalt, die ein Kettenhemd trägt und deren rechter Unterarm mit einer Armschiene bewehrt ist, plausibel. Wer sein Begleiter ist, bleibt indes unklar. Der Annahme, Longinus schaue dem Schächer in die Augen, fehlt der Beleg.21 Die Blickrichtung ist kein hinreichendes Argument, auch wenn sie deutlich von der Blickachse, die den Hauptmann mit der Kreuzabnahme verbindet, unterschieden wird.22 Der Erkenntnisprozess, den die beiden Männer verkörpern, bedarf offenbar des Schauens auf das Gesicht des Schächers. Drückt es ebenso wie das Mariengesicht die transitorische Gewissheit der Auferstehung aus? Die beschriebenen Ähnlichkeiten legen diesen Gedanken nahe. Das setzte voraus, dass der Gute Schächer hier verbildlicht wird. Der Erkenntnis- oder Devotionsprozess scheint durch die Blickachsen formuliert zu werden. Der Mann, der auf den sterbenden Schächer sieht, unterstreicht sein Erkennen mit einer empfangenden, devoten Geste. Was sollte er jedoch aus dessen Gesicht ablesen, wenn er in Wahrheit auf das Gesicht des zur Bekehrung unwilligen Übeltäters blickte? Es müsste die Botschaft der Blasphemie sein, die nach einem drastischen pejorativen Ausdruck verlangt hätte, aber nicht nach dem Ausdruck eines christusähnlichen Sterbens. Der Begleiter des Hauptmanns hätte allen Grund gehabt, seine Abwehr dieser Botschaft kundzutun. Geht man von dem Seilern-Triptychon aus, dann ist das Sehen, das die paradiesische Konsequenz erkennt, an die Stelle der Darstellung der Auferstehung gerückt; die direkte ist durch die indirekte Repräsentation ersetzt worden. Die indirekte folgte dann der 21 22

Sander 1993 (wie Anm. 16), S. 142. Thürlemann 2002 (wie Anm. 2), S. 159; Sander 1993 (wie Anm. 16), S. 134.

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Intention, den reflexiven Bezug auf den devoten Betrachter zu steigern. Gerade dieses Erkennen der beiden Gestalten erklärt die Konzeption des linken Flügels, auf dem der Schächer durch einen Weg von der Gruppe derer, die sich ums Kreuz scharen, getrennt wird. Der Golgathahügel unterstreicht, dass ebenso die Gestalten auf dem rechten Flügel – damit auch der Schächer – zu denen gehören, die die Wahrheit erkannt haben. Auf dem linken Flügel wenden sich der Stifter und die vor ihm stehende Frau mit Salbgefäß – wohl Maria Magdalena, wenn man nicht die Frau an der Leiter als diese Heilige identifizieren möchte – der Kreuzabnahme zu. An die Frau mit Salbgefäß scheint eine Heilige auf der linken Seite der Mitteltafel ihr schmerzverzerrtes Gesicht zu adressieren. Auch der Betrachter kann sich durch diese Heilige betrachtet fühlen und soll ihren Schmerz als Aufforderung zur compassio verstehen. Das erklärt aber nicht, wieso der Stifter ausgerechnet unter dem Bösen Schächer erscheint. Der Sinn der Komposition wird dennoch klar. Der Stifter definiert sich durch den Bösen Schächer insofern, als er sich schuldig bekennt; so formuliert er seine Reue und ist gerade dadurch nicht vom Terrain des Golgathahügels ausgeschlossen wie der Schächer, der in seiner Sünde verharrt. Vielleicht beschuldigt er sich selbst sogar eines Mordes oder weniger dezidiert der Blasphemie – eine ständige Versuchung. Auch sie ist eine Abb. 14: Meister von Flémalle, Seilern-Triptychon, AusTodsünde, von der es ohne Beichte schnitt, um 1425 (London, The Courtald Institut of Art) keine Reinigung geben kann. Ja, sie ist sogar eine besonders angsterregende Todsünde, weil sie die Beschäftigung der Verdammten ist. Angesichts der Repräsentanzfigur der Blasphemie soll sich der Betrachter die Frage stellen: Habe ich nicht Gott gelästert? Aber er muss an alle Todsünden denken. Die begangene Todsünden umfassende Reue muss jeder Devotion – ganz besonders aber der Beichte vorhergehen und hat damit einen variablen Inhalt. Nicht nur formal – was die Darstellung der Schächer anbelangt – zeigt sich ein enger Bezug zu dem Seilern-Triptychon. Schon das Motiv des Weges ist auf dem linken Flügel des Seilern-Triptychons eingesetzt worden. Hier schafft es eine Verbindung zwischen

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dem knienden Stifter und dem Golgathahügel, von dem dieser ansonsten durch ein Wäldchen getrennt ist. Die Schriftrolle, die von seinem Mund ausgeht, verknüpft sein Gebet mit dem Kreuz, genauer, mit der Leiter, die an das Kreuz gelehnt ist und deren Stufen zu diesem hinaufführen. Auf dem heute leeren Schriftband haben nach der Annahme van Gelders die Anfangsworte des Bußpsalms „Misere mei Deus“ (Ps 50) gestanden.23 Noch näher rückte das Gebet an die Kreuzigung heran, wenn es die Bitte des Guten Schächers wiederholte: „Domine, memento mei cum veneris in regnum tuum“, die Christus mit den Worten erwidert „hodie mecum eris in paradiso“ (Lk 23, 42f.). Vielleicht enthielt aber das Schriftband ursprünglich keinen Text und soll nur virtuell das Gebet mit dem Kreuz verbinden. Die prominent und sehr bewegt dargestellten Schächer lassen ihren Todeskampf wie einen Seelenkampf zwischen verderblichen und reumütigen Regungen erscheinen. Insofern definieren beide die Position des betenden Stifters. Gerade das erklärt, wieso überhaupt das isolierte Motiv der beiden Schächer mit der Kreuzabnahme verbunden worden ist. Sie dienen offenbar als Reflexionsfiguren der Reue und Beichte. Den Kampf zwischen den beiden Seelenteilen muss der Devote zugunsten des reumütigen Gebets entscheiden. Auch Châtelet sieht die Darstellung als direkt auf den Stifter bezogen. So betrachtet er den seitlichen Weg als eine Metapher für die Aufforderung, die Thomas von Kempen ausgesprochen hat, sich ständig das Kreuz vor Augen zu halten. Auf diesen Appell reagiere die Auferstehung auf dem rechten Flügel. Die Geste des Auferstandenen sei auch, vielleicht sogar zu allererst, an den Stifter adressiert.24 Auch Châtelet beschreibt das Bild so, als werde die Devotion des Stifters angezeigt. Wird die Darstellung aus der Perspektive des Stifters beschrieben, dann könnte man noch hinzufügen, dass die rechte Tafel die Konsequenz des durch den Guten Schächer vertretenen Gebets repräsentiere. Der Stifter nimmt eine Position ein, die vermuten läßt, er könne den Leichnam sehen und befinde sich im Seelenkampf zwischen dem schmähenden und dem erkennenden Seelenteil und könne auch die Auferstehung erst durch die Erkenntnis des erkennenden Seelenteiles realisieren. Das Kreuzabnahme-Triptychon definiert drei Ebenen: das Sakrament, das vorbildhafte Verhalten der Zeugen, die Vorbereitung des Devoten für Beichte und Kommunion. Auch Kanzler Rolin betont in dem nach ihm benannten Madonnenbild von Jan van Eyck seine confessio in der Gestalt der Kapitelle über seinem Kopf, die ein Sündenregister in Darstellungen der Genesis ausbreiten.25 Wiederum kann auf andere Weise der Betrachter zur Reue aufgefordert werden. Aus der Geburt Christi in Dijon (Abb. 15), die die Tournaiser Werkstatt hervorgebracht hat, schaut die ungläubige Hebamme aus dem Bild. Die Komposition hat die Legende, die von Birgitta von Schweden erzählt wird, aufgenommen. Zwei Hebammen werden herbeigerufen, kommen aber zu spät. Die eine Hebamme glaubt ohne

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Jan Gerrit van Gelder: An early Work by Robert Campin, in: Oud Holland, LXXXII, 1967, S. 1–17, bes. S. 4; Thürlemann 2002 (wie Anm. 2), S. 33, 256. Châtelet 1996 (wie Anm. 16), S. 57f. Martin Büchsel: Realismus und Meditation. Überlegungen zu einigen Madonnenbildern Jan van

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Umschweife an die jungfräuliche Geburt, die andere quälen Zweifel. Ihre Hand verdorrt. Aber für Genesung ist gesorgt. Ein Engel fordert die Frau auf, das Kind zu berühren.26 Diese Frau, nicht aber die sofort glaubenswillige Hebamme, fixiert den Betrachter und demonstriert ihm damit seinen eigenen Unglauben, aber auch das Mittel der Erlösung. In der bahnbrechenden Dissertation von Julia Gerth zu dem Turiner Passionspanorama von Hans Memling wird aufgezeigt, dass das Szenenpanorama zunächst die Einsamkeit Christi bei der Passion vor Augen führt27: Alle Apostel haben Christus verlassen, und derjenige, der ihn nicht verlassen hat, verleugnet ihn. Diese eindringliche Erinnerung Abb. 15: Meister von Flémalle, Geburt Christi, um 1430 (Dian die Stationen der Passion for- jon, Musée des Beaux Arts) dert zur Reue auf. Auch der devote Betrachter hat Christus verlassen. Darin, sich dies einzugestehen, muss seine Beichte und seine Reue, seine compunctio oder contritio, bestehen. Erst mit der Kreuztragung erfolgt der Umschwung: Nun fordert das Bild zur compassio auf. Christus, der unter dem Kreuz zusammenbricht, schaut aus dem Bild heraus. Das Mitleiden wird mit der Reue verknüpft und formt den devoten Seelenhaushalt. Auch in dem Triptychon, dem das Frankfurter Schächer-Fragment entstammt, folgt auf die compunctio die compassio, die auf der Mitteltafel formuliert wird. Das Verstehen der Erlösung ist der rechten Tafel vorbehalten. Der Hauptmann erkennt, dass Christus Gottes Sohn ist, sein Gefolgsmann realisiert an dem Sterben des Guten Schächers die Worte: „Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ So nimmt der Gute Schächer die

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Eycks, in: Realität und Projektion. Wirklichkeitsnahe Darstellung in Antike und Mittelalter, Berlin 2005, S. 191–226, bes. S. 209. Meister von Flémalle 2008/09 (wie Anm. 3), S. 202–205. Hier die weitere Literatur. Julia Gerth: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Hans Memlings Turiner Passion und die Bildgruppe der Passionspanoramen, Berlin 2010. Johanna Scheel untersucht in ihrer fast abgeschlossenen Dissertation das Verhältnis der Passionsmeditation zu den Stifterdarstellungen.

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gleiche transitorische Funktion ein wie die in Ohnmacht gefallene Maria in der Kreuzabnahme des Prado. Damit wird nachvollziehbar, wieso der Schächer eine mit Maria verwandte Augenpartie hat. Das Triptychon reicht von der Erinnerung daran, dass vor der Kommunion jede Todsünde gebeichtet und bereut werden muss, bis zur Schau der Erlösung, die aber nur indirekt dargestellt wird. Das ist der Inhalt der Meditationsübung des Stifters. Möglicherweise schließt die Aufforderung zur compassio die intercessio von Maria Magdalena ein. Das wäre eine ungewöhnliche Darstellung einer fürbittenden Heiligen, die selbst in das Meditationsprogramm eingebunden wäre. Folgt man diesem Gedanken, dann ist zu schließen, dass die Fürbitte der Heiligen den Devoten zur compassio hinlenkt und damit beglaubigt, dass seine Reue echt ist. Die Madrider Kreuzabnahme und das Triptychon haben gemeinsam, dass die Erkenntnis der heilsamen Wirkung des Leidens Christi, das in den Himmel führt, aus dem Angesicht Mariae oder desjenigen des Schächers abgelesen werden soll. In beiden Tafeln zeigt jeweils das Gesicht einen transitorischen Zustand. Der Devote wird von dem Triptychon aufgefordert, die von Lukas berichtete Zwiesprache zwischen Schächer und Christus zu realisieren. Gerade das Schächer-Fragment wird somit zum Ausweis, dass Maria in der Madrider Kreuzabnahme in der vollendeten imitatio die Auferstehung und vollbrachte Erlösung antizipiert oder visionär schaut. Dieses Konzept unterscheidet sich deutlich von Jan van Eyck, der etwa in der Kirchenmadonna zwei Realitätsebenen dadurch überlagert, dass er die Kirche als Devotions-und als Offenbarungsraum darstellt.28 An dieser Eyckschen Konzeption orientierte sich später Rogier van der Weyden im Sieben-Sakramente-Altar. II. In der Diskussion der immer noch offenen Zuschreibung des Schächer-Fragments an Robert Campin, Rogier van der Weyden oder ein anderes Mitglied der Tournaiser Werkstatt können die vorgetragenen Überlegungen als Argument gelten, Rogier van der Weyden zumindest als entwerfenden Künstler in Betracht zu ziehen. Der Zusammenhang zwischen beiden Werken – der Kreuzabnahme, der das Schächer-Fragment entstammt, und der Madrider Kreuzabnahme – wird schon seit langem konstatiert. Panofsky sieht in dieser sogar die gemalte Kritik jener Kreuzabnahme, die er wie andere dem Meister von Flémalle zuschreibt.29 Auch in der aktuellen Diskussion wird kein anderes Werk der Tournaiser Schule so eng an die Flémaller Tafeln herangerückt wie das Schächer-Fragment.30 Daher berührt die Frage nach dessen Urheberschaft zugleich die Frage, wer der Künstler der Flémaller Tafeln sei. Kemperdick hält eine Beteiligung von Rogier van der Weyden an diesen Tafeln für wahrscheinlich.31 Damit greift er eine alte These von Fried28 29 30 31

Büchsel 2005 (wie Anm. 25), S. 192–198. Panofsky 2001 (wie Anm. 6), S. 253. Kemperdick 1997 (wie Anm. 16), S. 36; Meister von Flémalle 2008/09 (wie Anm. 3), S. 222. Kemperdick 1997 (wie Anm. 16), S. 12–18, 24–28.

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länder auf32, die vielfach variiert wurde und zu wechselnden Zuschreibungen von Teilen der Tafeln an den Meister von Flémalle und wiederum an Rogier van der Weyden führte. Diese Diskussion soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.33 Kemperdick legt Rogiers Anteil an den Werken der Tournaiser Schule fest, indem er von der Kreuzabnahme im Prado ausgeht. Thürlemann dagegen folgert aus der Zuschreibung der Flémaller Tafeln an Robert Campin, dass auch die Madrider Kreuzabnahme dem Werk Campins zugehören müsse.34 Die vorgetragenen Überlegungen unterstützen die Meinung, dass ein enger Zusammenhang des Schächer-Fragments zur Madrider Kreuzabnahme bestehe. Beide Kreuzabnahmen dürften im engen Kontakt zueinander entstanden sein. Die Madrider Tafel ist kein Gegenentwurf zum Kreuzabnahme-Triptychon, sondern einerseits eine Variation, die weniger deutlich von dem Gedanken der Beichte ausgeht und mehr das Mitleiden in den Mittelpunkt rückt, andererseits wohl – aber hier sollte man sich vor voreiligen Schlüssen hüten – eine Weiterentwicklung, denkt man etwa an die viel diskutierte Platzierung der Figuren in einen gemalten Schrein. Das Kreuzabnahme-Triptychon knüpft noch deutlicher an Konzeptionen der Tournaiser Werkstatt an, was die Verbindung zu dem SeilernTriptychon belegt, ein Werk, das nach der üblichen Datierung zwischen 1410 und 142035 – das heißt noch vor dem Eintritt Rogier van der Weydens in diese Werkstatt im Jahr 1427 – entworfen worden sein muss. Das macht wiederum deutlich, dass Rogier van der Weyden nicht nur die Tournaiser Werkstatt beeinflusste, sondern auch Vorstellungen weiterentwickelte, die er hier aufnahm. Die Diskussion der Zuschreibung muss sich auch auf die Frage einlassen, ob das Schächer-Fragment den Guten oder den Bösen Schächer zeigt. Wird darin dieser dargestellt, hat das zur Konsequenz, dass entweder in dem Bild ein ungenauer Gebrauch des dann durch die Madrider Kreuzabnahme vorgegebenen Vokabulars gemacht worden ist oder dass ein solches Vokabular gar nicht zur Verfügung stand und lediglich auf Unterstellungen von Interpreten beruht. Spiegelt das Triptychon einen ungenauen Gebrauch des Vokabulars der Madrider Kreuzabnahme wider, dann muss es als ein Nachfolgewerk dieser Tafel verstanden werden, das deren Konzeption nicht realisiert hat. Stand hingegen ein differenziertes Vokabular gar nicht zur Verfügung, dann wird auch die differenzierte Interpretation der Madrider Kreuzabnahme problematisch. Wieso soll hier die Haltung

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Max J. Friedländer: Flémalle-Meister-Dämmerung, in: Pantheon, VIII, 1931, S. 354; Ders.: Die altniederländische Malerei, Bd. XIV: Pieter Bruegel und Nachträge zu den frühen Bänden, Leiden 1937, S. 84, sah nun in den Flémaller Tafeln sogar Jugendwerke Rogier van der Weydens. Eine Zusammenfassung der Diskussion findet man in: Meister von Flémalle 2008/09 (wie Anm. 3), S. 211–214. Thürlemann 2002 (wie Anm. 2), S. 109–111., 235–246., 279–283. Demgegenüber werden von anderen Forschern wie von de Vos 1999 (wie Anm. 1), S. 77, und Châtelet 1996 (wie Anm. 16) die Flémaller Tafeln früh datiert – d.h. an den Anfang der Werkgruppen gesetzt, die mit dem Namen Robert Campin in Verbindung gebracht werden. Kemperdick 1997 (wie Anm. 16), S. 73, datiert das Werk in die frühen zwanziger Jahre des 15. Jh.

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Mariae als imitatio Christi gelesen werden, wenn beim Schächer all die vergleichbaren Argumente nicht gelten? Geht man aber davon aus, dass das Schächer-Fragment den Guten Schächer zeigt, dann wird deutlich, dass hier zwei Konzeptionen geschaffen worden sind, die am gleichen Thema die Devotionsschritte der devotio moderna mit unterschiedlichen Akzentuierungen durchspielen. Ikonographische Gewohnheiten konnten offenbar aufgrund der Intention, die Darstellung für die Meditation zuzuspitzen, durchbrochen werden. III. Kehren wir zur Interpretation des Triptychons zurück. Geht man von den Überlegungen Otto von Simsons aus, dann ist zu fragen, mit welchen Mitteln die Passion in mittelalterlichen Darstellungen für die Meditation zubereitet wurde. Das Schächer-Fragment repräsentiert die Vollendung einer Entwicklung der Kunst, die den sakramentalen Inhalt durch die Reaktion auf das Geschehen der Passion der Devotion zugänglich macht. ‚Reaktionsfiguren‘ kennt die mittelalterliche Kunst schon lange vorher. Zu beginnen wäre bei dem karolingischen Liverpooler Elfenbein, das Maria als Trauernde unter dem Kreuz zeigt.36 Es kann hier nicht die Absicht sein, die Entfaltung der Heiligen als Vorbilder der Devotion nachzuzeichnen. Zurückzulegen wäre ein langer Weg von der Liverpooler Tafel bis zu dem Schächer-Fragment. In der spätmittelalterlichen Kunst häuft sich allerdings die Darstellung der reflexiven Funktion der Heiligen, ganz besonders unter dem Kreuz. Das Schächer-Fragment zeigt aber, dass die Partizipation der Heiligen am sakramentalen Geschehen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts so gesteigert werden konnte, dass sie nicht nur vorbildhaft ist, sondern einen Erkenntnisprozess darstellt, der in der Reue seinen Ausgangspunkt hat. Das Kreuzabnahme-Triptychon intendiert sowohl die affektive Teilnahme als auch die Intensivierung des erkennenden Sehens. Die Passionsmeditation kann sich auf die Berichte über das Leiden Christi in den synoptischen Evangelien berufen. Das Lukasevangelium (22, 41f.) schildert die Furcht, die Seelenqual Christi im Garten Gethsemane. Das Matthäus- und das Markusevangelium machen sich zum Zeugen der Seelenqual Christi bei seinem Sterben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das Leiden Christi ist eine Folge seiner Barmherzigkeit. Damit gewinnt Emotion eine zentrale Bedeutung in der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Schon in der paulinischen Theologie wird, ausgehend von der Bergpredigt, die Agape als Gegenbild der Emotionen entwickelt, die dem Laster zugrunde liegen (1 Kor 13). Gott hat die Heiden (Röm 1, 24–32) durch die Begierden ihrer Herzen in den Schmutz der Unsittlichkeit versinken lassen. Ihre lasterhaften Emotionen sind selbst die Folge der Abwendung von Gott. Weil sie die Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauscht haben, hat sie Gott schändlichen Leidenschaften überantwortet. Die Gottesferne, das Hei36

Martin Büchsel: Die Kreuzigung zwischen Antike und Christentum, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, LXXXVIII, 1993/94, S. 7–33, bes. S. 13.

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dentum, wird ausschließlich durch die lasterhaften Emotionen definiert, die Agape dagegen als Ausdruck der Hinwendung zu Gott. Die paulinisch gedachte Agape ist wiederum die Grundlage der Ausbildung der Theorie der caritas, wie sie Augustinus formuliert hat. Das letzte Buch der Confessiones beginnt damit, dass Augustinus das Erbarmen Gottes mit der Feststellung anruft, dass dieser in seiner Liebe ihn nicht vergessen habe, und das zu einer Zeit, in der er, Augustinus, Gott vergessen habe. Gott zu suchen und zu lieben heißt, die Liebe Gottes zu suchen und zu lieben. Bei Paulus ist es nicht klar, ob die Begierden der Seele nur die Folge der Abkehr von Gott sind oder auch die Ursache dieser Abkehr. Augustinus versucht diese Frage dadurch zu klären, dass er den unreinen Seelenbewegungen (motus) den verkehrten Willen (voluntas perversa) zugrundelegt, der für die Abkehr von Gott verantwortlich ist.37 Durch das ganze Mittelalter hindurch wird die caritas-Theorie diskutiert und variiert. Es wäre hier zu weitführend, darauf näher einzugehen.38 Die Theorie der caritas ist die theologische Grundlage der spätmittelalterlichen Passionsmeditation. Sie macht klar, wieso Gott in der caritas zu suchen und Gott zu erkennen unmittelbar miteinander verknüpft sind. Unter dieser Voraussetzung gewinnt das Mitleiden, die Verinnerlichung der Leidensäußerungen Christi, ein besonderes Gewicht. Gott leidet infolge seiner Gnade. Diese erwidert der Devote im Mitleiden, um so an ihr teilzuhaben. Rückgespiegelt heißt das, dass der Devote durch die compassio sich selbst kontrolliert. Deshalb soll aus der compassio die imitatio hervorgehen, die das Bewusstsein einschließt, dass alle sündigen Regungen auszutilgen sind. Die eigene tägliche Lebensführung soll aus Reue und Mitleid hervorgehen. Die Suche nach der Gnade führt zu einer extremen Emotionskontrolle. Gerade diese Kehrseite der caritas wird im Spätmittelalter in den monastischen Kreisen und dann auch in den laizistischen Bruderschaften der devotio moderna als zentrale Aufgabe und als zentrales Problem empfunden. Die Kommunion verlangt die Beichte. Werden nicht die Todsünden bereut, bleibt sie ohne Wirkung – die Vereinigung mit Gott findet nicht statt. Die Reue gilt aber nicht nur der Vorbereitung der Kommunion, sondern wird zur täglichen Übung. Die emotionale Vereinigung mit Gott muss alles, was als unreine Regung gilt, ausschließen. Aus diesem Grund gewinnt die Reue in der Passionsmeditation – ganz besonders in der devotio moderna – eine überragende Bedeutung. Die Reue beinhaltet gerade die Abkehr von den unreinen Seelenbewegungen, die das lasterhafte Gegenbild zur caritas sind. Der Devote findet im Mitleiden die misericordia Dei, der für und mit den Menschen gelitten hat. Die Passionsmeditation ist ein genau festgelegtes emotionales System, das sich in Reue, Mitleiden und Freude ausdrückt. Die Reue anerkennt die moralische Ordnung. Das Mitleiden erwidert die göttliche misericordia. Die Freude ist der Glückszustand, von der caritas

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Augustinus: De civitate Dei, XIV, 6. Passiones animae. Die ‚Leidenschaften der Seele‘ in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, hg. v. Christian Schäfer/Martin Thurner, Berlin 2009; Martin Büchsel: MELENCOLIA, I. Zeichen und Emotion. Die Logik einer kunsthistorischen Debatte, München 2010, S. 21–24.

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erfüllt zu sein; sie bedeutet die Vereinigung der Liebe, die die göttliche Liebe sucht, mit der göttlichen Liebe. Die contritio, die notwendig mit humilitas verbunden ist, muss zur Selbsterkenntnis führen.39 Diese ist die Erkenntnis, Sünder zu sein, das Gewahrwerden, in das Ebenbild Gottes die hässlichen Züge des sündigen Willens eingetragen zu haben. Nichts anderes beinhaltet die Selbsterkenntnis. Die Passionsmeditation wendet sich von einer Frömmigkeit ab, die lange Zeit im Kloster als die Frömmigkeit der Laien empfunden wurde. Sie findet nicht ihre Befriedigung in der Schaufrömmigkeit, die die Hostie wie eine Reliquie verehrt und den Anblick der elevatio für das Wichtigste der Kommunion hält, die das Seelenheil vor allem an die Stiftung materieller Güter bindet und die Errettung in der Verehrung von Reliquien sucht. Das schließt jedoch nicht aus, dass sich der der Passionsmeditation zugewandte Devote auch durch Stiftungen absichern mochte und durchaus empfänglich für die Strahlkraft von Reliquien sein konnte, aber nicht darin besteht die Passionsmeditation. Dass contritio, compassio und imitatio zu Kernbegriffen der devoten Lebensführung werden, zeigt die Wendung zur devoten Verantwortung des Subjekts. Dadurch soll die Gnade erlangt werden, von der aber bewusst wird, dass sie nicht erzwungen werden kann. Die Kehrseite dieser Frömmigkeit ist die Heilsungewissheit. Im monastischen Bereich ging gerade aus der Frage nach der Wirksamkeit der Beichte ein häufig als existenziell erfahrenes Problem hervor: das Problem der scrupulositas, auf das Jean Gerson und andere reagierten. Eine Fülle von Traktaten beschäftigt sich mit diesem Risiko des kontemplativen Lebens.40 Die scrupulositas, die zur desperatio und schließlich zur acedia führt, bedroht häufig die Meditation, weil die Gewissensprüfung, die der Beichte und schließlich auch der mystischen Erkenntnis vorausgeht, selbst eine Art von Traurigkeit und ein Verzweifeln über sich selbst erzeugen muss. Die Gewissensprüfung hat ein Ziel, das sie selbst nicht allein erreichen kann. Sie dient der Vollständigkeit der Beichte der Sünden. Peter von Luxemburg (1369–1387) schrieb alle Sünden sorgfältig auf, um ja keine zu vergessen.41 Ähnlich zu verfahren, empfahlen Vertreter der devotio moderna wie Florentius Radewijns. Über die Fehler sollte dreimal täglich nachgedacht werden. Nach der Komplet oder direkt vor dem Schlafengehen – wie es auch andere wie Gert Groote propagierten42 – sollte das Gewissen erforscht werden.43 Die Beichte, die Reinigung, steht innerhalb der monastischen Meditationsprogramme gewöhnlich am Anfang.44 Damit wird in der Medi-

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Das ist ein schon lang bewusster Zusammenhang, s. Bernhard von Clairvaux: Hum., IV, 15; Sommerfeldt 1976 (wie Anm. 5), S. 82. Eingehend erörtert dies Sven Grosse: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter, Tübingen 1994, S. 8–34. Ebd., S. 18. Geert Groote: Thomas von Kempen und die Devotio moderna. Einleitung, hg. v. Hans Norbert Janowski, Freiburg i.Br. 1978, S. 21. Florentius Radewijns: Tractatulus devotus, II, 1; Groote 1978 (wie Anm. 42), S. 79; Erwin Iserloh: Die Devotio moderna, in: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. III, 2, hg. v. Hubert Jedin, Freiburg i.Br. 1968, S. 516–538.

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tation eine Parallele zur Kommunion hergestellt. Die Meditation, die Gott sucht, bedarf des reinen Gewissens. Die Reue muss tränenreiche Zerknirschung sein. Aber all diese Anstrengungen nützen nur etwas, wenn sie die Gnade, den amor Dei finden, der aber durch keine Anstrengung herbeigenötigt werden kann. Die Gewissensprüfung operiert daher mit Parallelbegriffen, die entweder die Bemühungen des Devoten bezeichnen, die nur im Bereich der Bemühung benennbar sind, oder aber die von der Gnade durchdrungene Mühsal meinen, die ihr Ziel gefunden hat. Die vorbereitende Reue bewegt sich zwischen attritio und contritio, zwischen einer durch den Bußfertigen erzeugten Zerknirschung und einer Reue, die durch die Gnade gerechtfertigt ist.45 Aus eigener Anstrengung kann der Devote nur die attritio bewirken, die contritio dagegen kann allein mit Gottes Hilfe erlangt werden. Dass schließlich die Heilsungewissheit nicht in den Mauern des Klosters gebannt blieb, zeigt der große Erfolg, den Luthers Lehre – Erlösung allein durch den Glauben – erringen konnte. Dieser Erfolg setzt die quälenden Zweifel voraus, die Generationen von Gläubigen zuvor ergriffen hatten. Wie wichtig die Reue – nicht nur als Vorbereitung zur Kommunion – geworden war, demonstriert die frühe niederländische Kunst, nicht zuletzt das Triptychon, dem das Frankfurter Schächer-Fragment entstammt. IV. Welche Funktion erhält das Motiv der Reue in dem Triptychon der Kreuzabnahme? Die Geschichte vom Guten Schächer berichtet allein das Lukasevangelium. Bei Markus und Matthäus ist dagegen zu lesen, dass auch die Schächer Christus höhnten. Das Johannesevangelium schweigt sich über die Äußerungen der beiden Verbrecher am Kreuz aus. In der Osterliturgie wird nicht aus dem Lukasevangelium gelesen. An Palmsonntag wird die lange Perikope, das 26. und 27. Kapitel aus Matthäus, zitiert, in der Karfreitagsliturgie das 18. und 19. aus Johannes. Mithin werden in der Liturgie der Gute Schächer, seine Reue, sein Erkennen der Schuldlosigkeit Christi und die Verheißung, die er durch Christus erhält, nicht erwähnt. Dennoch hat sich in der Ikonographie der Kreuzigung die Unterscheidung des Guten und Bösen Schächers durchgesetzt. Das Anliegen, an der Erkenntnis, die dem Guten Schächer zuteil wurde, teilzuhaben, hat nicht im liturgischen Text seinen Ausgangspunkt. Jedoch ist die Aussage des Guten Schächers in Meditationen zur Messe präsent. Gerson betrachtet diese aus der Perspektive dessen, der die Erlösung verlangt.46 Die oblatio muss 44

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Fritz Oskar Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio moderna und bei den Augustinern, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. v. Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1993, S. 169–210, bes. S. 196–200. Grosse 1994 (wie Anm. 40), S. 183–193. Jean Gerson: De sacramento altaris, in: Ders.: Œuvres complètes, Bd. VIII: L’ œuvre spirituelle et pastorale (399–422), Paris 1971, S. 603–607.

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im Wissen, alle Todsünden gebeichtet zu haben, empfangen werden. Es ist erlaubt, sie mit Skrupeln und einer gewissen Lauheit entgegenzunehmen, aber es ist besser, den Ritus ohne Skrupel und mit Eifer zu vollziehen. Die Kommunion aber mit der Erhebung des Geistes und mit Jubeln zu erfahren, ist das Beste. Das Brot wird aufgrund des Erinnerungsbefehles Christi dargereicht. Wenn wir Christus im Leibe gekannt hätten, dann könnten wir uns an ihn gemäß seiner Leibesgestalt erinnern. Wir aber, die Nachgeborenen, können das nicht, sondern müssen mit dem Licht des Glaubens unsere Augen zu denen wenden, die gewürdigt worden sind, ihn für uns leiblich zu empfangen. So sehen wir seine Kindheit und die conversatio bis zum dreißigsten Jahre dem Sinne nach, indem wir uns sein leibliches Wohl vor Augen stellen, um ihn gleichsam selbst stillen zu wollen. Um unseren Verstand zu erleuchten, betrachten wir seine Verkündigung, um standhaft und hochgesinnt zu sein, sehen wir seine Passion mit Zorn. Kann aber jemand, der sich seiner Unreinheit bewusst ist, zu dem rächenden, schrecklichen Gott sagen: „Deus cordis mei, Deus amor et desiderium, Deus dulcis amor meus“? Wird er nicht zurücksinken in seine Unwürdigkeit und Ängstlichkeit? Aber gerade hier weiß er, dass er nicht sich selbst lieben, sondern nur die Hoffnung in Gott wiederholen kann. Bevor wir ihn lieben, hat er uns geliebt, wie der Apostel sagt. Wer das verstanden hat, der kann nur Gottes Liebe lieben, die pure Gnade ist. Die Ausgeburt dieser Liebe ist der mystische Leib, der für Engel nicht sakramental, sondern nur spiritual Brot ist. Wer das Brot isst, erhält die intellektuelle conformitas, die durch die Inkarnation auch zu einer conformitas mit seiner humanitas wird. Führt nicht so die Eucharistie, die bona gratia, den Devoten ins Paradies? Heißt es doch im Ecclesiasticus: „Die Mildtätigkeit [gratia] dagegen ist wie ein gesegneter Lustgarten [paradisus in benedictionibus].“47 Auf diese Frage folgen die Bitte des Guten Schächers und darauf die Antwort Christi. Bitte und Antwort schließen die Meditation zur Kommunion ab. Diese bezieht sich besonders auf drei Emotionen: auf die caritas, die Angst und den Zorn. Die caritas ist insofern von den andern beiden Emotionen unterschieden, als sie zugleich ein Prinzip ist, das die Verbindung von Gott und Mensch regelt. Die Angst vor dem Richter ist verknüpft mit dem Bewusstsein der eigenen Schwäche und Mangelhaftigkeit. Der Zorn auf diejenigen, die Christus Schmerzen bereitet haben, wendet die Angst vor der eigenen Schwäche und Verfehlung nach außen und will somit die eigene Schwachheit besiegen. Der Gute Schächer hat auch in die Ars moriendi, deren Text einen inneren Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die scrupulositas verrät48, Eingang gefunden (Abb. 16, 17). Dort tritt er als Trostfigur gegen die Versuchung der Verzweiflung auf. In der Illustration dieser Versuchung werden dem Sterbenden seine Sünden von den Dämonen vor Augen geführt, die ihn von dem Heil ausschließen. Wie der Text sagt, soll der

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Ebd., S. 607: „Finaliter si gratiam dicit Sapiens unus esse paradisum in benedictionibus (Sir 40,17), numquid non Eucharistia quae per excellentiam dicitur bona gratia, in te dicitur et erit paradisus?“ Rainer Rudolf: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Graz 1957, S. 69– 74.; Nigel Palmer: Ars moriendi und Totentanz. Zur Versinnbildlichung des Todes im Spätmittelalter,

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Abb. 16: Ars Moriendi, Anfechtung durch Verzweiflung, Holzschnitt, Leipzig 1493

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Abb. 17: Ars Moriendi, Trost in der Verzweiflung, Holzschnitt, Leipzig 1493

Sterbende sich besonders vor ungebeichteten Sünden fürchten. Er ist ein Ehebrecher, ein Mörder, aus Habgier hat er andere an den Bettelstab gebracht. Der Dämon, der dem Sterbenden gegenüber das Wort führt, ist ein Mönchsdämon, ein bärtiger Tonsurierter mit tierhaft großen Ohren. Satan hat die Maske mönchischer Gelehrsamkeit aufgesetzt, um der Verzweiflung jede Hoffnung zu nehmen. Trost soll aber der Sterbende bei anderen Autoritäten finden, bei Paulus, der einst Saulus war, bei dem Guten Schächer, bei der großen Sünderin Maria Magdalena und bei Petrus, dem Verräter. Diese Zeugen der Erlösung von Todsünden ruft die auf die Versuchung der Verzweiflung folgende Illustration an. Auch Gersons Sakramentsmeditation geht von den Zweifeln aus, ob die Vorbereitung auf die Kommunion, der die Beichte vorangehen muss, die wiederum die Zerknirschung voraussetzt, hinreichend war. Das Vorbild des Schächers beschwichtigt alle Zweifel. Jede Todsünde kann Vergebung finden. Das hat auch Maria Magdalena erfahren. Ihr werden die Sünden beim Gastmahl des Pharisäers vergeben.49 Aber die Vergebung verlangt nach Reue. Die intensive Buße von Maria Magdalena erregt wiederum die Intensität der gött-

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in: Tod im Mittelalter, hg. v. Arno Borst u.a., Konstanz 1993, S. 313–334, bes. S. 313–325.; Grosse 1994 (wie Anm. 40), S. 218–237. Lk 7, 36–50; der Text, der davon berichtet, wird am 22. Juli, dem Tag der Maria Magdalena gelesen.

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lichen Gnade. In ähnlicher Weise zitiert das Dies irae – diese seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sich immer mehr verbreitende Dichtung, die schließlich in die Missae defunctorum eingeht50 – den Guten Schächer zusammen mit Maria Magdalena: Iuste iudex ultionis, donum fac remissionis ante diem rationis. Ingemisco tamquam reus: culpa rubet vultus meus: supplicanti parce, Deus. Qui Mariam absolvilsti, et latronem exaudisti, mihi quoque spem dedisti.51

Auch diese aus der Perspektive des vor dem Gericht erscheinenden Sünders geschriebene Sequenz beruft sich auf den Guten Schächer, um aus seinem Beispiel Hoffnung auf Vergebung zu schöpfen. Das Motiv der beiden Schächer ist in dem Retabel mit der Kreuzabnahme verbunden worden, nicht mit der Kreuzigung selbst. Damit zeigen die beiden Schächer ihre für die Meditation beispielgebende Funktion. In Verbindung mit der Kreuzabnahme wird die Reue und wiederum die Hoffnung auf Erlösung mit der Klage und Trauer um den Leichnam Christi verbunden. Die Reue führt zur Trauer und zum Mitleiden, das in der Ohnmacht Mariae ihren stärksten Ausdruck findet. Sie bereitet den Weg, um in der Kommunion den wahren Leib des Herrn zu erkennen, und gewinnt und realisiert am Beispiel des Schächers die Vergebung und die Zusage, mit Christus im Paradies zu sein. So sagt Ludolf von Sachsen in seiner die Passionsmeditation nachhaltig beeinflussenden Schrift De vita Christi: „Der Kranke hört daher den frommen und in Unruhe versetzenden Arzt und kommt zu diesem durch eine tiefgehende Zerknirschung, gerade durch eine bewegte Beichte und durch den fleißigen Vorsatz, immer dem Bösen auszuweichen und das Gute zu tun.“52 Wenn sich der Stifter unter dem Bösen Schächer platzieren lässt, aber so, dass er doch dem Bereich der Kreuzabnahme angehört, wird nicht nur die Reue, sondern auch die damit verbundene humilitas zur Geltung gebracht. Die wirkungsvolle Reue ist eine Selbstanklage. Johannes Nider ermahnt das gute Gewissen, sich immer bewusst zu sein, dass der Gottesknecht demütig und traurig sein müsse, um Hochmut zu vermeiden.53 Er beruft sich damit auf den Hiobkommentar von Gregor dem Großen, dem selbst Prov 18, 17 („iustus prior est accusator sui“) und 1 Kor 11, 31 („quod si nosmetipsos iudicaremus non utique iudicaremur“) vor Augen stehen.54 Auch Gerson betont, dass vor dem

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Elisabeth Heyse: Dies irae, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. III, München 1986, Sp. 1012. Das Meßbuch der hl. Kirche (Missale Romanum), lateinisch und deutsch mit liturgischen Erklärungen, hg. und übers. v. Anselm Schott, Freiburg i.Br. 191919, S. 111–113: „Strenger Richter aller Sünden, Laß mich hier Verzeihung finden, Eh’ der Hoffnung Tage schwinden. – Seufzend steh’ ich, schuldbeladen, Schamrot glühen meine Wangen: Laß, ach laß mich Gnad erlangen! – Du, der einst vergabst Marien, Und dem Schächer hast verziehen, Hast auch Hoffnung mir verliehen.“ Ludolf von Sachsen: Vita Christi, hg. v. A. C. Boland u.a., Paris/Rom 1865, S. 1: „Audiat ergo aegrotus pium et sollicitum medicum, et veniat ad ipsum per profundam contritionem, ac sollicitam confessionem, et studiosum propositum semper declinandi a malo, et faciendi bonum.“ Johannes Nider: Consolatorium timoratae conscientiae, I, 1; s. Grosse 1994 (wie Anm. 40), S. 21. Gregor der Große: Moralia in Iob, lib. 12, c. 16, in: Ders.: Moralia in Iob libri 11–22 (Corpus Chris-

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erschreckenden Gericht Gottes der Devote nicht als Verteidiger seiner selbst, sondern als Ankläger auftritt, auf seine Verdammnis pochend, aber in der Hoffnung, dass eben das Wort Pauli gilt, dass wenn wir uns selbst richteten, wir nicht gerichtet würden.55 In dieser Grundhaltung nimmt die Gewissensforschung schon das Jüngste Gericht vorweg und schafft eine Zermürbung, die für die Buße und damit für den Empfang der Kommunion heilsam ist. Angesichts des Bösen Schächers stellt der Devote sich alle seine Todsünden vor Augen und kommt so zur Selbsterkenntnis. Er muss aber darauf bedacht sein, dass die Anklage nicht in ihm die Ahnung aufkommen lässt, er sei notwendig vom Paradies ausgeschlossen, damit nicht die Reue zur Hoffnungslosigkeit und zur satanischen Versuchung wird – wie es die Ars moriendi demonstriert. Und hier ist der Gute Schächer das geeignete Gegenbild, das die Vergebung der Todsünden verheißt und das die Erkenntnis der gnadenreichen Wirkung der Erlösungstat eröffnet. Daher konnte sich zwischen den Exempeln des Bösen und des Guten Schächers der Erkenntnisprozess der Beichte vollziehen. Ohne auf die Diskussion des ‚Andachtsbildes‘ näher eingehen zu wollen56, zeigt das Retabel, wie die Komposition ihren Ausgangspunkt in der Meditationspraxis hat, die nicht den Gegenstand von der Liturgie separiert, die aber an den devoten Betrachter adressiert ist, dessen Devotion nicht auf die Teilhabe an der Messe eingeschränkt ist. Jedem Betrachter konnte der Altar dazu dienen, sich versichert zu fühlen, dass die Reue gnädig aufgenommen werde. Die Gewissensnot wirkte offenbar so stark, dass ikonographische Kodifizierungen zurückgestellt wurden, um ästhetisch raffinierten Meditationshilfen Raum zu geben.

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tianorum, Series Latina, 143a), hg. v. Marcus Adriaen, Turnhout 1979, 641, 11f. In der Gründonnerstagliturgie wird 1 Kor 11,20–32 gelesen. Jean Gerson: De consolatione theologiae, in: Ders.: Œuvres complètes, Bd. IX: L’ œuvre doctrinale (423–491), Paris 1974, S. 232–235. Gerth 2010 (wie Anm. 27) hat die Diskussion des ‚Andachtsbildes‘ luzide zusammengefasst und weitergeführt.

II. Ordnung, Macht und Transgression

Der Schuss auf den Apfel. „Macht“ und „Gewalt“ in den Meisterschützensagen von Saxo Grammaticus bis Schiller Stephan Müller Demoiselle Meyer-de la Grange als Walther Tell auf der Bühne des Lübecker Stadttheaters mit jener Brillant-Brosche, mit der sie Konsul Peter Döhlmann „ausgezeichnet“ hatte1; die bewundernden Blicke des jungen Christian Buddenbrock, dem „vor innerer Begeisterung die Tränen in die Augen traten.“ Herzzerreißend harmloser kann man sich die Apfelschussszene in Schillers Tell kaum vorstellen, auch wenn Christians Investition von „1 Mark 8 ½ Schilling“ in ein Bouquet, das er Fräulein Meyer-de la Grange unter dem Gelächter ihres Liebhabers überreicht, schon einen schweren Schlag für die Familie Buddenbrock darstellt – einer der vielen Anfänge vom Ende. Und tatsächlich, dramatisch-gefährlich ist der Schuss auf den Knaben eigentlich nicht. Natürlich, der Vater verweigert sich, und mit einigem Aufwand inszeniert Schiller einen Hauch von Tragik: Tell „schwimmt es vor den Augen“ und die umstehenden Weiber rufen „Gott im Himmel!“ an (V. 1983).2 Doch im Kern kann man an der frechen Einschätzung Walthers nicht zweifeln, wenn er sagt: „Der Vater trifft den Vogel ja im Flug, Er wird nicht fehlen auf das Herz des Knaben“ (V. 1949f.). Hinzu kommt – ohne dem Schweizer Nationalmythos Unrecht tun zu wollen –, dass Tells Apfel als Ziel ein durchaus großes ist. In den verschiedenen älteren Zeugnissen der Sagentradition3 finden wir als viel kleinere Ziele eine Nuss (beziehungsweise Walnuss)4, einen Spielstein5 oder ein Geldstück.6 Und selbst wenn die alten 1 2

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Die Zitate aus den Buddenbrocks nach Thomas Mann: Buddenbrocks. Verfall einer Familie (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, 1/1), hg. v. Eckhard Heftrich, Frankfurt a.M. 2002, S. 88f. Die Zitate aus der dritten Szene des dritten Aufzugs. Ich zitiere nach: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. X: Die Braut von Messina, Wilhelm Tell, Die Huldigung der Künste, hg. v. Siegfried Seidel, Weimar 1980 und gebe im Text die Zählung der Nationalausgabe in Klammern an. Die Quellen sind zusammengestellt bei Helmut de Boor: Die nordischen, englischen und deutschen Darstellungen des Apfelschussmotivs. Texte und Übersetzungen mit einer Abhandlung, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. II, Berlin 1966, S. 117–174; vgl. dazu auch Jean-François Bergier: Wilhelm Tell. Realität und Mythos, übers. v. Josef Winiger, München/Leipzig 1990, S. 80–91. Eine neuere Übersicht findet sich auch bei Hans-Peter Naumann: Der Meisterschütze Egill, Franks Casket und die Þiðreks saga, in: Hansische Literaturbeziehungen. Das Beispiel der Þiðreks saga und verwandter Literatur (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsbd. 14), hg. v. Susanne Kramarz-Bein, Berlin/New York 1996, S. 74–90. In der Geschichte des Heming Aslaksson im Hemingsthattr sowie der norwegischen und färöischen Ballade; s. de Boor 1966 (wie Anm. 3), S. 151, 155 und 159. In der Geschichte von Eindridi Breitferse in der Olafssaga; s. ebd., S. 163. In der Geschichte vom Freischützen Punker im Hexenhammer; s. ebd., S. 173.

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Quellen von einem Apfel berichten (wie bei Saxo Grammaticus oder in der Thiðrekssaga), dann ist dort ein kleinerer Gegenstand gemeint als in der Neuzeit – und die Schweiz sowie der Bodenseeraum sind überdies schon früh bekannt für große Kulturäpfel.7 Die Sinndimension des Meisterschusses geht also über jene der bloß gefährlichen Tat hinaus. Inwiefern, das will ich auf den folgenden Seiten zeigen. Meine Argumentation fußt dabei auf der Sagengeschichte des Apfelschusses, ohne dass die Genealogie der Sage schon ein Argument sein kann. Vielmehr soll der Vergleich mehrerer Fassungen zeigen, welch verschiedene kulturelle Logiken das Motiv in den divergierenden überlieferten Formen bedient. Dazu vorab ein kurzer Blick auf die Stofftradition. Zunächst die nordischen Quellen: (1) Die Geschichte von Toko in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (Buch X): König Harald Gormsson („Blauzahn“) zwingt Toko, der sich angetrunken rühmte, einen Apfel von einem Pfahl schießen zu können, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen. Dies gelingt, doch Toko hatte einen zweiten Pfeil bereit gelegt, der den König hätte töten sollen, falls der Sohn getroffen worden wäre. Toko teilt dies dem König im Trutzwort mit. Das bezeugt, so Saxo, dass die Handlung des Königs nicht gerechtfertigt war. (2) Die Geschichte von Heming Aslaksson erzählt in verschiedenen nordischen Fassungen vom Wettkampf Hemings mit König Harald dem Hartgesinnten, der Heming dazu zwingt, eine Nuss vom Kopf seines Bruders zu schießen. Dies gelingt und auch hier ist in den Balladenfassungen das Trutzwort von Heming an Harald belegt, dass ein weiterer Pfeil für den König gedacht gewesen sei, falls Heming seinen Verwandten getroffen hätte. (3) Die Geschichte von Eindridi Breitferse in der jüngeren Olafssaga: Auch Eindridi muss sich mit dem König in der Schießkunst messen. Der König schießt schließlich dem Neffen Eindridis einen Brettspielstein vom Kopf und Eindridi weigert sich, ihm das nachzutun. Darauf wird Eindridi bekehrt. (4) Die Geschichte von Egil in der Thiðrekssaga, in der Egil – in allen Fassungen der Saga – seinem Sohn einen Apfel vom Kopf schießen muss, da der König wissen will, ob die Gerüchte über Egils Schießkünste der Wahrheit entsprechen. In der norwegischen Fassung folgt nach dem gelungenen Schuss das Trutzwort, das Egils Kühnheit unterstreicht: Ein weiterer Pfeil sei für den König gedacht gewesen. Dann die englische Tradition: (5) Die Ballade von Adam Bell mit der Geschichte des William of Cloudesly, der von sich aus anbietet, seinem Sohn einen Apfel vom Kopf zu schießen, um den König von seiner Schießkunst zu überzeugen. Und schließlich die deutschen Texte: (6) Die holsteinische Sage vom Bauernführer Henning Wulff, der auf Befehl König Christians I. seinem Sohn einen Apfel vom Kopf schießen muss. Ein zweiter Pfeil, den er quer im Mund trägt, ist für den König bestimmt, was Henning diesem auch mitteilt. 7

Die Äpfel des Mittelalters, meistens handelt es sich um Holzäpfel, hatten in der Regel kaum mehr als 3 cm Durchmesser. Eine frühe Abweichung aus dem Bodenseeraum ist die Geschichte im Hortulus des Walahfrid Strabo, der davon erzählt, dass die Schüler auf der Reichenau sich darin versuchten, einen Apfel mit beiden Händen zu umspannen; s. dazu Maria Hopf: Apfel, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. I, 21973, Sp. 368–373.

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Der König erklärt Henning auf dieses Trutzwort hin als vogelfrei. (7) Vom Freischützen Punker wird im Hexenhammer erzählt, dass er zu einem Schuss auf ein Geldstück auf dem Kopf seines Sohnes gezwungen wurde, um seine Kunst zu beweisen. Auch Punker hält einen zusätzlichen Pfeil für den Fürsten bereit, der ihn zu dem Schuss zwingt, und teilt diesem das im Trutzwort mit. Die Schweizer Fassungen8 der Tellsage repräsentieren dann seit dem 15. Jahrhundert schließlich die allbekannte Form in Schillers Drama. Die Zusammenhänge liegen auf der Hand, aber auch die Differenzen. Für die folgenden Analysen ist dabei vor allem die Existenz und die Ausgestaltung des so genannten Trutzwortes, das dem Meisterschuss folgt, entscheidend, denn, wie eingangs gesagt, es geht ja nicht um die gefährliche Tat an sich, sondern um die Folgen, die sich aus ihr ergeben – und zentral für diese ist die Reaktion auf das Trutzwort, das der Schütze im Anschluss an den existenzgefährdenden Schuss dem Herrscher entgegenhält. Schon Andreas Heusler hat hier eine entscheidende Differenz gesehen9 und zwischen Varianten der Meisterschützensage unterschieden, die das dramatische Trutzwort enthalten oder eben nicht. Ich möchte die Grenzen etwas anders ziehen und behaupte, die zentrale Differenz liegt darin, ob das Trutzwort episch produktiv zur Verurteilung des Schützen führt oder nicht. Überblickt man die Tradition, lässt sich dabei schnell feststellen, dass diese Funktion des Trutzwortes mit der Zeit scheinbar an Gewicht gewinnt. In einigen Sagenvarianten fehlt es ganz10 und dort wo es früh begegnet, bleibt es seltsam unproduktiv. Man hat sich darüber gewundert und für die Thiðrekssaga sogar vermutet, dass das Trutzwort „wegen des Handlungskontextes“11 keine Folgen habe. Ein Blick auf die Zeugnisse zeigt allerdings, dass die Folgen des Trutzwortes, wie sie für die Tellsage so zentral sind, in den älteren Fassungen ganz andere sind; ja, weitergedacht, dass die frühen Formen des Meisterschusses als Ganzes unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen stattfinden und eine andere Aussagedimension haben als jene des unbeugsamen Schweizers. In diesem Sinne exemplarisch zu zwei alten nordischen Fassungen, zu den Geschichten von Toko (1) und Egil (4)12: Toko wird zum Schuss auf den eigenen Sohn gezwungen, da er sich selbst seiner Schießkunst öffentlich gerühmt hatte. Was der König dann von ihm verlangt, ist der 8

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Für die Schweizer Tradition verwende ich: Die Quellen von Schillers Wilhelm Tell, hg. v. Albert Leitzmann, Bonn 1912; darin vor allem den Text des Chronicon Helveticum des Ägidius Tschudi. Den Text des Weißen Buchs von Sarnen benutze ich nach der Handschrift und der Transkription durch Willi Studach, die im Internet abrufbar sind: http://www.ow.ch/dl.php/de/20080201080102/ Transkription+Weisses+Buch.pdf (20. 1. 2010). Andreas Heusler: Der Meisterschütze, in: Festschrift zum 60. Geburtstag von Theodor Plüss, Basel 1905, S. 1–28, hier S. 2f. (wieder abgedruckt in Andreas Heusler: Kleine Schriften, Bd. II, Berlin 1969, S. 582–597). In den Sagas (2) und (3), in der isländischen Fassung von (4) und in (5). Die Zahlen beziehen sich auf die Zählung der Zeugnisse oben im Text. Robert Nedoma: Die bildlichen und schriftlichen Denkmäler der Wielandsage (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 490), Göppingen 1988, S. 262. Ich gebe im Folgenden bei der Nennung der Sagenvarianten die Nummer an, die ich eingangs für die

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Beweis dieses vollmundigen Selbstlobs, durch das der Vater also seinen Sohn in Gefahr bringt. Es handelt sich um eine Bestenprobe, in der dem Prahler eine maximal gefährliche Leistung abverlangt wird und dieses Maximum an Gefährlichkeit wird mit dem Sohn als potentieller Zielscheibe erreicht. In einer genealogisch-familialen Sippenkultur ist es das schlimmste vorstellbare Schicksal, den eigenen Sohn töten zu müssen; das ist wie ein Angriff gegen sich selbst. Die deutsche Literatur verdankt ihr frühestes Zeugnis weltlicher Dichtung dieser tragischen Dimension, denn das althochdeutsche Hildebrandslied erzählt ja gerade von einer solchen Katastrophe, die die Regeln der germanischen Welt förmlich auf den Kopf stellt. Bei Saxo nehmen Vater und Sohn die Herausforderung an und meistern die Todesgefahr gemeinsam. Der Text zollt dabei vor allem dem Jüngling Respekt, der sich souverän verhält wie Tells Walther. Es geht Saxo in der Geschichte um die Konstruktion einer extrem prekären Gewalttat, die als Beweis der kriegerischen Gewaltfähigkeit Tokos dient und damit auch dessen sozialen Status determiniert. In diesen Kontext gehört nun auch das Trutzwort: Toko legt sich zwei weitere Pfeile zurecht und antwortet dem König, der sich nach deren Funktion erkundigt, dass diese für ihn bestimmt gewesen seien, falls der Sohn getötet worden wäre. Saxo kommentiert das folgendermaßen: „Quo tam libero dicto et sibi fortitudinis titulum deberi docuit et regis imperium pena dignum ostendit“ („Mit diesen freien Worten bezeugte er, dass ihm der Ruhm der Kühnheit zukomme und dass der Befehl des Königs Strafe verdiene“).13 Toko also besteht die Probe, er meistert virtuos die maximale Gefährdung seiner eigenen Familie. Das Trutzwort verdeutlicht Tokos Ruhm und Kühnheit und zeigt zusätzlich, dass sich der König mit dem Befehl ins Unrecht gesetzt hat und er den Tod verdiente, wenn sein Befehl zur Tötung des Sohnes durch den Vater geführt hätte. Der Meisterschuss ist eine Bestenprobe, die an die Grenzen der Ordnung der Welt führt: Der Schütze schießt gleichsam auch auf sich selbst; auch ohne ihm Strafe androhen zu müssen, wäre der Fehlschuss ein Akt der Selbstvernichtung. Ein Herrscher, der zu einer solchen Tat auffordert, delegitimiert sich und das wird im Trutzwort und dessen Kommentierung deutlich gemacht. Ganz vergleichbar bei Egil in der Thiðrekssaga.14 Egil ist – neben seiner großen Schönheit – besonders als Meisterschütze bekannt und König Nidung, der Egils Bruder Wieland gefangen hält, will das durch den Meisterschuss erproben. Auch hier also eine Bestenprobe und auch diese gelingt. Die isländische Fassung resümiert das schlicht mit der Bemerkung, dass dieser Meisterschuss noch lange im Gedächtnis bleiben wird, die norwegische Fassung dagegen erzählt zusätzlich vom Trutzwort, das aber – so die Saga – der König an Egil schätzte und es ihm als eine besonders kühne Rede anrechnet. Körperliche Schönheit, kriegerische Kompetenz und Redekunst, das macht aus Egil den Besten; das Trutzwort ist also Teil der Bestenprobe.

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einzelnen Zeugnisse vergeben habe und verweise für genauere Nachweise auf die in Anm. 3 genannte Literatur. Ich zitiere Text und Übersetzung nach de Boor 1966 (wie Anm. 3), S. 149f. S. dazu besonders Naumann 1996 (wie Anm. 3).

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In beiden Fällen ist der Meisterschuss also dazu gut, dem Besten in einer Extremsituation seine Kompetenzen abzufordern und den Schützen als Virtuosen einer Gewaltausübung zu feiern, die eigentlich gar nicht stattfinden dürfte. Was als Gefahr in den Raum gestellt wird, ist eine Zerstörung der sozialen Ordnung, die den Schützen legitimiert, Gewalt auch gegen den König anzuwenden, was Toko in den Gesta Danorum auch tun wird. Der Apfelschuss ist dabei der zentrale Schritt hin zu einer Entfesselung der Gewalt, über die der Meisterschütze potentiell verfügt, die er mit dem gefährlichen Schuss für alle sichtbar macht und die zum Tod des Herrschers führen kann, oder, wie in der Thiðrekssaga, zumindest einen Schritt bei der Überwältigung der Macht des Herrschers darstellt. Die Gewalt des Einzelnen konkurriert mit der Macht des Herrschers. Das wird besonders in jenen frühen Sagenvarianten deutlich, in denen der Meisterschütze mit dem Herrscher in einen direkten Konkurrenzkampf eintritt.15 In diesen Konstellationen scheint mir eine Differenzierung nicht zu greifen, die für die späteren Traditionen – und besonders bei Schiller – eine zentrale Rolle spielen wird. Ich meine die Unterscheidung von „Macht“ und „Gewalt“, wie sie terminologisch auf Hannah Arendt zurückgeht.16 Arendt unterscheidet dabei „Macht“ und „Gewalt“ grob folgendermaßen: „Macht“ ist bezogen auf die „menschliche Fähigkeit […] sich mit anderen zusammenzuschließen“17, die dazu führt, jemanden zu ermächtigen, im Namen einer Gruppe zu handeln – diese Fähigkeit verleiht ihm „Macht“. „Gewalt“ dagegen liegt in der Hand Einzelner, ist nicht von einer Gruppe legitimiert (und auch nicht legitimierbar, sondern bestenfalls zu ‚rechtfertigen‘) und hat – so Arendt – einen „instrumentalen Charakter“18, womit sie über das Phänomen der „Stärke“ hinausgeht. „Stärke“ und „Gewalt“ gleichen sich insofern, als sie von Kompetenzen „Einzelner“ ausgehen, von „individuellen Eigenschaft[en]“, welche sich mit der gleichen Qualität in anderen Dingen oder Personen messen [können].“19 Instrumental ist die „Gewalt“ für Arendt, da die „Stärke“, die an ein Individuum gebunden ist, mit der kollektiv legitimierten „Macht“ nicht konkurrieren kann; „Gewalt“ kann das mit instrumentaler Hilfe zumindest potentiell, scheitert indes immer, wenn die kollektive Legitimität der „Macht“ nicht in Zweifel steht. Für eine vormoderne Kultur sind die Phänomene „Gewalt“ und „Stärke“ näher verwandt als in der Neuzeit, da die instrumentale Dimension der Gewalt etwa im Mittelalter noch viel deutlicher an die „Stärke“ des Einzelnen gebunden ist. Die Meisterschützen zeigen das deutlich: Ihre Waffe ist sicher ein Instrument, doch dessen Bedienung setzt individuelle Virtuosität voraus. Auch „Macht“ und „Gewalt“ stehen sich in der Vormoderne näher als im modernen Staatswesen. Sicher ist auch in den frühen Sagenfassungen der Herrscher auf eine gewisse Weise kollektiv legitimiert, aber diese kollektive Dimension kann in direkte Konkurrenz 15 16 17 18 19

Also in der Geschichte von Heming Aslaksson (2) und Eindridi Breitverse (3). Hannah Arendt: Macht und Gewalt, aus dem Englischen von Gisela Unterberg, München/Zürich 19 2009 (1970 englisch zuerst unter dem Titel On Violence publiziert). Ebd., S. 45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 45.

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mit der Gewalt eines Einzelnen treten. Wenn die „Gewalt“ des Einzelnen sich gegen die individuellen Kompetenzen des Herrschers behauptet, dann schwindet auch die Legitimität von dessen Herrschaft. Es gibt – um es überspitzt zu formulieren – in der Vormoderne keine abstrakte Legitimation von „Macht“. Sie ist vielmehr gebunden an die individuelle Fähigkeit des Herrschers zur Ausübung von „Gewalt“, die zu dessen kollektiver Legitimität führt. Das führen die Meisterschussgeschichten der Vormoderne vor: Ein Herrscher testet die Gewaltfähigkeit eines Untertans auf exorbitante Art und Weise: Unterliegt er beim direkten Vergleich oder beweist sich der Herausgeforderte als der Beste, ist es um den Herrscher geschehen, seine „Macht“ wird von der „Gewalt“ der außergewöhnlichen Tat depotenziert. „Macht“ und „Gewalt“ stehen dabei in einem Zusammenhang und sind nicht durch Formen kollektiver Legitimation kategorial unterschieden. Schon die frühneuzeitlichen deutschen Sagenvarianten stehen unter anderen Vorzeichen. Sie gehen von einer Feindschaft zwischen dem Schützen und dem Herrscher aus, die im Apfelschuss kulminiert, und stehen also unter den Vorzeichen einer Empörergeschichte. Ganz parallel zum Tell bei Bauernführer Henning Wulff, der gegen König Christian I. aufbegehrt und durch den Meisterschuss gleichsam an die Allmacht des Herrschers erinnert werden soll, womit sich der Herrscher im Gegenzug jedoch moralisch ins Unrecht setzt. Der zentrale Effekt dieser Geschichte ist es, dass die Herrscherautorität, die in die potentielle Selbstzerstörung der Untertanen treibt, den Aufstand der Masse legitimiert, ja geradezu nahelegt. Das kollektive Unrecht verdichtet sich in der illegitimen Forderung an den Meisterschützen, der so mit dem Apfelschuss für die Unterdrückten das Recht erwirbt, gegen die Macht aufzubegehren. „Macht“ und „Gewalt“ treten in dieser Konstellation auseinander: Der legitime Machthaber spielt mit einer illegitimen Form der „Gewalt“, die – ganz im Sinne Arendts – an eine Einzelperson gebunden ist. Das ist sozusagen der vormoderne Zug der Situation. Indem der Einzelne jedoch dieses Spiel übersteht und seine Form der Gewaltfähigkeit der Provokation des Herrschers trotzt, kippt die Legitimität von der Seite der Macht hin zur Seite der Gewalt, vom legitimierten Herrscher zum gewaltfähigen Einzelkämpfer. Er ist es, der die legitime Ordnung außer Kraft setzt und im Extremfall den Herrscher tötet. Die Beziehungsverhältnisse sind dabei – anders als in den frühen Fassungen – triangulär angelegt: Dem Herrscher, erstens, steht, zweitens, das unterdrückte Volk gegenüber und der Meisterschütze, drittens, agiert für dieses Volk. Das Unrecht, das dem Herrscher anzulasten ist, verdichtet sich in der grausamen Gefahr der Tötung des eigenen Sohnes, die den Schützen damit zum Stellvertreter des Volkes gegenüber dem Herrscher macht. Damit bekommt das Trutzwort einen ganz neuen Sinn. Es ist nicht mehr der Endpunkt einer Klimax der Gewalt, sondern bringt sprachlich das zum Ausdruck, was der Herrscher mit seiner Aufforderung zum Meisterschuss riskiert hat und das ist nichts weniger als sein Ende und das Ende der Legitimität seiner Herrschaft. Wenn das ausgesprochen ist, gibt es kein Zurück mehr. Die offene Drohung gegenüber dem Herrscher zwingt diesen, gegen den Meisterschützen vorzugehen und dieser wiederum steht nun in einem Verhältnis zum Herrscher, das Gewalt gegenüber der Herrschermacht zwangsläufig macht, wenn nicht das eigene Ende in Kauf genommen werden soll.

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Es ist die Legitimierung der Gewalt gegenüber ungerechten Machthabern, von denen die Apfelschussgeschichte jetzt handelt, und dies ist auch ihre Funktion in der Schweizer Tradition, nur um ein Stück komplexer, denn – das sei vorausgeschickt – Tell tritt nicht als Stellvertreter des Volkes auf, ja er entzieht sich förmlich der kollektiven Empörung gegen den Herrscher. Er ist kein Revolutionär und kein Terrorist, er ist eben nicht bereit, seine individuelle Gewalt gegen die bestehende Herrschaft einzusetzen. Er akzeptiert die Ordnung, und trotzdem wird er es sein, der sie an ihr Ende bringt, ohne das so anzustreben, wie es die unterdrückten Schweizer tun. Aber das genauer am Bespiel von Schillers Tell20: Das Stück beginnt mit einem Naturidyll. Natur und Kultur harmonieren: Das Läuten der Kuhglocken, der Kuhreihen, der das Hornvieh versammelt, und der Gesang des Fischers bilden eine szenische Einheit. Konsequent wird die Natur dabei vermenschlicht und personifiziert – „es lächelt der See“ (V. 1) – und die Figuren interagieren mit den Naturphänomenen, wenn etwa der Hirte sich von seiner Weide verabschiedet: „Ihr Matten lebt wohl!“ (V. 13). Zwar kommt der Umschwung dann schnell, doch es ist immer noch die Natur, die den Takt vorgibt: „Der graue Thalvogt kommt“ (V. 38), also die personifizierten Regenwolken, die wörtlich auf den Bösewicht des Dramas verweisen. Doch alles ist noch im Lot; es ist eben Herbst und der hat seine Gesetze, naturgegebene, denen der Rang des Vernünftigen zukommen mag, wie das in einem kurzen Streitgespräch zwischen Ruodi und Werni zum Thema wird: Der eine attestiert einer Kuh, der „braunen Lisl“ (V. 47), rationales Handeln, was ihr der andere nicht zugestehen mag. Wie das heraufziehende Herbstgewitter, das die Idylle ablöst, zieht nun auch ein menschliches Drama herauf. Der verfolgte Baumgarten betritt die Szene, doch auch seine Mordtat wird (fast etwas zu beiläufig) als natürlich und legitim akzeptiert („Ihr tatet wohl […]“, V. 98). Seine Ankunft passt stimmig ins Bild der Natur und so gefährlich die Situation auch ist, noch fügt sich alles ein. Doch genau das ändert sich in der Szene kategorial: Natur und Kultur treten auseinander, als sich der Fährmann Ruodi weigert abzulegen, denn er könne nicht „steuern gegen Sturm und Wellen“ (V. 110). Es steht ein Dissens zwischen Naturszene und menschlichen Handlungsoptionen im Raum, der durch die existentielle Notwendigkeit der Handlung, der Rettung Baumgartens, dramatisiert wird. Erst Tell, der sich dieser Herausforderung stellt, wird diesem Dissens trotzen und er tut es in dem Wissen, dass es nicht gut gehen muss. Der Hirte solle Tells Weib trösten, wenn etwas „Menschliches“ (V. 159) ihm begegne. Das, was der Fährmann nicht tat und nicht tun kann, Tell tut es im Vertrauen auf Gott und jenen selbstzerstörerischen Altruismus, der sprichwörtlich geworden ist: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ (V. 139). Tell setzt sich also über die plausiblen Regeln 20

Ich interpretiere aus der demütigen Sicht des Altgermanisten. Für Hinweise auf die aktuelle Literatur danke ich meinem Kollegen Michael Hofmann und entschuldige mich, dass ich sein Exemplar des Schiller-Handbuchs viel zu lange auf meinem Schreibtisch liegen hatte. Ich hoffe, nicht umsonst: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart/Weimar 2005 und hier besonders der Artikel von Georg-Michael Schulz zum Wilhelm Tell, S. 214–236.

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der Natur hinweg und auch die Folgehandlung zeigt, dass ein blindes Vertrauen auf die Harmonie von Natur und menschlichem Handeln fehl am Platz wäre. Der Trupp Ladenbergischer Reiter raubt, zerstört und brennt das nieder, was das Naturbild am Anfang konstituierte. Aber das ist nicht exzeptionell. So wie die Harmonie der Natur ist auch die Zerstörung der Natur ein erwartbares Ereignis. Nur Tell weicht ab! Er schert aus dem Modus des Erwartbaren aus und affirmiert damit eine neue Ordnung; seine Ordnung, die im aktiven, auf Gott vertrauenden Eingriff die naturgegebenen Gesetze überwindet. Die Kraft des maßlosen Altruismus trotzt den Gesetzen der Natur. Doch Tell als Figur bleibt ambivalent. Er akzeptiert die Ordnung, wie sie ist, und setzt sich doch über ihre Regeln hinweg, indes nur, wenn es ihm zwangsläufig geboten erscheint – und die Entscheidung darüber fällt blitzartig, ohne Rücksicht auf die eigene Person und in absoluter Gewissheit. Erst am Ende des Dramas wird Tell in Küssnacht mit der Tötung Geßlers die gegebene Ordnung nicht mehr akzeptieren. In der Eingangsszene zeigt er, dass er das Potential hat, sich über die Ordnung hinwegzusetzen, ausschöpfen wird er es später. Am Ufer des Vierwaldstätter Sees treibt ihn ein Mitgefühl, das die Grenzen der Ordnung kurzfristig ausblendet, in Küssnacht die Gewissheit, dass die Ordnung als solche nicht mehr hinnehmbar ist. Dieser Wandel scheint mir im Apfelschuss symbolisch verdichtet zu sein. Doch zurück zum Anfang. Die Harmonie des Naturbildes verdeutlicht, dass gesellschaftliche Formen und Naturformen ineinandergreifen.21 Tell akzeptiert diese Geltung und ist nicht bereit, an der bestehenden Ordnung etwas zu ändern, aber er ist bereit, die Gesetze und Plausibilitäten dieser Ordnung punktuell zu ignorieren. Seine Fahrt über den See, die wider die menschliche Vernunft abläuft, zeigt das. Aber indem sich Tell dabei den Kräften unterordnet und sich in Gottes Hand begibt (und keineswegs sein Schicksal in die eigene Hand nimmt), tritt er nicht als die Instanz auf, die die ungerechte Herrschaft zu einem Ende führen kann und die Eingangsszene endet deshalb konsequent mit der Frage Ruodis: „Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“ (V. 182). Tell, der Retter sein wird – zumindest wird man ihn als „Erretter“ bejubeln (V. 3281) –, er ist es noch nicht. Wie Schiller an Iffland schreibt (am 5. Dezember 1805), ist Tells Sache „eine Privatsache, und bleibt es, bis sie am Schluss mit der öffentlichen Sache zusammengreift.“22 Auch sein Konflikt mit Geßler trifft Tell ganz „als ein Individuum und nicht als ein Mitglied oder gar einen Repräsentanten der Eidgenossenschaft“23, und seine individuelle Haltung ist zunächst einmal stabil, insofern er die Herrschaftsordnung als solche nicht offen in Frage stellt, wenn auch unter der Prämisse des Schweizer Bergbewohners, den die Staatsmacht des Kaisers nicht zu berühren scheint. Darüber spricht Tell mit seinem Sohn Walther, der mit dem Vater einig ist, dass es besser ist, „unter den Lawinen“ (V. 1812) zu leben, als un21

22 23

Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution. Schillers Wilhelm Tell, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien von Richard Brinkmann u.a., Göttingen 1974, S. 87–128, hier S. 93. Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXXII: Schillers Briefe 1.1.1803–9.5.1805, hg. v. Axel Gellhaus, Weimar 1984, S. 89. Schulz 2005 (wie Anm. 20), S. 232.

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ter „bösen Menschen“ (V. 1814), wobei die Bosheit der Menschen es ist, die den Schutz eines Herrschers nötig mache (V. 1809f.). Genau während dieses Gesprächs kommen beide an Geßlers Hut vorbei und ignorieren ihn so, wie Tell die Systematik der Kaiserherrschaft im Gespräch mit Walther ignorierte: „Was kümmert uns der Hut?“ (V. 1816). Doch das, was ihn nichts anzugehen scheint, das holt ihn umgehend ein. Friesshardt stellt Tell, der auf Beschwichtigung setzt: „Freund, lass mich gehen“ (V. 1821). Auch gegenüber Geßler lenkt Tell ein, als dieser ihn fragt, ob er seinen Kaiser verachte (V. 1865), und er geht dabei bis an die Grenze der Selbstbezichtigung: Verzeih mir lieber Herr! Aus Unbedacht, Nicht aus Verachtung Eurer ists geschehn, Wär ich besonnen, hieß ich nicht der Tell, Ich bitt um Gnad’, es soll nicht mehr begegnen (V. 1870–1873).

Das ist nicht die Rede eines „Erretters“ (V. 3281) und soll es auch nicht sein. In der folgenden Apfelschussszene wird sich das ändern. Die Zumutung, auf den eigenen Sohn schießen zu müssen, delegitimiert Tells befriedende Haltung. Auch in Geßlers Reaktion wird das deutlich; er erwartet nicht, dass Tell schießt und als es geschieht, ruft er aus: „Er hat geschossen? Wie? Der Rasende!“ (V. 2033). Als der „Rasende“ hat Tell also auch hier die Grenzen der Erwartbarkeit überschritten, wie mit der Fahrt über den See in der Eingangsszene, doch hat er sich dieses Mal nicht einfach den Mächten hingegeben. Geßler trifft diesen Punkt, als er nach dem zweiten Pfeil fragt, worauf Tell ein letztes Mal befriedend „verlegen“ antwortet: „Herr, das ist so bräuchlich bei den Schützen“ (V. 2052). Doch das akzeptiert Geßler nicht und erzwingt von Tell förmlich das Trutzwort: Mit diesem Pfeil durchschoß ich – Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und Euer – wahrlich! hätt’ ich nicht gefehlt (V. 2060–2062).

Damit – und da hat Geßler schon sehr recht – ist Tell letztlich entfesselt und gefährlich für ihn. Natürlich geht es noch um eine Form potentieller privater Rache, aber es geht eben auch um die Möglichkeit, einen Herrschenden zu töten, was Tell in letzter Konsequenz ja auch tun wird. Das vormoderne Muster der Bestenprobe, die nur eine „Prüfung“ (V. 1993) sein sollte – wie Rudenz mit Recht sagt – entfaltet eine neue Dynamik. Dazu gehört auch, dass Geßler offensichtlich nicht erwartete, dass Tell den Schuss abgibt, er ist völlig überrascht davon, aber als es geschieht, ist es nicht mehr ungeschehen zu machen. Wie in allen Sagenvarianten exponiert sich mit dem Schuss der Beste, der im Gedächtnis bleiben wird (V. 2038ff.), und sogar Geßler erkennt den „Meisterschuss“ (V. 2043) an. Tells Schuss aber bewirkt noch mehr. Schoss Henning Wulff als Bauernführer und demonstrierte er mit dem Trutzwort die Gewaltbereitschaft der Bauern gegenüber dem König, so schießt Tell als Privatperson auf einen Herrscher, der Tell potentiell in eine Katastrophe treibt, und als solcher spricht Tell auch das Trutzwort aus, das er eigentlich verlegen unterschlagen will, würde ihn der Herrscher nicht dazu nötigen. Tell ist noch Privatmann, aber das Tabu,

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nämlich die Ordnung der Herrschaft anzugreifen und zu zerstören, ist gebrochen und der Weg hin zur Tötung Geßlers eingeschlagen, ohne dass die Weichen dazu politisch-revolutionärer Natur wären. Im Vergleich mit den frühesten Fassungen geht es nicht mehr um eine Konkurrenz der Gewaltfähigkeit, in der „Gewalt“ und „Macht“ nahe beieinander liegen. Im Vergleich zur Tradition der Empörergeschichten geht es auch nicht um die Legitimierung der Gewalt gegen den ungerechten Herrscher durch die unterdrückten Massen, für die etwa Henning Wulff als Stellvertreter auftritt. Tells Rolle ist eine andere. Er ist Privatmann, der die Gesetze akzeptiert und sich ihnen ausliefert, wenn es denn sein muss, ob nun aus Altruismus oder auf Grund von Zwang. Seine Gewaltfähigkeit hat mit der Macht der Herrschaft nichts zu tun, weil sie nicht mit ihr in Konkurrenz tritt. Anders bei den Eidgenossen, die auf einen Retter warten und mit der Ausübung von Gewalt zunächst nur liebäugeln. Es ist dies vielleicht eine Typik eidgenossenschaftlichen Handelns, das zunächst ohne einen kollektiven Gewaltausbruch auskommt. Der Impuls zur Befreiung liegt in der Hand eines Privatmanns, dessen persönliche Gewaltpotenz erst mit dem Mechanismus des Apfelschusses (der, wie die überraschte Reaktion Geßlers zeigt, gar nicht hätte stattfinden sollen) auf die Herrschaft bezogen wird. Tell führt das in seinem berühmten Monolog in Küssnacht aus, wenn er über Geßler sagt: Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt – Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte, Der kann auch treffen in das Herz des Feinds (V. 2574–2576).

Er tut das Ungeheure, um den „Bringer bittrer Schmerzen“ (V. 2597), die durch nichts zu rechtfertigen sind, zu beseitigen und auch aus der Retrospektive bestreitet Tell, dass seine Tat eine politische gewesen sei. Als Parricida bei ihm auftaucht, weist er es weit von sich, dass seine gerechte „Notwehr eines Vaters“ (V. 3176) etwas mit dem bewussten Mord an einem Herrscher zu tun habe. Mit Blick auf die Beziehung von „Macht“ und „Gewalt“ kann man sagen, dass die Tellsage hier ein Junktim negiert. Den gewaltbereiten Eidgenossen dient Tell nicht, und sie sind es nur sehr bedingt, die der ungerechten Herrschaft ein Ende setzen. Sie schleifen zwar die Feste Zwing Uri in der Szene, die direkt der Tötung Geßlers folgt (Fünfter Aufzug, Erste Szene), aber das ist nur eine oberflächliche Berührung der Szenen, die Schiller hier anbietet. Der Tyrann fällt der Gewalt eines Privatmanns zum Opfer, in Folge einer Handlung, die nicht von seiner Macht abgeleitet werden kann. Die Eidgenossen, deren Gewaltbereitschaft sich dagegen auf die Macht des Herrschers bezieht, kommen nicht zum Zuge, zumindest was die Person des Tyrannen angeht. Schiller verweigert sich damit – ob nun aus Revolutionsskepsis oder einem tieferliegenden Pazifismus heraus –, kollektive Gewalt gegen die Macht der Herrschenden zu akzeptieren. Das ist schon in seinen direkten Schweizer Quellen angelegt, wobei hier wohl stärker die Dimension der Heroisierung eines Einzelnen im Vordergrund steht, die Konstruktion eines Nationalheros. Schiller dagegen lässt seinen Tell am Ende in den Hintergrund treten und in der jubelnden Masse untergehen, um das letzte Wort den Herrschenden zu geben: Rudenz

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und Bertha gehen im Bund der Eidgenossen auf und Rudenz gibt allen seinen Knechten die Freiheit (V. 3290). Überblickt man die Geschichten von Meisterschuss und Trutzwort, so zeigt sich, dass es in jeder Fassung um die Konstruktion einer maximalen Herausforderung geht, die an die Grenzen der sozialen Ordnung führt. Es ist nicht die Schießkunst, um die es geht, denn eigentlich ist es gar nicht denkbar, dass ein Meisterschütze danebenschießt, es ist vielmehr die Bereitschaft, auf das eigene Blut, ja gleichsam auf sich selbst zu schießen. Allein die Tatsache, dass diese Schüsse stattfinden, zeigt, dass eine Ordnung an ihre Grenze oder gar an ihr Ende geraten ist – dies in verschiedenen Zeiten unter verschiedenen kulturellen und vor allem politischen Vorzeichen, was mit Hannah Arendts Begriffspaar „Macht“ und „Gewalt“ gut zu fassen war. In den frühesten Texten geht es um eine Ökonomie der Gewalt, ohne deren kollektive Rechtfertigung, also ohne die Frage der „Macht“ zu problematisieren. In der Folgetradition – und hier soll keine Teleologie der Motivgestaltung nahegelegt werden, sondern Differenzen zwischen den politisch-sozialen Ordnungen, in denen das Motiv aufgegriffen wird – ist die Konkurrenz von „Gewalt“ und „Macht“ das Leitmotiv. Der Zwang zum Meisterschuss setzt eine Herrschaft außer Kraft und verleiht dem Handeln eines Einzelnen jene Legitimität, die der „Macht“ zueigen sein sollte, die sie allerdings verspielt, und macht den Meisterschützen zum Stellvertreter der unterdrückten Masse. Die Tellsage dagegen diskutiert die Legitimität von „Macht“ gleichsam auf einem staatsrechtlichen Niveau, das zur Gründung der Eidgenossenschaft führt. Die „Gewalt“ dagegen, die die „Macht“ – oder zumindest den Machthaber – zu einem Ende bringt, ist gar nicht intentional gegen diese gerichtet, lässt aber doch eine Gründungsfigur, einen Nationalheroen entstehen. Die Verbindung zwischen „Macht“ und „Gewalt“ wird durch die prekäre Situation des Apfelschusses erreicht, nicht durch die politische Gesinnung Tells. Dieser spricht das Trutzwort als Vater und Geßler bestraft ihn als Verräter; ein politisches Kalkül verfolgt Tell dabei nicht, aber Heroen sind ja ohnehin nicht eben für sehr reflektierte Handlungen bekannt. Das Naturhaft-Impulsive Tells dient bei Schiller nun dazu, die Trennung zwischen „Macht“ und „Gewalt“ zu ostendieren, ja als Prinzip gerechter politischer Veränderung gleichsam einzufordern. Die Notwehrhandlung Tells – so seine eigene Definition bei Schiller (V. 3176) – dispensiert, wie alle Notwehrhandlungen, Fragen nach Legitimität und der Sinnhaftigkeit von Handlungsoptionen. Das Prinzip der „Gewalt“, das die „Macht“ an ein Ende bringen wird, entspringt einem literarischen Motiv, einem textgewordenen Mythos, der erklärt, wie brave Männer zu Ungeheuern werden, wie Herrschaft Gewalt entfesselt, wie Fragen von Legitimität ihren Sinn verlieren und nicht gestellt werden müssen. Im Apfelschussmotiv ist eine archaische Form von Gewalt gespeichert, die in verschiedenen Kontexten stets einen neuen Sinn entfaltet. Immer wird Gewalt entfacht, aber deren Folgen variieren von der Bestenprobe, die dem Herrscher zum Verhängnis wird, bis zum braven Vater, der treuherzig jene „Gewalt“ ausübt, die Schiller den revolutionären Eidgenossen lieber nicht in die Hände legen will, auch wenn sie am Ende der Geschichte die „Macht“ in Händen halten.

Gehorsam und Widerstand, Herrschaft und Freiheit in mittelalterlicher Politiktheorie Jürgen Miethke Gehorsam hat auch eine habituelle Seite: Man gewöhnt sich an seine eigene Folgsamkeit und reduziert auf diese Weise die Notwendigkeit, sich immer neu entscheiden zu müssen, ob man einem bestimmten Befehl nachkommen solle oder nicht. Herrschaft wurde bekanntlich von Max Weber als die Chance definiert, für Befehle Gehorsam zu erhalten. In diesem Sinn ist daher Herrschaft seit alters gewohnheitsrechtlich begründet worden, was weitere Begründungen (etwa durch göttliche Einsetzung des Herrschers, seiner Familie oder der Herrschaft schlechthin) freilich nicht ausschloss. Gehorsamsforderung, -verpflichtung und -leistung gehören in der Lebenswirklichkeit immer engstens zusammen. Das aber schließt dann auch Gehorsamsverweigerung und Widerstand ein. Dieses Thema, das in mittelalterlicher Theoriebemühung immer wieder bedacht und erwogen wurde, kann als ein zentrales Stück der mittelalterlichen Tradition politischer Theorie bezeichnet werden. Bei unserem kurzen Rundblick frage ich zunächst nach den mittelalterlichen Versuchen, Herrschaft zu begründen und zugleich den Rahmen derartiger Legitimation zu beschreiben. Sodann sollen die Versuche behandelt werden, unrechte Herrschaft zu delegitimieren, indem sie als „tyrannische“ Herrschaft erkannt und bekämpft wurden. Schließlich will ich in einem dritten Abschnitt mittelalterliche Überlegungen zur Beseitigung tyrannischer Herrschaft verfolgen. I. Legitime Herrschaft und ihre Grenzen Seit dem Neuen Testament haben Christen über ihr Verhältnis zum Staat und seinen Anmutungen nachgedacht. „Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott“ heißt es im Römerbrief.1 Daran konnte immer wieder erinnert werden und wurde auch immer wieder erinnert. Potestas sagt hier die lateinische Vulgata, die Wörterbücher bestätigen uns, was wir ohnedies zu wissen glauben: „Kraft, Potenz, Wirkung, Werth“, und genauer „Macht, Gewalt über und zu etwas; Macht, Gewalt, Herrschaft, Gewalthaberstelle“, so heißt es im „Georges“ zum klassischen Wortschatz2; ein „hohes öffentliches Amt“, bietet der „Niermeyer“, die jüngste Autorität für mittelalterlichen Sprachgebrauch3 als erste Bedeutungsgleichung.

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Rm 13, 1; dazu s. – außer der umfangreichen Kommentarliteratur, die hier nicht eigens aufgeführt sei – die Übersicht über die früh- und hochmittelalterliche Behandlung des Problems durch Werner Affeldt: Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese, Röm. 13, 1–7 in den Römerbriefkommentaren der lateinischen Kirche bis zum Ende des 13. Jahrhunderts (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 22), Göttingen 1969.

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Im ganzen Mittelalter haben die Autoren, die über die politischen Verhältnisse ihrer Zeit nachdachten, nicht daran gezweifelt, dass eine politische Ordnung des Zusammenlebens zu den notwendigen Strukturen der Welt gehöre und dass man sich in sie einzufügen habe. Die Frage freilich, wie diese Ordnung entstanden sei, wann und wie eine Herrschaftsordnung in die Welt eintrat, die mochte heiß umstritten sein. Die Aussagen über den „Urstand“ des Menschen bei und nach der Schöpfung und vor dem Sündenfall arbeiteten eine breite Palette von Angeboten aus4, die wir hier nicht verfolgen wollen. Wie immer man im Einzelnen auch die Geschichte davon, wie Herrschaft und Staat in die Welt kamen, erzählen mochte, immer war es unzweifelhaft, dass ein Herrscher Gehorsam verlangen und erwarten dürfe. Die Frage der Grenzen solchen Gehorsams freilich war damit nicht beantwortet. Schon im Neuen Testament finden sich dazu Versuche einer differenzierenden Antwort. Römerbrief 13, 1–7 (und die entsprechenden Aussagen etwa des ersten Petrusbriefs 2, 13–17) scheinen eine klare Position vorzugeben, wenn sie die Gehorsamsverpflichtung unterstreichen: „Fürchtet Gott, ehret den König!“ Ebenso deutlich aber wird auch bereits im Neuen Testament davon berichtet, dass Petrus und die Apostel solcher Verpflichtung Grenzen steckten: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Act 5, 29). In dieser Spannung zwischen einer göttlich eingesetzten Ordnungsmacht einerseits, ob sie nun mit der Schöpfung zugleich oder erst zur Bändigung des Bösen eingerichtet worden war, und einer höchstrangigen Verpflichtung gegenüber den jeden einzelnen betreffenden Gewissensbindungen an das göttliche Gebot andererseits bewegte sich das gesamte mittelalterliche Nachdenken über die Gehorsamsforderung innerhalb politischer Organisationen. Ein oft gesuchter Ausweg aus dem Dilemma war es, die Frage auf die Legitimierung von herrscherlicher Ordnung umzulenken. Wenn man den Auftraggeber allgemein im Besitz legitimer Befehlsgewalt wissen durfte, brauchte man nicht mehr vorweg die Frage nach der Geltung einzelner Befehle und Forderungen zu beantworten. Befehlen einer legitimen Herrschaft war Folge zu leisten, ja, die Juristen waren nicht müde geworden, die aus der klassischen Überlieferung bekannten Formeln auch im Mittelalter immer wieder einzuschärfen. „Quod principi placuit, legis habet vigorem“ („was der Fürst beschließt, hat die Geltungskraft eines Gesetzes“), so lautete die häufig zitierte Formel aus den Digesten in Justinians Corpus Iuris Civilis.5 Dieses Zitat gab, seit das Römische Recht dem

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Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. II, Leipzig 71880, Sp. 1617f. Mediae latinitatis lexicon minus, hg. v. Jan Frederik Niermeyer/Co van de Kieft, überarb. v. Johannes W. J. Burgers, Bd. II, Leiden/Boston, MA 2002, S. 1067b–1069b. Dazu s. nur Wolfgang Stürner: Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 119), Sigmaringen 1987; Bernhard Töpfer: Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 45), Stuttgart 1999. Dig. 1,4,1,1; Cod. 1,17,1,7; Inst. 1,2,5.

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Mittelalter wieder bekannt worden war, oft genug den rechtfertigenden Beleg für fürstliches Handeln gegen Widerstrebende. Allein über einen Befehl des Herrschers nachzudenken, war den Juristen des spätantiken Dominats bereits als unerlaubt erschienen. In den Digesten des Corpus Iuris Civilis wird diese Auffassung zwar noch nicht überdeutlich ausgesprochen. Immerhin wird dem kaiserlichen Befehl keine vernünftige Begründung abverlangt, bevor die Gehorsamsverpflichtung greift. Die Kanonisten sind diesem Vorbild dann später in Hinsicht auf päpstliche Verfügungen willig gefolgt. „Satis est pro ratione voluntas“ („als ausreichende Begründung genügt – beim Fürsten – seine Willensregung“)!6 Zahlreiche mittelalterliche Gelehrte, Juristen und Theologen, haben es sich und anderen sogar ausdrücklich verboten, über die Befehle eines Vorgesetzten zu raisonnieren. „Ponere os in coelum“ („seine Stimme in den Himmel heben; vom Himmel herab reden“), so nannten sie, was sie sich und anderen verbieten wollten. Damit griffen sie ein Psalmwort auf, das in einen Canon des Decretum Gratiani Eingang gefunden hatte.7 Oft und immer wieder finden wir die ausdrückliche, teilweise sogar zu geradezu topischer Abwehr von Kritik erstarrte Bemerkung, der Autor wolle gerade nicht „vom Himmel herab reden“, wenn er über die Grenzen der Macht des Papstes nachdenke und sie schriftlich näher zu bestimmen unternehme.8 Andere Autoren beriefen sich auf die Freiheit des Heiligen Geistes, der sie dazu bringe,

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Die Formulierung selbst entstammt nicht Rechtstexten, sondern Juvenals Satiren (6.2.23). Erst seit dem Ende des 12. Jahrhunderts wird die Formel zunehmend zitiert, so insbes. durch Kanonisten seit Laurentius Hispanus (ca. 1215). Dieser hatte in einer berühmten Glosse zur Dekretale Innozenz’ III. Quanto personam [3 Comp. 1.5.3 = X 1.7.3] geschrieben (die Allegationen wurden ausgelassen): „[…] o quanta est potestas principis quia etiam naturas rerum immutat substantialia huius rei applicando alii […] et de iustitia potest facere iniquitatem corrigendo canonem aliquem vel legem, immo in is que vult, est pro ratione voluntas […], non est in hoc mundo qui dicat ei, cur hoc facis? […]“; dazu vor allem Gaines Post: Vincentius Hispanus ‚pro ratione voluntas‘ and Medieval and Early Modern Theories of Sovereignty, in: Traditio, XXVIII, 1972, S. 159–184; sowie Kenneth Pennington: Pope and Bishops, The Papal Monarchy in the Twelfth and Thirteenth Centuries, Philadelphia, PA 1984, S. 17–30 (das Zitat dort S. 18, Anm. 14). Die Juristen des römischen Rechts waren viel zurückhaltender, ihre Textgrundlagen waren auch nicht ganz so eindeutig, s. aber etwa Dig. 31.1.67(69).10. Dist. 21 c. 9, gedruckt in Corpus iuris canonici, hg. v. Emil Friedberg, Bd. I, [Leipzig 1879] Nachdruck, Graz 1995 u.ö., Sp. 72: „[…] Dioscorum Alexandrinum […] idcirco potissimum sine ulla restitutione damnaverint, quia ponens in celum os suum, lingua eius transeunte super terram […]“; s. Ps 72 (73), 9: „Posuerunt in celum os suum et lingua eorum transivit in terra.“ Verschiedene Fundstellen, die allerdings sämtlich streng kanonistische Bezüge besitzen, sind genannt bei Jürgen Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham (UTB, 3059), Tübingen 2008, S. 80f., Anm. 214: der anonyme Verfasser der Streitschrift Non ponant laici os in coelum an der Kurie Bonifaz’ VIII.; Heinrich von Cremona; Johannes Quidort von Paris; Bernhard von Pavia; Guillelmus Duranti d. J.; Leo von Ravenna (OFM); Konrad von Gelnhausen; Baldus degli Ubaldi. Diese Liste ist natürlich keineswegs vollständig! S. nur Lupold von Bebenburg: Tractatus de iuribus regni et imperii, c. 9 und 10, in: Politische Schriften des L. v. B. (Monumenta Germaniae Historica [MGH]. Staatsschriften des späteren Mittelalters, 4), hg. v. Jürgen Miethke/

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die Wahrheit und das, was der Gerechtigkeit entspreche, über und gegen den König zu sagen.9 Wenn diese Männer sich Gedanken darüber machten, was dem Papste oder dem Könige erlaubt sei und was eben nicht, so übertraten sie nach ihrer Überzeugung keine Norm richtigen Verhaltens, sondern erfüllten ihre sittliche und intellektuelle Pflicht. Es ist nur zu gut verständlich, dass die extreme Formulierung einer Gehorsams- und Folgepflicht, die auch noch verbale Kritik verbot, nicht das letzte Wort bleiben konnte. Sehr früh im Mittelalter setzten bereits Versuche ein, eine derartige, allzu allgemeine Forderung näher einzugrenzen und Unterscheidungen anzubringen, die dafür sorgen sollten, die Untergebenen nicht völlig hilflos herrscherlichen Launen auszuliefern, so fest auch an ihrer grundsätzlichen Verpflichtung dem Herrscher gegenüber festgehalten wurde. Naturgemäß waren durchaus unterschiedliche Abwehrstrategien möglich; sie wurden zu verschiedener Zeit in unterschiedlicher Häufigkeit beschritten. Man konnte Methoden der Eingrenzung von Herrschaftsverfügungen wählen, auf die man den Herrscher verpflichtet sah oder sich verpflichten ließ. Man mochte etwa den Rechtsrahmen explizit unterstreichen, der die Herrscher binden sollte. Schon Tacitus berichtet, die Germanen hätten ihre Könige in solch einen Rechtsrahmen gestellt: „Nec regibus infinita aut libera potestas.“10 Die Bindung der Herrscher an einen Rahmen, der als Rechtsrahmen gedacht war und wohl auch allein als solcher gedacht werden konnte, wurde immer wieder betont. Bisweilen erklärten die Herrscher selbst, sie verpflichteten sich zu einer angemessenen Wiedergutmachung, sollten sie in Zukunft Entscheidungen treffen, die diesem gesetzten Rahmen widersprachen.11 Man mochte auch ebenso die Notwendigkeit der Mitwirkung der Großen des Landes unterstreichen und das Erfordernis solcher Mitwirkung etwa in Krönungsordines festschreiben, ja sich das vom König im Krönungseid und bei Regierungsantritt feierlich versprechen oder gar verbriefen lassen.

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Christoph Flüeler, Hannover 2004, S. 32016 bzw. 32519; oder noch im 15. Jh. Francesco Accolti aus Arezzo, Consilium Nr. 165, im Druck Pisa 1482 (Hain *36), hier zitiert nach Kenneth Pennington: The Prince and the Law, 1200–1600: Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/Oxford 1993, S. 250, Anm. 55. So Johannes von Salisbury: Policraticus, IV. Prologus, hg. v. Clemens C. I. Webb, [London 1909] Nachdruck, Frankfurt a.M. 1965, S. 234; Johannes von Salisbury: Policraticus (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, 118), hg. v. Katharine S. B. Keats-Rohan, Turnhout 1993, S. 231: „Ardua quidem res est professio veritatis […] Ubi enim spiritus dei, ibi libertas [II Cor 3, 17]; metusque servilis vitiisque consentiens exterminator spiritus sancti est. Porro spiritus sanctus est qui loquitur aequitatem in conspectu principum nec erubescit, et pauperes spiritu regibus anteponit aut aequat, et quos sibi fecerit coherere, docet scire loqui et facere veritatem. Qui vero veritatem non vult audire vel loqui, a spiritu veritatis alienus est.“ Publius Cornelius Tacitus: Germania (Bibliotheca Teubneriana), hg. v. Erich Koestermann, Leipzig 1949, c. 7, S. 10; s. a. c. 11, S. 12. MGH. Capitularia regum Francorum, hg. v. Alfred Boretius/Victor Krause, Bd. II, [1897] Nachdruck, Hannover 1960 u.ö., S. 75f. (Nr. 206), hier §9 (S. 76): „Quodsi aliquid per necessitatem in ecclesiis Dei aut contra aliquem fidelium nostrum fecimus, hoc, quam citius potuerimus, libentissime emendabimus […].“

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Für solche Versuche ließen sich zahlreiche Beispiele aus sehr unterschiedlicher Zeit anführen. Auch bei der Beilegung von Konflikten wurden für die Zukunft heilige Versprechungen gemacht, die diesen Rechtsrahmen ausdrücklich aufriefen, auch wenn sich, was nicht überraschen kann, solche Selbstverpflichtungen im Ernstfall als nicht sehr haltbar erweisen mochten: Um hier nur die Eidesformel zu zitieren, die 1308 der schwedische König Birger I. Magnusson leisten musste, um sich aus der Haft bei seinen beiden jüngeren Brüdern zu befreien: Der König hatte zu beeiden, seine nach Verhandlungen mit den Brüdern getroffenen Vereinbarungen künftig einzuhalten und die defensio des Landes weiter als seine Aufgabe zu übernehmen. Darüber hinaus aber musste er beschwören: Item vi eiusdem sacramenti nostri promittimus, quod terras contractas et bona, quae infra regnum nobis dimittere voluerint, debemus secundum leges et patriae iura tenere, nec subditis ultra casum consuetum talliis, impositionibus, vel aliis gravaminibus aliquatenus honerare. Astringimus etiam in vi eiusdem nostri sacramenti, quod milites, armigeros et notabiles personas regni capere vel captivare, seu bona ipsorum occupare non debemus, nisi prius legittime sint convicti, nec exactiones indebitas in ipsos exercere.12

Demnach beeidete der König, dass er allgemein seine Herrscherpflichten erfüllen und seine Untergebenen nur „secundum leges et patriae iura“, freilich auch nach dem herkömmlichen Gewohnheitsrecht („non ultra casum consuetum“), belasten werde. Dass Birger Magnusson dann ein Jahrzehnt später (1317/1318) diesen seinen Versprechungen zuwider seine beiden Brüder bei einem Abendessen listig gefangen setzte und umbringen ließ, woraufhin er selbst seinen Thron verlor, das steht freilich auf einem anderen Blatt – oder auch nicht, je nachdem, wie man es betrachten will. Freiheitsgarantien, eidlich zugesichert oder durch Privilegien verbrieft, mochten im Spätmittelalter durch Wiederholung den Charakter von konstitutionellen Dokumenten gewinnen, weil sie, immer wieder neu mit geringen Varianten wiederholt, den Rechtsrahmen herrscherlichen Handelns ins Gedächtnis riefen und im Gedächtnis hielten. Wenngleich vom Fürsten solche Selbstverpflichtung alsbald widerrufen werden mochte, war ein einmal gegebenes Versprechen auf Dauer doch eine starke, weil einprägsame Fesselung, die durch spätere Wiederholungen unter Nachfolgern oder noch bei demselben Fürsten allen Textvarianten zum Trotz den Charakter einer quasi konstitutionellen Garantie gewinnen konnte. Das geschah im Spätmittelalter etwa bei der englischen Magna Charta König Johanns Ohneland von 121513 oder auch bei der bekannten Joyeuse Entrée

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Sverges traktater med främmande magter, Jemte andra dit hoerande handlingar, hg. v. Olof Simon Rydberg, Stockholm/Leipzig 1880, S. 333f., hier zitiert nach Corinne Péneau: ‚Separare regem a regimine regni‘, „Coups d’État“ et expression de la loi dans la Suède des XIVe et XVe siècles“, in: Coups d’État à la fin du Moyen Âge? Aux fondements du pouvoir politique en Europe occidentale (Collection de la Casa de Velázquez, 91), hg. v. François Foronda/Jean-Philippe Genet/José Manuel Nieto Soria, Madrid 2005, S. 51–71, hier S. 54f. mit Anm. 21f. Der vielfach gedruckte Text leicht zugänglich in der zentralen Monographie von James Clarke Holt:

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(beziehungsweise Blijde Inkomst) des Herzogs von Brabant14, die erstmals 1356 ausgestellt, bereits im folgenden Jahr vom Herzog wieder kassiert wurde, seit 1406 jedoch bei Herrschaftswechseln im Herzogtum häufig gefordert und gewährt worden ist, sodass sie bis zum Ende des Ancien Régime in geradezu verfassungssichernder Geltung blieb. Sanktionsmöglichkeiten, die das gegebene Versprechen und den gewünschten Rechtsrahmen herrscherlicher Wahlfreiheit einengen sollten, standen vielfältig zur Verfügung. Unmöglich sind hier alle Spielarten derartiger Versuche aufzulisten. Um nur ein extremes Beispiel anzuführen, das noch die Variationsbreite früher Gestaltung verrät, sei nur an die berühmten „Straßburger Eide“ der Enkel Karls des Großen erinnert. Im Jahre 842 gingen die beiden Karolingerkönige des Ost- und Westfrankenreichs so weit, ihre Getreuen von vorneherein ihrer Gehorsamsverpflichtung zu entbinden, sofern sie selbst künftig diesen ihren eidlich eingegangenen Versprechungen zuwider handeln sollten.15 II. König und Tyrann: Die Delegitimierung unrechter Herrschaft Eine ähnlich konditionierte Selbstaufgabe des Gehorsamsanspruchs begegnet später durchaus hin und wieder, ist aber naturgemäß rar und war zudem in der politischen Realität nicht leicht zu realisieren. Die jahrelange Debatte um die Notstandsgesetze in der alten Bundesrepublik hat dies noch in unserer Gegenwart jedermann deutlich vor Augen gestellt. Auch im Mittelalter konnte solche Selbstbegrenzung keine wirkliche Sicherung vor künftigem Fehlverhalten des Herrschers bieten. Wir wenden uns darum den Überlegungen zur Delegitimierung des Herrschaftsanspruchs zu, die jenseits der bisher betrachteten Aufrufe zur Beachtung des Rechtsrahmens der Herrschaftsübung angestellt worden sind. Auch hier soll nicht das gesamte Spektrum der vorgetragenen Überlegungen vorgestellt werden; wir begnügen uns mit wenigen Beispielen, die besonders bedeutsame Positionen vorstellen sollen.

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Magna Carta, Cambridge [1965] 21992, S. 448–473 (dort auch Bemerkungen zu den erhaltenen vier Ausfertigungen, s. S. 441–447). Die Verschriftlichung und Überlieferung der Exemplare untersuchte Martin Kaufhold: Die gelehrten Erzbischöfe von Canterbury und die ‚Magna Carta‘, in: Theoretische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters/Political Thought in the Age of Scholasticism (Studies in Medieval and Reformation Traditions, 103), hg. v. Dems., Leiden/Boston, MA 2004, S. 43–64; s. a. Ders.: Die Rhythmen politischer Reform im späten Mittelalter. Institutioneller Wandel in Deutschland, England und an der Kurie, 1198–1400, im Vergleich (Mittelalter-Forschungen, 23), Ostfildern 2008, S. 85f. Zusammenfassend Piet Avonds in: Lexikon des Mittelalters (LexMA), Bd. V, 1991, Sp. 641f. Nithard: Histoire des Fils de Louis le Pieux (Les classiques de l’histoire de France au Moyen Âge), hg. und übers. v. Philippe Lauer, Paris 1926, 3.5., S. 100f., hier S. 106, 108 (und die Photographie nach dem codex unicus, Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 9768, fol. 13vb; ebd., hinter S. XX): „Si Lodhuuigs sagrament que son fradre karlo jurat conservat et Karlus, meos sendra, de suo part non l’ostanit, si io returnar non l’int pois, ne io ne neuls cui eo returnar int pois, in nulla aiudha contra Lodhuuuig li iu er“ (um hier nur die volkssprachliche romanische Fassung zu zitieren).

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Neben dem gesetzten Rechtsrahmen herrscherlicher Macht mochte man die Frage nach der Herrschaftsberechtigung des Herrschers selbst stellen, man konnte im Konflikt grundsätzlich nach dessen Legitimität fragen. Eine antike Tradition kam hier dem Mittelalter bei der begrifflichen Delegitimierung einer unrechten Herrschaft zu Hilfe: die Unterscheidung zwischen rex und tyrannus. Schon die Antike hatte im Tyrannen den unrechtmäßigen Herrscher zu sehen gelernt.16 Hier konnte das Mittelalter eine ganze Skala von Argumenten finden und weiterentwickeln. Bereits die Griechen hatten Tyrannen zunehmend als Gewaltherrscher gesehen, die nicht gemäß den allgemeinen Gesetzen oder auch gegen den Willen und ohne Konsens der ihnen Unterworfenen regierten.17 Aristoteles hatte die Tyrannis als Perversion (parabasis) der Monarchie in sein Sechserschema der richtigen und der verdorbenen Herrschaftsformen aufgenommen und sie daran gemessen, dass der Tyrann nur nach seinem privaten Wohl strebe, der König jedoch nach dem allgemeinen Besten. Die Kirchenväter hatten die blutigen Christenverfolger unter den römischen Caesaren, einen Nero, Domitian, Decius oder Diocletian, mit den Unterdrückern des Volkes Israel des Alten Testaments (wie dem Moabiterkönig Eglon) als Tyrannen und Gewaltherrscher geschildert18, freilich hatte Augustin solche Gewaltherrschaft keineswegs aus dem göttlichen Heils- und Erziehungsplan herausnehmen wollen. Isidor von Sevilla, dessen sachlich unrichtige, aber ungemein einleuchtende Ableitung „rex a recte regendo“ („König kommt vom richtigen Regieren“)19 von vielen mittelalterlichen Autoren immer wieder zitiert wurde, hatte verschiedene dieser Traditionen in seinen Etymologien aufgegriffen, wenn er in den Tyrannen „pessimi atque improbi reges“ („schlimme und verworfene Regenten“) sah.20 Der Vorwurf der Tyrannis war demnach alt und gewissermaßen traditionell. Er war zunächst nicht ein Versuch der Absetzung des Herrschers: Die Tyrannen waren und blieben ja solchen Vorwürfen zum Trotz zunächst die Fürsten. Nur konnte man mit solchem Notruf sicherstellen, dass ihre Befehle als tyrannische nicht zu befolgen waren. Die Delegitimierung tyrannischer Herrschaft bedeutete also zuerst einmal, dem Herrscher einen moralischen Spiegel vorzuhalten, der ihn an seine Pflichten erinnern sollte. Nicht ohne Grund spielt in den so genannten karolingischen Fürstenspiegeln, jenen Texten, die die

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Zusammenfassend Hella Mandt: Tyrannis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VI, 1990, S. 651–706; Jürgen Miethke: Tyrann, -enmord, in: LexMA, Bd. VII, 1997, Sp. 1135–1138; Mario Turchetti: Tyrannie et tyrannicide de l’antiquitité à nos jours, Paris 2001. Solon: Dichtungen, sämtliche Fragmente, griechisch und deutsch, hg. und übers. v. Eberhard Preime, München 1940, hier fragm. 2318-20; 2415-17 (S. 28f.; 30f.); s. a. fragm. 10 (S. 23f.). Aurelius Augustinus: De civitate Dei (Bibliotheca Teubneriana), hg. v. Bernhard Dombart/Alfons Kalb, Stuttgart/Leipzig 51981, V.19, S. 229f. Isidor von Sevilla: Etymologiae sive origines, hg. v. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, 9.3.4. Etymologiae, 9.3.20; allgemein s. Jürgen Miethke: Der Tyrannenmord im späteren Mittelalter, Theorien über das Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft in der Scholastik, in: Friedensethik im Spätmittelalter, Theologie im Ringen um die gottgegebene Ordnung (Beiträge zur Friedensethik, 30), hg. v. Gerhard Beestermöller/Heinz-Gerhard Justenhoven, Stuttgart 1999, S. 24–48.

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Herrscher an ihre Herrscher- und Christenpflichten erinnerten, eine Ausmalung tyrannischer Verkehrung immer wieder eine gewichtige Rolle.21 Die Argumentation konnte aber auch bereits weiter zielen. In einem Brief forderte Papst Nikolaus I. (gest. 867) den Frankenherrscher dazu auf, seinerseits die Könige in seinem Reiche zu prüfen, „ob jene Könige und Fürsten […] wahrhaft Könige und Fürsten sind, […] ob sie auch rechtens herrschen? Sonst sind sie eher für Tyrannen zu halten als für Regenten, denen wir vielmehr Widerstand leisten und entgegentreten müssen als uns ihnen zu untergeben.“22 Noch geht es hier um eine gewissermaßen bloß analytische Einschätzung der ungerechten Herrschaft, aber als Drohung war eine Absetzung – in diesem Fall durch einen übergeordneten Herrscher – schon sichtbar. Es sollte freilich noch lange dauern, bis solche Argumente auch tatsächlich bei einer realen Absetzung angeführt wurden. Noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts malte der englische Jurist Henry de Bracton (gest. 1268) in seinem Traktat De legibus et consuetudinibus Angliae23 prononciert die Drohung schrecklicher göttlicher Strafen für unrechte Herrschaftsübung mit Hilfe biblischer Unheilsdrohungen aus. Wo er sich in einer nicht in allen Handschriften enthaltenen Passage seines großen Traktats, in der berühmten so genannten Addicio de cartis (dem „Zusatz über die Urkunden“) mit jener Regel auseinander setzt, die Richtern und Untertanen jegliche Diskussion über königliche Urkunden untersagte, führt Bracton24 einen interessanten neuen Aspekt an: Allein der König selbst dürfe, so heißt es, unklare königliche Privilegien rechtsgültig auslegen oder verfälschte Diplome richtig interpretieren. Das gelte ganz ohne jeden Abstrich. Doch dann fährt der Text der Addicio de cartis fort, diese Feststellungen zunächst scheinbar aufnehmend: 21

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Vor allem Hans Hubert Anton: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner historische Forschungen, 32), Bonn 1968; s. Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters/Specula principum ineuntis et progredientis medii aevi (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 45), ausgew., übers. und komment. v. Hans Hubert Anton, Darmstadt 2006. Nikolaus I. ep. 68 (Migne PL 119, 888B): „utrum reges isti et principes [...] veraciter reges et principes sint [...], si iure principantur? Alioquin potius tyranni credendi sunt quam reges habendi, quibus magis resistere et ex adverso ascendere quam subdi debemus.“ Monumentale Ausgabe mit seitenparalleler englischer Übersetzung: Henry de Bracton: De legibus et consuetudinibus Angliae, hg. v. George E. Woodbine, übers. und komment. v. Samuel E. Thorne, Bd. I–IV, Cambridge, MA 1968 (Bd. I–II) – 1977 (Bd. III–IV). Diese Ausgabe steht auch im Internet zur Verfügung: http://hls15.law.harvard.edu/bracton/ (31. 01. 2001). Hier gehe ich nicht auf die endlos scheinende Debatte um die Verfasserschaft ein, die in England – wie das Rätseln um die Identität des Verfassers der Shakespeareschen Dramen – nicht verstummen will. In der letzten Zeit beruhigen sich freilich die Wogen sichtlich; s. John L. Barton: The Mystery of Bracton, in: The Journal of Legal History, XIV, 1993, Special Issue, S. 1–143; nicht so freilich urteilt Cary Joseph Nederman: Lineages of European Political Thought, Explorations Along the Medieval/Modern Divide from John of Salisbury to Hegel, Washington, DC 2009, S. 82 (der das Verdikt Thornes übernimmt); s. dagegen bereits Jürgen Miethke: Mittelalterliche Politiktheorie. Vier Entwürfe des Hoch- und Spätmittelalters (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 35), Baden-Baden 2006, bes. S. 25–32.

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Item factum regis nec cartam potest quis iudicare, ita quod factum regis irritetur. Sed dicere poterit quis quod rex iustitiam fecerit, et bene; et si hoc, eadem ratione quod male, et ita imponere ei quod iniuriam emendet, ne incidat rex et iustitiarii in iudicium viventis dei propter iniuriam. Rex habet superiorem, deum scilicet. Item legem per quam factus est rex. Item curiam suam, videlicet comites et barones, quia comites dicuntur quasi socii regis, et qui socium habet, habet magistrum.25

Es ist deutlich, wie hier der Jurist die Argumentationsebenen verschiebt und wechselt. Hatte er zunächst nur den unstrittigen Fall im Auge, dass der König gegen ein Gebot Gottes unmittelbar verstößt, so kommt er sehr bald darauf zu sprechen, dass der König ja nicht allein stehe, sondern in seinem Hof eine Umgebung habe, die ebenfalls dem König Grenzen setze, weil nach sprichwörtlicher Weisheit derjenige, der einen Genossen hat, dessen Einsprüche zu gewärtigen habe. So habe also auch der König die Einsprüche seiner comites zu ertragen, in zweifelhafter etymologischer Ableitung seiner „Begleiter“ bei Hofe. Das mag zunächst ein nur schwaches Argument sein, aber in der Fortsetzung wird deutlicher, dass es Bracton darum geht, den „Grafen“ und dem gesamten königlichen Hof eine besondere konstitutionelle Kompetenz zuzusprechen, freilich noch ohne eigene Sanktionsmöglichkeiten. Generell greift der Jurist im Fortgang zunächst auf eine „Zügelung“ königlicher Anordnungen und Entscheidungen durch Gottes Gebote zurück, widrigenfalls Gottes Strafgericht über den König und sein Hof kommen wird: Et ideo si rex fuerit sine fræno, id est sine lege, debent ei frænum apponere nisi ipsimet fuerint cum rege sine fræno. Et tunc clamabunt subditi et dicent, Domine Ihesus in chamo et fræno maxillas eorum constringe [Ps 31(32), 9]. Ad quos dominus, Vocabo super eos gentem robustam et longinquam et ignotam, cuius linguam ignorabunt, quæ destruet eos [Ier 5, 15] et evellet radices eorum de terra [Ier 12, 14], et a talibus iudicabuntur, quia subditos noluerunt iuste iudicare. Et in fine ligatis pedibus eorum et manibus, mittet eos in caminum ignis et tenebras exteriores, ubi erit fletus et stridor dentium [Mt 22, 13].26

Bei allen Anleihen an die Sprache der Unheilsprophezeiungen und apokalyptischen Drohungen des Alten und Neuen Testaments, die der Text in einem echt mittelalterlichen Pasticcio von mehr oder weniger wörtlichen Bibelzitaten dem Leser, bezogen auf die je

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Bracton, ed. Woodbine/Thorne (wie Anm. 23), Bd. II, S. 107: „Eine königliche Maßnahme oder eine seiner Urkunden darf niemand gerichtlich beurteilen. Aber jemand wird doch sagen dürfen, dass der König Gerechtigkeit geübt habe und gut getan. Mit demselben Recht , dass er schlecht gehandelt habe; damit kann er ihm (scil. dem König) auferlegen, sein Unrecht wieder gutzumachen, damit nicht der König und seine Richter dem Gericht des lebendigen Gottes verfallen. Der König hat einen über sich, nämlich Gott. Und auch das Gesetz steht über ihm, durch das er König geworden ist. Auch hat er seinen Hof, d.h. die Grafen und Barone; denn Grafen (comites) heißen sie ja sozusagen als Begleiter des Königs. Wer aber einen Genossen hat, der hat auch einen Meister.“ Ebd.

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eigene Gegenwart, entgegenschleudert, kommt es Bracton letztlich nicht auf diese endzeitliche Drohung an. Die Drohung mit dem Untergang steht an letzter, wenngleich unaufgebbarer Stelle. Gewiss, die Strafe Gottes wird nicht ausbleiben, wenn niemand hören will. Aber zuvor, und darauf kommt es Bracton doch eigentlich an, müssen den König noch seine Großen zügeln und in Zaum halten, sonst werden sie, zusammen mit dem König, selbst Gottes Strafe verfallen. Das ist offensichtlich der Kern der Mahnrede: Wenn der König sich nicht von Gott schrecken lässt, dann müssen dies, aus demselben Grund, seine Großen besorgen. Damit führt Bracton seine Überlegungen auf die Grenzen zurück, die dem Herrscher von vorneherein im „konsensualen Herrschaftssystem“ des Mittelalters gezogen sind. Seit der Magna Charta ist das in der englischen Verfassungsgeschichte auch pünktlich immer wieder verstetigend institutionalisiert worden.27 Für den englischen Juristen Bracton gilt dabei, das hält er gleich zweimal in seinem Buche ausdrücklich fest, keineswegs bereits als lex, als „Gesetz“ (offenbar im römischrechtlichen Sinn), was der Fürst für sich allein beschließt. Vielmehr sieht Bracton wohlabgestufte Voraussetzungen eines wirklichen Gesetzes in England vor: Nihil enim aliud potest rex in terris, cum sit dei minister et vicarius, nisi id solum quod de iure potest, nec obstat quod dicitur quod principi placet legis habet vigorem, quia sequitur in fine legis: cum lege regia, quæ de imperio eius lata est, ; id est: non quidquid de voluntate regis temere præsumptum est, sed quod magnatum suorum consilio, rege auctoritatem præstante et habita super hoc deliberatione et tractatu, recte fuerit definitum, .28

Diese These ist kein obiter dictum des Buches, vielmehr hatte Bracton das bereits in seinem Proömium fast wörtlich ebenso niedergeschrieben, um damit den Titel seines Buches genauer zu begründen29: Sed non erit absurdum leges Anglicanas licet non scriptas leges appellare, cum legis vigorem habeat quidquid de consilio et consensu magnatum et rei publicæ communi sponsione, auctoritate regis sive principis præcedente, iuste fuerit definitum et approbatum.

Er spricht dabei in unmittelbarem Anschluss an einen Vorgänger des 12. Jahrhunderts, Ranulf Glanville, der seinerseits ausdrücklich zwei Gedanken in den Vordergrund gestellt hatte: Einmal waren nach dessen Meinung die Gesetze Englands auch dann im Vollsinn Gesetze, wenn sie nicht schriftlich fixiert waren. Zudem wurde nach den Digesten alles das als Gesetz bezeichnet, was der Fürst beschloss; jedenfalls galt das als „Gesetz“, was

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S. Kaufhold 2008 (wie Anm. 13). Bracton, ed. Woodbine/Thorne (wie Anm. 23), Bd. II, S. 305: Das offensichtlich aus dem Gedächtnis angebrachte, verkürzte Zitat aus den Digesten wurde von mir durch in gesetzte, unentbehrliche Satzteile aus dem Zitat ergänzt, da das für eine sinnvolle Argumentation m.E. notwendig hinzugedacht werden muss. Ebd., Bd. II, S. 19.

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auf einer Ratsversammlung über Zweifelsfragen mit Rat der Großen und der Beistimmung der fürstlichen Autorität verkündet worden ist.30 Bracton schließt sich verbal eng an diese von Glanville gegebene Definition an, wandelt sie jedoch charakteristisch ab beziehungsweise, richtiger, er präzisiert sie nuancierend. Nach Bractons Auffassung sind die Gesetze Englands, obwohl nicht schriftlich fixiert, dennoch leges, auch wenn sie nicht in Jusitinians Corpus Iuris Civilis verzeichnet sind.31 Hier wird also mit Glanville eine engstirnige Begriffsverengung abgelehnt, der zufolge nur die leges der antiken Kaiser (und vielleicht auch noch der römisch-deutschen Kaiser des Mittelalters), wie sie in Justinians Corpus Iuris Civilis aufgezeichnet waren, als Gesetze im Vollsinn gelten dürfen. Gegenüber Glanville betont Bracton jedoch noch stärker den ordnungsgemäßen Gang der Beratungen. Zudem unterstreicht er explizit Glanvilles nur implizit in der „Gerechtigkeit des Gesetzgebers“ („decernentis equitas“) angelegte Forderung, dass das Ergebnis der Beratungen im königlichen Rat Bestimmungen „in gerechter Weise“ („iuste“) erbringen müsse. Doch greifen wir mit solchen Vorstellungen keineswegs einen auf England beschränkten Sonderweg der Rechtsvorstellungen. Ähnliche Voraussetzungen macht man wenige Jahrzehnte zuvor auch in Deutschland. Der unglückliche Sohn Kaiser Friedrichs II., König Heinrich (VII.), hatte am 1. Mai 1231 in Worms einen Spruch des Reichshofgerichts32 verkündet, allerdings nicht zur Gesetzgebung im gesamten Reich, sondern „nur“ zur Gesetzgebung in den einzelnen terrae, den Landen der Reichsfürsten. Es wurde beschlossen, dass weder ein Fürst, noch irgendjemand anderes „Konstitutionen oder neue Rechte bewirken kann, wenn nicht zuvor die Zustimmung der besseren und wichtigeren Leute des Landes eingeholt worden ist.“33 Auch hier soll die Gesetzgebung also an den Konsens der Untergebenen gebunden werden, ein Gedanke, der sich in Deutschland nicht sehr lange hat halten können, der aber 1231 noch ohne Umschweife formuliert worden ist.

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Tractatus de legibus et consuetudinibus regni Anglie qui ‚Glanvilla‘ vocatur/The Treatise on the Laws and Customs of the Realm of England Commonly called Glanvill (Oxford Medieval Texts), hg. und übers. v. George D. G. Hall, Oxford [11965] 1993, S. 2: „Leges autem Anglicanas licet non scriptas leges appellari non uideatur absurdum, cum hoc ipsum lex sit, ‚quod principi placet, legis habet uigorem‘, eas scilicet quas super dubiis in concilio diffiniendis procerum quidem consilio et principis accedente auctoritate constat esse promulgatas. Si enim ob solum scripture defectum leges minime censerentur, maioris proculdubio auctoritatis robur ipsis legibus uideretur accommodare scriptura quam uel decernentis equitas aut ratio statuentis.“ S. o. Anm. 29. Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451, hg. v. Bernhard Diestelkamp, Bd. II: Die Zeit von Philipp von Schwaben bis Richard von Cornwall, 1198–1272, bearb. v. Ekkehart Rotter, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 267 (Nr. 313). Text nach MGH. Const. II, hg. v. Ludwig Weiland, Hannover 1896, 420 (Nr. 305): „[…] fuit taliter diffinitum, ut neque principes neque alii quilibet constituciones vel nova iura facere possint, nisi meliorum et maiorum terre consensus primitus habeatur“; dazu allgemein etwa Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands (Juristische KurzLehrbücher), München 21992, S. 63 (§10 II.2).

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III. Widerstandsrecht und Tyrannenmord Steht diese Mahnung an konsensuale Zügel herrscherlicher Willkür noch gewissermaßen auf der Kippe zu einer allgemeinen Delegitimierung herrscherlicher Gebote, so war der Vorwurf tyrannischer Willkür grundsätzlich anwendbar auch in spezifischerer Argumentation und damit für den angegriffenen Herrscher gefährlicher. Jemanden einen Tyrannen zu nennen, das bedeutete zugleich, seinen herrscherlichen Absichten Widerspruch und gegebenenfalls Ungehorsam entgegenzuhalten. Die Bezeichnung eines Herrschers als Tyrann sprach ihm die Legitimation zum Herrschen und Befehlen ab. Wie dies politisch durchgesetzt werden sollte, das war damit nicht festgelegt. Hier vielleicht ist am deutlichsten im Mittelalter eine zeitliche Entwicklung zu beobachten, die jedoch keineswegs gradlinig, sondern mit Haken und Sprüngen verläuft. Bezeichnend bereits für das 11. Jahrhundert scheint mir die Selbstverständlichkeit, mit der ein zeitgenössischer Bericht den Entschluss der Sachsen zu einem Krieg mit dem deutschen Herrscher Heinrich IV. auf eine flammende Rede zurückführt, mit der der sächsische Adlige Otto von Northeim in Hoetensleben (1073) vor seinen sächsischen Genossen dem König in aller Ausführlichkeit und Anschaulichkeit den Vorwurf tyrannischer Verknechtung der Sachsen machte, wodurch dieser sich selbst als König abgesetzt habe.34 Im 11. Jahrhundert war damit aber zunächst außer offener Rebellion und kriegerischer Gegengewalt keine andere weitere Überlegung, etwa die einer sofortigen Neuwahl eines Königs verbunden, wie sie dann freilich zwei Jahre später erfolgen sollte. Diese Idee reifte erst allmählich in dem Verlauf des Konflikts. Die Beilegung des damals ausgebrochenen Krieges blieb zunächst durchaus auch den normalen Friedensschlussritualen und -praktiken vorbehalten, die dann jedoch für die Zukunft einen jahrzehntelangen erbitterten Kampf nicht zu verhindern vermochten. Doch das zu verfolgen, gehört nicht in unseren Rahmen. Erst bei Johannes von Salisbury, fast drei Menschenalter später, kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts, finden wir weiterführende Überlegungen, die sich zunächst ganz an die antike Tradition der Tyrannenbeseitigung anlehnen, um dann jedoch die mittelalterliche Gegenwart genauer in den Blick zu nehmen. Die Argumentationsebene ist bei Johannes zunächst rein moralisch. Der Autor verwendet als Autoritäten in seinen kunstvollen literarischen Anspielungen zunächst antike Literatur, nicht sogleich Rechtstradition, auf die er dann freilich doch noch zurückgreift: Cicero gibt ihm das Stichwort mit Überlegungen zur Freundschaft und ihren Anforderungen35: Freunden dürfe man, so stellt

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Brunos Buch vom Sachsenkrieg (MGH. Deutsches Mittelalter, 2), hg. v. Hans-Eberhard Lohmann, Leipzig 1937, c. 25, S. 28–30; zum zeitgenössischen Bild Kaiser Heinrichs IV. ausführlich jüngst der Sammelband Heinrich IV (Vorträge und Forschungen, 69), hg. v. Gerd Althoff, Stuttgart 2009. Johannes von Salisbury: Policraticus, ed. Webb 1909 (wie Anm. 9), III.15, Bd. I, S. 232f.; ed. KeatsRohan 1993 (wie Anm. 9), S. 229f.: „[…] Unde et in secularibus litteris cautum est quia aliter cum amico, aliter vivendum cum tiranno. Amico utique adulari non licet, sed aures tiranni mulcere licitum

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Johannes zunächst ein wenig überraschend fest, nicht schmeicheln, sehr wohl aber einem Tyrannen. Brüsk folgert er aus dieser Aussage, dass man demjenigen schmeicheln könne, den man töten dürfe. Einen Tyrannen zu töten aber sei „nicht nur erlaubt, sondern in höchstem Maße angemessen und gerecht.“ Dieser Satz wird sodann ausführlich begründet mit Überlegungen, die ihre Argumente aus dem damals erst zwei Generationen zuvor wieder allgemein bekannt gewordenen römischen Recht beziehen. Ein Tyrann sei ein „hostis publicus“ (ein „öffentlicher Feind“), ja in einer sprachlichen Hyperbel formuliert, ein „mehr als öffentlicher Feind“, der die Gesetze entleere und bedrücke, die Gesetze, denen doch selbst die Kaiser Gehorsam leisten sollten. Darum ließen sich gegen ihn alle Strafen und Verfolgungsmittel gebrauchen, die das antike Kaiserrecht gegen einen Majestätsverbrecher vorsehe. Zum ersten Male hat damit im Mittelalter ein christlicher Autor den Tyrannenmord ausdrücklich, ja emphatisch für „nicht nur erlaubt, sondern für im höchsten Sinne angemessen und gerecht“ („non modo licitum […] sed aequum et iustum“) erklärt. Johannes von Salisbury tat eben dies, gestützt auf antike Anregungen, aber doch wohl im Bewusstsein der Gewagtheit seiner Position. So sicher der Ton klingt, der hier angeschlagen wird, noch im Verlauf seiner umfangreichen Überlegungen verwischt der Verfasser die Klarheit dieser Umrisse, indem er deutliche Einschränkungen betont. Tyrann ist ihm ausschließlich der Usurpator. Diese Ausschließlichkeit in der Wortbedeutung war damals zwar üblich, als Tyrannen galten nur die usurpatorisch zur Macht gelangten Gewaltherrscher, nicht die legitimen Könige, die als Diener der Gerechtigkeit und des Rechts vorgestellt werden. Was jedoch zu tun sei, wenn ein legitimer König kein Diener des Rechts ist, darüber findet man im 12. Jahrhundert, auch bei Johannes von Salisbury, keine Aussage. Johannes kommt später in seinem Buch erneut und ausführlich auf Tyrannen zu sprechen und dabei auch auf die Frage der Tyrannentötung zurück.36 Hier macht er noch deutlichere Einschränkungen, wenngleich er obstinat auch hier wiederholt: „Nicht dass ich etwa

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est. Ei namque licet adulari, quem licet occidere. Porro tirannum occidere non modo licitum est, sed aequum et iustum. Qui enim gladium accipit, gladio dignus est interire. Sed accipere intelligitur qui cum propria temeritate usurpat, non qui utendi eo accipit a Domino potestatem. Utique qui a Deo potestatem accipit, legibus sit et iustitiae et iuris famulus est. Qui vero eam usurpat, iura deprimit et voluntati suae leges summittit. In eum ergo merito armantur iura qui leges exarmat, et publica potestas sevit in eum qui evacuare nititur publicam manum. Et, cum multa sint crimina maiestatis, nullum gravius est eo, quod adversus ipsum corpus iustitiae exercetur. Tirannis ergo non modo publicum crimen sed, si fieri posset, plus quam publicum est. Si enim crimen maiestatis omnes persecutores admittit, quanto magis illud quod leges premit, quae ipsis debent imperatoribus imperare? Certe hostem publicum nemo ulciscitur, et quisquis eum non persequitur, in seipsum et in totum rei publicae corpus delinquit.“ Policraticus VIII.17–21, insbes. VIII.20 (2, S. 345–396, insbes. S. 372–379); zum Gegenbild des legitimen Herrschers und seiner Aufgabe neuerlich etwa Nicolas de Aranjo: Le prince comme ministre de Dieu sur terre. La définition du prince chez Jean de Salisbury (Policraticus IV/1), in: Le Moyen Âge, CXII, 2006, S. 63–74.

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nicht glaubte, man dürfe Tyrannen nicht beseitigen!“37 Aber ganz deutlich formuliert der Text drei wesenlicheVorbehalte, die er aus seinen zuvor ausführlich dargebotenen Beispielsfällen des Alten Testaments, der antiken Literatur und der eigenen Gegenwart ableitet, die das üble Ende von Tyrannen zum Thema haben: Wer einen Tyrannen töten will, darf ihm durch keinerlei Eid verpflichtet sein, darf keinen Giftanschlag erwägen und überhaupt soll es ohne Gefahr für heilige Bindungen und die Adelsehre sein. Als den angemessensten und sichersten Weg, einen Tyrannen loszuwerden, empfiehlt Johannes schließlich den Bedrückten, sich in den Schutz der göttlichen Milde zu flüchten, Buße zu tun und auf Gottes Hilfe zu warten. Man wird nicht von einer vollen, runden Tyrannenmordlehre des englischen Gelehrten sprechen können. Seine Einschränkungen machten in der feudalen Welt des Spätmittelalters einen Tyrannenmord praktisch unmöglich, wenn dessen moralische Berechtigung auch unverkennbar anerkannt wurde. Es kann nicht verwundern, dass die Forschung Johannes von Salisbury überhaupt jegliche Rechtfertigungsabsicht hinsichtlich der Tyrannen-Tötung absprechen wollte.38 Wenn das auch allzu klare Aussagen erwartet, die der Policraticus gerade nicht machen mochte, so bleibt doch die Scheu des christlichen Theologen bemerkenswert, ohne weiteres einen Mordanschlag gewissermaßen selbstläufig zu rechtfertigen. Diese erkennbaren Schwierigkeiten sollten noch lange nicht enden. Mehr als ein volles Jahrhundert später wird Thomas von Aquin in seiner späten Schrift De regno ad regem Cypri noch einmal ausführlich auf das Problem zurückkommen.39 Auch dieser große Theologe konnte sich bei aller Klarheit seiner Darlegungen nicht zu einem grundsätzlich anderen Rat an seine Leser durchringen als sein englischer Vorgänger. Thomas, der anders als Johannes von Salisbury ausdrücklich bereits in seiner Summa Theologiae neben dem Usurpator auch einen durch den schlechten Gebrauch ursprünglich legitimer Herrschaft entarteten Herrscher als Tyrannen erkannt hatte, ging ebenfalls grundsätzlich davon aus, dass tyrannische Herrschaft völlig inakzeptabel sei, dass sich Aufständische gegen tyrannische Gewalt nicht einer von Gottes Gesetz verbotenen seditio schuldig machten, weil ja der Tyrann selber als seditiosus gelten müsse.40 Aber in seiner ausführlicheren Behand-

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Policraticus VIII.20 (2, S. 378): „Non quod tirannos de medio tollendos esse non credam […].“ Jan van Laarhoven: „Thou shalt not slay a tyrant!“ The so-called Theory of John of Salisbury, in: The World of John of Salisbury (Studies in Church History. Subsidia, 3), hg. v. Michael Wilks, Oxford 1984, S. 319–341; dagegen s. etwa Richard H. Rouse/Mary A. Rouse: John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide, in: Speculum, XXXXII, 1967, S. 693–709; Miethke 1999 (wie Anm. 20), S. 38–40. Thomas von Aquin: De regno ad regem Cypri (Sancti Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII p.m. edita [= Editio Leonina], 42), hg. v. Hyacinth F. Dondaine, Rom 1979, S. 449–471, hier bes. I.6 (S. 455f.). Thomas: Summa Theologiae, 2–II qu.42 a.2 ad 3, hier benutzt nach der Edition durch Robert Busa, S.J. in: S. Thomae Aquinatis Opera omnia, ut sunt in indice Thomistico, Bd. II, Stuttgart/Bad Cannstadt 1980, 581b.

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lung dieser Frage kurz vor seinem Tod41 entwarf Thomas ein ungemein differenziertes und sehr vorsichtiges Bild. Nun fragt er, „wie man vorgehen muss, damit nicht der König zu einem Tyrann werde.“42 Zunächst wird untersucht, was man dazu tun könne, einen Tyrannen überhaupt zu vermeiden. Das müsse, so meint Thomas, bereits bei der Wahl ins Herrscheramt berücksichtigt werden, da man üble Prädispositionen eines Kandidaten entsprechend zu beachten habe. Auch müsse man die Verfassung des Reiches so gestalten, dass kein Anlass zu tyrannischer Amtsführung gegeben werde und zugleich müsse man die königliche Amtskompetenz entsprechend einschränken, damit der Herrscher nicht leicht in Tyrannei abgleiten könne. Darauf will Thomas, so erklärt er hier, ausdrücklich im weiteren Verlauf seiner Schrift noch zurückkommen.43 Es ist bedauerlich, dass der Fragment gebliebene Traktat uns gerade diese versprochenen Ausführungen vorenthält. Nicht viele mittelalterliche Autoren haben sich mit verfassungsrechtlichen Schranken und konstitutionellen Konstruktionen zur Einschränkung der Macht einer Regierung (gubernatio) beschäftigt. Thomas hatte zumindest vor, sich dazu zu äußern. Er betont aber noch im unmittelbaren Anschluss an diese Ankündigung, einen Gedanken aus früheren Tagen wieder aufgreifend, dass jedenfalls Tyrannei eine dynamische Steigerung kenne, dass es mit anderen Worten auch eine milde Form der Tyrannei, eine remissa tyrannis gebe, die man, wie er anrät, eher ertragen solle, als durch einen Versuch zu ihrer Beseitigung die Gefahr einer deutlich schlimmeren Gewaltherrschaft heraufzubeschwören. Freilich gesteht auch Thomas zu, dass es einen „unerträglichen Exzess von Gewaltherrschaft“ („intolerabilis excessus tyrannidis“) geben kann. Dann ist nach seiner Meinung guter Rat teuer. Da werde gesagt, so erklärt er, es gehöre zur Mannhaftigkeit (virtus) tapferer Männer, sich zugunsten einer Befreiung der Menge selbst einer Todesgefahr auszusetzen, wie alttestamentliche Beispiele deutlich machten. Doch dieser Auffassung setzt Thomas den Auftrag aus dem ersten Petrusbrief entgegen: „Seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen! Denn das ist Gnade, wenn jemand vor Gott um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht (1 Pt 2, 18f.).“ Darüber hinaus verweist Thomas als Gegenbeispiel auf christliche Märtyrersoldaten der spätantiken römischen Kaiserzeit, nämlich auf die legendäre Thebaische Legion, die lieber den Tod erlitten habe, als ihre Waffen gegen den Kaisertyrannen zu wenden. Über diese Diskrepanz zwischen der politischen Ethik des Alten und des Neuen Testaments hinaus verweigert Thomas auch entsetzt „eigenmächtiger Anmaßung“ (privata 41

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Die (umstrittene) Datierung von De regno nehme ich hier vor nach Christoph Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im späteren Mittelalter (Bochumer Studien zur Philosophie, 19), Amsterdam/Philadelphia, PA 1992, Bd. I, S. 27f. In der Überschrift des Kapitels (I.6): „Qualiter procedendum est, ne rex incidat in tyrannum? (Thomas: De regno, ed. Dondaine 1979 [wie Anm. 39], S. 459a). „Deinde sic disponenda est regni gubernatio ut regi iam instituto tyrannidis subtrahatur occasio. Simul etiam sic eius temperetur potestas ut in tyrannidem de facili declinare non posit; que quidem quomodo fiant, in sequentibus considerandum erit“ (ebd., S. 455a).

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presumptio) jedes Aktionsrecht.44 Wenn es einen Oberen gebe, der den Herrscher einzusetzen habe, obliege ihm auch die Aufgabe der Tyrannenbeseitigung. Aber wenn auch dieser Weg verschlossen sei, wenn menschliche Hilfe gegen den Gewaltherrscher nicht erhältlich sei, so sieht auch Thomas, wie hundert Jahre vor ihm Johannes von Salisbury, Hilfe allein noch bei Gott, der das Leben des Tyrannen beenden oder sein Herz wenden könne. Solche Zuflucht ist nur in echter Buße zu erreichen: „Tollenda est igitur culpa ut cesset tyrannorum plaga.“45 Das war ein zweifelhafter Rat, der in konkreter Not kaum praktikable Hilfe oder eine politische Lösung anbot, vielmehr stärker der frommen Predigt und dem christlichen Bußruf verpflichtet blieb. So genau die bei Thomas entwickelten Begriffe auch die Durchleuchtung einer verfahrenen Situation ermöglichen mochten, so wenig konkrete Handlungsanweisung im Konfliktfall konnten sie doch anbieten. Die Sorge des Theologen vor allzu starker Ermunterung politischen Meuchelmordes ist allerdings nur allzu verständlich. Weitere hundert Jahre später sollte sich diese Situation nicht grundsätzlich geändert haben. In einer Krisenzeit der französischen Monarchie, 1356/1357, nach dem Beginn des so genannten Hundertjährigen Krieges, hat Nicole Oresme, damals gerade zum Magister der Theologie in Paris promoviert und zum „Grand Maître“ des berühmten „Collège de Navarre“46 gewählt, einen Traktat wissenschaftlicher Politikberatung für den französischen Hof geschrieben, in dem er mit Hilfe aristotelischer Wirtschaftstheorie die desaströse, weil zu dauernder Inflation führende Münzverrufungspolitik der französischen Könige scharf kritisierte und eine am Gemeinwohl orientierte neue Politik forderte. De moneta („Über das Münzwesen“) überschrieben, enthält der Text wichtige Ansätze für eine künftige Wissenschaft vom Wirtschaften und gab für einen Kreis junger Intellektueller am Hof König Johanns des Guten Anregungen, die Oresme später am Hofe König Karls V., des Sohnes Johanns I., fortsetzen durfte. Alle diese an Universitäten geschulten Männer waren um eine Reform des Königreichs bemüht und setzten dafür neue, auch gelehrte Mittel einer ‚wissenschaftlichen‘ Politik ein.47 Vor dem Hintergrund einer ver-

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Ebd., I.6, S. 455b78 und 456a88. Ebd., S. 456b166f. Zu diesem Collège jetzt Nathalie Gorochov: Le Collège de Navarre de sa fondation (1305) au début du XVe siècle (1418). Histoire de l’institution, de sa vie intellectuelle et de son recrutement (Etudes d’histoire médiévale, 1), Paris 1997, zu Oresme hier bes. S. 680f. Jacques Krynen: L’Empire du roy. Idées et croyances politiques en France, XIIIe –XVe siècle (Bibliothèque des histoires), Paris 1993, S. 419–432 ; s. a. Turchetti 2001 (wie Anm. 16), S. 304–308, der sich freilich ausschließlich mit Oresmes Übersetzung der aristotelischen Politik ins Französische beschäftigt und De moneta nicht berücksichtigt hat; Mario D’Addio: Il tirannicidio, in: Storia delle idee politiche, economiche e sociali, Bd. III: Umanesimo et Rinascimento, hg. v. Giuseppe Alberigo, Turin 1987, S. 511–610, behandelt Oresme nicht eigens, ebensowenig Andreas Kobusch: Abbild und Stellvertreter Gottes. Der König in herrschaftstheoretischen Schriften des späten Mittelalters (Passauer historische Forschungen, 17), Köln/Weimar/Wien 2011.

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deckten Auseinandersetzung mit nicht genannten Juristen, die damals offenbar mit der Gruppe um Oresme um Einfluss am Königshof rangen48, enthält dieser Traktat auch eine Warnung vor tyrannischer Gewaltherrschaft in Frankreich: Ideoque servitus eis imposita durare non potest, quoniam etsi magna sit tyrannorum potencia, est tamen liberis subditorum cordibus violentia et adversus alienos invalida. Quicumque ergo dominos Francie ad huiusmodi regimen tyrannicum quoquo modo traherent, ipsi regnum magno discrimini exponerent, et ad terminum praepararent. Neque enim regum Franciae generosa propago tyrannizare didicit nec serviliter subici populus Gallicus consuevit. Ideo si regia proles a pristina virtute degeneret, proculdubio regnum perdet.49

Der Schlachtruf der „Tyrannei“ wird hier nicht als Vorwurf, sondern als Warnung verwendet. Der König solle sich hüten, sich tyrannischer Herrschaftsverkehrung schuldig zu machen. Falsche Ratgeber dürften ihn nicht in den Abgrund führen. Wie eine Selbstverständlichkeit wird dem König die unausweichliche Folge eines Herrschaftsverlustes für die gesamte Dynastie der Valois entgegengehalten. Denn das wäre die natürliche Konsequenz sittlicher Verkehrung. Nur andeutungsweise wird das mit dem Freiheitswillen des Volkes und also mit drohenden Unruhen begründet, während keinerlei Aufruf zu direkter Gewaltanwendung zu entdecken ist. Oresme war ein gelehrter Rat am königlichen Hof. In seinem Traktat begnügt er sich mit der alten exhortativen Wirkung des Tyrannenvorwurfs, weist auf den Freiheitswillen des stolzen „Gallischen Volkes“ hin, ohne dieses jedoch aktiv aufrührerisch aufzurufen. Es scheint ihm fast ein Naturgesetz, dass ein ty48

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Wen Oresme mit solchen Ratgebern meint, ist unschwer zu erraten: Er spricht hier, wie auch später oft, die Juristen an, die im Rat oft im Streit die Partie für sich entschieden; s. etwa die Polemik Oresmes gegen die Juristen in Maistre Nicole Oresme: Le livre de Politiques d’Aristote (Transactions of the American Philosophical Society, n.s. 60/6), hg. v. Albert Douglas Menut, Philadelphia, PA 1970, S. 243: „Item, par la fausse opinion et malvesse suggestion de telz adulateurs et flateurs ont esté faites ou temps passé aucunes lays lesquelles attribuent as princes qu’il sunt par desus les lays: Et quia princeps est solutus legibus, et quia principi placuit, legis habet vigorem […]“; dazu etwa Krynen 1993 (wie Anm. 47), S. 118. The De moneta of Nicholas Oresme and English mint documents (Medieval Texts), hg. und übers. v. Charles Johnson, London 1956, S. 47; in der französischen Fassung, die Oresme selber offenbar wenig später angefertigt hat, heißt es: „comme ainsi fut que jà Dieu ne plaise que le francs couraiges de François fussent si abbastardiz (!) que volontairement fussent faitz serfz, pour ce la servitude à eulx impose ne pourroit longuement durer, car combien que la puissance soit grande des tyrans, toutes foiz elle est violente èscueurs des libres enfans des subgectz advenir et a l’encontre des estrangiers non vallable. Quiconque donc voudroient par aucune manière, attraire et introduire les seigneurs de France à cestuy regime tyrannique, certes ils exposeroient le royaume en grant descriement et honte et les prepareroient à sa fin; car onques la très noble sequelle des roys de France n’aprint à tyranniser, ne aussi le people gallcan ne s’accoustume à sujection servile; et pour ce, se la royalle sequelle de France delinque de sa première vertu, sans nulle dollubtre, elle perdra son royaume et sera translate en autre main […].“ S. Traictié de la première invention des monnoies de Nicole Oresme, textes français et latin d’après les manuscrits de la Bibliothèque Impériale, hg. v. L(udwik) M(ichał) R(ajmund) Wołowski, Paris 1864, S. LXXXIV.

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rannischer Herrscher nicht nur selbst seine Herrschaft verlieren wird, sondern auch sein ganzes Haus nicht weiter als Dynastie bestehen bleiben kann. Wie das freilich ins Werk gesetzt werde, das führt Nicole Oresme, vielleicht wohlweislich, nicht weiter aus. Mit der als Schreckbild gebrauchten Tyrannei erfassen wir am Ende des Mittelalters eine sehr spezifische Form einer zweideutigen Herrscherparänese, die damit droht, eine konkrete Herrschaftsausübung im Eventualfall, nämlich bei einem künftigen Fehlverhalten, massiv zu delegitimieren und damit aufzuheben. Zuvor aber und für seine Gegenwart unterstreicht der Text eine bestimmte Verhaltensforderung an den Herrscher dadurch, dass er dem Herrscher gewissermaßen dieses (richtige und angemessene) Verhalten als Lösung ungeahnter Schwierigkeiten anbietet. Der König kann damit sogleich beweisen, dass er einen derart schrecklichen Vorwurf eigentlich nicht verdient hat. Die scheinbare Drohung mit dem Herrschaftsentzug stabilisiert damit letztlich die Legitimation der Befehlsgewalt und fördert die Gehorsamsbereitschaft der Untergebenen, zumal zugleich ihre Forderungen nach Mitwirkung bei herrscherlichen Maßnahmen Unterstützung finden. Herrschaft und Gehorsam werden auch hier in unauflöslicher Konnexion gesehen. Noch ist die Gewohnheit der Folgeleistung nicht wirklich aufgehoben, vielmehr nur durch Suspensionsdrohung gewissermaßen auf Probe gestellt. Die ethische Ermahnung kann sich mit derart drastischen Mitteln einen Erfolg sichern. Ersichtlich hat hier das Spiel mit einer Gehorsamsaufkündigung den geradezu umgekehrten Effekt, als zu erwarten wäre, nämlich den einer Verstärkung der habituellen Folgeverpflichtung, ja ihrer Verstärkung nach einer Prüfung. Es ist kein Wunder, dass dieser „Vorwurf“ der Tyrannis von einem Hofmann kommt. Zudem ist die deutliche Nebenabsicht evident, die sich gegen konkurrierende andere Ratgeber richtet. Sie und ihre nach Meinung des Theologen und Münztheoretikers Nicole Oresme verderblichen Ratschläge, die über das Land eine weitere Münzverrufung und -verschlechterung bringen könnten, sollen konterkariert werden, da sie, wie hier deutlich geschrieben steht, nicht allein zum Verderben des Königs selbst, sondern zur Katastrophe für sein ganzes Haus und darüber hinaus für das gesamte Königreich führen müssten. Es bedurfte offensichtlich solch drastischer Drohungen, um die geplanten königlichen Maßnahmen fürs erste zuverlässig zu unterbinden. Gehorsamserwartung und Herrschersicherheit wurden zugleich in Frage gestellt und gerade dadurch befestigt. Nicht näher einzugehen ist hier auf einen weiteren Gebrauch des Gedankens des erlaubten Tyrannenmordes, den ein weiterer französischer Theologe schamlos zur Rechtfertigung eines politischen Meuchelmordes verwandte. Am 23. November 1407 hatte Johann Ohnefurcht, Herzog von Burgund und Vetter des französischen Königs Karl VI., den Bruder des Königs und Konkurrenten im herrschaftlichen Rat, Herzog Louis d’Orléans, in Paris durch einen gedungenen Mörder auf offener Straße umbringen lassen. Der Burgunderherzog floh aus der Stadt und kehrte erst am 28. Februar 1408 wieder dorthin zurück, ließ dann aber am 8. März in einem feierlichen Akt in einer Kirche dieses Attentat aus politischen Gründen durch den Pariser Theologen Jean Petit als „Tyrannenmord“ rechtfertigen. Die mündlich vorgebrachte Darlegung in scholastischer Ausführlichkeit50 wurde vom burgundischen Hof alsbald eilfertig schriftlich fixiert, in ungewöhnlicher Masse von

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Manuskripten vervielfältigt und breit gestreut einer politischen Öffentlichkeit unterbreitet51, ja, wie Jean Gerson bemerkt hat52, auch in einem (bei der Universität in kleinerem Rahmen damals durchaus üblichen) Gruppendiktat vom Autor zum Mitschreiben vorgelesen und öffentlich zum Verkauf angeboten. Petit hatte Louis d’Orléans als „Tyrannen“ charakterisiert, dessen Tötung jedem nicht nur erlaubt gewesen sei, sondern auch als Verdienst zugerechnet werden dürfe. Diese ideologische Verkehrung des Tyrannenbegriffs, die einen Auftragsmord aus politischen Motiven rechtfertigen sollte, führte schließlich in Paris – nach langer, vor allem politisch motivierter Ruhe – zu einer eingehenden Debatte, die insbesondere von Jean Gerson, dem Kanzler der Universität Paris, und der dortigen theologischen Fakultät betrieben wurde. Nachdem Jean Petit selbst 1411 verstorben war, haben beide Parteien, die Burgunder und ihre Gegner (die so genannten „Armagnacs“), die miteinander um Kontrolle und wirksame Stellvertretung des kranken Königs stritten, alle zur Verfügung stehenden Mittel der Debatte, Zensur von Glaubenswahrheiten und Ketzerverdächtigung wahrgenommen. Zuletzt noch hat Gerson auf dem Konstanzer Konzil sich in der französischen Nation rastlos darum bemüht, einen veritablen Konzilsbeschluss gegen die Thesen Jean Petits zu erreichen. Die burgundische Partei hat das erfolgreich zu verhindern gewusst. Das Konzil beschloss auf seiner 15. Generalsession am 6. Juli 1415, jenem Tag, an dem auch Jan Hus verurteilt und in Konstanz verbrannt worden ist, sehr allgemein, es sei irrig, ketzerisch, anstößig und (gegen die göttliche Ordnung) aufrührerisch zu behaupten, jeder „Tyrann“ könne und müsse erlaubter- und verdienstlicherweise durch jeden seiner Vasallen oder Untertanen auch durch heimliche Nachstellung, unter Schmeicheleien oder Schönrednerei getötet werden, auch wenn ein Treueid geleistet oder ein Bündnis mit ihm geschlossen worden sei, ohne ein richterliches Urteil abzuwarten.53 Nicht einmal der Name des Jean

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Discours de Mr Jean Petit pour la justification du duc de Bourgogne, gedruckt in: La Chronique d’Enguerran de Monstrelet en deux livres, avec pièces justificatives, 1400–1444, Bd. I–II (Publications de la Société de l’Histoire de France, 91 und 93), hg. v. Louis-Claude Douët-d’Arq, [Paris 1857/1858] Nachdruck, New York 1966, hier Bd. I, S. 177–242; dazu vor allem (zu allen Einzelheiten) Alfred Coville: Jean Petit, La question du tyrannicide au commencement du XVe siècle, [Paris 1932] Nachdruck, Genf 1974; und insbes. Bernard Guenée: Un meurtre, une société, L’assassinat du duc d’Orléans, 23 novemmbre 1407, Paris 1992. Charity Cannon Willard: The Manuscripts of Jean Petit’s Justification, Some Burgundian Propaganda Methods in the Early Fifteenth Century, in: Studi Francesi, XXXVIII, 1969, S. 271–280; zuletzt Daniel Hobbins: Authorship and Publicity Before Print, Jean Gerson and the Transformation of Late Medieval Learning (The Middle Ages Series), Philadelphia, PA 2009, S. 152 mit 274. Jean Gerson, Sermo (Konstanz, 5. Mai 1416) ‚Deus, judicium tuum regi da‘ [Contra Ioannem Parvum], in: Ders.: Oeuvres complètes, hg. v. Palémon Glorieux, Bd. V, Paris 1963, S. 190–204 (Nr. 220), hier S. 195: „[…] Haec (littera) illa est vel similis quam in camera sua se praesente partim pronunciavit, partim pronunciari fecit (!), multis transscribentibus idem Ioannis Parvi, quae et postmodum per exemplaria multa venditioni publice fuit exposita.“ Conciliorum oecumenicorum decreta, hg. v. Istituto per le scienze religiose Bologna, Bologna 31973, S. 432. Als Irrtum wird festgestellt: „Quilibet tyrannus potest et debet licite et meritorie occidi per

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Petit war bei diesem Konzilsdekret gefallen, geschweige denn, dass das Konzil diese bewusste Umkehrung des Tyrannenbegriffs zur Rechtfertigung eines Mordes besonders qualifiziert hätte. Die langen Diskussionen in Kommissionen und in den Nationen des Konzils hatten ein äußerst bescheidenes Ergebnis erzielt, das zudem noch bald danach in Paris durch ein königliches Dekret für Frankreich aufgehoben werden sollte.54 Auch hier zeigt die Nutzung des Tyrannenkonzepts eine deutliche politische Beimischung. Jeder Gebrauch des Vorwurfs, ein bestimmter Herrscher übe Tyrannei, war in seinen konkreten Rahmenbedingungen von der Situation von Herrscher und Beherrschten abhängig. Und damit bestimmte diese Lage auch mögliche Ziele, ja entschied auch über die Gestalt eines möglichen Erfolges. Bis in die Neuzeit hinein sollte diese Bedingung gelten. Auch heute dient ein stark abgeblasster und eher undeutlich gewordener Begriff der Tyrannei immer noch dazu, Abweichungen von der Idee der Rechtstaatlichkeit freilich eher verbal als praktisch zu sanktionieren. Gehorsamsverweigerung wird zwar als Möglichkeit mitgedacht, jedoch praktisch nicht sofort vollzogen. Der lange und windungsreiche Weg des Mittelalters, den wir hier verfolgt haben, ist heute im Hintergrund nicht immer deutlich, aber eine Erinnerung daran kann, wie mir scheint, die Bedeutung des gravierenden Vorwurfs ins Bewusstsein rücken.

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quemcumque vasallum suum vel subditum, etiam per insidias et blanditias vel adulationes, non obstante quocumque praestito iuramento seu confoederatione facta cum eo, non exspectata sententia vel mandato iudicis cuiuscumque; (das Konzil) praehabita deliberatione matura declarat decernit et definit huiusmodi doctrinam erroneam esse in fide et in moribus ipsamque tamquam haereticam, scandalosam, seditiosam et ad fraudes, deceptiones, mendacia, proditiones, periuria vias dantem […].“ Quellen in Acta Concilii Constantiensis, Bd. IV, hg. v. Heinrich Finke in Verbindung mit Johannes Hollnsteiner und Hermann Heimpel, Münster i.W. 1928, S. 237–249, 255–352; dazu s. den Bericht von Walter Brandmüller: Das Konzil von Konstanz, 1414–1418, Bd. II: Bis zum Konzilsende, Paderborn u.a. 1997, bes. S. 97–115; einen soliden Forschungsbericht gab Ansgar Frenken: Die Erforschung des Konstanzer Konzils (1414–1418) in den letzten 100 Jahren, in: Annuarium historiae conciliorum, XXV, 1993 (erschienen 1995), bes. S. 181–236; zur Aufhebung durch eine Ordonance des englisch-französischen Königs, die auf Betreiben des Herzogs von Burgund 1418 in Paris erging, zuletzt Turchetti 2001 (wie Anm. 16), S. 332.

Ordnung und Verstoß in illuminierten Rechtshandschriften Susanne Wittekind Im Hochmittelalter werden in verschiedenen Regionen Europas Privilegien, Gesetze und Gewohnheiten (consuetudines) schriftlich aufgezeichnet und gesammelt. Durch die Verschriftlichung werden Rechte und Pflichten festgeschrieben, wird neues Recht vom alten unterscheidbar, werden Rechtsnormen nachprüfbar.1 Die Texte zielen auf die Proklamation, Wahrung oder Durchsetzung einer Rechtsordnung, die als legitim, gerecht und dem allgemeinen Wohl dienend dargestellt wird. Inhaltlich verhandeln sie nicht nur die Norm, sondern gerade auch die vielfältigen Verstöße gegen die Rechtsordnung, sie regeln deren gerichtliche Klärung und setzen Strafen fest. Ein erstaunlich großer Anteil dieser Rechtshandschriften ist reich illuminiert. Die Miniaturen thematisieren in der Regel die göttliche oder konziliare Autorisierung des Gesetzgebers und der von ihm gegebenen Rechtsordnung, häufig auch das Gerichtsverfahren. Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, in welchen Rechtstexten und in welchen Entstehungszusammenhängen Rechtsbrüche ins Bild gesetzt werden. Der Rechtsbruch, so die These, macht die Labilität der bestehenden Rechtsordnung bewusst. Er gibt Anstoß zur Reflexion über die Grundlagen des Rechts, über die Notwendigkeit von Gesetzgebung und über konkurrierende Rechtsvorstellungen. Er dient meist zur Begründung von Herrschaft als rechtssichernder Instanz. I.1. Rechtsbegründung und Sanktion in Urkunden Gesetzgebung erfolgte bis ins 12. Jahrhundert meist in Form von Urkunden, die vom Herrscher oder Fürsten ausgestellt wurden. Darunter fallen Privilegien, das heißt Sonderrechte für einzelne Personen oder Institutionen, die von Isidor von Sevilla in den Etymologien (V.18) als „quasi privatae leges“ bezeichnet werden, ebenso wie Gesetze (leges) allgemeiner Gültigkeit wie zum Beispiel Landfrieden.2 Eingeleitet werden solche Einzelgesetze in Urkundenform durch die Anrufung Gottes (invocatio).3 Sie beruft 1 2

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Grundlegend Armin Wolf: Gesetzgebung in Europa 1100–1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, München ²1996, S. 1–59, hier S. 25. Isidor: Etymologiae, in: Sancti Isidori Hispalensis episcopi opera omnia (Patrologiae cursus completus, Series Latina, 82), hg. v. Jacques Paul Migne, Bd. III/IV, Paris 1850, Sp. 73-728, hier zu den leges (V.3) Sp. 199, zu Privilegien (V.18) Sp. 202, deutsche Übersetzung von Lenelotte Möller: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, Wiesbaden 2008, hier zu den leges (V.3) S. 172, zu Privilegien (V.18) S. 175. Zum Aufbau hochmittelalterlicher Urkunden s. Harry Bresslau: Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Berlin 1889, S. 50, 56–60; Thomas Vogtherr: Urkundenlehre. Basiswissen, Hannover 2008,

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Gott als Schöpfer und höchsten Richter zum Schirmherren und Garanten des Rechtsakts, welcher der Sicherung oder Wiederherstellung des Rechts dienen soll. Vielfach folgen in der Arenga allgemeine Überlegungen über die Notwendigkeit von Gesetzen und die Wiederherstellung von Recht und Ordnung im Land und unter den Menschen, bevor die eigentlichen konkreten Bestimmungen oder Rechtsverleihungen aufgeführt werden. An diese schließt sich häufig eine Poenformel (sanctio) an, die ewige Höllenqualen demjenigen verheißt, der gegen diese Regelungen verstößt. Bereits hier ist die Bestimmung eines Rechts (ius) – bei Isidor abgeleitet von iustus/gerecht – gekoppelt an die Vorstellung des Rechtsverstoßes, der durch (göttliche) Strafe sanktioniert wird. Schon in der Gewährung eines Rechts wird dessen mögliche Nichtachtung, der Rechtsbruch zum Thema und zum Problem. Dies gilt einerseits in praktischer Hinsicht, denn die herrscherliche Gewalt ist nicht immer hinreichend präsent, um die Wahrung des verliehenen Rechts zu garantieren und durchzusetzen. Doch ist dies zugleich eine konzeptionelle Implikation. Denn im Gegensatz zum göttlichen, in der Natur gegründeten Gesetz (fas) ist das menschliche Gesetz als positives Recht gesetzt und von den Sitten abhängig, soll aber durch Vernunft begründet sein und dem Gemeinwohl dienen. Oftmals steht ein Gesetz somit Interessen Einzelner oder bestimmter Gruppen entgegen; diese können den Allgemeinnutz oder die Notwendigkeit eines Gesetzes bestreiten und sich mit Berufung auf älteres oder Gewohnheitsrecht über das neue Recht hinwegsetzen.4 Hinterfragt wird nun die Gesetzgebungsberechtigung, d.h. ob der König wie der antike Kaiser das alleinige Gesetzgebungsrecht habe (lex regia) oder ob er nur innerhalb seines Kronguts und hinsichtlich der Regalien dazu befugt sei, ansonsten aber der Zustimmung (consensus/assensus) der Großen oder eines Rates bedürfe nach dem römisch-rechtlichen Grundsatz, dass ein Gesetz, das alle angehe, von allen bestätigt sein müsse.5 Angefochten wird auch der Anspruch auf Rechtsgeltung in Gebieten, in denen der Herrscher seine Jurisdiktionsgewalt nicht durchzusetzen vermag.6 Das gesetzte Recht ist mithin hinsichtlich seiner Legitimität und Geltung hinterfragbar, es ist wandelbar, anfechtbar. Die formelhaften Elemente der urkundlichen Einzelgesetze (statuta, decreta, fueros, ordenanzas) in Invocatio, Arenga und Poenformel sind mithin wichtige Elemente der Legitimation und Autorisierung des Urkundenausstellers, die den Geltungsanspruch des verliehenen Rechts stützen.

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S. 44–51. Zur Bedeutung der Invocatio s. Peter Rück: Die Urkunde als Kunstwerk, in: Kaiserin Theophanu, hg. v. Anton von Euw/Peter Schreiner, Bd. II, Köln 1991, S. 311–333, hier S. 327. Wolf 1996 (wie Anm. 1), S. 41–45. Cod. 5.59.5.2: „Quod omnes tangit, ab omnibus comprobetur“; s. ebd., S. 18–20; im Investiturstreit wird das selbständige Gesetzgebungsrecht auch für den Papst beansprucht, Johannes von Salisbury dehnt es um 1168 auf den König aus, der „rex imperator in terra sua“ sei; zum gegenläufigen Grundsatz des Codex Justinians ebd. S. 39f. So von Clemens V., Dekretale Pastoralis cura 1314, s. ebd., S. 23.

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I.2. Rechtsbegründung in Prologen von Rechts- und Gesetzbüchern Eine vergleichbare Funktion übernimmt in den systematisch geordneten Rechtsbüchern (Spiegeln) und Gesetzbüchern (Kodifikationen), die seit dem 13. Jahrhundert entstehen, der Prolog.7 Er gibt Auskunft nicht nur über das Zustandekommen des Werks, über Auftraggeber und Autor, sondern behandelt darüber hinaus oftmals in rechtsbegründender Absicht die Frage der Herkunft und Notwendigkeit von Gesetzgebung. Berühmt ist die Herleitung der weltlichen Gesetzgebungsgewalt des Königs im Prolog der Konstitutionen von Melfi Friedrichs II. von 1231.8 Dieser setzt ein mit der ebenbildlichen Erschaffung des ersten Menschenpaares durch den Schöpfer, der Übertretung des Gebots, das mit dem Verlust der Unsterblichkeit bestraft wurde, mit Laster und Hass, die dadurch in die Welt gekommen seien. Die Fürsten der Völker seien durch göttliche Providenz dazu geschaffen, die Verbrechen der Menschen einzudämmen und als Exekutoren den göttlichen Ratschluss zu befestigen, die Kirche vor Feinden zu verteidigen und dem Volk Frieden und Gerechtigkeit zu bringen. Der Sündenfall als erste Gebotsübertretung ist damit zugleich Urbild der irdischen Gesetzesübertretungen und Grund für die Notwendigkeit weltlicher Gesetze, die dazu geschaffen sind, Laster und Kampf unter den Menschen einzuschränken und den Frieden zu fördern. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass verschiedene (Kirchen-)Rechtshandschriften Miniaturen des Sündenfalls den Rechtstexten Abb. 1: Codex Albeldense, Sündenfall, 976 (Bibliovoranstellen. teca Real Monasterio de San Lorenzo de El Escorial, Schon in der spanischen Rechtssamm- Cod. d.I.2, fol. 17r) lung des Codex Albeldense von 976

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Ebd., S. 46ff. Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien (Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, 2, Suppl.), hg. v. Wolfgang Stürner, Hannover 1996, hier der Prolog S. 145–147; s. http://bsbdmgh.bsb.lrz-muenchen.de/dmgh_new/app/web?actio n=loadBook&bookId=00000802 (10. 4. 2010).

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Abb. 2: Decretum Gratiani, Genesiszyklus von der Erschaffung bis zum Erdenleben Adams und Evas, um 1300 (Cambridge, Fitzwilliam Museum, Ms. 262, fol. 1r)

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(Escorial, Cod. d.I.2) enthält die einleitende Text- und Bildfolge vor dem Liber Canonum, d.h. den Akten der spanischen und gallischen Konzilien bis 681, nach kosmologischen Darstellungen und vor den Widmungsgedichten eine ganzseitige Miniatur des Sündenfalls (Abb. 1).9 Die um 1300 in Frankreich geschaffene GratianHandschrift (Cambridge, Fitzwilliam Museum, Ms. 262, fol. 1r) schildert in der Eingangsminiatur vor dem Beginn der Bulle in sechs Szenen Erschaffung, Ermahnung, Sündenfall, Verhör, Vertreibung und Erdenleben Adams und Evas (Abb. 2).10 Doch auch in der Bologneser Handschrift der Dekretalen Gregors IX. in Toledo (Kathedralbibliothek, Ms. 4–8) findet sich der Sündenfall als Eröffnungsbild.11 Das Begleitschreiben Gregors IX. an die Rechtsschulen von Bologna und Paris (rex pacificus) zu der 1234 abgeschlossenen Dekretalensammlung (Liber Extra), die der spanische Dominikaner und Lehrer Vidals, Raymund von Peñafort (1175–1275), in Gregors

Zur Handschrift s. Kristin Böse: Recht sprechen. Diskurse von Autorschaft in den Illuminationen einer spanischen Rechtshandschrift des 10. Jahrhunderts, in: AusBILDung des Rechts. Systematisierung und Vermittlung von Wissen in mittelalterlichen Rechtshandschriften, hg. v. Kristin Böse/ Susanne Wittekind, Frankfurt a.M. 2009, S. 109–137; Faksimile des Códice Albeldense 976 (Colección scriptorium, 15), hg. v. Javier García Turza, Madrid 2002. S. den Vortrag zum Werkstattgespräch am DHI, Rom „Die Miniaturen in den Handschriften der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra)“ von Susan L’Engle: Picturing Gregory: The Evolving Imagery of Canon Law, Rom 3. 3. 2010, S. 2. Illuminating the Law. Legal manuscripts in Cambridge Collections, Ausstellungskatalog (Cambridge, Fitzwilliam Museum, 2001), hg. v. Susan L’Engle/Robert Gibbs, London/Turnhout 2001, Nr. 8 (Robert Gibbs); Kristin Böse/Susanne Wittekind: Eingangsminiaturen als Schwellen und Programm im Decretum Gratiani und in den Decretalen Gregors IX., in: AusBILDung des Rechts 2009 (wie Anm. 9), S. 20–38, hier S. 25–27. Antonio García y García/Ramón Gonzálvez: Los manuscritos jurídicos medievales de la Catedral de Toledo, Rom/Madrid 1970, S. 7f. Für diesen Hinweis danke ich Susan L’Engle.

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Auftrag verfasste, spricht den Sündenfall jedoch nur indirekt an, indem es die Begierde als Hauptlaster hervorhebt.12 Gregor schreibt, der friedensstiftende König (Christus) wollte in seinem huldvollen Erbarmen, dass seine Untertanen rechtschaffen, friedliebend und ehrbar seien. Das Laster der Begierde, die Mutter der Streitigkeiten, habe jedoch in der Gegenwart viel Zank erzeugt und gefährde durch falsche Prozesse das menschliche Recht, das nur durch die Tugend der Gerechtigkeit bewahrt werde. Das Gesetz solle schädliche Gier unter der Regel des Rechts eindämmen und dadurch den Menschen erlauben, ehrenvoll zu leben, den Nächsten nicht zu schädigen und jeden zu seinem Recht kommen zu lassen. Der kirchlichen Rechtsprechung mangele es an einer verbindlichen Gesetzesgrundlage, denn die päpstlichen Konstitutionen, Dekrete und Briefe seien verstreut, nicht überall greifbar und zudem widersprüchlich. Diese neue Dekretalensammlung aber fasse die Gesetze seiner Vorgänger wie seine eigenen unter Ausschluss überflüssiger oder widersprüchlicher Gesetze in einem Band zusammen und setze die älteren Dekretalensammlungen außer Kraft. Ähnlich fasst dies der Prolog des unter Alfons X. dem Weisen zwischen 1254 und 1261 entstandenen Libro de las Leyes13: Da die Menschen Verschiedenes wollen und von selbst nicht zur Übereinkunft kommen, komme es auf Erden zu großem Übel. Den Königen sei daher die Aufgabe übertragen, in ihren pueblos Frieden und Gerechtigkeit zu wahren und dafür Gesetze zu erlassen. Das hier kodifizierte Recht diene der Bekämpfung der Übel, die im Herrschaftsgebiet wegen der vielen Sonderrechte (fueros) entstanden seien, die in einzelnen Orten und Gebieten genutzt würden und die gegen Gott und gegen das Recht seien, weil sie, ohne Vernunft, zur Rechtsunsicherheit der Richtenden führten 12

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Corpus iuris canonici, hg. v. Emil Ludwig Richter/Emil Friedberg, Bd. II: Decretalium Collectiones, Decretales Gregorii IX, Leipzig 1879, Sp. 1–4; „Gregorius, Episcopus servus servorum Dei, dilectis filiis doctoribus et scholaribus universis Bononiae commorantibus salutem et apostolicam benedictionem. Rex pacificus pia miseratione disposuit sibi subditos fore pudicos, pacificos et honestos. Sed effrenata cupiditas, sui prodiga, pacis aemula, mater litium, materia iurgiorum, tot quotidie nova litigia generat, ut, nisi iustitia conatus eius sua virtute reprimeret, et quaestiones ipsius implicitas explicaret, ius humani foederis litigatorum abusus exstingueret, et dato libello repudii concordia extra mundi terminos exsularet. Ideoque lex proditur, ut appetitus noxius sub iuris regula limitetur, per quam genus humanum, ut honeste vivat, alterum non laedat, ius suum unicuique tribuat, informatur. Sane diversas constitutiones et decretales epistolas praedecessorum nostrorum, in diversa dispersas volumina, quarum aliquae propter nimiam similitudinem, et quaedam propter contrarietatem, nonnullae etiam propter sui prolixitatem, confusionem inducere videbantur, aliquae vero vagabantur extra volumina supradicta, quae tanquam incertae frequenter in iudiciis vacillabant, ad communem, et maxime studentium, utilitatem per dilectum filium fratrem Raymundum, capellanum et poenitentiarum nostrum, illas in unum volumen resecatis superfluis providimus redigendas, adiicientes constitutiones nostras et decretales epistolas, per quas nonnulla, quae in prioribus erant dubia, declarantur. Volentes igitur, ut hac tantum compilatione universi utantur in iudiciis et in scholis, districtius prohibemus, ne quis praesumat aliam facere absque auctoritate sedis apostolicae speciali.“ S. http://www. fh-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost13/GregoriusIX/gre_0bul.html (9. 4. 2010). Zur rechtsgeschichtlichen Bedeutung des Libro de las Leyes als erstem Teil (Primera Partida) der umfassenden alfonsinischen Gesetzeskodifikation (Siete Partidas) s. Wolf 1996 (wie Anm. 1), S.

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– deshalb seien diese Gesetze im Buch niedergeschrieben, zum Dienst an Gott und für das Wohl der Gemeinschaft; dem hier verkündeten Recht gebühre Vorrang vor anderem Recht, und wer dagegen verstoße, irre auf dreierlei Weise: erstens gegen Gott, um dessen Gerechtigkeit und Wahrheit zu vollenden das Buch gemacht worden sei; zweitens gegen den natürlichen Herrn (sennor natural), sein Werk und sein Mandat missachtend; drittens durch sein Vergehen gegen die Gemeinschaft und den allgemeinen Nutzen. Mit Anklängen an die Bulle Gregors IX. erläutert auch der Prolog des Vidal Mayor, das heißt der aragonesischen Gesetzeskodifikation, die der Bischof von Huesca, Vidal de Cañellas (gest. 1252), im Auftrag Jakobs I. el Conquistador (1218–1276) im Jahr 1247 abschloss, den Nutzen der systematischen Rechtsaufzeichnung.14 Demnach mussten zunächst die aragonesischen fueros verschiedenen Alters gesammelt werden; sie wurden vor dem König verlesen, dunkle Stellen geklärt, Überflüssiges wurde gestrichen, Fehlendes ergänzt, das ganze nach Themen in Bücher und Tituli geordnet und mit gutem Rat („con buen et sano conseillo“) verabschiedet und promulgiert, weil von allen entschieden werden sollte, was alle betrifft. Die alten Rechte seien damit aufgehoben, denn sie hätten sich als schädlich für die Temporalia und als eine Gefahr für die Seelen erwiesen, weil sie nicht um der Gerechtigkeit willen, sondern wegen des eigenen Vorteils geschaffen worden seien. Alle Richter seien gefordert, nur mehr nach dem neuen Recht zu urteilen.

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199–202; Salustiano de Dios: The Operation of Royal Grace in Castile, 1250–1530, and the Origins of the Council of the Chamber, in: Legislation and Justice, hg. v. Antonio Padoa-Schioppa, Oxford 1997, S. 159–173, hier S. 160–163. Der Prolog wird zitiert nach der ältesten erhaltenen, zudem reich illuminierten und um 1300 zu datierenden Handschrift London, British Library, Add. Ms. 20787 in der Textedition Alfonso X el sabio Primera Partida según el Manuscrito Add. 20787 del British Museum, hg. v. Juan Antonio Arias Bonet, Valladolid 1975, S. 3: „Sancti Spirius assit nobis gracia. [...] A Dios deue omne adelantar e poner primeramientre en todos los buenos fechos que quisiere començar, ca El es comienço e fazedor e acabamiento de todo bien [...], porque las voluntades e los entendimientos de los omnes son departodis en muchas maneras, por ende los fechos e las obras dellos no acuerdan en uno, e desto nascen grandes contiendas e muchos otros males por las tierras. Por que conuine a los reyes que an a tener e a guadar sus pueblos en paz e en iusticia, que fagan leyes e posturas e fueros, por que el desacuerdo que han los omnes naturalmientre entre ssí se acuerde por fuerça de derecho, assí que los buenos uiuan bien e en paz e los malos sean escarentados de sus maldades.“ S. Wolf 1996 (wie Anm. 1), S. 215f.; die älteste erhaltene, zugleich reich illuminierte Handschrift (Los Angeles, Paul Getty Collection, Ms. Ludwig XIV 4) enthält den Text in einer volkssprachlichen Fassung und wurde laut Kolophon von dem 1297–1305 als Notarius publicus in Pamplona nachweisbaren Miguel Lopiz de Çandiu geschrieben. Textedition von Gunnar Tilander: Vidal Mayor, Traducción aragonesa de la obra In excelsis Dei thesauris de Vidal de Canellas, 3 Bde., Lund 1956, sowie Vidal Mayor, Edición, introducción y notas al manuscrito, hg. v. Maria de los Desamparados Cabanes Pecour/Asunción Blasco Martínez/Pilar Pueyo Colomina, Zaragoza 1997. Kunsthistorische Untersuchungen zum Vidal Mayor bieten Carl Michael Kauffmann: Vidal Mayor: Ein spanisches Gesetzbuch aus dem 13. Jahrhundert in Aachener Privatbesitz, in: Aachener Kunstblätter, XXIX, 1964, S. 108–138, sowie Anton von Euw, in: Ders./Joachim M. Plotzek: Die Handschriften der Sammlung Ludwig, Bd. IV, Köln 1985, S. 25–29, 63–77.

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Die Rechtskodifizierungen werden in diesen Prologen als notwendiges Heilmittel (remedium) gegen den durch die menschliche Begierde und den Sündenfall in die Welt gekommenen Streit gesehen. Zu dieser Aufgabe, zur Gesetzgebung und Wahrung des Rechts, sind der weltliche wie der geistliche Herrscher gleichsam als Stellvertreter Christi auf Erden berufen und autorisiert. Die Störung der Ordnung des Gemeinwesens durch Eigennutz, Rechtsunsicherheit und Krieg ist Ausgangspunkt für diese neuen Kodifizierungen.15 Neben diesen schriftlichen Begründungen werden in den Rechtshandschriften verschiedene visuelle und bildliche Mittel zur Autorisierung der neuen Kodifizierungen erprobt. Dazu kann, wie im Fall der Dekretalen Gregors IX., ein spezifisches Layout beitragen, aber auch die bildliche Absicherung herrscherlicher Gesetze als Ausfluss göttlicher Weisung oder die Darstellung des Königs als Mittler zwischen Konfliktparteien und Wahrer kirchlicher Rechte wie im Libro de las Leyes.16 Im Folgenden soll das Augenmerk jedoch gerade auf Darstellungen der Störung von Ordnung durch Gewaltakte gerichtet werden. Welche Rolle kommt diesen visuellen Manifestationen der Übertretung von Rechtsordnungen hinsichtlich der Legitimation von Gesetzgebung und herrscherlicher Rechtswahrung zu? Wie funktionieren sie im Zusammenhang einer Rechtshandschrift? Als Beispiel dienen eine illuminierte spanische Urkundensammlung (Libro de las Estampas von León, um 1200), das illuminierte erste Buch der kastilischen Rechtskodifikation Alfons X. (Primera Partida, um 1300) sowie Illustrationen zum dritten Buch der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra). II.1. Die Ermordung der Donatorin Sancha im Libro de las Estampas von León Der Libro de las Estampas ist eine reich illuminierte Sammlung von Urkunden (testamentos) der Könige von León. Er gehört zu einer Reihe spanischer Prachtkartulare in der Nachfolge des Liber Testamentorum von Oviedo17, der unter Bischof Gelmirez um 1120 angelegt wurde, und des Tumbo A der Kathedrale von Santiago de Compostela, 15

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S. die Tagungsankündigung „Störfälle. Epistemologie – Performanz – Ästhetik“, Berlin 12.–14. 5. 2010 von Lars Koch unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=13550: „Störfälle konterkarieren nicht bloß tradierte kulturelle und technische Handlungsabläufe, sondern motivieren im Zuge der Deskription ihres Verlaufs und ihrer Ursachen sowie in der Präskription von Strategien ihrer Vermeidung neue Kulturtechniken.“ S. Susanne Wittekind: Der König als Gesetzgeber und Rechtsgarant in den Miniaturen des Libro de las Leyes (London, British Library, Add. Ms. 20787), in: AusBILDung des Rechts 2009 (wie Anm. 9), S. 138–167; Dies.: „ut hac tantum compilatione universi utantur in iudiciis et in scholis.“ Überlegungen zu Gestaltung und Gebrauch illuminierter Dekretalenhandschriften, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, Freiburger Colloquium 2007 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, 11), hg. v. Eckart Conrad Lutz/Martina Backes/ Stefan Matter, Zürich 2010, S. 89–128. Die Handschrift des Liber Testamentorum umfasst 113 Folios sowie das vorangestellte Binio mit der Gründungsgeschichte, 375 × 240 mm, insgesamt 18 Lagen. Zur Beschreibung der Handschrift s. Francisco Javier Fernandez Conde: El libro de los testamentos de la catedral de Oviedo, Rom 1971, S. 81–102; The Art of Medieval Spain a.d. 500–1200, Ausstellungskatalog (New York, Metropolitan

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den Bischof Pelayo um 1126 initiierte.18 In diesen sind die wichtigsten Privilegien und Schenkungen, welche die jeweilige Kathedrale erhielt, verzeichnet. Gegliedert in chronologischer Ordnung nach königlichen Regentschaften wird die Reihe von Urkunden eines Herrschers jeweils durch eine Miniatur eingeleitet. Diese zeigt im Liber Testamentorum den Herrscher bei der Übergabe der Urkunde bzw. Schenkung an die Kirche, im Tumbo A den thronenden Herrscher, zuweilen mit Schriftband. An das Modell des Tumbo A von Santiago knüpft der Libro de las Estampas der Kathedrale von León an, der um 1200 entstand.19 Dieser schmale Band mit nur 43 Folios von 253 × 166 mm Größe enthält 24 Urkunden der Könige von León, von Ordoño II. (910–924) bis zu Alfons VII. (1126–1157), zugunsten der Kathedrale Santa Maria. Angefügt wird am Schluss der Handschrift die Schenkung der Gräfin Sancha von 1040. Die einspaltigen Urkundenabschriften werden durch rubrizierte Überschriften eingeleitet. Dem Urkundenwortlaut voran steht ein großes koloriertes Chrismon20, die anschließende Invocatio ist in roten Ziermajuskeln hervorgehoben. Den Urkunden der sieben Regenten wie der Gräfin Sancha ist jeweils eine

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Museum of Art, 1993/94), New York 1993, Nr. 149 (John W. Williams); Faksimile und Kommentarband zum Liber Testamentorum Ecclesiae Ovetensis, Barcelona 1995; im Kommentarband s. die Beiträge von José Yarza Luaces: Las miniaturas del Liber Testamentorum, S. 147–230; María Josefa Sanz Fuentes: Estudio paleografico, in: Ebd., S. 93–143; Dies.: Transcripción, in: Ebd., S. 451–684; Maravillas de la España medieval. Tesoro sagrado y monarquía, Ausstellungskatalog, hg. v. Isidro G. Bango Torviso, Bd. I: Estudios y catálogo, León 2000, Nr. 41 (María Josefa Sanz Fuentes). Abb. auch bei Karl-Georg Pfändtner: Spanien, in: Romanik (Geschichte der Buchkultur, 4, 2), hg. v. Andreas Fingernagel, Graz 2007, S. 203–230, Tf. 36; José M. Alonso Núñez: Pelayo von Oviedo, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VI, München 1993, Sp. 1863f.; Susanne Wittekind: „Ego Petrus Sangiz rex donationem confirmo et hoc signum manu mea facio.“ Formen der Autorisierung in illuminierten Urkundenabschriften des Hochmittelalters in Nordspanien, in: Buchschätze des Mittelalters: Forschungsrückblicke – Forschungsperspektiven (Festschrift für Ulrich Kuder), hg. v. Klaus Gereon Beuckers/Christoph Jobst/Stephanie Westphal, Regensburg 2010, S. 211–231. Der Tumbo A misst 475 × 335 mm und enthält 71 Folios mit zweispaltigem Text, der 165 Urkunden umfasst; das erste Quaternio mit Index wurde 1775 ergänzt. Das Proemio erläutert die Einteilung des Werks in fünf Bücher, die nach sozialen Gruppen geordnet sind: Das erste ist den königlichen Urkunden vorbehalten, das zweite Consules und Grafen sowie Angehörigen der königlichen Familie, das dritte erzbischöflichen und bischöflichen Urkunden, das vierte dem Adel und das fünfte schließlich Mitgliedern der Kapitelsfamilia; s. Manuel Lucas Alvares: Tumbo A de la catedral de Santiago, Santiago 1998; Etelvina Fernández González: El retrato regio en los Tumbos de los tesoros catedralicios, in: Maravillas 2000 (wie Anm. 17), S. 41–53 sowie Nr. 42 (Dies.); Manuel Antonio Castineiras Gonzáles: Poder, Memoria y Olvido. La Galería de retratos regios en el Tumbo A de la catedral de Santiago (1129–1134), in: Quintana, I, 2002, S. 187–196. Faksimile der Testamentos de los Reyes de León, mit Kommentarband, hg. v. Jose Manuel Martinez Rodriguez, León 1997, zum Buchschmuck s. ebd. Fernando Galván Freile: La Decoración miniada en el libro de las estampas de la catedral de León; Maravillas 2000 (wie Anm. 17), Nr. 45 (Ders.) mit Abb. Fernández González 2000 (wie Anm. 18), S. 46–50. Peter Rück: Beiträge zur diplomatischen Semiotik, in: Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Symbolik (Historische Hilfswissenschaften, 3), hg. v. Dems., Sigmaringen 1996, S. 13–48, hier S. 36.

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Abb. 3: Libro de las Estampas, König Alfons VII, Beginn der Schenkungsurkunde, um 1200 (León, Biblioteca de la catedral, fol. 39v–40r)

ganzseitige gerahmte Miniatur in Vollmalerei auf dem Verso gegenüber dem Textbeginn vorangestellt.21 Gemeinsames Charakteristikum dieser Miniaturen ist das Schriftband, das die Donatoren mit Wendung zum Urkundenbeginn auf der rechts gegenüberliegenden Seite in der Hand halten. Das anhängende, durch übersteigerte Größe besonders hervorgehobene, immer gleich mit zentralem Kreuzzeichen bezeichnete Siegel kennzeichnet das Schriftstück als Urkunde. Die Inschrift folgt der Struktur Ego – Titel und Name (– confirmo). Es handelt sich also um das verkürzte Zitat der Signumszeile im Eschatokoll der Urkunden. Das abschließende königliche signum, das in Spanien besonders aufwendig ornamental gestaltet wurde, wird hier ausgespart und durch die ganzfigurige Präsenz des Sprechers selbst ersetzt.22 21

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Die Miniatur Ordoños II. auf fol. 1v fehlt heute, sie ist abgebildet im Faksimile-Kommentar zu den Testamentos, ed. Martinez Rodriguez, 1997 (wie Anm. 19), S. 89; fol. 12v zeigt Ordoño III. (950–956), fol. 17v Ramiro III. (966–982), fol. 22v Vermudo II. (982–999), fol. 29v Ferdinand I. (1038–1065), fol. 35v Alfons VI. (1065–1109), fol. 39v Alfons VII. (1126–1157). S. die Kopie des signum Ordoños II. und Urracas im Libro de las Estampas, fol. 2v–3r; zu den spanischen Herrschersigna s. Maria Isabel Ostolaza: La validación en los documentos del occidente hispánico (siglos X–XII). Del Signum crucis al signum manus, in: Graphische Symbole 1996 (wie

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Abb. 4: Libro de las Estampas, Gräfin Sancha, Beginn der Schenkungsurkunde um 1200 (León, Biblioteca de la catedral, fol. 41v-42r)

Die Herrscherbilder variieren zwar hinsichtlich des Alters der dargestellten Person sowie ihrer Körperwendung, doch folgen sie einem bestimmten Kompositionsmuster, das von dem im Bildnis der Gräfin Sancha verwendeten Muster deutlich unterschieden ist (Abb. 3). Die königliche Gestalt wird durch einen freien unteren Bildstreifen vom Betrachter abgerückt. Indem der Thron horizontal mit dem Rahmen verspannt wird, die goldene Krone des Königs den oberen Bildrahmen mittig berührt, wird die Figur in ein orthogonales Raster eingefügt. Das goldene Zepter des Königs, das den Rahmen überschneidet und weit in die Randzone hinaufragt, zieht die Figur in die vorderste Bildzone und lässt sie den Bildrahmen sprengen. So wird einerseits die Ordnungskraft des Herrschers verdeutlicht, andererseits seine qua Amtes gegebene Potenz, diese Ordnung zu verlassen und zu verändern. Dynamik erhält die Komposition durch die Körper- und Blickwendung des Königs nach rechts zum Beginn des Urkundenwortlauts; die versichernde Formel „Ego

Anm. 20), S. 453–462. Charakteristische Elemente der königlichen Unterschriften seit Vermudo II. (884–899) sind Arkadenbögen, Säulen, baculus oder Rautenmotive, welche sich auf der Grundlinie erheben und die lang gezogenen Balken eines E oder F vertikal durchschneiden; an sie schließen sich die Buchstaben des Herrschernamens an.

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Abb. 5: Libro de las Estampas, Schenkungsurkunde Gräfin Sanchas, um 1200 (León, Biblioteca de la catedral, fol. 43r)

confirmo“ des Schriftbands wird dabei durch die weisende Geste der Rechten, die über demselben platziert ist, verstärkt. Im Vergleich zu den Königsbildern wird der geringere Status der Gräfin (comitissa) Sancha dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie am unteren Bildrand positioniert wird (Abb. 4). Sie nähert sich dem Leser-Betrachter, indem sie mit ihrem Fuß den Bildrahmen überschreitet. Bildparallel ist ihr Körper im demütigen Kniefall nach rechts zum Textbeginn gewandt. Anders als die Könige fasst sie die Urkunde nicht an deren aufgerolltem unteren Ende, sondern mit beiden Händen mit einer Geste der Darbringung oder Übergabe.23 Doch die Rückwendung ihres verschleierten Kopfes stört die Bewegungsrichtung 23

Das anhängende goldene Siegel stellt einen Anachronismus dar, denn erst seit dem 12. Jahrhundert führten nicht nur Könige, sondern auch Grafen Siegel; es unterstreicht die Echtheit der Urkunde. S. die Dekretale Scripta authentica Alexanders III. von 1167/1169, die in die Dekretalen Gregors IX. aufgenommen wurde (Liber II, Titulus XXII: „De fide instrumentorum“, cap. 2): „Scripta vero authentica, si testes inscripti decesserint, nisi forte per manum publicam facta fuerint, ita, quod appareant publica, aut authenticum sigillum habuerint, per quod possint probari, non videntur nobis alicuius firmitatis robur habere.“ Decretales Gregorii IX, nach der Edition von. Richter/Friedberg, 1879 (wie Anm. 12) unter http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost13/GregoriusIX/gre_2t22.

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auf den Textbeginn hin und damit sinnbildlich die Übergabe der Urkunde. Ursache dafür ist ein Mann im kurzen Rock, der mit der Linken Sanchas Schulter fasst, eine Gebärde, die im Kontext einer Commendatio die Verfügungsgewalt der Eltern über ihre Kinder anzeigt.24 Seine Rechte schwingt weit ausholend und den Rahmen überschneidend ein Schwert, mit dem er die Donatorin zu töten anhebt. Sein Gesicht ist ins Profil gedreht, der Mund weit geöffnet, die braunen Haarlocken hängen ihm wirr in die Stirn. Im Widerspruch zu dieser negativen Kennzeichnung des Mannes als Henkersknecht stehen seine goldenen Schuhe und der goldene Schwertknauf, die ihn als Mann ritterlichen Standes ausweisen.25 Aufschluss bietet der historische Hintergrund. Die verwitwete Gräfin Sancha vermachte, nachdem ihre einzige Tochter verstorben war, zu ihrem, ihrer Eltern und ihrer Geschwister Seelenheil und um Gnade vor dem himmlischen Richter zu finden, der Kathedrale Santa Maria das Kloster San Salvador in Bariones, den Ort Cimanes de la Vega und das Kloster San Antolín in San Lorenzo. Die Poenformel der Schenkungsurkunde (fol. 43r) droht demjenigen, der gegen diese Bestimmungen verstößt, sei er aus ihrer Familie oder von außerhalb, sei es königliche Macht oder das Volk, den Ausschluss aus der Kirche und die Tilgung seines Namens aus dem Buch des Lebens und ewige Verdammung an (Abb. 5).26 Wie die ausdrückliche Warnung an die eigenen Familienmitglieder erahnen lässt, stieß diese Schenkung offenbar bei den drei Geschwistern Sanchas und deren Kindern auf Widerstand. Im Gegensatz zu anderen Schenkungsurkunden, wie derjenigen König Garcias von Nájera und seiner Gattin Stephania für die Kathedrale Nájera von 105427, fehlen Sanchas Geschwister Pedro, Juan und Teresa hier unter den Zeugen; sie sahen offenbar durch die Schenkung den Familienbesitz geschmälert und verweigerten ihre Zustimmung. Sancha wurde schließlich von Familienangehörigen ermordet.28

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html. Peter Johanek: Zur rechtlichen Funktion von Traditionsnotiz, Traditionsbuch und früher Siegelurkunde, in: Recht und Schrift im Mittelalter (Vorträge und Forschungen, 23), hg. v. Peter Classen, Sigmaringen 1977, S. 131–162, hier S. 159f. S. François Garnier: Grammaire des gestes, Paris 1989, Bd. I, S. 188–191; Susanne Wittekind: Altar – Reliquiar – Retabel. Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo, Köln 2004, S. 282f. Zur Miniatur der Gräfin Sancha und dem historischen Hintergrund s. Galván Freile 1997 (wie Anm. 19), S. 78–81, hier S. 81. Libro de las Estampas, fol. 43r: „Siquis tamen aliquis homo venerit ad irrumpendum contra hanc factum nostrum, vel venire temptaverit, tam ex progenie mea quam extranea, tam regia potestas quam populorum universitas, auisquis ille fuerit qui talia comiserit, sit extraneris et reus ab ecclesia. Et corpore et sanguine domini nostri ihesu xhristi et deleatur nomen eius de libro vite. Sed cum iuda domini traditore lugeat penas tarchareas in eterna dampnatione, et in super periet ad partem ecclesie ipsum qui in testamento resonat per duplo. Et ad partem regis vel cui lex dederit exsovaz auri talenta duo.“ Fidel Fita: Santa María la Real de Nájera. Estudio crítico, in: Edición digital a partir de Boletín de la Real Academia de la Historia, XXVI, 1895, S. 155–198 (cervantes virtual 2006), hier S. 169: http:// www.cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/hist12816183326723728654435/p0000001.htm. Zur illuminierten Urkunde von Nájera s. Wittekind 2010 (wie Anm. 17). So stellt es nach Galván Freile 1997 (wie Anm. 19), S. 79f. auch das Grabmal für Gräfin Sancha

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Für die Miniatur im Kartular der von Sancha begünstigten Kathedrale von León wird ein Bildformular gewählt, das aus zeitgenössischen Heiligenmartyrien geläufig ist und die Donatorin Sancha überhöht.29 Die Komposition wird Darstellungen des Martyriums von Thomas Becket angenähert, der im Gebet vor dem Altar heimtückisch von einem Ritter ermordet wurde, und Darstellungen der Jungfrau Valeria, die ihr abgeschlagenes Haupt selbst als Opfer zum Altar trägt.30 Ende des 12. Jahrhunderts waren diese beiden Heiligen sehr beliebt, ihre Martyriumsszenen wurden über Limoger Emailreliquiare weit verbreitet. Kirchengründer (fundatores) und große Wohltäter (benefactores) einer Kirche genossen oft lokale Verehrung.31 In der Miniatur des Kartulars wird der Altar als Ort des Opfers ausgespart und gleichsam durch den Urkundentext auf der gegenüberliegenden Seite ersetzt, der „Maria regina“ als Empfängerin der Schenkung Sanchas nennt.32 Der im Typus einer Heiligen dargestellten Donatrix Sancha wird kontrastierend die adlige, gleichwohl hässlich verzerrte Gestalt ihres Mörders gegenübergestellt, die Schutzlosigkeit und Demut Sanchas der grausamen Gewalttat des Ritters. Wie ist diese Szene im Gesamtzusammenhang der Handschrift zu interpretieren? Die Reihe der Miniaturen beginnt mit König Ordoño II. von Asturien, der Anfang des 10. Jahrhunderts León zur neuen Hauptstadt seines Reiches machte und die Kirche von León begünstigte. Auch seine Nachfolger, seit Ferdinand I. (1038–1065) Könige von Kastilien-

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aus dem 14. Jahrhundert dar, das einen Ehrenplatz in der Scheitelkapelle der Kathedrale gegenüber demjenigen König Ordoños II. erhielt. Dargestellt wird die Schenkung einer Kirche durch die Gräfin an Maria; Sancha wird sodann von einem Bewaffneten vor der Familie zur Rede gestellt, ihre Ermordung durch einen Ritter erfolgt unter Zeugen. Im Kartular des Robert von Torigny (Avranches, Bibliothèque Municipale, Ms. 210, Mont-Saint-Michel, 1154/1158) kann der Konflikt über die Schenkung an das Kloster zwischen der Herzogin Gonor und ihrem Sohn Robert von Evreux schließlich gütlich beigelegt werden; s. Ursula Nilgen: Le cartulaire du mont-saint-michel et la miniature anglaise, in: Manuscrits et enluminures dans le monde normand Xe–XVe s., hg. v. Pierre Bouet/Monique Dosdat, Caen 1999, S. 29–49. Galván Freile 1997 (wie Anm. 19), S. 80, weist auf eine Darstellung der Enthauptung Margaretas auf einem Antependium aus Santa Margerita in Sant Marti Sescorts im Episkopalmuseum von Vic hin. Cynthia Hahn: Interpictorality in the Limoges Chasses of Stephen, Martial, and Valerie, in: Image and Belief, hg. v. Colum Hourihane, Princeton, NJ 1999, S. 109–124; Dies.: Valerie’s Gift: a Narrative Enamel Chasse from Limoges, in: Reading medieval Images. The art historian and the object, hg. v. Elizabeth Sears/Thelma Thomas, Ann Arbour 2002, S. 187–200; Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. II: Romanik, hg. v. Susanne Wittekind, München u.a. 2009, Nr. 147 (Susanne Wittekind). Dargestellt wird die Ermordung Thomas Beckets z.B. in der Apsis des südlichen Querhauses von Santa María de Tarrasa (Terrassa) bei Barcelona, 4. Viertel 12. Jh.; s. Otto Demus: Romanische Wandmalerei, München 1968, Nr. 177; Catalunya romanica Bd. XVIII El Vallès occidentale, Barcelona 1992, S. 259–261 (Antonio Borfo i Bach). S. Christine Sauer: Fundatio und memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100 bis 1350 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 109), Göttingen 1993; Hans-Joachim Ziegeler: Standes-Zeichen. Kunst und Kultur des Adels – eine Skizze, in: Romanik 2009 (wie Anm. 30), S. 496–507, sowie Nr. 262. Libro de las Estampas, fol. 42r: „A me et enim inutile et peccatrix sancia christi ancilla munioni comitis filia in nomine et honore donatrix mee sancte marie semper virginis regine celestis [...].“

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León, förderten durch Privilegien die Kathedrale ihrer Hauptstadt. Das zuletzt eingetragene königliche Privileg für die Kathedrale Santa María von 1137 stammt von Alfons VII. (1126–1157), der sich 1135 in León krönen ließ.33 Sein Sohn und Nachfolger Ferdinand II. von León (1158–1188) fehlt im Libro de las Estampas offenbar, weil er Santiago als Hauptstadt seines Reiches und als Grablege favorisierte. Nach seinem Tod schwächten Nachfolgestreitigkeiten zwischen seinem Sohn aus zweiter Ehe, Alfons IX. (geb. 1171, 1188–1230), und seinem bereits Kastilien regierenden Neffen Alfons VIII. (geb. 1155, 1158–1214) die königliche Herrschaft im Königreich León; die Macht des Adels wuchs, teils herrschte Bürgerkrieg. Die Einberufung der curia regia 1188 nach León, an der auch Repräsentanten der Bürger teilnahmen, stärkte die Gesetzgebungsmitwirkung der Stände (cortes) und schwächte die bischöfliche Stadtherrschaft.34 Vor diesem Hintergrund erscheint die Aufnahme der Schenkung Sanchas von 1040, die Darstellung ihrer Ermordung und ihre Einfügung entgegen der sonst gewahrten Chronologie am Ende der Handschrift weder zufällig noch einer ständischen Gliederung geschuldet. Denn durch die Folge der königlichen Herrscher wird eine Herrschaftskontinuität visualisiert, die mit Alfons VII. abbricht. An die Stelle des Ordnung im Reich und Sicherheit für die Kirche garantierenden Königs tritt der Gewaltakt eines Adligen, der sich gegen eine Wohltäterin der Kirche und damit gegen die Kirche selbst richtet. Die Miniatur beschreibt kritisch aus Sicht der Auftraggeber der Handschrift, Bischof oder Kapitel der Kathedrale von León, die Lage der Kirche von León in der Gegenwart, ihre zunehmende Königsferne und die wachsende Macht und Durchsetzung eigener Interessen durch große Adelsfamilien. Die gesellschaftliche und rechtliche Ordnung sei durch diese gefährdet. Bildlich konkretisiert wird dies durch den heimtückischen Mord an der wehrlosen Donatrix, der ritterlichen Verhaltensregeln wie allgemeinem Recht entschieden zuwiderläuft. Die Bildformeln von bösem Knecht und Märtyrerin verleihen dem sittlichen Normenverstoß Evidenz.35 Indem sich die Urkundenabschriften im Libro de las Estampas, abgesehen von Sanchas Schenkung, auf königliche Privilegien beschränken, dient die Handschrift offensichtlich weniger der praktischen Sicherung der Rechte der Kathedrale durch Abschrift wichtiger Originalurkunden des Archivs.36 Gleichwohl

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Klaus Herbers: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 149f., 182–185. S. Emilio Saéz: Alfons VIII., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I, München 1980, Sp. 395f.; Ders.: Alfons IX., in: Ebd., Sp. 400f. S. Gabriele Wimböck/Karin Leonhard/Markus Friedrich: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, in: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität, 9), hg. v. Dens., Berlin 2007, S. 9–38, hier S. 18. Johanek 1977 (wie Anm. 23), S. 131–162; Patrick Geary: Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the first Millennium, Princeton, NJ 1994, insb. Kap. 3–4; Laurent Morelle: Les chartres dans la gestion des conflits (France du Nord, XIe–début XIIe siècle), in: Bibliothèque de l’ècole des chartres, CLV, 1997, S. 267–298; Georges Declercq: Originals and Cartularies. The Organisation of Archival Memory (9th–11th c.), in: Charters and the Use of the Written Word in Medieval

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ist die Fokussierung auf die königliche Protektion der Kathedrale von León Zeugnis einer gezielten historischen Rückbesinnung. Insgesamt aber scheint die Anlage der kostbar illuminierten Prachtausgabe der Privilegien der Kathedrale von León ein Akt der Selbstvergewisserung zu sein. Sie dient als Medium der Selbstdarstellung, nach innen wie nach außen; sie ist Zeugnis der Herrschaftsreflexion und der politischen Gegenwartskritik. II.2. Sakrileg im Libro de las Leyes Alfons X. el Sabio von Kastilien-León (1252–1284) konnte seine große Rechtskodifikation, begonnen 1255 mit dem Fuero Real, dem Especulo und fortgeführt in verschiedenen Redaktionen der Siete Partidas bis um 1300, in seinem heterogenen Königreich gegen Adelsproteste nicht durchsetzen.37 Eine um 1290/1295 zu datierende Version der Siete Partidas streicht im Prolog die königliche Autorschaft sowie den Titulus I.1.15, der die königliche Gesetzgebungsgewalt begründet, und propagiert stattdessen den Wert des Werks für die juristische Lehre und Ausbildung des Rechtsverständnisses. Reich mit zwanzig Miniaturen illuminiert wurde um 1300 allein eine Handschrift des ersten, der Rechtsbegründung und kirchlichen Angelegenheiten gewidmeten Buchs, die Primera Partida (London, The British Library, Add. Ms. 20787).38 Sie ist in 24 Tituli oder Abschnitte (fablas) untergliedert, unter denen thematisch zusammengehörige Bestimmungen (leyes) zusammengefasst werden. Jedes ley wird durch ein Fleuronnée-Initial geziert und mit rubrizierter Zählung versehen, ebenso werden die 24 Tituli rot hervorgehoben. Der Bildschmuck ist unregelmäßig verteilt: Der Prolog enthält zwei Miniaturen in Vollmalerei (fol. 1r, 1v), der erste Titulus (fol. 1v) ist durch ein historisiertes Initial ausgezeichnet, die nachfolgenden Tituli aber erhielten ornamentale Initialen. Ab dem siebten Titulus (fol. 54r) sind allen Tituli Miniaturen vorangestellt, allein der zehnte Titulus wurde unterteilt und erhielt zwei Miniaturen. Das erste ley eines Titulus enthält stets eine biblisch-historische Herleitung des behandelten Gesetzes, doch wird diese in den Miniaturen nicht aufgenommen. Ebenso wenig greift man auf Bildformeln zu kirchenrechtlichen Themen zurück, die aus illuminierten Handschriften des Decretum Gratiani geläufig sind. Stattdessen werden in Auseinandersetzung mit dem Text, aber doch mit eigenen Akzenten Szenen gewählt, welche zum einen die göttliche Autorisierung und Unterstützung der weltlichen wie der geistlichen

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Society (Utrecht Studies in medieval literacy, 5), hg. v. Karl Heidecker, Turnhout 2000, S. 147–170; Laurent Morelle: The Metamorphosis of three monastic charter collections in the eleventh century (Saint Amand, Saint-Riquier, Montier en Der), in: Ebd., S. 171–204. Wolf 1996 (wie Anm. 1), S. 199–203; de Dios 1997 (wie Anm. 13), S. 160–162; Jerry R. Craddock: The legislative Works of Alfonso el sabio, in: Emperor of Culture. Alfonso X the Learned of Castile and His Thirteenth Century Renaissance, hg. v. Robert I. Burns, Philadelphia, PA 1990, S. 182–198. S. oben Anm. 13. Die Handschrift enthält 120 Folios von 358 × 238 mm, der zweispaltige Textspiegel misst 222 × 147 mm, 45 Textzeilen, Schreiberwechsel fol. 82rv bei Titulus XIII. Zum Bildpro-

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Herrschaft betonen (Abb. 6).39 Zum anderen wird durch die Präsenz des Königs in den Szenen seine Zuständigkeit für Belange der Kirche unterstrichen, auch dort, wo er im Text nicht genannt ist – sei es als Förderer des Kirchenbaus (10. Titulus, fol. 75r), sei es als Lehrmeister der Geistlichkeit (fol. 79r), als Vermittler zwischen Klöstern und Bischof (12. Titulus, fol. 80v) sowie zwischen weltlichen Eigenkirchenherren und dem Bischof (15. Titulus, fol. 89r) oder als Wahrer des Kirchenbesitzes gegen dessen Entfremdung durch Laien (14. Titulus, fol. 86v). Viele Szenen fokussieren das geistliche Wirken des Bischofs: die Segnung von Geistlichen (7. Titulus, fol. 54r), die Exkommunikation eines Klerikers (9. Titulus, fol. 62v), das Begräbniszeremoniell (13. Titulus, fol. 82v), die Vergabe von Pfründen (16. Titulus, fol. 92v) und die bischöfliche Messfeier an Festtagen (24. Titulus, fol. 117v). Eine weitere Gruppe behandelt innerkirchliche Fragen, das heißt Besitz und Einkünfte des Klerus Abb. 6: Libro de las Leyes/Primera Partida, Pro(22. Titulus, fol. 112v) sowie die Gastung logminiatur und Initial zum ersten Titulus De las leyes, um 1300 (London, British Library, Add. Ms. von Visitatoren (23. Titulus, fol. 114r). Betont wird zudem das ehrerbietige Verhal20787, fol. 1v) ten der Laien gegenüber dem Klerus, sei es bei der Übergabe des Erstlingsopfers (primicias – 19. Titulus, fol. 104v), der Opfergaben (offrendas – 20. Titulus, fol. 105v) oder des Zehnts (21. Titulus, fol. 106v). Obgleich die einzelnen Gesetze häufig Interessenkonflikte und Streitigkeiten thematisieren, zeigen die Miniaturen stets das harmonische Zusammenwirken von König, Bischof, Geistlichkeit und Laien. Mit einer Ausnahme: Die Miniatur zum 18. Titulus „De los sacrilgios“ (fol. 101v), der in 16 leyes verschiedene Formen des Sakrilegs diskutiert und die jeweiligen Strafen erläutert, zeigt vier Ritter, die mordend in eine Kirche stürmen und Laien wie Kleriker vor dem Altar töten (Abb. 7).40 Die Darstellung bezieht sich auf

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gramm der Handschrift s. ausführlich Wittekind 2009 (wie Anm. 16). So die zweite Prologminiatur, das Initial zum 1. Titulus (fol. 1v), die Miniaturen zum 8. Titulus („De los votos“) und zum 17. Titulus („De la symonia“). Primera Partida, ed. Arias Bonet, 1975 (wie Anm. 13), S. 368–378, hier S. 368f. Sakrilegien werden im ersten Ley als Verstöße gegen die Kirche definiert. Die Kirche, metaphorisch als Mutter unserer

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das 11. ley, das bestimmt, dass auch diejenigen, die in der Kirche zu Gebet oder Lesung versammelt sind oder die sich in den Schutz der Kirche geflüchtet haben, dort weder angegriffen noch gewaltsam entfernt werden dürfen. Gegen diese Bestimmung versündigen sich die Ritter. Die Darstellung betont durch dynamisch ausgreifende, von links nach rechts vorwärts drängende Bewegungen und durch die Größe der Gestalten die Macht der Ritter und kontrastiert sie mit der Hilflosigkeit der kleinen, geduckt vor ihnen flüchtenden oder betenden, frommen Opfer. Ein Mann im Vordergrund liegt bereits getötet am Boden, der kniende Bärtige hinter ihm streckt seine Hände zum Altar vor. Der Kleriker neben ihm hebt seine Hände betend zum Altar und wendet sich um zu den Mördern, ein weiterer Mann steht zu den Rittern gewandt vor dem Altar, eine Hand vor der Brust abwehrend erhoben, die andere schützend am Kopf. Auf eine Überhöhung der Opfer durch hagiographische Darstellungstypen, wie sie im Libro de las Estampas von León fassbar war, wird verzichtet. Der Kampf der durch Kettenhemden und Schilde gewappneten Ritter gegen die schutzlosen Laien entlarvt die Ritter als ehrlos, der Ort des Geschehens macht die Handlung zum Sakrileg. Die Ritter bringen Chaos und Gewalt in die Kirche, sie Abb. 7: Libro de las Leyes/Primera Partida, 18. Titulus De los sacrilegios, um 1300 (London, British Library, gefährden – durch eigenmächtige Add. Ms. 20787, fol. 101v) Rechtsdurchsetzung und Strafverfolgung? – die Rechte der Kirche wie das Gemeinwohl.41 Dies wird umso deutlicher, als die Szene die architektonische Gliederung und Disposition des Kirchenraumes von den anderen, friedlichen Szenen der Messfeier und Darbringung der Opfergaben aufgreift.42 Körper bezeichnet, weist der Seele den Weg der Rettung. Daher bedeutet Gewalt gegen die Kirche, gegen ihren Besitz oder gegen Friedhöfe eine schwere Sünde bzw. ein Sakrileg. Ebenso gilt dies, wie das zweite Ley ausführt, für das Vorgehen gegen Dinge, die zu Gott gehören oder heilig sind (Altar, liturgisches Gerät, Altarzier), und für ihre unberechtigte Nutzung oder Entfremdung an einen ungeweihten Ort. Als Sakrileg werden zudem Verbrechen gegen diejenigen bezeichnet, die das göttliche Gesetz (la Ley de Dios) als Kleriker oder Richter vertreten, sowie gegen Religiose. Nachfolgend werden in Ley 5–12 Strafen für verschiedene Sakrilegien erörtert, die nach Rang des Klerikers oder Religiosen sowie nach Ort und Zeit gestuft sind.

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Insbesondere im Vergleich mit den Darstellungen des Königs, der in den Miniaturen als von Gott beauftragter Schutzherr der Kirche und Vermittler in kirchlichen Streitfällen präsentiert wird, ist in dieser Szene eine kritische Sicht auf den Adel spürbar. Die Ritter sind dasjenige gesellschaftliche Element, das die kirchliche (und gesellschaftliche) Ordnung und damit das Allgemeinwohl durch Missachtung sanktionierter Regeln – vielleicht im Beharren auf eigenen, nicht kodifizierten Rechten – gefährdet. Die Komposition macht das Unrecht ihrer Handlungsweise offenkundig. Auf die Darstellung der Verhandlung des Falls vor Gericht und die Bestrafung der Schuldigen wird verzichtet. Während diese Momente in illuminierten Handschriften des Decretum Gratiani oder der Dekretalen Gregors IX. immer wieder dargestellt werden, d.h. in Handschriften für Juristen, die kanonisches Recht lehren oder als Richter und Advokaten mit der Verurteilung von Vergehen befasst sind, richtet sich die Primera Partida offensichtlich an einen königlichen Empfänger. Ihre Entstehung fällt in eine Zeit der Kämpfe zwischen dem enterbtem zweiten Sohn und Nachfolger Alfons’ X., Sancho IV. (1284–1295), und seinem von Alfons X. designierten Konkurrenten Alfons de la Cerda (gest. 1334) sowie von Auseinandersetzungen zwischen den Adelsgruppen der Lara und Haro.43 Nach Sanchos Tod herrschte Bürgerkrieg im Land, bis sich um 1300 sein Sohn Ferdinand IV. (geb. 1285, 1295–1312) durchsetzen und seine Herrschaft durch ein Kräftegleichgewicht zwischen Adel, Städten und Königtum stabilisieren konnte. Ferdinand IV. knüpfte an die Rechts- und Gerichtsreform seines Großvaters Alfons X. an. Die Prachtausgabe der Primera Partida ist als visuelles Dokument seines Bestrebens zu deuten, sich in die Tradition Alfons X. als königlicher Gesetzgeber und Schutzherr der Kirche zu stellen und seine Königsherrschaft mit dem göttlichen Auftrag zur Wahrung von Recht und Ordnung im Königreich zu legitimieren. Das Sakrileg, begangen durch Vertreter der potentiellen Gegner und Herrschaftskonkurrenten des Königs, demonstriert, dass königliche Herrschaft und Macht zum Schutz der Kirche und der Laien nötig ist. Der Rechtsverstoß bildet das notwendige Korrelat zur visuell behaupteten Ordnung der Gesellschaft, dient es doch als Anstoß zur Reflexion über die Gefährdung der Rechtsordnung und über die Notwendigkeit königlicher Herrschaft.

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Die adelskritische Ausrichtung dieser Miniatur wird auch im Vergleich mit dem entsprechenden Passus und Initial im Vidal mayor deutlich, denn dieses zeigt zum ersten Titulus des ersten Buches auf fol. 9r statt des Sakrilegs lediglich eine Messfeier, nicht aber deren Störung. S. Vidal Mayor I.1 „De sacrosanctis ecclesiis et earundem ministris“ (ed. de los Desamparados Cabanes Pecour/Blasco Martínez/Pueyo Colomina, 1997 [wie Anm. 14], S. 25): „Ningún omne […] que sea odado de fazer fuerca nin de crebantar las eglesias. Establescemos otrosí, quie si alguno, engaynnado por el diablo, crebantando o violando la eglesia fiziere homicidio en eilla, lo que fazer non se puede sin menosprecio de la fe, peyte DCCCC sueldos, si la eglesia violada es sagrada.“ Der Altar mit Altarkreuz und zwei Kerzen steht stets rechts unter einer dreipassförmigen Arkade, die hier wie in der Exkommunikationsszene (fol. 62v) zusätzlich durch einen gerafften Vorhang ausgezeichnet wird. Um das Eindringen von außen in den Kirchraum zu verdeutlichen, wird die dritte Arkade links durch einen angeschnittenen Rundbogen unter dem Giebelfeld als Kirchenportal ersetzt. Zum historischen Hintergrund s. Herbers 2006 (wie Anm. 33), S. 191, 251f.

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II.3. Die Vertreibung der Laien vom Altar in Miniaturen zum dritten Buch der Dekretalen Gregors IX. „De vita et honestate clericorum“ Bereits um 1240 werden Handschriften der 1234 promulgierten Dekretalensammlung Gregors IX., die als Studientext an die Universitäten Bologna und Paris gesandt und rasch im dortigen Curriculum des kanonischen Rechts verankert worden waren, reich illuminiert.44 Fast ein Drittel der erhaltenen Handschriften enthält ein Set von fünf bis sechs Miniaturen oder historisierten Initialen, das heißt zur einleitenden Bulle Gregors sowie zu den fünf Büchern der Dekretalen. Die Bulle Gregors wird oftmals durch ein Dedikationsbild, in dem Raymund dem Papst sein Werk überreicht, oder durch die Übergabe der Dekretalen an Kleriker und Juristen durch Gregor eingeleitet. Das erste Buch beginnt mit dem Titulus „De summa trinitate et fide catholica“, der das 1215 auf dem Laterankonzil formulierte Glaubensbekenntnis zitiert und meist mit einer Darstellung der Trinität versehen wird. Das zweite Buch behandelt das Prozessrecht; es wird nach seinem ersten Titulus „De iudiciis“ betitelt und meist durch eine Gerichtsszene eingeleitet. Sie ähnelt oftmals den Miniaturen zum fünften Buch „De accusationibus, inquisitionibus et denuntiationibus“, welches das Strafrecht verhandelt. Das vierte Buch „De sponsalibus et matrimoniis“ ist dem Eherecht gewidmet und zeigt eingangs meist eine Heiratsszene, regional angepasst an die zwischen Italien und Frankreich differierenden Riten.45 Hinsichtlich der Frage nach Rechtsnorm und Rechtsübertretung sind die Illustrationen zum dritten Buch „De vita et honestate clericorum“, das Bestimmungen hinsichtlich der geistlichen Lebensführung enthält, von Interesse.46 Die Miniaturen nehmen stets auf den

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James A. Brundage: The Rise of Professional Canonists and Development of the Ius Commune, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, LXXXI, 1995, S. 26–63; Martin Bertram: Die Dekretalen Gregors IX.: Kompilation oder Kodifikation?, in: Magister Raimundus, hg. v. Carlo Longo, Rom 2002, S. 61–86; Ders.: Dekorierte Handschriften der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra) aus der Sicht der Text- und Handschriftenforschung, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, XXXV, 2008, S. 31–65. Wittekind 2010 (wie Anm. 16), S. 113f. In Vorbereitung ist die online-Publikation der Vorträge auf dem von Dr. Martin Bertram am DHI, Rom organisierten Werkstattgespräch zu den „Miniaturen in den Handschriften der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra)“ am 3./4. März 2010, s. das Programm unter http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/termine/id=13284 (9. 4. 2010), den Tagungsbericht unter http://www.dhi-roma.it/fileadmin/user_upload/pdf-dateien/Tagungsberichte/2010/Bertram_Miniaturen_Tagungsbericht.pdf (9. 4. 2010). Noch unpubliziert ist die Pariser Doktorarbeit von Frédérique Cahu: Les manuscrits de la collection canonique de Grégoire IX conservés en France, 2000/2001, ebenso diejenige von Marta Pavón Ramirez: Manuscritos de derecho canónico iluminados: las Decretales de Gregorio IX de la Biblioteca Apostólica Vaticana, Barcelona 2007. Kathleen A. Nieuwenhuisen: Het jawoord in beeld. Huwelijksafbeeldingen in middeleeuwse handschriften (1250–1400) van het Liber Extra, Academisch proefschrift Vrije Universiteit Amsterdam 2000. Es sind Bestimmungen zum Zölibat, zu rechtmäßigen Einkünften (Präbenden), zum Umgang mit Schenkungen und kirchlichen Benefizien oder zum Pflichtennachlass im Krankheitsfall.

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Abb. 8: Dekretalen Gregors IX./Liber Extra, Liber III De vita et honestate clericorum, Bologna 1280/90 (Salzburg, Universitätsbibliothek, Ms. III 1, fol. 123r)

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ersten Titulus Bezug.47 Diesem zufolge ist es Laien untersagt, sich während der Eucharistiefeier oder der Vigil unter den Klerikern am Altar aufzuhalten; die Laien werden hinter die (Chor)Schranken verwiesen. Zu Gebet und Kommunion aber sei ihnen und den Frauen der Zugang zum Altar gestattet. Während die italienischen Handschriften eine rechtskonforme Situation darstellen, das heißt die Messfeier mit räumlicher Trennung zwischen dem Priester am Altar, Klerikern und Laien48, wählen französische beziehungsweise nordalpine Handschriften eine Konfliktszene, das heißt die Vertreibung der Laien aus dem Sanktuarium (Abb. 8, Taf. V).49 Meist sieht man in der rechten Bildhälfte den Priester am Altar; er segnet den Kelch, der teils noch vom Kelchtuch bedeckt ist, spricht über ihm das Gebet oder erhebt die Hostie (elevatio). In französischen Handschriften wendet sich jedoch meist ein Kleriker, mit weißer Albe oder farbigem Chormantel bekleidet,

Liber III, Titulus I, cap. 1: „Ex concilio Maguntino.“ „Ut laici secus altare, quando sacra mysteria celebrantur, tam ad vigilias quam ad missas penitus stare vel sedere inter clericos non praesumant; sed pars illa, quae cancellis ab altari dividitur, tantum psallentibus pateat clericis. Ad orandum vero et communicandum laicis et feminis, sicut mos est, pateant sancta sanctorum.“ Zu dieser Gruppe gehören auch die Handschriften Angers, Bibliothèque Municipale, Ms. 376, fol. 231v; Douai, Bibliothèque Municipale, Ms. 601, fol. 120r; s. http://www.enluminures.culture.fr/ (10. 4. 2010); Köln, Historisches Archiv, W 275, fol. 237v; Syracuse, NY University Library, Ms. 1, fol. 137r; s. http://library.syr.edu/digital/collections/m/MedievalManuscripts/ms01/ms01.htm Jennifer Casten. Die Handschrift Angers, Bibliothèque Municipale, Ms. 378, fol. 172r wählt im Gegensatz zu den üblicherweise bildparallelen, von links nach rechts orientierten Kompositionen eine zentralisierende Darstellung, indem der Betrachter in der Mitte den vor dem erhöhten Altar stehenden Priester bei der elevatio der Hostie von hinten gewärtigt, begleitet von Diakonen, während die Laien links und rechts davon betend und mit Blick auf die Hostie im Kirchenraum versammelt sind. Diesem Typus folgen die Handschriften Angers, Bibliothèque Municipale, Ms. 379, fol. 104r; Berkeley, Robbins Collection, Ms. 100, fol. 242r; s. http://www.law.berkeley.edu/library/robbins/manuscriptsframe.html (10. 4. 2010); Bourges, Bibliothèque Municipale, Ms. 186, fol. 138v; Bourges, Bibliothèque Municipale, Ms. 130r; Douai, Bibliothèque Municipale, Ms. 156r; Reims, Bibliothèque

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nach links zu einem Laien (Abb. 9), ermahnt ihn mit erhobener Rechter, fasst ihn an Schultern oder Armen und schiebt oder drängt ihn trotz widerstrebend-abwehrender Gesten des Mannes zum Verlassen des Sanktuariums. Einige Darstellungen dramatisieren die Szene zusätzlich, indem der Kleriker mit erhobenem Stab oder Asperg den Laien zu schlagen droht.50 Diese Konfliktszene betont das fromme Streben der Laien zum Altar, den Wunsch nach unmittelbarer Nähe zum Allerheiligsten während der Opfermesse, in der Christus in der Wandlung am Altar gegenwärtig ist. Anders als in Italien, wo sich die Blicke der Gläubigen, der Laien wie Kleriker in dieser Szene auf die vom Priester über seinen Kopf erhobene Hostie richten, hat sich, so könnte man folgern, diese Form der ‚Schaufrömmigkeit‘ in Frankreich offenbar noch nicht durchgesetzt – dies wäre eine unmittelbare, frömmigkeitsgeschichtliche Interpretation. Doch in Anbetracht des Umstands, dass die Eucharistiefrömmigkeit in Flandern ihren Ausgang nahm und sich im 13. Jahrhundert insbesondere in Frankreich und Abb. 9: Dekretalen Gregors IX./Liber Extra, Liber III: De Deutschland rasch ausbreitete, vita et honestate clericorum, Frankreich um 1280 (Nürnberg, greift diese Deutung zu kurz. Stadtbibliothek, Ms. Cent. II 79, fol. 110r)

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Municipale, Ms. 679, fol. 112v; Troyes, Bibliothèque Municipale, Ms. 1244, fol. 157v; Troyes, Bibliothèque Municipale, Ms. 1902, fol. 136v; St. Claude, Bibliothèque Municipale, Ms. 7, fol. 281r; s. http://www.enluminures.culture.fr/ (10. 4. 2010); San Marino, Huntington Library, HM 19999, fol. 122r, s. C. W. Dutschke/Richard H. Rouse: Guide to Medieval and Renaissance Manuscripts in the Huntington Library, San Marino 1989, Electronic version encoded by Sharon K. Goetz, 2003: http://dpg.lib.berkeley.edu/webdb/dshen/heh_brf?Description=&CallNumber=HM+19999 (10. 4. 2010); Paris, Bibliothèque Ste. Geneviève, Ms. 331, fol. 126v; http://liberfloridus.cines.fr/textes/biblio_fr.html (10. 4. 2010). S. die in Frankreich um 1280 entstandenen Dekretalenhandschriften Amiens, Bibliothèque Municipale, Ms. 359, fol. 183v; http://www.enluminures.culture.fr/ (10. 4. 2010). Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. II.79, fol. 110r; Mailand, Biblioteca Ambrosiana, B. inf 43, fol. 139r; Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. iur. 2230, fol. 155r.

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Man sollte die Auseinandersetzung zwischen Laien und Klerikern daher vielmehr als konstruierte Konstellation betrachten, die Gelegenheit gibt, die unterschiedliche Würde und Rolle von Laien und Klerikern innerhalb der Kirche zu demonstrieren und zu reflektieren. Die räumliche Abgrenzung und Auszeichnung der Kleriker ist als äußeres Kennzeichen der inneren geistlichen Würde zu werten, die ihnen als Empfängern geistlicher Weihen zukommt. Die italienischen Handschriften nutzen die architektonische Ausgestaltung der Szene dazu, dem Priester am Altar, den Klerikern und den Laien durch Arkaturen je verschiedene Räume zuzuweisen.51 Zielpunkt der Kompositionen ist stets der Altar, der Priester und Klerus privilegiert. Eine solche, auch den Betrachter distanzierende Raumaufteilung fehlt in den meisten französischen Beispielen.52 Sie fokussieren den Streit um den Zutritt zum Sanktuarium wie mit einem Zoom und zeigen nur einen Raum mit einheitlichem Bildgrund (Abb. 10). Andere trennen jedoch links eine schmale Bildzone ab, um den Verweis und Übertritt des Laien in einen ‚anderen‘ Raum zu verdeutlichen (wie Abb. 9).53 Der verhaltene Widerstand des Laien gegen seine Entfernung vom Altar kann als Infragestellung der Sonderstellung der Geistlichkeit in der Kirche verstanden werden. Während der Zelebrant sich auf seiAbb. 10: Dekretalen Gregors IX./Liber Extra, Liber III: ne Aufgabe am Altar konzentriert De Vita et honestate clericorum, Frankreich um 1280 (Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. iur. und damit amtsgerecht handelt, entgegnet der assistierende Kleriker die2230, fol. 155r) 51 52

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Vgl. Vic, Biblioteca Episcopal, Ms. 144, fol. 145v; Lucca, Biblioteca Capitolare, Ms. 287, fol. 100r; Oxford, Bodleian Library, Ms. lat. th. b. 4, fol. 101r. Vgl. Berkeley, Robbins Collection, Ms. 100; Bourges, Bibliothèque Municipale, Ms. 186, fol. 138v; Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. Jur. 2230, fol. 155r; Mailand, Biblioteca Ambrosiana, B 43 Inf., fol. 139r; Reims, Bibliothèque Municipale, Ms. 697, fol. 112v; Troyes, Bibliothèque Municipale, Ms. 1244, fol. 157v; Troyes, Bibliothèque Municipale, Ms. 1902, fol. 136v; Vendôme, Bibliothèque Municipale, Ms. 81, fol. 138r. Vgl. Amiens, Bibliothèque Municipale, Ms. 359, fol. 183v; Admont, Stiftsbibliothek, Cod. 646, fol. 157v; Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. II, fol. 110r.

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sem Anspruch des Laien auf Ko-Präsenz im Sanktuarium nachdrücklich. Erscheint die Ermahnung und das Weggeleiten des Mannes noch als angemessene Reaktion des Geistlichen, wirkt das Schwingen des Wedels gegen den Laien übertrieben, fast komisch. Die scheinbar anekdotische Szene greift somit das zentrale Thema des dritten Buchs der Dekretalen auf, nämlich die Vorrechte der Geistlichen und deren Pflichten. Sie stellt die Eucharistie, die Erlösung spendende Opferung Christi in Gestalt von Wein und Brot, als Zentrum des geistlichen Lebens heraus. Sie bildet den Bezugspunkt für die verschiedenen geistlichen Ämter und begründet die Sonderstellung der Kleriker in der Kirche, in der Gemeinschaft der Gläubigen wie im Kirchenraum. Der dargestellte Konflikt macht diese gesellschaftliche Ordnung sowie die unsichtbaren Grenzen im Kirchenraum als symbolische Grenzen zwischen Laien und Geistlichen dem Betrachter bewusst. III. Schluss Unter der Frage, welche Funktion der Darstellung von Rechtsverstößen in Rechtshandschriften zukommt, wurden drei ganz unterschiedliche Rechtssammlungen des 13. Jahrhunderts und ihre Illustration untersucht – ein bischöfliches Kartular mit königlichen Privilegien, eine königliche Kodifizierung kirchenrechtlicher Fragen sowie eine päpstliche Dekretalensammlung. Gemeinsam ist ihnen, dass innerhalb ihrer Bildausstattung jeweils nur eine Miniatur die ansonsten geordnete, autoritativ abgesicherte Darstellung von Gesetzgebung, Gericht und Rechtsbestimmungen durchbricht. Der Störfall, so wurde gezeigt, stellt die im Codex vorgestellte und festgeschriebene Rechtsordnung in Frage. Diese Verunsicherung wird jedoch durch Bildstrategien aufgefangen, welche die dargestellte Handlung als Rechtsbruch evident machen oder moralisch verurteilen – indem im Libro de las Estampas das Mordopfer als Märtyrerin stilisiert wird oder wenn, wie in der Primera Partida, beim Sakrileg Gewalt gegen Wehrlose inszeniert wird. Die Bilder greifen dabei auf Tugendvorstellungen und Verhaltensregeln zurück, die über den zugehörigen Rechtstext hinausgehen. Die beiden spanischen Handschriften visualisieren die Verletzung gesellschaftlicher Konventionen, kirchenrechtlicher wie ritterlicher, durch den Adel; doch mag dies der besonderen Auftraggeberperspektive und den besonderen politischen Verhältnissen in Spanien zur jeweiligen Entstehungszeit der Handschriften geschuldet sein. Je deutlicher der Rechtsverstoß bildlich als unmoralisches Verhalten verurteilt wird, desto mehr stärkt er im Gegenzug die im Text fixierte Rechtsordnung. Die bildlichen Variationen zum dritten Buch der Dekretalen zeigen hingegen insbesondere in französischen Handschriften eine gewisse Deutungsoffenheit und Ambivalenz. Die kirchenrechtlich begründete Vertreibung des Laien aus dem Sanktuarium schlägt in Szenen um, in denen der Kleriker seine würdige Haltung verliert. Adressiert an ein akademisches Publikum, spielen diese Darstellungen mit dem Rechtsbruch des Laien auf der einen und dem Haltungsverlust des Geistlichen auf der anderen Seite. Kirchenrecht und Standeshabitus werden als konkurrierende Normen einander konfrontiert, sichtbare und unsichtbare Grenzen zwischen sozialen Gruppen und ihren Räumen thematisiert.

Hugo und die Bauern. Zur Thematisierung gesellschaftlicher Ordnung im Renner des Hugo von Trimberg Daniela Güthner „Pfaffen, ritter und gebûre / sint alle gesippe von natûre / und süln gar brüederlîchen leben“1

Die Gesellschaft als Gefüge von verschiedenen ordines zu definieren und deren Verhalten zueinander zu analysieren, ist ein zentrales Thema des umfangreichen Lehrgedichts, das der Renner genannt wird und das von 1298 bis 1306 von dem Bamberger Lehrer Hugo von Trimberg verfasst wurde. In dieser didaktischen Schrift wird der Ritterstand angeklagt, der seine Fürsorgepflicht für die unteren Bevölkerungsschichten nicht übernehme, der Bauer kritisiert, der nach Ritterwürden giere, und der Priester gescholten, der sich nicht um das Seelenheil, sondern um sein eigenes, leibliches Wohl sorge. Mit zahlreichen biblischen Beispielen, Erzählungen und Fabeln wird die Sündhaftigkeit der unterschiedlichen sozialen Gruppen veranschaulicht. Hugo von Trimberg steht mit seiner Beurteilung der sozialen Verhältnisse in der deutschen Literatur des Spätmittelalters nicht alleine da. Das Schema der funktionalen Dreiteilung, welches die Gesellschaft in drei Stände (ordines) gliedert, begegnet uns in didaktischen Werken bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts. In Freidanks Bescheidenheit zum Beispiel heißt es: „Got hât driu leben geschaffen: / gebûren, ritter, phaffen“2 und an anderer Stelle dann: „Swie die liute geschaffen sint, / wir sîn doch alle Adâms kint.“3 Einige Jahre später schreibt dann Thomasin von Zerklaere im Welschen Gast: „Einjeglîch dinc sîn orden hât, / daz ist von der natûre rât / âne alters eine der man / der sînen ordn niht halten kann.“4 Zwar betont auch Hugo von Trimberg die naturgegebene Verwandtschaft von Priester, Ritter und Bauer, trotzdem bleibt auch für ihn das Einhalten der Stände-

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„Priester, Ritter und Bauer / sind von Natur aus verwandt / und sollen brüderlich miteinander leben.“ (V. 505–507). Zitiert nach Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. v. Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort von Günther Schweikle, Berlin 1970. Übersetzung nach Siegfried Epperlein: Bäuerliches Leben im Mittelalter. Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003, S. 250. „Drei Stände sind’s, die Gott geschaffen: die Bauern, Ritter und die Pfaffen“ (27, 1). Zitat und Übersetzung nach Freidanks Bescheidenheit mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch, hg. v. Wolfgang Spiewok, Greifswald 1996, S. 23. „Welch’ Stand der Mensch auch haben mag: Wir stammen all von Adam ab.“ (135, 10). Ebd., S. 116. „Jedes Ding hat seinen festen Platz, das entspricht dem Gesetz der Natur, nur der Mensch nicht, der seinen ihm gegebenen Platz nicht einzuhalten weiß“ (V. 2611–2614). Zitat und Übersetzung

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grenzen als gottgewollte Ordnung und als Grundvoraussetzung einer funktionierenden Gesellschaft unantastbar: „Swer wider sînen orden strebet / und niht nâch gotes willen lebet / Wizzet der ist ein endecrist.“5 Im Folgenden soll untersucht werden, wie in Text und Bild des Renner die Vorstellung von Stand und das Einhalten bzw. Nicht-Einhalten der Ständegrenzen thematisiert werden.6 Davon ausgehend werden andere Textzeugen herangezogen, um zu untersuchen, wie im Text argumentiert wird und mit welchen ikonographischen Mitteln in der Illustrierung bestimmter Textstellen neue Betrachtungsebenen eröffnet werden. So sollen textimmanente und ikonographische Traditionen aufgedeckt sowie neue Inhalts- und Bedeutungsebenen herausgearbeitet werden. Die Thematisierung von sozialen Verhältnissen in literarischen Werken und die dazugehörigen Darstellungen in illuminierten Handschriften sind dabei nicht zwangsläufig mit der sozialen Wirklichkeit gleichzusetzen. Ein Realitätsbezug besteht allerdings im Sinne einer Vorstellung von Wirklichkeit und einer Reaktion auf historische Gegebenheiten, nach denen abschließend gefragt werden wird.7 Zur Begründung der sozialen Unterschiede zieht Hugo von Trimberg ein biblisches Beispiel heran: Die Geschichte von Noah und seinen Söhnen Sem, Ham und Japhet. Als Ham den Vater trunken und nackt in seinem Zelt sieht, holt er seine Brüder, die sich jedoch abwenden und den Vater bedecken. Als Noah erwacht, verflucht er seinen Sohn Ham zur Knechtschaft (Gn 9, 25–27). Diese Bibelstelle hat eine lange Auslegungstradition, wobei der Text insbesondere – wie es auch bei Hugo von Trimberg geschieht – zur Begründung von Freiheit und Unfreiheit benutzt wurde.8 Hugo von Trimberg bettet sie jedoch in eine Rahmenhandlung ein, die dem Ganzen eine zusätzliche Komponente

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nach Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast, ausgew., eingel., übers. und mit Anm. vers. v. Eva Willms, Berlin 2004, S. 66. Allgemein zum Thema der Ständedidaxe s. Alfred J. Hubler: Ständetexte des Mittelalters. Analysen zur Intention und kognitiven Struktur, Tübingen/Basel 1993. V. 4485–4487, Renner, ed. Ehrismann, 1970 (wie Anm. 1). Klaus Grubmüller hat dieses Thema aus literaturwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet: Klaus Grubmüller: Nôes Fluch. Zur Begründung von Herrschaft und Unfreiheit in mittelalterlicher Literatur, in: Medium aevum deutsch. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag, hg. v. Dietrich Huschenbett, Tübingen 1979, S. 99–119. Rudolf Kilian Weigand greift zwar auch das Thema der sozialen Gruppen im Renner auf, stellt aber das Rittertum ins Zentrum seiner Untersuchung: Rudolf Kilian Weigand: Halbritter und Schildknechte (oder: Raub und Brand). Zur Kategorisierung und Illustrierung sozialer Randgruppen im „Renner“ des Hugo von Trimberg, in: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften, Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 6.–8. April 2000, hg. v. Hans-Jochen Schiewer/Karl Stackmann, Tübingen 2002, S. 83–105. Auf den Zusammenhang von funktionaler Dreiteilung und Wirklichkeit kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Verwiesen sei auf Otto Gerhard Oexle: Die Funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, hg. v. Winfried Schulze, München 1988, S. 19–52. So hat schon Augustinus zwar die Freiheit des Menschen als das Ursprüngliche bezeichnet, gleichzeitig aber auch die Unfreiheit als Folge von Noahs Fluch über seinen Sohn Ham begründet (Augustinus, De civitate Dei, 19, 15). Otto Gerhard Oexle: Stand, Klasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe,

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verschafft9: Der Ich-Erzähler beschreibt nämlich, wie er in ein Dorf geritten kommt, in welchem Bauern auf ihren Bäuchen liegen und sich von den ammen die Läuse vom Kopf klauben lassen. Einer der Bauern sieht den Fremden und bittet ihn zu erklären, warum manche Menschen frei und andere unfrei seien: „Vil lieber herre, wie gefüeget sich daz / Daz iu herren ist vil baz / Denne uns armen gebûren sî? / Sint ein liute eigen, die andern frî?“10 Als weitere Bauern betrunken aus einem Wirtshaus hinzukommen, erklärt sich der Autor schließlich widerwillig dazu bereit und erzählt seinen Zuhörern als Begründung eben jene Geschichte von Noahs Fluch. Hier wurde also eine Situation geschaffen, in der die Person des Erzählers dazu genötigt wird, sich vor den Bauern für seine eigenen Privilegien zu rechtfertigen. Laut Klaus Grubmüller sind es dabei zum ersten Mal in der deutschen Literatur die Betroffenen selbst, die nach der Ursache ihres gegenwärtigen Zustandes fragen. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Belehrung nach tradierten Mustern, die Bauern treten vielmehr in eine Diskussionssituation mit der Autorität des Dichters ein. Zurückgeführt werden kann diese literarische Entwicklung wohl auf neue Publikumskreise, die mit der deutschsprachigen Literatur erreicht werden konnten, sowie auf eine allgemeine Ausbreitung von Herrschafts- und Ordnungsdiskussionen.11 In diesem Zusammenhang stellt sich nun aus kunsthistorischer Perspektive die Frage, ob und wie im Renner das Thema der Ungleichheit der Stände auch im Bildmedium seine Umsetzung erfährt. Zunächst muss bemerkt werden, dass der Renner ohne Illustrationen entstanden und gedacht war. Illustrierte Renner-Handschriften sind erst im Zeitraum von 1400 bis 1472 überliefert. Gut hundert Jahre nach seiner Entstehung erfährt das Werk also durch die Beigabe von Bildern eine Veränderung, die sich nicht nur auf die äußere Gestaltung der Handschriften, sondern auch auf das gesamte Werkverständnis auswirkt. Zudem wird der Text der illustrierten Fassung durch eine neue Kapiteleinteilung und

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Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. VI, Stuttgart 1990, S. 155–200, hier bes. S. 182. Über Freiheit und Unfreiheit s. a. Wilhelm Kölmel: Freiheit – Gleichheit – Unfreiheit in der sozialen Theorie des späten Mittelalters, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters (Miscellanea mediaevalia, 12), hg. v. Albert Zimmermann, Bd. II, Berlin/New York 1980, S. 389–407; Herbert Kolb: Über den Ursprung der Unfreiheit. Eine Quaestio des Sachsenspiegels, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, CIII, 1974, S. 289–311. Grubmüller 1979 (wie Anm. 6), S. 99–119. Zur Struktur in Hugos Bauernbelehrung s. a. Rudolf Kilian Weigand: Der ‚Renner‘ des Hugo von Trimberg. Überlieferung, Quellenabhängigkeit und Struktur einer spätmittelalterlichen Lehrdichtung, Wiesbaden 2000, S. 267–280; Ines de la Cuadra: Der ‚Renner‘ Hugos von Trimberg. Allegorische Denkformen und literarische Traditionen, Hildesheim 1999, S. 289–303. Über die ‚Funktionsgruppen‘ im Renner s. a. Jutta Goheen: Mensch und Moral im Mittelalter. Geschichte und Fiktion in Hugo von Trimbergs ‚Der Renner‘, Darmstadt 1990, S. 99–137. „Lieber Herr wie kommt das wohl, dass es Euch Herren so viel besser geht als uns mittellosen Bauern? Sind die einen Menschen leibeigen, die anderen frei?“ (V. 1323–1326), Renner, ed. Ehrismann, 1970 (wie Anm. 1), Übersetzung nach Epperlein 2003 (wie Anm. 1), S. 299. Grubmüller 1974 (wie Anm. 6), S. 110–112.

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Abb. 1: Der Renner des Hugo von Trimberg, Hugo und die Bauern, 1402 (Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Cod. Voss. G.G. Fol. 4, fol. 25r)

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massive Textkürzungen stark modifiziert.12 Das Bildmedium bezieht sich zwar auf den Textinhalt, setzt aber durch die Auswahl und die Gestaltung der szenischen Darstellungen und aufgrund zahlreicher ikonographischer Allusionen neue Schwerpunkte und tritt somit als Vermittlungsinstanz neben den Text. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die einzelnen illustrierten Renner-Handschriften aus unterschiedlichen Entstehungskontexten stammen und somit jeweils auf ein ganz bestimmtes Publikum ausgerichtet sind. Das Bild kann also als visuelle Textinterpretation angesehen werden, wodurch das Werk für jeweils neue Rezeptionsbedingungen aufgearbeitet wird. Um die bildliche Darstellung von Freiheit und Unfreiheit im Renner zu analysieren, soll hier eine Handschrift vorgestellt werden, der bisher von der Forschung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde.13 Sie befindet sich heute in der Bibliothek der Reichsuniversität Leiden und ist auf das Jahr 1402 datiert. Sowohl die wiedergegebenen Wappen als auch der Stil der Minia-

Zur Textredaktion in der illustrierten Fassung (Bz) des Renners s. Weigand 2000 (wie Anm. 9), S. 189–199. Ursula Peters geht kurz auf die Autorenbilder der illustrierten Renner-Handschriften ein, darunter auch auf das der Leidener Handschrift. Allerdings behandelt sie dabei nur die Darstellungsweise des Autors und nicht das Verhalten der Zuhörerschaft. Ursula Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 68–71; s. a. bereits Dies.: Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung, in: Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, hg. v. Matthias Bickenbach/Annina Klappert/Hedwig Pompe, Köln 2003, S. 31–85, hier S. 35. Ein kurzer Verweis auf das Titelbild der Leidener Handschrift findet sich bei Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 221f. Darüber hinaus existiert keine Einzeluntersuchung zu der Leidener Renner-Handschrift. Rudolf Kilian Weigand geht kurz auf das Illustrationsprogramm der Fassung Bz ein und listet anschließend die Bildthemen auf. Weigand 2000 (wie Anm. 9), S. 199–206. Eine Beschreibung der überlieferten Renner-Illustrationen findet sich bei Bruno Müller: Die Titelbilder der illustrierten Renner-Handschriften, in: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, CII, 1966, S. 271–306; Ders.: Die illustrierte Renner-Handschrift in der Bibliotheca Bodmeriana in Cologny-

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turen weisen darauf hin, dass sie im Umfeld des Österreichischen Hofes entstand.14 Bei der Bebilderung der besagten Textpassage wird allerdings nicht das biblische Beispiel illustriert, sondern die Rahmenhandlung: das Treffen des Autors mit den Bauern (Abb. 1, Taf. VI ). Schon in der Überschrift „Von dem pawren und dem maister der das buoch gemacht hat“ wird auf die Protagonisten der Szene verwiesen. Die ganzseitige Miniatur zeigt in der linken Bildhälfte Hugo von Trimberg auf einem Steinthron sitzend. Auf einem Schriftband über ihm ist zu lesen: „Des puochs meister hugo“. Der Autor trägt einen grün gefütterten, blauen Mantel mit geschwänzter Gugel. Seine blonden Locken schauen unter einem Barett hervor. Er wird als junger Mann mit Bartstoppeln charakterisiert. Im Argumentationsgestus ist er einer Gruppe von Bauern zugewandt, die dicht aneinander gedrängt sind und in unterschiedlichen Posen gezeigt werden. Drei Männer stehen: der mittlere mit offenem Wams hält einen Weinkrug in der einen Hand, während er mit der anderen einen Noppenbecher hebt. Zu seiner Rechten legt ihm ein Bärtiger mit Hakennase und Hut den Arm um die Schulter und weist mit erhobenem Zeigefinger auf das Schriftband. Von rechts drängt sich ein Bauer mit halb geöffnetem Mund zu dieser Gruppe. Zu ihren Füßen sitzen drei weitere Männer. Zwei sind einander zugewandt, von denen einer mit seinem Zeigefinger auf Hugo deutet. Der dritte greift sich mit der Hand ans Ohr. Offenbar ist Hugo gerade dabei, seinen Zuhörern die Gründe für ihre Unfreiheit darzulegen. Der Autor wird hier einer Personengruppe gegenübergestellt, von der er sich in vielfältiger Hinsicht unterscheidet. In jugendlichem Ernst wendet er sich an sein Publikum. Sein Gestus und sein Barett weisen ihn als eine gelehrte Autorität aus. Die Bauern hingegen begegnen ihm mehr mit Unverständnis und Unruhe als mit ehrlicher Aufmerksamkeit. Obwohl einer von ihnen auf das Schriftband verweist, während ein anderer in Richtung des Autors zeigt, sind ihre Blicke doch ihren Nachbarn in regem Austausch zugewandt. Mit teilweise fratzenhaften Gesichtern, trinkend und flegelhaft in ihrem Benehmen, scheinen sie den Ausführungen des Dichters nicht wirklich folgen zu können. Ganz anders als Hugo von Trimberg verfährt Eike von Repgow mit der Geschichte von Noahs Fluch, die bereits um 1230 in die Argumentation seines Sachsenspiegels Eingang fand. Als Rechtsbuch erhebt der Sachsenspiegel einen ganz anderen Anspruch als das Lehrgedicht Trimbergs.15 In einem kurzen Exkurs soll nun gezeigt werden, wie in einem anderen Gattungskontext Unfreiheit thematisiert wird und wie sich dies auf die Illustrie-

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Genf (Hs. CG) im Vergleich mit den sonst erhaltenen bebilderten Renner-Handschriften, in: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, CXII, 1976, S. 77–160. Auf Entstehung und Stil kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. Die Autorin wird darauf im Rahmen ihrer Dissertation zur Leidener Renner-Handschrift näher eingehen. S. beispielsweise Gabriele von Olberg: Auffassungen von der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung in Text und Bild des Sachsenspiegels, in: Text-Bild-Interpretationen. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, hg. v. Ruth Schmidt-Wiegand, München 1986, S. 155–170.

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rung auswirken kann. Eike von Repgow bricht nämlich in seinem Werk mit der bis dahin vorherrschenden Begründung der Knechtschaft und widerlegt das biblische Beispiel vom Fluch Noahs. Er prangert stattdessen Gewalt und Zwang als eigentliche Ursache der Leibeigenschaft an: ouch saget man daz eigenschaft queme von kamme noe svne. Noe seinte czwene sone an dem dritten gewok he keiner eigenschaft. kam besaz affricam sem bleip in asya. Jafet vnser vorderer besaczte ev ropam. sus en bleip ir kein des anderen.16

In den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels erfährt dann die biblische Geschichte auch im Bild ihre Umsetzung. Als Beispiel soll an dieser Stelle die Heidelberger Bilderhandschrift angeführt werden (Abb. 2)17: Ihre Illustrationen sind in einer eigenen Bildleiste links

Abb. 2: Sachsenspiegel, Detail, Noah und seine Söhne (links), Kain und Abel (rechts), um 1300, (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod.Pal.germ. 164, fol. 18v)

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„Auch sagen einige Leute, die Leibeigenschaft käme von Ham, Noahs Sohn. Noah segnete zwei Söhne, bei dem dritten erwähnt er keine Leibeigenschaft. Ham besetzte Afrika, Sem blieb in Asien, Japhet, unser Vorfahre, besetzte Europa. Also gehörte deren keiner dem anderen.“ (Landrecht, III, Art. 42 § 3). Zitiert nach Der Sachsenspiegel. Die Heidelberger Bilderhandschrift. Faksimile – Transkription – Übersetzung – Bildbeschreibung, Interaktive CD-Rom, hg. v. Dietlinde Munzel-Everling, Heidelberg 2009. S. hierzu auch Rolf Lieberwirth: Eike von Repchow und sein Sachsenspiegel: Entstehung, Inhalt, Bedeutung, Köthen 1980, S. 37; Ruth Schmidt-Wiegand: Eike von Repgow, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. II, Berlin/New York 1980, Sp. 400–409; Epperlein 2003 (wie Anm. 1), S. 295f. Aufgrund der umfangreichen Literatur zum Sachsenspiegel sei nur verwiesen auf Text-Bild-Inter-

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neben dem Text übereinander in einzelnen Bildzeilen angeordnet. Die vierte Bildzeile auf fol. 18v zeigt links Noah in seiner Arche, flankiert von seinen Söhnen. Noah blickt Sem und Japhet an und segnet sie mit erhobener Hand, während er Ham den Rücken zuwendet.18 Rechts davon ist Kain dargestellt, der seinen Bruder Abel erschlägt. Beide Darstellungen verbildlichen biblische Autoritätszeugnisse zur Begründung der Freiheit und Unfreiheit, die im Text widerlegt werden. Die Darlegungen Eike von Repgows setzen sich dann bis auf die folgende Seite fort, auf der auch weitere Illustrationen folgen. So stehen die Noah-Geschichte und ihre bildliche Umsetzung nicht alleine, sondern im Kontext einer Argumentation gegen die Leibeigenschaft.19 An dieser Stelle sei nun kurz auf das Bild eingegangen, das am Ende von Eikes Ausführungen steht und in diesem Zusammenhang unbedingt berücksichtigt werden muss.20 Abb. 3: Sachsenspiegel, Detail, Die Ausübung von Auf fol. 19r (Abb. 3), also im aufge- Gewalt, um 1300 (Heidelberg, Universitätsbiblioschlagenen Buch gegenüber den bibli- thek, Cod.Pal.germ. 164, fol. 19r) schen Beispielen, ebenfalls im vierten Register, ist ein Mann dargestellt, der mit einem Halseisen an eine Säule gekettet ist. Ihm gegenüber steht ein durch einen Schapel im Haar gekennzeichneter Herr, der mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand das Halseisen berührt. Dieses Bild bezieht sich auf den Schluss, den Eike von Repgow aus seiner Argumentation zieht. Die Fesseln stehen für Zwang und Gefängnis. Das Berühren des Halseisens zeigt, dass der Herr Gewalt über den Untergebenen ausübt, während er mit seinem erhobenen Zeigefinger auf sein vermeintliches Recht verweist.21 In der dazugehörigen Textstelle heißt es:

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pretationen 1986 (wie Anm. 15). Eine Auswahl der wichtigsten und weiterführenden Literatur in: Sachsenspiegel, ed. Munzel-Everling, 2009 (wie Anm. 16). Hier wird nicht die übliche Darstellung gewählt, die den schlafenden Noah mit Ham zeigt, der auf seine Scham verweist, während sich Sem und Japhet entweder abwenden oder den Vater bedecken (beispielsweise in Bibel- oder Weltchronikillustrationen). Zur Struktur des Artikels III 42 des Sachsenspiegels Landrecht s. die Analyse bei Kolb 1974 (wie Anm. 8), S. 301–305. Während Schmidt-Wiegand zur Begründung von Freiheit und Unfreiheit nur die Noah-Geschichte als Beispiel behandelt, werden bei Epperlein die beiden Seiten mit kurzen Beschreibungen der Illustrationen wiedergegeben. Ruth Schmidt-Wiegand: Text und Bild in den Codices picturati des „Sachsenspiegels“: Überlegungen zur Funktion der Illustration, in: Text-Bild-Interpretationen 1986 (wie Anm. 15), S. 11–31, hier S. 23f. und S. 31; Epperlein 2003 (wie Anm. 1), S. 296, 298. Deutung der Gesten in Sachsenspiegel, ed. Munzel-Everling, 2009 (wie Anm. 16).

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Nach rechter warheit so hat eigenschaft begin von getwange. vnde von gevancnisse vnde von vnrechter gewalt di man von alder an vnrechte gewonheit geczogen hat. vnde nv vor recht haben will.22

Im aufgeschlagenen Buch stehen sich also die Illustrationen des jeweils vierten Registers wie Antithesen gegenüber: die biblischen Exempla links und die Ausübung von Gewalt als tatsächliche Ursache von Freiheit und Unfreiheit rechts. Bei Hugo von Trimberg und Eike von Repgow wird folglich ganz unterschiedlich verfahren. Die Frage der Freiheit und Unfreiheit wird im Renner nicht durch eine komplexe Argumentation in Bild und Text behandelt, die Ungleichheit der Stände wird vielmehr durch die Gegenüberstellung von Autor und Bauer visualisiert und so in einem Bild komprimiert. Eine Konfrontation von Autor und Bauern ist auch Thema einiger Lieder des Neidhart von Reuenthal, die im dörflichen Milieu spielen. Der höfische Sänger tritt dabei in seinem Werben um ein Mädchen in Konkurrenz zu den Bauern, die durch ihre unpassende und geckenhafte Aufmachung, ihr grobes Benehmen und ihre Streitsucht auffallen.23 Die Beschreibung des dörflichen Milieus entspricht dabei nicht unbedingt den realen Verhältnissen. Vielmehr werden die dörfliche Szenerie und die Bauern parodiert und ins Satirische übersteigert. Die Figur des Bauern steht hier beispielhaft für unhöfisches Benehmen und kann als Exempel für die Überschreitung ständischer Normen verstanden werden.24 Diese Überschreitung wird auch in dem einzigen Autorenbild von Neidhart, das in der Manessischen Liederhandschrift25 überliefert ist, bildlich wiedergegeben (Abb. 4). Dort ist das Zusammentreffen des Autors mit den Bauern geschildert: Neidhart wird mit langem rotem Rock, grünem pelzgefüttertem Mantel und umgeben von Bauern dargestellt. Er streckt seine rechte Hand in die Höhe und hält sich die Linke in abwehrendem Gestus

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„Nach rechter Wahrheit hat die Leibeigenschaft ihren Anfang von Zwang und von Gefängnis und von unrechter Gewalt, die man von alters her als unrechte Gewohnheit herangezogen hat und nun für Recht ausgeben will.“ (Art. 42 § 6). Zitat und Übersetzung nach Sachsenspiegel, ed. Munzel-Everling, 2009 (wie Anm. 16). Die Lieder Neidharts, hg. v. Edmund Wießner. Fortgef. v. Hanns Fischer, 5. verb. Aufl. hg. v. Paul Sappler. Mit einem Melodienanhang v. Helmut Lomnitzer, Tübingen 1999. Günther Schweikle betont, dass Neidhart den Begriff des dörper im Gegensatz zu dem des bûre, gebûre benutzt, und verweist auf die Verwendung des dazugehörigen Substantivums dörperheit als ‚unhöfisches Benehmen‘. Demnach wäre das Wort eben nicht auf den Bauernstand bezogen, sondern auf ein Verhalten, das von der höfischen Norm abweicht. Günther Schweikle: Neidhart, Stuttgart 1990, S. 80–83 und 123–129, s. a. Ders.: Dörper oder Bauer. Zum lyrischen Personal im Werk Neidharts, in: Ders.: Minnesang in Neuer Sicht, Stuttgart/Weimar 1994, S. 417–439, zuvor abgedruckt in: Das Andere Wahrnehmen: Beiträge zur Europäischen Geschichte, Festschrift für August Nitschke, hg. v. Martin Kintzinger/Wolfgang Stürner/Johannes Zahlten, Köln 1991, S. 213–231. Zudem sei verwiesen auf Siegfried Beyschlag: Neidhart und Neidhartianer, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. VI, Berlin/New York 1987, Sp. 871–893. Codex Manesse. Die Grosse Heidelberger Liederhandschrift. Faksimile-Ausgabe des Codex Pal. Germ. 848 der Universität Heidelberg. Interimstexte v. Ingo F. Walther, Frankfurt a.M. 1975–1979.

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vor die Brust. Links und rechts von ihm stehen jeweils zwei Bauern mit bunten, knielangen Röcken, farbigen Beinkleidern sowie Kugelhauben und bewaffnet mit Schwertern und Dolchen. Sie halten den Sänger an den Armen fest und heben die Hände in die Höhe. Ohne auf die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Szene im Einzelnen einzugehen, ist hier eine Bedrängung des Dichters durch die Bauern nicht zu leugnen.26 Wie bereits Hella Frühmorgen-Voss festgehalten hat, ist die Darstellung auf das Œuvre Neidharts zu beziehen, da hier die Figurenwelt seiner Bauernlieder gezeigt wird.27 Es handelt sich allerdings nicht um eine bestimmte Szene seiner Lieder28, vielmehr scheint auch hier das Thema der Standesgrenzen und ihre Überschreitung allgemein verbildlicht zu sein, indem die Bauern mit gecken- und tölpelhaftem Gehabe den adeligen Autor umringen. Obwohl dieses Autorenbild in einem anderen

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Abb. 4: Große Heidelberger Liederhandschrift C, Neidhart, Anfang 14. Jh. (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, fol. 273r)

Aufgrund der umfangreichen Literatur zur Manessischen Liederhandschrift sei hier zusammenfassend verwiesen auf http://digi.ub.uni-heidelberg.de/cpg848. Weiterführende Literatur zur NeidhartMiniatur bei Lothar Voetz: Beobachtungen zur Neidhart-Miniatur – Miniatur im Codex Manesse, in: Ars et Scientia. Studien zur Literatur des Mittelalters und der Neuzeit. Festschrift für Hans Szklenar zum 70. Geburtstag, hg. v. Carola L. Gottzmann/Roswitha Wisniewski, Berlin 2002, S. 136–156. Über die unterschiedlichen Deutungen der Neidhart-Miniatur s. zusammenfassend Voetz 2002 (wie Anm. 25), S. 139f. Hella Frühmorgen-Voss: Bildtypen in der Manessischen Liederhandschrift, in: Werk-Typ-Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, hg. v. Ingeborg Glier, Stuttgart 1969, S. 184–216, hier S. 209. Der Versuch von Walter Koschorreck, einige der Bauernfiguren mit bestimmten Figuren der Winterlieder in Verbindung zu bringen, wird von Lothar Voetz überzeugend widerlegt. Walter Koschorreck: Die Bildmotive, in: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. II. Kommentar zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg, hg. v. Walter Koschorreck/Wilfried Werner, Kassel 1981, S. 101–127, hier S. 108; Voetz 2002 (wie Anm. 25), S. 140.

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Kontext als bei Hugo von Trimberg steht, werden doch ähnliche Mittel gewählt, um den Unterschied zwischen den Personengruppen zu betonen. Der Autor kann jeweils durch seine Kleidung und Physiognomie einem höheren Stand zugeordnet werden. Auch durch seine Verortung im Bildraum wird seine Bedeutung hervorgehoben: Während Hugo auf einen Steinthron sitzend die gesamte linke Bildhälfte einnimmt, hebt sich Neidhart durch seine Größe von den Bauern ab, in deren Mitte er steht. Das Fehlverhalten der Bauern wird bei Hugo durch Unaufmerksamkeit und Trunkenheit gekennzeichnet, in der Manessischen Liederhandschrift hingegen weist das unerlaubte Waffentragen und die bunte Kleidung der Bauern sowie ihr unbotmäßiges Agieren dem Sänger gegenüber auf ihr nicht standesgemäßes Verhalten hin. Das Zusammentreffen von Autor und Bauern wird dagegen ganz unterschiedlich gelöst. Während Neidhart sich der Angriffe der Bauern erwehren muss, versucht sich Hugo in der Unterweisung der trunkenen Bauern. Die Komposition im Renner steht damit offenbar in der MotivTradition von Lehr- oder Predigtszenen, in denen eine Sprecher-Zuhörer-Situation ganz ähnlich geschildert wird.29 Als Vergleich bietet sich das Eingangsbild zum Schachtraktat des Dominikaners Jacobus de Cessolis an. In einer Handschrift der Abb. 5: Prosa-Übersetzung des Schachtraktats von Prosaübersetzung des Traktats, die sich Jacobus de Cessolis, Autorenbild (London, The heute in der British Library befindet, wird British Library, Add. 21458, fol. 2v) dem Text ein Autorenbild vorangestellt (Abb. 5): Ein Dominikaner steht im Argumentationsgestus auf einer hölzernen Kanzel. Ihm gegenüber sitzt eine Gruppe von sechs Zuhörern auf dem Boden, deren Blicke dem Redner zugewandt sind, während einer von ihnen seinen rechten Zeigefinger erhebt. In 29

Verschiedene Typen geistlicher und wissenschaftlich-gelehrter Literatur zeigen Lehrerbilder. Diese werden bezeichnet als Unterweisungs-, Predigt- oder Lehrszenen bzw. als magister-cum-discipulisSzenen. Der Vortragende wird mit entsprechenden rhetorischen Gesten der Unterweisung, der Disputation oder Demonstration vor bzw. in Interaktion mit einer wechselnden Personengruppe gezeigt. S. hierzu beispielsweise Ursula Peters: Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der romanischen und deutschen Liederhandschriften, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, CXXX, 2001, S. 293–430, hier S. 421f.

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der ersten Reihe sitzen drei Männer, während in der hinteren Reihe eine Frau mit Rise steht, die von zwei barhäuptigen Knaben flankiert wird. In der dargestellten Belehrung durch den Mönch geht es ebenfalls um die Ständeordnung, da der Autor in seinem Werk die mittelalterliche Gesellschaft mit Hilfe einer Schachallegorese beschreibt. Dabei werden die Schachfiguren und ihre Bewegungen auf dem Spielfeld zu einer kritisch-moralischen Beschreibung und Unterweisung der verschiedenen Stände und Berufsgruppen genutzt und anhand zahlreicher Exempla und Sentenzen veranschaulicht.30 Die Belehrungssituation ist jener im Renner also ganz ähnlich. Allerdings ist der Textbezug bei de Cessolis noch ein anderer als bei Hugo von Trimberg oder auch Neidhart, denn das Autorenbild des Schachtraktats bezieht sich auf den IchProlog, in dem eine Predigtsituation beschrieben wird.31 Der Leser des Textes bzw. der Betrachter der Illustration kann sich somit mit der Hörerschaft im Bild identifizieren32, die hier als ein aufmerksames, bürgerliches Publikum gekennzeichnet ist. Die Autorität des Autors wird, wie in der Darstellung Hugos von Trimberg, durch seine exponierte Positionierung im Bild hervorgehoben. Während Jacobus de Cessolis erhöht auf einer Kanzel steht, sitzt Hugo von Trimberg auf einem Thron. Ihre Gebärden weisen beide als Lehrende aus: Indem sie den Zeigefinger der linken Hand nach dem Zeigefinger bzw. der Handfläche der anderen Hand ausstrecken, scheinen sie die einzelnen Argumente an den Fingern abzuzählen.33 Die Zuhörer im Schachzabelbuch verhalten sich tadellos, indem sie die Autorität des Dominikaners anerkennen und gespannt seinen Worten folgen. So gelten hier auch die Nichtadeligen als erziehungswürdig, eine Vorstellung, die als Charakteristikum der Bettelorden angesehen werden kann.34 Es sind hier die Zuhörer, mit denen sich die Rezipienten identifizieren sollen. Im Gegensatz zu den aufmerksam

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Zu den Prosaübersetzungen der Schachzabelbücher s. Das Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis, O.P. in mittelhochdeutscher Prosa-Übersetzung, hg. v. Gerard F. Schmidt, Berlin 1961. S. a. Melanie Urban: Visualisierungsphänomene in Mittelalterlichen Schachzabelbüchern, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. v. Horst Wenzel/C. Stephen Jaeger, Berlin 2005, S. 139–166; Anton Schwob: Schachzabelbücher, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. VIII, Berlin/New York 1992, Sp. 589–592. „Ich prueder Jacob von Cassalis, prediger orden, pin überwunden von der prueder gepet vond weltlicher studenten vnd ander edler lawt, die mich habent hören predigen daz spil, daz da haisset schachzabel, daz ich davon gemacht han ditz püch.“ (V. 1–4). Schachzabelbuch, ed. Schmidt, 1961 (wie Anm. 30), S. 25. In der Illustrierung wird der Tradition der lateinischen Cessolis-Überlieferung gefolgt. Peters 2003 (wie Anm. 13), S. 35. Melanie Urban geht davon aus, dass der Hörer/Leser in die Zuhörerschar integriert wird, da die Rezipienten Teil der entworfenen Ordnung sind. Urban 2005 (wie Anm. 30), S. 152. Zur Ausprägung der einzelnen Gesten s. beispielsweise Francois Garnier: Le langage de l’image au moyen âge, Bd. II: Grammaire des gestes, Paris 1989, S. 108–111; Jean-Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im Europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 264–269 (Jean-Claude Schmitt: La raison de gestes dans l’occident médiévale, Paris 1990, S. 253–288). Schwob 1992 (wie Anm. 30), Sp. 590.

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folgenden Bürgern im Schachtraktat, begegnen die Bauern im Renner dem Redner mit offensichtlichem Desinteresse. Bei Hugo – wie schon bei Neidhart – wird einer höfischen Gesellschaft anhand der Darstellung der Bauern und deren unangemessenen Agierens ein unhöfisches Verhalten vor Augen geführt. In diesem Fall wird das Bild des Autors zum höfischen bzw. gelehrten Gegenpol und damit zu einem Identifizierungsangebot an den Leser/Betrachter. Die Darstellung des unkundigen Publikums wird zur Begründung der sozialen Unterschiede genutzt und somit die Abgrenzung von den niederen Ständen hervorgehoben. Die Frage, die sich nun stellt, ist, auf welche gesellschaftlichen Entwicklungen die Illustrierung des Renners möglicherweise reagiert. Schließlich wurde ein bereits hundert Jahre alter Text gekürzt und bebildert und somit für ein bestimmtes Publikum neu zugänglich gemacht. Allerdings scheinen die gesellschaftlichen Vorstellungen, die dort propagiert werden, nicht einmal in der Entstehungszeit des Textes den realen Verhältnissen entsprochen zu haben. Trotzdem hielt man in der Lehrschrift daran fest, obwohl das aufblühende Städtewesen gerade gesellschaftliche und politische Veränderungen von beträchtlicher Dynamik mit sich brachte, die diesem statischen Gesellschaftsmodell zu widersprechen begannen.35 Ebenso kann auch die Manessische Liederhandschrift als eine konservative Lyriksammlung verstanden werden, die traditionell höfische Normen vertrat. Zwar ist sie im bürgerlichen Umfeld der Stadt Zürich entstanden, doch konnte schon Joachim Bumke aufzeigen, dass das Interesse der literarisch engagierten Mitglieder des Stadtpatriziats darauf ausgerichtet gewesen zu sein scheint, die alten adeligen Leitbilder ritterlicher Vollkommenheit und höfischer Minne für sich zu aktualisieren.36 Anders verhält es sich bei der Leidener Renner-Handschrift: Sie ist dem Umfeld des Habsburger Hofes zuzuordnen. Zu ihrer Entstehungszeit, also um 1400, war die politische Lage in Österreich äußerst unruhig. Die Streitigkeiten um die Erbfolge lähmten die Macht der Habsburger, was zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Geistliche und weltliche Grundherren und die Vertreter der landesfürstlichen Städte sahen zunehmend ihre Interessen gefährdet und zogen Gesetz und Recht immer stärker an sich. So wurden die Landstände zu einem wichtigen Faktor der Landespolitik und konnten gegenüber den Landesfürsten zunehmend selbstbewusster auftreten.37 Die Bedeutung der Landstände scheint zwar auf den ersten Blick nicht allzu viel mit der Gegenüberstellung des Autors und der Bauern in der Leidener Renner-Handschrift zu tun zu haben. Es ist jedoch bezeichnend, dass ein hundert Jahre alter Text neu aufgelegt und mit einer reichen Bebilderung aufgewertet wird, obwohl er konservative Gesellschafts- und Moralvorstellungen vertritt, die durch die Bebilderung sogar noch hervorgehoben werden. Anders als in der

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Epperlein 2003 (wie Anm. 1), S. 240–244; Kölmel 1980 (wie Anm. 8), S. 393f. Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979, S. 293f. S. a. Herta-Elisabeth Renke: Der Manessekreis, seine Dichter und die Manessische Handschrift, Stuttgart/Köln/Mainz 1974. Günther Hödl: Habsburg und Österreich 1273–1493, Wien/Köln/Graz 1988, S. 147–156.

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Manessischen Liederhandschrift ist der Adressat hier kein städtisches Publikum, das höfische Wertevorstellungen für sich in Anspruch nimmt. Ganz im Gegensatz zielt diese Handschrift auf eine höfische Gesellschaft ab, welche an den alten Ordnungsvorstellungen festhält, wohl als Reflex auf eine sich im Wandel befindende Gesellschaftsstruktur. Dass durch die Bebilderung allerdings auch die Möglichkeit besteht, dem Text eine andere Aussagekraft zu geben, um damit ein anderes Publikum anzusprechen, zeigt ein kurzer Ausblick auf eine weitere Renner-Handschrift. Sie befindet sich heute in New York und kann auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert werden (Abb. 6)38: In der unteren Bildebene sitzen drei Bauern am Boden: einer liegt im Schoß einer amme, die ihn laust. Der mittlere hält einen Krug und reicht einen Becher dem dritten, der gerade etwas isst. Zwei weitere Bauern haben sich – mit Krug und Becher ausgestattet – auf die nächsthöhere Bildebene begeben, wo sie sich mit ihrer Frage an den Autor wenden, der sein Pferd am Zaun hinter ihnen angebunden hat. Er selbst hat sich auf den blanken Boden zu Füßen der Bauern gesetzt und erklärt ihnen in ausgeprägtem Argumentationsgestus ihre Situation. Das Neuartige, das Grubmüller in der dazugehörigen Textstelle sieht (s.o.), ist hier auch im Bild zu spüren: Es sind die Bauern, die sich erheben und ihre Situation hinterfragen. Ihre Physiognomie zeigt zwar auch hier grobe Züge, und der Abb. 6: Der Renner des Hugo von Trimberg, Hugo und Blick des einen Bauern lässt Unver- die Bauern, um 1460 (New York, The Pierpont Morgan ständnis vermuten. Auch weist die Library, M. 763, fol. 26r, Foto: Graham Haber 2010) Kleidung des Autors ihn als einen Gelehrten aus. Trotzdem handelt es sich nicht um eine klassische Lehrsituation, und ein Bruch ist deutlich zu spüren. Schließlich hat sich eine Gruppe von Bauern von den am Boden lagernden gelöst und ist dem Autor entgegengetreten. Im Gegenzug hat sich der

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Autor auf den Boden gesetzt und lässt sie somit auf sich herunterblicken. Während also in der Leidener Handschrift die konservative Aussage des Textes durch das Bild nur noch bestärkt wird, gelingt es in der New Yorker Handschrift, durch die Bebilderung neue Blickwinkel einzunehmen. So wird hier im Bild das Hinterfragen der althergebrachten Ständeordnung spürbar.

Farb- und Bildsignale des Domkapitels Regensburg Renate Kroos Im Unterschied zu manchen anderen Baumonographien wurde beim Projekt „Dom Regensburg“1 von Anfang an eine Gebrauchsgeschichte eingeplant. So habe ich alle erreichbaren Rechnungsbände des Domkapitels durchgesehen, in denen es eine Menge Schneiderrechnungen gab, viele nur im laufenden Text knapp zusammengefasst, mehrere im ausführlichen Original mit Einzelposten. Gesucht wurde dort vor allem nach Paramenten (Farbe, Material, Gebrauch im Kirchenjahr) und nach sonstigen liturgischen Textilien. Häufiger begegneten aber auch Reparaturen und Neuanfertigungen von „Kirchenröcken“ oder „Chorröcken“; benötigt wurde viel blaues und wenig rotes Tuch, schwarzes Leinen als Futterstoff und Knöpfe. Allmählich, mit Zuhilfenahme der Kapitelsprotokolle klärte sich die Sachlage: Es handelte sich um Dienstkleidung für weltliche wie geistliche Dombedienstete, für Mesner, Ministranten, Musiker (mit Ausnahme der Trompeter, die trugen Livree mit Hut und Degen2, siehe unten). – Einige ausgewählte Belege: blaue Kirchenröcke für Choralisten 1631, für Mesner und Ministranten 1663/1664, für den Säckelträger (den Geldsammler im Gottesdienst) und Musikanten3 1770; wenig rotes Tuch für Krägen 1748 und 1756.4 Wie viele andere liturgische und halbliturgische Traditionen blieb auch diese Dienstkleidung im purifizierten, entbarockisierten Dom gebräuchlich, so nachweisbar 1850/1851.5 Die vermutliche Form sieht man bei einem Mesner des DomNebenstifts St. Johann um 1820: einen langen und weiten Talar, der etwaige unpassende oder abgewetzte Zivilkleidung verdeckte.6 Wo die Farbe näher bestimmt ist, heißt sie „Veiel-“ oder „Feielblau“7, das heißt zu Violett tendierend, es handelte sich also um einen

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S. vorläufig Achim Hubel/Manfred Schuller (unter Mitarbeit v. Friedrich Fuchs und Renate Kroos): Der Dom zu Regensburg – Vom Bauen und Gestalten einer gotischen Kathedrale, Regensburg 1995, S. 5f. Renate Kroos: Quellensuche für einen Dom. Beispiel Regensburg, in: Kunst und Liturgie im Mittelalter (Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, Beiheft zu Bd. XXXIII), hg. v. Nicolas Bock u.a.‚ München 2000., S. 47. Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg (BZAR), BDK 9387, S. 267. BZAR, BDK 3912, fol. 22v (veilblaues Tuch, schwarzes Leinen für Futter); BDK 8749, Nr. 55. (Musikantenröcke); BDK 4158, fol. 83v. BZAR, BDK 8809, S. 62. BZAR, BDK 4348, fol. 31r. St. Johann in Regensburg. Vom Augustinerchorherrenstift zum Kollegiatstift 1127, 1290, 1990 (Bischöfliches Zentralarchiv und Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg. Kataloge und Schriften, 5), hg. v. Paul Mai, München/Zürich 1990, S. 234, Abb. 79a. BZAR, BDK 3912, fol. 23v (1631/1632); BDK 4005, S. 75 (1664/1665, dunkelblaues Tuch).

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gedeckten, zurückhaltenden Ton. – Die im Chordienst darüber getragenen schmucklosen Überwürfe aus weißem Leinen sind 1617 und 1792 erwähnt.8 Vergleichsweise spärlich finden sich Belege für rote Dienstkleidung beim Domkapitel, nach meinen Kenntnissen nur für den ‚Außendienst‘. Speziell gilt das für den Kapitelsboten, der mit Briefschaften innerhalb und außerhalb der Stadt unterwegs war. Ausgaben für rotes Tuch und – hier weißes – Leinenfutter begegnen 1688 und 17999, auch für Messing-, das heißt goldleuchtende Knöpfe. Und dazu gehört ein silberner Botenschild mit dem Kapitelswappen (siehe unten), erwähnt 1700.10 Andere rote Gewänder, nun Überwürfe aus gefärbtem Leinen, tragen die Fahnenträger bei Prozessionen, 1779 und 1791, bei der letzteren Rechnung dazu blaue Krägen11; da es sich nicht um Angestellte des Domkapitels handelte, war es sinnvoll, die bescheidene Alltagskleidung großflächig zu überdecken. – Auch zum Thema Außenwirkung gehörte die Prunkkutsche des Domkapitels, 1763 beschloss man, sie wie die vorherige rot anstreichen zu lassen.12 Um die inhaltliche, somit auch signalhafte Qualität dieser Farbordnung zu begreifen, gibt es zwei Hilfs- oder Analogiewege, einmal Habit und weitere Obergewandung beim Dienstherrn, das heißt bei den Domkapitularen, außerdem die im Vergleich zu den Paramenten farbig verknappten Textildekorationen im Domchor, also Baldachine, Behänge an Chorgestühl und Bischofsthron, eine Tücherwand hinter dem Hochaltar, Bodenteppiche und Staffeltücher. Am auffälligsten für die Laien jenseits von Lettner beziehungsweise Chorgitter waren die ‚Spaliere‘ genannten langen Behänge am Triforium. Auf der Dom-Innenansicht von 1709 sind alle sichtbar13, in leuchtendem Rot, gleichartig die Stuhlhauben über den Sitzen der Reichstagsgesandten vorn im Mittelschiff.14 Zu den Farben der Domherrengewänder innerhalb wie außerhalb ihrer amtlichen Funktionen ist wenig bekannt, auf mittelalterlichen Darstellungen, zum Beispiel als Stifter von Glasgemälden, sieht man nur das lange weiße Superpelliceum zu rotem Birett.15 Eine Regensburger Synode von 1377 verbot den Geistlichen ausdrücklich Rot (und Grün), ebenso die Statuten von 1474; beide Gewandfarben begegnen in einem Nachlassinventar von 1361.16 1668 und 1696 trugen sie schwarzen Talar und blauen Habit; 1772 heißt es, statt der bisher gebräuchlichen schwarzen Talare seien nun violettblaue mit rotem

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BZAR, BDK 4406, unpaginiert; BDK 10013, Inventar 1792, fol. 46v. BZAR, BDK 9267, fol. 140r; BDK 9371, S. 439. BZAR, BDK 9276, fol. 46r (Reparatur des zerbrochenen silbernen Wappenschildes). BZAR, BDK 8832, S. 109; BDK 8850, S. 186f. BZAR, BDK 3656, fol. 23r. Hubel/Schuller 1995 (wie Anm. 1)‚ Abb. 138; Kroos 2000 (wie Anm. 1), S. 52 mit Anm. 56. BZAR, BDK 9271, fol. 49v und 97v (1665). Gabriela Fritzsche (unter Mitwirkung v. Fritz Herz): Die mittelalterlichen Glasmalereien im Regensburger Dom (Corpus Vitrearum Medii Aevi. Deutschland, 13/1)‚ Berlin 1987, S. 64 und Abb. 69 (auch Schuhe rot), S. 95 und Abb. 140, S. 107 und Abb. 147, S. 307 und Abb. 532, alle 1. Hälfte 14. Jh. Monumenta boica, XV, 1787, S. 575; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 27463, S. 5; Monumenta boica, LIV, 1956, Nr. 441.

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Ausputz üblich, Rot nur in kleinen Partien, als Aufschläge, Futter, Quaste am (blauen) Birett und um die Knöpfe.17 Rot als Rangzeichen erscheint aber schon früher, 1476, bei den Schnüren am Almutium, zur Unterscheidung von den Kanonikern der beiden Nebenstifte Alte Kapelle und St. Johann, erwünscht, weil diese gemeinsam mit dem Domklerus in Prozession gingen.18 Man sieht das auf dem kaum späteren Bild eines Hostienwunders (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) bei den Begleitern des Bischofs, hier auch in roten Talaren.19 Aufs Ganze gesehen wird also das strenge geistliche Schwarz erst zu Blau beziehungsweise Violett gemildert, dann mit Rot aufgeputzt. Noch deutlicher wird das bei den textilen Chordekorationen, nach einem Inventar von 1525 in Weiß, Rot und Schwarz20, spätestens ab 1607 in Rot, Blau und Schwarz, letzteres nur für Totenmessen, Anniversare und Allerseelen.21 Hier betont das herrscherliche Rot nicht etwa einzelne kirchliche Hochfeste, sondern wird über lange Zeiten im Kirchenjahr gebraucht und muss nur zu den Bußperioden, Advents- und Fastenzeit dem Blau weichen, bei der Totenmemorie dem Schwarz22; zu Karfreitag werden alle Textilien entfernt. Nur Rot sieht man auf dem Dombild von 170923, dort auch gleichartige rote Tücher über dem Gesandtengestühl vorn im Mittelschiff, also für die Vertretungen regierender Häupter. Wie stolz sich das Domkapitel als regierende Korporation sah, erkennt man in seiner Formulierung, es vertrete in corpore „statum imperii“ (1763)24, und an seinen wiederholten Protesten bei der Stadt, wenn bei der jährlichen Prozession zum Wolfgangsfest die Stadtwache auf dem Weg nach St. Emmeram mal wieder versäumt hatte, das Gewehr zu präsentieren.25 – Es unterscheiden sich nicht nur die Farben der Chorbehänge, speziell der ‚Spaliere‘, sondern auch die Stoffqualitäten: rote Seide, auch mit Goldborten, blaues Tuch mit gelben Wollborten.26 Nur wenig Anhaltspunkte erbringen hingegen die verstreuten, eher dürftigen Notizen zum liturgischen Farbgebrauch, einmal blaue Paramente für die Bußtage der Quatember (1804), einmal für werktags (1791), also für dezidiert unfestliche

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BZAR, BDK 9256, fol. 115r; BDK 9271, 2. Zählung fol. 4r; BDK 9344, S. 5f. (wie beim Domkapitel Freising). Ferdinand Janner: Geschichte der Bischöfe von Regensburg, Bd. III, Regensburg/New York/Cincinnati, OH 1886, S. 593. Regensburg im Mittelalter, hg. v. Martin Angerer/Heinrich Wanderwitz/Eugen Trapp, Regensburg 1995, S. 439ff. und Farbtaf. 26 (Isolde Lübbeke). München, Hauptstaatsarchiv, Hochstift Regensburg Lit. 116, fol. 97v. BZAR, BDK 10012, Inventar 1607, unfoliiert (blaue Kanzelbehänge); ebd. Inventar 1672, unfoliiert (blaue Antependien). Zum Gebrauch von Schwarz: BZAR, BDK 10012, Inventar 1555/1567, unfoliiert; BDK 8846, S. 252 (schwarze ‚Spaliere‘ am Tag vor Allerseelen). S. hier Anm. 13. BZAR, BDK 9334, S. 469. BZAR, BDK 9303, S. 131 (1731); BDK 9307, S. 495; BDK 9319, S. 95; BDK 9326, S. 135, 247 (1754 und 1755). BZAR, BDK 8838, Nr. 170; BDK 8800, S. 46.

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Gelegenheiten27, mehrmals für Zubehör in der Vorfasten- und Fastenzeit, zu Lichtmess blaue Fastenteppiche, zu Gründonnerstag (Ölweihe) ein blau überzogenes Kruzifix.28 Unübersichtlich ist der Farbgebrauch bei den Domtrompetern und dem zu ihrer Truppe gehörigen Pauker; sie trugen, wie erwähnt, Livree mit Hut und Degen, letzteren nicht nur dekorativ. Beispielsweise zog der Choralist und Trompeter Marx Haßeneder 1682 als Feldtrompeter gegen die Türken, kam heil zurück und blies weitere Jahrzehnte im Dienst des Domkapitels.29 Die Domherren bevorzugten Anwärter, die auch andere Instrumente spielen und/oder singen konnten, dann also mit den blau gekleideten Dommusikern zusammenstanden, in Livree mit Hut, Degen und Violine oder auch im blauen Tuchrock? Für die Livreefarbe der fest angestellten Domtrompeter fand ich nur winzige Indizien, Trompetenquasten bzw. -schnüre in Rot und Gelb (1777)30; man könnte vermuten, dass die Festmusik analog zu den festlichen Chorbehängen in Rot und Gold/Gelb paradierte. Deutlich wird das Prinzip ‚wer zahlt, schafft an‘, das heißt macht seine Ausgaben öffentlich sichtbar, als 1764 ein vierter Trompeter im Dom mit sächsischer Livree antrat, offensichtlich vom amtierenden Bischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen alimentiert.31 Also darf man wohl schließen, dass die Anfertigung von Paukenfransen aus (hell)blauer und weißer Seide 1717/1718, 1734 und 1768 auf Zuzahlungen der Wittelsbacher Fürstbischöfe, Joseph Clemens (1685–1716), Clemens August (1716–1719) und Johann Theodor (1719–1763), beruhte.32 Da in Regensburg oft über Jahrzehnte kein Bischof mit eigener Hofmusik anwesend war, engagierte das Domkapitel zu Hochfesten oftmals (gut zu bezahlende) Trompeter von geistlichen und weltlichen Regenten, die mit Gefolge in Regensburg weilten, so vom Erzbischof von Salzburg, den Bischöfen von Eichstätt und Passau, den Fürsten Lobkowitz.33 Die werden dann wohl in ihrer eigenen Livree aufgetreten sein. Auch kamen, vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, konfessionsübergreifend die Stadtpfeifer der protestantischen Kommune Regensburg zu Hilfe (Stadtfarben Weiß und Rot34)

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BZAR, BDK 8876, S. 175; BDK 8850, S. 176. Bibliothek der Stadt Regensburg, cod. Rat. ep. 60, im unpaginierten Teil (Mesnerbuch des Doms, Ende 18. Jh.). BZAR, BDK 9263, fol. 42r (1680, ein guter Trompeter); BDK 9264, fol. 178r (auch Choralist) und 298v (will Abschied, Feldtrompeter werden, 1682), fol. 199r (kann wiederkommen); BDK 9265, S. 467f. (will nach Feldzug wieder im Dom blasen, 1684); BDK 9266, fol. 31v (ist wieder da); BDK 9288, fol. 6v (ist ca. 70 Jahre alt, 33 Jahre am Dom, Tochtermann kann Nachfolger werden, 1713). BZAR, BDK 8830, S. 102; BDK 4132, fol. 82v. BZAR, BDK 9335, S. 505f. (der vierte Trompeter bekommt eine Uniform nach der sächsischen Livree – und der Dompauker einen gleichfarbigen Rock). BZAR, BDK 8772, S. 63; BDK 8789, S. 40; BDK 8821, S. 83. BZAR, BDK 3936, S. 39 (Salzburg, 1662/63); BDK 3953, S. 70 (Eichstätt 1672/73, auch weitere Belege); BDK 3986, S. 71 (Passau 1685/86); BDK 4001, S. 81 (Lobkowitz 1692/93, auch weitere Belege). BZAR, BDK 4850, S. 153 (1768).

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– die Gäste mussten ohne viel Umstände mit der katholischen Kirchenmusik im Dom klarkommen.35 Man kann also mit einem bunten Bild der Trompetergruppe rechnen, sowohl im Dom, etwa beim Hochziehen der Christusfigur zu Himmelfahrt, wie auch draußen im Freien, zum Beispiel bei der Fronleichnamsprozession.36 Einstweilen nicht zu beantworten ist auch die Frage, wie denn die Dommusiker bei Tanzmusik im Wirtshaus oder im Opernorchester ajustiert waren. Das Domkapitel duldete diese Nebenbeschäftigungen, zahlte 1804 und öfter seinen Angestellten einen Ausgleich, als sich diese Verdienste stark reduziert hatten.37 Leider lässt sich also auch nicht ermitteln, ob und wie viele Domtrompeter wie gekleidet bei der „Entführung aus dem Serail“ tätig waren, der 1788 auch Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar lauschte.38 Im zweiten Teil dieser Miszelle geht es um Bildsignale des Domkapitels Regensburg, um sein Zeichen für Besitz und Rechte, von der Funktion her ein Wappen, aber ganz selten im Schild wie das etwas frühere des Bistums39, sondern meist im Rund, auch ungerahmt: Auf Wellen schwimmt ein Kahn, von der Langseite gesehen, darin übergroß und streng frontal die Halbfigur des Dompatrons Petrus ohne Zeichen geistlicher Würde, er erhebt einen Fisch und/oder die Schlüssel, ist also der Menschenfischer in der Nachfolge Christi. Deutlich gemacht ist das auf den Schlussteinen der Domdechanei-Kapelle St. Willibald (jetzt im Museum der Stadt Regensburg), um 1310/1320.40 Denn hier verkörpern neben dem Petersschiffchen ein weibliches Mischwesen mit Fledermausflügeln und ein Bewaffneter mit Fischschwanz das Böse, speziell das böse Meer der Welt, aus dem der Apostelfürst die Fische/Seelen rettet.41 Der Bildtyp ist für Regensburg ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf Münzen und Siegeln nachweisbar.42 Das frühste Beispiel im Dom mit besitzanzeigender Funktion ist in einem Glasfenster im Chorschluss (n II) zu finden, um 1315/1320, zwischen Szenen aus der Peterslegende, aber durch heraldische Form und

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BZAR, BDK 3939, S. 73 (1665/66); BDK 3995, S. 93 (1689/90); BDK 3997, S. 39 (1690/91); BDK 3999, S. 98 (1691/92); BDK 4001, S. 81 (1692/93); BDK 4007, S. 77 (1695/96), meist zu den Festen Peter Paul und Kirchweih. BZAR, BDK 3947, S. 73 (Trompeter bei der Auffahrt); alle in Anm. 33 genannten Musiker katholischer Regenten zu Fronleichnam. BZAR, BDK 9377, S. 12 (Ausgleichszahlung für Domtrompeter und -pauker wegen Verlust der Theatermusik, 1804); BDK 9379, S. 86 (Zahlung an Trompeter Lorenzi wegen seiner durch das Theater geschwächten Gesundheit, 1806). Verhandlungen des Historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg, LXXXVI, 1936, S. 127ff., in Regensburg aufgeführte Opern ab der 2. Hälfte des 18. Jhs. Hubert Emmerig/Otto Kozinowski: Die Münzen und Medaillen der Regensburger Bischöfe und des Domkapitels seit dem 16. Jahrhundert (Süddeutsche Münzkataloge, 8), Stuttgart 1998, Abb. 2, Abb. 16 u.ö. Regensburg im Mittelalter 1995 (wie Anm. 19), S. 401ff., Abb. 109, 110, 110a (Martin Hoernes). Renate Kroos: Der Schrein des heiligen Servatius in Maastricht, München 1985, S. 198ff., zu Petrus speziell S. 204ff. Tu es Petrus, hg. v. bischöflichen Ordinariat Regensburg, Regensburg 2006, S. 94, Nr. 7 (Johann Gruber); BZAR, BDK Urkk. 1292 X 24.

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nicht erzählerischen Inhalt klar von den Nachbarbildern abgesetzt.43 Als Siegelbild eines Domprälaten, des Scholasticus Leutwin Gameret, findet sich das Motiv an einer Urkunde von 1323, hier im Schild.44 Um 1330/1335 folgt das Signet über dem kleinen Südportal als Teil eines gehässigen kirchenpolitischen Programms. Es besetzt die bessere Seite, heraldisch rechts, ein Gegenbild zur Linken zeigt die ‚Judensau‘, genau in der Achse der Gasse vom Ghetto (jetzt Neupfarrplatz) in Richtung Dom und Stadt, mit unverhülltem Hohn und Hass. Ergänzend sieht man, wieder zur Rechten, die Jungfrau mit dem Einhorn beziehungsweise Samson mit dem Löwen, also geläufige Typen für die jungfräuliche Geburt Christi und dessen Sieg über den Teufel; auf der schlechten Seite ein im Regelfall übel beleumdeter Affe.45 Ganz anders, als Fußstück der Heilsgeschichte, sieht man das Signet an der Westfassade. Entsprechend der langen Bauzeit, ungefähr 1435 bis 1485 entstanden deren Figuren sukzessive, aber nach einheitlichem Programm, zu lesen von oben nach unten, gewissermaßen vom Himmel zur Erde absteigend: Verkündigung an Maria als Beginn des Erlösungswerks – der Erlöser am Kreuz – am unteren Ende des langen Kreuzesbalkens das Rechtszeichen des Domkapitels (der Kreuzesstamm assoziiert den Mast der navicula Petri, zugleich die im Petrusmartyrium besonders prononcierte Nachfolge des Gekreuzigten).46 So sah das jeder neue Bischof, jeder deutsche König/römische Kaiser, wenn er aus Richtung des Rathauses kommend zum Dom geleitet wurde. An die Nordwand der Kathedrale schloss unmittelbar der Bischofshof mit eigener Immunität an, also ließ sich über dem Portal im Nordquerhaus das Signet nicht außen anbringen.47 Noch weiter nach innen gerückt ist das Petersschiff auf einem Schlusstein im vierten Joch des nördlichen Seitenschiffs, gegen 1430, als Einzelstück, nicht in einer Bildfolge. Es befindet sich vor einem der 1830 ohne Dokumentation abgerissenen Kapellenanbauten. In diesem Bereich lag die damals gleichfalls zerstörte Bauhütte (mit Nebengebäuden), juristisch und finanziell dem Domkapitel zugeordnet, aber mindestens zum Teil auf bischöflichem Territorium.48 Es liegt nahe, auch hier Topographie und Rechtssituation zusammenzusehen; es sind Hinweise nicht nur für katholische und protestantische Laien ringsum, sondern auch für den Bischof, immerhin musste er sich 1662 verpflichten‚ in der Kathedrale nichts ohne Vorwissen und Billigung des Kapitels zu planen.49 43 44 45 46 47 48

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Tu es Petrus 2006 (wie Anm. 42)‚ S. 46, Bild 2 (Friedrich Fuchs). Ebd.‚ S. 104f., Nr. 14 (Artur Dirmeier). Hans-Christoph Dittscheid: Von Ecclesia und Synagoge zur ‚Synagogenkirche‘, in: Das Münster, LX, 2007, S. 74ff. mit Abb. Peter Morsbach: Die Erbauer des Doms, Regensburg 2009, S. 58 und 84, Abb. 50. Tu es Petrus, 2006 (wie Anm. 42)‚ S. 29, Bild 15, um 1305/10 (Peter Morsbach). Ich würde eine Datierung ins 15. Jh. vorziehen. Bau- und Reparaturvorhaben für den Dom wurden vom Kapitel geplant, sämtliche Baurechnungen von ihm geprüft und bezahlt; 1573 ließ es sein Wappen an der Bauhütte anbringen; s. BZAR, BDK 9216, fol. 36v. Zum Datum der Gewölbe im nördlichen Seitenschiff s. Morsbach 2009 (wie Anm. 46), S. 58. BZAR, BDK 9248, fol. 175r–v.

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Teil eines ganz anderen Zyklus ist das Signet aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in der unteren Südsakristei, jetzt Winterchor genannt50, auf fünf Schlussteinen; im Zentrum der Geber und Empfänger aller guten Gaben in Gestalt von Christi Haupt. Anfang und Ende der Reihe besetzen Schild und Helm des Hochstifts/Bischofs, dazwischen, weiter ‚oben‘‚ nämlich bei der Helmzier das Zeichen des Domkapitels, weiter ‚unten‘ zwei Patrizierwappen. Gelegentliche Uneinigkeit hinderte nicht, dass dem Bischofswappen heraldisch die erste Stelle zukam, noch zu sehen bei den in Mischfinanzierung entstandenen, silbernen Neben-Antependien des Hochaltars (1784).51 Wieder anders verhielt es sich bei den reich geschnitzten Prunktüren für das Südquerhaus und das mittlere Westportal. Nach einem schon seit Jahrhunderten üblichen Berechnungsschlüssel für gemeinsame Neuanschaffungen wie auch für große Reparaturen zahlte der Bischof zwei Drittel der Kosten, das Domkapitel ein Drittel; es bestimmte und ließ ausführen, nicht ohne Querelen mit der bischöflichen Verwaltung, die einen anderen Bildhauer favorisierte.52 Ein Sonderfall ist das Rundrelief von 1688‚ ehemals an St. Ulrich, jetzt im Historischen Museum der Stadt Regensburg. Die Pfarrkirche war dem Domkapitel von mehreren Bischöfen sukzessive übereignet und schließlich inkorporiert worden, aber natürlich hatte auch der Bischof dort Rechte; so sieht man, ganz klein, auf Petri Kahn einen Schild mit dem Hochstiftswappen.53 Die bisher vorgestellten Beispiele zeigen das Signet der Öffentlichkeit zugewandt, die folgenden, auch nur in Auswahl, dokumentierten auf Schatzstücken, wer bezahlt und beschafft hat, waren also fast nur dem Klerus (und dessen Hilfspersonal) zugänglich. Zwei aufwendige Objekte ließ das Domkapitel – mehrere Jahrzehnte nach den Stiftungen – umarbeiten, setzte also auch neue Geldmittel ein. Es handelt sich um die monumentale silberne Chorampel, 1626 vom Dekan Weilhamer geschenkt und 1698 ganz neu gestaltet54 sowie um eine silberne Leuchtergarnitur, 1627 vom Domherrn Langenmantel gegeben und 1700 auch komplett verändert.55 In beiden Fällen wurde das Stifterwappen wiederholt, daneben kam nun das Zeichen des Kapitels, des neuen Auftraggebers.56 Kom-

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Morsbach 2009 (wie Anm. 46), S.71ff. Achim Hubel: Der Regensburger Domschatz (Kirchliche Schatzkammern und Museen), hg. v. Hugo Schnell/Paul Mai, Bd. I, München/Zürich 1976, S. 56 und 63. BZAR, BDK 9359, S. 18f. (Fragen wegen Façon), S. 51f. (betr. Wappen), S. 73, 75f., 88, 106 (Querelen mit der bischöflichen Verwaltung). Museum der Stadt Regensburg, HVE 15; BZAR, BDK 9267, fol. 176v (Martin Leuttner, Bildhauer von Stadtamhof, will für St. Ulrich den Petersschild machen, Riss ist vorhanden, weißer Stein, 35f., 1688). Hubel 1976 (wie Anm. 51), S. 70, mit Abb.; „Adauxit regnans capitulum.“ Ebd., S. 136, Nr. 52 mit ausführlicher Inschrift, „addito argento et opera [...] adauxit [...] Regnans Capitulum.“ S. schon ein Protokoll von 1606, BZAR, BDK 9222, fol. 424r (altes Silber einzuschmelzen, auf die neuen Sachen dann der vorigen Herren Bischöfe Wappen).

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pliziert war die Finanzierung für die beiden großen Silberbüsten der heiligen Ortsbischöfe Wolfgang und Erhard, letzterer – wohl ohne spezifisches Attribut – später auch Albertus Magnus genannt.57 Bischof Franz Wilhelm von Wartenberg zahlte unter anderem den Macherlohn, das Kapitel lieferte Altsilber aus dem Domschatz, so kam dessen Wappen an eine der neuen Halbfiguren58; 1785 wurden beide eingeschmolzen, hielten zusammen über 130 Mark Silber.59 Dass Schatzstücke nur bei Einsatz eigener Geldmittel durch das Signet beglaubigt wurden, erweist die Gegenprobe bei Paramenten, die aus Nachlasszahlungen von Domherren finanziert, aber vom Kapitel geplant, beschafft, kontrolliert und abgerechnet wurden, so 1621 für den verstorbenen „Chorbruder“ Starzhauser („pro memoria“) und 1664 aus dem Vermächtnis des verstorbenen Domherren Schad60; da wurde nur beschlossen, das Stifterwappen zu applizieren.61 Als Marginalie dazu eine Warnung an Kollegen mit Lust am Datieren: Zwischen Ausfolgung des Nachlasses, Beschaffen des Stoffes und Nähen/Sticken konnten durchaus Jahre vergehen. Steht bei den Bildern des Petersschiffchens an und im Bau die Demonstration von Besitz und Rechten im Vordergrund, so bei denen auf Schatzstücken die Memoria, das geistliche und weltliche Gedenken, das individuelle jedes Stifters und das korporative des Domkapitels. Das bezeugen mehrfach und explizit die Sitzungsprotokolle, die sich sonst recht selten über Intentionen äußern, so 1623 (Veränderungen an Lettner und Altären ja, zur mehreren Ehre Gottes und Zier der Kirchen, aber) „retenta fundatorum memoria“62 oder 1650, damit die „memori“ bleiben möchte.63 Das gilt auch für die Empfängerin dieser Skizze, 2011, ebenso passt der Segenswunsch des Domkapitels zum Jahr 167064: „Quod felix, faustumque fortunatumque sit.“

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BZAR, BDK 10013, Inventar von 1753/55, fol. 21r (gleich nach den Silberbüsten Maria und Joseph vom Hochaltar) zwei Brustbilder von Wolfgang und Albert, ca. 2½ Schuh hoch; 1696/97 heißen sie noch Wolfgang und Erhard, BDK 4009, S. 75; 1785 wieder Wolfgang und Albert, BDK 8838, S. 39. Ein figürliches Albertsreliquiar aus Stiftung des Bischofs Wartenberg habe ich nirgends gefunden. Hubel 1976 (wie Anm. 51), S. 31; BZAR, BDK 9250, fol. 230v–231r (Bischof Wartenberg will zwei große silberne Bilder von Wolfgang und Erhard machen lassen und dafür Silber aus dem Kirchenschatz, ist dem Bischof bewilligt, 1650); BDK 9241, S. 37 (auf eine Büste Wappen des Domkapitels, auf die andere Wappen des Bischofs. Und auf eine kommen Fundation und Wappen der älteren Stifter); ebd. S. 55 (das alte Silber wurde gewogen und hergegeben); ebd. S. 58 (nochmals über das Wappen des Domkapitels). BZAR, BDK 8838, S. 39. BZAR, BDK 9229, fol. 157r; BDK 9250, fol. 422r. Als Paris Graf Lodron, Erzbischof von Salzburg, einen goldenen Kelch geschenkt hatte, ließ das Domkapitel seinen Namen und sein Wappen in Email zufügen; BZAR, BDK 9230, fol. 61v–62r (1623). BZAR, BDK 9230, fol. 113r. BZAR, BDK 9241, S. 37. BZAR, BDK 9258, fol. 124v.

Politische Kommunikation in Herrschereinzügen. Tugendprogramme an Ehrenpforten der Renaissance* Marion Philipp Wie spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Herrscher mit ihren Untertanen politisch kommunizierten, ist bereits vielfach untersucht worden. Überwiegend ging es dabei um legislative Akte des Potentaten, um die herrscherliche Repräsentation über Bild- und Bauwerke oder um die performative bzw. symbolische Inszenierung der Staatsmacht. Der umgekehrte Fall – die politische Kommunikation mit dem Herrscher als Adressat – war dagegen vergleichsweise selten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Genau hier setzt der folgende Beitrag an, indem er der Frage nachgeht, wie lokale Herrschaftsträger den Regierungsstil des Kaisers auf subtile Weise zu verändern suchten, ohne das Protokoll durch Forderung oder Kritik zu verletzen. Eine ideale Möglichkeit dazu boten die Dekorationen, die bei Herrschereinzügen zu Ehren des Herrschers errichtet wurden. Eine Dekorationsform, die Ehrenpforte, soll im Folgenden hinsichtlich ihrer politischen Semantik näher vorgestellt werden. Dabei soll gezeigt werden, dass Ehrenpforten gezielt verwendet wurden, um den Herrscher zu belehren und zu tugendhaftem Verhalten anzuregen. Herrschereinzüge erfüllten eine wichtige Funktion in vormodernen Staaten, da sie das Rechtsverhältnis zwischen dem Herrscher und den Herrschaftsträgern vor Ort visualisierten und auf diese Weise zur politischen Stabilität beitrugen.1 Symbolisch-theatrale Handlungen der städtischen Repräsentanten antizipierten die Huldigung seitens der Bürgerschaft; im Gegenzug bekräftigte der Herrscher rituell den Fortbestand der städtischen Rechte. Eindrücklich geschah dies vor allem am Stadttor, wo städtische Vertreter symbolisch den städtischen Schlüssel übergaben, um ihn dann demonstrativ vom Herrscher zurückzuerhalten. Eingedenk des solchermaßen rituell generierten Bedeutungstransfers fasst die Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung Herrschereinzüge unter den Oberbegriff der symbolischen Kommunikation.2 * Dieser Aufsatz behandelt einen Aspekt meiner Dissertation, die unter dem Titel „Ehrenpforten für Kaiser Karl V. Festdekorationen als Medien politischer Kommunikation“ im Dezember 2009 an der Universität Heidelberg eingereicht und von Lieselotte E. Saurma und Michael Hesse betreut wurde. Ich danke außerdem Sascha Winter (Heidelberg) für konstruktive Kritik und Fabio Berdozzo (Wuppertal) für philologischen Beistand beim Übersetzen der lateinischen Inschriften. 1 Harriet Rudolph: Entrée [festliche, triumphale], in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe (Residenzenforschung, 15/2), hg. v. Werner Paravicini, bearb. v. Jan Hirschbiegel/Jörg Wettlaufer, Teilbd. I: Begriffe, Ostfildern 2005, S. 318–323 (mit Angabe der relevanten Forschungsliteratur).

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Aus städtischer Sicht musste der Einzug den Herrscher auch auf die Verhandlungen über die Pflichten und Privilegien der Stadt einstimmen, die im Anschluss stattfanden und das künftige Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen regeln sollten. Dazu wurden seit dem Spätmittelalter bildhafte Dekorationen eingesetzt, die jenseits ihres dekorativen Zwecks eine tiefere Bedeutung transportierten – sie dienten nicht nur zum Lob des Herrschers, sondern informierten über die Bedürfnisse vor Ort und konnten sogar latent herrschaftskritische Inhalte vermitteln: Akteure mimten auf Schaugerüsten ‚lebende Bilder‘, und unter dem Einfluss der italienischen Renaissance kamen ephemere Architekturen all’antica mit umfangreichen Programmen aus Bildern, Inschriften und Symbolen auf. Eine besonders komplexe Dekorationsform waren Ehrenpforten.3 Sie basierten in Form und Idee auf dem antiken Triumph- und Ehrenbogen. Allerdings bestanden sie nicht aus Stein, sondern aus einem Holzgerüst, das mit Stuck, Gips, Leinwand oder Stoff verkleidet und illusionistisch bemalt war. Ehrenpforten trugen das von den Bögen des Altertums bekannte Repertoire aus Bildern und Inschriften; darüber hinaus ergänzten sie Tugendpersonifikationen, Figuren aus der Heilsgeschichte, Porträts mittelalterlicher Herrscher, Wappen, Impresen, Fackeln, mechanische Raffinessen, Sänger, Musikanten und ‚lebende Bilder‘. Eine Ehrenpforte konnte kein zweites Mal in gleicher Weise errichtet werden, da sie individuell auf Biographie, Dynastie und Politik des erwarteten Herrschers Bezug nahm und die politische und wirtschaftliche Situation der empfangenden Stadt berücksichtigte. Sie wurde nach dem Einzug abgebrochen; ihre Einzelteile wurden verschenkt, verkauft oder anderweitig entsorgt. Obwohl Ehrenpforten von den besten Künstlern entworfen wurden und selbst Kunstkenner wie Giorgio Vasari begeistert von ihnen berichten, liegen materielle Überreste nur noch im Ausnahmefall vor.4 Oft sind aber Rekonstruktionen nach Beschreibungen, Entwurfsskizzen, städtischen Rechnungsunterlagen und sonstigen Quellen möglich. Ehrenpforten waren Kommunikationsmedien. Die Botschaft wurde panegyrisch – als Herrscherlob – verpackt. Vorgeblich verherrlichende Tugendprogramme kommunizierten moralische Instruktionen im Tenor zeitgenössischer Fürstenspiegel, und die Vergleiche mit historischen Persönlichkeiten oder mythologischen Figuren dienten nicht allein zur Erbauung und Erhöhung des Herrschers, sondern wollten ihm auch Vorbilder zur Nachahmung mitgeben.

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Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung, XXVII, 2000, S. 389–405; Gerd Althoff: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, bes. S. 171–177; Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung, XXXI, 2004, S. 489–527. Hans Martin von Erffa: Ehrenpforte, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, beg. v. Otto Schmitt, hg. v. Ernst Gall/L. H. Heydenreich, Bd. IV, Stuttgart 1958, Sp. 1445–1504. Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori, con nuove annotazioni e commenti di Gaetano Milanesi, 7 Bde., Florenz 1878–1881, passim. Im Kunsthistorischen Museum Wien

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Die semantische Aufladung einer Ehrenpforte ist heutzutage vor allem mit den Methoden der politischen Ikonographie herauszuarbeiten. Martin Warnke hat 1992 zu Recht in einem Aufsatz dazu aufgerufen, herrscherliche Einzüge nicht länger als Gelegenheiten zu panegyrischem Herrscherlob, sondern als Adresse und Appell von der Stadt an den Herrscher zu sehen, das heißt als Bedürfnisforum, Appellationsinstanz und Forderungskatalog.5 In einem anderen Aufsatz aus demselben Jahr äußert Warnke ebenfalls den Verdacht, „daß vielleicht jener Fiktionsapparat nicht naiv, sondern postulativ vorgetragen wurde: Die Fürstlichkeiten sollten sich gemäß jenem fiktiven Rollenspektrum, in dem sich ja Erwartungen und Handlungsnormen ausdrückten, verhalten.“6 Eine Bestätigung findet Warnkes These in der Institutio Principis, die Erasmus von Rotterdam um 1515/1516 verfasste und seinem Schüler Karl, dem späteren Kaiser Karl V., widmete. Darin heißt es: Man soll also den Fürsten schon in seiner Jugend lehren, die Titel, die er unvermeidlich zu hören bekommt, so aufzunehmen, dass er Nutzen davon hat. Hört er z.B. ‚Vater des Vaterlandes‘, soll er daran denken, dass es für einen guten Fürsten keinen besseren Titel gibt als ‚Vater des Vaterlandes‘. Also muss er danach streben, dieses Titels würdig zu erscheinen. Denkt er so, dann ist der Titel eine Mahnung. Denkt er anders, ist es Schmeichelei. Nennt man ihn den Unbesiegten, mag er daran denken, wie absurd es ist, wenn einer unbesiegt genannt wird, der sich vom Jähzorn übermannen lässt, der Tag für Tag nur seinen Gelüsten versklavt ist, den der Ehrgeiz wie einen Gefangenen führt und treibt nach Belieben. Er soll überzeugt sein, dass der wahrhaft unbesiegt ist, der keinem Affekt nachgibt und durch gar nichts vom Ehrenhaften abgebracht werden kann. […] Nennt man ihn einen Hochberühmten, mag er sich daran erinnern, dass es keine wahrhafte Zierde gibt, die nicht in der Tugend und in rechten Taten ihre Wurzel hat. Wenn die Begierde jemand verunreinigt, die Habsucht ihn befleckt, Ehrgeiz ihn beschmutzt, was ist dann der Name eines Hochberühmten anderes als eine Mahnung, wenn er aus Mangel an Einsicht irrt; was anderes als ein Vorwurf, wenn er wissend sündigt? […] Hört er feierliche Lobsprüche, soll er nicht gleich sein gebührendes Lob darin sehen. Ist er nämlich nicht so, wie man ihn ausgibt, mag er annehmen, dass man ihn ermahnt, sich anzustrengen, damit er jenen Lobsprüchen einmal gerecht werde; ist er schon so, soll er sich anstrengen, noch besser zu werden.7

Erasmus warnt den guten, humanistisch gebildeten Herrscher davor, Lob als Schmeichelei zu verstehen. Der Herrscher solle Lob vielmehr als Ermahnung begreifen und an

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befinden sich einige Leinwände mit Gemälden von und nach Peter Paul Rubens, die beim Antwerpener Einzug des Kardinalinfanten Ferdinand im Jahr 1635 an Ehrenpforten gehangen hatten; s. John Rupert Martin: The decorations for the Pompa Introitus Ferdinandi (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, 16), Brussels 1972. Martin Warnke: Visualisierung der Macht im 16. Jahrhundert, in: Staatsrepräsentation (Schriften zur Kultursoziologie, 12), hg. v. Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl, Berlin 1992, S. 63–74. Martin Warnke: Politische Ikonographie, in: Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, hg. v. Andreas Beyer, Berlin 1992, S. 23–28, hier S. 28. Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung, Institutio Principis Christiani. Die Erziehung eines christlichen Fürsten, eingef., übers. und bearb. v. Anton J. Gail, Paderborn 1968, S. 133–135.

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sich arbeiten, um dem Lob gerecht zu werden. Erasmus erklärt das Herrscherlob folglich zur Auslegungssache des Fürsten. Je nachdem, wie kritisch sich dieser sah, interpretierte er es schmeichlerisch oder ermahnend. Dasselbe galt für Ehrenpforten: Auch hier lag die Deutungshoheit beim Herrscher, wenngleich die städtischen Planer das Programm möglichst eindeutig hielten, indem sie auf Bildformeln und Texte zurückgriffen, die aus profanen wie sakralen Zusammenhängen bekannt waren. In den Quellen zeichnen sich verschiedene Kommunikationsstrategien ab. Sie dokumentieren, dass die Städte ganz unterschiedlich versuchten, den Herrscher durch panegyrische Tugendprogramme zu beeinflussen. Im Folgenden soll dies an einigen für Kaiser Karl V. errichteten Festapparaten veranschaulicht werden. Das erste Beispiel stammt aus Sevilla. Es handelt sich um die sieben Ehrenpforten, die der städtische Rat für den Kaiser und Isabella von Portugal zum Einzug anlässlich ihrer Hochzeit am 10. März 1526 errichten ließ.8 Bildmaterial existiert nicht. Die Kenntnis der Dekorationen basiert ausschließlich auf Beschreibungen.9 Eine achte Ehrenpforte, die nicht auf das Konzept der städtischen Bögen Bezug nahm, war vom Kathedralklerus aufgebaut worden. Weil es sich bei ihr (mit einem Sternenhimmel, dem Knaben in Engelskostümen entstiegen) mehr um ein spirituelles Amüsement in Bogenform als um eine intellektuell befrachtete, triumphal konnotierte Festarchitektur all’antica gehandelt hat, interessieren hier nur die sieben städtischen Bögen. Die Verteilung der acht Ehrenpforten

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Zum Einzug von Karl V. in Sevilla: Juan de Mata Carriazo Arroquia: La boda del emperador. Notas para una historia del amor en el Alcázar de Sevilla, in: Archivo Hispalense, Epoca 2, XXX/93–94, 1959, S. 9–108, bes. S. 70–76; Alfredo J. Morales: Gloria y honras de Carlos V en Sevilla, in: Seminario sobre Arquitectura Imperial (en homenaje a Earl E. Rosenthal) (Monografica arte y arqueologia, 1), Granada 1988, S. 137–158; Rafael Ramo Sosa: Fiestas Reales Sevillanas en el Imperio, 1500–1558, in: Premios de Investigación Ciudad de Sevilla – 1986 (Testimonio universitario, 5), hg. v. María del Pilar Almoguera Sallent, Sevilla 1988, S. 163–238, bes. S. 179–196; Mónica GómezSalvago Sánchez: Fastos de una boda real en la Sevilla del Quinientos. Estudio y documentos (Historia y geografía, 30), Sevilla 1998; María Jesús Sanz: Arquitecturas efímeras levantadas en Sevilla para la entrada de Carlos V. Relaciones con las otras entradas reales del siglo XVI en la ciudad, in: El arte en las cortes de Carlos V y Felipe II (IX Jornadas de Arte), [Madrid] 1999, S. 181–187; Alfredo J. Morales: Recibimiento y boda de Carlos V en Sevilla, in: La fiesta en la Europa de Carlos V, Ausstellungskatalog (Sevilla, Real Alcázar, 2000), Madrid 2000, S. 27–47. Wichtig sind vor allem die anonym verfasste (auch in deutscher Übersetzung erschienene) Druckschrift Feste et Archi Triumphali che furono fatti in la intrata de lo Inuittissimo Cesare CAROLO. V. Re de Romani & Imperatore sempre Augusto. Et de la Serenissima & Potentissima Signora Isabella Imperatrice sua mogliere in la nobilissima & fidelissima Cita de Siuiglia A. III. de Marzo M.D.XXVI. con bellissimi motti in lingua Spagnola, & argutissimi uersi Latini, Rom (Francesco Minizio Calvo) 1526, sowie der in Kopie überlieferte Bericht des städtischen Rats, heute in der Biblioteca Colombina Sevilla (BCS), Recebimientos/ que fueron hechos al invictíssimo césar don/ Carlos V, emperador de Alemania, rey de romanos/ semper augusto, e a la mui esclarecida, mui alta e mui/ poderosa señora doña Isabel emperatriz, su/ muger, reyes de España, etc., en la mui noble/ y mui leal ciudad de Seuilla, Ms. 59-1-5, fol. 14r–23v, transkribiert in Gómez-Salvago Sánchez 1998 (wie Anm. 8), S. 247–260.

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im städtischen Raum ist auf Abb. 1 (Taf. VIIa) zu erkennen. Inschriftlich wurden die Bögen der Karl V. zugeschriebenen Prudentia (1), Fortitudo (2) und Clementia (3) der durch diese Tugenden erzeugten Pax (4) und Karls Iustitia (5) gewidmet.10 Der sechste Bogen visualisierte laut einer Schrifttafel die „OFFICINA GLORIAE“ (Werkstatt der Ehre), in der die theologischen Tugenden Fides, Spes und Caritas eiserne, silberne und goldene Kronen schmiedeten.11 Am siebten Bogen wurde gezeigt, wie Gloria das kaiserliche Paar krönte.12 Die zugehörige Inschrift verkündete sinngemäß, dass Ruhm Menschen unsterblich mache. Nach dem siebten Bogen wurde Karl V. vom Erzbischof empfangen und in die Kathedrale geführt, wo die achte Ehrenpforte stand. Von dort ging es weiter zum Alcázar, in dem Karl V. und Isabella während ihres Aufenthalts wohnen sollten. Die Bögen Nr. 1, 2, 3 und 5 waren dreitorig und folgten Abb. 1: Route und Festapparat beim Einzug Kaiser Karls V. in demselben Muster: Auf der Sevilla 1526. Stadtplan aus dem Jahr 1771. Attika stand immer ein Bildnis des Kaisers mit den Attributen der Kardinaltugend, die ihm in der Widmungsinschrift als Charaktermerkmal zugeschrieben wurde. Darunter triumphierte die personifizierte Kardinaltugend stehend auf dem Körper eines ihr entgegengesetzten Lasters. Die Paare waren Prudentia vs. Ignorantia, Fortitudo vs. Superbia, Clementia vs. Ira und Iustitia vs. Iniuria. Eine sechszeilige Inschrift erklärte Karl V., wie er die jeweilige Kardinaltugend

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Die Inschriften lauteten: (1) „DIUI CAROLI MAXIMI PRUDENTIÆ INCOMPARABILI S.P.Q. HISPALENSIS DICAUIT“; (2) „CAESAREÆ FORTITUDINI, QUÆ CHRISTIANAM REMPUBLICAM TUETUR S.P.Q. HISPALENSIS ARCUM TRIUMPHIS INSIGNEM DICAUIT“; (3) „CLEMENTIÆ CAROLI IMPERATORIS SEMPER AUGUSTI, QUÆ SUBLEUAT UICTOS, QUOS FORTITUDO PROSTRAUERAT S.P.Q. HISPALENSIS VIRTUTIS HONORISQUE ERGO POSUIT“; (4) „FELICISSIMÆ PACI, PRUDENTIA, FORTITUDINE, & CLEMENTIA DIUI CAROLI PARTÆ, FUGATA EX ORBE CHRISTIANO DISCORDIA, S.P.Q. HISPALENSIS AUREAM ÆTATEM AGENS OPTIMO PRINCIPI POSUIT“; (5) „IVSTITIAE DIVI CAROLI QUÆ BONOS EXTOLLIT, & MALOS DEPRIMIT S.P.Q. HISPALENSIS IUSTISSIMO PRINCIPI POSUIT“. S. Feste 1526 (wie Anm. 9), S. A1v–A3r. Ebd., S. A4r. Ebd., S. A4r.

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politisch einsetzen sollte. Auf beiden Seiten der zentralen Figurengruppe folgten vier den Protagonisten verwandte, nachgeordnete Tugenden und Laster, wobei sich links (das heißt rechterhand der Kardinaltugend) die Tugenden und rechts (das heißt linkerhand der Kardinaltugend) die Laster befanden. Weitere Tugenden und Laster sowie ergänzende Bilder und Inschriften waren im Bereich der seitlichen Tore angebracht (Abb. 2). Die Anordnung der Tugenden war bedeutungsträchtig. Sie erinnerte an Weltgerichtsdarstellungen, die zuoberst Christus als Pantokrator zeigen, darunter auf einer Seite die in den Himmel auffahrenden Seligen und gegenüber die zur Hölle herabstürzenden Verdammten getreu Mt 25, 33: „Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken.“ Die Einteilung in Gut und Schlecht kam schließlich noch dadurch zum Ausdruck, dass die Tugenden als Sieger mit Kronen, Palmzweigen oder Gerichtsstäben und die Laster besiegt (gefesselt, verwundet oder tot) dargestellt waren. Um jedes Missverständnis auszuräumen, waren die Tugenden und die Laster beschriftet. Das Programm war also allgemein verständlich, zumal sich der allegorische Kampf zwischen personifizierten Tugenden und Lastern seit Prudentius’ Psychomachia aus dem frühen 5. Jahrhundert in der Abb. 2: Bildprogramm der Ehrenpforten Nr. 1, 2, 3 und 5 in Sevilla christlichen Vorstellung 1526. Schematische Rekonstruktion und den Künsten etabliert hatte.13 Bogen Nr. 4 war anders aufgebaut als die Bögen Nr. 1, 2, 3 und 5. Er war eintorig und konzentrierte sich ganz auf den Kampf zwischen Pax und Discordia. Darstellungen weiterer Tugenden und Laster fehlten. Ihren Platz nahmen zwei Gemälde ein, von denen das eine den Zustand des Friedens, das andere die verheerenden Folgen des Kriegs illustrierte (Abb. 3). Was wollten die Bürger von Sevilla Karl V. mitteilen? Das Programm gibt eindeutige Hinweise. So kam in den Inschriften, in der Ikonographie der Tugenden und im weiteren Bildschmuck zum Ausdruck, dass es in Sevilla nicht um Karls persönliche Tugenden, sondern um deren politischen Einsatz ging. Beispielsweise empfahl der Prudentia gewid13

Michaela Bautz: Virtutes. Studien zu Funktion und Ikonographie der Tugenden im Mittelalter und im 16. Jahrhundert (Diss. Stuttgart, 1999), Berlin 1999, S. 35–37, 91–97.

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mete Bogen, Karl V. solle seine Macht klug – explizit gegen die „wilde Türkei“ und den „afrikanischen Boden“ – gebrauchen.14 Die Widmungsinschrift des zweiten Bogens stellte Karls Fortitudo in den Dienst der Christenheit.15 Entsprechend war Fortitudo kriegerisch-triumphierend über die sich aufbäumende Superbia, hier Sinnbild der islamischen Gefahr aus Nordafrika, wiedergegeben. Der nächste Bogen bezog sich auf ein römisches Tugendexempel: Indem er nicht der platonischen Kardinaltugend Temperantia, sondern der annähernd wesensgleichen Clementia gewidmet war, evozierte er die sprichwörtliche clementia Caesaris, die für christliche Herrscher bis in Abb. 3: Bildprogramm der Ehrenpforte Nr. 4 in Sedie Neuzeit vorbildlich war.16 Der fünfte villa 1526. Schematische Rekonstruktion Bogen repräsentierte als vierte Kardinaltugend eine Facette der Iustitia, nämlich die strafende Gerichtsbarkeit, welche laut Widmungsinschrift „die Guten erhebt und die Schlechten niederdrückt.“17 Veranschaulicht wurde diese Eigenschaft durch Iustitias Begleiter Praemium und Castigatio sowie durch die geköpften, mutmaßlich durch Iustitias Schwert gerichteten Laster. Bilder spielten auf den ‚Guten Hirten‘ an, was sich in diesem Zusammenhang nur auf Ez 34, 11–22 beziehen kann, wo es heißt, Gott werde sein auserwähltes Volk wie ein Hirte führen, die Herde beschützen und für Recht „zwischen Schafen und Schafen, zwischen Widdern und Böcken“ sorgen. Unverkennbar vermittelten die sieben Ehrenpforten damit ein bestimmtes Tugendideal: das Ideal des ‚Guten Herrschers‘, der als säkularer Staatsmann agiert, nach christlichen Prinzipien regiert und als Herrscher von Gottes Gnaden über transzendente Qualitäten verfügt. Die Unterlagen des Rats belegen, dass der Apparat mit genau dieser Absicht errichtet wurde. Darin steht (ausgehend von der letzten Ehrenpforte mit Gloria):

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Die Inschrift lautet: „CAROLE QUOD MUNDO IMPERITAS, FELICIA QUOD TU/ FATA ETIAM COGIS REBUS ADESSE TUIS,/ QUOD TE TURCA FEROX, QUOD TE TREMIT AFRICA TELLUS,/ ET UIDET EXITIO TE SUPERESSE SUO,/ HOC TUA DIUE FACIT PRUDENTIA, QUÆ TIBI LAUDIS/ HIC SACRATA TUÆ MAXIMA TESTIS ERIT.“ S. Feste 1526 (wie Anm. 9), S. A1v. S. hier Anm. 10 (2). S. hier Anm. 10 (3). Außerdem Hellfried Dahlmann: Clementia Caesaris, in: Cäsar (Wege der Forschung, 43), hg. v. Detlef Rasmussen, Darmstadt 1967, S. 32–47. S. hier Anm. 10 (5).

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Assí que para alcanzar esta Gloria es menester que el príncipe/ administre Iusticia, y para que se pueda administrar conuiene que/ el reyno esté pacífico, para lo qual es necessaria la Clemencia,/ la qual no puede bien exercitar el príncipe si no está señoreado/ por la Fortaleza, lo qual todo encamina la Prudencia, por/ tanto fue conueniente la razón de la ordenanza de estos arcos/ susodichos.18

Die Auswahl der Laster bestätigt die politische Dimension des Apparats. So waren mit Superbia und Ira (als Gegenspieler von Fortitudo und Clementia) gerade mal zwei der sieben scholastisch festgelegten Hauptsünden vertreten. Statt Avaritia, Luxuria, Gula, Invidia und Acedia waren Ignorantia und Iniuria (als Gegenspieler von Prudentia und Iustitia) abgebildet – Laster also, die ihre negativen Auswirkungen stärker im politischweltlichen als im privat-religiösen Bereich entfalten und daher einen ‚Schlechten Herrscher‘ ausmachen.19 Augenscheinlich wollten die Bürger von Sevilla Karl V. über das Programm der Ehrenpforten zu ‚Guter Herrschaft‘ anleiten. Mit dem vierten Bogen, Pax geweiht, lässt sich das Tugendideal weiter präzisieren: Bekanntlich gehört Pax weder zu den vier platonischen noch zu den drei theologischen Tugenden; in Sevilla aber reihte sie sich wie selbstverständlich in den Siebenerkanon der Tugenden ein. Derartige Ergänzungen waren nicht ungewöhnlich; sie wurden vorgenommen, wenn eine Individualisierung und Charakterisierung der geehrten Person angestrebt wurde.20 Dies war in Sevilla tatsächlich der Fall, denn Karl V. wurde dort ausdrücklich als Friedensfürst inszeniert: So überreichte man ihm vor der Stadt einen Olivenzweig – das antike Symbol für Frieden –, den er während des Einzugs in Händen halten musste.21 Durch seine Eintorigkeit unterschied sich der vierte Bogen in auffälliger Weise von den anderen Ehrenpforten. Darüber hinaus provozierte er einen Bruch, denn er trennte die Kardinaltugenden auf den ersten drei Bögen von der vierten, von Iustitia, die auf dem fünften Bogen folgte. Dies geschah absichtsvoll. Es entsprach der Inschrift, die Pax als Resultat der ersten drei Kardinaltugenden präsentierte. Dort hieß es, Pax ergebe sich durch Prudentia, Fortitudo und Clementia des vergöttlichten Karl.22 Die gleiche Aussage enthielt die Platzierung des Bogens an vierter Stelle. Unmissverständlich definierten die Ehrenpforten Pax als Resultat von Tugendhaftigkeit und bezeugten damit den christlichhumanistischen Geist ihrer Planer. Diese scheinen das antike Modell, Frieden durch einen bellum iustum zu stiften, nicht attraktiv gefunden zu haben.23 Statt durch Waffengewalt empfahlen sie Karl V., durch Klugheit, Stärke und Milde zu siegen. 18 19 20 21 22 23

BCS, Recebimientos (wie Anm. 9), fol. 14v. Avaritia, Luxuria, Gula, Invidia und Acedia wurden noch nicht einmal im Bereich der seitlichen Tore thematisiert. Bautz 1999 (wie Anm. 13), S. 65. Feste 1526 (wie Anm. 9), S. A4v. Zum Olivenzweig als Friedenssymbol Vincenzo Cartari: Le Imagini con la spositione de i dei de gliantichi, Venedig (Francesco Marcolini) 1556, S. 61v. S. hier Anm. 10 (4). Dazu vertiefend Josef Rief: Die bellum-iustum-Theorie historisch, in: Frieden in Sicherheit. Zur

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Dass Pax am vierten Bogen (von sieben Bögen) die Mitte des Festapparats besetzt, mag Zufall gewesen sein. Doch kann Ähnliches auch in Bildnissen ‚Guter Regierungen‘ und ‚Guter Herrscher‘ beobachtet werden, wo Pax – als oberstes Ziel öffentlicher Ordnung – traditionell eine zentrale Position einnimmt.24 Allerdings wurden die Tugenden in Sevilla durch die räumliche Sequenz der Bögen nicht synchron wie bei einer zweidimensionalen Darstellung, sondern diachron erlebt, was der Erzählstruktur neue Möglichkeiten eröffnete. Mit der nächsten Ehrenpforte, die Iustitia gewidmet war, wird dann klar, dass die Sequenz der Bögen programmatisch verstanden sein wollte, denn das räumlich-zeitliche Nacheinander von Pax und Iustitia entsprach der Umkehrung von Jes 32, 17: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein, der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“25 Die Sequenz veranschaulichte stattdessen das Prinzip der antiken Pax Romana, die Gerechtigkeit – im Sinn einer Rechtsordnung – erst gewährte, wenn ein Territorium unterworfen war.26 Iustitia erschien in Sevilla folglich nicht nur als Karls persönliche Tugend und als universale Herrschertugend, sondern, wie Pax, auch als idealer Zustand. Für die Deutung des Festapparats bedeutet dies, dass Pax und Iustitia – deren Verbindung nach Ps 85, 11 ein Wesensmerkmal der Heilszeit darstellt – zu Zielen kaiserlicher Politik definiert wurden. Damit wurden Bedingungen genannt, die den Untertanen ein Leben in Sicherheit und Wohlstand ermöglichen sollten. Genau genommen versinnbildlichten die Ehrenpforten also eine Friedens- und Gerechtigkeitsvision im Sinne der Pax Romana, die durch Karls Tugendhaftigkeit – den Sieg über politische Laster – zustande kommen und Karl V. selbst ewigen Ruhm eintragen sollte. Der Festapparat von Sevilla argumentierte behutsam. Ob das Herrscherlob an den Ehrenpforten schmeichlerisch oder mahnend gemeint war, blieb Karls Interpretation überlassen. Deutlicher war die Sprache, wenn es sich auch beim Gastgeber um ein politisches Schwergewicht handelte: Die bedeutende Reichsstadt Nürnberg wagte es 1541 beispielsweise, Kaiser Karl V. mit einer Ehrenpforte zu empfangen, die die Kardinaltugenden im Konjunktiv feierte – nicht der Istzustand, sondern der Sollzustand war das Thema.27 Die

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Weiterentwicklung der katholischen Friedensethik, hg. v. Norbert Glatzel/Ernst Josef Nagel, Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 15–40. Hans-Martin Kaulbach: Friede als Thema der bildenden Kunst – ein Überblick, in: Pax. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte München, 15), hg. v. Wolfgang Augustyn, München 2003, S. 161–242. Gerechtigkeit und Frieden werden im Alten und im Neuen Testament verschiedentlich miteinander verknüpft. Dabei geht die Gerechtigkeit dem Frieden immer (!) voraus; s. Jürgen Schatz: Imperium, Pax et Iustitia. Das Reich – Friedensstiftung zwischen Ordo, Regnum und Staatlichkeit, Berlin 2000, S. 48. Zur Pax Romana ebd., S. 49f., 65. Zum Einzug von Karl V. in Nürnberg s. Albrecht Kircher: Deutsche Kaiser in Nürnberg. Eine Studie zur Geschichte des öffentlichen Lebens der Reichsstadt Nürnberg von 1500–1612 (Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken, 7) (Diss. Erlangen, 1953), Nürnberg 1955, S. 49–72; Heidi Eberhardt Bate: The measures of men. Virtue and the arts in the civic imagery of sixteenth-century Nuremberg (Diss. Berkeley, 2000), Mikrofiche-Ausg., S. 218–228; Arthur Groos: The

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dahinter stehende Motivation resultierte aus den politischen Verhältnissen, die für die Nürnberger damals alles andere als zufrieden stellend waren. Seit sich der Nürnberger Rat 1524/1525 zur Reformation bekannt hatte, war das traditionell gute Verhältnis zum Kaiser nämlich gestört. Obwohl die Nürnberger nicht mit den anderen protestantischen Städten paktierten und Karl V. mehrfach ihre Loyalität bekundeten, weigerte sich der Kaiser lange, die Stadt zu besuchen. Dass Karl V. endlich doch nach Nürnberg kommen wollte, gab Anlass zur Hoffnung. Am Einzugstag, dem 16. Februar 1541, wurde Karl V. vor der Stadt vom Schultheiß, den Herren Älteren, deren Dienern und einer Reiterei begrüßt. Die übrigen Ratsherren warteten am Spittlertor. Nach zweimaligem Salut aus schweren Geschützen ritt der Kaiser unter einem Baldachin in Nürnberg ein. Die Prozession führte über den Kornmarkt, den alten Rossmarkt, die Fleischbrücke und den Hauptmarkt zur Burg. An der Wegstrecke standen mehrere Tausend Bürger mit Rüstungen, Hellebarden und Partisanen Spalier. Zum Schmuck waren zehn Festons über die Straßen gehängt worden. Kurz hinter dem letzten Feston stand die Ehrenpforte – die erste Ehrenpforte in Nürnbergs Geschichte (Abb. 4, Taf. VIIb). Augenzeugen beschreiben eine breit gelagerte Portalanlage, die die gesamte Breite der heutigen Burgstraße einnahm.28 Die zeitgenössischen Berichte stimmen mit den überlieferten Bilddokumenten überein: einer lavierten Federzeichnung von (vermutlich) Georg Pencz und nachfolgend abgedrucktem Einblattdruck, der einen Holzschnitt aus dem Umkreis Peter Abb. 4: Route und Festapparat beim Einzug Kaiser Karls V. in Flötners nebst erläuternder LeNürnberg 1541. Stadtplan von Matthäus Merian, 1. Hälfte des gende enthält (Abb. 5).29 17. Jahrhunderts. (1) Ehrenpforte

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city as text. The entry of Charles V into Nuremberg (1541), in: The construction of textual authority in German literature of the medieval and early modern periods, hg. v. James F. Poag/Claire Baldwin, Chapel Hill, NC/London 2001, S. 135–156. Vonn Rœmischer Kayserlicher Mayestat Caroli V. Ehrlich einreitten in des Heyligen Reichs Stat Nürmberg den xvi. Februarij. Anno M.D.XXXXI., Würzburg (Balthassar Müller) 1541; Verzeichnus wie di Rœmisch kay. May. vnser aller gnedigster herr Vffn 16. tag februarii. 1541 jar. zu Nürmberg eingeritten, Regensburg (Hannsen Khol) [1541]; Hans Sachs: Kaiserlicher Mayestat Karoli der 5. einreyten zů Nürnberg/ in des heyligen Reychs Stat/ Den 16. tag Febrarij des 1541. jars, Nürnberg (Georg Wachter) [1541]. S. außerdem die zwei (gleichlautenden) Berichte, die der Kriegsschreiber

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Demnach bestand die Ehrenpforte aus einem einzelnen Portal und seitlich angrenzenden Mauern, in die links und rechts Tore eingelassen waren. Eine klassische Attika fehlte. Über dem Portal, das den Aufriss des Titusbogens variierte, erhob sich ein Aufbau mit einer Tribüne, von der aus die Stadtmusiker immer dann aufspielten, wenn der Kaiser die Ehrenpforte passierte. Auf das Dach der Tribüne hatte man einen doppelköpfigen Reichsadler montiert, der mechanisch (wahrscheinlich über Züge aus Draht oder Seil) bewegt wurde: Ritt der Kaiser auf die Ehrenpforte zu, verneigte sich der Vogel dreimal und schwang die Flügel; ritt der Kaiser durch die Ehrenpforte, drehte sich der Adler um 180 Grad, anschließend verneigte er sich wieder dreimal und wackelte nochmals mit den Flügeln, „darob sich die Spanier hoch verwunderten.“30 Die Gesamthöhe der Ehrenpforte, inklusive Aufbau und Adler, wird Abb. 5: Die Ehrenpforte für Kaiser Karl V. in Nürnberg mit rund 17 m (über 60 Werkschuh) 1541. Holzschnitt aus dem Umkreis von Peter Flötner angegeben. In der Breite maß die Portalanlage 23, 40 m oder 25, 60 m (84 oder 92 Werkschuh).31 Die Widmungsinschrift über dem mittleren Portal gen Hauptmarkt lautete: IMPERATORI CAESARI AUGUSTO CAROLO V. HISPANIARUM REGI & ARCHID AUSTRIAE/ CLEMENTISSIMO AC FOELICISSIMO PRINCIPI S.P.Q.N. HONORIS ET REUERENTIE ERGO P.32

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Eucharius Ulrich im Auftrag des Rats verfasste, heute im Staatsarchiv Nürnberg (StAN), Rep. 44a Rst. Nbg., Losungsamt S I, L 134, Nr. 19 und StAN, Rep. 67 Rst. Nbg., Krönungsakten, Nr. 1, fol. 132r–178r. Die Federzeichnung wird archiviert unter StAN, Rep. 506 Rst. Nbg., Bildsammlung, Nr. 35.64. Für einen Abdruck s. Renate Gold: Ehrenpforten, Baldachine, Feuerwerke. Nürnberger Herrscherempfänge vom 16. Jahrhundert bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, Nürnberg 1990, S. 79. StAN, Rep. 67 Rst. Nbg., Krönungsakten, Nr. 1, fol. 150r. Für die Maßangaben s. das Ehrlich einreitten 1541 (wie Anm. 28), S. A4v, Ulrichs handschriftliche Anmerkungen auf der Rückseite der Zeichnung (StAN, Rep. 506 Rst. Nbg., Bildsammlung, Nr. 35.64v) und die Bildunterschrift auf dem Einblattdruck (Abb. 5). Ein Nürnberger Werkschuh entspricht 0,2785 m. Ehrlich einreitten 1541 (wie Anm. 28), S. A3r.

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(Kaiser Karl V., Mehrer des Reichs, König von Spanien und Erzherzog von Österreich, dem gnädigsten und glücklichsten Fürst, haben Rat und Volk Nürnbergs [dies] aus Verehrung und Hochachtung aufgerichtet.)

Federzeichnung und Holzschnitt dokumentieren ungewöhnlich viele Herrschaftszeichen: Links und rechts des mechanischen Reichsadlers befanden sich die Säulen aus Karls Imprese und seine Devise Plus ultra. Ein Schild mit dem einköpfigen Reichsadler und die Wappen einiger Königreiche visualisierten den Anfang von Karls Herrschertitel, der da lautete: „[…] von Gottes Gnaden Römischer Kayser, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, König in Germanien, zu Castilien, Arragon, Leon, beyder Sicilien, Hierusalem, Hungarn, Dalmatien, Croatien […].“33 Und der (nur in der Federzeichnung abgebildete) Schlussstein im Gewölbe des Durchgangs verwies mit dem Andreaskreuz aus Lorbeerzweigen und dem vierfachen Feuerstahl auf den Orden vom Goldenen Vlies, dem Karl V. als Großmeister vorstand. Ginge es allein nach den Herrschaftszeichen, könnte die Nürnberger Ehrenpforte als symbolische Verkörperung Kaiser Karls V. verstanden werden. Wichtiger für die Aussage der Ehrenpforte sind aber die Personifikationen der Kardinaltugenden, die links und rechts des Durchgangs in Nischen standen: Iustitia und Prudentia besetzten die Seite gen Hauptmarkt, Fortitudo und Modestia34 die Seite gen Burg. Jeder Tugend war eine Inschriftentafel zugeordnet. Iustitia empfing Karl V. mit folgenden Versen: PARCERE SUBIECTIS/ ET DEBELLARE SUPERBOS CONVENIT INGENIO CAESAR INESSE TUO. SENTIAT OPTATAM PER TE TUA TURBA QUIETEM/ SUBQUE IUGUM PER TE BARBARUS HOSTIS EAT.35 (Kaiser, es gehört sich für dich, die Unterworfenen zu schonen und die Übermütigen zu besiegen. Dein Volk soll durch dich die ersehnte Ruhe spüren, und der barbarische Feind soll durch dich unter das Joch gehen.)

Die Inschrift bei Prudentia lautete: QUOD TIBI TAM CONSTANS FAUEAT VICTORIA CAESAR NON MODO FORTUNE MUNERIS ESSE PUTA/ SACRA SED AUGUSTUM MODERANS PRUDENTIA PECTUS, HUNC TITULUM LAUDIS MALUIT ESSE SUE.36 (Dass dich der Sieg stetig begünstigt, Kaiser, Glaube nicht, dass es sich nur um ein Geschenk des Schicksals handelt,

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Quellen zur Geschichte Karls V. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, 15), hg. v. Alfred Kohler, Darmstadt 1990, S. 8f. Modestia entspricht der platonischen Kardinaltugend Temperantia. S. die zeitgenössische Notiz von unbekannter Hand auf der Rückseite der Zeichnung (StAN, Rep. 506 Rst. Nbg., Bildsammlung, Nr. 35.64v). Ehrlich einreitten 1541 (wie Anm. 28), S. A4r. Ebd., S. A3v.

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sondern die heilige Klugheit, die dein erhabenes Herz leitet, wollte lieber, dass diese Inschrift von ihrem Lob zeuge.)

Fortitudo spielte auf die Bedrohung durch das Osmanische Reich an: SIC PER TE PLACIDAM CAPIAT GERMANIA PACEM UT TIBI NUNC ANIMIS CARMINIBUSQ[UE] FAVET SIC PER TE GETICUS NOSTRIS A FINIBUS HOSTIS/ PELLATUR/ VIRES SENSIT VT ANTE TUAS.37 (So soll Deutschland durch dich sanften Frieden genießen, wie es dir jetzt von den Herzen und in den Gedichten gewünscht wird. So soll durch dich der getische Feind von unseren Grenzen vertrieben werden, wie er schon früher deine Macht erfuhr.)

Modestia mahnte: INTER OPES TANTAS/ INTER TOT REGIA SCEPTRA/ QUAE TU DIUINO MUNERE CAESAR HABES/ TEMPERAT EXCELSAM MITIS MODERATIO MENTEM. PRINCIPE QUID TANTO DIGNIUS ESSE QUEAT?38 (Unter so großen Reichtümern, unter so vielen Königreichen, die du, o Kaiser, als göttliches Geschenk besitzt, zügelt die sanftmütige Mäßigung das erhabene Gemüt. Was könnte für einen so großen Fürst ziemlicher sein?)

Mit den Personifikationen der Kardinaltugenden visualisierte die Ehrenpforte ein klassisches Tugendprogramm. Unkonventionell waren nur die Verse, die bei den Tugenden standen. Sie unterschieden sich, wie erwähnt, durch einen exzessiv gebrauchten Konjunktiv von anderen Inschriften. Dass nicht der Istzustand, sondern der Sollzustand verhandelt wurde, kam auch inhaltlich zum Ausdruck, denn die Kardinaltugenden wurden in Nürnberg nicht als Attribute des Kaisers gelobt. Karl V. wurde stattdessen aufgefordert, sie zur Maxime seines politischen Handelns zu machen. Arthur Groos hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass die Nürnberger Ehrenpforte die eigentliche Legitimation monarchischer Herrschaft – das Gottesgnadentum – ignorierte, indem sie Prudentia, Iustitia, Fortitudo und Modestia benutzte, um Karls Macht zu rechtfertigen.39 Deutlich wird dies besonders bei der Inschrift, die Prudentia zugeordnet war.40 Sie negierte die von den kaiserlichen Propagandisten verbreitete Vorstellung, dass

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Ebd., S. A4r. Ebd., S. A4v. Groos 2001 (wie Anm. 27), S. 143: „In their movement from external to internal, fortune and wealth to his heart and mind, these epigrams address Charles’s potential to rule not through divine grace or the right of lineage, the Catholic grounding of church and state, but solely through his merits – that is, his virtues […].“ S. hier S. 11 sowie Anm. 36.

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Karls militärische Erfolge seiner übermenschlichen Stärke, dem Schicksal oder göttlicher Fügung geschuldet seien, sondern erklärte seine Siege einzig zum Verdienst der Klugheit. Mit derartigen Inschriften repräsentierte der Nürnberger Bogen ein humanistisches Tugendideal. Im Unterschied zu dem Programm, das sich 1526 an den sieben Ehrenpforten in Sevilla befunden hatte, wurde Karl V. in Nürnberg aber weder als Tugendexempel verherrlicht noch für geleistete Taten gelobt. Die Nürnberger hofften vielmehr, das Handeln des Kaisers in einer für sie günstigen Weise beeinflussen zu können. Diesbezüglich aufschlussreich ist die Inschrift, die bei Iustitia stand. Mit „PARCERE SUBIECTIS/ ET DEBELLARE SUPERBOS“ zitierte sie Vergils Aeneis.41 Die Strophe war in Augustinus’ Gottesstaat zum Topos für die römische Herrschaftsweise geworden und hatte als solcher Eingang in die mittelalterliche Scholastik, in Fürstenspiegel und humanistische Schriften gefunden.42 Was dort als allgemeine herrscherliche Verhaltensnorm präsentiert wurde, war in Nürnberg allerdings mit konkreten Erwartungen verbunden. Eine zeitgenössische Druckschrift, die die Inschrift nur sinngemäß übersetzt, zeigt an, welche Vorstellung von Gerechtigkeit hinter dem Zitat stand. Demnach instruierte die Inschrift den Kaiser: Das du der deinen vnterthan Verschonen sollt/ welche dir naygen/ Den hoffertigen thu krieg erzaygen Die dir vnthorsam widerstreben.43

Die Übersetzung kommuniziert damit indirekt, was sich die loyalen Nürnberger – in der lateinischen Vorlage die „subiectis“, im deutschen Text die „vnterthan […]/ welche dir naygen/ […]“ – von Karl V. wünschten: die Anerkennung ihrer Treue (sprich: ihre Rehabilitation), nachdem der Kaiser sie für ihren Wechsel zum Protestantismus zwei Jahrzehnte mit Missachtung bestraft hatte. Die Schwierigkeiten, die der Einzug des katholischen Kaisers den protestantischen Nürnbergern bereitete, waren allgemein bekannt. In einem Bericht, den der Bischof von Aquila am 18. Februar 1541 aus Nürnberg nach Rom sandte, heißt es diesbezüglich: „[…] questa città ha molto desiderata et affectata la venuta di S. Mtà, qual ha obtenuta con difficultà per esser la città più infecta [dal Lutheranismo] di Germania […].“44 Die Ehrenpforte spiegelt diese Zerrissenheit wider. Sie bezeugt die Freude über die Ankunft des Kaisers ebenso wie gewisse Vorbehalte. Insgesamt formulierte sie aber die Hoffnung

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Vergil: Aeneis, Buch VI, 851–853. Augustinus: Vom Gottesstaat (dtv-Klassik, 2160), aus dem Lat. übertr. v. Wilhelm Thimme, eingel. u. komment. v. Carl Andresen, Bd. I: Buch 1-10, München 21985, S. 3, 11, 247. Ehrlich einreitten 1541 (wie Anm. 28), S. A4r. Gesandtschaft Campegios. Nuntiaturen Morones und Poggios. 1540–1541 (Nuntiaturberichte aus Deutschland 1533–1559 nebst ergänzenden Aktenstücken, 6), hg. v. Ludwig Cardauns, Berlin 1910, S. 141 („Bernardo Sanzio an Alessandro Farnese, Nürnberg, 18. Februar 1541“, S. 140–142).

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auf eine bessere, gemeinsam mit dem Kaiser gestaltete Zukunft. Die Inschrift, die sich über dem mittleren Portal auf der Rückseite der Ehrenpforte befand, fasst diese Stimmung in Worte: VICTRICES AQUILAS/ VICTRICIA SIGNA POTENTIS IMPERII/ TIBI QUOD CAROLE MAGNE SUBEST/ NORICA VENTURO RESPUBLICA CAESARE GAUDENS OFFICIUM POSUIT TESTIFICATA SUUM.45 (Die siegreichen Adler und die Siegeszeichen des mächtigen Reichs, welches dir, großer Karl, untersteht, hat die Stadt Nürnberg aus Freude über die bevorstehende Ankunft des Kaisers als Zeugnis ihrer Dienstbarkeit aufgestellt.)

Im Einzug wollten die Nürnberger vor allem Ergebenheit demonstrieren. Ihren Glauben stellten sie nicht zur Disposition. Stattdessen okkupierten sie über die belehrenden Inschriften die ethisch-moralische Oberhoheit, was das Programm der Ehrenpforte inhaltlich in die Nähe von Fürstenspiegeln rückt. Die Forschung hat dem Einzug deshalb einstimmig die Prädikate ‚kaisertreu‘ und ‚lutherisch‘ verliehen.46 Die Unterschiede zwischen dem panegyrischen Festapparat, mit dem die Bürger von Sevilla 1526 ihren Kaiser empfingen, und der mahnenden – gleichwohl untertänigen – Ehrenpforte, die die Reichsstadt Nürnberg 1541 errichtete, sind offenkundig. Noch größer sind die Diskrepanzen zu den Dekorationen, die die Päpste Clemens VII. und Paul III. für Karl V. bereithielten: Hier kommunizierte kein Untertan, sondern ein ebenbürtiger Staatsmann. Die Erwartungshaltung wurde in beiden Einzügen unverblümt mitgeteilt, machtpolitische Rivalitäten kamen offen zur Sprache. Clemens VII. erwartete Karl V. am 5. November 1529 in Bologna, das damals zum Kirchenstaat gehörte. In der Inschrift am Stadttor hieß es: CLEMENS. VII. PONT. MAX. TE CAROLO CAESAR AUG. IMP. INVICTE, AD SE VENIE[N]TEM, CUM POMPA ET OVATIONE ACCIPIT, IDEMQ[UE] SPERAT DIVINA OPE AC VIRTUTE TUA FRETUS, MOX IMPIIS HOSTIBUS DEBELLATIS, ORNATISSIMO ET ATQ[UE] AMPLISSIMO TRIUMPHO DECORATURUM.47 (Papst Clemens VII. empfängt dich, Kaiser Karl, unbesiegten Mehrer des Reichs, der zu ihm gekommen ist, mit Pracht und einer ovatio, und er hofft im Vertrauen auf die göttliche Kraft und deine Tugend, dich bald, nachdem die gottlosen Feinde bezwungen sind, mit dem schönsten und größten Triumph zu schmücken.)

Clemens wollte seinem Gast also einstweilen nur die ovatio, den kleinen Triumph, zubilligen. Doch stellte er in Aussicht, Karl V. den schönsten und größten Triumph (gemeint 45 46 47

Ehrlich einreitten 1541 (wie Anm. 28), S. A3r. Kircher 1955 (wie Anm. 27), S. 71; Gold 1990 (wie Anm. 29), S. 33; Groos 2001 (wie Anm. 27), S. 136f. Di Carolo Cesare Imperator augusto la ammiranda et triumphal Intrata in Bologna. Le cerimonie pontificali et Imperiali, il catalogo delli Grandi de Spagna et daltri principi, et le cinque imprese di Cesare pertinenti alla salute del mondo, secondo li auisi mandati de Corte al Reuerendissimo et Illu-

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ist die römische pompa triumphalis) zu bereiten, wenn „die gottlosen Feinde“ bezwungen sind. Was steckte dahinter? Die Absicht offenbarte sich an einem ephemeren Quadrifrons in der Stadt: Dort wollte Clemens Karl V. auf die mittelalterliche Rolle des Kaisers als Schutzherr der Kirche wider Heiden und Ketzer verpflichten und präsentierte historische Vorbilder, denen Karl V. nachfolgen sollte. Die zugehörigen Inschriften erklärten, Kaiser Konstantin werde gefeiert, weil er den Christen im Edikt von Mailand 313 die freie Religionsausübung gestattet hatte, Karl der Große, weil er Heiden besiegt und das christliche Frankenreich vergrößert hatte, König Sigismund, weil er auf dem Konzil von Konstanz 1414–1418 das abendländische Schisma beendet und die Autorität des Papstes wiederhergestellt hatte, und Ferdinand der Katholische, weil er Juden und Mauren aus Spanien vertrieben und seinerzeit den Papst unterstützt hatte.48 Auch im weiteren Programm reklamierte der Quadrifrons in Clemens’ Interesse unverhohlen die päpstliche Suprematie über den Kaiser und rief Karl V. dazu auf, politisch und militärisch für Kirche und Glauben einzutreten. Etliche Jahre später war die Sprache noch deutlicher: Paul III. ehrte Karl V. in Rom am 5. April 1536 mit einem triumphalen Festapparat, der Roms antike Monumente einbezog.49 Ephemere Dekorationen verbanden die Geschicke von Papsttum und Kaisertum mit Roms glorreicher Vergangenheit. Dass der Papst den Kaiser jedoch keinesfalls als gleichrangig ansah, trat an einer Ehrenpforte auf der Piazza San Marco (heute Piazza Venezia) zutage. In der Widmungsinschrift grüßte Paul III. Karl V. mit dem Kaisertitel Karls des Großen, der mit der Formel „a Deo coronato“ die sakrale Legitimierung weltlicher Herrschaft betonte und folglich die Unterordnung des Kaisers unter Gott implizierte – und unter den Papst, der sich seit dem Mittelalter als Christi Stellvertreter auf Erden verstand. Besagte Inschrift lautete: CAROLO. V. AVG. A DEO CORONATO MAGNO ET PACIFICO ROMANORVM IMP.50 (Karl V., dem Mehrer des Reichs, dem von Gott gekrönten, großen und friedenstiftenden Kaiser der Römer.)

Das vielerorts in Widmungsinschriften auf Karl V. bezogene Attribut divus entfiel. Durch das Zitat, das aus dem Jahr 801 stammte und eine längst überkommene Mächtekonstel-

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strissimo Cardinal de Monte, Vescouo Portuense et Legato de Roma, s. l. 1529, S. B2r. Zum Einzug von Karl V. in Bologna zuletzt (mit weiterführenden Hinweisen) Giovanni Sassu: Il ferro e l’oro. Carlo V a Bologna 1529–30 (Diss. Bologna, 2005), Bologna 2007, S. 40–53. Intrata 1529 (wie Anm. 47), S. B3r–v. Zum Einzug von Karl V. in Rom (mit weiterführenden Hinweisen) s. Maria Luisa Madonna: L’ingresso di Carlo V a Roma, in: La festa a Roma. Dal Rinascimento al 1870, hg. v. Marcello Fagiolo, Bd. I, Turin 1997, , S. 50–65; Marta Carrasco Ferrer: Carlos V en Roma. El triunfo de un nuevo Escipión, in: Carolus, Ausstellungskatalog (Toledo, Museo de Santa Cruz, 2000), hg. v. Fernando Checa, Madrid 2000, S. 81–101. [Andrea Sala:] Ordine pompe, apparati, et cerimonie, delle solenne intrate, di Carlo V. Imp. sempre avg. nella citta di Roma, Siena, et Fiorenza, Rom (Antonio Blado) 1536, S. B2v.

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lation repräsentierte, reduzierte Paul III. den ‚Vergöttlichten‘ (divus) auf äußerst elegante Weise zu einem „von Gott Gekrönten“ (a deo coronatus) – und stutzte Karl V. damit auf menschliches Maß. Doch kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Wie kommunizierten die lokalen Herrschaftsträger im Einzug politisch mit dem Herrscher? Wie wurde der Herrscher belehrt und an tugendhaftes Verhalten erinnert, ohne dass protokollarische Vorgaben missachtet wurden? Die Analysen der Dekorationen aus Sevilla und Nürnberg belegen, dass über Tugendprogramme Botschaften lanciert wurden, die der Herrscher mit Erasmus von Rotterdam ermahnend – nicht schmeichlerisch – verstehen sollte. Details wie die räumliche Sequenz der Ehrenpforten oder der Gebrauch des Konjunktivs erweisen sich als bedeutungsvoll. Sie bewirkten, dass die äußerlich vermeintlich konformen Tugendprogramme inhaltlich divergierten. Der dahinterstehende Impetus war zweifellos moralisierend. Ein flüchtiger Blick auf die Dekorationen konnte die eigentliche Aussage aber nur unzureichend erfassen. Als Herrscherlob getarnt, schien die Kommunikation mit dem Herrscher ganz dem gebotenen Respekt zu entsprechen. Strategisch betrachtet, sollten derartige Festapparate wohl deeskalierend wirken. Anders nämlich stellten sich die Festapparate ebenbürtiger Gastgeber in Bologna und Rom dar: Hier wurden auch schwierige Themen kommuniziert, ohne deren Brisanz zu verschleiern. Ob der Herrscher die Bedeutungsnuancen im Einzugstrubel wahrnahm und vielleicht sogar aus ihnen politische Konsequenzen zog, ist für Kaiser Karl V. am überlieferten Quellenbestand nicht zu verifizieren. Deshalb ist an dieser Stelle lediglich als Faktum festzuhalten, dass die Untertanen den Versuch unternahmen, via Ehrenpforte politisch auf Karl V. einzuwirken.

Kosmopolitische Weltsicht: die Umdeutung des mittelalterlichen Europa in Versailles 1919 Madeleine Herren Als Emile Joseph Dillon 1919 nach Paris reiste, um über das Ende des Ersten Weltkriegs und den anstehenden Friedensschluss zu berichten, war er 65 Jahre alt und hatte schon einiges erlebt. Der irische Journalist und Professor, Asienwissenschaftler und Sanskritkenner hatte bereits über das Ende des so genannten „Boxeraufstands“ berichtet, die russische Delegation 1905 nach Portsmouth begleitet und Bücher über deutsche Diplomatie geschrieben. Dennoch zeigte er sich 1919 von der Pariser Friedenskonferenz überwältigt. In seiner Schilderung ertrinkt die Suche nach neuer politischer Stabilität in Metaphern der Dynamik: Paris sei zur Karawanserei geworden, Schleusentore seien geöffnet und die Welt von „anarchist internationalities“1 geflutet worden. In dieser Szenerie fielen politische Entscheidungen, während ehemalige Herrscher frierend durch die Straßen zogen, die Tanzlehrerin Madame Machin das Geschäft ihres Lebens machte2 und selbst im vornehmen Hauptquartier der britischen Delegation, dem Hotel Majestic, zu Jazz getanzt werden konnte. Der globale Kontext und die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit in Paris bekamen Europa offensichtlich nicht gut – aus dem einstigen Machtzentrum war in Dillons Schilderung „a clay ready for the creative potter“3 geworden. Die Entscheidungen in Paris und die in den Pariser Vororten Versailles, St. Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres paraphierten Friedensverträge prägen die heutige Weltordnung. Zusehends gewinnt allerdings ein Dilemma an Aufmerksamkeit, das bereits 1919 beunruhigte: Welchen politischen Einfluss hat die globale Arena? Wie verträgt sich militanter Nationalismus mit einer unausweichlich gewordenen kosmopolitischen Weltoffenheit, vor allem aber: welche Identität hat ein mehrfach neu gestaltetes Europa? Konnte 1919 aus der Asche eines imperialistischen Konzerts der Großmächte endlich jenes Europa aufsteigen, das sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ankündigte, ein Europa der patriotischen Kosmopoliten, eines, das seine Identität in der Ausprägung grenzübergreifender Netzwerke und der globalen Erweiterung bürgerlicher Rechte sah? Die Frage, ob 1919 zumindest die Möglichkeit einer internationalen Öffentlichkeit entstand und wer die Deutungsmacht beanspruchte, ist bislang für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vornehmlich unter der Voraussetzung einer misslungenen Entwicklung diskutiert worden.4 In der Tat scheinen die politischen und sozialen Gegensätze verbin-

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Emile Joseph Dillon: The Inside Story of the Peace Conference, New York/London 1920, S. 512. Ebd., S. 30. Dillon vergaß nicht zu erwähnen, dass der Töpfer aus dem Weißen Haus in Europa eine weitgehend unbekannte Figur war. Ebd., S. 92.

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dender als die Gemeinsamkeiten. Dabei wird allerdings übersehen, dass die Merkmale der Friedenskonferenz – die Präsenz einer internationalen Öffentlichkeit, die Rolle der Experten, der Auftritt neuer Akteure – letztendlich nicht ohne die Anerkennung komplexer grenzübergreifender Netzwerke jenseits diplomatischer Organisation erklärt werden können. Die zahlreichen autobiographischen Schilderungen ehemaliger und selbsternannter Experten5 bestätigten und erweiterten selbst in ihren kritischen Auseinandersetzungen mit den Friedensverträgen, dass Paris 1919 den Kern einer kosmopolitischen imagined community darstellte. Die Pariser Friedenskonferenz kann rückblickend als einer der globalsten Momente in der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschrieben werden. Als globales Ereignis erscheint sie in den Biographien von Ho Chi Minh bis Aga Khan. In der Geschichte der Neuzeit dominieren allerdings die zwischenstaatlichen und nationalen Folgen, während globalhistorische Methoden zur Analyse der Pariser Friedenskonferenz erst in letzter Zeit in Betracht gezogen werden. Dabei sind interdisziplinäre Ansätze wie der New Cosmopolitanism von besonderer Bedeutung. Dieser schlägt vor, die Schnittstelle zwischen regionalen Identitäten und globalen Handlungsmöglichkeiten als einen ‚dritten Raum‘, einen third space, zu verstehen.6 In diesem ‚dritten Raum‘, den wir hier einer transkulturellen Geschichte zuordnen, verdichten sich verschiedene Grenzüberschreitungen zur kosmopolitischen Kooperation. Der Erfindung der Nation nicht unähnlich, braucht der ‚dritte Raum‘ gemeinsame Symbole und Metaphern, allerdings mit dem bedeutenden Unterschied, dass nichtsprachliche Bedeutungsträger wie Bilder, Symbole, Rituale und Objekte eine wichtigere Rolle spielen. Eine kosmopolitische imagined community kann neue Formen der Identitätsbildung schaffen, aber auch auf bereits bestehende grenzübergreifende Konzepte zurückgreifen. In den folgenden Ausführungen wird der Vergangenheit in der Konstruktion des Nachkriegseuropas besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die 1919/1920 angestoßenen Debatten um die Restitution von Kunstwerken verliehen diesen nicht nur eine besondere Bedeutung als kulturelles Erbe. Letztlich ging es um mehr als die Frage, welche Nation die flämische Malerei zu ihrer Geschichte rechnen durfte – letztlich konzentrierte sich der während der Friedenskonferenz ausgebrochene Streit auf die europäische Vision einer kosmopolitischen imagined community. Im Folgenden werden die Elemente globaler Deutungsbereiche und Handlungsspielräume gegen den Internationalismus des 19. Jahrhunderts abgegrenzt und in einem weiteren Schritt die Beanspruchung von Kulturgütern als neue Konstruktion Europas vorgestellt.

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Als neueres Beispiel s. Zara Steiner: The Lights that Failed, European International History, Oxford 2005. Neben Dillon beispielsweise James T. Shotwell: At the Paris Peace Conference, New York 1937; What Really Happened at Paris: The Story of the Peace Conference, 1918–1919, hg. v. Edward Mandell House/Charles Seymour, New York 1921. Gerard Delanty: The Cosmopolitan Imagination: the Renewal of Critical Social Theory, Cambridge 2009.

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I. Third space und transkulturelle Geschichte Aus der Sicht der Geschichtsschreibung erlaubt die Annahme eines third space, die Welt als mehr zu begreifen als die Summe ihrer nationalen und regionalen Geschichten. Da das nationalgeschichtliche Paradigma mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung strukturell verbunden ist, erscheint es hilfreich, von einer transkulturellen Geschichte auszugehen. Diese soll im Folgenden die Fokussierung auf Grenzüberschreitungen beinhalten und postkoloniale Konzepte von Dipesh Chakrabarty und Arjun Appadurai mit dem von Etienne Balibar vorgeschlagenen Modell eines vielschichtigen, polysemantischen Verständnisses von Grenzen einbeziehen.7 Eine transkulturelle Geschichte antwortet auf die inzwischen vielfach gestellte Forderung nach der Offenlegung von Eurozentrismus und methodischem Nationalismus. Das Konzept strebt allerdings weniger eine dezidiert kulturwissenschaftliche Historiographie, sondern eine methodische Erweiterung an. Transkulturelle Geschichte nutzt einen breiten Kulturbegriff als Beschreibung eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses um Bedeutungszuweisungen und Ordnungsvorstellungen.8 Kulturen sind daher nicht Entitäten, sie werden nicht als autochthone Gebilde vorgestellt, sind nicht mit Nationen identisch und nicht territorial begrenzt. Auch wenn Kulturen sich selbst als klar abgrenzbare Entitäten einschätzen, sind sie auf zahlreichen Ebenen eng miteinander verflochten. Selbst wenn eine bestimmte Meistererzählung sich durchzusetzen vermag, werden die bestehenden kulturellen Verflechtungen keineswegs hinfällig. Stattdessen bringen konfliktreiche Aushandlungsprozesse eine bestimmte Lesart der komplexen kulturellen Textur in den Vordergrund. Jederzeit, so die hier vertretene These, können die durch dominante Ordnungsvorstellungen gesetzten Grenzen ihren Charakter verändern und sich von identitätsstiftenden Zäsuren zu Bruchstellen verwandeln. Statt eine Gesellschaft nach funktionalen und strukturellen Elementen zu differenzieren, wird also eine Geschichte transkultureller Verflechtungen postuliert9, bei denen Grenzüberschreitungen, Sanktionen und Konflikte unvermeidlich sind und im Zentrum der historischen Analyse stehen. Entgegen der Illusion einer chronologischen Ordnung sind diese nicht sequenziell zu denken, sondern als komplexe Überlagerung, so dass eigenständige, multiple Handlungsräume jenseits nationaler Entitäten entstehen, die sich aber ebenso wenig der dynamischen Wechselwirkung entziehen können wie das damit herausgeforderte Ordnungsmodell der Nation. Auf die Zeit zwischen 1919 und 1939 angewendet, ermöglicht eine transkulturelle Historiographie die Erweiterung der Vorstellung von lokal, regional und national geprägten Handlungsräumen. Wie aber können transkulturelle Verflechtungen methodisch und

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Dipesh Chakrabarty: Provincialising Europe, Princeton, NJ 2003; Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalisation, Minneapolis, MN 1996. Etienne Balibar: Politics and the other Scene, London 2002. Ulf Hannerz: Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992. Dabei wird auf den von Wolfgang Welsch modernisierten Begriff der Transkulturalität zurückgegrif-

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empirisch erfasst werden? Der Begriff der Globalisierung erscheint mit seiner breiten Vielfalt an Deutungs- und Anwendungsmöglichkeiten zwar inspirierend, aber für präzise Beschreibungen nicht hinreichend. Daher wird für den folgenden transkulturellen Ansatz der neue Kosmopolitismus-Begriff des britischen Soziologen Gerard Delanty herangezogen, der größere Differenzierungen ermöglicht. Delanty unterscheidet zwischen drei analytischen Ebenen. Eine erste setzt sich mit lokalen und nationalen Eigenheiten auseinander, eine zweite fokussiert auf Globalisierung und auf das Bewusstsein einer global vernetzten Außenwelt. Eine dritte verbindet die das jeweilige Selbstverständnis prägende Interaktion zwischen lokal/nationaler und globaler Ebene. Diese dritte Ebene stellt analytisch einen eigenständigen Bereich des Kosmopolitischen dar.10 Solche Annahmen sind bislang vorzugsweise als Merkmal des 21. Jahrhunderts diskutiert worden. Ohne zu bestreiten, dass die Ausprägungen derartiger Merkmale in der Tat zeitabhängig sind, kann ein transkulturelles Forschungsdesign aber auch neue Erkenntnisse für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglichen. Kriegsende und Friedensfindung erscheinen dafür sogar besonders geeignet. Der transkulturelle Blick auf die Friedensverhandlungen in Paris 1919 versteht die Verhandlungen selbst als temporäre Verdichtung einer kosmopolitischen Gesellschaft auf engem Raum. Diplomaten, Experten, Migranten, Soldaten, Witwen, Politiker, Touristen, Maler, Wissenschaftler, Journalisten, Flüchtlinge, Kriegsgewinnler und Fotografen aus jeder erdenklichen Gegend der Welt – die bunt gemischte und sich permanent wandelnde Welt der Friedensverhandlungen weist über die Vorstellung einer wohlgeordneten Diplomatenkonferenz weit hinaus.11 Ein Blick auf die in Paris eingesetzten Experten erhellt die wissenschaftshistorischen Rahmenbedingungen der Suche nach neuen Ordnungsvorstellungen. Ein europäisch geprägtes begriffliches Instrumentarium behauptete zwar in der Tat seine universelle Anwendbarkeit.12 Allerdings bildete sich hier auch eine disziplinäre Arbeitsteilung aus, die insbesondere für Neuzeithistoriker zu weitreichenden und vor allem einseitigen Präferenzen führte. Viele Neuzeithistoriker spezialisierten sich in den Jahren nach der Pariser

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fen. Wolfgang Welsch: Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today, in: Spaces of Culture, hg. v. Mike Featherstone/Scott Lash, London 1999, S. 194–213. Delanty 2009 (wie Anm. 6), S. 11. Selbst aus der Perspektive der bislang verfolgten Fragestellungen der politischen Geschichte ergibt sich damit ein wesentlich breiteres Panorama. Obwohl es, beispielsweise von Erez Manela, unterdessen Ansätze zur globalen Interpretation der Pariser Friedenskonferenz gibt, die über die Konsequenzen des Versailler Vertrages für Deutschland hinausgehen, so ist dennoch eine beträchtliche Forschungslücke anzumerken. Die befremdliche Gleichzeitigkeit der Interpretationen des Vertrages von Versailles als europäische Katastrophe und Beginn der Souveränität der britischen Dominions und Indiens ist bislang nicht adäquat berücksichtigt worden. Erez Manela: The Wilsonian Moment: Self-determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007. Zur Schwierigkeit der universellen Begriffsbildung vgl. Daston und deren Hinweis auf die Problematik der gemeinsamen wissenschaftlichen Benennung von Wolkenformen. Lorraine Daston: On Scientific Observation, in: Isis, XCIX, 2008, S. 97–110.

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Friedenskonferenz zusehends auf die Kriegsschuldfrage und folgten der westlichen Nationalgeschichtsschreibung.13 Auch bei der Friedenskonferenz selbst waren für Räume jenseits des westlichen Nationalstaates andere zuständig: Für die Ordnung im Nahen Osten holte sich die britische Regierung Gertrude Bell und Lawrence of Arabia, die ihren fachhistorischen Hintergrund zusehends mit einem regionalspezifischen Fokus versahen und Archäologie sowie arabische Sprachkenntnisse einsetzten. Die Debatte um Reparationszahlungen rief keineswegs nur nach der Fachkompetenz der Ökonomen, sondern auch nach dem Expertenwissen der Kunsthistoriker. Diese gehörten zu den nationalen Delegationen14 und ihre Kenntnisse über die Provenienz von Kunstwerken spielten eine zentrale Rolle für die von der Reparationskommission verhandelten Restitutionsansprüche.15 Die Macht der Experten ergibt eine überzeugende Vorstellung davon, wie der einstige Arkanbereich der Diplomatie durchlässig wurde und eine internationale Zivilgesellschaft zusehends eine grenzübergreifende Öffentlichkeit schuf. Statt der üblichen Lesart zu folgen, dass nach dem Ersten Weltkrieg eine zerstörte alte Welt einer neuen Ordnung Platz machte, ermöglicht ein transkultureller Ansatz eine kritische Alternative zu einem chronologischen Entwicklungsmodell. Wenn wir die Pariser Friedenskonferenz als selbstreferenzierende Bestätigung eines konstruierten Wandels lesen, so ist zumindest nicht auszuschließen, dass die Auflösung des europäischen Konzerts nach drei unterschiedlichen Seiten gedacht werden kann. Zunächst als Aufbruch zu einer Ordnung, in der neben Staaten neue Akteure den third space bestimmen, etwa internationale Organisationen wie der Völkerbund, aber auch neue Plattformen der internationalen Zivilgesellschaft als grenzübergreifende Konsequenz der nationalen Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Eine zweite Option, ein hybrides Konglomerat aus Diplomatie und Zivilgesellschaft, zeigt Handlungsräume jenseits nationaler Grenzen fernab von den vormals exklusiv geltenden Regeln der Diplomatie. Die Bühne der großen Welt von Paris wurde bespielt von Akteuren, für die Lawrence of Arabia ein leuchtendes Beispiel abgab. Der gut aussehende Thomas Edward Lawrence, als Berater von König Faisal 1919 in Paris, kompensierte die Entfernung zum inneren Kreis der Macht mit öffentlichkeitswirksamen Auftritten und diplomatischer Mimikry. Eine dritte Möglichkeit erscheint allerdings ebenfalls denkbar: Die Suche nach einer Ordnung, welche die Verhandelbarkeit von Grenzen und die Vorstellung einer kosmopolitischen imagined community in der Vergangenheit lokalisiert.

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Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, München 2003. Als Beispiel sei der britische Kunsthistoriker Eric Maclagan zitiert. Er gehörte 1919 der britischen Delegation an und übernahm 1924 das Direktorium des Victoria and Albert Museums. Reparation Commission, Annex No 1141, Hugh A. Bayne/Jacques Lyon/J. Fischer Williams: Belgian Claims to the Triptych of Saint Ildephonse and the Treasure of the Order of the Golden Fleece, Report of the Committee of Three Jurists, Confidential, Paris 1921.

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II. Die Suche nach der kosmopolitischen Vergangenheit vor 1914: Europäisches Völkerrecht in schwedischem Granit und mexikanischem Onyx Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich in Europa eine Zivilgesellschaft ausgebildet, die den Begriff des Internationalismus nutzte, um die Verdichtung globaler Kommunikation, die Herausbildung einer Weltwirtschaft und die den Alltag beeinflussenden Standardisierungsprozesse politisch zu deuten. Internationalismus basierte auf der modernen Entwicklung des Völkerrechts, verfolgte aber ein zivilgesellschaftliches Konzept, bei dem transnationale Organisationen unterschiedlichster Ausrichtung ein Recht an der Gestaltung internationaler Beziehungen einforderten. Internationalisten pflegten mitunter ein nahes Verhältnis zum Imperialismus16 und zu Vorstellungen einer public diplomacy. Internationalisten und Internationalistinnen stellten eine heterogene, nicht ausschließlich, aber vornehmlich europäisch-amerikanische beziehungsweise westlich orientierte Gruppe dar, die mit der sozialistischen Internationale höchstens partielle Berührungspunkte hatte. Fabier und Kathedersozialisten, internationale Frauenverbände, Pazifisten und grenzüberschreitend tätige Wissenschaftler pflegten die Vorstellung einer globalen Zivilgesellschaft, in der sich bürgerliche Emanzipationsvorstellungen und Fachkompetenzen mit dem Anspruch auf eine Beteiligung an der internationalen Politik verbanden.17 Diese betont transnational ausgerichtete Gesellschaft suchte die Nähe der Diplomatie, aber übersetzte den staatlichen Arkanbereich gerne in medienwirksame Öffentlichkeit. Das bevorzugte Umfeld des Vorkriegsinternationalismus bestand in internationalen Kongressen, in Weltausstellungen und selbstreferenzierenden Aktivitäten wie den jährlichen Nobelpreisverleihungen. Obwohl dieser Vorkriegsinternationalismus einen dezidiert europäischen Fokus aufweist und die kosmopolitische imagined community sich über programmatische Texte und multilinguale Sprachkompetenzen konstruierte18, fand die Visualisierung des Internationalismus in den seit 1851 veranstalteten Weltausstellungen einen spektakulären, wenn auch nur temporären Ausdruck. Mit der Gestaltung grenzübergreifender Anliegen taten sich allerdings Internationalisten schwer. Die Debatten um den Bau des 1913 eröffneten Haager Friedenspalastes zeigten ein grundsätzliches Problem grenzübergreifender Konzepte, nämlich deren Bedürftigkeit nach einer zitierbaren Vergangenheit, nach einer invention of tradition.19 Das Resultat bestand schließlich in einem Gebäude im Stil der 16 17

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Als Beispiel sei der britische Internationalist und Verfechter von Greater Britain, T. W. Stead, zitiert. Zu den prägendsten Definitionen des Internationalismus vgl. Max Huber: Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts, Berlin 1928; John Culbert Faries: The Rise of Internationalism (Ph.D. diss., Political Science Columbia University, New York 1915). Statistiken und Grafiken spielen dabei an der Schnittstelle von Bildlichkeit und Text eine bedeutende Rolle. Statistische Nachweise des Internationalismus gewannen in langen, nach Ländern chronologisch geordneten Listen eine spezifische, wettbewerbstaugliche Form der Visualisierung. Vgl. Alfred Hermann Fried: Das Internationale Leben der Gegenwart, Leipzig 1908. Edward W. Leeuwin: ‚The Arts of Peace‘: Thomas H. Mawson’s Gardens at the Peace Palace, the Hague, in: The Garden History, XXVIII/2, 2000, S. 262–276.

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Renaissance, ausgeführt in einer symbolgeladenen Bildersprache, in der das Baumaterial eine nationale Konnotation erfuhr, indem der Besucher seinen Fuß auf schwedischen Granit und mexikanischen Onyx setzte.20 Die Visualisierung grenzüberschreitender Räume hatte demnach in der unmittelbaren Vorkriegszeit einen konservativen und historistischen Anstrich, auch dann, wenn die Vorstellung einer cité du monde imaginiert wurde.21 Im Zentrum der von Hendrik Christian Andersen 1913 geplanten Welthauptstadt stand zwar ein tour du progrès, der gleichzeitig als Telegraphenstation diente und nicht mehr christliches Heil oder Erleuchtung, sondern in erster Linie Information vom Himmel erwartete. Dennoch wurde auch in diesem Entwurf der third space mit historistischer Schwere möbliert und grenzübergreifender Fortschritt als verschnörkelte Kombination aus Eiffelturm und antiker Siegessäule vorgestellt. III. Europa und das Goldene Vlies – das Mittelalter der Friedensverträge An der Pariser Friedenskonferenz wurden die Welt der Gegenwart geschaffen, neue Grenzen gezogen, internationale Entscheidungsfindung etabliert und Dekolonisierung angestoßen. Umso bemerkenswerter ist die Aufmerksamkeit, welche jener Vergangenheit galt, die das kosmopolitische Europa im Mittelalter verortete und ihren Ausdruck in Restitutionsforderungen von Kunstwerken fand. Unbestrittenen Ausgangspunkt dieser Debatte stellte die Vernichtung der Universitätsbibliothek von Louvain im Ersten Weltkrieg dar, die das Bild unzivilisierter deutscher Zerstörungswut zementiert hatte. Auf der Pariser Friedenskonferenz folgten Wiedergutmachungsforderungen als wenig erstaunliche Konsequenzen. Bald allerdings beschränkten sich diese weder auf den Fall von Louvain noch auf den Versailler Vertrag. Bei den Friedensverhandlungen stand letztendlich das mittelalterliche Europa zur Debatte. Staaten forderten die alten Symbole eines nationenübergreifenden Europa nicht in erster Linie als Kriegsbeute. Die Übergabe wurde vielmehr aus einem Besitzanspruch abgeleitet, der hunderte von Jahren zurückreichte und in einer der Öffentlichkeit sehr wohl zugänglichen Debatte die Geschichte Europas in einer Weise aufrollte, die als Selbstversicherung verstanden werden kann. Aus einer transkulturellen Fragestellung treten dabei zwei Elemente in den Vordergrund. Zum einen fand die Debatte in einem globalen Kontext statt, europäisches Kulturerbe war Teil einer weltweiten Restitutionsdebatte. Die Heilige Lanze stand ebenso auf der Liste von Restitutionsforderungen wie der Schädel eines afrikanischen Sultans und die Ansprüche Pekings auf die Rückgabe astronomischer Instrumente. Allein der Kontext der Forderungen zeigte demnach das Ende der exklusiven Vormachtstellung Europas an. Als zweites Merkmal fällt die scheinbare Absurdität der Argumentation auf. 1919 überlagerten sich zwei Katastrophen globalen Ausmaßes: auf einen Krieg, der Millionen von 20 21

Men and Things across the Sea, in: Los Angeles Times, 20. 8. 1913, S. 116. Hendrik Christian Andersen: The Creation of a World Centre of Communication, Paris 1913, sowie Ders.: World Conscience, Rom o.J., S. 28.

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Toten forderte, folgte eine weltweite Grippeepidemie. Trotz der offensichtlichen Hinfälligkeit von territorialen Grenzen diskutierten europäische Kabinette hitzig darüber, an welchen Ort ein im 12. Jahrhundert gefertigter Krönungsmantel gehörte und unter welchen Bedingungen flämische Gemälde in deutschen Museen an Belgien übergeben werden sollten. Die Ambivalenz von nationalen Ansprüchen und durchlässigen Grenzen sowie die Notwendigkeit einer neuen Sinnstiftung nach dem Krieg sind von zentraler Bedeutung, die von der Diplomatiegeschichte allein nicht erfasst werden kann. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Power of Things zur Identitätsstiftung weit höher zu veranschlagen ist als die Vorstellung von Wiedergutmachung und ökonomischer Kompensation.22 Im Versailler Vertrag wurde in Artikel 247 explizit die Auslieferung von Manuskripten, Inkunabeln, Büchern, Karten und Objekten gefordert, welche diejenigen, die der Zerstörung anheim gefallen waren, ersetzen sollten.23 Überdies mussten der von den van Eyck-Brüdern geschaffene Genter Altar sowie ein weiteres Triptychon von Dierick Bouts an Belgien übergeben werden – beide Kunstwerke befanden sich im Besitz deutscher Museen und waren von diesen legal erworben worden.24 Frankreich erhielt die Kriegsbeute aus dem Ersten Weltkrieg und dem deutsch-französischen Krieg zurück25, der Schädel des Sultans Mkawa musste an die britische Regierung als Mandatsmacht der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika ausgeliefert werden26, und China sollte die astronomischen Instrumente erhalten, welche als Kriegsbeute nach dem so genannten „Boxeraufstand“ 1901 nach Deutschland gebracht wurden.27 Der Hedjaz, ein 1919 neu gegründeter Staat, auf dessen Territorium sich Mekka und Medina, die Heiligen Städte des Islam befanden, wurde mit einem Koranmanuskript bedacht, das der osmanische Sultan dem deutschen Kaiser geschenkt haben soll.28 Ähnliche Paragraphen finden sich auch in den Vertragswerken der übrigen Vorortsverträge. Beträchtliche Forderungen richteten sich an die österreichische Regierung, die neben einer Rückgabe von Kunst, Archivalien, Büchern und Manuskripten an die ehemals besetzten Gebiete in Artikel 193 des Vertrages von St. Germain auch Gegenstände „with a direct bearing on the history of the ceded territories“ zurückzugeben hatten.29

22

23 24

25 26 27 28

Dieser Ansatz lässt daher die zweifellos wichtige juristische Literatur zur Differenzierung von Restitution, Repatriierung und Rückgabe sowie die von der UNESCO geführte Debatte über cultural property beiseite und folgt der zentralen Bedeutung von Kulturgütern in Prozessen des Wandels. Siehe dazu The Power of Things, hg. v. Lieselotte E. Saurma/Anja Eisenbeiß, Berlin/München 2010. The Versailles Treaty, Part VIII, Art. 247, http://avalon.law.yale.edu/imt/partviii.asp. Zum Genter Altar als Kriegsbeute s. Irene Geismeier: Ein Kunstwerk von Weltrang als Streitobjekt in zwei Weltkriegen. Vortrag zum Kolloquium „Kunst gegen den Krieg, Krieg gegen die Kunst“ am 16. Mai 1985 in den Staatlichen Museen zu Berlin, in: Forschungen und Berichte, XXVIII, 1990, S. 231–235. The Versailles Treaty, Art. 245, http://avalon.law.yale.edu/imt/partviii.asp. The Versailles Treaty, Art. 246, ebd. The Versailles Treaty, Part IV, Art. 131, ebd. The Versailles Treaty, Part VIII, Art. 246, ebd.

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Die Zehnjahresfrist galt dabei explizit nicht für Italien, das Restitutionsforderungen bis zur Schaffung des Königreiches 1861 stellen konnte.30 Dem Vertrag folgte in weiteren Anhängen die Aufzählung von Kunstgegenständen, welche die italienischen Städte, der belgische Staat und die nach dem Ersten Weltkrieg neu oder wieder geschaffenen Staaten der Tschechoslowakei und Polen zurückforderten.31 Bei näherem Besehen handelte es sich dabei um Kunstgegenstände, die bereits im 18. Jahrhundert nach Wien gebracht worden waren. Rechtsansprüche reichten zuweilen weit zurück, wie im Falle der Forderung von Palermo bis ins 12. Jahrhundert. Die Objekte, um die es dabei ging, gehörten, wie der von Palermo zurückgeforderte Krönungsmantel, zu den Reichsinsignien des Heiligen Römischen Reiches oder, wie der von der belgischen Regierung eingeforderte Schatz des Ordens vom Goldenen Vlies, zu Kunstwerken, die das regionenübergreifende christliche Europa symbolisierten. Für die Lösung der juristischen Frage, ob die Restitutionsforderung überhaupt statthaft sei, setzte die Reparationskommission eine juristische Sonderkommission ein. Allerdings interessiert an dieser Stelle weniger die juristische Argumentation denn die Kollision zweier unterschiedlicher Lesarten der symbolischen Macht dieser Objekte. Was die einen als nationales kulturelles Erbe forderten, verstanden die anderen als Ausdruck europäischen Zusammenhalts und damit als grenzübergreifenden Besitz. Dabei ist weniger entscheidend, dass die Reichsinsignien schlussendlich in der Wiener Schatzkammer blieben. Vielmehr erlauben die vielschichtigen Debatten Rückschlüsse auf die Schwierigkeiten, grenzübergreifende Identitäten zu konstruieren. Die mittelalterlichen Preziosen hatten in ihrer Zusammensetzung von arabischen Ornamenten auf dem normannischen Krönungsmantel bis zu den kostbaren Juwelen einen überregionalen third space zumindest für Europa überzeugend zur Darstellung gebracht. Dass eine Rückforderung durch Nationalstaaten letztendlich absurd erschien, führte die juristische Kommission im Fall des Ordens vom Goldenen Vlies in aller Deutlichkeit aus: Der Kommission schien es in der Tat nicht opportun, einen im 15. Jahrhundert gegrün29 30

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Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Austria, St. Germain-en-Laye, Part VIII, Section II, Art. 193. Ebd. Restitutionsforderungen sind ebenfalls im Vertrag von Trianon mit Ungarn enthalten. Die übliche Klausel der Rückgabe von Kunstgegenständen, Archivalien, Büchern und Manuskripten findet sich auch im Vertrag von Sèvres mit der Türkei, der dann allerdings nicht in Kraft trat. Hier vergaßen die Alliierten im Übrigen nicht, darauf hinzuweisen, dass das Russische Archäologische Institut in Konstantinopel an die Alliierten ausgeliefert werden sollte. The Peace Treaty of Sèvres, Art. 423, http://wwi.lib.byu.edu/index.php/Peace_Treaty_of_Sèvres. Artikel 196 bezeichnete eine ganze Reihe von Kunstwerken, über deren definitiven Transfer der Vertrag selbst zwar nicht entschied, die aber zumindest zum Gegenstand späterer Vereinbarungen erklärt wurden. Überdies war selbst der Verbleib der Kunstwerke in Wien an Bedingungen gebunden – sie durften nicht verkauft werden, mussten sorgfältig aufbewahrt und den Studierenden aus alliierten Staaten zugänglich gemacht werden. Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Austria, St. Germain-en-Laye, Part VIII, Section II, Art. 196, http://www.austlii.edu.au/au/other/dfat/ treaties/1920/3.html.

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deten Orden an den erst 1830 gegründeten belgischen Nationalstaat zu übergeben, zumal dieser den Schutz der Kirche und des katholischen Glaubens und keine territorialen Ziele anstrebte. Die zuständige Jurisdiktion war nicht auszumachen, da es keinen eigentlichen ‚Besitzer‘ des Ordens gab.32 Trotz dieser reichlich komplexen juristischen Diskussionen stieß das Thema der Nationalisierung und Auflösung eines europäischen Kulturerbes auf großes Interesse in der Öffentlichkeit. Dies war zum einen dem österreichischen Kurator der nationalisierten Kunstsammlung geschuldet. Gustav Glück versäumte es nicht, über die transnationalen Netzwerke der kunsthistorischen Fachvereine die großen imperialen Sammlungen auf die möglichen Konsequenzen aufmerksam zu machen.33 Einigermaßen bemerkenswert ist aber dennoch, dass diese europäische Frage auch in der amerikanischen Presse aufmerksam verfolgt wurde und die Erzählung vom mittelalterlichen Europa selbst in jenen Fällen die Narrative prägte, in denen gar keine Rückgabe stattfand. Die politische Bedeutung von europäischem Kulturerbe als gemeinsame und damit nicht zu veräußernde Darstellung Europas wurde nämlich selbst dann als hohes Gut betrachtet, wenn ehemalige Verlierermächte sehr wohl bereit waren, Kunst gegen Nahrungsmittel zu tauschen.34 Noch argwöhnischer beobachtete die Presse die sowjetische Kunstpolitik. Die Gerüchte über „secret sales of old masters from the famous Hermitage Museum at Leningrad“35 hielten sich in der englischen und amerikanischen Presse hartnäckig und wurden ebenso regelmäßig dementiert – dass es sich dabei um weit mehr handelte als um Notverkäufe des russischen Adels, sollte sich viel später bestätigen. Zwischen 1928 und 1930/1931 verkaufte die russische Regierung bedeutende Bestände der Eremitage in die USA, die wertvollsten Werke gingen dabei an den kunstinteressierten amerikanischen Finanzminister Andrew Mellon.36 Wiederum spielten flämische Kunstwerke und die Zeugen des mittelalterlichen Europa bei den Verkäufen aus Leningrad eine zentrale Rolle. Die mittelalterliche Narrative hat also wenig mit der Vorstellung von territorialer Authentizität zu tun; Kunst teilte nach dem Ersten Weltkrieg das Schicksal ihrer Konsumenten, sie wanderte aus den unterschiedlichsten, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Die Folgen des Ersten Weltkriegs hinterließen im Spitzensegment der sehr wertvollen Bilder zwar zweifellos eine schmerzliche Leere – die Katastrophe des Krieges konnte aber auch zu anderen Ergebnissen führen. So erhielt die Universitätsbibliothek Löwen neben den restituierten Werken aus Deutschland Dubletten aus ausländischen Biblio32 33

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Reparation Commission, Annex No 1141, Belgian Claims 1921 (wie Anm. 15), S. 51. Die Kontakte liefen dabei über den Kunsthistoriker Eric Maclagan, der seinerseits Lloyd George unterrichtete, wie ein entsprechender Briefwechsel vom Mai 1919 belegt (Parliamentary Archives, London, Lloyd George Collection, LG/F/197/6/2). Der Vertrag von St. Germain erlaubte keinen Verkauf, s. Anm. 31. New Rumour on Soviet Sale, in: New York Times, 1. 11. 1930, S. 3. Robert C. Williams: The Quiet Trade: Russian Art and American Money, in: The Wilson Quarterly, III/1, 1979, S. 162–175.

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theken. Dieses Konzept machte Schule und wurde fortan auch bei Naturkatastrophen eingesetzt. Katastrophen aller Art, so das Fazit, führten zu ausgesprochen transkulturellen Konglomeraten scheinbar authentischer Sammlungen. Umso bedeutender, so scheint es, war das Identifikationsangebot von Kunst, die selbst aus einer äußerst komplizierten Territorialität entstanden war. Obwohl Restitutionsforderungen und Wirtschaftskrise den vormals nicht zum Verkauf angebotenen Werken eine ökonomische Bedeutung zuordneten, ist dennoch die Erscheinung des mittelalterlichen Europa nach 1919 nicht allein den Geldsorgen der einen und dem Reichtum der anderen zuzuordnen. Der Orden vom Goldenen Vlies bietet ein Beispiel dafür, dass sich die künstlerische Spiegelung Europas im Mittelalter nicht nur zu einer ästhetischen, sondern ebenso sehr zu einer politischen Narrative nutzen ließ. Der Orden war 1430 von Herzog Philipp dem Guten von Burgund gegründet worden. Er stellte einen mittelalterlichen Ritterorden dar, positionierte sich in das Spannungsfeld weltlicher Macht mit religiöser Verpflichtung, sah aber daneben eine exklusive Form der Machtsicherung vor, indem der Orden unter den Mitgliedern Gefolgschaftsverpflichtungen und Privilegien postulierte. Was dabei metaphorisch überhöht als ‚Schatz‘ des Ordens bezeichnet und zum Gegenstand belgischer Forderungen wurde, besteht aus kostbaren rituellen Gerätschaften und Ordensinsignien. Fast fünfhundert Jahre nach der Ordensgründung wurde nun 1919 aus dem Orden in der Lesart der belgischen Regierung „[...] une institution politique des pays composant l’héritage de Bourgogne [...]“, mithin eine nationale Entität, deren Rechtsnachfolge Belgien übernommen hatte.37 Die österreichische Regierung argumentierte dagegen, dass es sich dabei um eine „[...] institution purement aulique, dynastique et honorifique [...] de composition internationale [...]“ handelte, um ein Gebilde ohne eigene Territorialität, sondern vielmehr eines, das dem jeweiligen Souverän folgte und daher nicht in eine Rechtsnachfolge eines Nationalstaates gestellt werden konnte.38 Die von der Reparationskommission eingesetzte juristische Kommission ging zur Klärung der Sachlage auf die 1431 publizierten Statuten des Ordens zurück, in welchen der kirchliche Hintergrund der Ordensgründung hervorgehoben wurde. Allerdings wurde neben der Verteidigung des christlichen Glaubens und der Kirche die exklusive Runde seiner nur 31 und später 51 Mitglieder auf den Schutz des Ordensgründers und seiner Nachfolger verpflichtet. Die belgische Regierung forderte den Schatz 1919 mit dem Argument zurück, dass der Standort des Ordens in Belgien zu suchen war. Das Gutachten der Juristen kam allerdings zum Schluss, dass sich diese Argumentation nicht zuletzt auch deshalb nicht halten ließ, weil es sich um ein übernationales Gebilde handelte, das dem österreichischen Staat ebenso wenig gehörte. Der Orden vom Goldenen Vlies eignete sich daher ähnlich wie die Insignien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zur Darstellung eines von einer gemeinsamen, 37 38

Belgian Claims 1921 (wie Anm. 15), S. 22. Ebd.

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grenzübergreifenden Geschichte zusammengehaltenen Europa – wenn auch der hier gepflegte transkulturelle ‚dritte Raum‘ keineswegs mit jenem Europa in Verbindung stand, welches das Rückgrat eines den Krieg ächtenden Völkerbunds bilden sollte. Der Orden vom Goldenen Vlies bediente vielmehr die Vorstellung des Kriegers als den eines moralisch idealisierten Ritters, besaß eine grenzübergreifende christlich-antike Symbolik, eine Sichtbarkeit in inflationsresistenten Kostbarkeiten, vor allem aber einen Interpretationsraum, der neu besetzt werden konnte. So sicher der Orden als exklusiver Kreis der Mächtigen rezipiert wurde, so sehr entsprach er jenem Verständnis von porösen Grenzen, deren Schnittmenge ein gemeinsames Europa bildete. Die Metapher des goldenen Lammfells ließ sich dabei neu und zeitgemäß uminterpretieren. 1919 war die christliche Reichsidee des mittelalterlichen Europa in den nationalen Ansprüchen abhanden geraten – was nun folgte, war die Politisierung der Metapher und deren Umsetzung in ein konservatives, monarchisches und demokratiefeindliches Modell, das sich erst die spanische Militärdiktatur unter König Alfonso XIII. und später der NS-Staat zu Nutze machten. In den zwanziger Jahren ließ sich der spanische General und Diktator Primo de Rivera als neues Ordensmitglied feiern. Sein ordensgeschmückter Auftritt vor dem Präsidenten der französischen Republik wurde 1926 zum viel beachteten Medienereignis.39 Der zeitgenössische Kontext prägte schließlich auch die Lesart der historischen Entwicklung des Ordens. Der Ordensgründer Philipp der Gute von Burgund wurde nun dem amerikanischen Publikum als weiser Herrscher präsentiert, der mit seinem Reich eine Barriere zwischen Frankreich und Deutschland (sic!) zu errichten gedacht hatte, „and [who] might have been the guardian of the peace in western Europe.“40 Die konservative Begründung einer mittelalterlichen Idee Europas lief zwar den politischen Entscheidungen diametral entgegen, zeigte aber gleichwohl ein erfolgreiches Modell auf: Die Habsburger, in Österreich nicht nur abgesetzt, sondern auch noch durch die Abschaffung der Adelstitel betroffen, konnten über den Orden vom Goldenen Vlies dennoch eine grenzübergreifende Führungsposition vorweisen – die mittelalterliche Reichsidee ließ sich als kulturgesättigte Tradition zitieren und kam dabei mit ihrem losen Zusammenhalt nationalistischen und konservativen Interpretationen des neuen Europa entgegen. Die politische Wirksamkeit eines säkularisierten und zentralisierten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sollte sich denn auch nahtlos in die Vorstellungen der NS-Diktatur einfügen.41 Die Reichsinsignien, 1919 zwar nicht aus Wien entfernt, wohl aber vertraglich als europäisches Kulturerbe hervorgehoben, bereicherten in Nürnberg zwischen 1938 und 1945 die Selbstdarstellung des NS-Regimes. 39 40 41

Primo de Rivera Honored, in: The Christian Science Monitor, 17. 5. 1927, S. 1; Sisley Huddlestone: A Paris Causerie, in: The Christian Science Monitor, 31. 7. 1926, S. 7. The Golden Fleece, in: The Christian Science Monitor, 29. 1. 1921, S. 3. „If Hitler is vicious the new Europe will be a modernization of the Holy Roman Empire [...]“, The Hitler Empire, in: Chicago Daily Tribune, 2. 8. 1940, S. 8. Zweifellos stand das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nicht im Zentrum einer nationalsozialistischen invention of tradition. Die Wahrnehmung der Presse fand sich allerdings im Transfer der Reichsinsignien nach Nürnberg bestätigt.

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IV. Fazit Die Neuinterpretation Europas anhand der Relikte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erscheint auf den ersten Blick aus der Sicht des Aufbruchs von 1919 nicht zeitgemäß. Statt Kaiserkrone und goldenem Widderfell ließen sich in der Tat andere kosmopolitische Projekte zitieren. Die Zwanziger Jahre feierten die Geburt des ‚neuen Menschen‘ und ein kosmopolitisches Zeitalter war auf der Suche nach einer universellen Bildersprache: Der ‚neue Mensch‘ war ein globales Phänomen, das zu einem deutlichen Rückgang nationaltypischer Kleidung und der Präferenz eines androgynen Typus geführt hatte. Das Resultat hielt die Fotokollektion des Völkerbundes fest – in Gruppenbildern unspezifischer Herkunft dominierte eine Geschäftskleidung, die von Shanghai bis Basel passte.42 Angleichungs- und Standardisierungsprozesse forderten das Verständnis einer ehemals bildungsbezogenen Elitekultur heraus. Die Mechanik der Maschine erhielt im Autobau ein ästhetisches Potenzial; form follows function zeigte sich im schnörkellosen Bauhausstil, der sich nicht von ungefähr seiner europäischen Verortung schnell entzog. Eine sozialistische Ästhetik richtete sich an den Arbeiter als Kunstbetrachter und übte sich in der Entwicklung von Piktogrammen. Zwar blieb die Entwicklung einer universellen Bildersprache ein utopisches Konstrukt des Wiener Kreises. Was in jahrelangen Bemühungen um eine Erziehung in Bildern erst in Ansätzen gelang43, hatte erstaunliche Erfolge in der Beschilderung von Straßen und der Regelung des Verkehrs. Farben und Formen von Verkehrsschildern, Kurvenradien und Ortsangaben erreichten als europäische Erfindungen einen globalen Rahmen, von dem Anhänger des Esperanto nur träumen konnten. Dennoch war der Aufwand, die neuen, über nationale Grenzen hinausreichenden Räume als kosmopolitische imagined community mit Leben zu erfüllen, immer noch gewaltig groß und an mannigfaltige Formen des Widerstandes gebunden. Die „New International Encyclopedia“ vermittelt einen Eindruck mit welchen Schwierigkeiten die Vorstellung und Verbreitung globaler Identitäten zu kämpfen hatte. Die Enzyklopädie stellte kosmopolitische Pflanzen und Tiere dar, Schmetterlinge (Milweed butterfly) und Schleiereulen, die grenzübergreifend präsent waren, ohne dass sie allerdings auch nur an den verschiedenen Orten ihres Vorkommens gleich benannt worden wären.44 Zukunftsweisende kosmopolitische Ansätze blieben schwach ausgeprägt, hatten einen experimentellen und eher elitären Charakter. Radiowellen verschoben Grenzen, schnellere und effizientere Formen der Informationsvermittlung zeichneten Räume, in denen Europa als Ort besonderer Dichte auftrat. Allerdings besaßen diese kosmopolitischen Räume keine als Kulturerbe abrufbaren Formen grenzübergreifender Visualisierung. Es gab keine zitier- und sichtbare Vergangenheit, die über den alsbald erschütterten Glauben

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Zu den Porträts der Völkerbundsbeamten vgl. League of Nations Photo Collections, http://www. indiana.edu/~league/photos.htm. Frank Hartmann/Erwin K. Bauer: Bildersprache. Otto Neurath Visualisierungen, Wien 22006. Zum Streit um die Namensgebung der Eule vgl. New International Encyclopedia, Bd. XV, S. 625.

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an die grenzübergreifende Gemeinsamkeit eines goldbasierten Währungssystems hinausging.45 Die Paneuropaidee vermochte ebenso wenig zu mobilisieren wie Thomas Mann und Henri Bergson, die für das Comité de Coopération Intellectuelle des Völkerbunds auftraten. Schon die Internationalisten der Vorkriegszeit taten sich schwer mit neuen Symbolen und griffen lieber in die Vergangenheit und zur bewährten Form der invention of tradition zurück. 1919 lieferte das europäische Mittelalter mit seinen durchlässigen, territorial noch kaum verregelten Vorstellungen von Herrschaft ein Bild Europas mit Wiedererkennungswert, allerdings eines, dessen Modernisierungstauglichkeit in ein totalitäres ‚Neues Europa‘ mündete.

45

Herbert G. Wells: The Work, Wealth and Happiness of Mankind, Garden City, KS/New York 1931, S. 420.

Farbabbildungen

Christoph Winterer

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Taf. I: Abschrift der Regularis concordia, Titelbild, König Edgar von England zwischen den Bischöfen Aethelwold und Dunstan (?), darunter ein Mönch mit einem Rotulus der ‚Regularis Concordia‘, Mitte des 11. Jahrhunderts (London, British Library, Cotton Tiberius A.III, fol. 2v)

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Ulrich Kuder Taf IIa: Vita Mathildis des Donizo, König Heinrich IV. kniet vor Mathilde von Canossa, Markgräfin von Tuszien, hinter ihm Abt Hugo von Cluny, um 1115 (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. lat. 4922, fol. 49r)

Taf. IIb: Italia, Germania, Gallia und Sclavania huldigen Kaiser Otto III., Doppelseite, einer Flavius Josephus-Handschrift eingebunden, kurz vor 1002 (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Class.79, fol. 1v–1ar)

Ute von Bloh

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Taf. III: Loher und Maller (Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 11 in scrinio, fol. 134v)

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Martin Büchsel

Taf. IV: Meister von Flémalle, sog. Schächer-Fragment, um 1430 (Frankfurt, Städel Museum)

Susanne Wittekind

235

Taf. V: Dekretalen Gregors IX./ Liber Extra, Liber III De Vita et honestate clericorum, Bologna 1280/90 (Salzburg, Universitätsbibliothek, Ms. III 1, fol. 123r)

236

Daniela Güthner

Taf. VI: Der Renner des Hugo von Trimberg, Hugo und die Bauern, 1402 (Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Cod. Voss. G.G. Fol. 4, fol. 25r)

Marion Philipp

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Taf. VIIa: Route und Festapparat beim Einzug Kaiser Karls V. in Sevilla 1526. Stadtplan aus dem Jahr 1771.

Taf. VIIb: Route und Festapparat beim Einzug Kaiser Karls V. in Nürnberg 1541. Stadtplan von Matthäus Merian, 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. (1) Ehrenpforte

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Kristina Domanski

Taf. VIII: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Berner Chronik, Der erschlafene Sieg des Ritters von Strettlingen, 1470 (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 120, S. 29)

Margit Krenn

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Taf. IX: Abendmahl, Wandmalereifragment eines Passionszyklus (?), 1270–1290 (Babenhausen, Schloss)

240

Larry Silver

Taf. X: Hendrik Goltzius, Allegory of Drawing and Diligence, 1612, pen and chalks (Cambridge, Fogg Art Museum, Anonymous gift in memory of Henry and Margaret Rudkin, inv. 1970.109)

Dietrich Schubert

241

Taf. XIa: Vincent van Gogh, Ein Paar alte Schuhe, 1885(?) (Amsterdam, Van Gogh Museum)

Taf. XIb: Vincent van Gogh, Stiefel mit Nägeln (Les souliers), Paris 1887 (Baltimore, Museum of Art)

242

Bernd Carqué

Taf. XII: Jean Truchot, Entrée de l’abbaye de Jumièges, côté de l’occident. Tafel 6 in Nodier/ Taylor/de Cailleux: Voyages pittoresques et romantiques. Ancienne Normandie, 1820-1825 (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek)

III. Identität und Distinktion

Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission Beat Brenk In der gesamten Literatur zum Trivulzio-Elfenbein (Abb. 1) steht nie sein Inhalt, sondern stets die stilistische, kunstlandschaftliche und kunstgeschichtliche Zuordnung im Zentrum der Debatte. Ob die Elfenbeintafel in Gallien, Rom oder in Mailand entstanden sei, ob sie gleichzeitig mit dem Diptychon der Symmacher und Nicomacher gefertigt worden sei und ob sie ein bewusstes ‚revival‘ antiker Formen anvisiere: Diese Fragen zogen viel mehr Aufmerksamkeit auf sich als der eigentliche Sinn der Darstellung. Leider besteht heute nicht einmal Einigkeit hinsichtlich der Beschreibung und Analyse. Der état de la question ist geradezu archaisch zu nennen. Das Thema dieses Beitrages lautet „Making Sense, Constructing Meaning.“ I. Meinungen Ein Kenner der Elfenbeinkunst, Volbach, beschrieb den Befund wie folgt: „Auf der unteren Hälfte sitzt neben der offenen reliefverzierten […] Tür des Mausoleums ein nimbierter ungeflügelter Engel, der den beiden Frauen die Auferstehung Christi verkündet.“1 So sah es auch Bertelli: „Vi sono rappresentati simultaneamente i soldati addormentati posti a guardia del sepolcro, e le due Marie, cui l’angelo rivela l’avvenuta resurrezione.“2 1932 jedoch bezeich-

1 2

Abb. 1: Trivulzio-Elfenbein (Mailand, Castello Sforzesco)

Wolfgang Fritz Volbach: Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters, Mainz 31976, S. 80, Nr. 111. Carlo Bertelli: Gli avori tardoantichi, in: 387 d.C. Ambrogio e Agostino. Le sorgenti dell’Europa, Ausstellungskatalog (Mailand, Museo Diocesano/Chiostri di Sant’Eustorgio, 2003/04), hg. v.

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Abb. 2: Reidersche Tafel (München, Bayerisches Nationalmuseum)

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Beat Brenk

nete Schrade die sitzende Gestalt links als Christus.3 Was ist nun richtig: Ist es ein Engel oder handelt es sich um Christus? Die Schriftrolle in der linken Hand spricht eindeutig für Christus. In der christlichen Ikonographie sind Engel, die eine geschlossene Schriftrolle halten, nicht bekannt. Der Nimbus zeichnet im späten 4. und beginnenden 5. Jahrhundert meistens, aber nicht immer, Christus aus, das heißt der Nimbus ist für Christus nicht obligatorisch. Engel werden dagegen erst seit der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts – gelegentlich – mit dem Nimbus ausgezeichnet. Nun haben alle Autoren stets beobachtet, dass die Trivulzio-Tafel nahe verwandt mit der Reiderschen Tafel4 in München (Abb. 2) ist, das heißt dass sie von der Reiderschen Tafel abhängig sei. Auf dem Münchner Diptychon sitzt jedoch vor dem Grab eindeutig ein nicht nimbierter Engel, der seine linke Hand im Pallium verhüllt im Schoß hält; ihm nähern sich die Frauen mit großer Ehrfurcht. Im Gegensatz zum Engel ist

Paolo Pasini, Mailand 2003, S. 173–178, hier S. 176. Ein weiterer Autor schreibt im Katalog Milano capitale dell’impero romano 286–402, Ausstellungskatalog (Mailand, Palazzo Reale, 1990), hg. v. Angelo Salvioni, Mailand 1990, S. 342: „Nel quadro inferiore è raffigurato a sinistra l’angelo con testa nimbata, seduto su una roccia davanti al sepolcro, che annuncia la resurrezione di Cristo alle due Marie, avvolte in un ampio mantello e in attegiamento adorante.“ Hubert Schrade: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. I: Die Auferstehung Christi, Berlin 1932, S. 31: „Doch der Auferstandene sitzt […] neben dem geöffneten Grabe auf einem Felsen und segnet die Frauen, die scheu vor ihm niederfallen“; Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. III: Die Auferstehung und Erhöhung Christi, Gütersloh 1971, S. 20, Fig. 11: „ […] eine jugendliche Gestalt, die oft als Engel gedeutet wurde. Aber sie hält den rotulus, der als Attribut des Lehrers nicht dem Engel zukommt, sondern ein Christusattribut ist. Ebenfalls können die Proskynese der einen Frau und die Verehrungsgeste der anderen Maria sowie die des einen der Wächter, die auf dem Dach vor dem oberen Geschoss knien, nur Christus gelten. Ein Engel wird niemals in dieser Weise verehrt (Apok 22, 8).“ Hubert Schrade: Zur Ikonographie der Himmelfahrt Christi, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, hg. v. Fritz Saxl, Bd. VIII: 1928–1929 Leipzig/Berlin 1930, S. 89–95; Volbach 1976 (wie Anm. 1), Nr. 110.

Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission

247

Christus in der Himmelfahrtsszene darüber nimbiert und er trägt eine Rolle. Die kapitale Beobachtung Schrades, dass die Geschlossenheit der Grabestür und die Himmelfahrtsszene als Gang zu Gott die Gottheit Christi erweisen, ist von der Forschung missachtet worden.5 II. Gestik versus Bibeltexte Zwei Frauen, die sich dem Grab nähern, werden von Matthäus erwähnt: „Erat autem ibi Maria Magdalene et altera Maria sedentes contra sepulcrum“ (Mt 27, 61). Matthäus nennt nur einen weiß gekleideten Engel (Mt 28, 3). Markus beschreibt im Grab einen weiß gekleideten Jüngling, der sich an Maria Magdalene, Maria Iacobi und Salome wendet (Mk 16, 1–5). Lukas berichtet von zwei stehenden Männern („duo viri“) in strahlenden Kleidern (Lk 24, 4). Johannes redet nur von Maria: „Stabat ad monumentum foris plorans […] et videt duos angelos in albis sedentes“ (Joh 20, 11f.). Da die von rechts nahenden zwei Frauen auf dem Trivulzio-Elfenbein Jesus mit unzweifelhaften Gebärden anbeten, liegt eine Illustration von Mt 28, 9 vor: „Et ecce Jesus occurrit illis dicens: ‚Avete.‘ Illae autem accesserunt et tenuerunt pedes eius et adoraverunt eum.“ Die kniende Frau im Vordergrund berührt mit ihrer linken Hand den Fuß Christi.6 Es ist unmissverständlich eine Anbetung Christi dargestellt. Hier also, und nur hier, wird eine exakte Text-Illustration nach Matthäus geboten. Allein, Jesus Abb. 3: Trivulzio-Elfenbein, obere Hälfte (Mailand, eilt den Frauen nicht entgegen, sonCastello Sforzesco) dern er sitzt, und zwar wie der Engel auf dem Münchner Elfenbein. Das Trivulzio-Elfenbein variiert die Reidersche Tafel, vielleicht aber variiert die Reidersche Tafel das Trivulzio-Elfenbein. Dass die beiden Tafeln einander stilistisch und ikonographisch sehr ähnlich sind und wohl gleichzeitig in derselben Werkstatt entstanden sind, ist längst beobachtet worden.

5 6

Schrade 1930 (wie Anm. 4), S. 95. Im Gegensatz dazu sagt Jesus in Joh 20, 17 zu Maria: „Rühre mich nicht an! Denn noch bin ich nicht aufgefahren zu meinem Vater.“

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Abb. 4: Hylas und die Nymphen, opus sectile (Rom, Palazzo Massimo alle Terme, Basilica des Junius Bassus)

Die untere Szene illustriert somit unzweifelhaft Mt 28, 9. Dargestellt ist die Proskynese7 der beiden Frauen vor Jesus. Die eine Frau berührt den Fuß Jesu, beide strecken ihre Arme aus, um Jesus zu verehren. Der Gestus der ausgestreckten Arme findet sich nochmals bei dem Soldaten (Abb. 3), der rechts auf dem Dach kauert, sowie bei dem sechsflügligen Symbol des Menschen ganz oben in den Wolken rechterhand. Das ist bisher übersehen worden. Da der Soldat seine Arme ausbreitet und die Handflächen zeigt, muss er seine Lanze mit dem Unterarm an den Oberkörper pressen. Er ist also aus seiner Schlafhaltung plötzlich, das heißt beim Erscheinen Jesu, erwacht und betet ihn an. Seine Augen sind geöffnet. Der Soldat linkerhand scheint noch zu schlafen, aber seine Augen und sein Mund sind geöffnet, und die Chlamys wird vom Wind, das heißt vom Pneuma, emporgeweht. Dies ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier etwas Übernatürliches geschieht. Ein Schlafender wird jedenfalls nie mit einem aufgeblähten Gewand dargestellt. Der vom Wind aufgeblähte Mantel gehört zu den gängigen Vokabeln der mythologischen Ikonographie, mit denen Götter und Halbgötter ihre Emotion und Empathie bekunden. Ich nen-

7

Reimund Bieringer: „I am ascending to my Father and your Father, to my God and your God“ (John 20, 17). Resurrection and Ascension in the Gospel of John, in: The Resurrection of Jesus in the Gospel of John, hg. v. Craig R. Koester/Reimund Bieringer, Tübingen 2008, S. 225f.; Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. v. Gerhard Friedrich, Bd. VI, Stuttgart 1959, S. 759–767: Proskynese ist motiviert durch die Erkenntnis der Gottessohnschaft. Proskynese gilt Gott allein.

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ne die bekannte Darstellung eines opus sectile aus der Basilika des Junius Bassus auf dem Esquilin (Abb. 4), in welcher Hylas von den Nymphen am Brunnen überrascht wird. Die Tatsache, dass die beiden nackten Mädchen den schönen Jüngling gefangen nehmen wollen, erregt ihn so sehr, dass sein Mantel wie vom Wind empor geblasen wird. Das Motiv auf der Trivulzio-Tafel dient als Chiffre der Überraschung des Soldaten beim Erscheinen Jesu. Seine angehobene rechte Hand darf man vielleicht als zaghafte erste Reaktion auf die Gotteserscheinung deuten. Ein Schlafender hält seinen Arm so jedenfalls nicht. Offensichtlich ist wesentlich mehr im Spiel als bloß ‚Überraschung beim Anblick Jesu.‘ In den Wolken über dem Mausoleum erscheinen die sechsflügligen Lebewesen, wobei das Wesen des Menschen abermals seine Arme verehrend ausstreckt. Genau dieser Gestus kehrt an dem Wesen des Menschen im Apsismosaik von Santa Pudenziana in Rom (Abb. 5) wieder, wo die Verehrung dem Kreuz, das heißt also dem triumphierenden Christus qua Gottheit gilt. Auf dem Trivulzio-Elfenbein wird der Auferstandene nicht nur von den beiden Frauen, sondern auch von den heidAbb. 5: Lebewesen des Menschen (Rom, S. Pudenziana) nischen Soldaten und den Lebewesen im Himmel verehrt. Wie in der Szene der Magierhuldigung Jesus als Gottessohn und als Gottheit verehrt wird, so wird in dem Auferstehungsbild des Trivulzio-Elfenbeins der Auferstandene wie ein Gott angebetet, und zwar dreifach, sozusagen auf drei Etagen: von den ‚christlichen‘ Frauen, von den ‚heidnischen‘ Soldaten auf Erden und von den alttestamentlichen ‚göttlichen‘ Zoa im Himmel. Gemeint ist die universale Anerkennung der körperlichen Auferstehung des Gottessohnes8, der gleichzeitig seine Menschheit und seine Gottheit unter Beweis stellt. In seinem großen antiarianischen Traktat De fide bringt Ambrosius das Thema der Anbetung des Auferstandenen wie folgt auf den Punkt: „Ut homo cernitur, ut Dominus adoretur […] et assumptae carnis veritas comprobatur.“9 Die leibliche Auferstehung Jesu wird auf dem Trivulzio-Elfenbein zur Theophanie umgedeutet. In den pseudo-augustinischen Texten liest man den folgenden Satz10: „Rex enim adoratur in terris quasi vicarius dei, Christus autem post vicariam impletas dispensatione adoratur in caelis et in terra.“ 8 9

Bieringer 2008 (wie Anm. 7), S. 209–235, bes. 225. Ambrosius: De fide, I.4.32 (PL. 16, Sp. 538).

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III. Das Mausoleum und seine Türe Eine gewisse Perplexität evoziert die Darstellung des Grabes Christi auf den beiden Diptychen in München und Mailand, die sich souverän über die Angaben im Neuen Testament über die Form des Grabes Christi hinwegsetzen. Gerade weil im Neuen Testament archäologische und topographische Fakten selten exakt geschildert werden, verdienen die Auferstehungsberichte besondere Aufmerksamkeit, denn die Synoptiker beschreiben das Grab Christi als ein Felsengrab, das mit einem Mühlstein verschlossen wurde. Matthäus sagt: „Et posuit illud (corpus) in monumento suo novo, quod exciderat in petra, et advolvit saxum magnum ad ostium monumenti“ (Mt 27, 60; Mk 15, 46; Mk 16, 3) sowie: „Angelus […] revolvit lapidem et sedebat super eum“ (Mt 28, 2; Lk 24, 2; Joh 20, 1). Felsengräber, die mit einem rollbaren Mühlstein verschlossen werden, sind für die Zeit Jesu in Jerusalem und Umgebung11 bestens bezeugt, nicht aber in Italien, wo der archäologische Befund der SynoptikerBerichte vermutlich nicht verstanden wurde. Die Bildschnitzer der beiden Tafeln in München und Mailand haben deshalb eine ihnen vertraute Darstellung eines MausoleAbb. 6: Rom, S. Costanza, Mausoleum ums gewählt. Archäologische Genauigkeit war für sie kein Thema. Sie haben im Gegensatz zum Text des Neuen Testaments einen freistehenden kubischen Grabbau mit einem zylindrischen Aufbau dargestellt. Der durchfensterte Tambour und die schlitzförmigen Fenster im Erdgeschoss des Grabbaus auf dem Mailänder Elfenbein erinnern z.B. an das Mausoleum von Santa Costanza in Rom (Abb. 6), allein, ein näherer Zusammenhang kann nicht postuliert werden. Auf beiden Elfenbeinen ist der kubische Unterbau mit einer monumentalen zweiflügligen Tür versehen, wobei diese auf dem Münchner Elfenbein geschlossen ist, auf der Mailänder Tafel steht sie offen. Eine geöffnete und zerbrochene Tür ist auf einem der

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Pseudo-Augustini questiones veteris et novi testamenti CXXVII (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 50), hg. v. Alexander Souter, Wien 1908, S. 157 Jack Finegan: The Archaeology of the New Testament, Princeton, NJ 1992, S. 313, Abb. 274; S. 318: „Judging by the known examples, this manner of tomb closure with a rolling stone seems to have been characteristic of Jewish practice only in the Roman period up to A. D. 70“, Abb. 281; Max Küchler: Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, Göttingen 2007, S. 1024–1029.

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Passionstäfelchen im British Museum zu sehen, welche mit den beiden Diptychen in München und Mailand nahe verwandt sind.12 Eigentlich hätte die Tür geschlossen bleiben sollen, denn Pilatus befahl, das Grab zu bewachen (Mt 27, 65f.). Aber es geschah etwas Unerwartetes: Nach einem Erdbeben „angelus enim Domini descendit de caelo et accedens revolvit lapidem et sedebat super eum“ (Mt 28, 2; Mk 16, 4; Lk 24, 2; Joh 20, 1). Darüber erschraken die Grabkustoden schier zu Tode. Der Engel erklärte den Frauen, dass Jesus nicht mehr da sei, und bat sie, selbst einen Augenschein zu nehmen. Ob die Tür des Grabes offen steht wie auf dem Trivulzio-Elfenbein oder ob sie geschlossen ist wie auf der Reiderschen Tafel: Es geht alle Male darum, den übernatürlichen Charakter der Auferstehung zur Evidenz zu bringen. Nur der verklärte Leib durchschreitet verschlossene Türen oder vermag diese aufzubrechen. Jesus erscheint mit einem Nimbus, weil er Gott ist. Grundlage für die Darstellung Jesu vor dem Grab (an Stelle des Engels) bilden 1 Kor 15 und Eph 1, 20. Nach Mt 16, 27 wird „der Sohn des Menschen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommen.“ Gemeint ist mit der Darstellung Jesu der Herr der Herrlichkeit, das heißt seine Gottheit. Auch Hieronymus erkennt in seinem Matthäus-Kommentar13 den Herrn der Herrlichkeit, und zwar aufgrund einer Interpretation von Jes 33, 16 als Hinweis auf das Grab Christi: „Statim post duos versiculos sequitur: regem cum gloria videbatis“ (Jes 33, 17). IV. Sinnstiftende Szenen an der Tür des Mausoleums Die offen stehende Grabtür ist mit Reliefszenen (Abb. 7) verziert, in denen Jesus alle Male mit dem Nimbus ausgezeichnet ist. Damit soll klar gemacht werden, dass der wundertätige mit dem auferstandenen Jesus identisch ist. In den beiden obersten Feldern wird die Auferweckung des Lazarus gezeigt. Im mittleren Felderpaar erkennt man linkerhand den Zachäus auf der Sykomore. Quelle dazu bildet Lk 19, 1–10. Zachäus war „princeps publicanorum et ipse dives et quaerebat videre Iesum quis esset […] ascendit in arborem sycomorum, ut videret illum, quia inde erat transiturus.“ Der Sinn dieser Szene ist eindeutig. Selbst die Heidenkirche anerkennt Jesus als Gottessohn und als Sohn des Menschen: „Nam cum in hoc uno typus populi gentilis sit“, so interpretiert Ambrosius.14 Die unterste Szene auf der Tür illustriert das Noli me tangere, eine Szene aus dem Zyklus der Erscheinungen Christi nach der Auferstehung, welche die Aussage im Vordergrund der Trivulzio-Tafel unterläuft, denn dort darf eine der beiden Frauen den Fuß Christi berühren. Das Zachäus-Thema ist erstmals auf den Bethesda-Sarkophagen der theodo-

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Volbach 1976 (wie Anm. 1), Nr. 116, Taf. 61. Sancti Eusebii Hieronymi Stridonensis Presbyteri Opera omnia 4.27.64, Bd. VII (PL, 26), Paris 1866, Sp. 224. Ambrosius: Expositio in evangelium secundum Lucam, VIII.80; s. ebd. VIII.90: „Zachaeus supra arborem, quia supra legem […] hic publicus praedicator (PL, 15, Sp. 1883 C); Ders.: Explanatio Psalm. 40.22: „Zachaeus […] vidit Christum et lumen invenit.“

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sianischen Zeit nachweisbar. Wilpert15 meinte, dass die Künstler in Zachäus den wahren Juden konterfeien wollten, der in Jesus Christus den verheißenen Messias erkannte. Das ist wenig wahrscheinlich. Dinkler hat das Thema ikonographisch, nicht aber theologisch untersucht.16 Der entscheidende Gesichtspunkt besteht darin, dass Jesus einen reichen Steuerbeamten zu bekehren vermag, sodass dieser in Jesus den Sohn des Menschen erkennt. Das sagt zwar Zachäus selbst nicht, aber Jesus suggeriert es ihm. Nicoletti, die sich mit den Bethesda-Sarkophagen monographisch beschäftigte, sagte richtig: „Zaccheo diviene il prototipo del pagano convertito e del peccatore che viene salvato.“17 Im Kontext des Trivulzio-Elfenbeins geht es ganz zweifellos um die Anerkennung Jesu als Sohn Gottes seitens der Heiden. Die Reliefs auf der Tür des Grabes Jesu verdoppeln gleichsam die Aussage der Frauen, welche Jesus nach der Auferstehung als Gott anbeten und verehren. Was sich auf diesem Elfenbein abspielt, ist einzigartig. Ich glaube nicht, dass man irgendeinen Text finden wird, der alle die genannten Einzelheiten erwähnt und erklärt. Es handelt sich um einen einmaligen Auftrag seitens einer Abb. 7: Trivulzio-Elfenbein, Detail der Türe des theologisch interessierten und künstleGrabbaus (Mailand, Castello Sforzesco) risch höchst einfallsreichen Person. Ungeklärt ist der Anlass für die Wahl dieser einzigartigen Ikonographie. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, als das Trivulzio-Elfenbein entstand, waren es vor allem die Arianer, die bezweifelten, dass der Auferstandene göttlich war. Auf unserem Diptychon werden alle beteiligten Personen aufgefordert, Jesus als Gottes Sohn und als Gott zu adorieren und zu verehren, gleichgültig ob sie schlafen oder wach sind, gleichgültig ob sie sich

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Joseph Wilpert: I sarcofagi cristiani antichi, Bd. II, Rom 1932, S. 312; Jutta Dresken-Weiland: Repertorium der christlich-antiken Sarkophage, Bd. II: Italien mit einem Nachtrag. Rom und Ostia, Dalmatien, Museen der Welt, Mainz 1998, S. 50f., Nr. 145, Taf. 52: Bethesda-Sarkophag in Ischia. Erich Dinkler: Der Einzug in Jerusalem. Ikonographische Untersuchungen im Anschluss an ein bisher unbekanntes Sarkophagfragment, Opladen 1970, S. 36–42. Antonella Nicoletti: I sarcofagi di Bethesda, Padua 1981, S. 71.

Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission

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auf Erden oder im Himmel aufhalten. Die Anbetung gilt Christus als Gott, denn Jesus ist ὁμοούσιος oder unius substantiae mit Gottvater. Die Idee der umfassenden Anbetung war es offenbar zu zeigen, dass Christus immer Gott war, auch in seinem Leiden und in seiner Auferstehung.18 Die Gottheit Christi wurde weder von seinem Leiden noch von seinem Tode tangiert.19 Christus wird gegenüber Gottvater nicht herabgesetzt. Dies richtet sich deutlich gegen die arianische Lehre, welche die wahre Gottheit des Logos und die volle Menschheit Christi leugnete und die Wesenheiten Gottes, Christi und des heiligen Geistes voneinander trennte.20 Für die Nicäner ist Christus zugleich wahrer Sohn Gottes und wahrer Gott. V. Die Klassizismus-Debatte Noch ein Wort sei zur Frage des viel berufenen Klassizismus und zum Auftraggeber gesagt: Dass der Lotos-Palmetten-Fries auf dem Trivulzio-Elfenbein mit demjenigen auf dem Symmacher-Elfenbein in London (Abb. 8) und dem Rufius Probianus-Elfenbein in Berlin übereinstimmt, ist längst beobachtet worden. Diese Diptychen dürften daher in ein und derselben Werkstatt zur gleichen Zeit hergestellt worden sein. Wenn Cameron21 mit seiner Datierung des Diptychons der Symmacher und Nikomacher auf 402 und der Datierung des Probianus-Diptychons auf 396

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Abb. 8: Diptchyon der Symmacher (London, British Museum)

Athanasius: Contra Arianos, IV.29. Ambrosius: Comment. in evang. Luc., VI.32f. Athanasius: Contra Arianos, I.6, I.9, III.27; Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Tübingen 41909, Bd. II, S. 196–204; Richard P. C. Hanson: The Search of the Christian Doctrine of God. The Arian Controversy 318–381, Edinburgh 1988, S. 14, 109; Daniel H. Williams: Ambrose of Milan and the End of the Nicene-Arian Conflicts, Oxford 1995; Christoph Markschies: Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und Theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364–381), Tübingen 1995, S. 201f. Alan Cameron: The Latin Revival in the Fourth Century, in: Renaissances before the Renaissance. Cultural Revivals of Late Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Warren Treadgold, Stanford 1984, S. 42–58; Ders.: Pagan Ivories, in: Colloque genevois sur Symmaque, hg. v. François Paschoud, Paris 1986, S. 41–64; Ders.: A New Late Antique Ivory, in: American Journal of Archaeology, LXXXVIII, 1984, S. 397–402.

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Recht hätte, dann würde sich eine Entstehung der Trivulzio-Tafel zwischen 396 und 402 ergeben. Dass der Klassizismus dieser Elfenbeine zuerst von den Heiden, und zwar vor allem von der Senatsaristokratie und nachher von den Christen, die selbst der Aristokratie angehörten, promoviert wurde, bedarf keiner weiteren Erörterung, allein, dieser Klassizismus kann nicht als kulturpolitisches Manifest22 gedeutet werden. Elfenbein ist per se ein hochkarätiges Material, das nach Möglichkeit eine hochtrabende Rhetorik verlangt. Klassizismus im Sinne einer engen Anlehnung an frühe kaiserzeitliche Vorbilder ist in der Spätantike mit Vorzug vom römischen Adel und von der herrschenden Klasse gewählt worden.23 Nicht nur der Lotos-Palmetten-Fries, sondern auch der Efeu-Baum, der bei dem Grab Christi emporwächst, – ein heidnisches Symbol der Wiedergeburt – gehört unter anderem zu den Vokabeln dieser Rhetorik.24 Diese klassizistische Rhetorik sollte jedoch inhaltlich und sozialgeschichtlich nicht überinterpretiert werden, sie war ein Statussymbol. VI. Zur Funktion des Trivulzio-Diptychons

Abb. 9: Trivulzio-Elfenbein, verso (Mailand, Castello Sforzesco)

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Viel interessanter, aber bisher kaum diskutiert, ist die Frage der christlichen Verwendung von Elfenbeindiptychen. Die Rückseite des Trivulzio-Elfenbeins ist mit Namen von Verstorbe-

So Ernst Kitzinger: Byzantine Art in the Making. Main Lines of Stylistic Development in Mediterranean Art, 3d–7th Century, London 1977, S. 40. Richard Delbrueck: Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler, Berlin 1929, S. 29: „Eigentümlich ist dieser Gruppe der stark retrospektive, an die frühere Kaiserzeit anschliessende Charakter, sowie die überaus vollendete Ausführung. Es ist der Stil der traditionsbewussten Oberschicht, beider Religionen.“ J. M. Eisenberg verkannte diese Tatsachen und hielt das Symmacher-Elfenbein für eine Fälschung des 19. Jh., eine These, die sogleich widerlegt wurde von Dale Kinney: A Late Antique Ivory Plaque and Modern Response, in:. American Journal of Archaeology, XCVIII, 1994, S. 457–480. Cameron 1986 (wie Anm. 21), S. 52.

Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission

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nen (Abb. 9) beschrieben25, die links und rechts von einem Gemmenkreuz aufgereiht sind; sie sind vermutlich anlässlich der Messe vorgelesen worden.26 Welchen sozialen Status muss ein christlicher Auftraggeber eines Elfenbeindiptychons inne gehabt haben? Wie kam ein christlicher Auftraggeber überhaupt auf die Idee, für die commemoratio der Verstorbenen ausgerechnet ein kostspieliges Elfenbeindiptychon anfertigen zu lassen? Niemand kann behaupten, dass die Wahl eines Elfenbeindiptychons für diesen liturgischen Akt eine Notwendigkeit darstellte.27 Elfenbeindiptychen waren nur den Angehörigen der politischen Elite zugänglich. Der Auftraggeber des Trivulzio-Elfenbeins kann nur ein Bischof gewesen sein, der über seine Familie beziehungsweise seine Verwandtschaft, zum Beispiel über die Symmacher oder Nicomacher, Zugang zu dem Medium der Elfenbeindiptychen erhalten hat. Wenn unser Diptychon in Rom entstanden und wenn die von Cameron vorgeschlagene Datierung der beiden Symmacher-Diptychen auf 396 und 404 richtig wäre, dann könnte man den Bischof von Rom als Auftraggeber erwägen. Eine Zuweisung des Trivulzio-Elfenbeins an Papst Siricius (384–399) oder Papst Innozenz I. (401– 417) bleibt jedoch gänzlich hypothetisch, ja unwahrscheinlich, weil jeglicher Anhaltspunkt für eine Verwandtschaft der beiden Päpste mit den Symmachern oder Nikomachern fehlt. Mit jedem weiteren Versuch, das Trivulzio-Elfenbein einer bekannten Persönlichkeit zuzuweisen, bewegen wir uns auf höchst unsicherem Gelände. Theoretisch könnte die Trivulzio-Tafel auch von irgendeinem anderen Bischof Italiens bestellt worden sein, der über Kontakte zur heidnischen Elite verfügte. Zu erwägen ist vor allem Ambrosius von Mailand, der aus einer heidnischen Familie stammte, Christ wurde und in persönlichem und brieflichem Kontakt mit dem Kaiserhaus und den Angehörigen des römischen Senats stand, insbesondere mit Symmachus.28 In Sirmium diente er unter dem christlichen Prätorianerpräfekten Sextus Petronius Probus, der Ambrosius 372/373 mit der Präfektur der Provinz Aemilia-Liguria mit Sitz in Mailand, wo auch die Kaiser residierten, betraute. Dass Ambrosius im Laufe seiner Karriere ein Elfenbeindiptychon in der Art der Tafeln der Symmacher und Nicomacher zu Gesicht gekommen sein könnte, ist durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich. Auch wenn sich damit nichts beweisen lässt, so steht fest, dass nur ein Bischof wie Ambrosius, der über enge Kontakte zum Senatsadel verfügte, als Auftraggeber der Trivulzio-Tafel in Frage kommt.

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Kinney 1994 (wie Anm. 23), S. 465f., Abb. 6. Die Datierung dieser Inschriften wurde von Bernhard Bischoff in einem Brief an Virginia Brown vorgeschlagen; ebd., Anm. 37. Bertelli 2003 (wie Anm. 2), S. 173–178, bes. 176: „Si trattava evidentemente di un dittico sacro, utilizzato durante la celebrazione della messa, secondo la testimonianza di Giovanni Crisostomo nella sua Liturgia e di Agostino (Epistola XXVIII Migne p.111). Insomma un’opera molto sofisticata e per nulla realistica […] Sul retro è disegnata a inchiostro una croce gemmata con accanto alcune scritte, probabilmente del VI secolo, in cui appaiono nomi tipici di famiglie romane, fra cui quello di un Symmachus.“ Marco Navoni: I dittici eburnei nella liturgia, in: Eburnea diptycha. I dittici d’avorio tra Antichità e Medioevo, hg. v. Massimiliano David, Bari 2007, S. 299–313. Raymond van Dam: Bishops and Society, in: The Cambridge History of Christianity, Bd. II: Con-

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Unter den Namen, die auf der Rückseite der Trivulzio-Tafel aufgelistet sind, figurieren die folgenden: BONIFATI SYMMACHI ACA_TI PAULI PROLI AEMILIANI PETRONI VALERI ADEL… TRYGETI PANCRATII MARINIANAE PROC PIAE MELISS

Bischoff hat diese Inschriften in einem Brief an eine Kollegin dem 6. Jahrhundert zugewiesen, aber eine gültige Publikation beziehungsweise eine Begründung dieser Meinung liegt nicht vor. Wenn sie richtig wäre, dann wäre zu erwägen, ob die Inschriften solche des ausgehenden 4. Jahrhunderts kopieren oder ob die Namenliste erst im 6. Jahrhundert erstellt wurde. In diesem Fall könnte der Name SYMMACHI bedeuten, dass ein nicht weiter bekannter christlicher Symmacher von Ambrosius in die Totenkommemoration aufgenommen worden ist. Das Geschlecht der Symmacher ist jedoch auch noch im 6. Jahrhundert belegt. All das muss freilich Hypothese bleiben. VII. Schlussfolgerungen Das Trivulzio-Diptychon ist eines der frühsten christlichen Diptychen überhaupt. Seine ausgeklügelte Ikonographie und sein klassizistischer Stil stehen konzeptuell den heidnischen Diptychen der Symmacher und Nikomacher nahe. Die Annahme, dass der Auftraggeber mit der Senatsaristokratie wenn nicht verwandt war, so doch enge persönliche Kontakte pflegte, ist nicht von der Hand zu weisen. Selbst wenn Ambrosius von Mailand für dieses Diptychon nicht verantwortlich gewesen sein sollte, dann muss man die Botschaft des Trivulzio-Elfenbeins als eine bewusste Stellungnahme gegen arianische Glaubenspositionen verstehen. In Mailand machte eine antiarianische Stellungnahme Sinn, denn „Mailand blieb bis in die siebziger Jahre das Bollwerk des Homöertums.“29 Auch wenn die Auseinandersetzung des Ambrosius mit der arianischen Lehre von einem Kenner als

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stantine to c. 600, Cambridge 2007, S. 343–363; Michèle Salzmann: Christianity and Paganism III: Italy, in: Ebd., S. 224–228. Markschies 1995 (wie Anm. 20), S. 58.

Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission

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„hasty and superficial“ bezeichnet wird, so steht fest, dass sich der große Bischof mit der arianischen Kontroverse zwischen 375 und 381 beschäftigen musste.30 Die inhaltliche Pointierung der Auferstehung Christi auf eine Anbetung Christi als Gottheit und auf eine Anbetung des Gottessohnes seitens der Frauen, der Soldaten und der Lebewesen im Himmel ist einzigartig. Auch die Reidersche Tafel bezieht gegen die Arianer Stellung, indem sie die Gottheit Christi mit der verschlossenen Grabestür und dem Gang zu Gott subtil andeutet. Auf beiden Elfenbeintafeln wird der Auferstandene als der ‚Herr der Herrlichkeit‘, sprich als Gott propagiert, aber dem Trivulzio-Diptychon kam eine öffentlich-kirchliche Funktion zu. Dieses Diptychon sagt etwas aus über die theologischen und kulturellen Ambitionen eines Bischofs am Ende des 4. oder zu Beginn des 5. Jahrhunderts, der versuchte, die Rhetorik der Senatsaristokratie, die sich insbesondere in der klassizistischen Ornamentik manifestiert, für die christliche Kunst fruchtbar zu machen. Die umfassende Anbetung des Auferstandenen als Gott war eine Form von ‚propaganda fidei‘ zwecks Widerlegung der Arianer.31

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Hanson 1988 (wie Anm. 20), S. 667–675. Antonio Ferrua (La polemica antiariana nei monumenti paleocristiani, Città del Vaticano 1991) meldete Bedenken gegenüber zahlreichen antiarianischen Interpretationen an. Zu Recht stellte er fest: „La maniera più chiara e sicura di polemica antiariana è quella di professare apertamente la divinità della seconda persona della SS. Trinità o del Verbo incarnato Gesù Cristo“ (Ebd., S. 289). Ferruas Argumentation überzeugt, wenn er sich auf die Inschriften stützt. Bedenken erwecken dagegen seine ikonographischen Erwägungen. Stünde die Inschrift in der Domitilla-Katakombe „QUI FILIUS DICERIS. ET PATER INVENIRIS“ für sich, würde sich eine antiarianische Deutung nicht unbedingt aufdrängen. Da jedoch im Arkosol der lehrende Christus erstmals in der Mandorla sitzend erscheint, wird seine Gottheit unmissverständlich zur Evidenz gebracht. Häufig wurden die Vokabeln der kaiserlichen Ikonographie gewählt, um den Gläubigen die Gottheit Christi vor Augen zu führen, z.B. im Apsismosaik von Santa Pudenziana. Es besteht jedoch kein Grund, das Apsismosaik von Santa Pudenziana als antiarianische Propagandakunst zu bezeichnen. Die Auszeichnung Christi mit einigen kaiserlichen Vokabeln (Goldgewand, Thron, Goldnimbus) könnte durchaus auf seine Göttlichkeit fokussiert sein, sein bärtiges Antlitz jedoch sowie sein Zusammensein mit den zwölf lebhaft diskutierenden Aposteln charakterisieren ihn als philosophischen Lehrer. Zu Domitilla s. Paola Pogliani: Il mosaico con la maiestas Domini, la resurrezione di Lazzaro e i tre fanciulli nella fornace della catacomba di Domitilla, in: L’orizzonte tardoantico e le nuove immagini 312–468. La pittura medievale a Roma. Corpus, hg. v. Maria Andaloro, Bd. I, Rom 2006, S. 175–178; zu Santa Pudenziana s. Maria Andaloro: Il mosaico absidale di Santa Pudenziana, in: Ebd., S. 114–124. Auf dem Silberreliquiar von San Nazaro im Domschatz von Mailand werden in der Anbetung der Magier zwei kräftige Männer mit lockigem Haar abgebildet, die Jesus große und schwere Silberteller als Geschenke darbringen. Die Silberteller sind ein kaiserlich-königliches Geschenk, das dem Jesuskind offeriert wird, womit offensichtlich auf die Gottheit Christi angespielt wird. Mit größter Wahrscheinlichkeit gehört dieses Juwel in das Umfeld des Ambrosius, der in De fide I.4.31 sagt: „Unum deum magi crediderunt […] auro regem fatentes, ut deum ture venerantes“ (PL. 16, Sp. 557).

Entstehung und Wandel der Kaiserkrone Hermann Fillitz

Seit wann gibt es eine Kaiserkrone und wodurch unterscheidet sie sich von Kronen anderer Herrscher? Diese Fragen mögen erstaunen. Wohl kennt man im Abendland von Karl dem Großen an die römische Kaiserkrönung durch den Papst, aber gibt es seither auch eine kaiserliche Krone? Seit Otto dem Großen gibt es die Krone, die später zur ‚Reichskrone‘ (im Schatz der Reichskleinodien) wurde.1 Sie nahm schon im 11. Jahrhundert eine besondere Stellung ein. Oft wurde sie später auch als Kaiserkrone bezeichnet, wenngleich sie nur selten bei der Kaiserkrönung getragen wurde; normalerweise wurde sie bei der Königskrönung in Aachen, dann in Frankfurt und ausnahmsweise auch andernorts verwendet. Die Tatsache, dass seit Kaiser Maximilian I. die zum römischen König Gekrönten den Titel „Erwählter römischer Kaiser“ führen durften, hat wohl auch zu dieser vereinfachenden Bezeichnung geführt. Im Hochmittelalter gab es keinen Unterschied zwischen einer vom Kaiser getragenen Krone gegenüber solchen von Königen. Der bei der römischen Kaiserkrönung Konrads II. im Jahr 1027 anwesende englische König Knut hat ebenso eine Krone mit einfachem Hochbügel getragen wie die typengleiche Konrads II. In der Zeichnung im New Minster Register (London, British Museum, Stowe Ms. 944, fol. 6r)2 wird dem König eine Krone mit dem einfachen Hochbügel von einem Engel überbracht. Dieser Kronentypus hört mit Heinrich IV. auf; jedenfalls gibt es dann keine entsprechenden Bildzeugnisse für ihn. Die Darstellung des jungen Herrschers, dem vom Himmel her die Krone aufgesetzt wird, auf dem Deckel des Lütticher Evangeliars in der Bodleian Library (Douce 292)3 ist die letzte Darstellung für diese Form der Krone.4 Auf der Scheide des Reichsschwertes

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Entgegen der These von Hans Martin Schaller, die Krone sei im 12. Jh. für König Konrad III. geschaffen worden, wobei er sich auf ein Detail der Buchstabenform auf einer der Bildplatten der Reichskrone stützt (Die Wiener Reichskrone – entstanden unter König Konrad III., in: Die Reichskleinodien. Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches [Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst, 16], hg. v. der Gesellschaft für staufische Geschichte e.V.‚ Göppingen 1997, S. 58–105), halte ich an der Zuordnung der Krone an Otto I. aufgrund einer Reihe von kaum zu widerlegenden Argumenten fest; dazu Hermann Fillitz: Bemerkungen zur Datierung und Lokalisierung der Reichskrone, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, LVI, 1993, S. 313–334; ebenso Gunther G. Wolf: Die Wiener Reichskrone, Wien 1995. The Golden Age of Anglo-Saxon Art. 966–1066, hg. v. Janet Backhouse/Derek H. Turner/Leslie Webster, London 1984, S. 77 (und andernorts). Percy Ernst Schramm: Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit. 751–1190, hg. v. Florentine Mütherich, München 21983, S. 428, Nr. 172. Vereinzelte Darstellungen von Kronen mit einem Bügel, wie im Homiliar des Paulus Diaconus (München, Bayerische Staatsbibliothek [BSB], Clm 7183; s. Schramm 1983 [wie Anm. 3], Nr. 188), wo der Bügel quergestellt ist, können bei dieser Frage unberücksichtigt bleiben; nicht nur, weil es

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tragen alle Kaiser und Könige die Krone mit den sich kreuzenden Flachbügeln.5 Bis zu Friedrich II. war das der bevorzugte Kronentypus. Aus seinem Besitz sind zwei derartige Kronen erhalten, die Stoffkrone im Schatz des Domes von Palermo und die Krone, die der Kaiser für den Reliquienbehälter des Craniums der hl. Elisabeth stiftete (Stockholm, Historisches Museum).6 Die ungarische Königskrone ist das schönste Exemplar dieses Typus, das erhalten ist.7 Das beweist, dass diese Kronen allgemein getragen wurden, von Königen genauso wie von den Kaisern des 12. und 13. Jahrhunderts. Das heißt aber, jede Form einer Krone war für jeden Herrscher möglich, es gab keine dem Kaiser vorbehaltene. Die Krone wurde nicht als Rangabzeichen angesehen, wie man gelegentlich in älteren Publikationen lesen kann. Offensichtlich wurden hier jüngere Vorstellungen auf ältere Epochen übertragen.8 Ein Grund für die Bevorzugung eines bestimmten Typus der Krone war wahrscheinlich die Orientierung an einer vorausgehenden Epoche, beziehungsweise an einer bestimmten Persönlichkeit. So wurde die Einbügelkrone Ottos des Großen von seinen unmittelbaren Nachfolgern Otto II. und Otto III. nicht übernommen. Auf allen Darstellungen, die bekannt sind, tragen sie die einfache Reifenkrone, wie sie für die karolingischen Kaiser bekannt ist. Erst Heinrich II. greift entsprechend seiner politischen Orientierung auf die Krone Ottos I. zurück.9 Die Darstellungen der Kaiser Ludwig des Frommen, Otto III. und Friedrich I. Barbarossa und des Königs Konrad III. auf dem Armreliquiar Karls des Großen (Paris, Louvre) können weiterführen.10 Die Kronen der Kaiser tragen auf ihren Nackenseiten bandförmige Anhänger; diese fehlen an der Krone Konrads III. Percy E. Schramm bemerkt dazu

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sich nicht um das Bild eines bestimmten Herrschers handelt, das irgendwie offiziellen Charakter hätte, sondern auch weil es in diesem konkreten Fall auf älterem Vorbild beruht, worauf die Herrschaftszeichen Lanze, Schild und Faldistorium verweisen. Percy E. Schramm/Florentine Mütherich: Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, München 2 1981, Nr. 159 (und andernorts). Ebd., Nr. 198 und 206; Arpad Weixlgärtner: Das Reliquiar mit der Krone im Staatlichen Historischen Museum zu Stockholm, Uppsala 1954; Nobiles officinae. Die königlichen Werkstätten zu Palermo zur Zeit der Normannen und Staufer im 12. und 13. Jahrhundert, Wien 2004, S. 228ff. Josef Deér: Die heilige Krone Ungarns, Wien 1966 (und andernorts). Ausgehend von Franz Bock: Die Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches etc.‚ Wien 1864, wurde in älteren Publikationen die Krone mit dem Hochbügel als Insigne des Kaisers angesehen, die Doppelbügelkrone als die von Königen. So wurden bei der Reichskrone die jeweils drei Ösen am oberen Rand der Nackenplatte und der beiden Schläfenplatten – an der Stirnplatte gibt es nur eine Öse – damit erklärt, dass die Krone, mit einem Doppelbügel versehen, bei Königskrönungen verwendet wurde, mit dem einfachen Hochbügel bei Kaiserkrönungen; s. Hermann Fillitz: Studien zur römischen Reichskrone, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, L, 1953, S. 27f. Sakramentar Heinrichs II. (München, BSB, Clm 4456) und Situla, Aachen Domschatz; Abb. Schramm 1983 (wie Anm. 3), S. 376f. bzw. S. 366; zur Situla Hermann Fillitz: Bemerkungen zur Situla des Aachener Domschatzes, in: Ars et scriptura (Festschrift für Rudolf Preimesberger), hg. v. Hannah Baader u.a., Berlin 200l, S. 35–43. Schramm 1983 (wie Anm. 3), S. 458 und 468–470.

Entstehung und Wandel der Kaiserkrone

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in „Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit“: „Dass Konrad III., der nie die Kaiserwürde erlangte, eine Krone ohne Pendilien trägt, ließe den Schluss zu, dass der Goldschmied sie als Vorrecht des Kaisers ansah.“11 Er lehnt diese Folgerung ab – Pendilien tragen alle möglichen Kronen des 12. Jahrhunderts. Hier sind aber nicht Pendilien, sondern die Fanones der Mitra, die der Papst bei der römischen Krönung den Kaisern verlieh, dargestellt. Zur Klarstellung: Unter Pendilien versteht man allgemein die seitlich über den Schläfen angebrachten Gehänge von Kettchen mit Edelsteinen an ihrem unteren Ende, so wie sie die ungarische Königskrone noch heute besitzt. Auch die Reichskrone hatte ursprünglich Pendilien, wie die horizontal liegenden Ösen am unteren Rand der Schläfenplatten erweisen. Etwas anderes sind die zwei breiten Bänder, die auf der Nackenseite herabfallen. Diese, hier Fanones bezeichnet, wie sie zumeist genannt werden, sind Teil der liturgischen Mitra.12 Auf der Königsbulle Friedrichs I. Barbarossa trägt die Krone seitlich Pendilien in der beschriebenen Form. Seine Kaiserbulle unterscheidet sich nur gering von dieser; die wesentliche Änderung ist die, dass die Krone keine Pendilien besitzt‚ dafür aber die Fanones deutlich gezeigt sind.13 Es ist das erste Mal, dass auf einer Kaiserbulle diese Differenzierung feststellbar ist. Bei Lothar III. trägt die kaiserliche Krone noch Pendilien.14 In der Krönungsliturgie Ottos IV. im Jahr 1209 heißt es: „Pontifex imponit ei mitram clericalem in capite ac super mitram imperatorium diadema.“15 Die Abfolge ist hier deutlich geschildert; der Papst verleiht dem zu Krönenden zuerst die Mitra, ehe er ihm als Höhepunkt der Krönung die Krone darüber aufsetzt. Im Ordo Cencius II (Ordo XIV) heißt es ebenso, dass der Papst in seinem Secretarium den Electum „faciat clericum et concedit ei mitram.“16 Dieser Ordo Cencius II wurde zuletzt von Reinhard Elze in die 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert, was, soweit ich sehe, allgemeine Zustimmung gefunden hat, auch bei Percy E. Schramm, der den Ordo zunächst gegen Ende 12. Jahrhundert datiert hatte.17 11 12

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Ebd., S. 265, linke Spalte. Für die Fanones gibt es verschiedene Bezeichnungen, nicht zuletzt auch die als Pendilien. Josef Deér bezeichnet bei den Darstellungen der Kaiser auf dem Armreliquiar die Fanones als Bandpendilien; Der Kaiserornat Friedrichs II., Bern 1952, S. 43ff. Ders.: Die Siegel Kaiser Friedrichs I. Barbarossa und Heinrichs VI., in: Festschrift für Hans R. Hahnloser, hg. v. Ellen J. Beer, Basel/Stuttgart 1961, S. 63 (Neudruck in: Josef Deér: Byzanz und das abendländische Herrschertum, hg. v. Peter Classen, Sigmaringen 1977, S. 210). Dabei unterscheidet er auch nicht, ob die Gehänge über den Schläfen oder im Nacken angebracht sind. Schramm 1983 (wie Anm. 3), S. 460, Nr. 208f. Die einzige Ausnahme ist das Königssiegel Friedrichs I., auf dem ebenfalls Fanones dargestellt sind; ebd., S. 459, Abb. 206. Ebd., S. 447, Nr. 193f. Eduard Eichmann: Die Kaiserkrönung im Abendland. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 2 Bde., Würzburg 1942, Bd. II, S. 65. Ebd., Bd. I, S. 173. Reinhard Elze: Die Ordines für die Weihe und Krönung der Kaiser und der Kaiserin (Fontes iuris germanici antiqui, XI: Ordines coronationis imperialis), Hannover 1960, S. XIIIff.; Percy E. Schramm:

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So darf man fragen, ob Friedrich I. Barbarossa der erste war, dem im Rahmen seiner römischen Kaiserkrönung 1155 die Mitra verliehen wurde. Die Bild-Dokumente und der Krönungsordo würden dafür sprechen. Man sieht aber auch, wie genau die Darstellungen der einzelnen Herrscher auf dem Armreliquiar Karls des Großen hinsichtlich der Details der Insignien sind. Das kann nicht der Goldschmied bestimmt haben, sondern sie sind das Resultat genauer Anweisungen des Stifters. Von Friedrich I. an unterscheidet sich die Krone des Kaisers somit von anderen dadurch, dass unter ihr die Mitra getragen wurde. Diese muss man sich in ihrer ursprünglichen, einfachsten Form vorstellen, nämlich als halbkugelige Haube, wie sie im 12. Jahrhundert noch nachweisbar ist. Für die sich damals entwickelnden Hörner (Cornua) war unter den flachen Bügeln nur schwerlich Platz zu finden. Daher kann man auf den Darstellungen der Goldschmiedearbeiten – Armreliquiar, Siegel und Bullen – nur die Fanones als für sie charakteristisches Detail zeigen. Erst im 14. Jahrhundert wurden die sich kreuzenden Bügel hochgezogen, so dass die Mitra mit den Cornua darunter sichtbar werden konnte. Die Goldene Bulle Ludwigs des Bayern aus dem Jahre 1328 zeigt das deutlich.18 Die Mitra war so orientiert, dass die Cornua über Stirn und Nacken standen, so wie sie die Bischöfe tragen. In dieser Form trug sie auch Kaiser Karl IV.19 Dennoch wirkt seine Krone anders als die seiner Vorgänger, von denen freilich keine so genauen Darstellungen existieren wie für Karl IV. Die Mitra wird stärker betont, was sicherlich mit dem schlanken einfachen Hochbügel zusammenhängt, den der Kaiser im Gegensatz zu seinen Vorgängern wählte. Dadurch konnte die Mitra sich zu größerer Bedeutung entwickeln, was sicherlich in den Intentionen Karls IV. lag. Mit dieser Art der Kombination der Krone mit dem einfachen Hochbügel und mit der Mitra entstand ein Typus, der fortan als derjenige der Kaiserkrone galt. Die Krone des Kaisers unterschied sich in dieser Form von allen anderen Kronen. Allerdings wurde im 15. Jahrhundert die Mitra so gedreht, dass die Cornua nicht über Stirn und Nacken standen, sondern über den Schläfen. Zweifellos war das eine päpstliche Entscheidung, um so einen Unterschied zwischen der Mitra des konsekrierten Bischofs und der des gekrönten Kaisers zu machen. Offensichtlich war Rom von der bischofsgleichen Erscheinung Karls IV. gestört gewesen. Dazu passt der Bericht von einem der Sekretäre von Papst Pius II., der betont, dass neben der Drehung der Mitra diese sich von der bischöflichen dadurch unterscheide, dass sie niedriger, weniger spitz und schmuckloser sei.20 Die Drehung der Mitra blieb ständig beibehalten, an die übrigen Vorschriften hielt man sich aber überhaupt nicht. Die Dar-

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Herrschaftszeichen und Staatssymbolik (Schriften der Monumenta Germaniae historica, 13), Bd. I., Stuttgart 1954, S. 85. Percy Ernst Schramm/Hermann Fillitz: Denkmale der deutschen Könige und Kaiser 1273–1519, Bd. II, München 1978, S. 120, Nr. 14. Auf zahlreichen Darstellungen des Kaisers, wohl die beste auf dem Votivbild des Prager Erzbischofs Očko von Vlaším, Prag, Nationalgalerie; z.B. ebd., S. 172, Nr. 56. Schramm 1954 (wie Anm. 17), S. 90.

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stellungen der Kaiser Friedrich III. und Maximilian I. zeigen hohe und reich geschmückte Mitren entsprechend der mitra pretiosa der Prälaten.21 Die Verzeichnisse, die König Philipp II. von Spanien von den kaiserlichen Insignien und Gewändern Friedrichs III. und Maximilians I. anfertigen ließ, geben genau die Edelsteine, Diamanten und Perlenreihen an, mit denen die Mitra der Krone Maximilians I. geschmückt war.22 Wie die beiden Teile zu einer Einheit verschmelzen, zeigt sehr schön das Detail der Ehrenpforte Kaiser Maximilians, wo ein Engel die Kaiserkrone über dem Haupttor hält.23 Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der vollkommenen Zusammenfügung von Krone und Mitra: Die Cornua der Kaiserkrone, die Kaiser Rudolph II. in Prag 1602 wahrscheinlich von Jan Vermeyen gestalten ließ, sind aus Gold und sie sind gleichartig wie der Kronenreif dekoriert. Die abendländische Kaiserkrone wurde schließlich unter Katharina II. Vorbild für die Krone der russischen Zaren. Nur zwei im 19. Jahrhundert neu geschaffene Kaiserreiche hatten andere Vorbilder: Napoleon I. wählte den Lorbeerkranz des römischen Kaisers Augustus, für das deutsche Kaiserreich wurde eine Plattenkrone entworfen, die der Reichskrone in der Tradition Karls des Großen folgte. Der Kaiser von Österreich, der sich als Nachfolger des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches sah, übernahm die kaiserliche Hauskrone der Habsburger, das heißt die Krone Rudolphs II., als Insigne seines neu proklamierten Kaiserreiches. Die Stellung der Mitra in der kaiserlichen Krone, „ut eius cornua […] ad tempora vertentur“24, bildet den Schlusspunkt in einer langen Entwicklung. Im 12. Jahrhundert wurde dem Kaiser vom Papst die mitra clericalis verliehen, jetzt im 15. Jahrhundert wird die Mitra des Kaisers der bischöflichen Mitra entgegengestellt, um seine Stellung außerhalb der konsekrierten Funktionäre der Kirche möglichst deutlich zu demonstrieren. Das war aber auch eine Veränderung gegenüber Kaiser Karl IV., dessen kaiserliches Insigne der Ausgangspunkt für die Kaiserkrone als besonderer Insignien-Typus war. Keiner seiner Vorgänger hat den kirchlichen Rang des Kaisers so sehr bildhaft demonstriert wie er. Auf dem Reliquienkreuz des Prager Domschatzes mit dem Stück vom Lendentuch Christi, das er von Papst Urban V. geschenkt erhielt, stehen Papst und Kaiser in typengleichen Ornaten einander gegenüber; ebenso auch auf dem Kästchen mit den Ketten-Reliquien der hll. Petrus, Paulus und Johannes Evangelista, wo sie in Brustbildern gezeigt sind (Wien, Weltliche Schatzkammer, Reichskleinodien).25 Man kann diese Darstellungen als BildDokumente ansprechen; das auch im Hinblick auf die Aussage über den Rang des Kaisers in der kirchlichen Hierarchie, jedenfalls so, wie er diesen postulierte. Die beiden Szenen auf den Reliquiaren haben eine monumentale Parallele in den Szenen auf der Seitenwand

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Abb. z.B. Schramm/Fillitz 1978 (wie Anm. 18), S. 224, Nr. 109, S. 273, Nr. 162, S. 294, Nr. 181 u.a. Ebd., S. 45. Ebd., S. 294, Nr. 181. Schramm 1954 (wie Anm. 17), S. 90, Anm. 4. Schramm/Fillitz 1978 (wie Anm. 18), S. 167, Nr. 52, S. 166, Nr. 51.

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der Marienkapelle auf Burg Karlstein.26 Dargestellt sind dort die Reliquien-Überreichungen durch den Dauphin, den späteren König Karl V. von Frankreich – er übergibt dem Kaiser eine Kreuzpartikel und zwei Dornen der Dornenkrone Christi –, vom König Peter von Lusignan (?) erhält er eine weitere nicht identifizierte Reliquie. Der Kaiser ist hier dargestellt in der Tradition des alttestamentlichen Königs Melchisedek, König und Priester in sich vereinend, so Jan Homolka.27 Die Reihe schließt mit der Einsetzung der Kreuzreliquie, deren Form der großen Kreuzpartikel in ihrer kreuzförmigen Fassung im Schatz der Reichskleinodien gleicht, durch den Kaiser in das große Reliquienkreuz, das ‚Landeskreuz‘, das damals auf dem Altar der Marienkapelle stand (heute Prag, Domschatz).28 Später wurde der Reliquienschatz in die Katharinenkapelle übertragen. Dort ist über dem Eingang der Kaiser mit seiner Gemahlin Anna von Schweidnitz gezeigt, die gemeinsam das große Reliquienkreuz halten; man kann hier an das Vorbild byzantinischer Staurotheken denken.29 Mit der Einsetzung der Kreuzpartikel in das große Reliquienkreuz vollzieht der Kaiser eine liturgische Handlung, die normalerweise einem Laien in der Kirche nicht zustand. Dementsprechend steht er auf der obersten Stufe des Altars und trägt einen Ornat, der jedenfalls so, wie er wiedergegeben ist, einem bischöflichen nicht unähnlich ist.30 Diese Darstellung ist singulär, sie fügt sich aber in das Programm von Karlstein ein, wo, und auch das ist auffallend, kein einziger handelnder Liturge neben dem Kaiser dargestellt ist. Das Programm von Burg Karlstein, wie es dem Verständnis Karls IV. entsprach, ist als eine Theologie des Kaisertums seinen Vorstellungen entsprechend gestaltet.31 In konzentrierter Form gilt das auch für die kaiserliche Krone Karls IV. Sie bildet zugleich den Wendepunkt von einem übersteigerten religiösen Inhalt hin zum weltlichen Insigne des 15. Jahrhundert.

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Magister Theodoricus. Court painter to emperor Charles IV, hg. v. Jiřj Fait, Prag 1998, S. 66, Nr. 38 und S. 67, Nr. 39, S. 69, Nr. 42; Schramm/Fillitz 1978 (wie Anm. 18), S. 152, Nr. 46, S. 161, Nr. 47. Jan Homolka: The pictorial decoration of the Palace and Lower Tower of Karlštejn, in: Magister Theodoricus 1998 (wie Anm. 26), S. 64f. Magister Theodoricus 1998 (wie Anm. 26), S. 60ff., S. 141, Nr. 82; Schramm/Fillitz 1978 (wie Anm. 18), S. 151, Nr. 46. Magister Theodoricus 1998 (wie Anm. 26), S. 63, Abb. 36, S. 141, Abb. 82. Ebd., S. 70, Abb. 43f. Jiřj Fait/Jan Royt: The Pictorial Decoration of the Great Tower at Karlštejn Castle. Ecclesia triumphans, in: Magister Theodoricus 1998 (wie Anm. 26), S. 108–205, bes. S. 143ff.

‚Privat‘ und ‚Amtlich‘. Anmerkungen zur Bildausstattung der ersten ‚Schweizer Bilderchroniken‘ Kristina Domanski I. ‚Privatheit‘ als zugeschriebener Habitus Unter dem Rubrum ‚Schweizer Bilderchroniken‘ wird eine Reihe von reich illustrierten Manuskripten zusammengefasst, deren Entstehungszeit beginnend mit der Berner Chronik Bendicht Tschachtlans und Heinrich Dittlingers von 1470 über die Werke Diebold Schillings und seines gleichnamigen Neffen Diebold Schilling d. J. bis zur zwischen 1510 und 1535 zu datierenden Eidgenössischen Bilderchronik Werner Schodolers reicht.1 Textlicher Ausgangspunkt für die Chroniken ist die erste ‚amtliche‘, im Auftrag des Berner Rates zwischen 1420 und 1430 verfasste Stadtgeschichte Konrad Justingers, die im Zeitverlauf verschiedentlich bearbeitet und um spätere historiographische Werke bereichert wurde. Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger fügten zunächst die Chronik des Alten Zürichkrieges des Schwyzer Landschreibers Hans Fründ sowie eine Beschreibung des Berner Twingherrenstreites an2, während Diebold Schilling ihre Kompilation für seine ,amtliche‘ Fassung der Berner Chronik um eine Schilderung der Burgunderkriege erweiterte.3 Ursprünglich angelegt als Werke lokaler Geschichtsschreibung wurden die Bilderchroniken seit Beginn des 20. Jahrhunderts – insbesondere während der dreißiger und vierziger Jahre – im Zuge „nationaler Selbstvergewisserung“4 vereinnahmt. Während Josef Zemp 1897 noch deutlich zwischen dem lokalen Bezugsrahmen der Werke des 15. Jahrhunderts und der „gemeineidgenössischen“ Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts unterschied5, wurden die Manuskripte in den folgenden Jahrzehnten verstärkt in den

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Adolf Muschg/Eduard A. Gessler: Die Schweizer Bilderchroniken des 15./16. Jahrhunderts, Zürich 1941, erweitern die Reihe im 16. Jahrhundert um Christoph Silberisens Schweizer Chronik und Johann Jakob Wicks Zeitchronik. Zürich, Zentralbibliothek (ZB), Ms. A 120; Tschachtlans Bilderchronik, Faksimile und Kommentarband, hg. v. Alfred A. Schmid, Luzern 1988. Bern, Burgerbibliothek (BB), Mss. hist. helv. I, 1–3; Gesamtedition: Diebold Schilling: Berner Chronik (1483), bearb. v. Hans Bloesch/Paul Hilber, 4 Bde., Bern 1943–1945. Regula Schmid: Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter, Zürich 2009, S. 33, 40. Josef Zemp: Die Schweizerischen Bilderchroniken und ihre Architekturdarstellungen, hg. durch die Stiftung von Schnyder von Wartensee, Zürich 1897, S. 1f.

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Dienst eines „Eidgenössischen Nationalbewusstseins“ gestellt.6 In der jüngsten Forschung finden die Bilderchroniken vor allem von historischer Seite Beachtung, sowohl im übergeordneten Rahmen städtischer Historiographie als auch unter dem Gesichtspunkt ihrer normativen Qualitäten im Hinblick auf die Ausbildung von Ritualen oder die Darstellung von Krieg und Gewalt.7 Zur Gruppe der als ‚Schweizer Bilderchroniken‘ bezeichneten Handschriften werden gewöhnlich nur jene wenigen Manuskripte gerechnet, deren umfangreich angelegte Illustrationszyklen tatsächlich zur Ausführung kamen. Doch handelt es sich eigentlich um eine wesentlich breitere, bis weit ins 17. Jahrhundert hineinreichende Textüberlieferung, die neben einer Vielzahl von Abschriften, die nicht auf Illustration angelegt waren, auch Exemplare aufweist, in denen eine Bildausstattung zwar geplant, aber nicht, nur teilweise oder mit großer zeitlicher Verzögerung ausgeführt wurde.8 Das gebräuchlichste Kriterium im Umgang mit der Handschriftengruppe ist die Abgrenzung zwischen ‚amtlichen‘ und ‚privaten‘ Objekten, die gewöhnlich mit weiteren, mehr oder weniger deutlich artikulierten Annahmen über Entstehung, Gebrauch und Funktion der Handschriften einhergeht und zur Qualifizierung der Bildausstattung dient. Für die ‚private‘ Chronik Bendicht Tschachtlans und Heinrich Dittlingers, erhalten im Manuskript A 120 der Zürcher Zentralbibliothek, wurde lange Zeit angenommen, der Ratsherr Tschachtlan habe die 230 kolorierten Federzeichnungen eigenhändig ausgeführt.9 Die in

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S. Muschg/Gessler 1941 (wie Anm. 1), S. 1: „Quelle des schweizerischen Nationalbewußtseins“; in diesem Tenor auch Othmar Gruber: Ein Arbeitsbericht über die Gesamtedition der Berner Chronik des Diebold Schilling, Bern 1943, S. 7: „Denn als grosse und anfeuernde Patenschaft [für die Faksimilierung] erwies sich fraglos jene neu erwachte nationale Leidenschaft, die während der ersten Kriegsjahre unseren Blick durch die Jahrhunderte zurück lenkte, um Beispiele der Haltung aus der eigenen Geschichte heranzuziehen, um aus dem Vorbilde der Erbauer unseres Schweizerhauses Kraft und Würde in die neue Prüfung übernehmen zu können“; mit vergleichbarer Intention bereits zuvor Oberst Emil Frey: Die Kriegstaten der Schweizer dem Volk erzählt, illustriert v. Evert von Muydan, Neuenburg o.J. (1904); ausführlich zur Rezeptions- und Editionsgeschichte Schmid 2009 (wie Anm. 4), S. 33–45. Martin Jucker: Die Norm der Gewaltbilder. Zur Darstellbarkeit von Opfern und Tätern kriegerischer Gewaltexzesse in Bilderchroniken des Spätmittelalters, in: Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft, 42), hg. v. Birgit Emich/Gabriela Signori, Berlin 2009, S. 121–153; Regula Schmid: „Liebe Brüder.“ Empfangsrituale und politische Sprache in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek/Angelika Lampen, Köln u.a. 2009, S. 85–111. Ein solches Beispiel bietet die Handschrift Bern, BB, Mss. hist. helv. III.271, eine um 1500 entstandene Abschrift der Justinger Chronik mit über 200 Freiräumen für Illustrationen, von denen zu Beginn des 17. Jahrhunderts drei ausgeführt wurden; zur Handschrift Aimée Perrin: Verzeichnis der handschriftlichen Kopien von Konrad Justingers Berner Chronik, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, 1950, S. 204–229, hier S. 229; Katalog der Handschriften zur Schweizergeschichte der Stadtbibliothek Bern, Bern 1895, S. 127. Ein weiteres Beispiel ist die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene Handschrift Bern, BB, Mül. 217, bei der nur die ersten 15 der über 200 geplanten Illustrationen ausgeführt wurden; Perrin 1950, S. 229 mit der alten Signatur Mül. 323.

‚Privat‘ und ‚Amtlich‘

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der Forschung eher gering eingestufte Qualität der Illustrationen verknüpfte bereits Josef Zemp explizit mit der privaten Bestimmung des Werkes: Als private Arbeit nie für öffentlichen Besitz bestimmt, dürfe die Einfachheit der äußeren Erscheinung nicht befremden.10 Zwar nehmen die Autoren der jüngeren Faksimile-Ausgabe von der eigenhändigen Ausführung durch Tschachtlan Abstand, doch konstatiert auch Vincenz Bartlome für die Federzeichnungen einen „geschulten, aber provinziellen Künstler, der sein Handwerk versteht“11; Alfred Cattani qualifiziert den Codex in ähnlichem Tenor als „Werk privater Liebhaberei.“12 Die Große Burgunderchronik Diebold Schillings13 wird von Robert L. Wyss als eine „auf private Initiative Schillings entstandene und möglicherweise auch für den Verkauf vorgesehene Arbeit“ eingeordnet, deren Ausstattung daher „weniger aufwendig und somit bescheidener“ ausfalle, weshalb das künstlerische Niveau der Illustrationen nicht mit demjenigen seiner Amtlichen Berner Chronik zu vergleichen sei.14 Die „private Initiative“ für die Anfertigung der Manuskripte wird demnach nicht nur auf den Gebrauch der Handschriften übertragen, sondern dient gleichfalls zur Erklärung eines gering eingeschätzten Anspruchsniveaus der Bildausstattung. Hinter der polarisierenden Einordnung von ‚privat‘ und ‚amtlich‘ verbirgt sich damit die Zuschreibung eines Habitus, der mit deutlichen Wertungen belastet ist. Demgegenüber beabsichtigen die folgenden Ausführungen, die sich aufgrund der Materialfülle weitgehend auf die Berner Chronik Tschachtlans und Dittlingers beschränken, eine kritische Befragung dieser Einschätzung einschließlich der mit ihr einhergehenden Qualitätsurteile. Eine Zusammenschau der zuvor in Bern nachzuweisenden Chronikhandschriften dient hierfür als Grundlage. Allein das Vorhandensein einer umfangreichen Bildausstattung ist – Norbert H. Ott15 folgend – als Formulierung eines näher zu konturierenden Anspruchsniveaus zu bewerten. Ausgehend von dieser Grundhypothese erlauben Beobachtungen zum verwendeten Bildrepertoire einen Vergleich mit kriegstechnischen Bilderhandschriften des 15. Jahrhunderts, die ihrerseits zu weiter reichenden Überlegungen zur Funktion des Codex einladen. 9 10 11 12 13 14

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S. Hans Bloesch: Die Tschachtlan-Chronik als Kulturdokument, in: Tschachtlans Berner Chronik 1470, bearb. v. Dems./Ludwig Forrer/Paul Hilber, Genf 1933, S. 1–6. Zemp 1897 (wie Anm. 5), S. 24f. Vincenz Bartlome: Die Bilder der Tschachtlan/Dittlinger-Chronik, in: Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), S. 85–98, hier S. 96f. Alfred Cattani: Benedicht Tschachtlan: Bilderchronik 1470, in: Zentralbibliothek Zürich, Schatzkammer der Überlieferung, hg. v. Dems./Bruno Weber, Zürich 1989, S. 26–29, hier S. 26. Zürich, ZB, Ms. A 5; Die Grosse Burgunder Chronik des Diebold Schilling von Bern: ‚Zürcher Schilling‘, Faksimile und Kommentar, hg. v. Alfred A. Schmid, Luzern 1985. Robert L. Wyss: Kunsthistorische Einordnung und stilistische Aspekte, in: Ebd., S. 17–31, hier S. 31; s. a. Die Burgunderbeute und Werke burgundischer Hofkunst, Ausstellungskatalog (Bern, Historisches Museum, 1969), Bern 1969, S. 55. Norbert H. Ott: Zum Ausstattungsanspruch illustrierter Städtechroniken. Sigismund Meisterlin und die Schweizer Chronistik als Beispiele, in: Poesis et Pictura (Festschrift für Dieter Wuttke), hg. v. Stephan Füssel/Joachim Knape, Baden-Baden 1989, S. 77–106.

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II. Historiographie als Statussymbol – Handschriftliche Zeugen der Geschichtsschreibung in Bern Die im Manuskript A 120 der Zürcher Zentralbibliothek erhaltene Berner Chronik aus dem gemeinsamen Besitz Bendicht Tschachtlans und Heinrich Dittlingers steht zwar an erster Stelle der ,Schweizer Bilderchroniken‘, doch zeugt eine reiche Überlieferung spätestens ab der Jahrhundertmitte von einem ausgesprochen regen Interesse an Werken zur Berner Stadtgeschichte. Die erwähnte erste Amtliche Berner Chronik Konrad Justingers (gest. 1438)16, die Aimée Perrin in zwei geringfügig voneinander abweichende Textfassungen unterteilte, ist in insgesamt sechs Manuskripten des 15. Jahrhunderts erhalten.17 Außer zwei Exemplaren der ersten Variante18 – eines ein fragmentarischer Autograph von zweieinhalb Blättern – ist auch eine Abschrift überliefert, die für eine umfangreiche Ausstattung mit Illustrationen eingerichtet wurde. Die heute in der Jenaer Universitätsbibliothek aufbewahrte Handschrift Ms. El. f. 69, die den Wasserzeichen nach zu urteilen in den 1470er oder 1480er Jahren entstand19, weist 265 Freiräume für Illustrationen nach jeweils abgesetzten Kapitelüberschriften auf und hätte hinsichtlich der Bildausstattung den entsprechenden Teil der Tschachtlan-Dittlinger-Chronik um mehr als hundert Bilder übertroffen. Hinzu kommen von der zweiten Textvariante neben einem um die Jahrhundertmitte entstandenen Manuskript zwei in die Jahre 1464 und 1467 datierte Abschriften eines Schreibers namens „Ulrich Riff aus Rapperswil.“20 Vergleichbare Bekanntheit wie die Amtliche Berner Chronik besaß – der Anzahl der handschriftlichen Zeugen nach zu urteilen – die vermutlich ebenfalls von Justinger ver16

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Zu Konrad Justinger s. a. Hans Strahm: Der Chronist Conrad Justinger und seine Berner Chronik von 1420, Bern 1978; Urs Martin Zahnd: „... zu ewigen ziten angedenck...“ Wenige Bemerkungen zu den bernischen Stadtchroniken aus dem 15. Jahrhundert, in: Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt, hg. v. Ellen J. Beer/Norberto Gramaccini u.a., Bern 1999, S. 187–195; Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. VII, Basel 2008, S. 28f. Perrin 1950 (wie Anm. 8), S. 204–229; s. aber auch Kathrin Jost: Konrad Justinger (ca. 1365–1438): Chronist und Finanzmann in Berns grosser Zeit (Diss. Bern, 2009), S. 15–28, 399–418; Manuskript zugänglich unter https://phbern.box.net/shared/nyzta7yuvp (29. 12. 10). 1. Fragment Bern, BB, Mss. hist. helv. X 69, 1420–1431; Perrin 1950 (wie Anm. 8), A1, S. 205f.; 2. Zürich, ZB, Ms. A 120a; Strahm 1978 (wie Anm. 16), S. 38–41; Perrin 1950 (wie Anm. 8), A2, S. 206f. Bei Perrin, ebd., A3, S. 207f. und Jost 2009 (wie Anm. 17), S. 22–24: 2. Hälfte 15. Jahrhundert aufgrund der Wasserzeichen; dagegen Franzjosef Pensel: Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschriften in der Universitätsbibliothek Jena, Berlin 1986, S. 273–276: 1. Hälfte 15. Jahrhundert, paläographisch begründet. 1. Winterthur, Stadtbibliothek, fol. 103; Perrin 1950 (wie Anm. 8), Aa1, S. 211f.; 2. Bern, Staatsarchiv, B III 47; ebd., Aa2, S. 212f. (dort die Signatur C 35); Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, bearb. v. Beat M. von Scarpatetti, Bd. II, Dietikon-Zürich 1983, Nr. 84, S. 33, 235, Abb. 432; 3. Fribourg, Bibliothèque cantonale et universitaire, Soc. écon., D 402; dazu Romain Jurot: Catalogue des manuscrits médiévaux de la Bibliothèque cantonale et universitaire de Fribourg, Dietikon-Zürich 2006, S. 279f.; Perrin 1950 (wie Anm. 8), Aa3, S. 212–214.

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fasste Anonyme Stadtchronik, die regelmäßig an die Weltchronik des Jakob Twinger von Königshofen anschließt.21 Für fünf der sieben Handschriften des 15. Jahrhunderts ist eine Entstehung vor der Chronik Tschachtlans und Dittlingers zu belegen.22 In immerhin zwei der Handschriften nennen sich die damaligen Besitzer: Bartlome Huber und Jakob von Stein. Bartlome Huber (gest. 1483), dessen Besitzeintrag in einem bereits um 1450 entstandenen Manuskript auf 1476 datiert23, war im Dezember 1469, als die Landgerichtsordnung – der eigentliche Auftakt zum Twingherrenstreit – erlassen wurde, Mitglied des Kleinen Rates und unterschrieb als einer der Richter dessen abschließendes Urteil im November 1470.24 Zuvor ist er auf der Auszügerliste im Waldshuterkrieg 1468 zu finden, als von der Gesellschaft Niederpfistern entsandt, während er später ab 1478 bis zu seinem Tod im Amt eines Venners zu Pfistern für das militärische Aufgebot der Bürgerschaft mitverantwortlich war.25 Der Twingherrenstreit, zunächst eine Auseinandersetzung um Herrschaftsrechte zwischen verburgrechteten Adeligen und dem Rat, spitzte sich im Verlauf auf die Durchsetzung einer Kleiderordnung zu, insbesondere auf das Vorrecht, Schnabelschuhe und lange Schleppen („spitz und swentz“)26 zu tragen. Nachdem einige Familienmitglieder alter Berner Geschlechter am St. Katharinentag, dem 25. November, zur Messe mit reichem Putz, übermäßigen Schleppen und Schuhspitzen erschienen waren, kam es zu einem Prozess, in dessen Folge die Angeklagten verurteilt und der Stadt verwiesen wurden. Mit ihrer Rückkehr nach wenigen Wochen und der Rücknahme des Kleidermandates schlug der Versuch, den Kleiderluxus zu beschneiden, letztendlich fehl.27 Die im Jahr 1469 vollendete Handschrift aus dem Besitz Jakobs von Stein zeigt zu Beginn des Textes (fol. 32r) in einer sorgfältig mit Deckfarben ausgearbeiteten Initiale

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Strahm 1978 (wie Anm. 16), S. 50–56. S. Perrin 1950 (wie Anm. 8), B1–B7, S. 219–225. Für die Handschriften Bern, BB, Mül. 215 (ebd., B4, als Mül. 324) und Luzern, Bürgerbibliothek, Ms. 7 fol. aus dem Besitz des Stadtschreibers von Solothurn Hans von Staal (ebd., B5) fehlen exaktere Datierungen. Im Besitz Hans von Staals befand sich auch die Historienbibel aus der Werkstatt Diebold Laubers, um 1460, Solothurn, ZB, Cod. S II 43; dazu Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Pietät und Prestige. Die Bilder in der Historienbibel der Solothurner Familie vom Staal (Veröffentlichungen der Zentralbibliothek Solothurn, 30), Basel 2008. Bern, BB, Mül. 211, Vorsatzblatt 1v, fol. 1r; Perrin 1950 (wie Anm. 8), B3, S. 220f. (mit der alten Signatur Mül. 318). Hans A. Michel: Das politische und verfassungsrechtliche Umfeld Bendicht Tschachtlans und Heinrich Dittlingers, in: Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), S. 55–67, hier S. 62f., Anm. 63; Pascal Ladner: Edition des Chroniktextes, in: Ebd., S. 139–439, hier Kap. 792, S. 435, Z. 209; Urs Martin Zahnd: Die Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter. Verbreitung, Charakter und Funktion der Bildung in der politischen Führungsschicht einer spätmittelalterlichen Stadt (Schriften der Burgerbibliothek), Bern 1979, S. 128. François de Capitani: Adel, Bürger und Zünfte im Bern des 15. Jahrhunderts (Schriften der Burgerbibliothek), Bern 1982, S. 115. Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), Kap. 792, S. 433–435, Kap. 794, S. 436–438. Zum Twingherrenstreit s. a. de Capitani 1982 (wie Anm. 25), S. 34–44, 91–93; zusammenfassend auch Regula Schmid: Der Twingherrenstreit, in: Berns grosse Zeit 1999 (wie Anm. 16), S. 335.

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das Wappen des Eigentümers.28 Die Familie von Stein, kyburgische Ministerialen mit reichem Grundbesitz, gehörte im Twingherrenstreit zu den wegen ihres Verstoßes gegen die Kleiderordnung verurteilten Familien.29 Jakob von Stein war Mitglied der Gesellschaft zum Narren und Distelzwang, einer zunftähnlichen Vereinigung, in der sich die maßgeblichen Personen der Stadt trafen: verburgrechtete Adelige (die Grafen von Neuenburg, von Valangin, von Raron und von Geyerz), geistliche Herren (Äbte und Pröbste der bernischen Klöster und Chorherren des Stiftes), Mitglieder der alten Geschlechter (von Bubenberg, von Erlach, von Diesbach und von Scharnachtal) sowie schließlich eine Vielzahl höherer Amtsträger der Stadt – etwa Peter Kistler, Schultheiß im Jahr 1469, und Bendicht Tschachtlan.30 Die Gesellschaft ist in den 1470er und 1480er Jahren geradezu als inoffizielles politisches Machtzentrum anzusehen, wie der Umstand bestätigt, dass in diesen Jahrzehnten die Stubengesellen durchweg den Schultheißen stellten und immer ein gutes Drittel der Ratsstellen besetzten. Über Jakob von Stein sei schließlich kolportiert, dass er neben vielen anderen gegen das Stubenreglement verstieß und ihm daher Disziplinarmaßnahmen auferlegt wurden: „Jakob von Stein hett das ässen umgeworfen und frävel und unfug getrieben“, sodass 10 Schilling als Buße verhängt wurden.31 Im Überblick ist bereits vor der Entstehung der Chronik Tschachtlans und Dittlingers ein ausgeprägtes chronikalisches Interesse zu konstatieren, das sich in elf Handschriften niederschlägt, in den sechziger Jahren deutlich Aufschwung nimmt und schon zu diesem Zeitpunkt nicht auf Bern beschränkt bleibt.32 Das Streben nach einer bildlichen Ausstattung lässt sich nicht belegen, da die unvollendete Jenaer Handschrift frühestens zur gleichen Zeit entstanden sein dürfte. Der einzige nachweisbare Besitzer vor 1470, der Wert auf einen gewissen malerischen Buchschmuck legte, bleibt Jakob von Stein. III. Die Berner Chronik Tschachtlans und Dittlingers: Ausstattung und Bewertung Werden die Angaben der Vorrede nicht als Bestätigung einer eigenhändigen Ausführung, sondern im Sinne einer Kostenübernahme verstanden, dann sind Bendicht Tschachtlan

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Bern, BB, Mss. hist. helv. I, 41, Besitzeintrag: fol. 22r; Katalog Stadtbibliothek Bern 1895 (wie Anm. 8), S. 11; Perrin 1950 (wie Anm. 8), B6, S. 223f. De Capitani 1982 (wie Anm. 25), S. 35, 41; Ladner 1988 (wie Anm. 24), Kap. 794, S. 437, Z. 127. S. de Capitani 1982 (wie Anm. 25), S. 84–91 sowie den Stubenrodel von 1476, ebd., S. 117f.; Eduard von Wattenwyl: Die Gesellschaft zum Distelzwang [Berner Taschenbuch 1865, S. 174–200], ergänzter Neudruck, Bern 1935, S. 7–28; zur politischen Bedeutung s. a. Carl Pfaff: Sozialgeschichtliches zu Schillings Werk, in: Burgunder Chronik, ed. Schmid, 1985 (wie Anm. 13), S. 9–16, hier S. 11f.; Hans A. Michel: Die Chronisten Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger im Bernischen Staatsdienst, in: Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), S. 27–53, hier S. 29f.; Regula Schmid: Der Aufbau des Berner Regiments, 1998, in: Berns grosse Zeit 1999 (wie Anm. 16), S. 342. Wattenwyl 1935 (wie Anm. 30), S. 18. Beide Handschriften des Schreibers Ulrich von Rapperswil von 1464 und 1467 sowie die Abschrift des Melchior Rupp, Schulmeister von Schwyz, 1469 (Zürich, ZB, Ms. A 122); Perrin 1950 (wie

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und Heinrich Dittlinger am treffendsten als Textredaktoren und Auftraggeber und sicher als gemeinschaftliche Besitzer des Zürcher Codex zu bezeichnen.33 Der ältere Tschachtlan (gest. 1493), der oberen Mittelschicht zugehörig, versah über vier Jahrzehnte hinweg im Staatsdienst öffentliche Ämter: Seit 1453 war er Mitglied im Kleinen Rat, dem höchsten Führungsgremium der Stadt. Zwischen 1458 und 1463 amtierte er als Schultheiß in Burgdorf, anschließend mit nur einer kurzen Unterbrechung war er bis zu seinem Tod wieder im Rat. Von 1457 bis 1469 ist er als Stubengeselle zu Narren und Distelzwang belegt, danach bekleidete er das Amt eines Venners zu Metzgern.34 Heinrich Dittlinger (gest. 1479), Vertreter einer vermögenden, aufsteigenden Mittelschicht, wurde erstmals 1462 in den Großen Rat gewählt und war seit Dezember 1470 Mitglied des Kleinen Rates. Als Mitglied der Gesellschaft zu Mittellöwen beteiligte er sich am Burgunderkrieg in den Jahren 1475 und 1476.35 In ihren öffentlichen Ämtern arbeiteten Tschachtlan und Dittlinger über Jahre zusammen und standen 1468 gemeinsam im Feld. Über die Kompilation vorhandener Chroniken hinaus ist ihr Werk vor allem um eine Beschreibung des Twingherrenstreits erweitert, für die eigene Aufzeichnungen Tschachtlans sowie ein ‚Erstlingswerk‘ Diebold Schillings verarbeitet worden sein dürften.36 Die 230 kolorierten Federzeichnungen charakterisiert ein durchgängiges, durchaus eigenwilliges Bildkonzept: Landschaftsinseln mit sichtbarer Abbruchkante und steil ansteigendem Gelände schweben ungerahmt vor dem Papiergrund (Abb. 1).37 Durchbrochen wird das einheitliche Ausstattungskonzept nur bei fünf gerahmten Illustrationen, die im Format ebenso wie im Thema vom Übrigen abweichen: Bis auf eine Ausnahme zeigen die Darstellungen König Sigismund und situieren die Handlung, die Kaiserkrönung und Szenen

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Anm. 8), B7, S. 224f.; Katalog der datierten Handschriften (wie Anm. 20), Bd. III, 1991, Nr. 459, S. 166, 304, Abb. 362. „In dem jar als man zalt von der gebùrt Cristi M°CCC°LXX jar, wart dise croneck geschriben und gemalett durch den fùrneme, wisen Benedicht Tschachtlan, fenre und des rattes ze Bern, >ch durch Heinrich Tittlinger, schriber diß bGchs“; Zürich, Ms. A 120, S. 1; Transkription nach Ladner 1988 (wie Anm. 24), S. 147, Z. 1–6; zu späteren Besitzern s. ebd., S. 141. Die Eigenhändigkeit der Schreibarbeit Dittlingers ist nicht durch Handschriftenvergleich belegbar; s. Michel 1988 (wie Anm. 30), S. 53. Ausführlich Michel, ebd., S. 28–44; s. a. Zahnd 1979 (wie Anm. 24), S. 130f., 147–149. Zu Dittlinger s. a. Michel 1988 (wie Anm. 30), S. 44–53; namentlich erwähnt in der Amtlichen Berner Chronik und der Grossen Burgunderchronik Diebold Schillings; s. Gustav Tobler: Die Berner Chronik des Diebold Schilling 1468–1484, hg. im Auftrag des Historischen Vereins des Kantons Bern, 2 Bde., Bern 1897–1901, hier Bd. I, Kap. 216, 257, S. 302, 364. S. a. Pascal Ladner: Die Tschachtlan-Chronik als Geschichtswerk, in: Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), S. 77–84; Ders.: Diebold Schilling: Leben und Werk, in: Burgunder Chronik, ed. Schmid, 1985 (wie Anm. 13), S. 1–8; Richard Feller/Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit, Bd. I, 2., durchges. und erw. Aufl., Basel/Stuttgart 1979, S. 14–16. Zu den Illustrationen im Einzelnen Bartlome 1988 (wie Anm. 11), S. 85–98, 99–138; Zemp 1897 (wie Anm. 5), S. 23–35.

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der Rechtssprechung, in Innenräumen.38 Trotz des einheitlichen Bildkonzeptes legt die unterschiedliche Ausgestaltung der Landschaftsausschnitte die Beteiligung mindestens zweier Zeichner nahe. Neben den häufigen, steil ansteigenden Landschaftsbühnen, die von bizarren Felsformationen begrenzt und durch versetzt angeordnete Hügelkulissen in mehrere Bildebenen unterteilt werden39, gibt es vereinzelt Versuche, den steilen Anstieg in tiefenräumliche Landschaften umzudeuten (Abb. 2).40 Thematisch konzentrieren sich die Illustrationen in erster Linie auf die kriegerischen Auseinandersetzungen der Berner: Truppenauszüge, Angriffe und Belagerung von Burgen und Städten, mit und ohne Zeltlager, kleinere Gefechte oder Schlachten, Kapitulationen, aber auch Überfälle, Plünderungen oder Brandschatzung. Oftmals werden mehrere zeitlich aufeinander folgende Ereignisse und spezielle Kriegslisten sowie ausgefallene Kriegs- und Belagerungsmaschinen dargestellt.41 Auf die Dramatik des Geschehens wird häufig durch Zeigegesten verwiesen oder sie wird durch Bittgebärden unterstrichen.42 Nur wenige Federzeichnungen, überwiegend zu Beginn des Codex, sind innerstädtischen Ereignissen gewidmet: der Stadtgründung (S. 13, 16, 19, 41), einigen Anekdoten (S. 27, 29) und Mordfällen (S. Abb. 1: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Berner Chronik, Die Berner erobern und verbrennen die Galtern-Vor- 56, 104, 301) oder dem großen stadt bei Freiburg, 1470 (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 120, Stadtbrand (S. 394, 397f.). S. 196) 38

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Zürich, ZB, Ms A 120, S. 252, 427, 466, 477; S. 595 zeigt den Tod des Grafen von Toggenburg. Drei weitere Illustrationen weisen vergleichbare repräsentativ staatstragende Thematik auf: die Einzüge König Sigismunds nach Bern und zum Konzil nach Konstanz (S. 438, 445) und den Besuch König Friedrichs in Zürich (S. 729). Beispielsweise Zürich, ZB, Ms A 120, S. 19, 107, 124, 224. Weitere Beispiele: Zürich, ZB, Ms A 120, S. 284, 289, 308, 321. Hinzu kommen eine verschiedenartige Gestaltung des Bewuchses, wiederholte Umgestaltungen der ursprünglichen Bildanlage oder das Bemühen, die Ränder der Erdscholle durch hochgewachsene Bäume oder Häusergruppen zu überspielen, wie auf S. 877, 897. Beispielsweise Zürich, ZB, Ms A 120, S. 111: die ‚Katze‘; S. 130: ‚Katze‘ und Minenbau; S. 270: Schleifsteine im Bremgartenwald; S. 870: Geschützfloß mit ‚Schnecke‘ der Schwyzer.

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Zwar nehmen die Autoren der zweiten Faksimile-Ausgabe von einer Zuschreibung der Bilder an Tschachtlan ausdrücklich Abstand43, doch konstatiert Alfred A. Schmid, mit dem Bildkonzept habe man ein „relativ archaisches Gestaltungsprinzip“ gewählt, das um 1470 „altväterlich“ und „altertümlich“ gewirkt haben müsse.44 Dieser Einschätzung ist zunächst der ambitionierte Charakter des Unternehmens entgegenzuhalten. Immerhin erreichten die Auftraggeber die Fortführung der bestehenden Chronik bis in die Gegenwart und sorgten für eine umfangreiche Bildausstattung, sodass sich ihr Werk in Umfang und Ausstattung deutlich von der vorhandenen HistoriograAbb. 2: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, phie absetzte. Zudem formulierten Berner Chronik, Der Beginn des Burgdorferkrieges, 1470 sie in der Vorrede die Intention, mit (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 120, S. 307) ihrem Werk der großen Weisheit und Männlichkeit, die die Berner bei der Erweiterung ihres Herrschaftsbereiches an den Tag legten, ein ewiges Andenken zu schaffen.45 Gleichzeitig verliehen sie der Hoffnung auf den Beistand Gottes Ausdruck, die mit großen „Kosten, Mühe und Arbeit“ erworbenen Gebiete in einer Weise zu regieren, die ihre Bewahrung und Vermehrung sichere. Darin klingt die staatstragende Intention an, neben der memoria gleichfalls einen Leitfaden für die Zukunft zu bieten, ein Anspruch, der sich mit einer bewussten Entscheidung der Auftraggeber für eine „unzeitgemäße“ Bildausstattung schwerlich vereinbaren lässt, sofern sie diese nicht als Ausweis ehrbarer Anciennität verstehen.

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S. z.B. Zürich, ZB, Ms A 120, S. 118, 189, 274, 309, 348, 341, 418, 452, 531, 544. Alfred A. Schmid: Einführung, in: Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), S. 9–12, hier S. 11f.; Michel 1988 (wie Anm. 30), S. 52f.; Bartlome 1988 (wie Anm. 11), S. 96f. Schmid 1988 (wie Anm. 43), S. 11f. „wan man s=lich vergangen sachen, billich in geschrift setzten sol, durch das man zG ewigen zitten angedenck is der grossen wißheit und manlikeitt, so die alten Berner gebrucht hand in vergangen zitten, damit si iren vigenden mit der hilf gotz grossen widerstand getan hand und land und lùtt zG der stat handen gezogen und gewunnen hand, darumb man billichen got dem allmechtigen lob und dack sagen sol und in bitten, dz er allen Berneren nun und zG ewigen zitten vernunft und wißheitt geben und verlichen welle, das s=lich land und lùtt, so an die von bern lit grossem costen mF und arbeitten

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IV. Zur Herkunft des Bildrepertoires

Abb. 3: Pierre Salmon, Réponses au roi Charles VI et Lamentation au roi sur son état, En route vers Rome, Salmon s’arrête en Avignon, um 1409 (Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. fr. 23279, fol. 81r)

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Einige Überlegungen zu den verarbeiteten Bildtraditionen, die über die hypothetische Annahme einer verlorenen illustrierten Vorlage46 und den Verweis auf oberrheinische, besonders elsässische Handschriften des frühen und mittleren 15. Jahrhunderts hinausführen47, vermögen die vorgebrachte Kritik an den zitierten Beurteilungen zu stützen. Eine generelle Verwandtschaft der Landschaftsinseln mit der für oberrheinische Manuskripte typischen Gestaltung des Terrains, bei der gewöhnlich knapp bemessene Rasenstücke als Bühne für die Protagonisten dienen, ist nicht von der Hand zu weisen, wie ein Blick auf Handschriften aus der Werkstatt des Rüdiger Schopf, der elsässischen Werkstatt von 1418 oder derjenigen Diebold Laubers in Hagenau zu belegen vermag.48 Überwiegend finden sich dort je-

komen ist, also geregiertt werden, das die nach sinem g=tlichen lob behalten und gemerett und nit gemindrett werden“; Ladner 1988 (wie Anm. 24), S. 147, Z. 13–25. Zur Hypothese einer illustrierten Handschrift von Diebold Schillings ‚Erstlingswerk‘, die bereits 1469 vorlag, s. Carl Gerhard Baumann: Über die Entstehung der ältesten Schweizer Bilderchroniken (1468–1485). Unter besonderer Berücksichtigung der Illustrationen in Diebold Schillings Grosser Burgunderchronik in Zürich (Schriften der Burgerbibliothek), Bern 1971, S. 73–79; zur Kritik daran Bartlome 1988 (wie Anm. 11), S. 85f.; Ladner 1985 (wie Anm. 36), S. 7, Anm. 89; Wyss 1985 (wie Anm. 14), S. 26–28. Schmid 1988 (wie Anm. 43), S. 11f. S. a. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung: Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, 2 Bde., Wiesbaden 2001; Lieselotte E. Stamm: Die Rüdiger Schopf-Handschriften: Die Meister einer Freiburger Werkstatt des späten 14. Jahrhunderts und ihre Arbeitsweise, Aarau/Frankfurt a.M. u.a. 1981; digitalisierte Handschriften zugänglich über http://palatina-digital.uni-hd.de (29. 12. 10).

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doch großfigurige Darstellungen mit wenig Personal, nicht kleinteilige, vielfigurige Szenerien, die mehrere Handlungsmomente integrieren.49 Als Vergleich für Bildanlagen dieser Art bieten sich Miniaturen französischer Handschriften aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts an, mit hoch aufragenden Landschaften, zerklüfteten Felsformationen und kulissenhaft gegeneinander versetzten Hügeln, in die mehrere Szenen eingebettet sind, wie etwa jene Illustrationen aus dem Atelier des Meisters der Cité des Dames, an denen auch der Meister Boucicaut (resp. Jacques Coene) beteiligt war (Abb. 3).50 Vereinzelt finden sich in diesem Umfeld auch ungerahmte Illustrationen, bei denen die Szenen auf einer Erdscholle mit sichtbarer Abbruchkante platziert sind.51 Des Weiteren fällt bei der Darstellung zum Mord an Hartmann von Kyburg Abb. 4: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Berner durch seinen Bruder Eberhart Chronik, Der kyburgische Brudermord im Schloß Thun, 1470 die ausgefallene Inszenierung (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 120, S. 104) der Handlung auf, die durch ein Fenster des in die Landschaft eingebetteten Schlosses Thun zu sehen ist (Abb. 4). Gegenüber dem eher geläufigen, nahsichtigen Einblick in ein Gemach, den elsässische Hand49

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Aus der Lauber-Werkstatt besonders erwähnt sei die Handschrift St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadiana Slg., Ms 343d; Beschreibung und Volldigitalisat der Handschrift zugänglich über www. e-codices.unifr.ch. (29. 12. 10). Pierre Salmon: Réponses au roi Charles VI et Lamentation au roi sur son état, um 1409, Paris, Bibliothèque Nationale de France (BNF), ms. fr. 23279, fol. 81r, aus dieser Handschrift auch fol. 69r; Charles Sterling: La peinture médiévale à Paris, 1300–1500, 2 Bde., Paris 1987–1990, hier Bd. I, Abb. 200, S. 295 sowie ebd., S. 323–335; weitere Abb. (fol. 53r, 60v, 1v, 54r) Millard Meiss: French Painting in the Time of Jean de Berry. The Boucicaut Master, London 1968, Abb. 67f., 70f., S. 124f., S. 60–62. Vom Maître Boucicaut: Stundenbuch für den Gebrauch von Paris, 1409–1412, Paris, Bibilothèque Mazarine, ms. 469, fol. 56v; Abb. Sterling (wie Anm. 50), Bd. I, Nr. 277, S. 391; zur Handschrift auch Meiss 1968 (wie Anm. 50), S. 113f., Abb. 118, 149, 164, 258–269; Stundenbuch, Paris, BNF, ms. lat. 10538, fol. 116r; Abb. Sterling (wie Anm. 50), Bd. I, Nr. 278, S. 394; Meiss 1968 (wie Anm. 50), S. 127f., Abb. 253–257; Stundenbuch, um 1407, Oxford, Bodleian Library, Douce 144, fol. 68v; ebd., Abb. 54; Stundenbuch, um 1415, Florenz, Corsini Collection; ebd., Abb. 278, S. 86f.

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schriften für solche Situationen präsentieren, drängt sich wiederum der Gedanke an französische Vorbilder auf. Das Bildschema der in den Innenraum einer komplexen Architektur integrierten Hauptszene bietet – in thematisch bestechender Nähe – etwa die Miniatur zum Selbstmord Didos in einer Handschrift der Cleres et nobles femmes Giovanni Boccaccios (Abb. 5).52 Überraschenderweise fand das Bildschema im ersten Band der Amtlichen Berner Chronik Diebold Schillings gleich dreimal für die Darstellung eines Mordes Verwendung.53 Die Überlegungen zu den Bildvorlagen und zur Bildkenntnis wären auch in anderer Hinsicht fortzuführen. Zeitgenössische Druckgraphik, insbesondere die Kupferstiche des Meisters E.S. wären als Vorbild für die als Genreszenen hin und wieder eingefügten Liebespaare ebenso wie für einzelne Figuren zu berücksichtigen.54 Die tanzenden Soldaten (S. 224) gemahnen an Darstellungen höfischen Reigentanzes, für die als Bildquellen außer Handschriften auch malerische Raumausstattungen in Frage kommen. Die im Kontext der Handschrift einzigartige Präzision, mit der Eichenlaub und Bär bei der Jagd auf das für Bern namensgebende Wappentier (S. 16) wiedergegeben Abb. 5: Giovanni Boccaccio, Des cleres et nobles sind, lässt sowohl an die naturalistischen femmes, Selbstmord Didos, um 1402 (Paris, BiblioDarstellungen eines Tacuinum sanitatis thèque Nationale, Ms. fr. 12420, fol. 61v) als auch an Jagdbücher denken.55 52

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Paris, BNF, ms. fr. 12420; zur Handschrift auch Brigitte Büttner: Boccaccio’s ‚Des cleres et nobles femmes.‘ Systems of signification in an illuminated manuscript, Seattle, WA u.a. 1996; s. a. das zeitgleich entstandene Exemplar, Paris, BNF, ms. fr. 598, fol. 61v (Dido), fol. 51r (Helena), sämtliche Miniaturen als Digitalisat zugänglich über http://mandragore.bnf.fr (29. 12. 10), sowie das Brevier des Herzogs von Bedford, Paris, BNF, ms. lat. 17294, fol. 432v; Abb. Sterling (wie Anm. 50), Bd. I, Nr. 315, S. 442. Bern, BB, Mss. hist. helv. I, 1, S. 78 (Kyburger Brudermord), S. 176 (Ermordung des Ritters Rudolf von Erlach), S. 293 (Mord am Bischof von Lausanne). S. Zürich, ZB, Ms A 120, die Liebespaare S. 266, 454, den Boten S. 27. S. etwa Tacuinum sanitatis, Paris, BNF, ms. lat. 9333, Faksimile und Kommentarband, hg. v. Alain Touwaide u.a., 2 Bde., Barcelona 2007–2009, Bd. I, fol. 12r; Das Jagdbuch des Mittelalters, ms. fr. 616, der Bibliothèque nationale in Paris, Kommentar v. Wilhelm Schlag/Marcel Thomas, Graz 1994, fol. 27v, 93r.

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Mit den aufgezeigten Parallelen ist keineswegs die Konstruktion eines direkten Abhängigkeitsverhältnisses zu den zitierten Manuskripten beabsichtigt, sondern vielmehr eine Erweiterung der Vergleichsbasis angestrebt. Ob und über welche Zwischenstücke die Vermittlung gelang, wird sich im Einzelnen schwerlich eruieren lassen. Die Berücksichtigung möglicher französischer Vorbilder, die mit entsprechendem Prestige verbunden gewesen sein dürften, lässt die Bildanlage als Kompilation zweier Bildtraditionen begreifen. Diese mag bei einer Erwartungshaltung, die auf zentralperspektivisch angelegte Tiefenräumlichkeit ausgerichtet ist, altertümlich wirken; für die Zeitgenossen ist jedoch eine derartige Sichtweise schwerlich anzunehmen. Als Bestätigung für die Kenntnis der mit entsprechendem Prestige verbundenen französischen Hofkultur in Bern mögen im vorliegenden Zusammenhang der Hinweis auf die literarische Arbeit eines Stubengenossen zum Distelzwang, die Übersetzung der Melusine Coudrettes durch Thüring von Ringoltingen, sowie die in der patrizischen Oberschicht gepflegten Verbindungen nach Frankreich genügen.56 Gleichwohl ist anzumerken, dass die Auftraggeber bei der Übernahme wohl weniger ihre individuelle Nobilitierung anstrebten, denn sie verzichteten ansonsten auf repräsentative Auszeichnungsmerkmale wie Besitzerwappen und Ähnliches. Die bei einem solchen Ansinnen zu erwartende Vorführung burgundischer Mode beschränkt sich auf Einzelfälle. Zwar bieten die Illustrationen, die hauptsächlich Kriegsgeschehen schildern, wenig Gelegenheit, modische Extravaganz vorzuführen, doch tragen die Berner Herren gewöhnlich lange Mäntel. Nur der feindlich gesinnte Graf von Savoyen tritt in einigen Szenen mit hohem Hut, gepolsterten Schultern und reich gefälteltem, kurzem Rock in ausgesprochen burgundischer Eleganz auf.57 Angesichts des zeitgleich in Bern ausgetragenen Disputes um standesgemäße Kleidung und modische Extravaganzen ist diese Handhabung durchaus als bewusste Zurückhaltung aufzufassen. V. Bildkonzeption und Handschriftenfunktion Als Konsequenz aus der zitierten Auftraggeberintention liegt es nahe, die thematische Konzentration der Bildausstattung und das gewählte Bildkonzept mit einem spezifischen Darstellungsinteresse zu begründen. Beabsichtigt war offenbar, dem Betrachter einen

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Dazu Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern. Zum Problem der ‚Verbürgerlichung‘ höfischer Epik im 15. Jahrhundert, in: Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Joachim Bumke u.a., Bd. I: Literatur – Publikum – historischer Kontext, Bern u.a. 1977, S. 29–77; zu den Beziehungen der Berner Oberschicht nach Frankreich s. a. Zahnd 1979 (wie Anm. 24), S. 115–119, 149–153; Ders.: Laienbildung und Literatur im spätmittelalterlichen Bern, in: Diebold Schillings Spiezer Bilderchronik, Kommentar zum Faksimile der Handschrift Mss. hist. helv. I. 16 der Burgerbibliothek Bern, hg. v. Hans Haeberli/Christoph von Steiger, Luzern 1990, S. 151–160. Zürich, ZB, Ms A 120, S. 41; s. dazu Birgit Franke/Barbara Wetzel: Paläste und Zelte voller Kunst, in: Karl der Kühne (1433–1477): Kunst, Krieg und Hofkultur, Ausstellungskatalog (Bern, Historisches Museum, 2008), hg. v. Susan Marti, Bern 2008, S. 51–61.

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Überblick über das Kampfgeschehen zu bieten, der ihm erlaubte, erfolgreiche oder misslungene Kriegstaktiken nachzuvollziehen. Die Bildbetrachtung ermöglichte die Wiederholung einzelner Etappen einer Eroberung – etwa vom Angriff über das Hinzustoßen neuer Kampfverbände bis zum Zurückweichen der Feinde58 – und ließ sich durchaus mit der ausdrücklichen Intention der Besitzer in Einklang bringen, die „Weisheit und Männlichkeit“ der kriegsführenden Berner bei der Erweiterung ihres territorialen Herrschaftsbereiches in Erinnerung zu halten. Die wiederholten Darstellungen fehlgeschlagener Beutezüge, die den Redaktoren Anlass zu Ermahnungen und Klagen über Disziplinmangel gaben, fungierten dabei als negative Abb. 6: Konrad Kyeser, Bellifortis, Angriff und Verteidigung ei59 ner Burg, 1405 (Göttingen, Niedersächsische Staats- und Univer- Gegenbeispiele. Unter diesem Blickwinkel sitätsbibliothek, Cod. philos. 63, fol. 89r) erlaubte es die Bildgestaltung, die Illustrationen unter anderem als Anschauungsmaterial verschiedenster kriegerischer Taktiken zu nutzen. Im Kontext gleichzeitiger kriegstechnischer Bilderhandschriften und Traktate, die seit Beginn des 15. Jahrhunderts als Kriegs-, Fecht- und Büchsenmeisterbücher entstanden60, gewinnen die thematische Konzentration ebenso wie die besondere Bildkonzeption der Tschachtlan-Dittlinger-Chronik funktionale Bedeutung. An

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S. z.B. für Erstürmung und Belagerung Zürich, ZB, Ms A 120, S. 78, 88, 130, 139, für Schlachten und Gefechte S. 93, 356, 383, 454, 700, 793, 891. S. etwa Zürich, ZB, Ms A 120, Kap. 233, S. 288, Kap. 344, S. 418. Umfassend zum Themenkomplex Reiner Leng: Ars Belli. Deutsche taktische und kriegstechnische Bilderhandschriften und Traktate im 15. und 16. Jh. (Imagines Medii aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung, 12), 2 Bde., Wiesbaden 2002.

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erster Stelle ist in diesem Zusammenhang Konrad Kyesers Kriegsbuch Bellifortis zu nennen, das als Reaktion auf den fehlgeschlagenen Kreuzzug, die verheerende Niederlage König Sigismunds in der Schlacht bei Nikopolis 1396 gegen das osmanische Heer des Sultans Bajezid ab 1402 entstand.61 Kyesers Werk, das eine Aufwertung des Kriegshandwerks zur ars militaris intendiert, behandelt verschiedenste Aspekte der Kriegsführung – Belagerung, Feldschlacht, Pyrotechnik sowie mechanische Schusswaffen – und fand auch im oberdeutschen Raum schnell Verbreitung.62 Eine Vielzahl der Darstellungen in den durchweg reich bebilderten Manuskripten ist Kriegsmaschinerie und Geschützen gewidmet, doch stellen bereits in der Göttinger Pergamenthandschrift von 1405 einige (später ergänzte) kolorierte Federzeichnungen Angriffsund Verteidigungsstrategien dar.63 Eine dieser Illustrationen zeigt, wie Angreifer von einer abgeschlagenen Zugbrücke in den Burggraben fallen (Abb. 6).64 Ähn-

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Abb. 7: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Berner Chronik, Die Belagerung von Gümmenen, 1470 (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 120, S. 124)

S. zum Folgenden ebd., Bd. I, S. 109–147, Bd. II, S. 423–440. Von den überlieferten Handschriften seien aus dem oberrheinischen Raum einige erwähnt: 1. Köln, Historisches Archiv, W* 232, fol. 84, 1442, für einen Herrn von Rötteln (Wilhelm oder Rudolf IV., Markgrafen von Hachberg) geschrieben; Leng 2002 (wie Anm. 60), Bd. I, S. 138–140, Bd. II, S. 430f.; 2. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 3068, um 1440, Oberrhein, alemannische Mundart; s. Hermann Menhard: Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, 2 Bde., Berlin 1960–1961, Bd. II, S. 856f.; Die Kuenringer. Das Werden des Landes Niederösterreich, Ausstellungskatalog (Niederösterreichische Landesausstellung, Stift Zwettl, 1981), hg. v. Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abt. III/2 – Kulturabteilung, Nr. 82, S. 89f., Abb. 3 (fol. 1r); 3. Frankfurt a.M., Stadt- und Universitätsbibliothek, Ms. germ. qu. 15, aus der Werkstatt Diebold Laubers, s. Saurma-Jeltsch 2001 (wie Anm. 48), Bd. II, S. 37–41, sowie drei weitere elsässische Handschriften um 1430 aus demselben Entstehungskontext; Leng 2002 (wie Anm. 60), Bd. II, S. 435f. Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SUB), Cod. philos. 63, fol. 43r, 84r, 89r; Conrad Kyeser aus Eichstätt: Bellifortis, Faskimile, Umschrift und Übersetzung v. Götz Quarg, 2 Bde., Düsseldorf 1967. Göttingen, SUB, Cod. philos. 63, fol. 89r.

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liche Szenen sind in der Berner Chronik mehrfach zu finden, wie etwa bei der Illustration zur Erstürmung von Gümmenen, zu der berichtet wird, dass die Brücke zerbrach und viele Berner in den Graben stürzten (Abb. 7).65 In den Fechtbüchern, unter denen Hans Thalhoffers Fechtbuch zu den bekanntesten zählt, wird vor allem die Ausführung bestimmter Schläge mit unterschiedlichen Waffen in detaillierten Bilderfolgen dargestellt, doch finden auch Teile und die entsprechenden bildliAbb. 8: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Berner chen Darstellungen aus dem Chronik, Der Bau der Letzi am Hirzel, 1470 (Zürich, ZentralbiBellifortis Eingang.66 Zudem bliothek, Ms. A 120, S. 741) bemerkte Reiner Leng das auffällige Eindringen von Alltags- und Genreszenen in die Bildserien der Fechtbücher – etwa am Beispiel eines in Gotha befindlichen Exemplars, in dem innerhalb des Bildteils zum Kampffechten neben einer Tischszene mit Musikinstrumenten auch die Spende der Kommunion zu sehen ist.67 Die Integration derartiger Szenen in das Kampfgeschehen findet sich in der Berner Chronik Tschachtlans und Dittlingers in einer ganzen Reihe von Illustrationen (Abb. 8).68 Die kriegstechnischen Bilderhandschriften belegen zum einen ein generelles, im Verlauf des 15. Jahrhunderts wachsendes Interesse an der detaillierten bildlichen Darstellung von Kriegstechnik und -taktik, das auch die Verknüpfung mit Genreszenen umfasst. Zum anderen verweist die Illustration zum „erschlafenen“ Sieg eines

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Zürich, ZB, Ms A 120, S. 124 sowie S. 100, 128; Tschachtlan, ed. Schmid, 1988 (wie Anm. 2), S. 180f. Kopenhagen, Kongelige Bibliothek (KB), Thott 290 2°; Volldigitalisat der Handschrift http://www. kb.dk/en/nb/materialer/haandskrifter/HA/e-mss/thalhofer/thalhofer.html. (29. 12. 10) Gotha, Landesbibliothek, Ms. Chart A 558, fol. 31v, 34v; Martin Wierschin: Meister Johann Liechtenauers Kunst des Fechtens, München 1965, Abb. 4, 8; zur Handschrift Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters (KdiH), beg. v. Hella Frühmorgen-Voss, fortgef. v. Norbert H. Ott/Ulrike Bodemann/Christine Stöllinger-Löser, Bd. IV/2, bearb. v. Reiner Leng, München 2008, S. 42–47, Abb. 19. S. Zürich, ZB, Ms A 120, zur Einbindung von Mahl oder gedeckten Tischen S. 109, 111, 120, 186, 266, 316, 346, 741, 772 bzw. zur Kommunion S. 462, 790.

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Ritters von Strettlingen in der Berner Chronik (Abb. 9, Taf. VIII)69 auf eine tatsächliche Bildkenntnis von Fechtbüchern, da sich eine vergleichbare Darstellung gewöhnlich in Hans Thalhoffers Fechtbuch findet, wie auch in jenem Exemplar, das wahrscheinlich 1467 für Graf Eberhard V. im Bart von Württemberg angefertigt wurde (Abb. 10).70 Die Darstellung in der Chronik bezieht sich auf die Anekdote eines Stellvertreterkampfes zwischen dem französischen und dem englischen König, bei dem sich schließlich der Ritter von Strettlingen bereit erklärte, für den englischen König zu streiten. Während des langen Wartens auf seinen Gegner schlief der Ritter auf dem Kampfplatz in dem bereitgestellten Stuhl ein, worauf sein Gegner, dies als göttliches Zeichen deutend, sich kampflos geschlagen gab. Die Illustration, die den schlafenden Ritter in einem Stuhl mit Baldachin zeigt, auf den sein Gegner mit prominentem Zeigegestus zuschreitet, erscheint als Umformung der Fechtbuchszene. Im Zusammenhang mit der unmittelbar vorangehenden Szene zum Ritter von Egerdon, der in Ermangelung eines Pferdes auf der Stadtmauer reitet (S. 27), Abb. 9: Bendicht Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Berner drängt sich sogar der Gedanke Chronik, Der erschlafene Sieg des Ritters von Strettlingen, an eine parodistische Abwand- 1470 (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 120, S. 29) lung im Sinne missglückten ritterlichen Streitens auf.71 Die für Darstellungsinteresse und Bildkonzepte aufgezeigten Parallelen zu kriegstechnischen Bilderhandschriften laden ein, die Berner Chronik und

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Zürich, ZB, Ms A 120, S. 29 und der Text S. 30f. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 349a, fol. 36r; zur Handschrift KdiH (wie Anm. 67), Bd. IV/2, S. 54–56; farbige Abb. André Schulze: Mittelalterliche Kampfesweisen, Bd. II: Der Kriegshammer, Schild und Kolben, Mainz 2006, Taf. 69, S. 84; s. a. Kopenhagen, KB, Thott 290 2°, fol. 85r. S. a. Zürich, ZB, Ms A 120, S. 890: Dort stürmt ein Österreicher mit seiner Lanze gegen die Stadtmauer.

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Abb. 10: Hans Thalhofer, Fechtbuch, Die Gegner vor Kampfbeginn, 1467 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 349a, fol. 36r)

ihre Ausstattung gleichsam als historisch verbürgtes Handbuch der Kriegskunst zu interpretieren. Eine solche Interpretation steht zum einen mit der bemerkenswerten Beschränkung der Illus-trationen auf kriegerische Ereignisse im Einklang, in deren Folge die Stadtgeschichte als Eroberungsgeschichte veranschaulicht wird. Zum anderen konkretisiert sich die Absicht Tschachtlans und Dittlingers, den Begründern und Mehrern der Berner Machtstellung in der Vorführung ihrer Beherrschung der ars militaria ein Andenken zu schaffen. Schon das ungewöhnliche Eigentumsverhältnis eines gemeinschaftlichen Besitzes gibt Anlass, einen ausschließlich privaten Gebrauch, verstanden als individuelle Lektüre, nur mit Vorbehalt anzunehmen. Die Stellung der Auftraggeber in öffentlichen Ämtern bietet Grund zu stärkerem Zweifel. Beide Eigentümer hatten zum militärischen Erfolg Berns beigetragen und gehörten als Mitglieder des Kleinen Rats der städtischen Führung an. Bendicht Tschachtlan übernahm zudem just zur Entstehungszeit des Codex mit dem Amt des Venners die Verantwortung für einen Teil des militärischen Aufgebotes der Stadt. Im Zusammenhang mit den politischen Ämtern liegt die Vorstellung vom Gebrauch der Handschrift als Exempel der ars militaria und einer gemeinsamen Betrachtung der Bilder im Rat oder im Kreis der Stubengenossen nahe, auch wenn Letzteres nicht zu belegen sein wird. Ein gemeinschaftlicher Gebrauch des Codex böte letztlich auch eine Erklärung für die ungewöhnlich ausführlichen, den Text paraphrasierenden Beischriften, die zwar

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zeitgenössisch, aber von einer anderen als der Schreiberhand auf den Seitenrändern zusätzlich zu Kapitel- und Bildüberschriften angebracht wurden. Sie lassen sich weder als Vorgaben für die Kapitelüberschriften noch als Maleranweisungen plausibel deuten.72 Als nachgetragene Zusammenfassungen hingegen hätten sie bei einer kollektiven Bildbetrachtung zur knappen Erläuterung der im Bild geschilderten Ereignisse sinnvoll genutzt werden können (Abb. 7). VI. Ausblick auf spätere ,Schweizer Bilderchroniken‘ Zusammenfassend ist die Berner Chronik Bendicht Tschachtlans und Heinrich Dittlingers als Verknüpfung von Kriegsbuch und Historiographie zu charakterisieren. Macht und Größe Berns beruhen auf der Beherrschung von Kriegstechnik und -taktik. Dies manifestieren die dargestellten Kämpfer, Waffen und Geschütze sowie ihr letztlich erfolgreicher Einsatz. Ebendiese Beherrschung der ars militaria legitimiert Macht, wie die wahrhafte Geschichte der Berner belegt. Aus dieser Perspektive werden sowohl die Beschränkung der Bildthemen als auch der Verzicht auf repräsentative Ausstattungsmerkmale verständlich. Letzterer erklärt sich zudem im Kontext des zeitgenössischen Disputes um die Berechtigung, Ebenbürtigkeit mit dem Adel durch entsprechende Kleidung zur Schau zu stellen, der im Twingherrenstreit ausgetragen wurde. Berns Bedeutung wird bei Tschachtlan und Dittlinger weder durch eine Einbettung in die Welt- und Heilsgeschichte noch durch eine behauptete Gleichwertigkeit mit fürstlicher Herrschaft begründet – eine Rückführung auf die Antike wie etwa in Augsburg war durch die erst 1191 erfolgte Stadtgründung nicht möglich. Ihre durch Text und Bild vorgetragene Argumentation einer auf der ars militaria gründenden Herrschaftslegitimation lässt sich insofern als alternativer Entwurf auffassen. Der hergestellte Zusammenhang der bildlichen Ausstattung mit der Auftraggeberintention als Ausdruck eines politischen Habitus wäre für einige andere ,Schweizer Bilderchroniken‘ fortzuführen. An der dreibändigen Amtlichen Berner Chronik Diebold Schillings ist – wie vielfach bemerkt – ein gesteigerter Einsatz repräsentativer Formeln auf allen Ebenen zu konstatieren, der vom Pergament als Beschreibstoff über das Format und die dekorative Ausstattung mit Initialen und Initienbildern bis zur Erweiterung des Themenspektrums und der Inszenierung der Szenen reicht.73 Zwar ist ihre Übergabe durch Diebold Schilling an den Rat der Stadt am 26. Dezember 1483 gesichert, ihre ‚Amtlichkeit‘ – als Auftrag des Schultheißen Adrian von Bubenberg ab 1474 – ist jedoch nur indirekt belegt.74 Manifestiert sich in der prachtvollen Ausstattung der Handschrift ein gewandel72 73

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Für ausführliche Bildbeischriften s. etwa Zürich, ZB, Ms A 120, S. 62, 93, 214, 334, 358. Bern, BB, Mss. hist. helv. I, 1–3; speziell zu den Illustrationen und dem Stil s. Zemp 1897 (wie Anm. 5), S. 36–44, 60–70; Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Die Illustrationen und ihr stilistisches Umfeld, in: Spiezer Chronik, ed. Haeberli/Steiger, 1990 (wie Anm. 56), S. 31–70, bes. S. 41–45, 70. Nur eine Abschrift seines chronikalischen ‚Erstlingswerkes‘ erwähnt diesen Umstand; Luzern, ZB, KB Pp. 46 fol.; Edition: Theodor von Liebenau: Diebold Schilling’s Berner-Chronik, in: Archiv des

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tes Selbstverständnis des Berner Rates, der nunmehr nach dem Sieg im Burgunderkrieg und dem Tod Karls des Kühnen dessen Repräsentationsformeln für sich adaptierte, oder gab das persönliche Interesse des mutmaßlichen Auftraggebers den Ausschlag? Adrian von Bubenberg erscheint jedenfalls in der Illustration zum Twingherrenstreit75 nicht nur wie die Mitangeklagten, Niklaus und Wilhelm von Diesbach sowie Konrad und Nikolaus von Scharnachthal, in Begleitung eines Knappen als Wappenträger und angetan mit den inkriminierten Schnabelschuhen und einem knappen Rock. Er überbietet diesen Kleiderluxus noch durch die exklusive schwarze Farbe seiner Gewänder, dem dernier cri burgundischer Mode.76 Die Zurückhaltung hinsichtlich Kleiderfragen erscheint obsolet, Repräsentation nach dem Vorbild Burgunds ist vielmehr Teil der Herrschaftslegitimation geworden. Ob diese Verschiebung ein ‚amtliches‘ Interesse respektive eine gewandelte Haltung des Stadtregiments aufgrund der gestärkten Machtstellung reflektiert? Oder gelang es einem (oder mehreren) individuellen Mäzenen, ihr Repräsentationsbedürfnis in das Gedächtnis der Stadt einzuschreiben, indem sie Diebold Schilling das dreibändige Werk herstellen und dem Rat überreichen ließen? Für die Große Burgunder Chronik Diebold Schillings, deren Bildausstattung wie diejenige der Berner Chronik Tschachtlans und Dittlingers eher gering bewertet wird77, wäre in eine andere Richtung zu denken. Vor dem Hintergrund der illustrativen Ausstattung von Handschriften wie jenen aus dem Besitz des Grafen Johann III. von Württemberg mit ihren kleinteiligen, vielfigurigen Darstellungen betrachtet, ließe sich ihr Stil als eine Spielart zierlicher, höfischer Eleganz auffassen, wofür gleichfalls das besondere Augenmerk für repräsentative Formeln wie Impresen spräche.78 Eine kunsthistorische Betrachtungsweise, die sich vorschneller Kategorisierung enthält und den Blick für die unterschiedlichen verarbeiteten Bildtraditionen öffnet, wäre auch in diesen Fällen wünschenswert.

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historischen Vereins des Kantons Bern, XIII, 1893, S. 465–562, hier S. 540f.; s. dazu auch Baumann 1971 (wie Anm. 46), S. 25f.; Ladner 1985 (wie Anm. 36), S. 3, 6. Bern, BB, Mss. hist. helv. I, 3, S. 94. S. dazu auch Karl der Kühne 2008 (wie Anm. 57), Nr. 1, 18, 19, S. 174, 190f.; zu Schwarz als Modefarbe s. a. Norbert Wolf: Das Büchererbe der Herzöge von Burgund – ein Teil des märchenhaften Burgunderschatzes, hg. v. Ingo F. Walther, Luzern 2006, S. 38f. S. hier Anm. 14; dagegen Alfred Cattani: Diebold Schillings Chronik der Burgunderkriege um 1480, in: Zentralbibliothek Zürich, Schätze aus vierzehn Jahrhunderten, hg. v. Dems./Hans Jakob Haag, Zürich 1991, S. 38–41. S. z.B. Loher und Maller, übertr. a. d. Französischen v. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 11 und 11a, Farbmikrofiche-Edition, Literar- und kunsthistorische Einführung und kodikologische Beschreibung v. Ute von Bloh, München 1995.

Der doppelte Habitus, oder: Fragen an die ‚Masken‘ von Reims Michael Hoff Oftmals hat man sich darüber gewundert, welch hoher gestalterischer Aufwand für die Reimser ‚Masken‘ betrieben wurde, die in 35 Metern Höhe vom Boden aus beinahe unsichtbar sind. Vergessen wird dabei, dass es eine Gruppe von Betrachtern gab, für die die Köpfe gut sichtbar waren, sei es bei der Herstellung der Steine in der Bauhütte am Boden oder bei der Anbringung am Kathedralbauwerk. Es waren die Steinmetze, denen die ‚Masken‘ über jede mögliche inhaltliche Symbolik hinaus unmittelbar anschaulich vor Augen standen. Wie der erweiterte Vorstellungsraum des Menschlichen dabei in den differenzierten Physiognomien produktiv wurde, soll weiter unten gezeigt werden. Es ist dabei weniger an eine bewusste Anwendung physiognomischer Lehren zu denken als vielmehr an ein auf vielen Ebenen – auch unterschwellig – wirksames Herantasten an die Möglichkeiten des eigenen Mediums, angeregt – wie Hamann-Mac Lean zeigte – nicht zuletzt durch das Vorbild antiker Köpfe. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Bildhauer untereinander um die eindrucksvollsten Gestaltungsleistungen wetteiferten.1 War die Herstellung der ‚physiognomischen Experimente‘ also ein ‚Spiel‘ unter Eingeweihten? Wenn das so war, dann manifestierte sich hier ein soziales Feld im Sinne Bourdieus, das wir als das des ‚Ausdrucksgestalters‘ bezeichnen können und dessen Existenz sich in der Fortdauer einer entsprechenden Praxis manifestieren müsste. Und es wäre eben nicht bloß „die Freude an der Entdeckung des Menschen und neuer Darstellungsmöglichkeiten“ (Hamann-Mac Lean), die sich hier zeigt – jene ‚Experimentierfreude‘ konstituierte vielmehr einen neuen Habitus des Künstlers, dessen Kompetenz in der Wiedergabe des Menschen in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten weiter Kontur gewinnen sollte. Aber macht das Habitus-Konzept die Dinge nicht unnötig kompliziert, zumal Bourdieu damit die Entstehung des autonomen Feldes der Kunst erst in der Moderne verfolgt hat?2 Tatsächlich soll im Folgenden nicht etwa einer künstlerischen Autonomie in der Arbeit der Steinmetze das Wort geredet werden, im Gegenteil, es gilt etwas von jenem diskursiven Netzwerk aufzuhellen, in das die Tätigkeit der Steinmetze eingebunden war und das so die Möglichkeit einer Ausdrucksgestaltung an der Reimser Kathedrale erst generierte. Der Habitus-Begriff wird dabei in einem zweifachen Sinne von Nutzen sein: einmal als das schon angesprochene kultursoziologische Konzept, das verlangt, die Ein-

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Richard Hamann-Mac Lean: Antikenstudium in der Kunst des Mittelalters, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, XV, 1949/50, S. 157–250, hier S. 185–187. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst, übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt a.M. 1998.

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Abb. 1: Reims, Kathedrale, Maske, Skulptur am Chor (N2), um 1220–1230

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Abb. 2: Reims, Kathedrale, Maske, Skulptur am Chor (S6), um 1220–1230

heit der behaupteten Denk- und Handlungsweisen als Verkörperung der Ordnungen eines Feldes zu begründen, zum anderen als historischer Terminus, dessen theologischer Gehalt den Raum für die an den ‚Masken‘ zu beobachtende Differenzierung menschlicher Gestaltung erst eröffnete. Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen wirft am Rande auch ein kritisches Licht auf Panofskys These vom übergreifenden Habitus der gotischen Scholastik, von der ausgehend Bourdieu ja sein Habitus-Konzept erst entwickelte. Der folgende Beitrag ist also nicht zuletzt als ein methodischer Versuch gedacht, in dem die Doppelseitigkeit des Habitus-Begriffes mit der zweifachen Perspektive des Kunsthistorikers korrespondiert, der ein zeitlich entferntes künstlerisches Handeln (von heute aus) in seiner Historizität wie in seiner (damaligen) Aktualität verstehen will. Betrachtet man die Konsolenköpfe am Außenbau der Reimser Kathedrale, die unlängst durch den hervorragenden Abbildungsband von Hamann-Mac Lean und Schüssler beinahe in ihrer Gesamtheit verfügbar geworden sind, dann drängt sich ein Eindruck von Lebendigkeit auf, der mit nichts in der zeitgleichen Skulptur zu vergleichen ist.3 Ob traurig zusammengeschobene Augenbrauen (Abb. 1) oder ein keckes Lächeln mit hochgezogenen Wangen (Abb. 2), die differenzierte Mimik der Reimser Konsolenköpfe scheint dem Leben abgeschaut – selbst da, wo eine verzerrte Grimasse den Eindruck eines Geistesgestörten macht (Abb. 3).

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Richard Hamann-Mac Lean/Ise Schüssler: Die Kathedrale von Reims, Teil II: Die Skulpturen, Bd. VIII: Abbildungen Obergadenzone, Stuttgart 1996, Abb. 3446–3743 zeigen die ‚Masken‘, darunter auch Vorkriegsaufnahmen eines großen Teils jener ‚Masken‘, die im Ersten Weltkrieg beschädigt wurden.

Der doppelte Habitus, oder: Fragen an die ‚Masken‘ von Reims

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Warum genügt es nun nicht, die Reimser ‚Masken‘ als künstlerisches Ereignis eigenen Rechts zu würdigen? Wie sehr die herkömmlichen Kategorien kunsthistorischer Einordnung angesichts der ‚Masken‘ versagen, demonstriert ein Beitrag von Hans Weigert, der sich angesichts der Unmöglichkeit, diese Köpfe stilistisch einzuordnen, ins Künstlerische flüchtet: „Die Schöpfer dieser Masken […] erkennen die Relativität der Stile und werden zu Virtuosen, die frei zwischen ihnen wählen.“4 Die noch in jüngerer Zeit vertretene Auffassung, wonach es sich bei den vom Boden aus kaum sichtbaren Konsolenköpfen um ein ‚Experimentierfeld‘ für die Bildhauer gehandelt habe, meint im Grunde nichts anderes: Die Steinmetze bekommen in ihrem Tun an diesen Steinen Freiheit zugeAbb. 3: Reims, Kathedrale, Maske, Skulptur am sprochen und werden so implizit zu Proto- Ostfenster des Südostturms, um 1220–1230 typen neuzeitlicher Künstler erklärt. Dazu kommt, dass sich hier mit den evidenten Ausdrucksphänomenen auch noch ein Kernkonzept eines in der Nachfolge von Croce verbreiteten essentialistischen Kunstverständnisses Geltung zu verschaffen scheint. Einmal in der Welt, soll sich das künstlerische Ausdrucksvermögen auch in den tieferen Regionen des Bauwerks Bahn gebrochen haben, jedenfalls meinte erst jüngst Peter Kurmann in den Gesichtern von zwei Bischofsfiguren an den Portalstrebepfeilern Spuren jener Fähigkeiten zu sehen, die sich die Bildhauer mit den als ‚Experimentierfeld‘ verstandenen ‚Masken‘ angeeignet hatten.5 Stellt man anstelle der überkommenen Konzepte vom Ausdruckskünstler jedoch ein funktionalistisches Verständnis von Kunst in Rechnung, dann ist es keineswegs selbstverständlich, dass die Bildhauer gar nicht anders konnten, als die Gesichter mit solchem Ausdruckspotential auszustatten. Das Neue ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis veränderter Diskurse und Dispositive, die es zu analysieren gilt. Die Begründung des Figurenreichtums der Reimser Konsolenköpfe macht der Forschung allerdings bis heute Schwierigkeiten. Daran liegt es wohl auch, wenn zwei jüngst

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Hans Weigert: Die Masken der Kathedrale zu Reims, in: Pantheon, XIV, 1934, S. 246–250. Peter Kurmann: Die Vermenschlichung der Heilsbotschaft. Französische Skulptur der Gotik 1140 bis 1260 zwischen Realitätsnähe und hieratischer Feierlichkeit, in: Realität und Projektion – Wirklichkeitsnahe Darstellung in Antike und Mittelalter (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, 1), hg. v. Martin Büchsel/Peter Schmidt, Berlin 2005, S. 103–116, hier S. 111f.

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erschienene Monographien zur Kathedrale von Reims ausgerechnet die berühmten ‚Masken‘ entweder ganz unterschlagen oder nur mit einer einzigen harmlosen Abbildung abhandeln.6 Dabei gelten diese im Obergeschoss des Außenbaus anzutreffenden Konsolenköpfe in der älteren Literatur als bildhauerische Meisterleistungen, über die sich insbesondere die deutsch- und englischsprachige Forschung seit langem den Kopf zerbrochen hat. Im deutschen Sprachraum als Faszinosum bekannt gemacht hat die ‚Masken‘ von Reims vor allem Fraenger, der in einer Schrift von 1922 zunächst im Sinne einer mittelalterlichen Mentalitätenkunde einen Gegensatz zwischen dem Ideal „entsinnlichender Askese“ und der „satanshaften Travestie“ des Lachens der Gaukler herausarbeitet und dann die Reimser Skulpturen vor dieser Folie deutet: „Als Gegenwelt zu dem in sich gekehrten Heiligengehaben der Portalfiguren nistet in den Nischenwinkeln und am hohen First, an Fensterlaibungen und an Konsolen ein Pandämonium grotesker Fratzen.“7 Fraenger stellt die „von aller Leidenschaft durchquälten Masken“ in einer suggestiven Bild- und Textregie vor, indem er sie in einer Reihe zunehmender Verzerrung von „melancholischer Vertrübung“ über das gutmütige und das angriffslustige Lachen bis hin zur Teufelsmaske präsentiert, die „als gesammelte Essenz aus jener immer grauseren Entstellung des Menschenangesichts“ hervorwächst.8 In Fraengers sprachmächtigem Duktus und den entsprechend arrangierten 32 Abbildungen erscheint dies wie eine Gestaltenwicklung von dämonischer Logik, tatsächlich aber präsentiert er eine gezielte Auswahl der wirkungsvollsten Konsolenköpfe, deren Anordnung am Bau den Gedanken einer solchen programmatischen Steigerung nicht stützt.9 Dass Fraenger mit seinem Interesse am Grotesken, das auch zahlreiche andere Themen berührt, vielmehr an den Konflikten seiner eigenen Zeit arbeitet, ist unlängst gezeigt worden.10 Wie sehr Vorannahmen den Blick auf die Reimser ‚Masken‘ lenken können, zeigt sich insbesondere bei Weigert, der sich in seinem Aufsatz von 1934 als Anhänger einer – allerdings recht verqueren – Physiognomik zu erkennen gibt, indem er sich in eine Seelendiagnostik einzelner Köpfe versteigt: „[…] einer, aus dessen tief liegenden Augen sich

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Alain Erlande-Brandenburg: La cathédrale de Reims: chef-d’oeuvre du gothique, Arles 2007 bzw. Patrick Demouy/Claude Sauvageot: Reims - die Kathedrale (Monumente der Gotik, 2), Regensburg 2001. Wilhelm Fraenger: Die Masken von Rheims: mit e. Einl. u. d. Legende „Der Tänzer unserer Lieben Frau“ (Die komische Bibliothek, 1), Erlenbach-Zürich/Leipzig 1922, hier S. 11. Ebd., S. 13. Dass sich die ‚Masken‘ grob in drei Gruppen untergliedern lassen, darunter eine Gruppe mit vier Tugenden und Evangelisten, aber keinem weiteren erkennbaren ikonographischen Programm folgen, zeigt William Bert Wadley: The Reims masks: a reconstruction, stylistic analysis, and chronology of the corbel sculptures on the upper stories of Reims Cathedral (Ph.D. diss., University of Texas at Austin, 1984), Ann Arbor, MI 1985, S. 8–11. Olaf Peters: Die Physiognomik des Grotesken: Wilhelm Fraenger und das Komische, in: Das Komische in der Kunst, hg. v. Roland Kanz, Köln 2007, S. 259–280.

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die Wahnideen eines Schizophrenen spinnen, [...] endlich zwei Tiermasken, die menschliche Charaktere meinen, der bulldoggenähnliche Hund einen stoischen Phlegmatiker und der Löwe einen großmäuligen Sanguiniker.“ Zugleich sucht er in seinem Beitrag den Anschluss an die ‚wissenschaftlichen‘ Auffassungen seiner Zeit: „Und man muß bis zur modernen Rassenkunde gehen, um die Einsicht in die ‚Rassenseelen‘ wiederzufinden, die in den Masken steckt [...].“11 Vielleicht haben solche Verirrungen die späteren Interpreten vorsichtig werden lassen, auch wenn die jüngste Emotionsforschung wieder Interesse an den Ausdrucksphänomenen der ‚Masken‘ von Reims hervorruft.12 In der Zwischenzeit hatte die Literatur vor allem den experimentellen Charakter der ‚Masken‘ hervorgehoben und die hier von den Bildhauern gewonnene Freiheit. Dass diese ‚Freiheit‘ Ergebnis diskursiver Zusammenhänge ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Die Zuschreibung bloßer Negativität an diese Gesichter, wie sie von der oben zitierten älteren Literatur ausgespielt wurde, ist auch für eine historische Deutung der ‚Masken‘ ein nahe liegendes Modell. Denn in der Tat kann man angesichts der Reimser Konsolenköpfe an die Ausführungen Hugos von St. Viktor in seiner Schrift über die Zucht der Novizen (vor 1140) denken, der sich über die „tausend Masken“ (larvae) empörte, deren verzerrte Mimik der Schönheit des Gesichtes und ehrbarer Zucht abträglich sei. Das Modell hinter dieser Kritik ist das von der Würde des gottebenbildlich geschaffenen Menschen, die unter einer teuflischen Maske verborgen wird.13 Auf eine inhaltliche Polarität zwischen himmlischer Ordnung und teuflischer Macht zielte auch die Beobachtung von Hamann-Mac Lean zur Einbindung der ‚Masken‘ in die Engelsreihe am Choraußenbau der Kathedrale von Reims: „Für die Kombination der Figuren (der Engel) mit Maskenpaaren gab es nur einen Idealfall: beide Masken neben dem Kopfstück des Pfeilers als Sockel der Figur. In einer solchen Anordnung wird ein ursprünglich wohl beabsichtigter direkter ikonologischer Zusammenhang zwischen dem Engelsprogramm und den Masken sichtbar. Unabhängig von diesen Einzelfragen behält die Zuordnung der Masken als Spiegel des Dämonischen im Menschen und in der Welt, zu Füßen der Engel dargestellt, ihren theologischen Sinn.“14 Die Engel also als Bekämpfer und Beherrscher der in den ‚Masken‘ personifizierten dämonischen Gewalten – es bleibt festzuhalten, dass eine solche inhaltliche Lesart zwar einleuchtet, aber keine Begründung für den hohen formalen Differenzierungsgrad der Konsolenköpfe zu geben vermag. Oder sollte es genügen, mit Hugo von St. Viktor auf die Vielgestaltigkeit des Bösen hinzuweisen?

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Weigert 1934 (wie Anm. 4), S. 250. Hier darf man sich einigen Aufschluss von der neuen Frankfurter Dissertation von Dagmar Schmengler über die „Masken von Reims“ erwarten, die mir leider noch nicht verfügbar war. Jean-Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, übers. v. Rolf Schubert/ Bodo Schulze, Stuttgart 1992, S. 176. Richard Hamann-Mac Lean/Ise Schüssler: Die Kathedrale von Reims, Teil I: Die Architektur, Bd. I: Text, Stuttgart 1993, S. 167f.

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Abb. 4: Reims, Kathedrale, Masken, Skulpturen an der Südostecke des Nordwestturms, um 1220–1230

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Abb. 5: Reims, Kathedrale, Maske, Skulptur am Querhaus-Dachgesims zur Ostseite des Südostturms, um 1220–1230

Wie ich meine, kommt es für ein Verständnis der erstaunlichen Formphänomene der Reimser ‚Masken‘ nicht nur auf einen benennbaren vorgängigen Inhalt an. Vielmehr muss – jenseits des in der Kunstgeschichte überkommenen Form-Inhalt-Dualismus – mit einer Praxis argumentiert werden, in der diese künstlerischen Ereignisse als von bestimmten Umständen ermöglichte Erweiterung von Bestehendem zu begreifen sind. Mit anderen Worten gilt es, ein soziales Feld zu beschreiben, in dem sich die neue Gestaltungsweise der ‚Masken‘ entfalten konnte, und damit einen Habitus, aus dem heraus die Erarbeitung dieser Objekte möglich war. Ein solcher Habitus beinhaltet nicht nur ‚Denkgewohnheiten‘ im Sinne der panofskyschen mental habits, sondern auch andere anhaltende Handlungsdispositionen, die selbst ohne inhaltliche Besetzung aus der Praxis der mittelalterlichen Bauskulptur hervorgehen. Zu solchen Formgewohnheiten, die für die Reimser ‚Masken‘ grundlegend sind, gehören die grotesken Köpfe, die in der Konsolskulptur romanischer Kirchen verbreitet waren und die nun in differenzierterer Form auch an gotischen Bauten auftauchten. Ob sich diese Belebung des Bauwerks tatsächlich auf die Zurschaustellung besiegter Feinde, seien es Tiere oder Menschen, zu apotropäischen Zwecken zurückführen lässt oder ob hier vielmehr die antike imago clipeata nachwirkte, kann hier dahingestellt bleiben.15 15

Zu Ersterem Michael Camille: Image on the Edge: the Margins of Medieval Art, London 1992, S. 72–75, Letzteres führt Wadley 1985 (wie Anm. 9), S. 11–13 als zusätzlichen Hintergrund an.

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Vielleicht trifft die Kategorie ‚Bauzier‘ besser das Gewohnheitsmäßige, das solchen Drolerien zumindest in der späteren Gotik eigen war.16 In Reims ist es jedenfalls offensichtlich, dass die Gelegenheit zur Anbringung von ‚Masken‘ dort gesehen wurde, wo der untere Abschluss einer Krabbenreihe um die Laibung eines Fensterbogens betont oder der ‚Akanthuswuchs‘ in den entsprechenden Zwickeln gesteigert werden sollte (Abb. 4), während andere Kopfkonsolen etwa unterhalb von Gesimsen sich eher mit den Atlanten des Außenbaus verwandt zeigen (Abb. 5). Mit Wölfflin könnte man sagen, dass sich die Masken hier genauso wie das Ornament als „Ausdruck überschüssiger Formkraft“ zeigen.17 Wir hätten hier also eine positive Funktion der ‚Masken‘, als Ergebnis einer ‚Denkgewohnheit‘ unter Baumeistern, die sichtbare Zeichen der beim Bau berücksichtigten Kräfte setzte. Aber warum in dieser – in Reims erstmaligen – anthropomorphen Vielfalt, und in welchem Verhältnis steht dazu die zumindest bei einigen der ‚Masken‘ eindeutige negative Konnotation? Schmitt hat mit Blick auf die im Hochmittelalter „in den Randbezirken der kirchlichen Kultur“ verbreiteten Ungeheuer die Frage gestellt, „ob die Widersprüchlichkeit, die das Ungeheuer kennzeichnet, nicht insofern ein Bestandteil der Ordnung ist, als es im 12. Jahrhundert unumgänglich wurde, Ordnung als etwas wesentlich Widersprüchliches und Konfliktbeladenes, als in Bewegung begriffen zu denken, als eine Ordnung, in der das Ungeheuerliche und Abscheuliche notwendig an zentraler Stelle steht.“ Das Ungeheuer verkörpere „das labile, stets bedrohte Gleichgewicht antagonistischer Kräfte.“18 Dieser neue, komplexe Begriff von Ordnung hat sich im 13. Jahrhundert in den Versuchen niedergeschlagen, die Zusammenhänge der Realität in den scholastischen Summae zu erfassen, von der Summa Theologiae des Alexander von Hales, die „soviel wog, wie ein Pferd tragen kann“, bis zu der des Thomas von Aquin, in der die alles verbindende Kraft der Vernunft triumphierte, die aber nicht lange unangefochten blieb.19 Auch das Menschenbild wurde entsprechend komplexer: Es entstand eine neue, ganzheitliche Anthropologie, die den Menschen nicht mehr nur als eine Seele im defizienten Gefängnis eines Körpers verstand, sondern als ein Kompositum aus Leib und Seele: „Man glaubte jetzt, dass die menschliche Seele zwar unsterblich, gleichzeitig aber auch das ordnende und einigende Prinzip des menschlichen Körpers selbst sei und nicht unabhängig von ihm existiere.“20 Dass dieser Wandel des Menschenbildes in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie auch zu einer Änderung des Menschenbildes in der

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Michael Viktor Schwarz: Peter Parler im Veitsdom. Neue Überlegungen zum Prager Büstenzyklus, in: Der Künstler über sich in seinem Werk, hg. v. Matthias Winner, Weinheim 1992, S. 55–84, hier S. 61. Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Berlin 1999, S. 36. Schmitt 1992 (wie Anm. 13), S. 177 und 180. Erwin Panofsky: Gotische Architektur und Scholastik: zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln 1989, S. 11f. Ebd., S. 10.

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mittelalterlichen Skulptur führte, ist eine ebenso nahe liegende wie schwer beweisbare These.21 Womöglich aber sind gerade die Reimser ‚Masken‘ geeignet, eine Spur der Genese dieser neuen Möglichkeiten der Schilderung menschlicher Existenz im Medium der Skulptur nachzuzeichnen. Blicken wir zunächst zu den Portalskulpturen, bei denen die Tendenz zur Verlebendigung zwar weitaus subtiler als bei den ‚Masken‘, aber eben doch spürbar ist: Kurmann hat als anschauliches Beispiel die Bischofsfiguren an der Westfassade vorgestellt und dabei nahe gelegt, dass der von der Arbeit an den ‚Masken‘ geschärfte Blick für das Physiognomische hier seine Wirkung zeige.22 Hamann-Mac Lean wies etwa für die beiden Figuren der Heimsuchung an der Reimser Kathedrale nach, welche Bedeutung bei solcher ‚Verlebendigung‘ die Orientierung an der Antike hatte.23 Und Panofsky ging davon aus, dass die porträthaften Skulpturen in Reims und anderswo den „Sieg des Aristotelismus“ mit der neuen Betonung des Wechselverhältnisses von Leib und Seele verkündeten.24 Zur Vorsicht mit einer solchen Betrachtungsweise mahnte jedoch Schlink, der hinter der Begeisterung für die vermeintlich nach der Natur studierten, ‚realistischen‘ Züge der Skulptur des 13. Jahrhunderts eine Projektion der an der Renaissance geschulten Kunstgeschichte vermutete.25 Ebenso wies Büchsel darauf hin, dass die Berufung auf die natürliche Ordnung nicht mit der Realitätserfahrung verwechselt werden dürfe und forderte, nach den mit solchen veränderten Darstellungsweisen verbundenen Projektionen zu fragen.26 Es gehe also darum, die Formeln zu entschlüsseln, die hinter den ‚realistischen‘ Physiognomien steckten. Entsprechend hat Schlink eine Anwendung gruppenspezifischer Physiognomien als eine den historischen Gegebenheiten besser entsprechende Lesart gotischer Skulptur vorgeschlagen. Gerade die gewollte Christusähnlichkeit der Apostelfiguren und damit ihre Gottebenbildlichkeit erkannte er als Grundlage der vereinheitlichenden Gesichtsgestaltung in den Portalen auch von Paris und Amiens, wo von einer Einfallslosigkeit der Bildhauer keine Rede sein dürfe. Die betonte Schönheit der Züge sei vielmehr Programm: „[…] auf dem Angesicht Christi wird für den Glaubenden die

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Entsprechend summarisch sind die einschlägigen Ausführungen dazu bei Bruno Boerner: Par caritas par meritum: Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris (Scrinium Friburgense, 7), Freiburg, Schweiz 1998, S. 244–250 sowie bei dem als Grundlage dazu angegeben Aufsatz von Konrad Hoffmann: Stilwandel der Skulptur und Geschichte des Körpers: Überlegungen zum Forschungsstand, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter: Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, hg. v. Karl Clausberg u.a., Gießen 1981, S. 141–144. Kurmann 2005 (wie Anm. 5), S. 111f. Hamann-Mac Lean 1949/50 (wie Anm. 1), S. 228–230. Panofsky 1989 (wie Anm. 19), S. 10. Wilhelm Schlink: ‚...in cuius facie deitatis imago splendet‘: die Prägung des Physiognomischen in der gotischen Skulptur Frankreichs, in: Perspektiven der Philosophie, XXIII, 1997, S. 425–447, hier S. 429–431. In der Einleitung zu Realität und Projektion 2005 (wie Anm. 5), S. 25.

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urbildliche Herrlichkeit Gottes sichtbar“ und diese Gottebenbildlichkeit sei verstanden worden als „grundsätzliche Befähigung, die durch wachsende Erkenntnis und liebende Hingabe an Gott ausgefüllt und gesteigert werden müsse.“27 Hier spielt Schlink, ohne es auszusprechen, auf das historische Konzept des Habitus an, wie es Thomas von Aquin wenig später in seiner theologischen Anthropologie und Ethik ausführen sollte. Die Habitus sind dabei, in Anlehnung an Aristoteles’ Begriff der hexis, andauernde Handlungsdispositionen, die für den christlichen Theologen nun eng an die Vorzüge der göttlichen Schöpfung gebunden sind und sich auf den drei Ebenen von Gesundheit und Schönheit, Tugenden sowie Gnade entfalten.28 Der Habitus nimmt dabei eine vermittelnde Stellung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, zwischen Passivität und Aktivität ein, zwischen Natur und Gnade – und der höchste Habitus ist die caritas, die Liebe auf das höchste Ziel des ungeschaffenen Guten hin, die sich in der ewigen Seligkeit vollendet.29 Stellt also die Verbindung unbewegt schöner Vergeistigung mit körperlich aktivierender Präsenz in den Figuren an den gotischen Kathedralen jenen Habitus der caritas dar, der vielleicht schon durch eine theologische Ausformulierung bei Alexander von Hales (oder anderen Pariser Theologen vor Thomas) darstellungswürdig geworden war? Damit sind wir auch zurück bei der Frage, inwiefern das veränderte Menschenbild der Theologie und Philosophie im 13. Jahrhundert die Möglichkeiten der Bildhauer erweiterte. Wenn caritas als höchster Habitus normbildend war, dann muss man auch die Komplexität der scholastischen Begründung als Teil der auf diese Norm gegründeten Praxis mitdenken. Mit anderen Worten: Es ist zu erwarten, dass auch der Denk- und Handlungsraum der Zeitgenossen eine Erweiterung erfuhr, wenn Sachverhalte in der scholastischen Theologie nicht mehr als bloß von einer göttlichen Ordnung gesetzt, sondern in sorgfältiger Erwägung aus der Wirklichkeit abgeleitet wurden. Ein Beispiel kann uns Thomas von Aquins Auseinandersetzung mit der Sünde geben, die zwar bündig als ein Handeln gegen Gottes Wort definiert wird, deren Wesen und Zusammenhängen er aber vielhundertseitige Ausführungen in den quaestiones 71–89 von Buch I–II der Summa Theologiae widmete. Als Ursache der Sünde wurde nicht einfach der Teufel ausgemacht, sondern in ausführlicher Argumentation der menschliche Wille30, insofern dieser vom Teufel über den Missbrauch der Vorstellungskraft und der sinnlichen Begehrungskraft zu Leidenschaften und damit zu sündigem Streben verführt wird. Der Mensch hat also Verantwortung für sein sündhaftes Handeln, auch dann, wenn es Folge eines habitus (die deutsche ThomasAusgabe übersetzt hier: ‚Gehabe‘) ist.31 Es gab also im Horizont der Scholastik so etwas wie negative Habitus, die den positiven gegenübergestellt werden können. Kann man die ‚Masken‘ dann nicht als Darstellungen dieser negativen Habitus begreifen?

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Schlink 1997 (wie Anm. 25), S. 433–436. Peter Nickl: „Ordnung der Gefühle“: Studien zum Begriff des Habitus, Hamburg 2001, S. 36–47. Ebd., S. 49–52 und S. 77–84. S. q.80, DThA XII, S. 309–319. S. q.78, 2 und 3, DThA XII, S. 273–281.

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Eine solche Deutung greift über das unmittelbare Gut/Böse-Schema hinaus: Denn die funktionale Struktur der scholastischen Habitus-Lehre verlangte, in einem videtur quod und sed contra zu erwägen, inwieweit der Wille und damit die Freiheit des Menschen an der üblen Handlung beteiligt ist. Anstelle einer Schwarzweißmalerei waren damit nun also Graustufen im Blick auf das Menschliche möglich, und es dürfte eben kein Zufall sein, dass gleichzeitig mit der scholastischen Entfaltung einer christlichen Anthropologie die bloße Monstrosität der aus der romanischen Tradition bekannten Konsolenköpfe der differenzierenden Physiognomie der ‚Masken‘ vom Reims Platz machte. Es war vielmehr die theologische Individualisierung, die das Böse in ein ganzes Spektrum von mehr oder weniger lasterhaften Verhaltensweisen auflöste und damit an den Rändern der kirchlichen Ordnung nicht mehr nur abjekte Grimassen hervorbrachte, sondern Gesichter, in denen die Vielfalt möglicher Abweichungen von der Norm gespiegelt wurde. Ist dies nun so zu verstehen, dass ähnlich wie in Panofskys berühmter These über die gotische Architektur nun auch im Bereich der Bauplastik eine neue, an der Scholastik orientierte Denkweise behauptet wird? Hier gilt es nun auf der methodischen Ebene zu differenzieren: Denn so viel Aufmerksamkeit dieser Aspekt von Panofskys Aufsatz auch zunächst hervorrief, ist er in jüngerer Zeit doch kritisch beleuchtet worden. So hat Schenkluhn darauf aufmerksam gemacht, dass der von Panofsky angeführte Hauptbeleg für das scholastische Denken der Baumeister gar nicht von Villard de Honnecourt stammte, sondern von einem theologisch geschulten Kommentator, und dass die vermeintliche ‚Disputation‘ der Architekten tatsächlich auf dem schöpferisch-rhetorischen Gebrauch des Mediums Zeichnung fußte.32 Auch andere Kunsthistoriker haben in ihren kritischen Kommentaren nahe gelegt, dass Architektur und Scholastik weitaus stärker getrennte Felder waren, als es Panofsky in seiner Schrift behauptet hat.33 Der Zusammenhang der Reimser ‚Masken‘ mit der scholastischen Theologie ist nicht der eines gemeinsamen Habitus, weder als ‚Denkgewohnheit‘ im Sinne Panofskys und auch nicht als Handlungsdisposition auf der Grundlage einer generativen Grammatik im Sinne Bourdieus, insofern dieses Habitus-Konzept eher auf die Beständigkeit und Reproduzierbarkeit solcher Dispositionen innerhalb eines Feldes gerichtet ist.34 Stattdessen gilt es einen Prozess zu beschreiben, in dem in Entsprechung zum (historischen) Habitus-Begriff der Theologie eine neuartige Praxis auf dem Feld der Bauskulptur ermöglicht wurde. Dabei gehört es zu den Merkmalen dieses Prozesses, dass er Feldgrenzen 32

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Wolfgang Schenkluhn: „Inter se disputando“: Erwin Panofsky zum Zusammenhang von gotischer Architektur und Scholastik, in: Gestalt, Funktion, Bedeutung (Festschrift für Friedrich Möbius zum 70. Geburtstag), hg. v. Franz Jäger/Helga Sciurie, Jena 1999, S. 93–100. S. den zusammenfassenden Kommentar von Thomas Frangenberg im Nachwort zu Panofsky 1989 (wie Anm. 19), bes. S. 118f. Diese Beschränkung des Bourdieuschen Habitus-Konzeptes wird diskutiert bei Jörg Ebrecht: Die Kreativität der Praxis. Überlegungen zum Wandel von Habitusformationen, in: Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendungen – Perspektiven, hg. v. Dems./Frank Hillebrandt, Wiesbaden 2004, S. 225–241.

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überschreiten kann und dass er in seinem Verlauf nicht notwendig auf der Ebene inhaltlichen Denkens angesiedelt ist. Man hat es sich in unserem Falle also nicht so vorzustellen, als ob ein theologischer Ratgeber den Steinmetzen das Konzept des Habitus erklärt und damit die Lizenz zur Ausgestaltung menschlicher (und teilweise auch animalischer) Regungen erteilt hätte. Viel eher hat das Ganze die Konsequenz einer Assoziation, die zwischen den oben genannten Formgewohnheiten der Konsolenköpfe und dem sich im historischen Habitus-Begriff kristallisierenden neuen theologischen Menschenbild eintrat. Auch wenn die Pfade nicht bekannt sind, auf denen diese neue Anthropologie in den Denk- und Handlungsraum der Steinmetze gelangte, zeigt sie sich eben doch realisiert in der physiognomischen und pathognomischen Differenzierung der ‚Masken‘. Ob hier für eingeweihte Betrachter bestimmte benennbare Züge der Sündhaftigkeit ablesbar waren oder ob die Gestaltungsarbeit eher nichtpropositionalen, spielerisch-experimentellen Charakter hatte, muss dabei gar nicht entschieden werden. In beiden Fällen wäre es neu, dass die Steinmetze zu Experten in der Darstellung menschlicher Gefühlsregungen werden, und man kann diese neue Expertise nicht als Ergebnis eines mit den Theologen gemeinsamen, sondern als Konstituent eines neuen Habitus auffassen, wie bereits eingangs gesagt worden ist. Worauf es dabei ankommt, ist die Erweiterung der Darstellungsmöglichkeiten der Skulptur, die sich als bleibend etablierte, weil die neuen Formen – selbst wenn sie in Reims inhaltlich noch nicht besetzt waren – sich bald als anschlussfähig an bestimmte von den Steinmetzen zu gestaltende Inhalte erweisen sollten. Als Ort, an dem diese inhaltliche Besetzung des neuen Formvokabulars greifbar wird, hat Sauerländer den Bamberger Dom ausgemacht, speziell die Weltgerichtsdarstellung im Tympanon des Fürstenportals. Dort haben, so Sauerländer, die Gesichter der Verdammten eine im Vergleich zum Reimser Weltgericht ganz neue „emotionale Temperatur“, die sich in einer Mimik äußert, die von den Reimser Masken abgeleitet ist und die damit diese – in Reims noch ohne inhaltlichen Bezug stehenden – Ausdrucksstudien nun „ikonographisch eingemeindet“ hat.35 In einem ersten Schritt in Reims und dann endgültig in Bamberg zeigt sich also ein Potential realisiert, das ein neues, sich zeitgleich im theologischen Habitus-Begriff ausprägendes Menschenbild in das Feld der künstlerischen Darstellung eingebracht hat. Eine solche Koinzidenz entsprang nicht etwa einem plötzlich in die Welt gekommenen Ausdrucksverlangen, sondern einer Situation, in der die Scholastik im Sinne des Abgleichs mit der Wirklichkeit ebenso von größerer Flexibilität gegenüber den normativen Strukturen geprägt war wie sie diese Strukturen ein wenig flexibler machte. Man kann den erweiterten Horizont menschlichen Vorstellungsvermögens auch an dem Interesse ablesen, das im 12. und 13. Jahrhundert physiognomischen Schriften zuteil wird. Ulrich Reißer hat nachgezeichnet, wie bei Michael Scotus und Albertus Magnus die Merkmalskataloge der aristotelischen Literatur phänomenologisch und semantisch weiter differenziert 35

Willibald Sauerländer: Reims und Bamberg: Zu Art und Umfang der Übernahmen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, XXXIX/2–3, 1976, S. 167–192, hier S. 178.

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wurden, selbst wenn das zu Lasten der charakterologischen Klarheit ging.36 Die „erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit“, die in diesen Schriften in den Dienst der Typenklassifizierung gestellt wird, erweiterte auch den Handlungsspielraum der Bildhauer. Zunächst weniger dort, wo die Norm der caritas nach der Gestaltung idealisierter Figuren verlangte, als vielmehr in den Konsolenköpfen und der Darstellung der Verdammten, wo traditionell das Abseitige, Andere seine Gestalt erhielt und wo nun das Konzept negativer Habitus eine differenzierte Ausformulierung des einstmals schlichtweg ‚Bösen‘ ermöglichte.

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Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance: der Einfluß charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1997, S. 41–45.

Christus als Fürst der Tafel. Ein neu entdecktes Wandmalereifragment im Schloss von Babenhausen Margit Krenn Kontextbezogene Überformungen tradierter ikonographischer Motive, so beispielsweise die Übernahme religiöser Ikonographie für profane Bildthemen, sind in verschiedenen künstlerischen Gattungen des Mittelalters zu beobachten. Dabei geben gerade die Abweichungen vom üblichen Darstellungsschema Aufschluss über die von den Auftraggebern und Malern intendierte Deutung. Gleichzeitig erscheint die spezifische Bildaussage umso deutlicher, je vertrauter dem mittelalterlichen Betrachter das Ausgangsmotiv gewesen sein dürfte. Ein entsprechend hoher Bekanntheitsgrad kann für Gastmahlszenen vorausgesetzt werden.1 Während sie im profanen Bereich in erster Linie der Zurschaustellung höfischer Lebensformen oder auch dynastischer Zeremonien dienen, veranschaulichen sie im sakralen das biblische Geschehen und vermitteln somit eine heilsgeschichtliche Botschaft. Diese Motivgruppe und deren Modifikationen innerhalb von Bilderzählungen hat die Jubilarin Lieselotte E. Saurma-Jeltsch selbst 1990 am Beispiel der illustrierten Parzival-Handschriften untersucht.2 Für die Gastmahlszenen der Münchner ParzivalHandschrift Cgm 19 etwa machte sie deutlich, dass mithilfe motivischer Übernahmen aus der tradierten biblischen Ikonographie das profane Bildthema eine sakrale Ausdeutung erhält.3 So gibt es im Bild des höfischen Gastmahls anlässlich der Vermählung von Gramoflanz mit Itonje in der Parzival-Handschrift unverkennbare Anleihen an Abendmahlsdarstellungen.4 Eine vergleichbare Überformung hat auch das Bild zur Berufung Parzivals erfahren, das Bildelemente aus dem Gastmahl des Simon, auch als Salbung in Bethanien bekannt, enthält.5 Während Bilder der profanen Epik auf diese Weise eine heilsgeschichtliche Interpretation bekommen6, konnte umgekehrt für originär biblische 1 2

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S. V.[ictor] H. Elbern/V.[olker] Osteneck: Mahl, Gastmahl, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. III, Freiburg 1971, Sp. 129–136. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Zum Wandel der Erzählweise am Beispiel der illustrierten deutschen ‚Parzival‘-Handschriften, in: Probleme der Parzival-Philologie, Marburger Kolloquium 1990 (Wolfram-Studien, 12), hg. v. Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1992, S. 124–152, insb. S. 124–138; digitalisiert und online verfügbar unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg. de/artdok/volltexte/2008/594/ (28.11.2010). München, Bayerische Staatsbibliothek (BSB), Cgm 19, fol. 49v, 50r vgl. Saurma-Jeltsch 1990 (wie Anm. 2), S. 130–132, Abb. 20, 21. Ebd., S. 131f., Abb. 20: Cgm 19, fol. 49v. Ebd., S. 135f., Abb. 21: Cgm 19, fol. 50r. Ebd., S. 131, 137.

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Abb. 1: Abendmahl, Wandmalereifragment eines Passionszyklus (?), 1270–1290 (Babenhausen, Schloss)

Themen, wie das Bild des Hochzeitsmahls von Michol und David aus dem David-Zyklus in der Bamberger Petrus-Lombardus-Handschrift, eine Höfisierung aufgezeigt werden.7 Diese grundlegenden, an Beispielen der Buchmalerei erzielten Ergebnisse werden nun durch einen neuen Fund für den Bereich der Wandmalerei im höfisch repräsentativen Raum bestätigt und gleichzeitig in ihrer inhaltlichen Dimension erweitert. Es handelt sich hierbei um die Darstellung einer Abendmahlszene mit ikonographischen Besonderheiten, die erst im Frühjahr 2010 bei Umbaumaßnahmen im Schloss Babenhausen in Südhessen entdeckt worden ist (Abb. 1, Taf. IX).8 Sie ist ungefähr einen Meter hoch und wird seitlich und unten von Überresten einer Rahmung begleitet. Zu beiden Seiten des Abendmahls schließen sich Reste weiterer Bildfelder an. Auf der linken Seite sind dies Fragmente einer architektonischen Darstellung. In dem rechten, durch eine Säule abgetrennten Bildfeld ist noch ein nach rechts geneigter Baumstamm mit Baumkrone zu erkennen und an der Baumwurzel der nach unten gestreckte Fuß einer womöglich sitzenden Person, so dass hier vermutlich die Episode vom Garten Gethsemane dargestellt war. Für diese Annahme spricht jedenfalls der Umstand, dass die Szene des Abendmahls oftmals in einen größeren Passionszyklus eingebettet wurde.9 Für das vorangehende Bildfeld, das bis auf 7 8 9

Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 59, fol. 2v; s. ebd., S. 131, 137, Abb. 30. Dipl. Restauratorin Christine Kenner und Dr. Tobias Wolf vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Schloss Biebrich, Wiesbaden, sei für den Hinweis auf diesen Fund herzlichst gedankt. Beispielsweise in der Evangelischen Kirche in Niederhausen an der Nahe; Foto Marburg: http:// www.bildindex.de, fmlac8975_31a.

Christus als Fürst der Tafel

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eine Architekturdarstellung verloren ist, käme so die Szene von Christi Einzug in Jerusalem in Frage.10 Hinsichtlich der technischen Ausführung stellt sich das Bild als reine Pinselzeichnung dar. Diese ist direkt auf den Putz aufgetragen, der wiederum unmittelbar auf dem romanischen Backsteinmauerwerk liegt. Einzelne Details der rötlichen Zeichnung wurden schwarz nachkonturiert; vor allem im unteren Bereich der rechten Bildhälfte kann man dies an einzelnen der auf dem Tisch verteilten Gegenstände erkennen, aber vor allem an der Figur mit der Kanne. Spuren einer auf die Pinselzeichnung folgenden farbigen Ausmalung konnten jedoch nicht festgestellt werden.11 Das Bildfeld mit der Darstellung des letzten Mahls zeigt Christus und seine Jünger, die hinter einem querrechteckigen Tisch dicht gedrängt, dem Betrachterraum zugewandt sitzen oder vereinzelt in der Reihe dahinter stehen. Die Bögen der ihre Köpfe umgebenden Heiligenscheine laufen nahezu auf einer Linie und reichten wohl bis an die obere Bildkante. Der frontal ausgerichtete Christus ist leicht aus der Mitte gerückt, während Johannes, der sich zum Ruhen auf den Tisch und so direkt vor Christus geneigt hat, mit seinem Kopf exakt auf der mittleren Bildachse liegt. Gut zu erkennen ist noch die linke Hand Christi auf Johannes’ Rücken; schwieriger zu lesen ist hingegen dessen Geste. Johannes’ Finger sind gespreizt, und es ist anzunehmen, dass sich seine Arme überkreuzen; sie rahmen so seine untere Gesichtshälfte, was als Demutsgeste interpretiert werden kann. Möglicherweise ragt die linke Hand aus der Hülle eines unter dem Arm durchgeschobenen Zipfels seines um die Schulter gelegten Mantels hervor. In ähnlicher Weise hat wohl der zu Christi Linken stehende Apostel seine rechte erhobene Hand noch in den Mantel gehüllt und an die Wange des leicht geneigten Kopfes gelegt, so dass hier eine eindeutige Trauergeste gezeigt ist.12 Die genaue Anzahl der Jünger, die einander im Gespräch in unterschiedlichen Körperdrehungen zugewandt sind, ist aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes und vielfältiger Überschneidungen der Figuren nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Leicht zu identifizieren ist jedoch Petrus, der mit der erhobenen Rechten das für ihn typische Attribut – den Schlüssel – vor seine Brust hält. Vor allem der rautenförmige Griff des Schlüssels ist hier noch gut zu sehen. Mit der linken, geöffneten Hand, die im Bild direkt unter dem Kinn eines frontal blickenden Apostels gezeigt ist, scheint Petrus auf Christus zu deuten oder sich wie im Gespräch an diesen zu wenden. Judas, dessen Kopf im negativ konnotierten Profil mit geöffnetem Mund gezeigt ist, sitzt abgesondert auf dem Bo10

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Die Abfolge Einzug Christi in Jerusalem vor dem Abendmahl beispielsweise im Gewölbe von St. Maria Lyskirchen in Köln, Mitte 13. Jahrhundert; Umrisszeichnung in Paul Clemen: Die romanische Monumentalmalerei in den Rheinlanden, Düsseldorf 1916, Taf. 55. Herrn Restaurator Stefan Schopf, Hans-Michael Hangleiter GmbH, Otzberg, möchte ich an dieser Stelle sowohl für das bereitgestellte Bildmaterial als auch für seine technologischen Auskünfte herzlich danken. Vgl. die Geste des unter dem Kreuz trauernden Johannes, so im Mainzer Evangeliar, Aschaffenburg, Hofbibliothek (HB), Ms. 13, fol. 40v; Abb. Harald Wolter-von dem Knesebeck: Das Mainzer Evangeliar. Strahlende Bilder – Worte in Gold, Regensburg 2007, S. 116.

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den unmittelbar vor dem Tisch, auf dem neben Schüsseln mit Fischen einzelne Gefäße, Messer und, der unregelmäßigen Form nach zu schließen, Brotstücke verteilt sind. Über den Tisch hinweggreifend, legt Christus mit seiner Linken Judas ein rundes Brotstück in den Mund. Gänzlich ungewöhnlich für die geläufige Abendmahl-Ikonographie ist die Tatsache, dass vom rechten unteren Bildrand zwei Männer an den Tisch getreten sind, von denen der hintere und durch die Rahmung angeschnittene Mann in seiner leicht abgesenkten Linken einen Stock hält. Der vordere, etwas größer dargestellte ist gerade im Begriff, etwas aus einer großen Tüllenkanne in einen zylindrischen Becher zu gießen. Mit diesen beiden Figuren, die mit einem Surkot zeitgenössische Kleidung tragen, wird das Abendmahlsbild durch ein Motiv bereichert, das, wie unten noch ausführlich dargelegt wird, der profanen Ikonographie entlehnt ist. I. Architektonische und kunsthistorische Voraussetzungen Nicht nur weil es sich um ein prägnantes Beispiel der Überblendung sakraler und profaner Themen handelt, verdient diese Wandmalerei hier vorgestellt zu werden. Hinzu kommt, dass es aufgrund der anstehenden baulichen Veränderungen des Schlosses nur noch kurze Zeit sichtbar sein wird, und dies obwohl weder seine Datierung noch seine Einbindung in das ursprüngliche architektonische Raumgefüge restlos geklärt sind. Da die Bauforschung im Auftrag des Landesdenkmalamtes Hessen noch im Gange ist13, werden diese Fragen leider auch in diesem Beitrag nicht abschließend beantwortet. Zunächst sollen einige wesentliche Informationen zur Auffindsituation der Wandmalerei, zum Gebäude und zu Datierungsfragen gegeben werden, bevor wir uns der ikonographischen Analyse zuwenden. Schloss Babenhausen war ursprünglich eine in staufischer Zeit erbaute Wasserburganlage über quadratischem Grundriss mit einem ebenfalls quadratischen, nach dem 17. Jahrhundert niedergelegten Bergfried in deren Hof.14 Die romanische Halle im Erdgeschoss des Westflügels, die sich mit vier Arkaden zum Hof hin öffnet, konnte anhand der Deckenbalken dendrochronologisch auf 1188/1189 datiert werden. Sowohl der regelmäßige Grundriss der Anlage als auch die Verwendung von Backsteinen als Baumaterial weichen von der in der Region üblichen Bauweise mit Werksteinen ab und führten zu der Überlegung, ihre Planung und Ausführung könnte in Händen einer süditalienischen Bauhütte gelegen haben.15 Vermutet wird eine ursprüngliche Bestimmung als kaiserliches Jagdschloss im Wildbann Dreieich16, das als solches an die in der Wetterau beheimate13 14

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Durchgeführt von Dr. Hans-Hermann Reck, Wiesbaden, dem ich für seine zahlreichen Auskünfte über die Ergebnisse der aktuellen Bauforschung ausdrücklich danken möchte. S. Dehio – Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler Hessen, hg. v. Folkhard Cremer u.a., Bd. II: Regierungsbezirk Darmstadt, München/Berlin 2008, S. 23–25, basierend auf Fritz Arens: Der Saalhof zu Frankfurt und die Burg Babenhausen. Zwei Staufische Wehr- und Wohnbauten am Mittelrhein, in: Mainzer Zeitschrift, LXXI/LXXII, 1976/77, S. 1–56 und Taf. 1–18. S. Dehio 2008 (wie Anm. 14); Arens 1976/77 (wie Anm. 14), S. 25f. S. ebd.

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ten Reichsministerialen der Münzenberger zu Lehen gegeben wurde. Als Ulrich II. von Hagen-Münzenberg 1255 ohne erbberechtigte Nachkommen starb, wurde der Münzenberger Besitz unter seinen Schwestern aufgeteilt.17 Das Schloss Babenhausen ist bei diesem Erbgang an seine Schwester Adelheid gegangen, die mit Reinhard I. von Hanau (um 1225–1281) verheiratet war. Die Umbauten, die das heutige Gesamterscheinungsbild des Schlosses bestimmen, erfolgten unter Philipp I. von Hanau-Lichtenberg, der das Schloss ab 1458/1460 zur Residenz ausbaute, um 1570/1580 unter Philipp IV. und Philipp V. von Hanau-Lichtenberg sowie von 1771 bis 1818, als es als Sommerresidenz und Witwensitz der Landgrafen von Hessen-Kassel diente. Möglicherweise reichen größere Veränderungen und Erweiterungen des Baus schon in die Zeit Reinhards I. von Hanau und seines Sohns Ulrich (1255/1260– 1305) zurück. Dafür spricht auch, dass die Entstehung des Abendmahlsbildes dem ersten Eindruck nach ungefähr im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts anzunehmen ist. Aufgefunden wurde das Bild nämlich an der dem Hof zugewandten Außenwand des Südwestflügels. Gänzlich unwahrscheinlich scheint eine Platzierung des Bildes an einer Außenwand, zumal es dann aufgrund seiner Anbringung in acht Metern Höhe und seines Formates von einem Meter Höhe kaum erkennbar gewesen wäre. Heute befindet sich hier ein Vorbau, der die notwendige Raumsituation für einen Bildzyklus erst geschafAbb. 2: Babenhausen, Schloss, Ansicht des Südfen hatte, dessen ursprüngliche Form aber westflügels von der Hofseite nicht mehr erhalten ist (Abb. 2). Im 16. Jahrhundert wurde dieser Vorbau vollkommen verändert. Dabei entstanden im Innern vier Geschosse, von denen zwei eingewölbt wurden. Durch das obere Gewölbe wurde der Wandmalereizyklus beschnitten und der darüber eingezogene Fußboden verdeckte es fortan (Abb. 3).18 Die Voraussetzung für die Errichtung des Vorbaus ist der Nordwestflügel, der in seinem westlichen Kern wohl noch aus dem 13. Jahrhundert stammt.19 Nach 17

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Fred Schwind: Zu den Anfängen der Herrschaft und Stadt Hanau, in: 675 Jahre Stadt Hanau, Festschrift zum Stadtjubiläum und Ausstellungskatalog (Hanau, Historisches Museum, 1978), hg. v. Geschichtsverein Hanau e.V., Hanau 1978, S. 20–34, hier S. 24f. Schnitt: Rau Planungs- und Beratungs GmbH, Sensbachtal. S. Dehio 2008 (wie Anm. 14).

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dem derzeitigen Stand der Bauforschung und aufgrund der dort eingezogenen Deckenlage kann er allerdings erst in das Jahr 1337/1338 datiert werden.20 Für den Moment kann weder eine ältere Decke noch ein Vorgängerbau für den gesamten Nordwestflügel ausgeschlossen werden. Selbst die nahe liegende Vermutung, das Abendmahlsbild könne als Teil eines Passionszyklus die Burgkapelle geschmückt haben, lässt sich noch nicht bestätigen. Erst im Sommer 2010 wurden Fundamente vor der östlichen Ringmauer ergraben, die Teil einer Apside gewesen sein könnten, aber schon in gotischer Zeit überbaut wurden. Es wäre demnach denkbar, dass eine im Hof gelegene Kapelle abgerissen und dann der Raum, in dem sich der Wandmalereizyklus befunden hat, wenigstens vorübergehend als Kapelle genutzt wurde.21 Trotz dieser ungeklärten Fragen soll nun eine skizzenhafte Datierung des Wandbildes mithilfe des stilistischen Erscheinungsbildes versucht werden. Die Schwierigkeiten, dieses einzuordnen, liegen vornehmlich in dem äußerst mageren Wandmalereibestand aus der fraglichen Zeit von etwa 1260 bis 1300 im Entstehungsgebiet Mittelrhein22, für den zudem Abb. 3: Babenhausen, Schloss, Querschnitt durch eine systematische wissenschaftliche den Südwestflügel (Rau Planungs- und Beratungs Aufarbeitung aussteht. Im Vergleich dazu GmbH, Sensbachtal) verfügen wir bis in die Zeit um 1260 und dann wieder ab 1290/1300 über einige Beispiele sowohl in der Wand- und Buch- als auch in der Glasmalerei, die relative Chronologien ermöglichen. Für die Einordnung des in Babenhausen aufgefundenen Wandbildes ist ein Blick zu anderen Kunstgattungen unabdingbar; gerade die für das „Corpus Vitrearum“ in den letzten Jahren gut aufgearbeiteten

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Lt. Auskunft von Dr. Hans-Hermann Reck, Wiesbaden. Eine vergleichbare Lage der Burgkapelle ist in Schloss Hirschhorn am Neckar gegeben. Sie liegt hier über der Torhalle des Wohntraktes und wurde überdies im 14. Jahrhundert ebenfalls mit einem Passionszyklus ausgemalt (Stiftung der Burgkapelle 1345); s. Ulrich Spiegelberg: Das Schloss Hirschhorn am Neckar. Von der Ritterburg des 13. Jahrhunderts zum Renaissanceschloss (Edition der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, Broschüre, 29), Regensburg 2008, S. 17, 43. Beispielsweise ein Verkündigungsengel in der Kapelle des Erbacher Hofs in Mainz, datierbar wohl nach der Weihe der Kapelle 1259; s. Uwe Gast: Buchbesprechung zu Daniel Hess: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet (Corpus Vitrearum Medii Aevi, Deutschland, 3: Hessen und Rheinhessen, 2), Berlin 1999, in: Zeitschrift für deutsche Kunstgeschich-

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Glasmalereibestände gewähren hierbei Orientierungspunkte, ohne allerdings direkte Vergleichsstücke zu liefern.23 Wie reduziert der Erhaltungszustand des Babenhausener Abendmahlsbildes auch sein mag, so lassen sich doch einige auffällige stilistische und motivische Merkmale sowohl an der Gestaltung von Gewändern und Stoffen als auch an den Kopftypen und deren Physiognomien ablesen. Bei der Gestalt des Petrus faltet sich der um Ober- und Unterarm gespannte Stoff fächerartig auf, so dass spitzdreieckige Segmente aneinander gefügt sind. Die untere Stoffkante aber, die nur im ganz rechts gelegenen Fächerteil zu sehen ist, scheint in einer ösenförmigen Schlaufe abzuschließen. Ganz ähnlich legt sich der Mantel um den Unterarm des Apostels am linken äußeren Bildrand. Wieder entsteht eine Struktur aus konzentrisch angeordneten spitzwinkligen Dreiecken, deren graphisch aufgetragene Konturen zur Gewandinnenseite in Haken umbrechen. Diese kantig aufgebauten Gewandflächen finden ihr Pendant in der Gestaltung der über den Tisch herunterhängenden Stoffdecke, die regelmäßig in Partien abgeteilt ist. Wie die hier zu Dreiecken aufeinander zulaufenden und wiederum an ihren Enden in kleine Haken umbrechenden Linien erkennen lassen, sind sie als sich nach vorn aufbauschende Stoffmasse gedacht. Diese doch überwiegend spitzkantigen Binnenformen und Konturen wirken wie Rudimente eines Stils, der im Mittelrheingebiet ungefähr zwischen 1255 und 1275 an Kunstwerken unterschiedlicher Gattungen zu beobachten ist. Im Kern dieser Gruppe steht das für den Mainzer Dom geschaffene, reich bebilderte Evangeliar, das teils nach diesem Bestimmungsort als Mainzer Evangeliar bezeichnet wird24, teils nach seinem heutigen Aufbewahrungsort als Aschaffenburger Evangeliar bekannt ist.25 Kennzeichnend für das stilistische Erscheinungsbild, das mit dem Begriff ‚mittelrheinischer Zackenstil‘ gefasst wird, ist der Aufbau der Stoffe und Gewänder in spitzen geometrischen Formen mit stark gezackten Konturen,

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te, LXIV, 2001, S. 562–574, hier S. 568f., Abb. 2. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Wandbilder der Kreuzkirche in Frankfurt Preungesheim, ein heiliger Georg und eine Madonna mit Kind, hingewiesen. Erwähnt werden sollten hier auch die Wandmalereien in der Marienkirche zu Gelnhausen, die zwar schon um 1235/1240 zu datieren sind, aber mit deutlichen Zackenstilformen ein Beispiel dafür geben, dass Stilentwicklungen ohne größere Verzögerungen in einem weiteren regionalen Umfeld um das angenommene Zentrum Mainz wiederkehren; s. Daniel Hess: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet (Corpus Vitrearum Medii Aevi, Deutschland, 3: Hessen und Rheinhessen, 2), Berlin 1999, S. 40, 43, 215–229, bes. S. 229; s. Wolfgang Medding: Die Wandmalereien im Chor der Marienkirche zu Gelnhausen, in: Jahrbuch der Denkmalpflege im Regierungsbezirk Kassel, II, 1936: Freigelegte Wand- und Tafelmalereien aus der Zeit vom 11. bis zum 17. Jahrhundert, hg. v. Bezirkskonservator Friedrich Bleibaum, S. 28–42, Taf. 6–11. S. Hess 1999 (wie Anm. 22); außerdem auch die weiterführenden Arbeiten von Daniel Parello: Die Mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen (Corpus Vitrearum Medii Aevi, Deutschland, 3: Hessen und Rheinhessen, 3), Berlin 2008; Himmelslicht. Europäische Glasmalerei im Jahrhundert des Kölner Dombaus (1248–1349), Ausstellungskatalog (Köln, Schnütgen-Museum, 1998/99), hg. v. Hiltrud Westermann-Angerhausen, Köln 1998, insb. Nr. 9–15, 24, 26, 37. So zuletzt von Wolter-von dem Knesebeck 2007 (wie Anm. 12). Aschaffenburg, HB, Ms. 13, um 1255/1260.

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die als eigene Formschicht vor die Figuren gesetzt sind. Zu dieser Gruppe zählt eine Reihe von Kunstwerken26, beispielsweise die Wormser Tafeln27, die Glasscheiben des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt mit den Heiligen Augustinus und Nikolaus28 oder die Scheiben mit den Szenen zur Geburt, Geißelung und Auferstehung Christi aus dem Historischen Museum in Frankfurt.29 Neben den typischen Zackenstilformen, die allen gemein sind, verbinden die Gruppe auch die markanten Kopftypen, die nun wieder direkt zu unserem Babenhausener Fragment zurückführen. Zunächst sei auf die Gestaltung des lockigen, vollen Haarschopfs des schlafenden Johannes hingewiesen. Diese aus aneinander geschobenen Kreisen gleichen Durchmessers gestalteten Buckellocken kehren in der umrissenen Gruppe mittelrheinischer Kunstwerke mehrfach wieder.30 Aber auch die Gesichter scheinen verwandt. Der im Dreiviertel-Profil gezeigte Apostel nahe am rechten Bildrand, dem sein Hintermann eine Hand auf die Schulter gelegt hat, ruft den Petrus der Wormser Tafel sowie die Heiligen der Darmstädter Scheiben in Erinnerung. Die Ähnlichkeiten bestehen hier in der schmalen Gesichtsform, den großen Augen und sogar in den eher großen länglich-ovalen Ohren. Die an den Werken dieser Gruppe so typischen feinen Gesichtszüge, die etwa durch schmale Nasen bestimmt sind, lassen sich in Babenhausen besonders deutlich bei der Christusfigur erkennen. Gemessen am Gesamterscheinungsbild stehen die dem Zackenstil angelehnten Motive aber vereinzelt. Stärker scheint die Figurenauffassung durch einen Wechsel zu weicheren, fließenden Falten- und Gewandformen geprägt zu sein; das ist etwa am Gewand Petri zu sehen, dessen Saumkante, wie beschrieben, eine Schlaufe bildet, oder beim Diener mit der Kanne, wo sich der Stoff auf dem Oberschenkel in eine Rundung legt und so dessen Kontur plastisch nachzeichnet. Überhaupt lässt sich bei dieser Gestalt gegenüber denen des mittelrheinischen Zackenstils ein Wechsel im Verhältnis von Gewand zu Körper erkennen. Erfährt bei den früheren das Gewand durch geometrische, spitze Brechungen und einem zum Teil ornamental aufgefassten Faltenstil eine eigenständige materielle Stabilität, folgt bei den anderen, später zu datierenden Werken die Gewandhülle nun der Körperform und verbindet sich mit dieser zu einer plastischen Einheit.

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Die Zusammenhänge dieser Gruppe und die Herleitung des stilistischen Erscheinungsbildes, das durch eine anzunehmende Mainzer Großwerkstatt verbreitet wurde, sind in jüngster Zeit ausführlich in den Teilbänden des „Corpus Vitrearum“ besprochen worden; s. Hess 1999 (wie Anm. 22), S. 40–43; Parello 2008 (wie Anm. 23), S. 46–51; in Teilen zusammenfassend außerdem Wolter-von dem Knesebeck 2007 (wie Anm. 12), S. 164–176. Der Heilige Petrus, Innenseite der Wormser Tafeln, Darmstadt, Hessisches Landesmuseum (HLM); Abb. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), S. 152 sowie Wolter-von dem Knesebeck 2007 (wie Anm. 12), Abb. 21, S. 114. Darmstadt, HLM, Inv. Kg 31:22b; Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 15, S. 152f., Abb. S. 153. Mainz (?), um 1250/1260; s. Hess 1999 (wie Anm. 22), S. 144–152, Farbtaf. IX–XI; Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 14.1–2, S. 148–151, Abb. S. 149, 151. Beispielsweise Der Heilige Petrus, Innenseite der Wormser Tafeln, Darmstadt, HLM; Abb. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), S. 152 sowie Wolter-von dem Knesebeck 2007 (wie Anm. 12), Abb.

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Abb. 4: Abendmahl und Gastmahl Abrahams zur Entwöhnung Isaaks, Detail aus dem älteren Bibelfenster, um 1260 (Köln, Dom, Dreikönigskapelle)

Diese Tendenz, sich zwar vom Zackenstil zu lösen, aber gleichzeitig einzelne Elemente dieses Stils zu konservieren, verbindet eine Reihe von Arbeiten der siebziger Jahre, die noch im Zusammenhang mit der Mainzer Werkstattgemeinschaft rund um das Mainzer Evangeliar stehen, wie etwa die Bibelfenster von St. Vitus in Mönchengladbach.31 Aber mit den Scheiben aus Sankt Vitus, für deren Datierung die Chorweihe von 1275 einen verlässlichen Anhaltspunkt liefert, ist der Figurenstil des Babenhausener Wandbildes ganz offensichtlich nicht direkt vergleichbar. Sie demonstrieren lediglich einen Stil um 1275, der die Zackenstilelemente der Mainzer Werkstatt um 1260 fortschreibt, ergänzt durch eine weichere Linienführung und eine stärkere körperliche Bewegung der Figuren. Um 1260 ist im älteren Bibelfenster des Kölner Doms bereits das Beispiel eines aus dem Zackenstil hervorgehenden und sich von diesem lösenden Übergangsstils gegeben (Abb. 4).32 Dabei sind jene Veränderungen Kennzeichen eines Übergangsstils, der sich unter dem einsetzenden Einfluss der westlich geprägten Gotik33 in zunehmend elegant gestreckten, beweglichen Figuren sowie einer weich fließenden, freieren Zeichnung äußert. Im

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21, S. 114. Mainzer Evangeliar, Aschaffenburg, HB, Ms. 13, beispielsweise fol. 40v: Kreuzigung, Grablegung, 97v: Pfingsten; Abb. Wolter-von dem Knesebeck 2007 (wie Anm. 12), S. 116, 168. S. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 12.1, S. 142–145. Die Abendmahl-Scheibe in Carl Wilhelm Clasen: Mönchengladbach (Die Denkmäler des Rheinlandes, 9), Düsseldorf 1966, Abb. 57; Farbabb. s. http://www.kulturfoto-lieser.de/html/bibelfenstgalerie_6.html (28.11.2010). S. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 11.1–2, S. 140f. Deutlich zu sehen etwa an einer Scheibe mit der Geißelung des Propheten Jeremias, ehemals Straßburg, St. Thomas, um 1270, heute Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum, Inv. Nr. 1968-771;

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Babenhausener Wandbild zeigt sich dies wiederum deutlich an der Figur des Dieners, die ganz auf den Bewegungsablauf des Einschenkens ausgerichtet ist und so der Abendmahl-Ikonographie eine zusätzlich erzählerische Note verleiht. An dieser Stelle können weder die Neuerungen innerhalb der Stilentwicklung verortet werden noch kann der Frage nachgegangen werden, ob die mittelrheinische Zackenstilvariante um das Mainzer Evangeliar über Köln tradiert wurde, wo mit der um 1240 entstandenen Heisterbacher Bibel ein unmittelbarer Vorläufer zu finden ist (Abb. 5).34 Ebenso wenig kann anhand der auf uns gekommenen bildkünstlerischen Überlieferung der Jahre 1270 bis 1280 im Mittelrheingebiet entschieden werden, durch welche Impulse die westlich Abb. 5: Heisterbacher Bibel, Passahmahl des geprägte Gotik sukzessive zunächst zur Josias, Köln, um 1240 (Berlin, Staatsbibliothek Bildung von Übergangsformen und dann – Preußischer Kulturbesitz, theol. lat. fol. 379, zu einem Ablösen vom Zackenstil geführt fol. 199r) hat.35 Bei Werken der 1280/1290er Jahre scheint dieser Wandel am Mittelrhein bereits vollzogen.36 Fraglich ist nun, welche Zeitspanne man für das Babenhausener Wandbild als Entstehungszeitraum ansetzen möchte. Das Erscheinungsbild mit seinem an den

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s. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 26, S. 186f. Das Nebeneinander beider Stilstufen zeigt sich an den unterschiedlichen Behandlungen der Gewänder und dem kantig linear aufgebauten, abstehenden Mantel des Schergen. Foto Marburg: http://www.bildindex.de, Nr. 250.056, Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz (SBPK), theol. lat. fol. 379, fol. 199r: Passahmahl des Josias (2 Chr 35, 1–19); s. Hanns Swarzenski: Die lateinischen illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts, Berlin 1935, Taf. 18, Abb. 73; zur Stilentwicklung und den Beziehungen zum Mainzer Evangeliar s. Parello 2008 (wie Anm. 23), S. 46f. Für die typologischen Scheiben, ehemals Ritterstiftskirche St. Peter in Wimpfen, um 1270/1280 entstanden, konnte beispielsweise eine Ableitung des Stils von Straßburger Vorlagen belegt werden; s. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 24.1–4, S. 180–183. Martin Roland: Zwischen Wand und Bild. Glasmalerei im 13. und 14. Jahrhundert, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. III: Gotik, hg. v. Bruno Klein, Darmstadt 2007, S. 474–480, Nr. 217, S. 484f. S. etwa die vermutlich aus Kloster Eibingen stammenden mittelrheinischen Scheiben mit den Heiligen Kunigunde und Benedikt, um 1280/1290, Darmstadt, HLM, Inv. Nr. Kg 33:3; Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), Nr. 37, S. 210f.

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Zackenstil erinnernden Formenvokabular, aber einem bereits zur gotischen Schönlinigkeit und Körperbewegung strebenden Übergangsstil, legt eine ungefähre Datierung auf die Jahre 1270–1280 nahe. Nicht auszuschließen ist auch ein etwas späterer Zeitpunkt, bis ungefähr 1290, wenn man etwaige Verzögerungen bei der Verbreitung neuer künstlerischer Strömungen von den städtischen Zentren am Mittelrhein in die weitere Umgebung erwägt, die auch durch die Weitergabe von Vorlagenmaterial zustande kommen können. Auf jeden Fall aber wird dieser Datierungsvorschlag anhand der ausstehenden Ergebnisse der Bauforschung zu verifizieren sein. II. Ikonographische Merkmale Die Besonderheit des Wandbildes in Babenhausen ist, wie oben schon bemerkt, vor allem in der Abweichung von der üblichen Abendmahl-Ikonographie zu suchen. Zunächst einmal ist in der nahezu symmetrisch gruppierten Tischgesellschaft mit Christus in der Mitte und dem vor dem Tisch sitzenden Judas ein für Abendmahlsbilder ab dem 12. Jahrhundert geläufiges Schema zu erkennen.37 Zwischen den verschiedenen Darstellungen dieses Grundmotivs lassen sich aber Variationen feststellen: Diese zeigen sich beispielsweise in den unterschiedlichen im Bild festgehaltenen Momenten, die von der Verratsankündigung bis hin zur exegetischen Auslegung des gemeinsamen Mahls als Einsetzung und Austeilen der Eucharistie reichen.38 Auch können mehrere Handlungsmomente in einem Bild verdichtet sein, etwa wenn die Szene der Fußwaschung mit der Verratsankündigung während des gemeinsamen letzten Mahls verbunden wird.39 Die Frage nach der Herkunft der beiden Diener an der Tafel führt zunächst zu den typologischen Gegenüberstellungen und der damit verbundenen bildhaften Beziehung zum Abendmahl: Dem Abendmahl als neutestamentlichem Antityp wird etwa das alttestamentliche Passahmahl vor dem Auszug aus Ägypten als Typ gegenübergestellt, wie im Mönchengladbacher Bibelfenster zu sehen40, oder das Gastmahl Abrahams zur Entwöhnung Isaaks, wie im älteren Kölner Bibelfenster.41 Inhaltliche Parallelen zum Abendmahl können auch im Sinne einer neutestamentlichen Vorwegnahme des Ereignisses gestaltet sein, beispielweise mit dem Gastmahl in Bethanien. In der Vorhalle der Kirche St. Marien des ehemaligen Damenstifts Niedernburg beispielsweise ist ein um 1200 entstandenes Wandbild mit der

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S. Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. II, Gütersloh 21966, S. 35–48, hier S. 46, Abb. 89, 91; Karl Möller: Abendmahl, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1937, Sp. 28–44, hier Sp. 31–33. S. Elisabeth Lucchesi Palli/Lidwina Hofscholte: Abendmahl, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. I, 1968, Sp. 10–18, hier Sp. 11–14. Beispielsweise in der Bibel von Floreffe, London, The British Library, Add. Ms. 17738, fol. 4r, um 1160; Abb. Walter Cahn: Die Bibel in der Romanik, München 1982, Abb. 155, S. 197. S. a. Palli/Hofscholte (wie Anm. 38), Sp. 14. Abb. Himmelslicht 1998 (wie Anm. 23), S. 143. Abb. ebd., S. 141.

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Salbung in Bethanien erhalten, das wesentliche Bildstrukturen des Abendmahlsbildes übernimmt, etwa die um Christus symmetrisch arrangierten Personen, die dem Betrachter zugewandt an einem rechteckigen Tisch Platz genommen haben. Indem der frontal gezeigte Christus mit seiner Rechten ein Stück Brot wie eine Hostie emporhält, spielt dieses Bild besonders deutlich auf das Abendmahl an – insbesondere auf den Moment des Einsetzens der Eucharistie (Abb. 6).42 Typisch für die meisten biblischen Gastmahldarstellungen ist es, dass Diener für die Tischgesellschaft Speisen oder Getränke auftragen, so auch bei dem oben schon gezeigten Passahmahl des Josias aus der Heisterbacher Bibel. Die Diener in der Heisterbacher Bibel halten jeder einen Stock in der Hand, mit dem sie Truchsessen an fürstlichen oder königlichen Höfen gleichen, die dort für den geord-

Abb. 6: Salbung in Bethanien, Wandbild, um 1200 (Passau, Kloster Niedernburg)

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Foto Marburg: http://www.bildindex.de, zi2660_00. S. Heidrun Stein-Kecks: Bilder im Heiligen Raum, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. II: Romanik, hg. v. Susanne Wittekind, München u.a. 2009, Nr. 91, S. 312–313, dazu Taf. S. 80. Neben dem Gastmahl in Bethanien erfährt auch die Hochzeit zu Kana eine vergleichbare bildhafte Parallelisierung zum Abendmahl, s. Mainzer Evangeliar, Aschaffenburg, HB, Ms. 13, fol. 80v; Abb. Wolter-von dem Knesebeck 2007 (wie Anm. 12), S. 136: Auch hat die Gesellschaft um Christus in der Mitte an einem querrechteckigen, gedeckten Tisch Platz genommen. Mit ausgestreckter rechter Hand deutet Christus über den Tisch hinweg auf den Mann an den Wasserkrügen; zur bildhaften Angleichung der Hochzeit zu Kana an das Abendmahl s. Schiller (wie Anm. 37), Bd. I, S. 171–173, Abb. 474.

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neten Ablauf der Mahlzeremonie sorgen. Vielfach sind bei weltlichen Gastmahldarstellungen Diener mit diesem Werkzeug in der Hand gezeigt. Als ein Beispiel aus der Wandmalerei sei hier das Festmahl aus dem um 1220/1230 entstandenen Iwein-Zyklus im Keller des Hessenhofs in Schmalkalden genannt, wo von rechts kommend zwei Diener jeweils mit einem langen Stock in der Linken und einem Speisengefäß in der Rechten an den Tisch, an dem sich eine höfische Gesellschaft versammelt hat, herantreten.43 Und um ein Beispiel für die wiederholte Aufnahme dieses Motivs im Rahmen von Festmahldarstellungen aus der Buchmalerei anzuführen, soll hier auf die rund 100 Jahre jüngere Trierer Illustrationen zu Kaiser Heinrichs Romfahrt im Landeshauptarchiv Koblenz hingewiesen werden.44 An den Festmahldarstellungen dieser Handschrift wird die hierarchische Stellung des Truchsess augenscheinlich: Er weist die Diener beim Abb. 7: Kaiserchronik, Hochzeitsmahl Verteilen der Speisen und Getränke mit dem Stock- Heinrichs V. mit Mathilde, Würzburg(?), zeigen an.45 Die Illustrationen der Romfahrt sind 1116/1117 (Cambridge, Corpus Christi zudem beredtes Beispiel für den geregelten Ablauf College, Ms. 373, fol. 95v) höfischer Festmahle, versteht sich die Handschrift doch als Chronik historisch verbürgter Ereignisse. Als ein solches dient nun auch das Bild des Hochzeitsmahls Heinrichs V. mit Mathilde von England, das innerhalb einer 1116/1117 vermutlich in Würzburg entstandenen Kaiserchronik illustriert wurde (Abb. 7).46 Das Bildschema wiederholt sich abermals, nur das Personal wird ausgetauscht: Hier ist es nun das königliche Brautpaar, das, flankiert von zwei Klerikern, an einem reich gedeckten Tisch sitzt, während von der dem Betrachter zugewandten Tischseite zwei

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Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek; Foto: Ursula von Loewenstein; Aufnahme-Nr. ZI München 3.580/85; (color); Aufnahme-Datum: um 1944.09/1944.10; Gesamtansicht vom Bogenfeld der nördlichen Stirnwand Foto Marburg: http://www.bildindex.de, zi3580_0085a. S. Christoph Winterer: Kunsthistorische Einordnung, in: Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrichs VII. in der Darstellung Erzbischof Balduins von Trier, hg. v. Michel Margue/Michel Pauly/Wolfgang Schmid, Trier 2009, S. 23–32. Koblenz, Landeshauptarchiv, I C I, fol. 8r; Abb. ebd., S. 49; s. a. Michel Margue: Krieg und höfische Welt in Balduins Bilderchronik, in: Ebd., S. 123–137, bes. „Das Festmahl“, S. 125–129. Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 373, fol. 95v; s. Ursula Nilgen: Anonyme Kaiserchronik für Heinrich V., in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235, Ausstellungskatalog (Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 1995), hg. v. Jochen Luckhardt/Franz Niehoff, Bd. I, München 1995, D 96, S. 299f.

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Diener, davon einer mit besagtem Zeremoniestock in der Hand, weitere Speisen auftragen. Einzelne Handlungsabläufe des höfischen Festmahlzeremoniells sind nahezu standardisiert auf biblische Gastmahldarstellungen übertragen worden, um auch hier deren Besonderheit und wohl auch die gehobene Stellung des gezeigten Gastgebers hervorzuheben. Das gezeigte Passahmahl des Josias aus der Heisterbacher Bibel ist dabei ein eher seltenes Bildthema; häufig sind aber gerade solche Mahlszenen in höfischer Manier gestaltet, an denen alttestamentliche Könige beteiligt sind.47 Vor dem Hintergrund der verbreiteten ikonographischen Varianten zur Darstellung des Abendmahls und von höfischen Festmählern wird die Besonderheit des Babenhausener Abendmahlsbildes offensichtlich. Mit der Abendmahl-Ikonographie stimmt es bezüglich der um Christus arrangierten Tischgesellschaft überein. Aber schon die einzelnen Gesten der Figuren im Abb. 8: Hildegard-Gebetbuch, Abendmahl, Trier, Zentrum weichen vom Gewohnten ab und 1170-1180 (München, Bayerische Staatsbiblioliefern eine spezifische auch zeitlose Interthek, Clm 935, fol. 50v) pretationsebene. Christus reicht Judas nicht bloß einen Bissen und gibt damit entsprechend der Schilderung im Johannesevangelium den Hinweis auf den Verräter.48 Unverkennbar empfängt Judas von Christus die Hostie, also das christliche Sakrament. Diese Akzentverschiebung von der Verratsankündigung zur Sakramentspende konnte Elisabeth Klemm bereits für das wohl in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts in Trier entstandene Hildegard-Gebetbuch aufzeigen (Abb. 8).49

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So das oben genannte Hochzeitsmahl von Michol und David aus dem David-Zyklus in der Bamberger Petrus-Lombardus-Handschrift; s. Saurma-Jeltsch 1999 (wie Anm. 2), Abb. 30; s. a. Davids Festmahl für Abner (2 Sam 3, 20–21), New York, The Pierpont Morgan Library, Ms. M. 638, fol. 37v; Abb. Die Kreuzritterbibel. Die Bilderbibel Ludwigs des Heiligen. Pierpont Morgan Library, New York, MS M. 638, Faksimile, Luzern 1999. Saurma-Jeltsch 1999 (wie Anm. 2), S. 131, verweist im Zusammenhang mit der Bibel für Ludwig den Heiligen auf die Möglichkeit der Inszenierung einer mythologischen Genealogie durch Höfisierung alttestamentlicher Bildthemen. Joh 13, 26. Hildegard-Gebetbuch, München, BSB, Clm 935, fol. 50v; s. Faksimile-Ausgabe des Codex Latinus Monacensis 935 der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden 1982; Elisabeth Klemm: Der Bil-

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In diesem Bild haben wir somit für unser Wandmalereifragment eine ikonographische Vorstufe aus dem weiteren mittelrheinischen Entstehungsgebiet. Folgt man der Blickrichtung des Judas entlang der reichenden Hand Christi, gelangt man zu Johannes, dessen Armhaltung, wie oben bereits beschrieben, nicht alleine als Schlafgeste zu deuten ist, sondern durch das extreme Kreuzen der Unterarme an eine Demutsgeste erinnert. Auf der so begonnenen diagonalen Achse wird der Blick anschließend zu jenem Apostel geführt, der eine Trauergeste ausführt. Für das Hildegard-Gebetbuch konnte Elisabeth Klemm darlegen, dass das Abendmahl hier im Sinne eines Opfer- und Versöhnungsmahls verstanden wird.50 Die Abfolge der Gesten in unserem Wandmalereifragment legt ebenfalls diese Deutung nahe: der über den Opfertod trauernde Apostel, der schlafende und gleichzeitig demütige Johannes und in der Folge das zeitlos dem religiösen Betrachter anheim gegebene Abendmahlsakrament. In entgegengesetzter Richtung zu dieser diagonalen Bildachse liegt ostentativ der Schlüssel Petri, der in der eigentlichen Abendmahlszene sonst fast nie zu finden ist, da dieses Attribut den Apostel gewöhnlich als Heiligen und Begründer des Papsttums und somit in seiner überzeitlichen Funktion darstellt.51 Die Bildachse führt über die Schale mit dem Fisch, der zwar zu den häufig gezeigten Speisen bei Abendmahlsdarstellungen gehört, hier aber durchaus auch auf Petrus als den Menschenfischer hinweisen könnte. Und zu guter Letzt stehen am rechten unteren Bildrand die beiden Diener, von denen der vordere ein Getränk ausschenkt, das im eucharistischen Kontext des Abendmahls als Wein zu deuten ist. III. Schlussfolgerungen Kein weiteres Abendmahlsbild ist uns bekannt, in dem Diener an der Tafel Christi und seiner Apostel gezeigt werden.52 Auch hiermit scheint das Wandbild auf die historische Perspektive des mittelalterlichen Betrachters gehoben: Ihm wird die vertraute Abendmahlzeremonie, in deren Verlauf der Wein von einem Kleriker gereicht wird, vor Augen geführt. Dass in der Sakramentshandlung Christus, sein Leib, sein Blut, gegenwärtig ist, davon zeugt seine Präsenz im Zentrum des Bildes. Sie wird unterstrichen durch die Ges-

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derzyklus im Hildegard Gebetbuch, in: Kommentarband zur Faksimileausgabe, mit Beiträgen von Gerard Achten u.a., Wiesbaden 1987, S. 71–289, Abb. S. 290–356, hier S. 207–211; zur Datierung und kunsthistorischen Einordnung der Handschrift s. ebd., S. 279, 288; weiters Dies.: Das sogenannte Gebetbuch der Hildegard von Bingen, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, LXXIV, 1978, S. 28–78. Klemm 1987 (wie Anm. 49), S. 211, berücksichtigt hier die neben dem Bild auf der folgenden Rectoseite stehende Textstelle mit dem Hinweis „ibi recepit remissionem peccatorum.“ S. Reichenau, Niederzell, Stiftskirche St. Peter und Paul, Foto Marburg: http://www.bildindex.de, fmlac 9025_15; auch dieses Abendmahlsbild zeigt Petrus mit einem Schlüssel, wodurch hier aber vor allem eine Beziehung zum Patrozinium der Kirche hergestellt ist. Erst bei den genrehaften Darstellungen der frühen Neuzeit treten Diener oder Wirte in Erscheinung; s. Möller 1937 (wie Anm. 37), Sp. 34, Abb. 12: Abendmahl, Jörg Ratgeb, 1514.

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ten Petri und die ebenfalls auf Christus gerichteten Hände des fast bildsymmetrisch angeordneten, zur Linken Christi sitzenden Apostels. Jenseits der sakramentalen Ausdeutung des Abendmahlsbildes und der Hinweise auf das in der Messe vollzogene Ritual erfährt das Bild aber noch eine weitere Anbindung an die Lebenswelt des mittelalterlichen Betrachters. Es ist ganz offensichtlich kein Geistlicher, der hier Wein ausschenkt. Dieser ist vielmehr ebenso wie sein Begleiter mit dem Stock in der Hand den Dienern und Speisemeistern gleichzusetzen, die wir, wie dargelegt, aus Darstellungen höfischer Festmahle kennen. Folglich hat im Babenhausener Abendmahlsbild Christus selbst, einem Fürsten gleich, an der Tafel eines höfischen Festmahls Platz genommen, und die höfische Gesellschaft nimmt umgekehrt teil an der Feier der Eucharistie. Eine derart außergewöhnliche höfisch-repräsentative Überformung der geläufigen Abendmahl-Ikonographie, eigentlich sogar der Eucharistiefeier, wirft Fragen bezüglich des Entstehungsumfeldes und des historischen Kontextes auf. Der Opfergang der Gläubigen, bei dem in frühchristlicher Zeit die Gläubigen die für die Eucharistiefeier notwendigen Gaben, Brot und Wein, auf dem Altar darbrachten53, sind in abgewandelter Form noch im 13. Jahrhundert im römischen Pontifikalgottesdienst belegt. Die Übertragung der Gaben der Gläubigen auf den Altar wurde hier von Subdiakonen übernommen, wobei insbesondere die Weingabe mit speziellen Kännchen in gesonderte Kelche und Gefäße verteilt wurde.54 Der Ritus der Brot- und Weindarbringung durch Laien wurde überdies auch bei außerordentlichen Anlässen praktiziert, etwa Sterbegottesdiensten, Hochzeiten55 und bei der Kaiserkrönung noch im 11. und 12. Jahrhundert.56 Hatten die Bildgestalter einen solchen Anlass bei der Inszenierung des Dieners, der so auffällig offenbar den für die Messe benötigten Wein ausschenkt, vor Augen? Sollte ein Dokument für die Teilnahme des Auftraggebers am Geschehen einer außerordentlichen Messe, einem spezifischen historischen Ereignis geschaffen werden? Oder sollte mit den Figuren in zeitgenössischem Gewand, die aus der höfischen Umgebung stammen, der Betrachter und damit der Gläubige selbst ins Bild aufgenommen werden, um ihm auf diese Weise einen Zutritt und unmittelbare Teilhabe am Heilsgeschehen zu gewähren und somit sogar dessen Gottwohlgefälligkeit zu signalisieren?57 Möglicherweise ist das Bildfeld aber auch auf eine Mehrdeutigkeit angelegt, die, zumal der übrige Zyklus verloren ist, letztlich Fragen offen lässt. Dennoch ergeben sich aus einigen historischen Daten zum Entstehungsumfeld mögliche Hinweise auf die Bildabsicht.

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Josef Andreas Jungmann: Missarum Sollemnia. Eine Genetische Erklärung der Römischen Messe, Bd. II: Opfermesse, 5., verb. Aufl., Freiburg 1962, Opfergang der Gläubigen, S. 1–34, S. 1–9. S. ebd., S. 10f. S. ebd., S. 30. S. ebd., S. 16f. Büttner behandelt Bilder mit Darstellungen des Heilsplans, der Verehrung Gottes u.a. als Motive der pietas und gibt Beispiele für die bildliche Aufnahme von Gläubigen in Darstellungen des biblischen Geschehens, etwa die Verehrung Christi durch Maria Magdalena bei der Fußwaschung im Haus des

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In der Zeit, in der das Abendmahlsbild in Babenhausen – kunsthistorischen Erwägungen zufolge – entstanden sein muss, konnten Reinhard I. von Hanau und nach ihm sein Sohn Ulrich I. (1255/1260–1305) sowohl ihren Herrschaftsbereich im mittelrheinischen Raum ausweiten als auch ihre gesellschaftliche Stellung festigen und auch politischen Einfluss ausüben.58 Gegenüber den mächtigen Reichsfürsten und deren Hegemonialbestrebungen mussten sich die kleineren, sehr wohl aufstrebenden Territorialherren, zu denen die Hanauer zählten, fortwährend behaupten. Probates Mittel war hier demonstrative Königsnähe und Königstreue, auf die sich Reinhard I. offenbar in besonderem Maße verstand. Im Jahr 1260 begleitete er seinen Cousin Werner von Epstein zu dessen Konsekration ins Amt des Erzbischofs von Mainz nach Rom. Rudolf von Habsburg gab ihnen für den Weg von Straßburg bis zu den Alpen Geleit.59 An den Vorverhandlungen der rheinischen Kurfürsten für die Wahl Rudolfs von Habsburg zum König ist Reinhard I. im Gefolge des Mainzer Erzbischofs Werner beteiligt. Die Krönung Rudolfs erfolgte am 24. Oktober 1273; am 25. Oktober, dem Tag, an dem das Krönungsmahl stattfand, stellt Rudolf eine Urkunde für Reinhards Frau Adelheid und deren Kinder aus, mit der diese für adelig und frei erklärt und von den Verpflichtungen der Ministerialität enthoben wurden.60 Auch in den folgenden Jahrzehnten orientierten sich die Hanauer am Königtum, selbst um den Preis, dass sich damit ihr Verhältnis zu den Mainzer Erzbischöfen verschlechterte.61 In diesen Zeitraum, nämlich ins Jahr 1295, fällt im Übrigen auch die Verleihung der Stadtrechte an Babenhausen durch den König. An diesen wenigen, schlaglichtartigen Notizen zu den Aktivitäten der Hanauer Adelsfamilie, in deren Besitz das Amt Babenhausen durch die Ehefrau Reinhards I., Adelheid von Münzenberg-Hagen, zunächst als Heiratsgut und schließlich dauerhaft als Erbe gelangt war, lässt sich der Anspruch der Familie, ihr gesellschaftlicher Aufstieg und das Streben nach Nobilitierung erkennen. Dieser Anspruch scheint im Abendmahlsbild in Babenhausen, das einst vermutlich Teil eines Passionszyklus der Burgkapelle gewesen ist, in der Verbindung aus Teilhabe am Sakrament und höfischer Lebenshaltung zum Ausdruck gebracht.

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Simon in Bethanien; Frank O. Büttner: Imitatio pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle der Verähnlichung, Berlin 1983, S. 136–142. S. Schwind 1978 (wie Anm. 17), S. 24–27. S. ebd., S. 24; Ernst J. Zimmermann: Hanau Stadt und Land. Kulturgeschichte und Chronik einer fränkisch-wetterauischen Stadt und ehemaligen Grafschaft mit besonderer Berücksichtigung der älteren Zeit, Hanau 1903, S. 87. S. Schwind 1978 (wie Anm. 17), S. 26; s. a. Zimmermann 1903 (wie Anm. 59), S. 87. S. ebd., S. 27.

Goltzius, Honor, and Gold Larry Silver

This essay discusses norms, what Ernst Gombrich called “norms and forms”, specifically those assumptions about artists and art-making emanating from Renaissance Italy. According to the emerging Renaissance art theory, the artist enjoyed elevated status as a pictor doctus, making him the practitioner of a sister art to the traditional medieval liberal arts. As a potential creative genius, the artist’s claim to elevated social status meant that, like a nobleman, he did not care about riches as his reward.1 His training and his intellectual study demanded the space of a “studio” for individual contemplation and for a shared academic ideal of picture-making, like the studioli that became standard retreats for sixteenth-century nobles from Florence to Prague.2 A vivid instance of this academic art environment and the learned art that it fostered can be seen in the representation, designed by the Bruges expatriate to Florence, Stradanus (Jan van der Straet, 1523–1605), for an engraving made by Cornelis Cort: The Practice of the Visual Arts (1578; fig. 1).3 It shows exemplary artistic practices, promoted in 1

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Out of a vast literature, a good introduction to the separation of art from craft remains Anthony Blunt: Artistic Theory in Italy 1450–1600, Oxford 31975, p. 48–57; more recently, Francis AmesLewis: The Intellectual Life of the Early Renaissance Artist, New Haven, CT 2000, esp. p. 17– 87, for artistic training and social status. A good focus for issues in this essay is provided by the discussion of art and nobility around the training of artists and their work in the studio: Children of Mercury: The Education of Artists in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, exhibition catalogue (Providence, David Winton Bell Gallery, 1984), ed. Jeffrey Muller, Providence, RI 1984. One of the best known cases is the aspiration of Diego Velázquez to acquire noble title and membership in the Order of Santiago; see Jonathan Brown: Images and Ideas in Seventeenth-Century Spanish Painting, Princeton, NJ 1978, p. 106–109; Mary Crawford Volk: On Velázquez and the Liberal Arts, in: Art Bulletin, LVIII, 1978, p. 69–86. A more modest example in Genoa is the inverse career track of a Genoese nobleman-painter, Giovanni Battista Paggi; Peter Lukehart: Delineating the Genoese Studio: ‘Giovani accartati’ or ‘sotto padre’?, in: The Artist’s Workshop (Studies in the History of Art, 38), ed. Peter Lukehart, Washington, DC 1993, p. 37–57. More widely see, Martin Warnke: The Court Artist, trans. David McLintock, [orig. ed. Cologne 1985] Cambridge 1993, esp. p. 111–174 (Velázquez, p. 160f.; Paggi, p. 159). Wolfgang Liebenwein: Studiolo: Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600, Berlin 1977; Inventions of the Studio, Renaissance to Romanticism, ed. Michael Cole/Mary Pardo, Chapel Hill, NC 2005, esp. p. 1–31. Cornelis Cort. Accomplished Plate-Cutter from Hoorn in Holland, exhibition catalogue (Rotterdam, Museum Boymans Van Beuningen), ed. Manfred Sellink, Rotterdam 1994, p. 200–205, no. 69; Id.: Stradanus: Court Artist of the Medici, Turnhout 2008; Cynthia Roman: Academic Ideals of Art Education, in: Children of Mercury 1984 (see footnote 1), p. 88–91, fig. 69. The original Stradanus drawing, dated 1573 is in London, British Museum, Sloan Coll. 5214–2; The Print in Italy 1550– 1620, exhibition catalogue (London, The British Museum, 2001), ed. Michael Bury, London 2001, p. 18–21, nos. 3f.

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Florence at the newly established Accademia del Disegno, founded by Grand Duke Cosimo de’ Medici in 1563, and based upon existing norms, specifically the authority of antique Roman forms and subjects. The inscription on the print offers a dedication as well as a characterization of these activities as “noble arts.” With young apprentices arrayed across the foreground, the more important large-scale projects, dedicated to classical subjects, unfold above at the hands of the senior artists. One paints a monumental mural of a Roman battle scene, another carves a life-sized sculpture of the goddess Minerva, with the river god Tiber at her feet alongside Romulus and Remus. Smaller, presumably bronze statuary for visual study stands below in the form of both a rearing horse and a female nude/ Fig. 1: Cornelis Cort after Johannes Stradanus, Practice of Venus. Careful study of anatothe Visual Arts, 1578, engraving (New York, Metropolitan my is aided by both a full skelMuseum, Harris Brisbane Dick Fund, 53.600.509) eton and an actual cadaver or ecorchée, a figure type that also was devised in Florence in the late sixteenth century by a painter, Lodovico Cigoli.4 Younger artists are busy drawing, since design (disegno in Vasari’s curriculum) remains the foundation of all other arts.5 In their midst in the lower right corner, a professional engraver wields a burin to convert a drawing design into an 4

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I am grateful to Lisa Bourla, whose dissertation-in-progress on Cigoli, includes an authoritative chapter on the artist’s contribution to the development of the ecorchée. Patricia Rubin: Giorgio Vasari. Art and History, New Haven, CT 1995, p. 241–244: “Disegno is that aspect of artistic skill in which theory and practice combine, hand and intellect meet.” Also Karen Barzman: Perception, Knowledge, and the Theory of ‘Disegno’ in Sixteenth-Century Florence, in: From Studio to Studiolo. Florentine draftsmanship under the first Medici grand dukes, exhibition catalogue (Oberlin, OH, Allen Memorial Art Museum, 1991, ed. Larry J. Feinberg, Oberlin 1991, p. 37–48.

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engraving, a collaboration, labeled “Incisoria”, just like that of Cornelis Cort with Johannes Stradanus, those two Flemish expatriates now active in Italy. The Stradanus/Cort print shows the well established habitus that underpinned normative visual art in Italy after the mid-sixteenth century, and it clearly relegates its own medium of printmaking to a minor, corner role at the margin of this emerging training program in the art academy.6 Northern artists also absorbed these Italian values at the same moment, as epitomized by the painted figural decoration on the exterior of the house of Antwerp’s leading practitioner of Italianate art, Frans Floris (1519/20–1570).7 Built in 1562, the second-storey allegories painted on the house’s façade comprise a sequence that conveys the same training process as well as the defined hierarchy of the visual arts.8 The original painted program is now lost, but is preserved in a pair of copies: a drawing of the entire façade (1696) by Jan Van Croes as well as a suite of engravings after the eight figures (1576) by the anonymous printmaker, Master TG. According to the reconstruction, Floris showed a sequence of single figures in niches, alternating by gender and identified by inscriptions, reproduced in the prints. From the left edge, in sequence: Diligentia (fig. 2) and Usus (Practice) frame laurel-crowned Poesia

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Fig. 2: Monogrammist TG after Frans Floris, Diligentia, 1576, engraving (Vienna, Albertina)

Charles Dempsey: Some Observations on the Education of Artists in Florence and Bologna during the Later Sixteenth Century, in: Art Bulletin, LXII, 1980, p. 552–569. The basic monograph remains Carl van de Velde: Frans Floris. Leven en werken, Brussels 1975, esp. p. 34–38, 307–310, plates 248–255, 328 for the house facade. Jan van Croes’s drawing of the façade appears in the manuscript of the Annales Antverpienses by Daniel van Papenbroeck (Brussels, Royal Library, Ms 7921 B, fol. 40v–41r), presumably as the basis of a projected but unexecuted illustration. Carl van de Velde: The Painted Decoration of Floris’s House, in: Netherlandish Mannerism, ed. Görel Cavalli-Björkman, Stockholm 1985, p. 127–134; Zirka Filipczak: Picturing Art in Antwerp 1550–1700, Princeton, NJ 1985, p. 35–39; Catherine King: ‘Artes Liberales’ and the Mural Decoration on the House of Frans Floris, Antwerp, c. 1565, in:

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Fig. 3: Monogrammist TG after Frans Floris, Humanae Societati Necessaria, 1576, engraving (Vienna, Albertina)

with book and scroll; on the right, two females, with Industria at the far right, followed by Experientia, give way to male Labor, and a female Architectura, with attributes of compass and square, complements the figure of Poetry opposite. However, Architecture should be construed as a sister art rather than as a principal accomplishment of a painter, even though Cornelis Floris, brother of the painter, was a celebrated architect whose works included designs for the renowned Antwerp City Hall.9

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Zeitschrift für Kunstgeschichte, LII, 1989, p. 239–256; Nina Serebrennikov: ‘Dwelck den Mensche, aldermeest tot Consten verwect’. The Artist’s Perspective, in: Rhetoric-Rhétoriqueurs-Rederijkers, ed. Jelle Koopmans et al., Amsterdam 1995, p. 240–244. Cornelis Floris 1514–1575, ed. Antoinette Huysmans et al., Antwerp 1996, esp. p. 115–120; Holm Bevers: Das Rathaus von Antwerpen (1561–1565). Architektur und Figurenprogramm, Hildesheim 1985.

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Above Floris’s doorway on the asymmetrical façade a group composition gathers the principal art activities into a more complex allegory, also preserved in an engraving by Master TG (fig. 3), but with only a generic inscription in praise of the arts in general, Humanae Societati Necessaria. In opposite corners sit the two figural arts, Pictura and Sculptura, busy working at their creative tasks. Sculptura sits with mallet and chisels at her feet, as she works on a recumbent nude figure.10 In the engraving Pictura has been split into two figures; the first, also crowned with laurel, sits at an easel and assists a second figure, a woman artist with palette and brushes in her hand, who is busy painting. Her subject, a frontal nude female figure, stands in strong contrapposto. Zirka Filipczak suggests that the laurelled figure reprises Poetry, according to the Horatian doctrine ut pictura poesis, even though Poetry was not itself strictly part of the canonical medieval seven liberal arts.11 Several discrepancies distinguish the van Croes drawing from the TG engraving for determining the rest of the main allegory, including the sexes and identities of accessory figures, but they do seem to suggest the remaining Liberal Arts, usually depicted visually as both sexes. Flanking figures on clouds hover above; one of them, a youthful male holding bow and arrows, clearly shows the god Apollo, supervisor of the nine muses and literary arts. The other flying figure, a winged female of uncertain identity, points heavenward; she is possibly Minerva, goddess of wisdom. Both drawing and engraving are consistent in presenting a larger third figure in the center. Variously interpreted, she sits elevated atop a sphere. On her head a strange crown seems to encompass buildings around an egg-like dome, and she holds in her hands a large device for measuring. These attributes lead Carl van de Velde to construe her as Architecture within the unity of the Arts, despite the presence of that allegory elsewhere in a separate niche of her own on the façade. However, the importance of geometry and measure in her accessories suggests to other scholars that this figure might more appropriately be understood as Theoria, the necessary learning for true practice of the visual arts.12 Her elevated status and central placement suggest her encompassing supervision of both Painting and Sculpture. Thus, although several details remain unclear, Frans Floris clearly used the decoration of his own house façade to proclaim his personal adoption, and his proud, public allegiance

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During a lawsuit between masons and sculptors in 1595 over whether the sculptors should be enlisted in the masons’ guild, the dispute was played out about whether this activity constituted a mechanical art or a “liberal art”, const. In the course of their debate about identity, the sculptors, including the painter’s nephew, Cornelis III, cited Frans Floris’s inclusion of Sculptura as companion to Pictura among the liberal arts; see Filipczak 1985 (see footnote 8), p. 16f., 36; van de Velde 1985 (see footnote 8), p. 130; Id. 1975 (see footnote 7), p. 487f., documents p. 98f. Ernst Robert Curtius: European Literature and the Latin Middle Ages, trans. Willard Trask, New York 1953, p. 36–42; Emile Mâle: The Gothic Image. Religious Art in France of the Thirteenth Century, trans. Dora Nussey, New York 1958, p. 75–94. A similar conclusion, Geometria, was reached earlier by Jochen Becker: Zur niederländischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts: Lucas de Heere, in: Simiolus, VI, 1972/73, p. 125–127; followed by Filipczak 1985 (see footnote 8), p. 38; Serebrennikov 1995 (see footnote 8), p. 244.

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to the forms, subjects, and theory – in short the norms – of art-making as developed in Renaissance Italy. Indeed, this imagery follows rhetorical prescriptions to combine Nature, Art (or Education), and Practice, as formulated by Aristotle and by the triad of Cicero in De Oratore: Art is seen as the product that combines Genius (Ingenium) with practical Experience (Usus), and Diligence is praised as the virtue that encompasses all others.13 According to classical theories of rhetoric, newly applied to Renaissance painting, creativity arose from three different sources: Natura (inborn talent), Ars (the science or learning needed for pictorial art), and Usus (or Exercitio; practice and training). As Master TG records the inscription below the figure of Usus on the façade of Floris’s house, this learned art combines theory with practice, “Non cedit Arti Usus” (Practice yields nothing to Theory). Support for this reconstruction of the Renaissance artistic habitus can be found in an early print series by Hendrik Goltzius (1558–1617) of Haarlem, a professional engraver and designer for prints, who turned print publisher in his own right in 1582, after working for publisher Philips Galle of Antwerp. One of Goltzius’s assiduous youthful efforts at the very outset of his career as an independent publisher, a cycle of four allegorical prints from 1582, presents a related comFig. 4: Hendrik Goltzius, Art and Practice from Fortuna plex theme about art-making, The Series, 1582, engraving. (London, British Museum)

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Filipczak 1985 (see footnote 8), p. 38f.; Doris Krystof: Werben für die Kunst. Bildliche Kunsttheorie und das Rhetorische in den Kupferstichen von Hendrick Goltzius, Hildesheim 1997, p. 30f.; also Jan A. Emmens: Natuur, Onderwijzing en Oefening. Bij een drieluk van Gerrit Dou, in: Id.: Kunsthistorische opstellen, vol. II, Amsterdam 1981, p. 5–22, esp. 12f.; also Id.: Rembrandt en de regels van de Kunst, Utrecht 1969, p. 37, 52, 138–144. Aristotle declares, “three things are needed to achieve learning: nature, teaching, and practice, but all will be fruitless unless practice follows nature and teaching.”

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Rewards of Labor, Industry, Practice and Art.14 Each engraving in the series pairs two full-length, intertwined, allegorical figures to produce a pictorial manifesto intended to ennoble the profession of artist for a Dutch audience. In the second engraving of the Goltzius series (fig. 4) an elegant pair of figures work together, intimately; they embody assiduous practice (Usus), guided by Art (Ars) itself, the embodiment of knowledge and training. In this work the pictorial profession is separated off from crafts and guild associations, as proclaimed by Karel van Mander and by Italian theorists, who declare that works of noble arts are products of learning as well as practice. In Goltzius’s allegory Art appears as a winged female genius, crowned with laurel like one of the nine muses or like Floris’s earlier allegory of Pictura. She, too, perches on Fig. 5: Hendrik Goltzius, Labor and Diligence from a globe, surrounded by instruments of Fortuna Series, 1582, engraving (London, British design, measure, and learning (com- Museum) pass, rule and square, palette, plus books), together with an hourglass as the measure of time. She provides inspiration, directing the well-trained hand of her male allegorical companion, Practice, as he holds a tablet and dangles ink and quills while he puts pen to paper, in another echo of the Floris niche allegory.15 As a basis of his learning, the artist receives instruction from, but also becomes the master of, measure and geometry, in conformity with the Italianate represen-

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Huigen Leeflang/Ger Luijten: Hendrick Goltzius (1558–1617). Drawings, Prints and Paintings, exhibition catalogue (Amsterdam, Rijksmuseum, 2003), Amsterdam 2003, p. 44–46, no. 10; all further references will be to this catalogue; Die Masken der Schönheit. Hendrick Goltzius und das Kunstideal um 1600, exhibition catalogue (Hamburg, Kunsthalle, 2002), ed. Jürgen Müller/Petra Roettig/Andreas Stolzenburg, Hamburg 2002, p. 38–45, nos. 3.1–3.4. On the theme, Krystof 1997 (see footnote 13), esp. p. 36–42. A Goltzius portrait engraving tribute to Galle also dates from 1582; Leeflang/Luijten 2003, p. 15, fig. 6. In addition to the suggestion of religious inspiration by an angel, such as the Prague St. Luke Drawing the Virgin by Jan Gossaert, there are more explicitly secular precedents for this form of inspiration. Noteworthy is Jan van Hemessen’s painted Allegorie of Harmony in Marriage (Mauritshuis, The

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tation atop Floris’s doorway. Theory thus joins with Practice to create great art. Yet the inscription below Goltzius’s print, in both Latin and Dutch, declares, “He who practices the arts diligently and with dedication will gain great acclaim and pure metal (gold).” The mention of financial reward is startling, indeed shocking. The first image in the Goltzius series pairs Labor and Diligence (fig. 5), locked in an erotic embrace. Diligentia holds the same pair of attributes, whip and spur, which represent discipline, as Floris had used for his own niche allegory. At the feet of Labor appear the tools of farm work – spade and threshing flail – as well as of the forge hammer and anvil. As Ilja Veldman observed, only a decade earlier allegories about Labor had already been pioneered in the Fig. 6: Philips Galle after Maarten van Heemskerck, The prints of Floris’s contempoMarriage of Labor and Diligence, from The Reward of Labor and Diligence, 1572, engraving (Dresden, Staatliche rary, Maarten van Heemskerck (1498–1574), in his cycle, enKunstsammlungen) graved by Philips Galle, The Rewards of Labor and Industry (1572). However, those engravings chiefly represented labor as the role of peasants on the land, understood clearly as an image of virtue; a similar set of allegories were continued around 1600 in Antwerp – engravings designed by Marten de Vos.16 Moreover, the union of Labor to Diligence (fig. 6) is construed quite distinctly by Heemskerck, not as an erotic embrace of Italianate nude bodies but rather as the sanctioned and chaste marriage of two fully dressed characters (with the same attributes) before an Old Testament Temple priest (and a witness figure of Hope). And the final print

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Hague), which shows a young musician receiving a lira da braccio from a topless female muselike figure with a laurel wreath; Meesterwerken in het Mauritshuis, exhibition catalogue, ed. Ben Broos, The Hague 1987, p. 194–202, no. 34. Krystof 1997 (see footnote 13), p. 37, fig. 8, adduces a Cornelis Bos engraving (before 1544) of Ingenuity (Solertia), poised between pairs of nudes who are respectively industrious and lazy; also Serebrennikov 1995 (see footnote 8), p. 224f., fig. 3. Ilja Veldman: Images of Diligence and Labor: The Secularization of the Work Ethic, in: Id.: Images for the Eye and Soul: Function and Meaning in Netherlandish Prints (1450–1650), Leiden 2006, p. 171–192.

Goltzius, Honor, and Gold

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of the Heemskerck series declares that Christ in Heaven Rewards Man for his Toil; it shows Labor, accompanied by Charity, kneeling before the risen Christ with the cross. Thus the earlier concept of Labor and Diligence looks forward to the traditional promise of heaven as an ultimate reward for its conscientious, class-based labor. Eternal bliss, not worldly gains. In fact, at the outset of his own printmaking career as a designer around mid-century, in an engraved series, Allegory of the Hope for Gain (1550), Heemskerck had already used Satan himself to criticize the profession of painting in its search for riches.17 The first engraving of the series (fig. 7) shows the Devil with a palette and maulstick in his hand Fig. 7: Maarten van Heemskerck, The Devil Fills the Human as he sits in profile and inscribes Heart with Desire for Riches, Power, and Pleasure, 1550, onto the easel of a human heart all pen design for etching and engraving, Allegory of the Hope the trappings of worldly reward: for Gain (Amsterdam, Rijksmuseum) bags of gold, crowns and scepter (as well as a cardinal’s hat), and a frontal nude woman, shown here not as a Venusian symbol of ideal beauty as in Floris’s painting by Pictura but rather as the embodiment of lust to the male gaze. A generic youthful personification of mankind, dressed in antique garb, stands behind the Devil and gazes at those promised rewards; however, he fails to note that a full-bodied, nude woman, symbolizing Desire, crouches at his feet and binds him with a cord on his left leg. The Dutch inscription on the final print explicitly unpacks the allegory: “The devil fills man’s heart with vain worthless things, thus enabling desire to capture him deceitfully, but the end of the tale brings only sorrow.” In the next print

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Id.: Dirck Volkertsz. Coornhert and Heemskerck’s Allegories, in: Id.: Maarten van Heemskerck and Dutch Humanism of the Sixteenth Century, Amsterdam 1977, p. 82; Id.: Leerrijke reeksen van Maarten van Heemskerck, exhibition catalogue (Haarlem, Frans-Halsmuseum, 1986), Haarlem 1986, p. 22f., no. 3.1. The Amsterdam design shows more of a shield shape than the literal heart shape in Coornhert’s final engraving.

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of this 1550 series, the same man is drawn up a steep cliff by that very cord towards a blindfolded Cupid and bags of money. The inscription declares: “Because man has been captured by desire she draws him along with effort and difficulty to high station, honor, lust, and money.” These worldly trappings are explicitly condemned as the goals of life. Thus for Goltzius at the end of the sixteenth century, the striving of a painter for financial gain would have been condemned either by the Italian norms of the learned artist but equally by the Christian heritage of virtuous labor and heavenly grace as the true reward. Yet for Goltzius in his 1582 print series, these norms are expressly compromised. The third engraving pairs two more nude figures kissing and erotically entwined, but this pair of personifications represents the outcome of artistry as Honor and Wealth. Ilja Veldman notes perceptively how emphatically these later allegories of Goltzius depart from Heemskerck’s traditional notion of labor and its religious reward in the next life: “To promote diligence using wealth and happiness as the bait was a fairly modern approach to take and one that clashed with the medieval ideal of labor as a way of practicing Fig. 8: Hendrik Goltzius, Honor and Opulence from love of one’s fellow men, as propagatFortuna Series, 1582, engraving (London, British ed in traditional theological and social Museum) treatises.”18 Goltzius had claimed in his first image that the intimate embraces of his full-bodied, sexualized, nude figures, who unite (male) work with (female) industry, would result in lofty art. The inscription below the print declares that “When Labor and Diligence join hands, art too is performing the task of Pallas” (i.e. Minerva; the Latin Palladiam curam) or can produce “diverse inventions” (Dutch, diversche Inventie). Goltzius effectively defies the renunciation of riches in the third print in the series. There the next two figures, Honor and Wealth (fig. 8), personify the positive results in Goltzius’s series of this favorable union of Labor and Diligence, as well as his more ex-

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Veldman 2006 (see footnote 16), p. 188, discussing Goltzius’s print series as her final example, p. 188–190.

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plicit collaboration between Art and Practice, whose application is now rewarded with gold. Opulentia holds a goblet full of coins in her hand and wears several bracelets on her wrist; Honor fully complements her wealth with his own trappings of recognition in the form of crown and laurels behind his back. Certainly, honor and gain are seen here not as contradictory, but as united; “Let Wealth and Esteem but join in mutual alliance, and they will bring men the desired peace without strife.” A fourth and final image shows a nude female allegory of Peace (Quies), accompanied on either side by bags of gold and crowns of both gold and laurel. She slumps in rest on the ground beneath a herm, presumably the bust of Terminus, god of boundaries but also especially (as with Erasmus’s personal motto) the marker of the end of life.19 Facing inward in retrospection from her terminal position, Peace still possesses her earthly rewards, though they do not dominate her attention; instead, she rests upon those laurels (though whether in comfort or disquiet seems to depend upon the eye of the beholder). Perhaps we should not be too surprised by these ambitions by young Goltzius in his 1582 engraving series. After all, these works do provide a visual manifesto of what the artist had learned about Renaissance artistic norms – both the doctrine of the pictor doctus and the proper Italianate forms to be used for allegory and elevated subjects. Yet he was also embarking upon a commercial career as a print publisher, a role inherited from his mentor Philips Galle, fellow Haarlem native and later publishing entrepreneur in Antwerp. Goltzius certainly did not shy away from seeking worldly recognition beyond his publishing profits. He had already begun to dedicate prints to noble sponsors early in his output.20 Of course, his prints also displayed their learning and complimented their owners through their appended erudite Latin inscriptions, composed by Franco Estius (until 1593) and Cornelis Schonaeus, rector of the Latin School in Haarlem. Furthermore, even though a printmaker, Goltzius adhered to the hierarchy of the arts as practiced in Italy, which marginalized engraving, as in Stradanaus’s composition. First he gave up making the engravings himself, increasingly delegating that craftsman’s task to trained

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The inscription on this fourth and final print reads, “The spirits, too, of earthborn men are tormented by uneasy longings to be more confident that eternal peace is within their grasp.” This figure has been interpreted ironically as a restless state of mind by Krystof 1997 (see footnote 13), p. 42–50, and she reads the head-in-hand resting pose as a state of melancholy rather than true repose. On Erasmus and Terminus, Images of Erasmus, exhibition catalogue (Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, 2008), ed. Peter van der Coelen, Rotterdam 2008, p. 68, no. 60, with literature. For example, his 1586 series of Roman Heroes (10 sheets) was already dedicated to the Holy Roman Emperor Rudolf II in Prague and his three-sheet Wedding of Cupid and Psyche (1587; after a design by Bartholomeus Spranger, a Prague imperial court artist) was dedicated to baron Wolfgang Rumpf, imperial chamberlain. After 1595 Goltzius received the patent imperial to print his images with an imperial privilege. His celebrated 1593–1594 Master Engravings (6) were dedicated to Duke Wilhelm V of Bavaria and the Passion series (10; 1596–1598) for Carlo Borromeo, archbishop of Milan and noted patron of Jan Brueghel and other Northern artists. Other ambitious prints, such as his Judgment of Midas (1590) for Floris van Schoterbosch, “gentleman”, were addressed to individuals.

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followers: his stepson, Jacob Mathem as well as Jacques de Gheyn II, Jan Muller, and, especially in the late works, Jan Saenredam. Then finally in 1600 he gave up engraving altogether, turning to painting in a career makeover.21 Only after that moment would Goltzius adopt a personal motto (already a suggestion of his claims to patrician status): a pun on his surname, “eer boven golt” (honor above gold). He made several drawings of that motto, the earliest of which dates to 1609 (fig. 9).22 Across an open landscape stand a large pot of gold and several luxurious urns of goldsmith work, the lavish contemporary virtuoso products of German and Netherlandish metalworkers.23 Upright in that base of coins stands the caduceus of Mercury, god of both commerce and eloquence, who acts as the sponsor of the arts, including painting, in print series of the Children of the Planets.24 Indeed, in Goltzius’s own 1596 Mercury (drawing design, Leiden University, Fig. 9: Hendrik Goltzius, Emblem of the Artist (“Eer Prentenkabinet), a painter – elegantly boven Golt”), 1609, pen drawing. (Sacramento, Crocker dressed and clearly both prosperous Gallery, no. 143)

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Leeflang/Luijten 2003 (see footnote 14), p. 265–305; Lawrence Nichols: The Paintings of Hendrick Goltzius (1558–1617) (Ph.D. diss., Columbia University, 1990). Leeflang/Luijten (see footnote 14), p. 26–28, no. 4 (The Hague, Koninklijk Bibliothek, Album amicorum Ernst Brinck), no. 5 (1612; Cambridge, Fogg Art Museum), featuring female nude allegories of Drawing and Diligence, with her attributes, spurs and whip; Emil K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius, Utrecht 1961, p. 200f., 316, no. 197, fig. 428. Goltzius’s own association with silversmiths in the Netherlands is displayed in his own designs for reliefs of the life of St. Martin, patron saint of the Haarlem brewer’s guild, on their chalice of 1604; Leeflang/Luijten (see footnote 14), p. 28f., no. 6. More generally, see Wenzel Jamnitzer und die Nürnberger Goldschmiedekunst 1500–1700, exhibition catalogue (Nuremberg, Germanisches Nationalmuseum, 1985), ed. Gerhard Bott, München 1985; Nürnberger Goldschmiedekunst 1541– 1868, ed. Karin Tebbe et al., 2 vol., Nuremberg 2007; for contemporary Dutch metalwork masters,

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and learned – stands lecturing in the foreground with his easel (showing a female nude half-length, probably Venus) beneath the state of the god; behind him a sculptor on the ground (indicating the lower status or social level of this art) busily carves a classical head.25 Atop the caduceus and turned upwards toward the beams of the sun in heaven hovers the symbol of Honor, a cherubic head with wings, crowned with the laurel of Apollo and the muses and thus making claims to the status of artistry.26 However, because of Mercury’s dual role in promoting commerce as well as eloquence, this image actually seems to present an axial connection along the rod of the caduceus between honor above and gold below in the artist’s own visual motto. In 1611 Goltzius painted pendant, life-sized panels of Mercury and Minerva (The Hague, Mauritshuis; on loan to Frans Hals Museum, Haarlem), the twin patrons of the liberal arts, even fused at times into a single figure, Hermathena (represented in a 1588 engraving by Jacob Matham after Goltzius’s design).27 Rubens notably had featured statues of Mercury and Minerva at his own home, displayed prominently above the arch leading into the courtyard.28 In Goltzius’s painting Mercury even holds a palette and brushes in addition to his customary caduceus, which he wields like a painter’s maulstick. At his feet a cock, his animal attribute, might also attest, as van Mander claims, to his early start

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led by silversmiths of the van Vianen family, Dawn of the Golden Age: Northern Netherlandish Art 1580–1620, exhibition catalogue (Amsterdam, Rijksmuseum, 1993) ed. Ger Luijten/Ariane van Suchtelen, Zwolle 1993, p. 426–456. Ernst van Vianen of Utrecht realized most of the execution of the Haarlem brewers’ guild silver chalice; his brother Paul also worked at the imperial court in Prague after 1603. On the Children of the Planets series, a favorite in German and Netherlandish cycles of the sixteenth century, Dieter Blume: Regenten des Himmels: astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000; “Der Welt Lauf.” Allegorische Graphikserien des Manierismus, exhibition catalogue (Stuttgart, Staatsgalerie, 1997/1998), ed. Hans-Martin Kaulbach/Reinhart Schleier, Ostfildern-Ruit 1997, p. 80–92, nos. 16–18, the latter of which is Goltzius’s own Planetenkinder suite of seven engravings, no. 18.6. The inscription by Schonaeus on Mercury reads: “The charm of my eloquent tongue commends me to the gods, and I teach various arts to unpolished mortals.” Leeflang/Luijten 2003 (see footnote 14), p. 221–223, fig. 79.4. According to Leeflang/Luijten, ibid., p. 26, no. 106, this head of a cherub was expressly characterized by Karel van Mander, Goltzius’s close Haarlem associate, as a symbol of the highest form of honor, celestial honor or virtue that leads to honor. As a result, such an image appears atop the title page of the 1604 van Mander Schilderboek. See Karel van Mander: Den grondt der edel vry schilder-const, ed. Hessel Miedema, Utrecht 1973, p. 316f., 368, 374f. Leeflang/Luiten 2003 (see footnote 14), p. 290–293, no. 106; on the conjoined figure of Hermathena, Krystof 1997 (see footnote 13), p. 33–35; Jürgen Müller/Bertram Kaschek: ‘Diese Gottheiten sind den Gelehrten heilig.’ Hermes und Athena als Leitfiguren nachreformatorischer Kunsttheorie, in: Die Masken der Schönheit 2002 (see footnote 14), p. 27–32, 56–59, nos. 9f.; also Thomas DaCosta Kaufmann: The Eloquent Artist. Towards an Understanding of the Stylistics of Painting at the Court of Rudolf II, in: Leids Kunsthistorisch Jaarboek, I, 1982, p. 119–148, esp. p. 123–130. Jeffrey Muller: The ‘Perseus and Andromeda’ on Rubens’s House, in: Simiolus, XII, 1981/82, p. 131–140.

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for a day of work. Along with an open book at his feet sits a rolled drawing, possibly a Venus at half-length like the image on the easel in the Children of Mercury engraving.29 Behind him an old hag, accompanied by a prattling magpie, represents envy; she is complemented behind Minerva by the bad judge and critic, Midas (already the subject of an Goltzius engraving: the 1590 Judgment of Midas). These figures are the enemies of true art, and taken together, they suggest the prototypical image of the artist defamed and falsely judged: the Calumny of Apelles.30 Minerva sits above her varied attributes of learning and the arts: books, inkwell, and a lute. Both figures have laurel crowns inserted within their famous helmets (his winged, hers topped by Pegasus). While both figures appear before ruins, Minerva’s background explicitly features the Roman Colosseum, suggesting the artist’s awareness and reuse of ancient remnants. At the same time, these lifelike mythic figures suggest studies from the living model, realized in glowing flesh tones on their full-bodied Fig. 10: Hendrik Goltzius, Allegory of Drawing and Diligence, detail, 1612, pen and chalks (Cambridge, Fogg Art Museum, physiques. inv. 1970.109) 29

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The scene is read as a Judgment of Paris with Venus receiving the apple of victory from the outstretched arm of Paris before an envious Juno, according to Eric Jan Sluijter: Venus, Visus and Pictura, in: Id.: Seductress of Sight: Studies in Dutch Art of the Golden Age (Studies in Netherlandish Art and Cultural History, 2), Zwolle 2000, p. 136f. He also reminds us that Mercury is the god who instigated the judging role for Paris in this divine beauty contest. In contrast, Eddy de Jongh: Realisme en schijnrealisme in de Hollandse schilderkunst van de zeventiende eeuw, in: Rembrandt en zijn tijd, exhibition catalogue (Brussels, Paleis voor Schone Kunsten, 1971), ed. Hendrik R. Hoetink/Pieter J. J. van Thiel, Brussels 1971, p. 161–165, reads the scene in the drawing as a Calumny of Apelles, which might be true of the scene implied by the presence of Midas behind Minerva but does not seem to be apparent in the depicted drawing itself. David Cast: The Calumny of Apelles, New Haven, CT 1981; Jean Michel Massing: Du Text à l’image. La Calomnie d’Apelle et son iconographie, Strasbourg 1990.

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All these qualities are reprised in Goltzius’s last word on the subject of artistry: a beautiful presentation drawing in chalks (fig. 10, plate X). Monogrammed and dated 1612, this combination of color with drawing shows the artist’s accomplishments during his painting phase.31 In the foreground, two full-length svelte female nudes occupy the corners. By now their identities have become familiar. On the right sits Diligence with spurs in her right hand and a whip in her left. She turns to gaze at her counterpart, the winged figure of Art, reprising the winged figure from the 1582 engraving. She sits busily drawing at her sketchboard with the other tools of her activity at her feet: a square and compasses of measurement and geometry. Indeed, under the flaming torch of inspiration, held above her head by a winged genius figure, she fuses the activities of that earlier engraving, embodying practice (Usus) to enact art knowledge. She is in the process of realizing a full-length standing female nude, the embodiment of ideal beauty. Notably, the Fogg drawing features in its center and top portion the emblem of the artist, which has been incorporated into the background to sit atop a table behind the main figures. Along with a continuing presence of money bags and gold bracelets, an even larger array of luxury metalwork flanks the tallest central vessel, whose exquisite artistry, well captured in Goltzius’s delicate chalk delineation, transmutes the material richness of its precious metals into an artwork in its own right, precisely the kind that graced the burgeoning contemporary collections, then assembled by nobles into Kunstkammern.32 In turn that central goldsmith work bears both the caduceus and the surmounting winged cherub of Honor from the artist’s personal emblem. That cupid head is now backed and surrounded by beams of sunlight, which resemble a halo. Once more figural allegories convey the importance of that rhetorical triad of Natura, Ars, and Exercitio. Again the promised rewards are anything but disinterested: they include not only honor but also riches, exemplified by the luxury arts. Certainly one can read Goltzius’s allegories as ironic, because so many Renaissance defenders of the arts praise them for that disinterested, yet passionate pursuit of excellence, independent of reward. However, these attractive and intimate figures do not suggest any negative cast as they embody artistic ambition. So Hendrik Goltzius seems now to alter the prevailing Renaissance norms. He advocates on behalf of art for reasons beyond its emerging new tradition, which associates art with the same intellectual pursuits shared with the liberal arts. As both a professional print publisher as well as an artist who aspired to associate with noble patrons, Goltzius clearly sees art as a form of work at-

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Leeflang/Luijten 2003 (see footnote 14), p. 27f., no. 5, accepted by Reznicek 1961 (see footnote 22) in his supplement as no. A439. For Prague, Beket Bukovinsá: The Kunstkammer of Rudolf II: Where it Was and What it Looked Like, in: Rudolf II and Prague. The court and the city, exhibition catalogue (Prague, Pražský Hrad, 1997), ed. Eliska Fuciková, Prague 1997, p. 199–208; more generally, The Origins of Museums. The cabinet of curiosities in sixteenth- and seventeenth-century Europe, ed. Oliver Impey/Arthur MacGregor, Oxford 1985.

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tached to worldly achievement. He is, after all, a publisher for profit, a merchant as well as an artist, even if his goals are also now imbued with the lofty imagery and ambition of Italian art theory. Importantly, Goltzius uses the visual vocabulary of Italy –the forms – to display artistic inspiration, but his personal goals and values – the norms –reshape the ideals of art-making that they usually embody. In microcosm, Goltzius’s own personal motto captures this revision, for that imagery vividly shows the learned symbols of honor and virtue resting firmly upon, not just “above”, the solid, indeed glittering, foundations of worldly gain.

Van Goghs Sinnbild „Ein Paar alte Schuhe“ von 1885, oder: ein Holzweg Heideggers Dietrich Schubert Eine zentrale hermeneutische Frage unseres Faches ist doch – im Sinne der Differenz von Kunstwerk und Wirkung – zwischen der ursprünglichen Absicht bzw. dem Ziel des Künstlers, dessen Intentionen wir zu rekonstruieren suchen, und der späteren ‚Tragweite‘ eines Werkes und seiner geschichtlichen Wirkung zu unterscheiden – die schwanken kann, die keine konstante Größe ist (vgl. auch die schwankende Geltung von Grünewald und Rembrandt), quasi ‚Eigensinn‘ entfalten kann und somit eine geschichtliche Variable wird. Dies wäre auch an Van Goghs Gemälde Ein Paar alte Schuhe zu erweisen.

Bereits 1911 schrieb Bremmer, der Maler van Gogh habe definitiv mit der Tradition und der Vorstellung gebrochen, dass im Stillleben – das bekanntlich in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts reiche Ausformungen erfuhr – bedeutsame Sujets gestaltet werden müssten. Im Schuhe-Bild gab der Maler, so Bremmer, in einem Paar toter Objekte das Gefühl von Leben. Diese Sicht entspricht dem, was 1909 der Kunstphilosoph Georg Simmel in einem wenig beachteten Satz über den Gehalt der van Goghschen Malerei notiert hatte, nämlich dass weitgehend unbewegten Motiven und leblosen Objekten ein Übermaß an Bewegung und Unrast eingeschrieben werde.1 Dies gilt für in der Natur ruhige Felder, welche van Gogh dynamisierte. Alte Schuhe als Sujet jedoch sind nicht nur unbewegt, sie waren auch als Thema für Malerei ganz unüblich, auf der niederen Ebene der Themen das ordinärste. Wer Schuhe gemalt hatte, wird noch zu fragen sein. Hier eingangs eine Marginalie von Carl Neumann, der 1896 meinte2, je unbedeutender, alltäglicher und hässlicher das Sujet, desto größer werde die malerische Aufgabe, diesem „Gegenstand seine künstlerische Seite abzugewinnen.“ Wir fügen hinzu: ihn künstlerisch wertvoll zu realisieren und womöglich symbolisch zu überhöhen. I. Das Gemälde Ein Paar alte Schuhe im Van Gogh-Museum (F. 255)3, das hier neu gesehen und gedeutet werden soll, ist links oben mit „Vincent“ signiert, aber nicht datiert. Die Maße der Leinwand betragen 37,5 × 45,5 cm (Abb. 1, Taf. XIa). Die meisten Autoren, auch De la Faille und Hulsker in ihren Oeuvrekatalogen und Welsh-Ovcharov 1976, setz-

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Georg Simmel: Rodin – mit einer Vorbemerkung zu Meunier (1909), in: Ders.: Philosophische Kultur [1911], Leipzig ²1919, S. 176; s.u. Anm. 75. Carl Neumann: Der Kampf um die neue Kunst, München 1896, S. 223. Jacob B. de la Faille: The Works of Vincent van Gogh [1939], New York 1970, Nr. 255.

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Abb. 1: Vincent van Gogh, Ein Paar alte Schuhe, 1885(?) (Amsterdam, Van Gogh Museum)

ten die Studie nach der Natur, wohl wegen der dominierenden Braunvarianten im Kolorit, ins Jahr 1886, also die erste Zeit in Paris, ohne dies näher zu begründen. Diese Datierung wurde einfach tradiert.4 Doch sehe ich eine stilistische Nähe zum Hafenbild (F. 211, Hulsker 973), das während des dreimonatigen Aufenthaltes im Winter 1885/1886 in Antwerpen mit – so Hulsker – van Goghs „heroischem Kampf gegen Armut und Krankheit“ entstand. Hulsker räumte zwar ein, dass es leicht sei, in den Schuhen ein Symbol für Vincents Reise durch das eigene Leben zu erkennen, ließ die Datierung jedoch in den Pariser Monaten, also neben den Farbstudien mit Heringen und neben den Blumenstillleben mit 4

Henricus P. Bremmer: Van Gogh – Inleidende Beschouwingen, Amsterdam 1911, zit. in: Bogumila Welsh-Ovcharov: Van Gogh in Perspective, Englewood Cliffs, NJ 1974, S. 81f.; John Rewald: PostImpressionism, New York 1956, S. 11f., dt. Ausgabe Von van Gogh zu Gauguin, München/Zürich 1957, S. 11ff.; Carl Nordenfalk: Van Gogh and Literature, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute, X, 1947, S. 132–147, hier S. 136, erwog schon eine Datierung nach Nuenen 1885 oder Antwerpen 1885/1886; Jean Leymarie: Van Gogh, Genf [1968], ²1977, S. 65; Jan Hulsker: The complete Van Gogh [1977], London 1980, Nr. 1124; Matthias Arnold: Van Goghs Stilleben mit Schuhen, in: Weltkunst/München, 1. Mai 1980, S. 1190f., datierte das Bild Ende 1886, also auch nach Paris wie

Van Goghs Sinnbild „Ein Paar alte Schuhe“ von 1885, oder: ein Holzweg Heideggers

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Astern, Kornblumen, Gladiolen, Malven, Rosen und Margariten, ohne den offenen Widerspruch zwischen den koloristischen Interessen und hellen Buntfarben dieser Sujets und dem monochrom-braunen Schuhe-Bild zu bewerten.5 In der Amsterdamer Gedenk-Ausstellung im Jahr 1990 wurde das Gemälde nicht eigens erörtert.6 Das beinahe einfarbige Kolorit, die dynamische Pinselführung, die Malweise alla prima, die Beleuchtungsprinzipien, die Plastizität in einem dunklen, unbestimmten Raum verweisen im stilkritischen Vergleich meines Erachtens in die Zeit des BibelBildes, also des Gemäldes mit der Bibel des Vaters (der Vater van Goghs war im März 1885 gestorAbb. 2: Vincent van Gogh, Stillleben mit aufgeschlagener ben), deren aufgeschlagene Seiten Bibel, Nuenen 1885 (Amsterdam, RMvG) wie ein ‚abstraktes Bild‘ erscheinen (Abb. 2) – also in den Herbst 1885, als van Gogh im holländischen Nuenen eine Reihe von dunklen Stillleben malte. Dieser Malphase ähnelt das Kolorit der Schuhe in auffallender Weise.7 Auch die Studien von Kartoffel-Stillleben im Korb (F. 100, 107 und 116) aus dem Jahr 1885 zeigen genau diese Malweise und vergleichbares Kolorit.

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Bogumila Welsh-Ovcharov: Van Gogh his Paris Period 1886–1888, Utrecht 1976, S. 229; Van Gogh à Paris, hg. v. Françoise Cachin/Bogumila Welsh-Ovcharov, Paris 1988, Nr. 13 Cambridge, Nr.14 Baltimore; Louis van Tilborgh: Van Gogh and English social realism, in: Hard Times – Social Realism in Victorian Art, hg. v. Julian Treuherz, Manchester/London 1987, S. 119–125, Nr. 108; Vincent van Gogh Paintings, Katalog, bearb. v. Evert van Uitert/Louis van Tilborgh/Sjraar van Heugten, Amsterdam 1990, Nr. 19 (die Studie in Baltimore, F. 333, ehem. Père Tanguy Paris bis 1894) mit weiterer Literatur; ferner Matthias Arnold: Van Gogh – Werk und Wirkung, München 1995, S. 245; Tsukasa Kodera, in: The Mythology of Vincent van Gogh, Tokyo/Amsterdam 1993, S. 258–261, datierte das Bild auch 1886. Hulsker 1980 (wie Anm. 4), S. 244f.; Ders.: Lotgenoten – Het leven van Vincent en Theo van Gogh, Weesp 1985, S. 365. Welcher Maler vor ihm sei auf die Idee gekommen, ein paar ausgetretene Schuhe als „onderwerp“ (Gegenstand, Thema) für ein Gemälde zu wählen? Vgl. a. H. R. Graetz: The symbolic language of Vincent van Gogh, New York 1963, S. 45–49. Über die Farbstudien anhand der Blumen mit den drei Komplementär-Kontrasten berichtete Vincent aus Paris dem Maler H. M. Levens im Oktober 1887 in Brief 459a: „in der Farbe das Leben suchen“. Dahinter steht Delacroix’ Begriff der „vivacité.“ S. Paintings 1990 (wie Anm. 4). Im April 2007 habe ich wiederholt am Original in Amsterdam das Kolorit, den Farbauftrag und die Pinselführung studiert. Dazu Griselda Pollock: Vincent van Gogh in zijn Hollandse jaren, Amsterdam 1980.

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Dieses erstaunliche ‚Porträt‘ eines Paars alter ausgetretener Schuhe, eine prononcierte Darstellung, die es derart zuvor in der Malerei nicht (oder nur vereinzelt) gab, beruht vor allem auf einer beinahe monochromen Palette, das heißt der Modulation von Dunkelbraun, Braunrot, hellem Ocker in unterschiedlichen Stufen und etwas Preußisch-Blau. Man denkt an den Brief 394 an den Bruder Theo aus Nuenen von Februar 1885 mit Bezug auf ein Bild von Jules Breton: „Die Form lässt sich wohl am besten mit einem beinahe monochromen Kolorit ausdrücken, dessen Töne sich hauptsächlich in Intensität und Valeur (Dunkelheitsgrad) unterscheiden.“8 Die bildnerische Einheit der alten Schuhe ist, im Sinne dieser Sätze an Theo, wirkungsvoll realisiert worden, so dass eine Bildmacht entstand, welche uns ergreift. Im Übrigen gibt es auch gemeinsame Prinzipien in Kolorit und Farbauftrag zu der 1885 in Nuenen realisierten Komposition der Kartoffelesser, etwa die Hand der rechten Bäuerin, welche die Kaffeekanne hält. Besonders auffallend ist der helle Licht-Schein, ausgeführt in hellem Ocker bis gebrochenem Weiß, den der Maler noch zuletzt hinter die dunklen Schuhe setzte, womit wahrscheinlich die Zäsur zwischen waagerechtem Boden und senkrechter Wand übermalt wurde. So ergibt sich die Wirkung, dass der Betrachter nicht sagen kann, wo sich die Schuhe befinden. Van Gogh erzielte malerisch ein beinahe irreales Licht, auch zwischen den zwei Schuhen und unter dem Absatz des rechten, so dass dieser beinahe zu schweben scheint. Ein ähnliches Licht sehen wir vorn rechts, ebenso auf den Schnürsenkeln (besonders dem linken) und als leichten Glanz auf den Schuhen vorn; alles derart bewusst ausgeführt, um die Kontraste zwischen Dunkel und Hell zu verstärken, das heißt um die Plastizität der ausgetretenen ‚Dinger‘ stärker zur Geltung zu bringen. Wirkungsvoll stehen sie vor uns – diese stummen, toten, von Menschen gefertigten Leder-Dinge, eben höchst suggestiv und lebendig, bewegt vom Leben des einen Menschen, aber jetzt stumm wie brave Tiere, die sich vor einer Lichtaureole erheben. Merkwürdig ornamental zeigen sich die Riemen, der rechte wie ein stilisiertes G, der linke steif wie gefroren. Das Van-Gogh-Museum fertigte von diesem Gemälde eine Radiographie an, die ein Gebäude als ehemalige Komposition zum Vorschein brachte, das nach Meinung von Roland Dorn die Mühle von Gennep (bei Nuenen) sein könnte, die „van Gogh im November 1884 als Motiv entdeckte.“9 Freilich bleibt dabei offen, wann Vincent dies mit dem Schuhepaar übermalte.

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Vincent an Theo, aus Nuenen, Februar 1885, Brief Nr. 394 alter Zählung, in: Fritz Erpel/Eva Schumann: V. v. G. Sämtliche Briefe, Bd. III, Berlin 1965, S. 236; neue Edition und neue Zählung in Han van Crimpen: De brieven van Vincent van Gogh, Bd. III, s’Gravenhage 1990, Nr. 487, S. 1280. Auf diese frühe Passage zur Frage der Form und der Farben nachdrücklich hingewiesen hat schon 1961 Kurt Badt: Die Farbenlehre Van Goghs, Köln 1961, S. 25. Badt zeigte bereits überzeugend, dass van Goghs Malerei die leidenschaftliche Darstellung von individuellem Schicksal war – „Schicksal als die Erschütterung der Existenz selbst […]. Sie wurde zum Grundprinzip seiner Kunst“ (S. 91). Roland Dorn: Zur Malerei Van Goghs 1884–1886, in: Georges-Bloch-Jahrbuch, VII, 2000, S. 173. Ferner Ders.: Als Zeichner unter Malern – Van Gogh in Den Haag 1881–1883, in: Die Haager Schule, Ausstellungskatalog (Mannheim, Kunsthalle, 1987), S. 58–80.

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Seit Martin Heideggers manierierter Auslegung der Schuhe als die einer Bäuerin – „Wie sollen wir erfahren, was das Zeug in Wahrheit ist?“ – sind die Blicke über das Gemälde hinsichtlich des Problems der Wahrheit philosophisch entgrenzt, aber historisch verengt, ja enthistorisiert worden. Heidegger sagte 1935 in seinem Freiburger Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes, später im Band „Holzwege“ von 1950 publiziert: Das Zeugsein des Zeuges besteht in seiner Dienlichkeit […] Sie sind dies umso echter, je weniger die Bäuerin bei der Arbeit an die Schuhe denkt oder sie gar anschaut […] Nach dem Gemälde von Van Gogh können wir nicht einmal feststellen, wo diese Schuhe stehen. Um dieses Paar Bauernschuhe ist nichts, wozu und wohin sie gehören könnten, nur ein unbestimmter Raum. Nicht einmal Erdklumpen […] Ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter. Und dennoch. Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte […] die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend […] Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet […].10

Diese Sätze vermitteln mehr Heideggers Bauern-Kult bzw. seine ideologische Bodenund Bauern-Pseudopoesie11, die der Nazizeit entsprach, in der der Antisemit Heidegger (der er schon vor 1933 war) via NSDAP Karriere machte12, als einer konkret-sachlichen philosophischen Analyse, und jene Sätze sind tatsächlich ein „Holzweg“ – auch wenn Heidegger dieses Wort semantisch anders auflud. Bereits 1935 in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik gab er die ahistorischen Sätze: „Jenes Bild von Van Gogh: ein Paar derbe Bauern-Schuhe, sonst nichts. Das Bild stellt eigentlich nichts dar. Doch was da ist, mit dem ist man sofort allein, als ginge man selbst am späten Herbstabend beim Verschwelen der letzten Kartoffelfeuer mit der Hacke müde vom Felde nach Hause. Was ist da seiend? Die Leinwand? Die Pinselstriche? Die Farbflecke?“13 Solches Fragen zeugt von merkwürdig geringer Einfühlung in ein konkretes Kunstwerk und seine Entstehungsprämissen. Auch Beat Wyss sah die Schuhe van Goghs, ohne zu recherchieren, noch 1996 mit Heidegger unreflektiert als die einer Bäuerin: „Van Goghs Darstellung ermöglicht uns, das Wesen des ‚Zeugs‘ zu erkennen, das wir sonst so gedankenlos verbrauchen“, schrieb Wyss.14 Noch imaginativer gerieten die Einlassungen Hans J. Buderers, die er 1993 in

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Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (zuerst in: Holzwege, Frankfurt a.M. 1950), wieder hg. v. Hans G. Gadamer, Stuttgart 1960, S. 28–30. Ich zitiere nach dieser Ausgabe Gadamers. Dazu erhellend Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit – zur deutschen Ideologie, Frankfurt a.M. 1964, ²1974, S. 48ff. Zu Heidegger in der NS-Zeit s. bes. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, hg. v. Reinhart Kosellek, Stuttgart 1986. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik [Freiburg 1935], Frankfurt a.M. 1953, S. 27; dazu auch jüngst Carlo Bordoni: Heidegger und ein Paar Schuhe, Klagenfurt/Wien 2007, S. 31f., insgesamt ein Überblick über die Debatten. Beat Wyss: Der Wille zur Kunst, Köln 1996, S. 55–58.

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der Festschrift für Peter A. Riedl publizierte, um die „Welteröffnung“ eines Kunstwerkes (bei Heidegger) zu begreifen. Buderer taufte das Gemälde sogar falsch Die Bauernschuhe, obgleich dies weder bei Heidegger noch im Oeuvrekatalog van Goghs steht.15 Und er übersah, dass Heidegger dasjenige Schuhe-Bild im Blick hatte, welches dieser 1930 (bzw. 1931) in Amsterdam geseAbb. 3: Vincent van Gogh, Garbenbindende Bäuerin, schwarze Kreide, hen hatte. Bei Buderer Nuenen 1885 (Otterlo, Kröller-Müller-Museum) mutierte Kunstwissenschaft zum abstrakten Glasperlenspiel. Kritisch kann man feststellen: Es wurde als erstes übersehen, das heißt primär von Heidegger (jedoch nicht später von Derrida), dass die Bäuerinnen/Bauern in van Goghs zwischen 1882 und 1885 entstandenen Darstellungen auf den Feldern in Holzschuhen arbeiten (Abb. 3).16 Wenn die Basis – in dem Falle die Identität des konkreten Sujets des Malerei-Werkes – nicht korrekt bestimmt wurde, können auch die weiteren Deutungen kaum zutreffend sein. Im Anschluss an Heidegger äußerten sich Autoren von Jean Leymarie (1968), Meyer Schapiro (1968) über Derrida (1978) bis Roland Dorn und Carlo Bordoni und stellten natürlich auch die Frage, welches 15

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Hans J. Buderer: Die Welt des Kunstwerks – Heideggers Begriff der „Welteröffnung“ durch das Kunstwerk in Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Begegnungen (Festschrift für Peter A. Riedl zum 60. Geburtstag), Worms 1993, S. 2. Buderer hat den Text von Meyer-Schapiro (wie Anm. 18/19) nicht beachtet oder nicht gekannt. Karlheiz Lüdeking hat den Irrtum Heideggers, dass es sich um Bauernschuhe handeln solle, angesprochen (Ding-Gegenstand-Zeichen, in: Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins: Van Gogh, Malewitsch, Duchamp, hg. v. Hans Matthäus Bachmayer, München 1992, S. 238). Die Bäuerinnen zur Zeit van Goghs trugen überwiegend Holzschuhe. Auch der Grabende, UmdruckLithographie 1882, und selbst der Sämann von 1884 (s. Dorn 1987 [wie Anm. 9], S. 75) tragen Holzschuhe bei der Arbeit und nicht solche Schnürschuhe, wie sie Vincent 1885 mit F. 255 malte. Nur der alte Worn-Out-Mann am Kamin 1882 zeigt ähnliche Schnürschuhe aus Leder. Dies hätte schon Heidegger auffallen müssen bzw. er hätte es sehen sollen, der also bereits am Ursprung falsch sah. Jacques Derrida war hierin genauer, er blickte auch auf die Schuhe der Sämänner von 1881/1882, welche van Gogh nach Millet ausführte (Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 385). Die Sämänner zusammengestellt unter der Rezeption Millets in: Millet + Van Gogh, Aus-

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Schuhe-Bild van Goghs Heidegger im Sinn gehabt hatte und vor allem die Frage, wem diese Schuhe zuzuordnen wären.17 Die Diskussion wurde eigentlich eröffnet und auf sachlichen Boden gestellt durch Meyer Schapiro, der in der 1968 publizierten Festschrift für (den Emigranten) Kurt Goldstein, welcher ihn auf die Stelle bei Heidegger hingewiesen hatte, die Symbolkraft der Schuhe erörterte.18 Als Schapiro bei Heidegger anfragte, erfuhr er, dass der deutschnationale Philosoph eben das Schuhe-Bild in Amsterdam meinte, welches dieser im Jahre 1930 dort im Original in einer Ausstellung gesehen habe.19 Meyer Schapiro lehnte die Identität der Schuhe als Bauernschuhe bzw. die einer holländischen Bäuerin ab, bezog die Schuhe auf den Maler und stellte letztlich fest: Es sind die Schuhe des Künstlers. Dies stützte er mit dem Hinweis auf den retrospektiven Text Natures mortes (1894) von Paul Gauguin. Denn diesem erzählte van Gogh 1888 in Arles nicht nur von den alten Schuhen und seiner voyage en pieds (s.u.)20, sondern er hatte das Gemälde offenbar mit nach Arles genommen, wo es Gauguin sah, was dieser im Text Choses diverses erwähnt. Schapiro resümierte: „It is not clear which of the paintings with a single pair of shoes Gauguin had seen at Arles. He described it as violet in tone in contrast to the yellow walls of the studio. It does not matter. Though written some years later, and with some literary affections, Gauguin’s story confirms the essential fact that for van Gogh the shoes were a piece of his own life.“21

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stellungskatalog (Paris, Musée d’Orsay, 1998), hg. v. Louis van Tilborgh/Marie-Pierre Salé, Paris 1998, S. 90ff.; zum Charakteristischen der arbeitenden Menschen als Teil der modernen Kunst s. hier Anm. 55. „Which painting did Heidegger mean?“ fragte noch 1981 John Walker: Art history versus philosophy – the enigma of the old shoes, in: Van Gogh studies – five critical essays, London 1981, S. 61–71. Walker sprach hinsichtlich Heidegger von metaphysischer Spekulation; s. dazu auch Kodera 1993 (wie Anm. 4), S. 260. Meyer Schapiro: The still life as a personal object – a note on Heidegger and Van Gogh, in: The Reach of Mind – Essays in Memory of Kurt Goldstein, New York 1968, S. 203–209 (wieder in Donald Preziosi: The Art of Art History, Oxford 1998, S. 427–431). Jean Leymarie (wie Anm. 4) hatte im gleichen Jahr 1968 das Bild in Amsterdam auch schon auf Heideggers Kunstwerk-Text bezogen. Meyer Schapiro 1968 (wie Anm. 18), französisch: La nature morte comme objet personnel, in: Macula, Heft 3/4, 1978, S. 7. Heidegger erinnerte sich nicht genau, denn die Van Gogh-Ausstellung im Stedelijk-Museum Amsterdam war im Jahr 1931, Kat. Nr. 22 Oude Rijgschoenen (F. 255), S. 28 mit Abb. im Katalog, Text von W. Steenhoff. Auch dieser Bildtitel von 1931 wäre zu berücksichtigen. In seinem Oeuvrekatalog von 1939/1970 führte De la Faille (wie Anm. 3) das Bild als Les Souliers, Hulsker 1980 (wie Anm. 4), Nr. 1124 als A pair of shoes. Paul Gauguin: Natures mortes, in: Essais d’Art libre, IV, 1894, S. 273–275. Meyer Schapiro erwähnte in seiner Note 9 eine zweite Version der Geschichte durch Gauguins Choses Diverses, auf die ihn Mark Roskill aufmerksam gemacht hatte. Man findet diese in Jean de Rotonchamp: Paul Gauguin 1848–1903, Paris [1906] 21925, S. 53f. René Huyghe: La Clef de Noa-Noa, in: Paul Gauguin, L’ancien Culte Mahorie, Paris 1951, S. 5–11; s. Welsh-Ovcharov 1974 (wie Anm. 4), S. 42f. (s.u. Anm. 50: Dorn 1996). 1994 stellte Schapiro das erneut zur Debatte: Further Notes on Heidegger and Van Gogh, in: Ders.: Theory and Philosophy of Art, New York 1994, S. 143–150. Ders. 1968 (wie Anm. 18) wieder in Preziosi 1998, S. 431. Ich denke auch, dass die Farbangaben

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Später gab Jacques Derrida in „Macula“ (1978) und im Buch „La vérité en peinture“ philosophische Reflexionen hinsichtlich Repräsentanz und (offener) Wahrheit in der Malerei22 und zweifelte daran, dass die richtige ‚Wahrheit‘ am Kunstwerk erkannt werden könne. Und Derrida negierte – letztlich – die Möglichkeit der Zuordnung der Schuhe zu einer bestimmten Person, indem er die Quellentexte Gauguins rhetorisch überspielte. In seiner Restitutions-Absicht hat es den Anschein, als ob er Heidegger verteidigte, und er wies die Schuhe (obgleich der anschauliche Charakter, die Physiognomie dieser Schuhe, doch ganz Persönliches suggeriert23) nicht dem Maler zu, ließ das Fragen nach der kunsthistorischen ‚Wahrheit‘ also offen. Derrida benannte auch nicht den Erd- und Bauernkult Heideggers, der der Nazi-Ideologie entsprach.24 In seiner Replik zu Derrida „Further Notes on Heidegger and Van Gogh“ (1994) stellte Meyer Schapiro die Texte Gauguins auf Englisch vor, gab eine neuerliche Charakterisierung der Schuhe und referierte spätere Randnotizen Heideggers zum Kunstwerk-Text als Zweifel desselben. Jedoch blieb der Philosoph letztlich doch bei seiner alten Konstruktion, die Schuhe einer Menschen-Klasse und keinem Individuum zuzuweisen (‚Bäuerinnen-Schuhe‘). Dagegen kam es Schapiro darauf an, das missverstandene Kunstwerk wieder in seinen Wahrheitsgehalt zu versetzen, – auch eine Art ‚Restitution‘ – in seine ursprüngliche Historizität bzw. seine ‚erste‘ Bedeutungs-Intention, seine ursprüngliche Aussage-Absicht.25

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Gauguins nicht bindend bzw. entscheidend sind, denn im Nachhinein dürfte er unkorrekt erinnern oder sie poetisch verändert haben. Jacques Derrida: Restitutions de la vérité en pointure, in: Macula, Heft 3/4, 1978, S. 11f.; Ders.: La Vérité en Peinture, Paris 1978, S. 291f., deutsche Ausgabe (s. Anm. 16), S. 303f. – Im gleichen Heft der Macula erschien auch Meyer Schapiros Text in französischer Sprache. Anschaulicher Charakter = physiognomischer Charakter, wie Hans Sedlmayr: Kunst und Wahrheit, Reinbek ³1961, S. 107f. und 122f. zeigte (Ursprung und Entstehung des Kunstwerks). Eine große Schwierigkeit liegt heute darin, dass die Fähigkeit „für das Erfassen anschaulicher Charaktere in den meisten Menschen verkümmert ist“, schrieb Sedlmayr zutreffend. „Die Fähigkeiten des abstrakten Denkens […] oder des genießerischen Herausraffens gefallener Einzelheiten wurden auf Kosten der echten ‚Anschauung‘ entwickelt“ (S. 106). Derrida 1992 (wie Anm. 16), S. 357. Da Friedrich Nietzsche „Wahrheit um jeden Preis“, den Willen zur Wahrheit, den Glauben an Wahrheit, ja den metaphysischen Wert der Wahrheit – unter der obersten Instanz ‚GOTT‘ – radikal in Frage gestellt hatte (Genealogie der Moral, 3. Abh., Kap. 24), musste Derrida den traditionellen Willen zur Wahrheit dekonstruieren und konnte folglich Meyer Schapiro nicht zustimmen, d.h. aber er verteidigte damit indirekt Heidegger. Zur Frage der Intentionalität, speziell in der Hermeneutik, d.h. Diltheys Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins, s. Hans G. Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen ²1965, 41975, S. 231 und S. 212. Van Gogh war keinesfalls der wilde Maler, der Planlose, wie immer noch seit Michel Foucault bis Peter Bürger 1992 („wilde Mimesis“) fälschlich gemeint wurde, im Gegenteil: Vincent schrieb, es sei die Pflicht des Malers zu denken und nicht zu träumen (Kritik an Emile Bernards nazarenischen Christus-Bildern); das war seine Devise und sein Wille/Kunstwollen (siehe Brief 615 von November 1889 an Theo), d.h. er verfolgte trotz psychischer Krisen gerade in Saint-Rémy weiterhin klar seine Konzepte und Werk-Zusammenhänge (s. Dietrich Schubert: Van Goghs Gemälde in der

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Der italienische Philosophieprofessor Bordoni insistierte 2007 – mit Heidegger – auf der hermeneutischen Trennung von Objektivierung und Subjektivierung, von Werk und Wirkung (‚Eigensinn‘ eines jeden Betrachters), wollte somit das Kunstwerk von seinem Schöpfer lösen.26 Bordoni kommentierte das so: „Schapiro akzeptiert keine Verallgemeinerung. Als Kunsthistoriker möchte er die historische Wahrheit finden, wiederherstellen.“27 Das trifft zu, denn 1994 schob Schapiro den Text nach, in welchem er mit den kompletten Gauguin-Stellen und Begriffen zu Form-Gestalt und Sinn-Expression seine Position untermauerte. Das Gemälde – Schuhe mit persönlicher Physiognomie – das die „Präsenz des Malers“ in seinem Werk suggeriert28, zeige ein Objekt von Körper-Schutz und Lebens-Teil des Malers, ausgewählt, isoliert, fokussiert, sorgenvoll. Gerade durch diese Isolierung (man sieht nicht, wo sie stehen, schrieb Heidegger), wirken diese Schuhe mit ihrem Habitus wie eine Art Überbild. Es zeige, so Meyer Schapiro, den Maler „wie in einem Spiegel“, Schuhe als Symbol und Teil der leidvollen menschlichen Verfassung,

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Ausstellung bei Les Vingt in Brüssel 1890, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, LV, 2004, München 2005, S. 195–209), aus denen über die Studien hinaus die Werke mit ihrer Sinnbildlichkeit hervorgingen, gedacht in Pendants und Ensembles (wie die eigens kombinierte Werkgruppe bei Les Vingt, Brüssel, Januar 1890). Bordoni 2007 (wie Anm. 13), S. 65f.: das Werk (die Schuhe) löst sich vom Künstler und führt ein „Eigenleben“, es wird eine Sache, ein Gegenstand, der getauscht, gekauft oder verkauft werden kann – „wie die Kartoffeln im Keller“ (Heidegger). Hier wird diese Art Hermeneutik ahistorisch und kunstfremd: Kunstwerke wie die van Goghs haben mitnichten ein Dasein wie Kartoffeln. Bordoni, ebd., S. 25–33, unterstellte Schapiro eine elitäre Position, „weil er überzeugt davon ist, die wahre Bedeutung des Bildes zu erkennen.“ Bordonis Essay wirkt weitschweifig und widersprüchlich, er weicht dem Kern der Argumentation von Meyer Schapiro aus, indem er die Texte Gauguins übergeht und missachtet (S. 42); er korrigierte auch nicht, dass Bauernschuhe damals Holzpantinen waren. S. ferner Michael Payne: Derrida, Heidegger and Van Gogh’s ‚Old Shoes‘, in: Textual Practice, VI, S. 87–100 und Bettina Gockel: Van Goghs Schuhe – Zum Streit zwischen Heidegger und Meyer Schapiro, in: Fremde Dinge, hg. v. Michael C. Frank, Bielefeld 2007, S. 83–93. Die Van Gogh-Ausstellung, welche Heidegger sah, fand 1931, nicht 1930 statt (s. Kat. mit Abb. in Anm. 19). Gockel sieht zwar, dass es sich nicht um Bauernschuhe handelt, sie zitiert aber die Quelle von F. Gauzi nicht genau und spielt den Wert der Texte Gauguins auch herunter, obwohl sie darlegt, dass die Idee der in Schuhen „eingeschriebenen Lebensgeschichte“ eine bekannte Sache gewesen sei (S. 87). Das gilt auch für Kleider (siehe Degas) und Stühle, wie ich unten zeigen werde. Für den flotten Satz, dass van Gogh „schon zu Lebzeiten“ als wahnsinniges Genie galt, bringt Gockel keine Belege. Es kannte ja kaum jemand seine Studien und Gemälde (Gockel: „Bilder“) außer Gauzi, Bernard, Boch, Gauguin, Laval und der Händler Tanguy. Gauguin nannte ihn wahnsinnig, aber nicht ein Genie. Dem modisch bildwissenschaftlichen Text Gockels fehlt die historische Fundierung. Der Brief, in dem Lavater erwähnt wird, stammt vom 1. November 1880, nicht 1888, also alte Nr. 138. Im übrigen halte ich ihre Behauptung, van Gogh habe der „Lesbarkeit der Bildgegenstände“ bewusst entgegengemalt, für völlig falsch. Dass das Gemälde der Schuhe „die Präsenz des Künstlers in seinem Werk“ vermittelt, hat auch Jacques Derrida reflektiert (Ders. 1992 [wie Anm. 16], S. 426f.) und das sozusagen Physiognomische der in Diskussion stehenden van Gogh’schen Schuhe unterstrichen (S. 429).

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somit „a soliloquy“, ein Selbstgespräch mit dem Ausdruckspathos des cruxialen menschlichen Lebensweges, nämlich des eigenen.29 Schapiros erster Vorwurf war richtig: Heidegger identifizierte 1950 im Text zum Ursprung des Kunstwerkes das fragliche Schuhe-Bild nicht eigens, nicht exakt, er fühlte sich nicht ein, sondern missbrauchte es als Projektionsbühne für die Frage nach „dem Wesen des Zeuges“ (zwischen Ding und Werk30), wählte „ein gewöhnliches Zeug: ein Paar Bauernschuhe.“ Und zur Veranschaulichung wies er auf ein Gemälde von van Gogh, „der solches Schuhzeug mehrmals gemalt hat“ (S. 28). Heidegger redete geradezu darüber hinweg: „Was ist da viel zu sehen? […] können wir nicht einmal feststellen, wo diese Schuhe stehen. Um dieses Paar Bauernschuhe herum ist nichts, wozu und wohin sie gehören […] nicht einmal Erdklumpen von der Ackerscholle […].“ Erst im Brief an Schapiro verwies Heidegger auf das Bild in Amsterdam (F. 255). Er nahm – wie eine Illustration – ein Werk bildender Kunst, dessen Genese er nicht recherchiert hatte, über das er seine Ideologie stülpte, um auf ihm seine nebulösen Abb. 4: Vincent van Gogh, Stiefel mit Nägeln (Les souliers), Sätze über das Zeug und das Paris 1887 (Baltimore, Museum of Art) Zeug-Sein zu entfalten. Seine Erd- und Bauern-Perspektive war ihm wichtig, nicht das Kunstwerk van Goghs; das wurde dekontextualisiert, entpersönlicht und somit in gewisser Weise degradiert.31

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Meyer Schapiro 1994 (wie Anm. 20), S. 146–147: „One can describe Van Gogh’s painting of his shoes as a picture of objects seen and felt by the artist as a significant part of himself – he faces himself like a mirrored image [...] a soliloquy, and expression of the pathos of a troubled human condition [...].“ Martin Heidegger: Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, S. 26f.: „Das Zeugsein des Zeuges besteht in seiner Dienlichkeit“ (S. 29); „[…] wenn wir den Versuch wagen, das Dinghafte des Dinges, das Zeughafte des Zeuges und das Werkhafte des Werkes in den Blick und zum Wort zu bringen“ (S. 26). Diese Degradierung eines Kunstwerkes rückte auch Derrida nicht zurecht, sodass Bordoni schreiben konnte: Derrida beharrt darauf, dass die Schuhe an Heidegger als rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden (Bordoni 2007 [wie Anm. 13], S. 64). Indem Bordoni die beiden Texte Gauguins nicht als primäre Quellen wertet, läuft er ebenso wie Heidegger mit seinem Erd- und Bauern-Kult in eine für das Gemälde van Goghs irrelevante Richtung: Derrida habe es geschafft, diese Schuhe an Heidegger zurückzugeben, „dem sie zu Recht gehören“ (S. 68). An diesem Punkt wird die Debatte irreal, ja absurd, weil der ‚Eigensinn‘, den Heidegger entfaltete, nicht dem Sinn von van Goghs Schuhen

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II. Überschaut man van Goghs Schuhe-Bilder, so begegnet das kleine Gemälde in Baltimore mit der Datierung 1887, also in Paris entstanden, auf dem Koloritklang Orange-Blau aufgebaut und ähnliche Schnürschuhe abbildend, ebenso gewundene Schnürsenkel (F. 333, Abb. 4, Taf. XIb)32; es scheidet für die Erde- und Boden-Perspektive Heideggers ohnehin aus. Ähnlichkeit zeigt das Bild in Privatbesitz in Brüssel (F. 332a), das jedoch nicht derart dramatisch inszeniert ist. Man könnte die Frage stellen, ob es nicht die gleichen Schuhe sind wie auf dem dunklen Bild in Amsterdam, die van Gogh dann in verschiedenen Perioden in unterschiedlichem Kolorit gemalt hätte.33 Doch wahrscheinlicher ist es, dass er zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Schuhe malte, und manchmal nur als KoloritStudie. Das heißt: in Paris 1887 ein Paar andere Nagel-Schuhe mit langen Riemen (also F. 333), welche van Gogh – wie François Gauzi berichtete – auf dem Flohmarkt gekauft hatte, die er anzog, um damit an einem Regentag die Fortifikationen von Paris zu erlaufen,34 „ein Paar mit groben Nägeln beschlagene Stiefel“ – so Gauzi in seinem ToulouseLautrec-Buch. Auch lesen wir, dass er die Schuhe gewissenhaft malte, eine Idee, die Gauzi wenig revolutionär nannte und die den anderen jungen Malern in Paris als merkwürdig bizarr erschien. Sollte van Gogh in Paris 1887 von Edgar Degas’ Ideen in Gesprächen Kenntnis erhalten haben? Degas hatte gemeint, mit Charakterköpfen die Expression moderner Empfindungen zu erzielen („faire de la tête d’expression – style d’academie – une étude du sentiment moderne“), was Vincent mit seinen in Arles angefertigten Porträts wie von dem belgischen Maler Eugène Boch als Poète vor Sternenhimmel zu realisieren suchte.35 Degas postulierte ferner – das ist zentral für unseren Fragekreis – allerlei ge-

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entspricht. Könnte also jeder Betrachter in einem Gemälde oder einer Skulptur sehen, was er will? Das kann nicht die Grundlage der Kunsthistoriographie sein. Ausgestellt in Paris 1988, s. Françoise Cachin: Van Gogh à Paris 1988 (wie Anm. 4), Nr. 14. Im Katalogtext S. 64f. zu F. 332 Drei Paar Schuhe (Fogg Art Museum) wird F. 255 auch auf Herbst 1886 datiert, und zwar in Korrespondenz mit dem Bericht von François Gauzi (Lautrec et son temps, Paris 1954, S. 31f.), der Vincent besucht hatte und erzählt, dass dieser auf dem Flohmarkt ein Paar Fuhrmanns-Schuhe („brodequins/souliers de charretier“) gekauft habe, um sie zu malen – ein bizarres Sujet. Doch bezieht sich das sicher auf F. 333 in Baltimore, wo Ähnlichkeit besteht mit F. 332a in Privatbesitz (Brüssel). Hulsker 1980 (wie Anm. 4), Nr. 1233, 1236; Douglas W. Druick/Peter K. Zegers: Van Gogh und Gauguin – Atelier des Südens, Chicago, IL/Amsterdam 2001/02, Nr. 21. Die Autoren sahen – unter Hinweis auf Carlyle Sartor Resartus, den Philosophen alter Kleider – in Vincents Schuhen von 1887 diejenigen „eines Arbeiters“ und eine urbane Übersetzung von Millets Holzschuhen. Ich sehe aber in dem Bild in Baltimore die Schuhe van Goghs laut dem Bericht von François Gauzi (s. folgende Anm.). Diese Bemerkung verweist klar auf das Gemälde F. 333 in Baltimore; der Bericht von François Gauzi 1954 wird zitiert nach Welsh-Ovcharov 1974 (wie Anm. 4), S. 34; die Stelle erwähnt auch Bordoni 2007 (wie Anm. 13). S. dazu Ronald Pickvance: Van Gogh in Arles, New York 1984, S. 169.

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brauchte Gegenstände derart darzustellen, dass „man ihnen noch ansieht, wozu sie verwendet wurden, dass man in ihnen das Leben der Frau oder des Mannes spürt.“36 Diese Intention trifft auf van Goghs Schuhe-Bilder zweifellos zu, vor allem auf das ausgetretene Schuhe-Paar, das heißt bereits vor der Pariser Zeit. Von Degas’ Ideen konnte er sich 1887 bestätigt fühlen, sofern er in Paris von ihnen gehört haben sollte. Wie gesagt, gibt es im Oeuvre van Goghs eine größere Zahl von Ölstudien mit diesem Sujet, auch noch ein 1887 in Paris gemaltes, isoliertes Paar, grün auf ockerfarbenem Grund (F. 331) und die drei Paare braunschwarzer Schuhe (F. 332, Abb. 7), die wie drei stumme Zeugen aus dem Dunkel treten.37 Aber nur eines, nämlich das in Amsterdam (Abb. 1), inszeniert in dramatischer Weise alte Schuhe gleichsam wie Lebewesen im Licht, vermittelt in diesen Gebrauchsgegenständen, in diesen schützenden Objekten den forcierten Ausdruck des menschlichen Lebens und der menschlichen Passion derart suggestiv, dass man von einer Anthropomorphisierung mit Symbolgehalt sprechen muss. Aus diesem Grund bestand für mich nie ein Zweifel, dass Heidegger die Leinwand in Amsterdam (F. 255) gemeint hatte.38 Das bestätigt der Briefwechsel zwischen Schapiro und Heidegger mit dem Hinweis auf die dortige Ausstellung von 1931; damals war übrigens eine Abbildung im Katalog. Die zentrale Frage nun für die Kunsthistorie wie für die philosophische Ästhetik ist die nach der Provenienz („Restitution“ sagte Derrida) dieser ausgetretenen Schuhe beziehungsweise Stiefel mit den langen Schnürsenkeln, die vor einem erleuchteten Boden wie im Gegenlicht stehen und die Schwere des Lebens dessen, der sie trug, existentialistisch und umfassend ausdrücken – den leidvollen Ausdruck der Passion des Lebens. Denn die ‚Wahrheit‘ (im Dreieck Heidegger-Schapiro-Derrida), d.h. der tiefere Gehalt des Werkes hängt vollkommen von der Antwort darauf ab, wessen Schuhe hier gemalt wurden in solch einer prononcierten, dramatisch beredten Form. Van Gogh erhebt ein ‚niederes‘ Sujet zur Bildwürdigkeit in den Rang eines Tableau, der sonst betenden Menschen oder weiblichen Akten, Bauernfiguren und Köpfen, Landschaften oder strahlenden Blumen, wie bei Delacroix und Courbet, vorbehalten war. Man malte nicht „Parerga“ (Beiwerk), wie Bordoni richtig anmerkt, also keine abgetragenen Kleider, Hosen, Jacken, Schuhe, Mäntel usw. Anders van Gogh: Der Vielleser Vincent erhielt eventuell einen Impuls, ab-

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Zu Degas’ Ideen s. Paul-André Lemoisne: Les carnets de Degas au Cabinet des Estampes, in: Gazette des Beaux-Arts, LXIII, April 1921, S. 219–231: „Faire toute espèce d’objets d’usage placés, accompagnés de façon qu’ils aient la vie de l’homme ou de la femme […]“ (S. 227). Van Gogh à Paris 1988 (wie Anm. 4), Nr. 13. Später malte Vincent nochmals zwei kleine Studien von Schuhen, im Sommer 1888 in Arles, Schuhe auf den Kacheln des Hauses (F. 461, Privatbesitz USA, vgl. Brief an Theo 529) und das Stillleben mit alten Bauernschuhen (nicht signiert, zum Tausch bestimmt, wie er Bernard mitteilte, Brief B18, also für Vincent zweitklassig), s. Pickvance 1984 (wie Anm. 35), Nr. 94 und Vincent van Gogh, Ausstellungskatalog, Tokyo 1985, Nr. 76. De la Faille 1970 (wie Anm. 3), Nr. 255; Hulsker 1980 (wie Anm. 4), Nr. 1124, datierte das Bild auch in die frühe Pariser Zeit 1886, ohne zu sehen, dass es dem Bibel-Gemälde sehr nahe steht, also in Nuenen 1885 entstanden sein kann.

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gelegte Kleider zu malen, bereits früh (vor der Kenntnis von Degas’ Ideen) aus seiner Lektüre (1883) von Thomas Carlyle Sartor Resartus – einer Philosophie der alten Kleider, Geister des Lebens, wo er im 3. Buch, Kap. 6, „Alte Kleider“ den Satz fand: „Stumm sind sie, aber ausdrucksvoll in ihrem Schweigen, die einstmaligen Zeugen und Instrumente von Freud und Leid […].“39 Warum jedoch sollte Vincent Schuhe einer x-beliebigen Bäuerin von Nuenen derart exponiert malen? Mit einem signifikanten Buch ist es ähnlich, jedoch nicht das gleiche. Bücher haben einen unmittelbar geistigen Bezug zu ihrem Leser bzw. dem Maler, reflektieren also die äußere Tätigkeit und das innere Leben eines Menschen und waren somit bereits seit langem bildwürdig. Verwiesen sei etwa auf Rembrandts Menschen-Darstellungen mit Büchern (das Berliner Gemälde des Predigers Anslo mit Gattin, 1641, oder das Wiener Gemälde von Titus lesend, 1656).40 Jedoch ein Buch allein zu malen, wie van Gogh die Bibel des Vaters mit einem kleinen modernen Buch daneben, das war 1885 bereits eine bildnerische Innovation, die zu einem autobiographischen Sinngefüge führte: Denn aufgeschlagen ist die Stelle bei Jesaia, 53 über den Gottesknecht, der Leid und Schmerz auf sich nimmt (wie Vincent als Hilfsprediger selbst).41 Die Kerze ist erloschen wie ein Vanitas-Zeichen, die mächtige Bibel steht im Dialog mit Émile Zolas Roman Joies de vivre. Das ergab zwei Modelle von Leben, Passion und Opfern nach des Vaters Tod, mit dem Vincent Streit wegen der modernen Romane hatte (Abb. 2). Deshalb rückt das Paar alter Schuhe in Amsterdam – unabhängig von der Malweise – auch vom Gehalt her meines Erachtens eher ins Jahr 1885, als Vincent die Vater-Bibel groß ins Bild setzte und sie mit Zolas moderner Lebensbejahung konfrontierte, mit einem modernen Roman, den der Vater abgelehnt hatte. Aus den Briefen an Theo wissen wir von der Abweisung des Vaters gegenüber (den Zielen) der modernen Kultur-Bildung („beschaving“), die der Sohn gierig aufnahm: „Was ist das? Das Ewige, die allergrößte Einfachheit und Wahrheit“, und Vincent nannte in dem Kontext Michelet, Hugo, Zola, Balzac42 und von den Malern Corot, Millet, Dupré und Daubigny. Bücher zu malen war traditionell, aber ein Paar alte, ausgetretene, deformierte Schuhe allein, in diesem Habitus, ohne Kontext quasi einsam, aber offenbar bedeutungsschwanger? 39 40 41

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Thomas Carlyle: Sartor Resartus, übers. und hg. v. Peter Staengle, Zürich 1991, S. 323. S. dazu u.a. Jan Bialostocki: Bücher der Weisheit und Bücher der Vergänglichkeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften, 5), Heidelberg 1984. Nordenfalk 1947 (wie Anm. 4), S. 141f.; Jean Seznec: Literary inspiration in Van Gogh, in: Magazin of Art, XLIII, 1950, S. 284; Jan Bialostocki: Van Goghs Symbolik, in: Ders.: Stil und Ikonographie – Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden 1966, S. 184; Leymarie 1977 (wie Anm. 4), S. 49f.; Werner Hofmann: Luther und die Folgen für die Kunst, Hamburg 1983, S. 572 unter Hinweis auf Brief 429 und 399: „joie? de vivre“ – man muss tapfer sein, man muss arbeiten und wagen! – Jan Bialostocki: Books of Wisdom and Books of Vanity (1982), in: The Message of Images – Studies in the History of Art, Wien 1988, S. 62f.; Paintings 1990 (wie Anm. 4), S. 54, Nr. 10; Tsukasa Kodera: Van Gogh – Christianity versus Nature, Amsterdam 1990, S. 45f. Brief an Theo Nr. 339a (alte Zählung) von November 1883, s. van Crimpen 1990 (wie Anm. 8), Bd. II, Nr. 405.

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Abb. 5: Vincent van Gogh, Der Stuhl des Malers im Haus in Arles, 1888 (London, Tate Gallery)

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Abb. 6: Vincent van Gogh, Der Stuhl Gauguins in Arles, 1888 (Amsterdam, Van Gogh Museum)

III. Blicken wir auf spätere Werke, so wissen wir, dass van Gogh in Arles zwei exponierte Ansichten, ja symbolische ‚Porträts‘ von Stühlen malte, die als Ding-Symbole mit ihrem ‚Habitus‘ in metaphorischer Weise, quasi als Sinnbilder43, für die Charaktere beziehungsweise die psychische Persönlichkeit der Menschen stehen. Anregung erhielt van Gogh dabei wohl durch Luke Fildes Xylographik The empty chair, das Charles Dickens Studio nach dessen Tod zeigte. Das Blatt wurde in The Graphic (London, Dezember 1870) publiziert und befand sich nachweislich im Besitz van Goghs.44 So entstanden der im Licht

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Dass Vincent das synthetische Bemühen hatte, durch Verbindung von äußerer Wirklichkeit und innerer Wahrheit überzeitliche Sinn-Bilder (wie z.B. den Sämann, den Schnitter, die Berceuse) zu realisieren, welche für die Menschen Trost spenden sollten, erkannte bereits Julius Meier-Graefe: Vincent van Gogh, München 1910, S. 15; s. neuerdings bes. Thomas Noll: Der große Sämann – Zur Sinnbildlichkeit in der Kunst von Vincent van Gogh, Worms 1994, S. 42 zum Bibel-Bild; Ders.: Van Gogh, Fischerboote am Strand von Les Saintes-Maries de la Mer, Frankfurt a.M. 1996, S. 92–97. Dass van Gogh eine „ulterior meaning“ wollte, belegt der Wort-Schlüssel Amitié auf dem blauen Boot. Paintings 1990 (wie Anm. 4), Nr. 76f. Die Xylographik, welche van Gogh die erste nachhaltige Anregung für die Darstellung leerer Stühle als Symbole (Geist, Abwesenheit, Tod) vermittelte, verleibte er 1882 seiner Sammlung von Populär-Graphik ein. Ein weiteres Exemplar wollte er für den Freund Rappard beschaffen; s. van Goghs Liste seiner Graphik-Sammlung 1882 in Brief an Theo Nr. 205,

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gezeigte Gelbe Stuhl Vincents und der Violette Stuhl bei Nacht mit brennender Kerze für den Kollegen Gauguin, konzipiert als psychologische Pendants (Abb. 5, 6), gemalt auf jene grobe Sackleinwand (toile de sac), die Gauguin im November 1888 in Arles anschaffen ließ.45 Verstanden im Sinne der damaligen Farbentheorie von Charles Henry, dessen Diagramm zur Theorie der Expression der Farben in Paris bekannt war, kommt Gelb ein dynamogener, Violett dagegen ein inhibitorischer Charakter zu.46 Georges Bataille analysierte die Stühle bereits 1930 in „Documents“ im Hinblick auf die Krise der Malergemeinschaft und auf die Selbstverstümmelung van Goghs.47 Einen „bestürzenden Personalcharakter“ konstatierte 1971 Werner Haftmann in seiner Berliner „DING“-Ausstellung48 für das Stuhl-Bild van Goghs (London, Tate Gallery) und verwies auf des Künstlers eigene Einschätzung, „das Ding in jene Ewigkeit zu erhöhen, deren Zeichen einst der Heiligenschein war“ (Brief an Theo Nr. 531), jedoch bezog sich dies auf Porträts.49 Man könnte in diesem Sinne auch die dunklen Vogelnester beachten, die Vincent in Nuenen im Herbst 1885 malte. Sie wurden von ihm – über die Farbexperimente hinaus50 – mit einer eindeutigen Symbolik hinsichtlich Tod und Leben aufgeladen. Im Übrigen ähneln die dünnen Glanzlichter auf den Vogelnestern denen auf

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in: Erpel/Schumann (wie Anm. 8), Bd. II, 1965, S. 18; s. Ronald Pickvance: English Influences on Vincent van Gogh, Ausstellungskatalog (University of Nottingham), Manchester/London 1974; Hofmann 1983 (wie Anm. 41), S. 58; Haruki Yaegashi, in: Van Gogh International Symposion, Tokyo 1988, S. 164; Dorn (wie Anm. 9); Noll 1996 (wie Anm. 43), S. 37; Druick/Zegers 2001/02 (wie Anm. 33), S. 207–209. Dann folgen im November 1888 die Pendant-Gemälde der Stühle in Arles, und 1890 zeichnete er in Saint-Rémy wieder einen leeren Stuhl. In Fildes Dickens-Stuhl, von van Gogh 1882/1883 bewundert, dürfte überhaupt eine Quelle für sein sinnbildliches Denken zu finden sein. Diese grobe, ungrundierte Sackleinwand (Jute) kam dem Stilwillen Gauguins nach Abstraktion entgegen (Verschleifen der Formen und Farben in der Fläche), nicht jedoch dem van Goghs, der Plastizität und Raumtiefe suchte; informiert sind wir durch Brief Nr. 559 an Theo in: Erpel/Schumann (wie Anm. 8), Bd. IV, 1965, S. 210; s. Druick/Zegers 2001/02 (wie Anm. 33), Nr. 77f., S. 207f.; zum großen Gegensatz zwischen van Goghs Temperament, Weltsicht und Stil (auf den Menschen bezogener Expressionismus) und Gauguins Malereicharakter (auf Formfragen bezogene, progressive Abstraktion) s. Dietrich Schubert: Van Goghs ‚Alter Bauer‘ von August 1888 und Gauguins ‚L’Homme au bâton‘ (Petit Palais) – eine Konfrontation, in: Opus Tessellatum (Festschrift für Peter C. Claussen), Zürich 2004, S. 357–374. Hierzu William J. Homer: Seurat and the Science of Painting, Cambridge 1964, S. 206, Abb. 59; Seurat: le rêve de l’artscience , hg. v. Françoise Cachin, Paris 1991, S. 317. Georges Bataille: La mutilation sacrificielle et l’oreille coupée de Vincent van Gogh, in: Documents, II, Paris 1930, S. 11–20. Werner Haftmann: Das Ding und seine Verwandlung, in: Metamorphose des Dinges – Kunst und Antikunst 1910-1970, Katalog, West-Berlin 1971, S. 15. Haftmann zitierte hier nicht korrekt, weil van Gogh die Erhöhung durch Heiligenschein (Aureole) auf Porträts von modernen Männern und Frauen bezog, s. Erpel/Schumann (wie Anm. 8), Bd. IV, 1965, Nr. 531 von September 1888; in der Neuausgabe bei van Crimpen 1990 (wie Anm. 8) Bd. III, Nr. 677. Siehe Brief an Theo 428; s. Roland Dorn: Stilleben, in: Van Gogh und die Haager Schule, Wien/Mailand 1996, S. 205–209.

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den Riemen der fraglichen Schuhe. Von hier aus fällt Licht auf das Gemälde der braunen, strapazierten Schnürschuhe in Amsterdam, das der Maler links oben (nicht unten) deutlich in Rot signierte. Diese Signatur scheint beinahe wie ein geheimer Titel zu wirken? Aus den Erinnerungen Gauguins wissen wir, dass van Gogh das mittelgroße Gemälde mit nach Arles genommen hatte, wo es Gauguin im Gelben Haus sah. Und in seinem Text Natures mortes von 1894 ist überliefert, dass es sich (worauf Meyer Schapiro insistierte) um die eigenen Schuhe van Goghs handelte.51 Damit würde die Metaphorik – ähnlich der 1888 ausgeführten Stühle – die Person Vincents bezeichnen, und wir hätten ein ExistenzBild des Künstlers, nicht die Schuhe eines Bauern oder irgend einer Bäuerin in Holland oder im Borinage, wie Heidegger irreführend wollte. Im Text Natures mortes schrieb Gauguin 1894: „Dans ma chambre jaune, une petite nature morte; violette, celle-là. Deux souliers énormes, usés, déformés. Les souliers de Vincent. Ceux qu’il prit, un beau matin, neufs alors, pour faire son voyage à pied de Holland en Belgique [...].“52 Im anderen Text lesen wir: „Ce fut à Arles [...] Nous travaillâmes quelques mois avec ardeur. Ce fut peu. Ce fut beaucoup. Dans l’atelier une paire de gros souliers ferrés, tout usés, maculés de boue; il en fit une singulière nature morte. Je ne sais pourquoi je flairais une histoire attachée à cette vieille relique [...].“ Van Gogh erzählte Gauguin von seinem Weggang vom Vaterhaus nach Belgien, um dort in den Fabriken das Evangelium radikaler als die Amtskirche zu predigen – „comme je l’avais compris. Ces chaussures, comme vous les voyez, ont bravement supporté les fatiques de ce voyage!“53 Vincent – wie wir in den Briefen, besonders Nr. 136 alter Zählung, lesen können – unternahm im August/September 1880 von Cuesmes (bei Mons) im belgischen Borinage zu Fuß eine strapaziöse Wanderung nach Courrières (bei Lens) in Nord-Frankreich, um dort den verehrten Bauernmaler Jules Breton zu besuchen. Er stand auch vor dessen Haus, aber, schreibt er im September 1880 an den Bruder: „Ich habe nicht gewagt vorzusprechen und um Einlass zu bitten.“54 Es wäre folglich zu sehen, dass es sich bei dem fraglichen Ding-Abbild um Vincents eigene Schuhe handelt, und zwar jener Zeit bitterer Armut im Borinage und einer Fußwanderung, die der Maler für das Ideal der Kunst durchführte. Erst diese Dimension rechtfertigte es für ihn, ein Paar alte, ausgetretene Schuhe zum Bild-

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Paul Gauguin: Natures mortes, in: Essais d’Art libre, IV, Januar 1894, S. 273f.; s.o. Anm. 20, die englische Version in Welsh-Ovcharov 1974 (wie Anm. 4), S. 42f. und Roland Dorn, in: Van Gogh und die Moderne, Essen 1990, S. 85 und 118. Dorn datierte m.E. zu Recht das Amsterdamer Bild der Schuhe (F. 255) ins Jahr 1885. Gauguin 1894 (wie Anm. 51), S. 274; s. die englische Version in Welsh-Ovcharov 1974 (wie Anm. 4), S. 42f., die den Satz von Gauguin jedoch fälschlich auf F. 333 in Baltimore bezog: „Possibly the painting of 1887 in blue and purple.“ Doch dieses Gemälde zeigt den Klang von Orange und Blau (s. Van Gogh à Paris 1988 [wie Anm. 4], Nr. 14). Paul Gauguin: Choses diverses, in: Jean de Rotonchamp: Paul Gauguin, Paris 1925, S. 53. Ich danke Frau Stephanie Marchal, die über Courbets Selbstporträts arbeitet, für freundliche Hilfe. Brief 136 alter Zählung (Erpel/Schumann [wie Anm. 8], Bd. I, 1965, S. 214); s. van Crimpen 1990 (wie Anm. 8), Bd. I, Nr. 157 von 24. September 1880.

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motiv zu erheben, zu nobilitieren und dies in einer Zeit, wo van Gogh die Köpfe und Figuren der Bauern und Weber bei ihrer Arbeit zeichnete und malte, jedoch nicht separat ihre Kleider.55 Diese benutzten Schuhe und später das realisierte Gemälde blieben offenbar als Stücke seines qualvollen Lebens bei ihm, eine Art Spiegel seiner früheren Existenz. Verständlicherweise wunAbb. 7: Vincent van Gogh, Drei Paar alte Schuhe, Paris 1886 derte sich Gauguin darüber (Cambridge, Fogg Art Museum) in Arles: Denn er hätte das nie getan, ein Paar ausgetretene Schuhe – er benutzte das Wort „vieille relique“ – derart nobilitiert und engagiert zum Bildsujet zu erheben.56 Es besteht kein Anlass, an der Überlieferung durch Gauguin zu zweifeln. Freilich hat die spätere Erinnerung – Gauguin war als Egoist ohnehin primär an sich und seinem Erfolg interessiert und ging nur widerwillig, auf Theos Drängen und dessen Geldzuwendung, nach Arles zu Vincent – ungenaue Akzente gesetzt, oder er hat die Gespräche poetisch verfremdet: Das Gemälde zeigt kaum Violett in den braunen Schatten des Schuh-Inneren, und die Fußwanderung Vincents 1880 führte von Belgien nach Frankreich und zurück. Während in den anderen Schuhe-Bildern die Objekte eher en passant neben anderen Gegenständen erscheinen oder die Schuhe nur ein Stillleben-Modell unter anderen sind und die Frage des Kolorits im Vordergrund stand (zum Beispiel die grünen Schuhe in Paris vor ockerfarbenem Grund [F. 331], oder die Schuhe auf den rötlichen Fliesen im Gelben Haus in Arles 1888 [F. 461, Privatbesitz]), fällt in dem Querformat Drei Paar Schuhe (Abb. 7), welches auch unsicher zwischen 1885 und 1887 hin und her datiert wurde57 und

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Im Juli 1885 (Brief 418 an Theo) schrieb der Maler über das Charakteristische: „Die Bauerngestalt in ihrer Betätigung wiederzugeben – das ist eine Figur, ich wiederhole es.“ Und Vincent betonte, dass er darin Modernität, den Kern und das Herz der modernen Kunst erblicke; die Darstellungen von Bauern und Arbeitern bei ihrer charakteristischen Tätigkeit (wie von den Meistern Millet, Lhermitte, Breton, Herkomer) bildeten den Mittelpunkt der modernen Kunst. Daumier gehört zu den Bahnbrechern, ebenso Jules Dalou in der Bildhauerei; s. Erpel/Schumann (wie Anm. 8), Bd. III, 1965, S. 295. So Gauguin in dem zitierten Text Choses Diverses für sein NOA-NOA, in: Rotonchamp 1925 (wie Anm. 53), S. 53; zum Manuskript NOA-NOA s. Huyghe 1951 (wie Anm. 20), S. 5–11. De la Faille 1970 (wie Anm. 3), Nr. 332; Hulsker 1980 (wie Anm. 4), Nr. 1234; Van Gogh à Paris 1988 (wie Anm. 4), Nr. 13.

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besonders im Amsterdamer Bild von 1885 (F. 255) die Schwere des Ausdrucks mittels dunkler Farben und über-realem Licht ins Auge. Letzteres Werk hebt sich von allen Schuhe-Bildern dadurch ab, dass dieses Paar wie dunkle, müde Lebewesen im Lichte steht. Es ist nahsichtig, haptisch konkret, zum Betrachter gerückt, ja auf den Betrachter gerichtet, wie Schapiro gut beobachAbb. 8: Vincent van Gogh, Stillleben mit Zeichenbrett, Zwiebeln und tete.58 Das Bild ist keine Kerze, Arles, Januar 1889 (Otterlo, Kröller-Müller Museum) Ölskizze wie die anderen. Diese Schuhe sind deformiert und darin gleichsam bewegt. Ihrer Physiognomie (ihrem anschaulichen Charakter) ist etwas als Expression eingeschrieben, das nicht anders als existentiell zu begreifen ist. Sie scheinen uns anzublicken, ja sie sprechen eine beredte, stumme Sprache, weshalb sie Heidegger auffielen und weshalb Gauguin sie eine „alte Reliquie“ nannte. Der Ausdruck des Leidens bzw. der Schwernis des Lebens ist van Gogh vollendet gelungen, vollendeter als in den übrigen Studien von anderen Schuhen. Die sinnbildhafte Verdichtung erreicht eine emblematische Qualität. Ist die Überlieferung Gauguins zuverlässig, so handelt es sich letztlich im Gehalt um ein metaphorisches Selbstporträt van Goghs bzw. um ein Sinnbild seiner Existenz. Nur dies rechtfertigte, dass der Maler dieses Gemälde bei sich hielt und nach Arles mitnahm. Andere Studien, auch von Schuhen (eines Bauern!) oder Landschaften sah er für den Tausch mit den Malerkollegen wie Bernard vor.59 Dass Vincent auch in anderen Gemälden zu anderen Zeiten die Dinge, die mit seiner prekären Existenz verbunden waren, sozusagen autobiographisch malte, zeigt der Blick 58 59

Meyer Schapiro 1968 (wie Anm. 18), S. 207: „ […] and he has rendered them as if facing us […].“ S. Brief Nr. B18 von September 1888 an Émile Bernard (Correspondance complète de Vincent van Gogh, hg. v. Georges Charensol, Bd. III, Paris 1960, S. 225): „Was das Tauschen anbelangt [...] dann hätte ich eine Studie eines kleinen Gartens mit vielfarbigen Blumen, eine Studie mit grauen und staubigen Disteln, ein Stilleben mit alten Schuhen eines Bauern und schließlich eine kleine Landschaft – mit nichts als ein wenig Ebene.“ Die Formulierung verhindert die (verlockende) Sicht, dass Vincent in jeder Lebensstation seine Schuhe (wie auch sein Antlitz) malte: in Nuenen F. 255, in Paris F. 331, in Arles F. 461 (diese stehen auf den rötlichen Kacheln des Gelben Hauses!). Andererseits: Woher sollte er in seinem Haus in Arles ein paar alte Bauernschuhe haben? (s.o. Anm. 32f.).

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auf das Stillleben von Januar 1889 in Otterlo (F. 604, Abb. 8), entstanden nach der schmerzvollen Krise durch den Streit mit Gauguin und nach den Tagen im Hospital von Arles, als er sein berühmtes Selbstporträt mit verbundenem Ohr, Pelzmütze und Pfeife rauchend (F. 529, Kunsthaus Zürich) ausführte: Im gleichzeitigen Stillleben mit Zeichenbrett – siehe die Januar-Briefe an Theo60 – vereinte er auf mittlerem Format die für ihn aktuell bedeutsamen Dinge: das Annuaire de la Santé von François V. Raspail61, eine Anleitung zur Selbsterkenntnis seiner Leiden mit Hinweisen zur Behandlung ohne Ärzte (zum Beispiel die Rolle des Knoblauchs für den Körper62), mehrere Zwiebeln, eine (leere?) Weinflasche, seine Pfeife mit Tabak und einen Kerzenhalter – beides zuvor auf den Stühlen platziert. Die brennende Kerze (ähnlich der auf Gauguins Stuhl) fungiert als Lebenszeichen wie in holländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts.63 Der Brief rechts vorn auf dem Tisch, nicht einer der vielen vom Maler selbst, vielmehr von Theo an Vincent, verweist auf den kontinuierlichen Kontakt mit seinem Bruder, dem er sich menschlich und künstlerisch verpflichtet fühlte. Alle Dinge dieses Gemäldes sind mit blauen, nach rechts fallenden Schatten versehen. Sie formen ein autobiographisches Ensemble, sie besitzen Signifikanz für des Malers Hoffnung aus der Krise und für die Angst vor drohendem Wahnsinn, wie früher Hugo van der Goes im 15. Jahrhundert, auf den er sich über das Historien-Bild von Émile Wauters in Briefen bezog (Musées royaux des Beaux-Arts, Brüssel, vergleiche Brief 556). Kunsthistorisch stellt sich zum Schluss die Frage, ob erstmals van Gogh ein aus niederem Genre kommendes Kleidungs-Ding als persönliches Sujet derart metaphorisch aufgeladen hat bzw. auf der Basis seines Realismus ein objektives Ding symbolisch überhöhte, d.h. zum expressiven Sinnbild – in emblematischer Art – erhob. Das ist nicht der Fall, van Gogh war nicht der erste. Denn als bildnerische Impulse kommen – außer Degas’ Idee – weniger Millets Werke in Frage, der um 1864 seine Bauern-Holzschuhe autobiographisch gezeichnet hatte, wovon van Gogh wusste64, oder Les Sabots des François

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Briefe 569 und 571 alter Zählung, in: Erpel/Schumann (wie Anm. 8), Bd. IV, 1965, S. 224f.; van Crimpen 1990 (wie Anm. 8), Nr. 737f.); Paintings 1990 (wie Anm. 4), Nr. 78f. Naturforscher und Republikaner, der 1848 ins Gefängnis kam. Nordenfalk 1947 (wie Anm. 3), S. 139, folgend, der den Gehalt des Annuaire Raspails hinsichtlich van Goghs Gesundheit erläuterte. Beide Objekte erschienen bereits auf den Stühlen; s.a. Bialostocki 1966 (wie Anm. 41), S. 185, mit Hinweis auf die Sinnbildlichkeit der Vogelnester in van Goghs Sujets/Ikonographie; Druick/Zegers 2001/02 (wie Anm. 33), S. 268; zum Stillleben allgemein siehe Norbert Schneider: Realität und Symbolik der Dinge – Stillebenmalerei, Köln 1989. Auf Millets Zeichnung seiner eigenen Holzschuhe (als ‚Quelle‘ für van Gogh) wurde immer hingewiesen (auch von Schapiro 1994 (wie Anm. 20), S. 145). Van Gogh kannte sie aus der Millet-Monographie von Alfred Sensier, Paris 1881; s. dazu Louis van Tilborgh: Van Gogh, disciple de Millet, in: Millet + Van Gogh 1998 (wie Anm. 16), S. 36f., der geneigt ist, F. 255 nach Nuenen 1885 zu rücken, jedoch van Goghs alte Schuhe immer noch als Bauernschuhe sieht, obgleich seine Abb. 8–12 das Gegenteil belegen.

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Abb. 9: Max Thedy, Klompjes (Holzschuhe), 1887 (Weimar, Schlossmuseum, Stiftung Klassik)

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Bonvin von 1875 (Museum Gouda)65, Nils Kreugers Bild Les brodequins/ Schnürschuhe von 1882, auf das bereits Carl Nordenfalk 1947 hinwies66, oder das unheimlich leere Bild eines Raumes mit Klompjes von Max Thedy aus dem Jahr 1887 (Schlossmuseum Weimar), in Leiden gemalt, grau in grau, welches ein paar Holzschuhe in einem dunklen, kahlen, hohen Raum vor einer grauen Wand zeigt – ein Sinnbild der Abwesenheit und Einsamkeit (Abb. 9). In der symbolischen Dimension des Realismus, also für die Synthese aus Wirklichkeit und Existenz-Symbol, muss man, jenseits des Sujets alter Schuhe, vielmehr Werke von Gustave Courbet beachten und dessen Kunstposition, die van Gogh bekannt war – auch den Begriff der „allégorie réelle“ für Courbets großes Werk Das Atelier von 1855, das der Maler als „reale Allegorie“ definierte für eine „Phase von sieben Jahren mei-

François Bonvins Bild hat van Gogh sicher eher kennen können als das von Kreuger und die Klompjes von Max Thedy; s. Gabriel P. Weisberg: Bonvin, Paris 1979, Nr. 149; Ders.: The Realist Tradition – French Painting and Drawing 1830–1900, Cleveland, OH 1980; und Ders.: François Bonvin 1817–1887, an Exhibition of Paintings, NewYork 1984; Antoine Terrasse/Gabriel P. Weisberg: François Bonvin 1817–1887, Paris 1998. S. Dorn 1990 (wie Anm. 51), S. 85 mit Bezug auf Schuh-Werke, Ausstellungskatalog (Nürnberg, Kunsthalle, 1976), hg. v. Curt Heigl, Nürnberg 1976, S. 8–16, Beitrag von Claus Korte: Van Gogh und das Schuh-Stilleben der Bataille du Réalisme; s. ferner Van Gogh à Paris 1988 (wie Anm. 4), S. 64 mit Hinweis auf das 1882 gemalte Paar Schuhe von Nils Kreuger (Gemäldegalerie Stockholm), welches schon Nordenfalk 1947 (wie Anm. 3), Abb. 35d vorstellte, der im Übrigen zur Datierung von F. 255 nach Nuenen 1885 neigte (s. seine Anm. 3, S. 136). Claus Korte brachte das Bild von zwei Holzschuhen des François Bonvin, 1875, Stedelijk Museum Gouda, in die Diskussion und zeigte mit Karikaturen (Le Flambeau du Réalisme, 1866), inwieweit der gebrauchte Schuh (Holzschuhe bzw. Nagelschuhe mit ihrem „odeur mauvais“) eine signifikante Rolle spielte in den Polemiken zwischen Idealisten und Realisten 1850–1866, also in der Bataille du Réalisme und in den Debatten (und Karikaturen) um die Frage der Genre-Motive nach Millet – als „Armes parlantes“ der Realisten. Der Realist in Daumiers berühmter Bild-Polemik Combat des écoles – L ’Idéalisme et le Réalisme (in: Charivari, XXIV/4, 1855) kommt in bäuerlichen Holzschuhen daher, wie sie Champfleury für

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nes künstlerischen und geistigen Lebens“, das heißt als eine Allegorie des Wirklichen, nicht wie üblich des Idealen oder Imaginären religiöser Themen.67 Dieser Courbet’sche Ausdruck, der nur scheinbar ein Widerspruch in sich ist, kann auch für van Goghs Alte Schuhe erwogen werden, da sie für eine bestimmte Lebens- und Leidensphase des Malers stehen. Die Darstellung einer Sterbenden Forelle am Angelhaken (Abb. 10) realisierte Courbet nach dem Gefängnis von Sainte-Pélagie, wo Abb. 10: Gustave Courbet, La truite (Forelle am Angelhaken), 1871-72 er 1871 wegen seiner (Zürich, Kunsthaus) Mitwirkung an der Revolte der Pariser Commune einsaß.68 Das Werk ist links unten in blutroter Farbe bezeichnet „71 G. Courbet In vinculis faciebat“ und verweist somit auf das tödliche Schicksal der Communarden. Überhaupt zeigte Courbet in seinem Oeuvre, dass sich Symbol und Realismus nicht ausschließen; der Realismus verdichtet das Besondere ins Allgemeine (Typisierung)69 und erreicht auf diese Weise eine symbolische Dimension bzw. eine symbolische Überhöhung der Sujets.70 Van Gogh war dies wohl bewusst, da er die Malerei-

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Courbet metaphorisch einsetzte (Le Réalisme [Paris 1857], Nachdruck Genf 1967, S. 283). In der Karikatur arbeiten die Steinklopfer Courbets in großen klobigen Holzschuhen (s. Klaus Herding: Realismus als Widerspruch – die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Frankfurt a.M. 1978, S. 19 und 181). In einer Zeichnung Daumiers (Derrida nahm sie als Titel für Macula, Heft 3/4, 1978) steht ein Atelier-Besucher vor einem Bild von zwei getragenen Stiefeln und hält sich wegen des Geruchs die Nase zu: die Grenze des Realismus war derart erreicht. Natürlich war dies Bild-Polemik gegen die Feinde des Realismus (wie Thomas Couture): „Le réalisme poussé à sa dernière limite.“ Hélène Toussaint: L’Atelier de Courbet, in: Gustave Courbet, Ausstellungskatalog (Paris, Grand Palais, 1977), Paris 1977, S. 251; Herding 1978 (wie Anm. 66), S. 226; Stephanie Machal: Courbet in seinen Selbstdarstellungen (Diss. Heidelberg 2010), Kap. III.9. Courbet und Deutschland, Katalog, hg. v. Werner Hofmann, Hamburg 1976, Nr. 293; Gustave Courbet 1977 (wie Anm. 67), Nr. 123: von den Autoren datiert auf 1872, das Gemälde zeigt jedoch links unten eine rote 71; jüngst in Gustave Courbet, Ausstellungskatalog (Paris, Grand Palais, 2007), Paris 2007, Nr. 217; Marchal 2010 (wie Anm. 67), Kap. V. S. dazu die grundlegenden Texte von Josef A. Schmoll-Eisenwerth: Naturalismus und Realismus, in: Städel-Jahrbuch, V, 1974, S. 247–267 und Herding ²1981(wie Anm. 66); ferner Dietrich Schubert: Otto Dix, Reinbek 1980, 62005, S. 76–78; Marchal 2010 (wie Anm. 67). Vorausgegangen war in der Dichtung die Lyrik Heinrich Heines und des Vormärz, in welcher sich

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Abb. 11: Vincent van Gogh, Sternennacht über dem Rhône, Arles, September 1888 (Paris, Musée d’Orsay)

geschichte bestens kannte und die einschlägige Literatur studierte. Die zwei Gemälde der Stühle, welche er im Herbst 1888 in Anwesenheit Gauguins ausführte (Abb. 5, 6), die Gauguin im Kolorit-Charakter inhibitorisch und van Gogh dynamogen interpretieren, menschliche Ding-Symbole als Überbilder, helfen das dunkle, suggestive Schuhe-Bild zu verstehen als Existenzbild des Malers, seines eigenen Schicksals auf dem schweren Weg, vorher und nachher, beziehungsweise wie Meyer Schapiro schrieb: ein Teil seines Lebens und Leidens, eine Art „Reliquie“, quasi emblematisch ins Bild gesetzt. Wie zentral für van Goghs Kunst die Schaffung von Sinnbildern war, zeigt auch seine erste Version einer Sternennacht in Arles, September 1888 (Abb. 11). Von der Komposition schickte er dem Bruder Ende des Monats eine Federzeichnung im Brief 543, ebenso etwas später eine kleine Skizze im Brief an den Maler Eugène Boch.71 Im Vordergrund spa-

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eine politische Metaphorik etabliert hatte. Hans-W. Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 1971. Van Crimpen 1990 (wie Anm. 8), Bd. III, Nr. 695 (543) und 696 (553b) mit Abb. der Skizze.

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ziert ein Menschenpaar mit dem Rücken zum Fluss, der Blick geht über das Rhône-Knie, darüber der Nachthimmel mit sieben Sternen, die den „Grande Ourse“ formen (Brief an Theo 543), den „Großen Bären“, der jedoch in der Natur viel weiter rechts steht. Vincent zieht das Sternbild ins Blickfeld, um – in schrecklicher Hellsichtigkeit („lucidité terrible“) – seinem „Bedürfnis nach Religion“ ein Sinnbild zu schaffen.72 Dabei spielte die Lektüre über Tolstois Ideen und die Fragen hinsichtlich einer ‚Auferstehung‘ im Jenseits oder im Diesseits eine gewisse Rolle. Der Brief endet mit einer längeren Passage über die Ideen Tolstois, die den Christen van Gogh offenbar bewegten: Auferstehung im Diesseits als eine Wandlung zu Menschenliebe.73 So bestätigt der tiefere Gehalt der Schuhe des Malers, ihre „intrinsic meaning“ (Panofsky), die These Kurt Badts, dass van Gogh nicht an L’art pour l’art mit ornamentalen Flächen interessiert war wie Bernard oder Sérusier, sondern an der malerischen Darstellung von Lebensräumen des Menschen und seines besonderen Schicksals; Schicksal „als die Erschütterung der Existenz“, formulierte Badt.74 Der Kunstphilosoph Georg Simmel stellte 1909 für die Kunst van Goghs fest: „Er trägt in seine Bilder ein Leben, so ungestüm, vibrierend, fieberhaft, wie kein anderer Maler. Und nun ist das Rätselhafte und Erschütternde, dass dies nicht (oder relativ selten) durch Darstellung und Erregung von Bewegungsvorstellungen geschieht. Äußerlich angesehen, ist in seinen meisten Landschaften und Stillleben eine einfache Zuständlichkeit, nicht wie bei Rodin ein aufenthaltloses Herkommen von irgendwoher und Gehen irgendwohin; und doch sind sie von einer haltlos stürmenden, Rodin noch überjagenden Unrast, deren Ursprung in dem ruhigen Dastehen ihres Gegenstandes eine der unheimlichsten künstlerischen Synthesen ist.“75 In dem Sinne könnte diese Studie mit einem zentralen Gedanken von Albert Camus enden: Man hätte Unrecht, wollte man meinen, das Kunstwerk könnte „als eine Flucht vor dem Absurden“ betrachtet werden, schrieb Camus im Sisyphos. „Es ist selbst ein absurdes Phänomen, und es handelt sich einzig darum, es zu beschreiben. Es

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Dieser Brief 543 (alte Zählung) an den Bruder ist ein Schlüssel zum Verständnis der Religiösität van Goghs, in diesem äußerst produktiven Monat September 1888 im Kontext der Lektüre über Leo Tolstois Gedanken zur Frage der Auferstehung (van Crimpen 1990 [wie Anm. 8], Nr. 695; beide Zeichnungen, die Vincent mitschickte, das Gelbe Haus und die Sternennacht, sind dort reproduziert). Für das Sinnbildliche besonders Noll 1994 (wie Anm. 43), S. 88f. und: Millet + Van Gogh 1998 (wie Anm. 16), S. 117f., jedoch ohne den Kontext mit der Lektüre über Tolstoi und die Sorge um Auferstehung zu reflektieren. Leo Tolstois Buch Auferstehung erschien zwar erst 1898, jedoch hatte er seine Ideen wie die Einheit von Christentum und Sozialismus (Tagebuch, Moskau 21. 3. 1898) bereits in einer Reihe von Traktaten in den 1880er Jahren vertreten (Mein Glaube, 1884). Vincent las einen Artikel über Tolstois Meine Religion in französischer Ausgabe 1885 (vgl. Brief 542; van Crimpen 1990 [wie Anm. 8], Nr. 690). Zum Stellenwert von Sternen- und Nachtbildern s. zuletzt Vincent van Gogh and the Colours of the Night, Katalog (New York, Museum of Modern Art, 2008), hg. v. Joachim Pissarro/Sjraar van Heugten, New York 2008, dt. Ausg. Ostfildern 2008. Badt 1961 (wie Anm. 8), S. 121f. Simmel 1909 (wie Anm. 1), S. 176.

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bietet der Krankheit des Geistes keinen Ausweg. Es ist im Gegenteil ein Merkmal dieses Leidens, das ihn (den Geist) auf das ganze Denken eines Menschen zurückverweist.“76 (Heidelberg, 2007–2009)77

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Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos: ein Versuch über das Absurde, Paris 1951, dt. Ausg. Reinbek 1959, S. 80. Als finale Briefedition erschien nun – üppig bebildert – von Leo Jansen u.a. (Hg.): Vincent van Gogh De Brieven, 6 Bände holländisch u. englisch, Amsterdam 2009 (andere Zählung als van Crimpen 1990 [wie Anm. 8]). Erst später zugänglich war mir Cliff Edwards: The shoes of Van Gogh, New York 2004 (freundlicher Hinweis von Dr. Andreas Blühm, Köln), ein Essay ohne neue Aspekte. Nach Abschluss des Manuskripts erschien im Herbst 2009 von Geoffrey Batchen: Van Goghs Schuhe – ein Streitgespräch, Wallraf-Richartz-Museum, ein kurzer Überblick über die Debatten. Jedoch wertet Batchen – ebenso wie Derrida – den Quellenwert von Gauguins Texten zu gering bzw. zitiert sie nicht einmal ausführlich. Auch rückt er die Schuhe nicht in die Nähe des Gemäldes der offenen Bibel des Vaters von 1885, obgleich das Stillleben mit Kartoffeln aus dieser Zeit (F. 100 und F. 107), welches er reproduziert, einen gleichen Duktus und gleiches Kolorit zeigt. Auch das Lebensbild des Stilllebens mit Zeichenbrett (in Otterlo) wird nicht einbezogen. Die Intention, alles offen zu lassen, war bereits diejenige Derridas; doch sollte man als Kunsthistoriker über den habituellen Ausdruck den authentischen Gehalt des Gemäldes, den Vincent ja schließlich einmalte, suchen, nämlich dass er seine eigenen Schuhe dergestalt festhielt und vorführte, einen Lebensabschnitt derart memorierend, im Sinne von: Kunst als Bannung.

Jeder nach seinem und doch alle nach einem Geschmack! Aspekte der Friedhofsreformbewegung in Dresden zu Beginn des 20. Jahrhunderts Petra Klara Gamke-Breitschopf Einschneidende soziokulturelle, ästhetisch-künstlerische, wirtschaftliche und bürokratische Entwicklungen führten während der Kaiserzeit und der Weimarer Republik zu entscheidenden Veränderungen des Bestattungswesens und damit auch des Erscheinungsbildes der Friedhöfe. Die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Bewegungen bildeten dabei den Ausgangspunkt für die Entfaltung eines breiten Spektrums an Reformen, bei deren Umsetzung die Künstler eine gewichtige Rolle spielten.1 Zu den in der wilhelminischen Gesellschaft umstrittensten Neuerungen gehörte die Einführung der Feuerbestattung.2 Vor allem in kirchlichen Kreisen stieß sie auf vehementen Widerstand. Dresden besaß mit dem Mediziner Friedrich Küchenmeister einen ihrer engagiertesten Vertreter. Er gründete 1874 den Dresdner Feuerbestattungsverein und führte noch im selben Jahr probeweise die ersten vier menschlichen Einäscherungen durch. Zwei Jahre später fand in der sächsischen Haupt- und Residenzstadt der erste Europäische Kongress für Feuerbestattung statt, der als internationales Forum einen Prozess einleitete, den der Sozial- und Kulturhistoriker Norbert Fischer als fundamentalen Einschnitt in das traditionelle Bestattungswesen und Ausdruck des „technisierten Umgangs 1

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Der vorliegende Text basiert auf einem Kapitel aus Petra Klara Gamke: Karl Groß. Tradition als Innovation? Dresdner Reformkunst am Beginn der Moderne (Diss. Heidelberg, 2002), München/ Berlin 2005. Als maßgebende Literatur zum Thema sind zu nennen Norbert Fischer: Vom Gottesacker zum Krematorium: Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert (Kulturstudien, Sonderbd. 17), Köln/Weimar/Wien 1996; Heidrun Sprinz: Die Friedhofs- und Grabmalreform in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf den Leipziger Südfriedhof (Magisterarbeit Leipzig, 1998 [Masch. Ms.]); sowie nachfolgend genannte Beiträge von Hans-Kurt Boehlke, der lange Zeit als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedhof und Denkmal in Kassel vorstand: Das Jahrhundert der Friedhofsreform. Die Grabmalkunst der Reformzeit, in: Steinmetz + Bildhauer, C, 1984, S. 40–50; Der Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal und die Friedhofsreform, in: Friedhof und Denkmal, XXXVI, 1991, S. 81–90. Während Fischer und Boehlke aus kulturwissenschaftlicher Perspektive die Friedhofsreformbewegung am Beginn der Moderne untersuchen, bezieht Sprinz auch spezifisch kunsthistorische Fragestellungen in ihre Überlegungen ein. Zu Feuerbestattungsbewegung, Krematoriumsbau und Trauerzeremonien im Kaiserreich und während der Weimarer Republik s. Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 94–124.

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mit den Toten“ bewertet hat. Das erste deutsche Krematorium wurde 1878 in Gotha in Betrieb genommen.3 Parallel zu dieser als Zeichen einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft zu begreifenden Bewegung, die der christlichen Tradition des Erdbegräbnisses die – antiken beziehungsweise vor- und frühgeschichtlichen Kulturen entnommene – Alternative der Feuerbestattung entgegensetzte, entstand in Hamburg-Ohlsdorf der größte deutsche Zentralfriedhof. Unter federführender Leitung des Architekten Wilhelm Cordes angelegt, galt dieser im Stil englischer Landschaftsparks gestaltete Friedhof um 1900 als vorbildlich.4 Wenngleich sich schon wenige Jahre nach seiner Eröffnung aus den Reihen der jungen Generation von Friedhofsreformern ernste Gegenstimmen gegen das Hamburger Konzept regen sollten, setzte Ohlsdorf Maßstäbe für ein Verständnis des Friedhofs als eine ästhetisch zu lösende, städtebauliche Gesamtaufgabe von hohem Wert.5 In erster Linie richteten sich die Vorwürfe der Kritiker gegen die extensive Grabmalkultur. Ohlsdorf wurde als Ausbund eines großstädtischen, infrastrukturell durchorganisierten Begräbnisplatzes verhöhnt, der einer gründerzeitlichen Bourgeoisie das adäquate Ambiente bot, um ihren sozialen Status über den Tod hinaus dauerhaft zu manifestieren. Die zum Teil mit exorbitantem Aufwand verwirklichten, sich an antiken Tempeln, Mausoleen und gotischen Kathedralformen orientierenden, mit emotional getönter plastischer Ausstattung versehenen architektonischen Grabmäler gerieten ins Kreuzfeuer der Kritik. In ihrer Kombinatorik historischer Stilzitate galten sie als Inbegriff materialistischer Gesinnung, die als übersteigert, unwahrhaftig und unzeitgemäß abgestempelt wurde. Die augenfällige Diskrepanz zwischen diesen Monumenten und der Masse an überwiegend schmucklosen Grabmälern der nichtprivilegierten gesellschaftlichen Schichten wurde zunehmend als Provokation und damit als unerträglich empfunden.6 Neben diesen beiden Extremen – der durch Fortschrittsgläubigkeit gekennzeichneten Feuerbestattungsbewegung und der durch Flucht in manierierte, traditionelle sepulkrale Muster verfallenden Variante – existierte die ,breite Realität‘ kirchlicher und kommunaler

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Ebd., S. 94–98. Im Jahr 1886 erließ die katholische Kirche ein offizielles Verbot der Feuerbestattung, an dem sie letztlich bis 1963 festhielt. In der Anfangsphase teilten die Protestanten diese ablehnende Haltung, zeigten jedoch nach und nach Kompromissbereitschaft, was sich u.a. in der Beteiligung protestantischer Geistlicher an Einäscherungsfeiern äußerte. Die feierliche Eröffnung fand 1877 statt. Cordes’ Wirkungszeit erstreckte sich bis 1913. In der Literatur hat der Ohlsdorfer Friedhof ausführliche Bearbeitung erfahren. Als grundlegendes Werk sei verwiesen auf Barbara Leisner/Ellen Thormann/Heiko K. L. Schulze: Der Hamburger Hauptfriedhof Ohlsdorf. Geschichte und Grabmäler (Themenreihe des Hamburg-Inventar, 4), bearb. v. Andreas von Rauch, 2 Bde., Hamburg 1990, hier bes. Bd. I, S. 20–38. Der Ohlsdorfer Friedhof wird hier stellvertretend für eine allgemeine Tendenz in der Friedhofsgestaltung dieser Jahre angeführt, in der sich das Prinzip der ‚Krummen Linie‘ bzw. das Prinzip ‚Friedhof als Gesamtkunstwerk‘ am einprägsamsten ausdrückte; s. zu diesem Aspekt ebenfalls die Gesamtdarstellung von Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 35–59. Ebd., S. 64–74.

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Friedhöfe. Deren Erscheinungsbild, entweder regellos gewachsen und entsprechend ungeordnet oder geplant und schachbrettartig uniform gestaltet, mit Grabmälern, die den oben skizzierten glichen, griffen die Reformkünstler als chancenreiches Betätigungsfeld auf.7 Mit dem steigenden Interesse an grabmal- und friedhofsästhetischen Fragen zeichnete sich eine Tendenz zur Bürokratisierung des Bestattungswesens ab – Letztere spiegelte die stärkere Kommunalisierung des Friedhofswesens und das gestiegene Bewusstsein für medizinisch-hygienische Fragen wider. Ein Ergebnis dieser Bürokratisierung waren die zunehmenden Vorschriften für die Gestaltung von Grabmälern und Begräbnisplätzen.8 Auch in wirtschaftlicher Hinsicht zog der allgemein spürbare Aufschwung im Bestattungswesen Konsequenzen nach sich. Grab und Friedhof wurden als neuer Markt mit hohem finanziellen Potenzial entdeckt. Am Ende dieser Bewegung stand, um es mit den Worten Norbert Fischers zu sagen, die „Entzauberung des Todes“, in der das Individuum, ohne spürbar Widerstand zu leisten, zur geformten Masse mutiert war und Grab und Friedhof zum sichtbaren Zeichen einer durch Effizienz und Rationalität geprägten, technokratischen Gesellschaft geworden waren.9 Am Beginn der Friedhofsreformbewegung steht die Gründung der Künstlervereinigung für neue Grabdenkmäler in München im Jahr 1903. In der bayerischen Metropole veranstalteten der Bayerische Kunstgewerbeverein und die Gesellschaft für christliche Kunst die ersten Wettbewerbe und Ausstellungen für die qualitative Verbesserung der Grabmalkultur. Ein zweites Reformzentrum befand sich in Wiesbaden. Dort organisierte die von dem Mediziner Wilhelm Grolmann gegründete Wiesbadener Gesellschaft für bildende Kunst 1905 eine Ausstellung zur Hebung der Friedhofs- und Grabmalkultur, die ausschließlich von Künstlern gestaltete Grabmäler vorstellte. Die Kritik fiel so positiv aus, dass die Ausstellung anschließend über mehrere Jahre als Wanderschau durch viele deutsche Städte reiste. Begleitend zur Ausstellung wurde im Jahr 1905 die Wiesbadener Gesellschaft für Grabmalkunst gegründet, die in der Folgezeit zu einer zentralen Beratungsstelle für alle an der neuzeitlichen Gestaltung von Grabmälern interessierten Kreise avancierte.10 Ein drittes Zentrum schließlich war gerade im Entstehen begriffen: In der sächsischen Residenzstadt Dresden partizipierte man an den andernorts eingeleiteten Entwicklungen

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Die generelle Kategorisierung der Grabstätten in Einzel- und Reihengräber hatte sich im Verlauf des 19. Jh. durchgesetzt. Die Einzelgräber werden häufig auch als Wahlgräber bezeichnet und in Erb- und Familiengrabstätten klassifiziert. Während die Reihengräber unentgeltlich oder gegen einen geringen Kostenbeitrag abgegeben wurden, mussten für die Einzelgräber höhere Summen investiert werden; ebd., S. 60–64, 75–76. Als Zeichen der Bürokratisierung können die Anlage von Gräber- und Friedhofsverzeichnissen, die Einführung der Leichenschau sowie die Festlegung von Mindestruhezeiten gelten, wobei die Regelungen je nach Landesregierung zum Teil erheblich differierten; ebd., S. 60–64; Sprinz 1998 (wie Anm. 1), S. 43–48. Fischer 1996 (wie Anm. 1), bes. S. 82f., 124, 129f. Sprinz 1998 (wie Anm. 1), S. 40; Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 76f. und Anm. 13f.

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seit 1906. Verbindungen zur Wiesbadener Gesellschaft für Grabmalkunst hatte es freilich bereits vorher gegeben. Sie sind für die Dresdner Architekten Fritz Schumacher, Wilhelm Kreis, Lossow & Kühne und Oswin Hempel belegt.11 1906 entschloss man sich zur Integration eines kleinen Musterfriedhofes in das Ausstellungsprogramm der „Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung“ – jener seit dem Jahr 1900 größten deutschen Leistungsschau, die, wie sich kurze Abb. 1: Wandgrabmal nach dem Entwurf von Max Hans Zeit später zeigen sollte, den endgülKühne, ornamental ausgestaltet von Karl Groß, Teil des Musterfriedhofs auf der „Dritten Deutschen Kunstge- tigen Durchbruch des neuzeitlichen Kunstgewerbes bedeutete. Motivator werbeausstellung 1906“, Dresden der Überlegungen war die allgemein getragene Überzeugung, „[m]an schäm[e] sich immer noch nicht, den Verstorbenen Erinnerungsmale nach dem Fabrikkatalog auszusuchen, oder such[e] die Empfindungsarmut hierin durch faule Pracht zu ersetzen.“12 Auf einer Gesamtfläche von 160 m² wurden Grabmäler in unterschiedlichen Größen, Formen und Materialien – Naturstein, Holz und Metall – präsentiert, darunter in erster Linie Werke von in Dresden ansässigen Künstlern: Karl Groß, Fritz Schumacher, Wilhelm Kreis, Oskar Menzel und William Lossow. Aber auch auswärtige Künstler wie Albin Müller, Karl Baader und Hugo Wagner präsentierten ihre Entwürfe.13 Die Gesamtgestaltung des Musterfriedhofs oblag dem Architekten Max Hans Kühne. Sein monumentales Wandgrabmal aus Sandstein (Abb. 1), für das der Kunstgewerbler und spätere Direktor der Dresdner Kunstgewerbeschule Karl Groß

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Sprinz 1998 (wie Anm. 1), S. 40. So Karl Groß in seinem Beitrag „Kunsthandwerk“ im Katalog zur Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden 1906: Das Deutsche Kunstgewerbe 1906. Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906, Ausstellungskatalog (Dresden, 1906), mit Beiträgen von Fritz Schumacher u.a., hg. v. Direktorium der Ausstellung, München 1906, S. 29–31, hier S. 30. Jutta Petzold-Herrmann: Die Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906, in: Jugendstil in Dresden. Aufbruch in die Moderne, Ausstellungskatalog (Dresden, Schloss, 1999), hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Dresden/Wolfratshausen 1999, S. 72f.; Architekten Lossow & Kühne Dresden (Neue Werkkunst), eingel. v. Werner Hegemann, Nachwort v. Angela Hartmann [Berlin/Leipzig/Wien 1930], Nachdruck, Berlin 1998, S. V. Die mit einer Kapelle und einer offenen Wandelhalle ausgezeichnete Anlage umfasste Vorschläge für freistehende Einzel- und Wandgrabmäler, wobei sowohl Platten als auch Stelen, Sarkophage und Grabkreuze vorgestellt wurden. In der Halle waren Beispiele für Aschenurnen zu sehen; s. a. Paul Schumann: Die Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906, in: Kunstgewerbeblatt, N.F. XVII, 1906, S. 165–177,

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die plastischen Modelle entworfen hatte, zählte zu den Beispielen einer modernen Grabmalkunst: nicht nur, weil es sich bei der Zusammenarbeit eines Kunstgewerblers mit einem Architekten auf diesem Gebiet um eine neuartige Konstellation handelte, sondern auch, weil bei diesem Grabmal zwei unterschiedliche Gestaltungskonzepte zusammengeführt worden waren (klassizistische, monumentale Architekturformen in Kombination mit kleinteiligem plastischem Schmuck in Jugendstilformen), ohne dabei jedoch eine symbiotische Allianz einzugehen. Ganz im Sinne des Jugendstils, der seinen Einfluss auf praktisch alle Lebensbereiche erstrecken wollte, verfolgte man in Dresden das Ziel, die Wahrhaftigkeit auch in der Friedhofskunst Einzug halten zu lassen. Die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach wie vor unveränderte bürgerlich-monumentale, auf Schauwirkung angelegte Grabmalkultur sollte einer dem veränderten Selbstverständnis angepassten, auf das Individuum und dessen Habitus zugeschnittenen, jedoch in ihren Ausmaßen verkleinerten Variante weichen. Neben innovativen Beispielen wurden 1906 auch Konzepte präsentiert, die auf der direkten Übernahme von überlieferten Formen rekurrierten. In diesen Kontext gehörte beispielsweise das um 1909 entstandene Bronzerelief für das Grabmal eines Goldschmiedes (Abb. 2) von Karl Groß. Den annähernd quadratischen, hintergrundlosen Abb. 2: Karl Groß, Bronzerelief für das Grabmal eiRaum füllt die als kniende Engelfigur nes Goldschmieds, um 1909, Dresden, ausgeführt von wiedergegebene Personifikation der Pirner & Franz (Guß) und dem Hofjuweliergeschäft JoGoldschmiedekunst. Die linke Hand hannes Heinrich Mau (Goldtauschierung) hält vor dem Leib eine Auswahl an Preziosen, während die erhobene rechte die „christliche Krone des Lebens“14 trägt. Ein sich mit beiden Händen auf dem Oberschenkel abstützender, geflügelter Putto mindert die feierlich-ernste Wirkung, die von der in strengem antikisierenden Profil wiedergege-

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185–191 und 205–213, hier S. 169. Schumann nennt die (besonders vor dem Hintergrund der insgesamt vergleichsweise geringen Grundfläche des Friedhofs) beachtliche Zahl von dreiundvierzig Grabmälern. Paul Schumann: Arbeiten von Karl Groß, Dresden und seiner Schule, in: Kunst und Handwerk, LIX, 1908/09, S. 189–213, hier S. 211.

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benen Hauptfigur ausgeht. Sowohl formal als auch inhaltlich lehnte sich der Künstler hier an die Tradition klassizistischer Grabmalgestaltung mit dem ihr eigenen Rückbezug auf die Antike an. Die Personifikation der Goldschmiedekunst übernimmt zugleich die Funktion der Trauerfigur, die als weiblicher Engel, Signum tief empfundener Emotionalität, ausgebildet ist. Christliche und antike Motive werden miteinander verschränkt und verdichten sich in einer Huldigung an die Goldschmiedekunst.15 In der Konsequenz drückt das Relief die ideelle Überhöhung der handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten des Goldschmiedes und damit zugleich die Wertschätzung bürgerlicher Individualleistung aus. Der Verzicht auf biografische Bezüge könnte dabei als Rückkehr zum Ausgangspunkt bürgerlicher Grabplastik gedeutet werden, bei der die soziale Hierarchie über das Zitat antikisierender Würdeformeln transportiert wurde. Ebenfalls auf klassizistische Konzepte griff derselbe Reformer Karl Groß bei einem weiteren Entwurf zurück. Es handelt sich um das Künstlergrabmal für den am 22. November 1905 sechsunddreißigjährig verstorbenen Bildhauer August Hudler (Abb. 3). Dieser Auftrag hatte sich aus der freundschaftlichen, vermutlich aus der gemeinsamen Ausbildungszeit an der Münchner Kunstgewerbeschule rührenden Verbindung ergeben.16 Das mit einem Holzzaun eingefriedete Grabmal wurde auf einem Münchner Friedhof aufgestellt.17 Seit Hudlers Wechsel nach Dresden im Jahr 1900 Abb. 3: Karl Groß, Künstlergrabmal für August hatten beide Künstler wiederholt bei ProHudler, 1905, Dresden, Kalkstein und Bronze jekten zusammengearbeitet, so etwa beim

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Zur Deutung klassizistischer und wilhelminischer Grabplastik s. Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 30– 33, 70–73. August Hudler, in: Deutsches Biographisches Archiv, N.F. DCXXIII, München u.a. 1989 (Mikrofiche-Ausgabe); hierin enthalten die verfichten Abdrucke aus: Deutsches Zeitgenossen-Lexikon, hg. v. Franz Neubert, Leipzig 1905; Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, hg. v. Bruno Bettelheim, Bd. X, Berlin 1905; ebd., Bd. XII, Berlin 1907; Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Ulrich Thieme/Felix Becker, Bd. XVIII, Leipzig 1925. Auf die Freundschaft zwischen Groß und Hudler verweist Schumann 1908/09 (wie Anm. 14), S. 213. Der genaue Standort war nicht zu ermitteln.

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Majestätswappen am Ständehaus von Paul Wallot (1901–1903) und dem monumentalen Tafelaufsatz für die Stadt Dresden, für den Hudler die Elfenbeinfiguren entworfen hatte.18 Als Typus verwendete Karl Groß die tradierte und in der Grabmalgestaltung am häufigsten verwendete Form der Stele. Ihre breite, durch abgeschrägte Kanten variierte Grundform ergab sich aus der vorgegebenen Größe des in der Mitte eingefügten Reliefs. Die in zwei Zonen gegliederte Kalksteinstele wird im oberen Teil durch einen kräftigen antikisierenden Lorbeerkranz, im unteren durch eine bronzene, von einem Wellenband gerahmte Schrifttafel akzentuiert. Bei der Schrift griff Groß auf hohe und schmale Versalien in Antiqua zurück und damit auf jene Schrift, die in ihrem geschlossenen, in sich ruhenden Aufbau von den Zeitgenossen als Ausdruck „majestätischer Würde“19 interpretiert wurde. Die optische Angleichung von Grabstein und Schrifttafel wird deutlich. Als Reformgrabmal zeichnet sich das Werk zum einen durch die Gestaltung des Schriftträgers, zum anderen durch den Verzicht auf biografische Zutaten aus, die den Verstorbenen als Künstler ausweisen. Letzteres erkennt nur der ‚sachkundige‘ Betrachter, der das Tympanon mit der Darstellung des von Engeln umgebenen Schmerzensmannes als Werk August Hudlers identifizieren kann. Es handelt sich um Hudlers Relief für die 1901/1902 von Julius Zeißig errichtete Stadtkirche in Wilthen.20 Der Entwurf zu dem Grabmal wurde von der zeitgenössischen Kunstkritik positiv gewürdigt. Schumann betont die „stimmungsvolle“ Wirkung und lobt die Dimensionen, die das Grabmal „vorteilhaft unterscheid[e] von den gewaltigen Steinkolossen, bei denen offenbar Trauer und Schmerz nach Zentnern gemessen werden.“21 Im Unterschied zu Hamburg und nun auch verstärkt München, wo mit dem 1907 eröffneten Waldfriedhof von Hans Grässel ein neuer Prototyp des ‚stimmungsvoll‘ gestalteten städtischen Begräbnisplatzes22 geschaffen worden war, konnten die Dresdner bis dato noch keine nachhaltigen Erfolge in der Praxis aufweisen. Den Anstoß, sich in größerem Umfang auf dem Gebiet der Grabmalkunst zu engagieren, gab der Architekt Julius Gräbner. In einem Ende Dezember des Jahres 1907 an den Architekten und Stadtbaurat 18

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Zu nennen wäre außerdem die gemeinsame Tätigkeit für die neu errichtete Lukaskirche und die Christuskirche, beide in Dresden, an denen Hudler sich mit Altarplastiken beteiligte. Zuletzt wirkte Hudler als Lehrer an der Dresdner Kunstakademie. Willy F. Storck: Vom Geist moderner Schriftkunst (Sonderabdruck aus Literatur und Wissenschaft. Monatliche Beilage der Heidelberger Zeitung), Heidelberg o.J. [1912], S. 7. August Hudler, in: Deutsches Biographisches Archiv 1989 (wie Anm. 16); Biographisches Jahrbuch (wie Anm. 16), Bd. XII, 1907; Thieme/Becker (wie Anm. 16), Bd. XVIII, 1925. Schumann 1908/09 (wie Anm. 14), S. 213. Boehlke 1984 (wie Anm. 1), S. 41; Boehlke 1991 (wie Anm. 1), S. 85; Sprinz 1998 (wie Anm. 1), S. 18f.; Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 78f. Von der Forschung wird der Waldfriedhof als eine im Kontext der erstarkenden Heimatschutzbewegung zu betrachtende Reaktion auf das Hamburger Vorbild bewertet. Spezifische Merkmale sind die Einbettung des Friedhofs in ein weitgehend in seinem ursprünglichen Zustand belassenes baumbewachsenes Gelände, die Verankerung von Grabmalvorschriften mit Konzentration auf das handwerklich-künstlerisch gestaltete Grabmal und die Bevorzugung regionalspezifischer Materialien in Architektur und Plastik.

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Hans Erlwein gerichteten Brief regte er an, die Künstlervereinigung „Die Zunft“ solle sich dieser Angelegenheit widmen. Wörtlich heißt es: „Hier könnte ich mir denken, dass, wenn die Zunft bahnbrechend eingriffe, ausserordentlich Ersprissliches [sic] für Dresden geschehen würde.“23 Geplant war die Einrichtung einer ständigen Musterschau mit Einzelgrabmälern und Denkmälern, die von den Mitgliedern der Künstlervereinigung entworfen und von Dresdner Unternehmen und freischaffenden Steinmetzen ausgeführt werden sollten. Analog zum Münchner Vorbild stellte man sich ein Areal mit reichem Baumbestand in landschaftlich reizvoller Umgebung vor und spekulierte auf eine Fläche des Johannisfriedhofs im Dresdner Stadtteil Tolkewitz. Neben den ästhetisch-ideellen Beweggründen verfolgte man mit dem Projekt vor allem wirtschaftliche Ziele. Ein von der „Zunft“ zu benennender Fachmann sollte vor Ort eine ständige Verkaufsstelle für Grabsteine betreuen. Parallel plante man die Veröffentlichung einer Verkaufsbroschüre für ein breites Publikum. Schon nach kurzer Zeit stellten sich jedoch Schwierigkeiten ein. Die zuständige Friedhofskommission lehnte mit der Begründung mangelnder Fläche die Zurverfügungstellung des Areals ab und bedauerte, dass „der künstlerische Standpunkt nicht in der Weise berücksichtigt werden (könne), als es vielleicht wünschenswert wäre.“24 Daraufhin verhandelte man mit dem Dresdner Bildhauer Hermann Stein, der Bereitschaft zeigte, die Muster- und Verkaufsausstellung auf seinem nahe dem Johannisfriedhof gelegenen Privatgelände einzurichten.25 Im fortgeschrittenen Stadium scheiterte jedoch auch diese Initiative. Schließlich wurde der Plan einer Publikation aufgegeben. Während die Versuche der „Zunft“, auf den der kirchlichen Verwaltung obliegenden Teil des Friedhofs Einfluss zu nehmen, erfolglos endeten, änderte sich die Situation mit der Vollendung des auf dem städtischen Gelände errichteten Krematoriums von Fritz Schumacher. Ende des Jahres 1911 veranstaltete die Sächsische Landesstelle für Kunstgewerbe, eine am 18. Juli 1907 in Dresden eingerichtete und in ihrer Zeit singuläre staatliche Förderungsstelle für Kunstgewerbe, einen Wettbewerb zur Gestaltung von Vorschlägen für Feuergrabstätten, nachdem sie vom Rat der Stadt eine Fläche zur 23

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Stadtarchiv Dresden (StArchD) 13.19, Künstlervereinigung Zunft, Karton 3, 4. Brief von Julius Gräbner an Hans Erlwein vom 20. Dezember 1907, o.Bl. Da „Die Zunft“ erst wenige Monate zuvor bei der bevorstehenden Auftragsvergabe für den Bau des Krematoriums in Tolkewitz ihren Einfluss zugunsten Fritz Schumachers erfolgreich geltend gemacht hatte, lag die Idee eines verstärkten Engagements auf dem Gebiet der Friedhofskunst allerdings nahe. Zur Auftragsvergabe s. Heidrun Laudel: Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Neuschaffen. Fritz Schumachers Dresdner Jahre, in: Fritz Schumacher. Reformkultur und Moderne (Schriften des Hamburgischen Architekturarchivs), hg. v. Hartmut Frank anstelle eines Katalogs anlässlich der Ausstellung „Fritz Schumacher und seine Zeit“ (Hamburg, Deichtorhallen, 1994), Stuttgart 1994, S. 67–89, hier S. 82. StArchD 13.19, Künstlervereinigung Zunft, Karton 3, 4. Schreiben des Friedhofsausschusses bezüglich der Verwaltung des Elias-, Trinitatis- und Johannisfriedhofs an die Zunft vom 12. Februar 1909, unterzeichnet vom Superintendenten Dibelius. Ebd.; s. zum Gesamtkomplex die Sitzungsprotokolle des Kunstgewerbeausschusses, Anschreiben an die Zunft-Mitglieder, Korrespondenz mit dem Bildhauer Hermann Stein im Zeitraum von Februar 1908 bis März 1909, o.Bl.

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Einrichtung einer Musterausstellung erhalten hatte. Die als übergeordnetes Ziel im Ausschreibungstext verlautbarte Anlage eines „stimmungsvollen Ruheplatzes im Gegensatz zu den geschäftsmäßigen Anlagen unserer sonstigen Begräbnisstätten“ setzte realiter bei der Erarbeitung vorbildlicher Beispiele für das Einzelgrab an. Die Kriegsjahre 1914 bis 1918 bedeuteten hinsichtlich der Bemühungen um die qualitative Anhebung der Grabmalgestaltung für Erd- und Feuerbestattung einen Bruch. In den 1920er Jahren übernahmen in Sachsen der Landesverein Sächsischer Heimatschutz (LSH) und der Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal die Funktion einer organisatorischen Plattform für Sepulkralkünstler und Friedhofsreformer. Hatte die Stadt Dresden vor dem Ersten Weltkrieg an der allgemeinen Entwicklung vor allem partizipiert, avancierte sie während der Weimarer Republik zu einem Zentrum der Reform. Mit dem durch den freiwilligen Zusammenschluss einer Vielzahl unterschiedlicher berufsständiger Organisationen bis hin zu Vertretern aus Verwaltung und Kirchen im Jahr 1921 in Dresden begründeten Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal erhielt die Bewegung eine neue Qualität.26 Zusätzlich zu Einzelpersonen und Organisationen, die den Reformfortgang nach wie vor prägten27, wurde nun auf Reichsebene eine neue Instanz geschaffen, deren offizieller Charakter durch die Kooperation mit dem Reichskunstwart Edwin Redslob zusätzlich betont wurde. Erklärtes Ziel war die Vereinheitlichung des Friedhofswesens, die über den Diskurs von Entwerfern, Herstellern und bürokratischer ‚Exekutive‘ erreicht werden sollte. Die Zusammenführung von Gruppierungen, die wirtschaftliche, künstlerisch-ästhetische und bürokratische Ziele unterschiedlich bewerteten, wurde dabei bewusst angestrebt. Zu den herausragenden Leistungen gehörten die im Rahmen der „Deutschen Gewerbeschau“ in München auf der dritten Tagung des Reichsausschusses im Juni 1922 beschlossenen Richtlinien. Sie bündelten die bis dato auf den Gebieten der Friedhofs- und Grabmalästhetik gesammelten Erfahrungen erstmals in 26

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Waldo Wenzel: Der Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal, in: Grab und Friedhof der Gegenwart (Bücher des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal, 1), hg. v. Stephan Hirzel im Auftrage des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal, München 1927, S. 116–118. Zu den Mitgliedern gehörten u.a. Spitzenverbände der Industrie wie der Reichsverband der Deutschen Steinindustrie, der Verband Deutscher Granitwerke, der Verband Deutscher Grabplattenfabriken und der Bund der Deutschen Betonwerke, ferner der Deutsche Grabmalgewerbe-Verband, die Vereinigung der Technischen Oberbeamten Deutscher Städte, die Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst, der Deutsche Werkbund, der Deutsche Bund Heimatschutz, der Bund Deutscher Architekten, die Tagung für christliche Kunst, der Reichswirtschaftsverband bildender Künstler, der Verband der Friedhofsbeamten Deutschlands, der Reichsverband der Deutschen Gartenbaubeamten. Zum Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal s. Boehlke 1984 (wie Anm. 1), S. 41f.; Boehlke 1991 (wie Anm. 1), bes. S. 86 und 88; Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 83f.; Sprinz 1998 (wie Anm. 1), S. 13–15 und 45–47. Ein Großteil dieser Initiativen orientierte sich an den Vorgaben des Reichsausschusses oder entstand in enger Abstimmung mit diesem. Dennoch würde man den Reformbemühungen einzelner Personen nicht gerecht, wenn man sie ausschließlich aus dem Blickwinkel des Reichsausschusses behandeln würde.

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Abb. 4: Zulassungszeichen des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal mit Maßangaben für die Anbringung auf Grabplatten und Grabsteinen, um 1922

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schriftlicher Form.28 Die als allgemeine Empfehlungen gedachten Richtlinien enthielten detaillierte Ausführungen zur Gestaltung des Friedhofs als Gesamtanlage (A), zur Neugestaltung der Friedhofsordnungen (B) sowie Bestimmungen zur Einführung einer vom Reichsausschuss beschlossenen Qualitätsmarke für Grabsteine (C).29 Die nach eingehender kommissionarischer Prüfung mit dem Zulassungszeichen „ZZ“ (Abb. 4) versehenen Grabmäler sollten als Qualitätsgrabmale im gesamten Reichsgebiet Anerkennung finden.30 Das Zulassungszeichen, das die Grabmäler als „formal und technisch einwandfrei“31 auswies, sollte die Hersteller anreizen, sich für die ästhetische und qualitative Hebung der Grabmale einzusetzen.32 Beim Konsumenten sollte das Gefühl für Qualität und das Vertrauen in die Arbeit des Reichsausschusses geweckt werden. In den folgenden Jahren ab 1922 konzentrierte sich der Reichsausschuss auf die Ausarbeitung einer Reichsmusterfriedhofsordnung.33 An der Ausarbeitung der im Jahr 1922 beschlossenen Richtlinien wesentlich beteiligt waren die aktiven Mitglieder des Reichsausschus-

S. gedruckte Fassung in Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. 118–133. Abschnitt A beinhaltete Empfehlungen zur Wahl des Friedhofgeländes und dessen Einbindung in den Gesamtbebauungsplan der Stadt, Vorschläge für technische Einrichtungen, für die Verbesserung bestehender Friedhöfe und Empfehlungen für den Erhalt (kunst-)historisch wertvoller Grabmäler; Abschnitt B behandelte die Grabfelder, Einzelgräber, Grabstätte und Grabmal, Konstruktion und Fundierung der Grabmäler und die Genehmigungspflicht. Die von den am Zulassungszeichen interessierten Verbänden einzusetzende Prüfungskommission bestand zu gleichen Teilen aus je drei Vertretern der Industrie bzw. des Handwerks, der Künstlerschaft sowie einem Unparteiischen. Die korrekte Einhaltung und Durchführung der in den Richtlinien genau spezifizierten Bestimmungen überwachte eine vom Reichsausschuss bestellte Aufsichtskommission. Richtlinien, in: Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. 132. Nach Karl Siegrist bedeutete dies im Detail „ästhetische Brauchbarkeit, gemessen am Werkstoff, seiner Bearbeitung und an der Formgebung“; Karl Siegrist: Die Qualitätsmarke, in: Ebd., S. 139–144, hier S. 142. Als Gegenleistung durften diese dem Zulassungszeichen je nach Regelung des übergeordneten Verbandes ihr Werkzeichen bzw. ihren Firmennamen hinzusetzen. Fischer 1996 (wie Anm. 1), S. 91 und Anm. 152. Die erhoffte gesetzliche Anerkennung des 1931 vollbrachten Werkes blieb aus. Erst 1937 wurde die Musterfriedhofsordnung – nun allerdings unter

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ses Waldo Wenzel, der Dresdner Stadtbaurat Paul Wolf, der Geschäftsführer des Bundes Deutscher Heimatschutz, Wilhelm Lindner, sowie der bereits mehrfach genannte Karl Groß, der nicht nur durch seine Funktion als Direktor der inzwischen in den Status einer Hochschule überführten Dresdner Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe als führender Kopf der Bewegung gelten darf. Als am 22. März 1926 der auf Betreiben von Waldo Wenzel und Oskar Seyffert neu gegründete Sächsische Landesausschuss für Friedhof und Denkmal das erste Mal offiziell zusammentrat, wurde Karl Groß zum ersten Vorsitzenden gewählt. Der dem Landesverein Sächsischer Heimatschutz angegliederte Landesausschuss – damals zugleich der erste dieser Art – setzte sich für die „einheitliche Behandlung aller Friedhofsfragen für das Gebiet des Freistaates Sachsen“34 ein. Über das Medium der Ausstellung betrieben die Friedhofsreformer eine aktive Informationspolitik in eigener Sache; sie informierten die Öffentlichkeit über den gegenwärtigen Stand der Reformbemühungen, forderten diese zur persönlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Sepulkralkultur auf und warben um Verständnis für die im Kreuzfeuer der Kritik stehenden Bürokratisierungsbestrebungen.35 Unter den Aktivitäten ragten die Einrichtung eines Musterfriedhofs auf der Jubiläums-Gartenbauausstellung in Dresden 192636 sowie die vom Evangelischen Kunst-Dienst in Zusammenarbeit mit dem Reichsausschuss im Frühjahr 1931 organisierte Ausstellung „Tod und Leben“ heraus, die nach ihrer Eröffnungsstation in Dresden als Tourneeschau in vielen deutschen Städten und in der Schweiz

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veränderten Vorzeichen – von den Nationalsozialisten in den Status von „Empfehlungen mit amtlichen Charakter“ überführt. Die in großen Teilen mit der 1931 vom Reichsausschuss verfassten Ordnung übereinstimmenden „Richtlinien für die Gestaltung des Friedhofs und Musterfriedhofsordnung“ wurden im Ministerialblatt des Innenministeriums im Januar 1937 abgedruckt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war der Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal in der Reichskammer der bildenden Künste aufgegangen; hierzu Boehlke 1991 (wie Anm. 1), S. 88. Sächsischer Landesausschuß für Friedhof und Denkmal [o.Verf.], in: Das deutsche Grabmal, II, 1926, S. 22–24; s. a. Heinrich Goesch: Die Aufgaben des Einzelnen in bezug auf Grab und Friedhof der Gegenwart, in: Mitteilungen LSH, XVIII, 1929, S. 77–85, hier S. 85; Birgit Pätzig: Der Einfluß der Reformbewegung auf den Urnenheim Dresden-Tolkewitz, in: Friedhof und Denkmal, XXXVI, 1993, S. 90–94, hier S. 91. Die Geschäftsstelle des unter Vorsitz von Oskar Seyffert stehenden Landesvereins Sächsischer Heimatschutz in der Schießgasse 24 fungierte als zentrale Anlaufstelle und offizielle Anschrift des Sächsischen Landesausschusses für Friedhof und Denkmal. Die Einführung der Genehmigungspflicht für Grabmäler und die von den Reformern angestrengten, von den Friedhofsverwaltungen konsequent durchgesetzten rigiden Gestaltungsvorschriften für Grabmäler wurden von bestimmten gesellschaftlichen Kreisen als inakzeptabler Eingriff in die Privatsphäre aufgefasst. Stellvertretend für den Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal zeichneten Karl Groß, Waldo Wenzel und Robert Witte für die Auswahl der Grabzeichen verantwortlich. Groß stellte darüber hinaus eigene Arbeiten aus. Die architektonische und gartenkünstlerische Gestaltung stammte von Oswin Hempel und Wilhelm Röhnick; s. Oskar Kramer: Der Friedhof in der Dresdner Gartenbauausstellung, in: Mitteilungen LSH, XV, 1926, S. 234–242; Friedhofskunst in der Gartenbauausstellung 1926 [o.Verf.], in: Das deutsche Grabmal, II, 1926, S. 5–8; Hugo Koch: Die Jubiläumsausstellung für Gartenbau Dresden 1926, in: Die Form, I, 1926, S. 244–253, hier S. 253.

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gezeigt wurde.37 Schließlich veröffentlichte der sächsische Reformer Stephan Hirzel unter dem Dach des Reichsausschusses 1927 das programmatische Standardwerk Grab und Friedhof der Gegenwart.38 Die Publikation hatte der Sächsische Landesausschuss angeregt.39 Die vielfältige organisatorische und publizistische Tätigkeit des Reichsausschusses zeigt die Spannbreite an, in deren Rahmen sich das künstlerische Engagement der Reformer in der Weimarer Republik bewegte. Oberstes Ziel der Reformer blieb weiterhin, das Publikum zur richtigen Gesinnung und zur Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Sepulkralkultur zu erziehen. Auch 1927 beklagte Karl Groß noch das Erscheinungsbild der Friedhöfe, die mehr „Stätte[n] des Redens in steinernen Phrasen“ als „Stätte[n] des Schweigens“ seien.40 Statt aber wie in der Vorkriegszeit unverändert das Grabmal aus dem Fabrikkatalog anzuprangern und handwerklich-künstlerisch gestaltete Unikate als Gegenentwürfe zur industriellen Grabmalproduktion zu gestalten, arbeiteten die Reformer nun eng mit der Industrie zusammen. Karl Groß beispielsweise entwarf Typengrabmäler für die maschinelle Serienproduktion, die auf die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten zielten und in der Praxis für die Aufstellung auf Reihengrabstätten städtischer Friedhöfe vorgesehen waren. Die Kooperation mit der Industrie ist dabei keineswegs mit einer grundsätzlichen Ablehnung des handwerklich gestalteten Grabmals gleichzusetzen, auch wenn sie der Phase bis 1914 auf den ersten Blick diametral entgegengesetzt zu sein scheint. Vielmehr erwarteten die Spitzenverbände der Industrie als Gegenleistung für ihr öffentliches Eintreten für die Ziele der Friedhofsreformer die Bereitschaft der Gestalter zur Zusammenarbeit. Ein für die 1920er Jahre paradigmatisches Projekt war die Erarbeitung eines Vorlagenwerks für Grabplatten aus Glas, das von Karl Groß in Verbindung mit einem Werkzeichnungsheft „Normung von Grabplatten und Steinen“ 1925 vom Verband Deutscher Grabplattenfabriken e.V. (mit Sitz in Dresden) in Kooperation mit dem Reichsausschuss herausgegeben wurde.41 In der als praktische Anleitung für Verbandsmitglieder gedach-

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Kult und Form, Versuch einer Gegenüberstellung, zusammengest. und hg. v. Rudi H. Wagner, KunstDienst der Evangelischen Kirche [1928–1968], o.O.u.J., hier 1968, S. 25f. und S. 37; Jürgen Rennert: Kunstdienst der Evangelischen Kirche, Berlin 1993, o.S.; Bundesarchiv in Berlin (BArch), Reichskunstwart, R 32/346, Bl. 85f. Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal, Sitzung des Arbeitsausschusses am 25. Januar 1931 in Halle. Die bewusst allgemeinverständlich angelegte Ausstellung umfasste die Abteilungen „Historischer Rückblick“, „Symbolik“, „Bestattungswesen“, „Die neuzeitliche Friedhofsanlage in Beispielen“ (u.a. Dorf-, Kleinstadt-, Großstadtfriedhof, Park-, Wald- und sachlicher Friedhof mit Vorschlägen für die Gestaltung von Einzelgräbern, Gräberreihen und -feldern), „Das neuzeitliche Grabdenkmal in Beispielen“ (Grabmalgewerbe, Grabmalindustrie und das Zulassungszeichen des Reichsausschusses, Materialbezeichnung), „Die Kriegerehrung.“ Karl Groß: Grab und Grabmal, in: Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. 3–10; Ders.: Die Urne, in: Ebd., S. 110–113. Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. VII. Primär richtete sich das in drei Teile – Grab, Friedhof, Richtlinien – gegliederte Werk, das mit Beiträgen von Reformvertretern aus unterschiedlichen Regionen bestückt war, an ein Fachpublikum. Groß 1927 (wie Anm. 38), S. 3.

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Abb. 5: Vorlagenwerk für Grabplatten und Grabsteine des Verbands deutscher Grabplattenfabriken e.V., Typen-Grabplatten aus matt geschliffenem Schwarzglas, 1925

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Abb. 6: Vorlagenwerk für Grabplatten und Grabsteine des Verbands deutscher Grabplattenfabriken e.V., Typen-Grabplatten aus matt geschliffenem, rotem Opak- und Schwarzglas, 1925

ten Mustersammlung waren die Richtlinien von 1922 einschließlich des Zulassungsverfahrens für die Verleihung der Qualitätsmarke42 konsequent umgesetzt worden. Auf dem Gebiet der industriellen Grabmalherstellung leistete das Vorlagenwerk Pionierarbeit.43 Groß’ Anteil konzentrierte sich auf die Bearbeitung der Typen für die Glasplatten, die als „das Wesentliche des ganzen Grabmals gerade hinsichtlich seiner ideellen Wirkung auf den Betrachter“44 erachtet wurden. Das Aufgreifen dieses Themas bezeugt Wagemut, denn viele Kollegen, darunter die Architekten Hans Grässel aus München und Johannes Erbe aus Breslau, lehnten Glas als Werkstoff für Grabmäler kategorisch als unkünstlerisch ab.45 Bei den großschen Typen (Abb. 5, 6) handelte es sich ausnahmslos um Platten aus massivem roten oder grauschwarzen Farbenglas mit mattgeschliffener Oberfläche.

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VZ V.D.G.F. [Vorlagenwerk für Grabplatten und Grabsteine mit dem Zulassungszeichen des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal mit beiliegendem Werkzeichnungsheft „Normung von GrabPlatten und -Steinen.“ Bearbeiter der Typen: Karl Groß.], hg. v. Verband Deutscher Grabplattenfabriken e.V., Sitz Dresden in Zusammenarbeit mit dem Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal, Dresden o.J. [1925]. Karl Groß wird als Bearbeiter der Typen genannt, womit in erster Linie die Zusammenstellung gemeint sein dürfte. Die Autorschaft der verschiedenen Typen ist der Quellenlage nach nicht eindeutig zu bestimmen. Es ist denkbar, dass ein Teil der Entwürfe von Groß persönlich stammte, ebenso wahrscheinlich ist es, dass sich die Mitglieder der Dresdner Kunstgewerbeakademie aktiv an der Gestaltung beteiligten. Möglicherweise hat Karl Groß in seiner Funktion als Projektkoordinator bei einigen Exemplaren auch auf einen bestehenden Fundus zurückgegriffen. Unter der Voraussetzung der strikten Einhaltung der abgedruckten Vorschriften beinhaltete dies die Erlaubnis, sämtliche auf diese Weise hergestellten Grabplatten und -steine mit der Qualitätsmarke versehen zu dürfen. Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. X. VZ V.D.G.F. (wie Anm. 41), S. 5. Sprinz 1998 (wie Anm. 1), S. 29f.

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Mit der Materialwahl wollte Groß dem größten Kritikpunkt, poliertes Glas mit spiegelnder Oberfläche sei effekthascherisch und unwahrhaftig, etwas entgegensetzen. Der Vorwurf des Plagiats ist dennoch nicht vollständig von der Hand zu weisen, da insbesondere das Schwarzglas dem Naturstein Granit46 zum Verwechseln ähnlich sieht. Zwölf aus den geometrischen Formen Kreis, Quadrat und Rechteck abgeleitete Platten in unterschiedlichen Stärken und Maßen bildeten das Grundgerüst (Abb. 7). Der Grabstein, entsprechend der genormten Maße (Höhe, Breite, Stärke) für Kinder und Erwachsene wahlweise in Betonwerkstein oder Naturstein, als Stele in vier Grundformen oder als Pult- und Rahmenständer ausführbar, wurde dagegen lediglich als Träger aufgefasst (Abb. 8, 9). Vorschriften für dessen farbliche Gestaltung und Oberflächenbearbeitung sollten das harmonische Zusammenwirken von Stein und Platte – dem Abb. 7: Werkzeichnungsheft des Verbands eigentlichen Grabmal – gewährleisten.47 Die deutscher Grabplattenfabriken e.V., Grundsich aufgrund der verschiedenen Formen und formen für Grabplatten aus Glas, 1925 Maße von Platten und Steinen ergebende Vielzahl von Kombinationen erhielt durch die drei wählbaren Verbindungsarten – aufgesetzt, vertieft oder mit erhöhtem Profil umgeben – eine weitere Steigerung (Abb. 10).48 Die Kriterien, die Groß aufbauend auf den Grundformen und -farben der Glasplatten für deren ästhetisch-ideelle Auszeichnung als Grabmal zugrunde legte, ergaben sich aus Art und Anordnung sowie farblicher Gestaltung von Schrift und Symbolik (Abb. 5, 6). In 46

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Ergänzend sei angemerkt, dass auch polierter Granit mit seiner spiegelnden Oberfläche vehement abgelehnt wurde, während Groß sich im Zuge der Konzeption für die Ausstellung „Tod und Leben“ dafür einsetzte, auch hierfür „vollkommene Lösungen“ zu erarbeiten; BArch, R 32/346, Bl. 85f. Sitzung des Arbeitsausschusses am 25. Januar 1931 in Halle. Betonwerkstein war in mittel- bis dunkelgrauer Tönung zu halten und an allen Seiten gleichmäßig und solide zu bearbeiten. Gleiches galt für Naturstein, wobei die Oberflächenbearbeitung nicht zu grob gehandhabt werden sollte. Vorgaben bezüglich der Verwendung bestimmter Natursteine wurden nicht getroffen, jedoch davon abgeraten, rötliche oder grünliche Steinsorten zu verwenden (besonders in Verbindung mit roten Glasplatten). Daneben gab es spezifische Regelungen für die Verbindung von Platte und Stein sowie Direktiven für ihre ordnungsgemäße Aufstellung. VZ V.D.G.F. 1925 (wie Anm. 41), o.S. Ebd., o.S. Aufgesetzte sowie Pult- bzw. Lehnplatten konnten darüber hinaus noch mit einem facettierten Rand versehen werden.

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Abb. 8: Werkzeichnungsheft des Verbands deutscher Grabplattenfabriken e.V., stehende Grabsteine in den Grundformen I, III und IV, 1925

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Abb. 9: Werkzeichnungsheft des Verbands deutscher Grabplattenfabriken e.V., Pult- und Rahmenständer-Grabsteine in den Grundformen I und II, 1925

der Summe reichte das Spektrum von schlichten, einfachen Platten, die lediglich den Namen des Verstorbenen und dessen Lebensdaten trugen, bis hin zu aufwendigen, detailliert ausgestalteten Beispielen, bei denen die ‚Grunddaten‘, durch Symbole und Sinnsprüche bereichert, in einfacher oder doppelter Rahmung erschienen. Bei den meisten Platten war die Schrift in Antiqua ausgeführt, seltener kamen Kursivschriften und Fraktur vor. Die verwendeten Schrifttypen orientierten sich an den von Heinrich Wieynck herausgegebenen Tafeln Alphabete für die Praxis.49 Schrift beziehungsweise Schriftsatz und Symbol waren vorwiegend in einer Farbe gestaltet, wobei die Palette von Naturgrau, Mattschwarz, Schwarzgrau über Braunrot bis hin zu Altgoldgelb, Altsilber und Gold reichte.50 49

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Heinrich Wieynck: Alphabete für die Praxis. Grundformen für alle Techniken, Plauen o.J. [21925]; insgesamt 28 Tafeln. Das Vorlagenwerk konzentriert sich auf die Wiedergabe historischer Schriften in ihrem zeittypischen Charakter. Die einzelnen Tafeln sind so aufgebaut, dass sie Anwendern unterschiedlicher Fachgebiete Anregungen für die werkgerechte Umsetzung geben können. Naturgrau und Altgoldgelb treten bei schwarzen, Gold und Mattschwarz bei roten Glasplatten am häufigsten auf.

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Wurden zwei Farben miteinander kombiniert, fanden bei Schwarzglasplatten Altgoldgelb-Naturgrau, Gold-Naturgrau, Altgoldgelb-Altsilber, bei roten Opakglasplatten GoldMattschwarz und Gold-Schwarzgrau Anwendung. Der Anteil an Schwarzglasplatten überwiegte deutlich. Das beigefügte Werkzeichnungsheft gab Aufschluss über die Farbzusammensetzung und den Farbauftrag. Es belegt, dass auch bei einfachsten Grabplatten der soliden, materialgerechten Umsetzung ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Die Verwendung von Öl- und Emailfarben wurde untersagt, dagegen waren matte, lichtechte Farben erlaubt. Bei Vergoldung war hochwertiges und kostspieliges Blattgold zu verwenden. Schrift und Symbol sollten, „um die Schönheit der mattgeschliffenen Oberfläche der Platte zu erhalten, [...] eingeblasen werden.“ Der Farbton Naturgrau ergab sich aus dem ausgeblasenen Grund.51 Die vorwiegend tonige Farbigkeit von Schrift und Symbolik wurde im Hinblick auf ihre sepulkrale Bestimmung ausgewählt. Gold- und Silbertöne unterstrichen die sakrale Wirkung. Als aufschlussreich erweist sich auch die Symbolik. Grabplatten mit christlichen und sepulkralen Sinnbildern wie dem Kreuz und dem Gekreuzigten, Palme, Lilie, Rose, dem im Kreis eingeschriebenen Lamm, Taube, Schiff und Engel standen Beispielen mit profanen Symbolen wie Berufs- und Handwerkszeichen oder zartstieligen Blattranken gegenüber. Ausnahmslos handelte es sich um Zeichen, die auf eine längere Tradition verwiesen und zum Allgemeingut gehörten. Umso erstaunlicher ist es, das selbst Formeln wie das „Jesus Hominum Salvator“ (IHS) oder „Ruhe in Frieden“ (R.I.P.) mit geradezu pädagogischem Fleiß erläutert wurden. Über die Erarbeitung von sinngemäß anzuwendenden Mustern für ästhetisch gelungene, künstlerisch gestaltete Grabplatten hinaus nutzte der Künstler Karl Groß das Vorlagenwerk zugleich für die Vermittlung von Inhalten im Sinne seines Verständnisses von Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Sepulkralkultur. Statt Symbole formelhaft auf den Grabzeichen anzuwenden, sollten diese stets mit sorgfältigem Blick auf den Charakter, den Habitus und die Lebenseinstellung des Verstorbenen ausgewählt werden. Die in Farbe, Form, Material und Bearbeitung normierten Grabplatten und -steine waren bis ins Detail auf die maschinelle Produktion abgestimmt und forderten Hersteller und Verbraucher die Akzeptanz eines umfangreichen Regelwerks ab. Dieser Uniformität wurde jedoch durch die verschiedenen Grundformen, Schriften, Symbole und die augenfällig oft auftretenden Berufsbezeichnungen (Abb. 5) begegnet. Im Ergebnis ermöglichte dieses ‚Baukastenprinzip‘ trotz Standardisierung eine große Bandbreite von Varianten, sodass jedes Grabmal zum Ausdrucksträger einer individuellen, nicht beliebig austauschbaren Persönlichkeit wurde. Die mit diesem Konzept verbundene Friedhofsästhetik, die primär auf Typengrabmäler setzt, welche durch eine rhythmische Anordnung und Abwechslung in der Gestaltung geprägt sind, zeigt der kleine Musterfriedhof, der anlässlich der Fertigstellung des Projektes im Garten der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe in Dresden angelegt wurde (Abb. 10).52 51 52

VZ V.D.G.F. 1925 (wie Anm. 41), o.S. Die Friedhofsanlage war für Besucher auf Anfrage öffentlich zugänglich. Die Ausführung der Grab-

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Abb. 10: Musterfriedhof im Garten der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe in Dresden, um 1925

Bestand unter den Friedhofsreformern hinsichtlich der Priorität der Stele als dem Grabmaltyp für Erdbegräbnisse in den 1920er Jahren weitestgehend Konsens, differierten die Meinungen in Fragen der Friedhofsästhetik erheblich. Die Bandbreite reichte von Vertretern, die die ästhetische Gleichschaltung der Grabmäler und strikt nach geometrischen Prinzipien zu gestaltende Gräberfelder als Ideal des modernen Friedhofs propagierten, bis hin zu Verfechtern des vor dem Hintergrund der Tätigkeit des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal überholt erscheinenden beschaulichen, stimmungsvollen Begräbnisplatzes.53 Für die Gestaltung von Urnengrabstellen existierten im Gegensatz dazu kaum konkrete Vorstellungen. Selbst in den Richtlinien von 1922 war lediglich verankert, dass der Friedhof ausreichend Platz für die Aufstellung von Urnen bieten müsse und die technischen Einrichtungen derart auszustatten seien, dass sie auch für Feuerbestattungen genutzt werden könnten.54

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platten übernahm die Sächsische Glasmanufaktur C. Hey in Roßwein. Eine Auswahl der Grabsteine zeigte die Jubiläums-Gartenbauausstellung in Dresden 1926. Abb. s. Mitteilungen LSH, XV, 1926, S. 236; Das deutsche Grabmal, II, 1926, S. 6; Form, I, 1926, S. 253. S. hierzu ausführlich Fischer 1996 (wie Anm. 1), bes. S. 84–88, der die politische Dimension in ihrer Vielschichtigkeit beleuchtet und hinsichtlich der Entwicklung der Sepulkralkultur unter den Nationalsozialisten zu dem Ergebnis kommt, dass beide Kontrahenten in ihren Extremen – stellvertretend seien Ernst May und Paul Schultze-Naumburg genannt – ideologische Anknüpfungspunkte boten. Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. VII; Richtlinien, in: Ebd, S. 121 und 124.

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Abb. 11: Schema eines Reihengräberfeldes, plastische Studie der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe in Dresden, 1927

Karl Groß sah den Ausgangspunkt des Friedhofs für Erdbestattung im Einzel- beziehungsweise im Familiengrab, das er als „Ordnungszelle“ bezeichnete. Die Vielzahl der farblich und formal nach bestimmten Regeln zu gestaltenden „Ordnungszellen“ ergebe eine Gräbergemeinschaft. Die innere Zusammengehörigkeit einer Gräbergemeinschaft drücke sich zum einen in der hierarchisch nach Grabmaltypen gestuften, rhythmischen Anordnung der „Ordnungszellen“ (Abb. 11), zum anderen in einer um die äußeren Grenzen der Gemeinschaft anzulegenden Bepflanzung aus. Aus einer Anzahl auf diesem Wege zusammengefasster Gemeinschaften erwachse „organisch“ der Friedhof.55 Während die Richtlinien des Reichsausschusses aus ökonomischen Gründen eine Mindestanzahl von 200 Grabstellen pro Gräberfeld empfahlen, hielt Groß zwischen 100 bis 300 Zellen für angemessen.56 Bei der Gestaltung jeder Zelle – unabhängig, ob es sich um ein Einzel- oder Familiengrab handelt – sei, so seine Vorstellung, zwischen zwei Typen zu unterscheiden: dem Hügelgrab und dem Grabbeet. Vermutlich ebenfalls primär wirtschaftlich motiviert, riet der Reichsausschuss von der Anlage der auf sehr alter Tradition fußenden Hügelgräber ab.57 Dagegen propagierte Groß

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Groß 1927 (wie Anm. 38), S. 4 und 7. Richtlinien, in: Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. 126; s. Karl Groß: Das Grab, in: Mitteilungen LSH, XVII, 1928, S. 117–120, hier S. 118. In der überarbeiteten Fassung ist das Maximum von Einzelzellen sogar auf 200 reduziert. Unklar bleibt, ob diese Änderung im bewussten Blick auf die Realgegebenheiten sächsischer Friedhöfe erfolgte, auf Wunsch von Karl Groß oder schlicht von der Redaktion vorgenommen wurde. Richtlinien, in: Grab und Friedhof 1927 (wie Anm. 26), S. 126. Begründet wurde die Entscheidung

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Abb. 12a–d: Karl Groß, Schema einer Hügelgräberreihe (a), Schema einer Grabbeetreihe mit einheitlichen Kernmaßen (b) und Schema zweier Grabbeetreihen (c und d), 1927

den „pflanzlich sinngemäß umsponnene[n] Hügel“ in seiner dem Erscheinungsbild des Sarges ähnlichen Form als „das schönste und einfachste Symbol und Denkmal.“58 Solle dieses für ein Grab an sich völlig ausreichende, würdevolle Symbol mit einem zusätzlichen Grabzeichen versehen werden, so übernehme dieses ausschließlich die Funktion eines Schriftträgers. Dieser könne entweder als Lehnplatte am Fuß oder in stehender Form am Kopf angebracht werden, dürfe aber den Hügel in keinem Fall dominieren (Abb. 12a).

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wenig überzeugend mit den größeren Unterhaltskosten in der gärtnerischen Pflege und der Unmöglichkeit, eine harmonische Gesamtwirkung des Grabfeldes zu erzielen. Groß 1927 (wie Anm. 38), S. 4f. Von den zu „mit Steinen eingefaßten Blumenkästen“ mutierten Erdhügeln, wie sie in der Praxis das Bild der Friedhöfe bestimmten, distanziert sich freilich auch Groß.

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Petra Klara Gamke-Breitschopf

Dagegen stelle das lediglich die Decke des Grabes bildende Grabbeet kein eigenständiges Symbol dar und sei daher mit einem Mal am Kopfende auszuzeichnen, das beide Funktionen einnehme. Dieses könne entweder als senkrecht stehender (Abb. 12b), im Winkel von 30 bis 45 Grad schräg liegender Schrift- und Symbolträger (Abb. 12c) oder als eine die gesamte Fläche abdeckende Grabplatte (Abb. 12d) ausgebildet sein. Da ein derartiges Grabmal zugleich den Abschluss des Grabbeetes ausdrücken müsse, habe es im Idealfall dessen gesamte Breite einzunehmen.59 Durch formal gezielt auf die einzelne Zelle abzustimmende Bepflanzung könne ein zusätzlicher Akzent gesetzt (Abb. 12a) oder ein fehlender Abschluss ausgeglichen werden (Abb. 12 b).60 Wendet man abschließend noch einmal den Blick von der Individualleistung einzelner Reformvertreter wie dem Künstlerlehrer Karl Groß ab, und widmet man sich stattdessen erneut den von der Forschung für die Friedhofsreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstatierten Grundtendenzen, so lassen sich, zumindest für die Entwicklung in Dresden, die beiden wesentlichen Beobachtungsstränge miteinander harmonisieren. Ausgehend von der Entwurfsgestaltung handwerklich-künstlerischer Unikate für Erd- und Feuerbestattung, die die Phase bis 1914 bestimmten, konzentrierten sich die Reformer während der 1920er Jahre auf die Zusammenarbeit mit der Industrie. Diese Trendwende wurde wesentlich durch neu implementierte Korporationen wie den Reichsausschuss und den Sächsischen Landesausschuss für Friedhof und Denkmal befördert. Die von Sachzwängen begleitete offizielle Tätigkeit im Dienst einer umfassenden Reform der Sepulkralkultur erforderte sowohl in künstlerisch-ästhetischer wie ideeller Hinsicht Kompromisse, öffnete jedoch zugleich die Chance, die Vorstellungen des einzelnen Künstlers von einem zeitgemäßen, ‚würdevollen‘ Umgang mit dem Tod über die Grenzen Dresdens und Sachsens hinaus zu verbreiten. Der Künstlerlehrer Karl Groß hat von der einzelnen Urne, auf die im vorliegenden Kontext nicht weiter eingegangen wurde, über den Grabstein bis hin zu Gestaltungsvorschlägen für die Anordnung ganzer Reihengräberfelder an der für die 1920er Jahre bestimmenden Entwicklung partizipiert, in deren Verlauf die Grabstelle breiter Bevölkerungsschichten eine zuvor nicht gekannte Aufmerksamkeit erlangte. Dass die Aufwertung des ‚einfachen‘ Grabmals dem Individuum zugleich die Akzeptanz eines bis zum heutigen Tag nachwirkenden Bündels von Vorschriften abverlangte, zeigt die Ambivalenz der Friedhofsbewegung. Hierin äußert sich nicht zuletzt die für zahlreiche Sepulkralreformer charakteristische Dialektik von Tradition und Innovation, von Individualität und Uniformität.

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Ebd., S. 5. Eine gezielte farbliche Gestaltung sei nicht erforderlich. Diese gewähre die Natur von sich aus; ebd., S. 7.

IV. Habitus in Form und Stil

Säulen – geknickt und gebogen Matthias Untermann

1183/1184 verlieh Kaiser Friedrich Barbarossa auf Ersuchen Bischof Konrads II. den Bürgern der Bischofsstadt Worms wichtige Freiheiten.1 Sie wurden in einer Urkundeninschrift publiziert, kaum lesbar, aber gut sichtbar über dem stadtseitigen, nördlichen Hauptportal der Wormser Domkirche.2 Als architektonische Auszeichnung wurde ein säulengetragener Baldachin mit zusätzlicher kommentierender Widmungsinschrift geschaffen (Abb. 1).3 Seine schlanken Säulen stehen allerdings nicht auf dem Erdboden, sondern knicken schräg ab und stützen sich auf die Außenwand der Kirche, in die ungewöhnlich dekorierte Konsolen eingelassen sind. Das Portal selbst ist ein demgegenüber konventionelles Säulenportal. Die – seit langem auf andere Themen konzentrierte – Forschung zum Wormser Dom betrachtet die Form der Balda1

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Abb. 1: Worms, Dom, Nordportal am Langhaus, um 1165, mit 1188 zugefügtem Baldachin (partiell rekonstruiert)

Die Urkunden Friedrichs I. (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata, 4: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, 10), hg. v. Heinrich Appelt, Bd. 4, Hannover 1990, Nr. 853, S. 82–84; Gerald Bönnen: Dom und Stadt. Zu den Beziehungen zwischen der Stadtgemeinde und der Bischofskirche im mittelalterlichen Worms, in: Der Wormsgau, XVII, 1998, S. 8–55, hier S. 17–19. Das freie Ehe- und Erbrecht hatte bereits Heinrich V. 1111 den Bürgern von Speyer und 1114 denen von Worms gewährt; Friedrich I. erließ ihnen 1182 bzw. 1184 dann auch die Todfallabgaben und den Kopfzins als letzte Elemente der nun aufgegebenen grundherrschaftlichen Bindungen. Knut Schulz: „Denn sie liebten die Freiheit so sehr ...“ Kommunale Aufstände und Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt 1991, S. 92–99. Rüdiger Fuchs: Die Inschriften der Stadt Worms (Die deutschen Inschriften, 29), Wiesbaden 1991, S. 27–33, Nr. 26f.; Bönnen 1998 (wie Anm. 1), S. 19–23. Rudolf Kautzsch: Der Dom zu Worms, Berlin 1938, S. 122; Burkard Keilmann: Die Kaiserurkunde von 1184 und das Kaiserportal am Dom zu Worms, in: Der Wormsgau, XIV, 1982/86, S. 15–19.

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Matthias Untermann

chinsäulen am ehesten als ornamentale ‚Spielerei‘ – ohne zu bedenken, dass die auf Dauer gerichtete Publikation des hochrangigen Rechtsakts kaum durch ein Stilmittel unangemessener ‚Leichtfertigkeit‘ (levitas)4 ihrer Würde beraubt und in ihrer Wirkung gefährdet worden wäre. Auf dem Platz vor diesem Portal, auf dem ‚Hof‘, versammelte sich seit dem späten 12. Jahrhundert die Bürgerschaft der Stadt zu Wahlen und zum Gericht.5 Der von Säulen getragene Baldachin als Element der Auszeichnung des Herrschers und seiner höchsten Stellvertreter sowie – im christlichen Kult – des Altars als Ort der Transsubstantiation von Wein und Brot in der Messfeier war im 12. Jahrhundert längst zu einem geläufigen Architektur- wie Bildmotiv geworden, blieb aber eine nicht frei verfügbare Würdeformel. Auch die Säule selbst wurde seit dem 11. Jahrhundert in den meisten Regionen Westeuropas wieder deutlich als Element strenger, an antiken Vorbildern orientierter Ordnung behandelt und gewann nach 1140 gerade in der ‚frühgotischen‘ Architektur Nordfrankreichs neue Bedeutung.6 Geknickte Säulenschäfte dürften da-mals als bewusste Normdurchbrechung wahrgenommen worden sein: Der Wormser Baldachin zeichnete eine Rechtssetzung aus, in der der deutsche König nicht alte Freiheiten bestätigte, sondern neues Recht setzte – und damit althergebrachte Rechte des Bischofs einschränkte –, nachdem er 1157 und 1161 in Trier, 1160/1163 in Mainz die Freiheitsforderungen der Bürger gegenüber dem Erzbischof noch zurückgewiesen hatte.7 Die Publikation der Rechtssätze an der Domkirche demonstrierte zugleich die immer wieder neu eingeforderte enge Bindung der Stadtadligen wie der deutschen Bischöfe an den König – die in Worms damals durch Bischof Konrad II. durchaus akzeptiert war.8 Die geknickten Säulen des Baldachins könnten augenscheinlich machen, dass der König nicht an alte Rechte gebunden war, sondern neue Normen setzen konnte und dies – zumindest im lokalen Verständnis – in Worms tatsächlich getan hat. Fast zeitgleich ließ jedoch auch Bischof Konrad II. im neuen Westchor seiner Domkirche9 demonstrieren, dass althergebrachte Normen der Architektur für ihn ebenso wenig galten. Der polygonale Westbau erhielt eine reichere Ornamentik als das damals gerade fertig gestellte Langhaus, die alle Bauglieder einbezog. Vier Rundfenster und zahlreiche 4

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Levitas bildet bei Bernhard von Clairvaux nach der curiositas die zweite der sechs Stufen der „Leiter des Stolzes“: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler, Bd. II, Innsbruck 1992, S. 40f. – Zu levitas als zisterziensischem Kriterium der Beschreibung von Architektur: Matthias Untermann: Forma Ordinis (Kunstwissenschaftliche Studien, 89), München/ Berlin 2001, S. 115, 152. Bönnen 1998 (wie Anm. 1), S. 33–36. Willibald Sauerländer: Abwegige Gedanken über frühgotische Architektur und ,The Renaissance of the Twelfth Century‘, in: Études d’art médiéval offertes à Louis Grodecki, hg. v. Sumner Mc K. Crosby u.a., Paris 1981, S. 167–183, hier S. 177. Schulz 1991 (wie Anm. 1), S. 163–182. Hubertus Seibert: Reichsbischof und Herrscher. Zu den Beziehungen zwischen Königtum und Wormser Bischöfen in spätsalisch-frühstaufischer Zeit (1107–1217), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, CXLIII, N.F. CIV, 1995, S. 97–144, hier S. 117–126. Zur Funktion Bönnen 1998 (wie Anm. 1), S. 43–45.

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Rundblenden zeigen die Kenntnis normannisch-spätromanischer und französisch-frühgotischer Bauten. Die mittlere Rose der Westwand sprengte demonstrativ ihre Begrenzung (Abb. 2)10: Ihr profilierter Rahmen ist deutlich breiter als die Wandfläche und verdrängt die dünnen Ecksäulchen (Dienste) der beiden angrenzenden Polygonseiten. Unterhalb der Rose werden sie zur Seite gebogen, oberhalb in vertikale Elemente zersplittert. Diese einzigartigen, von der Rose verdrängten Dienste wurden im Wormser Dom später – zu noch unbekannter Zeit vor 1689 – als unpassend betrachtet und mit gerade durchlaufenden Schaftelementen ergänzt, die Rose entsprechend seitlich beschnitten.11 Wollte „der Architekt die normale Sehgewohnheit der Betrachter in fast manieristischer Weise ad absurdum führen“12, ist die Bezwingung der Materie durch die Form das Thema dieses Motivs, oder handelt es sich lediglich um künstlerische Virtuosität einem „originellen Abb. 2: Worms, Dom, Westpolygon, Holzmodell der Effekt“ zuliebe?13 mittleren Rose, Rekonstruktion des ursprünglichen ZuDemonstrative Transgression ar- stands, um 1180 chitektonischer Normen gehörte in den Jahrzehnten zwischen 1170 und 1240 zu den wesentlichen Elementen hochrangiger Architektur14 vor allem im Südwesten des deutschen Reichs, der oberrheinisch-fränkischen Region – weithin im Gegensatz zum Niederrhein, zu Nordfrankreich, zu Italien oder zum anglonormannischen Raum mit ihren jeweils eigenen, anderen, aber deutlich konsistenteren Konventionen. Gestalterische Innovation bediente sich im südwestdeut10

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Kautzsch 1938 (wie Anm. 3), S. 167; Ders.: Der Meister des Westchors am Dom zu Worms, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, I, 1934, S. 2–15; Dethard von Winterfeld: Neue Gedanken zur alten Diskussion über den Wormser Westbau, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, XLIV, 1990, S. 76–91, hier S. 82; zur Entdeckung des Befunds 1886 und zu seiner Dokumentation 1901: Ph[ilipp]. J. Fehr: Zur Restauration des Domes zu Worms, Worms 1886, S. 49; s. Kautzsch 1938 (wie Anm. 3), S. 167, 240. Die geraden Dienste zeigten dieselben Brandspuren von 1689 wie das romanische Mauerwerk. S. Kautzsch 1938 (wie Anm. 3), S. 167. Winterfeld 1990 (wie Anm. 10), S. 82. Hans Kunze: Der Westchor des Domes zu Worms, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft, XIV, 1960, S. 81–98, hier S. 83f. Einen exemplarischen Überblick zur Baukunst dieser Epoche bietet Matthias Untermann: Kloster und Stift. Baukunst und Bildung der geistlichen Gemeinschaften, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. II: Romanik, hg. v. Susanne Wittekind, München u.a. 2009, S. 410–495 (mit Beiträgen von Sascha Köhl, Katinka Krug, Charlotte Lagemann und Andrea Worm).

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schen Gebiet weniger der Entwicklung neuer, in sich kohärenter Systeme, sondern auffallend häufig des jeweils individuell wirkenden Bruchs architektonischer Normen. Für die Formenfülle der Architektur dieser Epoche bleibt der von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch eingeführte Begriff des ornatus difficilis noch nutzbar zu machen.15 Allerdings scheint sich das Verhältnis von Norm und Transgression in der Architektur dieser Epoche von anderen Kunstgattungen zu unterscheiden. Architektur und architektonische Motive des Mittelalters werden in vielfältiger Weise an der antiken Baukunst gemessen; dies gilt nicht nur für die ältere Kunstgeschichtsschreibung16, sondern bereits für Baumeister, Auftraggeber und Chronisten des Mittelalters selbst. Gerade die mittelalterliche Verwendung und Gestaltung der Säule bzw. der Gebrauch anderer Stützensysteme gelangte in die Kritik der Renaissance-Theoretiker und der von diesen geprägten Kunstgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts17 – nirgends mehr als dort war die ‚Fehlerhaftigkeit‘ mittelalterlicher Baukunst so anschaulich zu zeigen, und mit der Entdeckung von ‚Protorenaissancen‘ in der Kunst des 8./9., 10. und 12. Jahrhunderts rühmte die Kunstgeschichte neben Werken der Bildkunst jeweils auch die überraschend präzise Nachbildung antiker Säulenordnungen. Die „rücksichtslose Unbefangenheit gegenüber jeglicher Vorstellung von kanonischer Proportion und gegen die klassische Regulierung der Säulenordnungen“, mit der Sauerländer den Einsatz antikischer Motive in der Kathedrale von Autun charakterisierte18, bedarf keiner neuen, grundsätzlichen Diskussion. Den Charakter von Normen gewannen Vitruvs Proportionsangaben weder in der römischen Antike noch im Mittelalter, sondern erst in der italienischen Renaissance – und in der jüngeren Kunstgeschichtsschreibung.19 Schon vom 2. bis 6. Jahrhundert wurde das vitruvianische System der Säulenordnungen vielfältig durchbrochen: durch den Einsatz von Säulen als Träger von Bögen, durch unerwartete Benutzung bestimmter Säulenordnungen im Bauzusammenhang, durch Veränderung des Aufbaus der Einzelelemente – schließlich durch zuvor unüblich freie Kombination von Säulen verschiedener Ordnung in einer Baustruktur wie an der Kathedrale von Poreč20, in der Gestaltung von ‚windbewegten‘ Akanthusblättern auf Kapitellen und 15 16

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Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Der Zackenstil als ,ornatus difficilis‘, in: Aachener Kunstblätter, LX, 1994, S. 257–266. Bruno Klein: Die Erfindung der ‚Romanik‘ im 19. Jahrhundert. Die Antikisierung der mittelalterlichen Kunst, in: Antike als Konzept. Lesarten in Kunst, Literatur und Politik, hg. v. Gernot Kamecke u.a., Berlin 2009, S. 27–34. Sauerländer 1981 (wie Anm. 6). Ebd., S. 170. Heiner Knell: Vitruvs Architekturtheorie, eine Einführung, 3., aktual. Aufl., Darmstadt 2008; Vitruvio nella cultura architettonica antica, medievale e moderna, hg. v. Gianluigi Ciotta, Genua 2003. Friedrich Wilhelm Deichmann: Säule und Ordnung in der frühchristlichen Architektur, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung, LV, 1940, S. 114–130; Beat Brenk: Spolien und ihre Wirkung auf die Ästhetik der varietas. Zum Problem alternierender Kapitelltypen, in: Antike Spolien in der Architektur des Mittelalters und der Renaissance, hg. v. Joachim Poeschke, München 1996, S. 49–92.

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in der Erfindung des Kämpferkapitells21 sowie in der Erfindung gewundener und geknoteter Säulenschäfte22 – oft hat der Bildhauer dabei die Härte des Marmors überwunden und dennoch ‚Festigkeit‘ dargestellt. Die antiken Säulenordnungen mit all ihren unkanonischen Variationen waren Werkleuten und Auftraggebern des Mittelalters eher aus der Anschauung23 als durch die punktuelle Überlieferung der Schriften Vitruvs bekannt.24 Für die Zeit vor 1000 ist überdies mit stark reduzierten, aber insgesamt ungebrochenen Traditionen der Bautechnik im Mittelmeerraum zu rechnen.25 Die Ordnung antiker Säulen – mit Plinthe, Basis, Schaft und Kapitell – wurde in auffallender Weise im frühen und hohen Mittelalter als verbindlich akzeptiert, nicht nur in gebauter Architektur, sondern auch in der Kleinkunst und in gemalter Architektur, sogar in den Grundformen der Kapitelle (ionisch, korinthisch, komposit).26 Variationen betreffen bekanntlich die Proportionen, die Gestaltung der einzelnen Glieder, besonders der Basen und der Kapitelle, aber auch den Verzicht auf die Entasis, später sogar auf deutliche Verjüngung der Schäfte. Daneben blieb der flache Wandpfeiler (Lisene) seit römischer Zeit besonders für Außengliederungen üblich, meist trägt er Blendbögen.27 Die beiden wichtigsten Brüche mit der Tradition bedeuteten im frühen 11. Jahrhundert die Erfindung des kubisch-geometrischen Würfelkapitells28 und die starke Überlängung von Wandsäulen zum Dienst.29

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Spätantike und byzantinische Bauskulptur (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie, 19), hg. v. Urs Peschlow/Sabine Möllers, Wiesbaden 1998; Joachim Kramer: Justinianische Kämpferkapitelle mit einem Dekor aus Paaren von Zweigen und die Nachfolgekapitelle im Veneto (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz. Kunst im ersten Jahrtausend, Reihe B: Studien und Perspektiven, 22), Wiesbaden 2006. Michael Altripp: Die geknoteten Säulen in der byzantinischen und romanischen Kunst, in: Mediaevistik, XIX, 2006, S. 9–20. Lukas Clemens: Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 50) (Habil. Mainz, 2000), Stuttgart 2003. Stefan Schuler: Vitruv im Mittelalter. Die Rezeption von ,De architectura‘ von der Antike bis in die frühe Neuzeit (Pictura et poesis, 12) (Diss. Münster, 1996), Köln u.a. 1999. Norbert Nußbaum: Antike Bautechnik im Mittelalter. Wissenstransfer oder Lernen durch Nachahmen?, in: Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretationen antiker Werke im Mittelalter (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes/Centre for Mediterranean Cultures [ZAKMIRA], 6), hg. v. Dietrich Boschung/Susanne Wittekind, Wiesbaden 2008, S. 161–188. John Onians: Bearers of Meaning. The Classical Orders in Antiquity, the Middle Ages, and the Renaissance, Princeton 1988; Günther Binding: Vom dreifachen Wert der Säule im frühen und hohen Mittelalter (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, 138, 2), Stuttgart/Leipzig 2003. Ohne neue Aspekte zu diesen Fragen: Antike als Konzept 2009 (wie Anm. 16). Susanne Hohmann: Blendarkaden und Rundbogenfriese der Frühromanik. Studien zur Außenwandgliederung frühromanischer Sakralbauten (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28: Kunstgeschichte, 345) (Diss. Würzburg, 1998), Frankfurt a.M. u.a. 1999.

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In durchaus bemerkenswerter Weise setzten sich dann in zahlreichen europäischen Regionen für große Zeiträume der Epoche vom 11. bis 15. Jahrhundert normativ wirkende architektonische Formensprachen (‚Regionalstile‘) durch, zwischen denen und innerhalb derer Auftraggeber und Künstler durchaus wählen konnten.30 Sie betreffen in zentraler Weise die Gestaltung der Stützen, insbesondere der Säulen.31 Was in einer umrissenen Region zu einem bestimmten Zeitpunkt als Norm gelten kann, soll nachfolgend nicht ausführlicher diskutiert werden. Das Zusammenwirken von Werkleuten und Künstlern, die an der Lösung und Weiterentwicklung formaler Probleme interessiert waren, und von Auftraggebern, die ihre Werke mit angemessener Stilebene sowie mit wieder erkennbaren Formbezügen auf ältere oder konkurrierende Monumente versehen wollten, wird derzeit nur für die Gotik des späten 13. bis 15. Jahrhunderts produktiv diskutiert.32 Für die hier angesprochene Epoche zwischen 1170 und 1240 scheinen seit längerem eher Skulptur und Malerei in den Blick genommen zu werden als die Architektur33, und auch dort sind die Methoden der formalen Ordnung und Datierung noch durchaus umstritten.34 Die Baukunst dieser Epoche bedarf nach einer Vielzahl naturwissenschaftlich begründeter Neudatierungen einer grundlegenden Neuordnung der Formbezüge wie der geschichtlichen Abfolge zentraler Monumente zwischen 1170 und 124035 – derzeit sind vor allem die Konsequenzen der neuen Frühdatierung der Kathedrale von Reims noch gar nicht zu überschauen.36 28 29

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Günther Binding: Köln oder Hildesheim? Die ,Erfindung‘ des Würfelkapitells, in: Wallraf-RichartzJahrbuch, LXVI, 2005, S. 7–38. Hans Erich Kubach/Walter Haas: Der Dom zu Speyer (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz), München/Berlin 1972, S. 789–792; Hans Erich Kubach: Architektur der Romanik, Stuttgart 1974, S. 102, 107. Dieter Kimpel/Robert Suckale: Die gotische Architektur in Frankreich 1130–1270, München 1985 (21995); Eliane Vergnolle: L’art monumental de la France romane, le XIe siècle, London 2000; mit eher traditioneller Methodik: Kubach 1974 (wie Anm. 29). Für das Gebiet von Oberrhein und Franken s. Walter Hotz: Die Wormser Bauschule 1000–1250, Darmstadt 1985; Matthias Untermann: Kaiserdome oder Kunstlandschaft? Romanische Baukunst und regionale Identität, in: Kurpfalz und Rhein-Neckar. Kollektive Identitäten im Wandel, hg. v. Volker Gallé u.a., Heidelberg 2008, S. 51–62. Eliane Vergnolle: L’art roman en France, Paris 1994, S. 115–120. Marc Carel Schurr: Die Baukunst Peter Parlers (Diss. Fribourg, 2001), Ostfildern 2003; Ders.: Gotische Architektur im mittleren Europa 1220–1340, von Metz bis Wien (Kunstwissenschaftliche Studien, 137), München/Berlin 2007; Christoph Brachmann: Um 1300: Vorparlerische Architektur im Elsaß, in Lothringen und Südwestdeutschland (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 1), Korb 2008. Die zahlreichen Studien in der Nachfolge von Kimpel/Suckale 1985 (wie Anm. 30) wirken nicht klärend. Saurma-Jeltsch 1994 (wie Anm. 15); Jean Wirth: La datation de la sculpture médiévale, Genf 2004; Linda Seidel: Formalism, in: A Companion to Medieval Art. Romanesque and Gothic in Northern Europe (Blackwell companions to art history, 2), hg. v. Conrad Rudolph, Malden, MA/Oxford 2006, S. 106–127; Stilfragen zur Kunst des Mittelalters. Eine Einführung, hg. v. Bruno Klein/Bruno Boerner, Berlin 2006. Für die behandelten Regionen s. Untermann 2009 (wie Anm. 14).

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Für die Säule im 12./13. Jahrhundert lassen sich zwei gemeinsam nutzbare Grundformen als Norm erkennen: die Säule mit stämmigem oder schlankem, verjüngtem oder unverjüngtem Schaft, großer Basis und großem Kapitell sowie die beliebig überlängte, oft sehr dünne Säule, bei der die Dimensionen von Basis und Kapitell dem Durchmesser des Schafts, nicht aber seiner Höhe proportional sind. Diese dünne Säule wird als ‚Vorlage‘ oder Dienst der Wand, einem Pfeiler oder einer dickeren Säule angefügt. Säulenbündel aus dünnen Schäften verknüpfen nicht selten kurze Freisäulen und hohe Dienste, z.B. im Kontext gotischer Triforien. Verbindlich bleibt – und deshalb erscheinen die einführend vorgestellten Säulen in Worms als außergewöhnlich – die Konvention der Darstellung von Stütze und Last37: Säulen stehen regelhaft senkrecht, fehlen kann lediglich, in antiker Tradition der Säulenmonumente, die Auflast. Auch als ‚Speichen‘ in den Radfenstern tragen strahlenförmig eingefügte Säulen jeweils radial aufsitzende Bögen.38 Die Steigerung der Proportion von Freisäulen hatte Grenzen. Auffallend schlanke und hohe Freisäulen, wie sie um 1020 in der Bartholomäuskapelle in Paderborn39 präsentiert werden, stehen noch in einer unmittelbar antiken Formensprache, die überschlanken gotischen Freisäulen in Achskapelle und Triforium der Kathedrale von Auxerre40 erscheinen hingegen als wohl abgewogene Transgression und demonstrieren virtuose Fähigkeiten der Baumeister und besonderen Aufwand des Auftraggebers. Die Säulchen in Auxerre veranschaulichen allerdings in konventioneller Weise das Modell von Stütze und Last – anders als die einleitend vorgestellten Säulen und Dienste in Worms. Zum dünnen Säulenschaft umgedeutet wird vielerorts seit dem späten 11. Jahrhundert der antike Torus (Wulst): An senkrechten Kanten wird ein zierender Kantenwulst mit Basis und Kapitell versehen und damit als ‚Kantensäule‘ gestaltet.41 In Bogenläufen führt ein Wulst dünne, fenster- oder nischenrahmende Freisäulen oder Kantensäulen in die

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Anne Prache: New Dendrochronological and Archaeological Evidence for the Building Chronology of Reims Cathedral, in: Archaeology in Architecture (Studies in Honor of Cecil L. Striker), hg. v. Judson J. Emerick/Deborah M. Deliyannis, Mainz 2005, S. 167–172; Anne Prache: Le début de la construction de la cathédrale de Reims au XIIIe siècle. L’apport de l’archéologie et de la dendrochronologie, in: Nouveaux regards sur la cathédrale de Reims, Actes du colloque international des 1er et 2 octobre 2004, hg. v. Bruno Decrock u.a., Langres 2008, S. 41–52. Onians 1988 (wie Anm. 26), S. 91–129. Friedrich Kobler: Fensterrose, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. VIII, München 1987, S. 66–203. Gabriele Mietke: Die Bautätigkeit Bischof Meinwerks von Paderborn und die frühchristliche und byzantinische Architektur (Paderborner Theologische Studien, 21) (Diss. Freiburg, 1986), Paderborn u.a. 1991, S. 48–51. Kimpel/Suckale 1985 (wie Anm. 30), S. 314–316 mit Abb. 315 und 319. Methodisch unausgereift, aber mit Zusammenstellung zahlreicher Monumente: Klaus Höller: Kantensäulen und Kantenrundstäbe im Osten Sachsens: Bezüge und Entwicklung in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt, IX, 2000, S. 84–98; Ders.: Kantensäulen: Ein Merkmal sächsischer Romanik in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: HarzZeitschrift, LII/LIII, 2000/01, S. 95–132.

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Rundung weiter. Hier sind verschiedenartige Transgressionen zu sehen.42 Systemwidrig ist es, auf teilende Kapitelle und Kämpfer zu verzichten, aber die beiden Säulenbasen beizubehalten: Der rahmende Wulst ruht dann beiderseits auf Basen und läuft ohne Kapitelle um – oder: Die beiden rahmenden Säulenschäfte sind biegsam und verbinden sich zu einem, der zwei Enden hat. An der Zisterzienserinnenkirche Billigheim verschmilzt um 1170/1180 ein solcher bogenbegleitender Wulst mit den beiden fensterrahmenden Diensten. Der Wulst kann aber auch mit Schaftringen untergliedert werden, die eigentlich zu den tragenden en délit-Säulen gehören würden, wie um 1220 am Portal der Marktkirche in Rinteln (Abb. 3). Bemerkenswerte Umbildungen romanischer Säulenordnungen zeigt eine spätromanische Kirche in Goslar. Der Reichsvogt dieser Stadt, Volkmar (gest. 1191), gründete zusammen mit seiner Frau Helene das Frauenkloster St. Maria in horto (später: Neuwerk) und besetzte es mit Nonnen aus Ichtershausen, einem Benediktinerinnenkloster, das die strengen Ordnungen der Zisterzienser befolgte, ohne diesem Orden formal angegliedert zu sein.43 Der Kirchenbau begann um 1170 und war um 1220 mit dem Lettnerbau abgeschlossen.44 Im Mittelschiff Abb. 3: Rinteln, Marktkirche, Hauptportal, um 1220 springen die Gewölbedienste im oberen Teil der Wand in Form großer Ösen in den Raum vor; in zwei dieser Ösen – wohl zu Seiten des ehemaligen Lettners – sind monolithe steinerne Ringe gehängt (Abb. 4). Ikonographische Deutungen dieser einzigartigen Ösen und der eingehängten ‚Kränze‘ verblieben im Allgemeinen, auch die formale Gestaltung stieß lange Zeit auf Befremden.45 Ingo 42 43

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Hans Thümmler: Weserbaukunst im Mittelalter, Hameln 1970, Abb. 211. Ingo Pagel: Von imperialer Musterarchitektur zu territorialherrlichem Selbstbewußtsein. Kirchenbaukunst im Zeichen des Herrschaftswandels im norddeutschen Raum zwischen 1100 und 1300 (Studien zur Kunstgeschichte, 121) (Diss. Köln, 1996), Hildesheim u.a. 1998, S. 131–144; Uvo Hölscher: Forschungen zur mittelalterlichen Sakralarchitektur der Stadt Goslar, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, III, 1964, S. 13–92, hier S. 15–35. Joachim Gomolka: Das Dachwerk der romanischen Neuwerkkirche zu Goslar, in: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, XVIII, 1998, S. 6–10. Hölscher 1964 (wie Anm. 43) sprach in diesem postum veröffentlichten Text von „widernatürlichen Ausbuchtungen“ (S. 34, s.a. S. 25f.).

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Pagel hat den Kunstwerk-Charakter dieser Gestaltung betont: Enthalten sei „das Staunen und Bewundern aus Gründen der Außergewöhnlichkeit und des Nie-Gesehen-Habens, die daraus resultierende Berühmtheit, die Existenz eines ebenfalls außergewöhnlichen Kunstwerkschöpfers, eben des Künstlers, und dessen im Kunstwerk der Nachwelt überlieferte Person, als deren Zeugnis jenes Handwerksmirakel fortexistiert.“46 In der Tat präsentiert im Mittelschiff die Figur eines Engels ein Schriftband: „MIRI FACTA VIDE LAUDANDO VIRI LAPICIDE“ („Betrachte mit Lob die wunderAbb. 4: Goslar, Neuwerkkirche, Mittelschiff, um 1180 baren Werke des Steinmetzen“); der Künstlername WILHELMI ist nicht in diese Inschrift einbezogen, sondern erscheint in kleinerer Schrift auf der tragenden Konsole (Abb. 5).47 Ob die heute vom Boden aus kaum lesbare Inschrift ursprünglich an anderer, besser sichtbarer Stelle saß, ist ungeklärt. Als hervorgehobene Künstlerinschrift steht sie im sächsischen Raum nicht allein und wird in der Folgezeit dort noch übertroffen48 – demgegenüber sind damals im oberrheinischfränkischen Gebiet sogar einfache Namensinschriften von Steinmetzen und Bildhauern recht selten49, vielleicht dem neuen Auftraggeber-Künstler-Verhältnis in den Bauhütten der Ile-de-France folgend, das alle hochrangigen Werkleute in die Anonymität stellte.50

46 47 48

49

50

Pagel 1998 (wie Anm. 43), S. 137f. Die Inschriften der Stadt Goslar (Die Deutschen Inschriften, 45: Göttinger Reihe, 8), bearb. v. Christine Magin, Wiesbaden 1997, S. 11f., Nr. 8. Peter Cornelius Claussen: Künstlerinschriften, in: Ornamenta Ecclesiae, Ausstellungskatalog, hg. v. Anton Legner, Bd. I, Köln 1985, S. 263–276, hier S. 264; Johann-Christian Klamt: Die Künstlerinschrift des Johannes Gallicus im Braunschweiger Dom, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter, hg. v. Karl Clausberg/Dieter Kimpel, Gießen 1981,S. 35–53. Die Inschriften am Wormser Dom, an der Zisterzienserkirche Maulbronn und an der Pfarrkirche St. Marien in Gelnhausen waren vom Boden aus kaum oder gar nicht lesbar: Aquilante De Filippo/ Wilfried E. Keil: Zu den Versatzzeichen und Inschriften am Südostturm des Wormser Doms, in: Der Wormsgau, XXVII, 2009, S. 205–215, hier S. 208–212. Peter Cornelius Claussen: Kathedralgotik und Anonymität 1130–1250, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, XLVI/XLVII, 1993/94, S. 141–161.

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Die Hauptapsis der Kirche ist mit einer ähnlichen Formensteigerung ausgezeichnet: Konventionelle Halbsäulen tragen dort frei vor die obere Wandzone gestellte, reich verzierte Freisäulen. Das in der Architektur des 12. Jahrhundert durchaus verbreitete antike Motiv der Superposition musste dieser Formensteigerung angepasst werden. Die unteren Kapitelle tragen kräftig vorkragende Konsolen, die dann die Plinthen der oberen Säulen aufnehmen konnten. Der Steinmetz verwies nachdrücklich auf seine Auseinandersetzung mit dem Motiv ‚Säule‘, indem er die Schauseite der Konsolen jeweils mit drei gedrungenen Säulchen besetzte, deren Schaft entsprechend der Viertelkreis-Rundung der Konsole gebogen ist – darin den etwa zeitgleichen Wormser Baldachin-Säulen entsprechend. Die kompliziert durchbrochenen Füllungen der Rundblenden zwischen den Apsisfenstern stehen im deutschen Raum ebenfalls allein, sind allerdings, in tiefe Laibungen eingelassen, vom Boden aus kaum zu sehen. Seit langem verbindet man die – auch für den ungebildeten Betrachter erkennbar – außergewöhnlichen Bauformen dieser Kirche mit politischen Ambitionen des Stifters Volkmar, der kein Adliger, sondern königlicher Ministeriale war.51 Freilich sind diese Ambitionen mehr aus dem Kirchenbau erschlossen als aus anderen Quellen. Die Stiftung eines Frauenklosters war um 1170 für Ministeriale und Niederadlige durchaus angemessen und allenfalls in einem lokalen Rahmen bedeutsam. Abb. 5: Goslar, Neuwerkkirche, Engel mit KünstlerinDemonstrativ normdurchbrechende schrift, um 1180 „Kunst als Legitimationsmittel“ (Ingo Pagel) einzusetzen52, war in Sachsen damals sonst nicht erkennbar üblich. Pagel deutet an, dass die „charakteristische Traditionslosigkeit“ und der „übersteigende Formenprunk“ der Goslarer Klosterkirche dazu verleiten können „von der Architektur eines Homo Novus [zu] sprechen.“

51

52

Christine Wilke: Das Goslarer Reichsgebiet und seine Beziehungen zu den territorialen Nachbargewalten (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 32) (Diss. Berlin, 1969), Göttingen 1970, S. 115–123. Ausführlich Pagel 1998 (wie Anm. 43), S. 141–144.

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In der Architektur der Zisterzienser wurde die zunächst funktional bedingte Abkragung von Säulen und Wandvorlagen zu einem breit eingesetzten Gestaltungselement: Nicht mehr nur über Chorstühlen und Schrankenmauern, sondern ohne praktischen Anlass enden Säulen nun hoch über dem Boden. Meist wird der Schaft unten ornamental abgeschlossen, andernorts ruhen abgekragte Säulen mit ihrer Basis auf einer Konsole.Die Höhe dieser AbAbb. 6: Otterberg, Zisterzienserkirche, Vierungspfeiler, kragung folgt keinen festen KonvenAbkragung, um 1190 tionen: Sie kann unmittelbar unter dem Gewölbeansatz, in Höhe eines Stockgesimses oder in den Arkadenzwickeln angeordnet sein. Die zisterziensische Abkragung war eine beabsichtigte Normdurchbrechung gegenüber der zeitgleichen Architektur anderer Klosterkirchen oder Kathedralen.53 Innerhalb der zisterziensischen Architektur im oberrheinisch-fränkischen Gebiet gibt es sogar Normdurchbrechungen gegenüber den ‚Normen der Abkragung‘. An den Vierungspfeilern der Zisterzienserkirche Otterberg werden um 1190/1210 die äußeren Eckdienste unmittelbar über dem Fußboden abgekragt (Abb. 6).54 Sie laufen spitz aus, dort, wo man die Basis erwarten würde. In Augenhöhe sieht der Betrachter noch einen normalen Dienst, der in dieser Position ohnehin nicht abgekragt werden müsste. Der Verzicht auf die Basis wirkt höchst artifiziell. Die frühgotischen Bauteile der Zisterzienserabtei Maulbronn erscheinen in der Bauabfolge des Klosters zunächst als demonstrativ modern.55 Kreuzgang-Südflügel und Westvorhalle verblieben dabei um 1210/1220 vollständig in 53 54

55

Untermann 2001 (wie Anm. 4), S. 655–659. Edmund Hausen: Otterberg und die kirchliche Baukunst der Hohenstaufenzeit in der Pfalz (Schriften der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 26), Kaiserslautern 1936, S. 28; zur Datierung s. Michael Werling: Die Baugeschichte der ehemaligen Abteikirche Otterberg unter besonderer Berücksichtigung ihrer Steinmetzzeichen (Beiträge zur pfälzischen Volkskunde, 3) (Diss. Kaiserslautern, 1984), Kaiserslautern 1986, ohne Ansprache dieses Motivs. Nicht erwähnt bei Jürgen Kaiser: Die Zisterzienserabteikirche Otterberg und die spätstaufische Baukunst am Oberrhein (Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, 64) (Diss. Köln, 1997), Köln 1998. Ulrich Knapp: Das Kloster Maulbronn. Geschichte und Baugeschichte, Stuttgart 1997, S. 82–87. – Georg Frank: Das Zisterzienserkloster Maulbronn. Die Baugeschichte der Klausur von den Anfängen bis zur Säkularisierung (Studien zur Kunstgeschichte, 70) (Diss. Freiburg, 1989), Hildesheim 1993, S. 41–45, 72–74, 112–158, geht von der chronologischen Abfolge ‚Abkragung – auf dem Boden aufruhende Säule‘ von zunehmender Schichtung der Wand und zunehmender Variation der Kapitellskulptur aus und gelangt damit zur umgekehrten Bauabfolge.

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der Formensprache zeitgleicher burgundischer Architektur. Im folgenden Bauteil, dem Herrenrefektorium (um 1225/1230), werden diese Formen nun vielfältig weiterentwickelt und brechen demonstrativ mit den zuvor akzeptierten Normen: Die großen Säulen erhielten Schaftringe, die sonst nur an wandgebundenen en délit-Säulen üblich und technisch notwendig waren; sie verbinden nicht die einzelnen Trommeln der Säulen, sondern bilden eine unerwartete Gliederung. Die bei engen Bögen traditionell zunächst senkrecht geführten (‚gestelzten‘) Rippen werden durch kannelierte Halbsäulen ersetzt, allerdings nur in der Hauptachse des Raums über den großen Freisäulen. Die SchildbogenWulste über den Fenstern der Außenwände werden nicht mehr von Säulchen getragen, wie normgerecht im Kreuzgang, sondern enden jeweils unter einem Schaftring in Kapitellhöhe und schweben über dem Fensterbogen. Die Konsole über dem Eingangsportal, die die Steinmetzzeichen aller beteiligten Werkleute vorweist, zeigt, dass es sich nicht um unverstandene Aneignung der neuen gotiAbb. 7: Gnadental, Zisterzienserinnenkirche, Konsole, um 1220 schen Formen handelt, wie die Forschung lange annahm, sondern um eine bewusste Auseinandersetzung mit deren neuen Normen. Die Zisterzienserklosterkirche Gnadental bei Schwäbisch Hall erhielt um 1230 ganz unterschiedliche Varianten von Abkragungen (Abb. 7).56 Dreifach übereinander gesetzte Konsolen im Langhaus spielen in den beiden oberen Schichten mit dem Typ des ‚wormsischen Polsterkapitells‘, das unten auf einer abgekragten Wandvorlage und einer kapitellförmigen Konsole ruht. Die vier kapitellartigen Konsolen unter den Diensten im Altarraum verbleiben grundsätzlich ebenfalls im ‚Normbereich‘ für Abkragungen. Eine dieser Konsolen wird allerdings trotz ihrer Kapitellform so gekippt, dass sie sich in die tiefe Kehle hineinschmiegt, mit der die zugehörige Wandvorlage endet. Im unmittelbaren Nebeneinander zu normdurchbrechend-zisterziensischen, aber im Ordenskontext konventionellen Abkragungen wird die systemwidrige Abwandlung dieses Motivs besonders auffällig. 56

Charlotte Lagemann: Die Bauformen der Klosterkirche Gnadental. Eine stilistische Einordnung, in: Südwestdeutsche Beiträge zur historischen Bauforschung, VII, 2007, S. 181–199.

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Der Stellenwert dieser Formentscheidung im Bauprozess der kleinen Zisterzienserinnenkirche ist jedoch kaum zu bestimmen. Werkleute und Auftraggeber von Zisterzienserbauten haben vorgegebene Formensprachen und Traditionen in viel höherem Maß als veränderbar angesehen als beim Entwurf anderer Bauten ihrer Zeit.57 In Bronnbach an der Tauber wurden die Kapitelle im Kreuzgang-Ostflügel in ungewöhnlicher Weise an den Seiten verformt (Abb. 8).58 Es handelt sich um die Kombination eines großen Kapitells für den Gurtbogen mit zwei kleinen Konsolen, die die Gewölberippen aufnehmen. Die neu geschaffene, einzigartige Form verschleift diese Elemente und bindet sie in die als Einheit konzipierte Kapitellornamentik ein. Nach 1200 erscheinen Abkragungen als kunstvolle Gestaltung gelegentlich auch in Sakralbauten anderer Bauherrn, jedoch Abb. 8: Bronnbach, Zisterzienserkloster, Kreuzimmer auf einzelne Bauteile beschränkt. gang-Ostflügel, Kapitell, um 1220 Im Bereich der oberrheinischen Architektur sind wichtige Beispiele um 1240/1250 die feingliedrigen Konsolen im Chorraum der Pfarrkirche St. Marien in Gelnhausen, die ihrerseits auf kleinen kapitellartigen Konsolen ruhen, und die komplizierten, mehrstufigen Blattkapitell-Konsolen in der Pfarrkirche St. Johannis in Schweinfurt.59 Beide Konsolformen sind demonstrativ nicht von Säulen bzw. Wandvorlagen getragene, schwebende Kapitelle. Die Virtuosität der ohnehin reichen Formen wird durch das Fehlen des tragenden Schafts noch gesteigert. Im Gebiet der oberrheinischen Romanik war die Offenheit für Normdurchbrechungen seit dem 11. Jahrhundert ungewöhnlich stark ausgeprägt – die frühen Dienst-Säulen, um 1030 am Dom zu Speyer, wurden bereits angesprochen. Zwischen 1080 und 1140 war 57 58

59

Untermann 2001 (wie Anm. 4), bes. S. 627–655. Katinka Krug: Die Klausurbauten des Zisterzienserklosters Bronnbach im 12. und 13. Jahrhundert, in: Südwestdeutsche Beiträge zur historischen Bauforschung, VII, 2007, S. 165–179, hier S. 173–177 mit Abb. 14. Georg Wilbertz: Die Marienkirche in Gelnhausen (Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, 67) (Diss. Freiburg, 1989), Köln 1999, S. 111, 172–177; Martin Brandl: Pfarrkirchenarchitektur im fränkischen Raum des 13. Jahrhunderts (Diss. Bamberg, 2001), Gerchsheim 2003, S. 66.

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es in dieser Region breit akzeptiert, Kapitelle, Tympana und Schmuckfriese in sichtbar unfertigem Zustand einzubauen und auf Dauer so zu belassen – an den Domkirchen in Speyer, Mainz und Worms, aber auch an der Prämonstratenser-Stiftskirche Ilbenstadt (Abb. 9).60 Einzigartig ist um 1130/1140 die, aus traditioneller Sicht, völlig inkonsequente Ornamentalisierung einer Blendarkatur am Ostgiebel der Benediktinerkirche Murbach mit ihrem Wechsel von Säulchen und senkrechten Friesbändern, die auf unterschiedlichsten Konsolen ruhen.61 Häufiger als andernorts sind schließlich Lisenen, Träger von Blendarkaden im Außenbau, mit kleinen Fenstern durchbrochen worden – an den Stiftskirchen St. Martin und St. Andreas in Worms wie an der dörflichen Pfarrkirche Stetten. Im Unterschied hierzu wurden vergleichbare Fenster in Regensburg, an der Allerheiligenkapelle Bischof Hartwigs II. (1155–1164) im Domkreuzgang, mit rahmenden Ädikulen versehen und als ‚Totenleuchten‘ gestaltet.62 Verbindungen oberrheinischer Werkleute und Bildhauer mit dem südwestfranzösisch-nordspanischen Raum im 12. und 13. Jahrhundert sind neuerdings wieder stärker ins Blickfeld gerückt.63 Auffallenderweise finden sich dort einige wichtige Beispiele für mehrfach geknickte Abb. 9: Ilbenstadt, Westportal, Kapitell, um 1130/1140 Dienste: am Bestienpfeiler des Por60

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62 63

Dorothea Hochkirchen: Mittelalterliche Steinbearbeitung und die unfertigen Kapitelle des Speyerer Domes (Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, 39) (Diss. Köln, 1990), Köln 1990; Holger Mertens: Studien zur Bauplastik der Dome in Speyer und Mainz (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 76) (Diss. Köln, 1993), Mainz 1995. Joachim Müller: Die Klosterkirche Murbach im Elsass (Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, 44) (Diss. Köln, 1992), Köln 1992, S. 61, 218–227, 244–252. Jörg Traeger: Mittelalterliche Architekturfiktion. Die Allerheiligenkapelle am Regensburger Domkreuzgang, München 1980, S. 60–64. Claudia Rückert: Die sogenannte ältere Bildhauerwerkstatt des Bamberger Doms und ihre spanischen Wurzeln, in: Curiosa Poliphili (Festgabe für Horst Bredekamp zum 60. Geburtstag), hg. v. Nicole Hegener u.a., Leipzig 2009, S. 83–91; Günther Binding: Wanderung von Werkmeistern und

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tals der Abteikirche Beaulieu (Abb. 10) und an einer Wandvorlage der Pfarrkirche von Moradilla de Sedano64 – in letzterer gibt es auch eine unmotivierte Abkragung mit einer reichen kapitellartigen Konsole ähnlich den Konsolen in Gnadental und Gelnhausen. Insgesamt zeigt aber die spätromanische Baukunst jener Region eine eher gleichförmig-unspektakuläre Formensprache. Normdurchbrechungen der konventionellen Säulenordnungen lassen sich in der oberrheinischen Baukunst des 12./13. Jahrhunderts so häufig beobachten – im Gegensatz zu anderen europäischen Regionen –, dass sie ihrerseits als Bestandteil des dortigen Formenkanons erscheinen. Dies könnte gegen die Vermutung sprechen, dass solche Formen eine ‚Bedeutung‘ transportieren sollten. Allerdings ist bildhafte und sprechende Architektur im ganzen Mittelalter kein überregionales Phänomen, sondern nur in besonderen historischen und künstlerischen Konstellationen zu fassen – mithin räumlich und zeitlich begrenzt. Eher noch Abb. 10: Beaulieu (Dordogne), Bestienpfeiler, sind diese formalen Transgressionen Ele- um 1130 mente eines ‚erhabenen Stils‘ (genus sublime) im rhetorischen Sinn; für die hier diskutierte Epoche der Baukunst stehen entsprechende Untersuchungen aber noch ganz am Anfang.

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Handwerkern im frühen und hohen Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung des Rhein-MainGebietes (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main, 43, 1), Stuttgart 2005, S. 26. José Pérez Carmona: Arquitectura y escultura románicas en la provincia de Burgos (Publicaciones de la Facultad teologíca del Norte de España, Sede de Burgos, 3), Burgos 31974, S. 60f., 193–198, Abb. 66.

L’invention entre rupture et habitudes visuelles. Modèles intellectuels et modèles formels dans la mise en page de la Bible moralisée Christian Heck

Depuis la monumentale et précieuse publication d’Alexandre de Laborde, l’histoire de l’art a reconnu à juste titre les Bibles moralisées comme un des ensembles de tout premier plan que nous a légués l’art du Moyen Age. Nous ne pouvons évoquer ici tous les axes de recherches qui leur ont été consacrés, fondant souvent des études ponctuelles sur la mine d’images et de textes qu’elles constituent, mais il faut désormais faire une place à part au travail exceptionnel de John Lowden.1 Son enquête minutieuse, qui prend cette fois en compte l’ensemble du matériau, permet d’abandonner la quête impossible d’un archétype perdu dont dépendraient les manuscrits conservés, et de montrer au contraire que la chronologie dans laquelle s’inscrit chaque Bible moralisée correspond bien plus à un processus de construction incessant, dans une volonté permanente de dépasser chaque fois la réalisation précédente. L’ordre des manuscrits proposé par Lowden, et qui met fin à des hésitations de la recherche, semble pouvoir être définitivement retenu2, et nous le suivrons ici. Il place en premier Vienne 2554, au début des années 1220, suivie par Vienne 1179, au milieu de la même décennie, Tolède et Oxford-Paris-Londres (OPL) constituant des manuscrits jumeaux, vers le milieu des années 1230.3 Dans le cadre de ce court article, nous allons tenter d’analyser les Bibles moralisées, en nous limitant à celles du XIIIe siècle4, et en cherchant à comprendre l’origine et le 1

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Alexandre de Laborde: La Bible moralisée illustrée conservée à Oxford, Paris et Londres. Reproduction intégrale du manuscrit du XIIIe siècle accompagnée de planches tirées de Bibles similaires et d’une notice, 5 vol., Paris 1911–1927; John Lowden: The Making of the Bibles Moralisées, 2 vol., University Park 2000, à consulter aussi pour la bibliographie antérieure. Nous n’avons pas pu lire Babette Hellemans: La Bible Moralisée: une œuvre à part entière. Temporalité, sémiotique et création au XIIIe siècle, Turnhout 2010. Voir le compte-rendu par Yolanta Zaluska dans: Bulletin Monumental, CLXII, 2004, p. 330. Pour Vienne, Österreichische Nationalbibliothek (ÖN), Ms. 2554 (ici Vienne 2554), voir Lowden 2000 (notre note 1), t. I, p. 11–54. Pour Vienne, ÖN, Ms. 1179 (ici Vienne 1179), ibid., p. 55–94. Pour Tolède, Trésor de la cathédrale, Biblia de San Luis, complétée par New York, The Pierpont Morgan Library (PML), Ms. M. 240 (ici Tolède), ibid., p. 95–137, et Biblia de San Luis, Catedral Primada de Toledo, facsimilé, textes, études, 5 vol., Barcelona 2002–2004. Pour la Bible répartie entre Oxford, Bodleian Library, Ms. Bodley 270B, Paris, Bibliothèque nationale de France (BNF), Ms. latin 11.560, et Londres, British Library (BL), Ms. Harley 1526–1527 (ici OPL), voir Lowden 2000, t. I, p. 139–187. Pour la chronologie, voir aussi ibid., t. II, p. 200–202.

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sens de leurs formules de mises en pages, à la fois dans les principes communs qu’elles suivent, et dans les évolutions qui les différencient.5 Un premier principe est le choix de médaillons superposés par paires, principe qui évolue rapidement dans son arrangement interne, puisqu’à une grande surface rectangulaire de huit médaillons (fig. 1) fait suite, peu après, un jeu de deux colonnes verticales bien plus étroites (fig. 4, 5). Un second principe commun consiste à relier les médaillons entre eux, à leur jonction, par de petits quadrilobes, qui évolueront vers des rosaces sommaires ou de petits boutons circulaires, ou même vers leur disparition (fig. 5). Ces quadrilobes se retrouvent, réduits de moitié car tranchés par les encadrements, à la rencontre des médaillons et des bords du compartiment. On a donc quatre petits éléments qui empiètent – ce détail est important – sur la bordure de chaque médaillon. A cela s’ajoutent d’autres motifs dans les écoinçons. Vienne 2554 (fig. 1), qui possède des écoinçons centraux, y loge des carrés inscrits dans des quadrilobes et contenant des bustes d’anges. On les retrouve, tranchés par les bordures, dans les écoinçons latéraux. Dans les manuscrits suivants (fig. 4, 5), les écoinçons, qui n’existent plus que sur les bords, offrent cette fois des motifs trilobés, correspondant à de demi-quadrilobes, et remplis d’ornements à rinceaux d’origine végétale, ces motifs étant réduits de moitié dans les écoinçons d’angles. Le tout se déploie sur un fond souvent quadrillé. Rappelons un troisième principe, celui de peintures « en diptyques », deux pages peintes se faisant face suivies de deux pages blanches.6 La mise en page de ces Bibles moralisées du XIIIe siècle nous paraît résulter de la rencontre de trois séries d’éléments: une présentation d’unités conceptuelles ou narratives par des médaillons circulaires successifs, principe déjà parfois présent dans des peintures de manuscrits à l’époque romane; une répartition spatiale de ces médaillons organisée en fonction de la relation intellectuelle de leurs contenus respectifs, et qui prend tout son sens dans les manuscrits postérieurs à Vienne 2554; enfin, et sans nier le rapport avec l’art du vitrail, un rôle essentiel de la transposition dans la peinture de manuscrits de choix techniques, de formes décoratives, et d’effets plastiques de l’orfèvrerie. Car l’invention extraordinaire de ce nouveau type de manuscrits se nourrit en même temps de l’apport de modèles. Dans le cas des principes intellectuels d’organisation de la page, c’est une pensée de l’histoire et du Salut qui est à l’œuvre. Dans le cas de la composition consistant à

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Nous ne traiterons pas de Londres, BL, Ms. Add. 18.719, du dernier quart du siècle, qui pose encore de considérables problèmes d’identification de sa nature même (manuscrit non terminé, ou au contraire modèle d’atelier?), et dont Lowden a bien montré qu’elle se distingue, par plusieurs traits essentiels, de toutes les autres Bibles moralisées du XIIIe siècle. Voir Lowden 2000 (notre note 1), t. I, p. 215 et 218. Ce travail est l’approfondissement d’un premier exposé présenté à Paris à l’Institut de Recherche et d’Histoire des Textes le 15 avril 1999, dans un séminaire où intervenaient aussi François Boespflug, Jacques Dalarun, Anne Granboulan et Yolanta Zaluska, que nous remercions tous vivement pour leurs remarques. Sur ce point important, mais qui ne concerne pas directement les questions abordées dans cet article, voir Lowden 2000 (notre note 1), t. I, p. 13–15.

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Fig. 1: Bible Moralisée, Genèse 41–42, Paris, vers 1220–1225 (Vienne, Österreichische Nationalbibliothek, Ms. 2554, fol. 11v)

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Fig. 2: Cassette à sujets profanes, côté gauche, émaux de Limoges, vers 1180 (Londres, British Museum)

« fixer » de grands médaillons circulaires par quatre petits éléments, le choix nous paraît résulter d’un habitus, par transposition d’une technique dans une autre. Ces petits motifs ne jouent ici qu’un rôle esthétique, mais nous proposons d’y voir la reprise de pièces qui avaient pour fonction réelle de fixer des médaillons sur un fond de bois, dans des œuvres d’orfèvrerie. La fonction est perdue, mais la forme reste. Le parti de nos Bibles moralisées, qui inscrit chaque thème biblique comme chaque moralisation placée juste en dessous, dans un grand médaillon, reprend un principe encore rare au XIIe siècle, et qui va s’intensifier dans les décennies qui suivent: la présentation d’idées ou d’unités conceptuelles ou narratives par des médaillons successifs. Le plat inférieur, en ivoire, de la reliure du Psautier de la reine Mélisande, avant 1114, place ses six scènes dans les médaillons remplissant un grand cadre rectangulaire, mais ils sont le résultat d’un enroulement de rinceaux, et non de la juxtaposition de formes libres.7 Les six médaillons de l’Arbre de Jessé de la Bible de Lambeth, vers 1140–1150, sont eux aussi faits de branches transformées en ornements, et ne contiennent pas des thèmes autonomes.8 Dans la Bible de Winchester, vers 1150–1180, plusieurs scènes occupent de

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Londres, British Museum (BM); Danielle Gaborit-Chopin: Ivoires du Moyen Age, Fribourg 1978, p. 127 et fig. 190; Laborde 1911 (notre note 1), t. IV, pl. 804–805. Londres, Lambeth Palace Library, Ms. 3, fol. 198r; Walter Cahn: La Bible romane, Fribourg 1982, fig. 151 p. 193.

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Fig. 3: Cassette à sujets profanes, couvercle, émaux de Limoges, vers 1180 (Londres, British Museum)

vrais médaillons circulaires, parfois même groupés par deux.9 Des médaillons circulaires s’observent dans les enluminures des deux dernières visions du troisième livre du Scivias, de Hildegarde de Bingen, dans le somptueux manuscrit (détruit), vers 1165, dont on est heureux de rappeler la superbe analyse par notre collègue et amie.10 Cette présence de médaillons circulaires, dans certains manuscrits du XIIe, et surtout du XIIIe siècle, nous semble devoir être mise en relation avec une volonté de privilégier la représentation en tant qu’unité formelle et conceptuelle, et de faire de la scène un élément d’un discours, le pion d’un raisonnement, qui a été placé là volontairement, et qui peut être déplacé, comme être inscrit dans un ensemble à liaisons multiples.

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Winchester, cathédrale; Claire Donovan: The Winchester Bible, Toronto/Buffalo 1993, p. 20–21, 49. Sur le rôle particulier possible, pour la composition de la Bible moralisée, des doubles initiales du Beatus de la Bible de Winchester, voir Lowden 2000 (notre note 1), t. II, p. 206. Autrefois Wiesbaden, Landesbibliothek, Ms. 1, fol. 225r, 225v, et 229r; Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Die Miniaturen im ‹ Liber Scivias › der Hildegard von Bingen. Die Wucht der Vision und die Ordnung der Bilder, Wiesbaden 1998, p. 200–215.

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Dans bien des manuscrits, le choix de médaillons circulaires est en effet souvent lié à la nécessité de l’articulation logique de séries d’éléments. La répartition spatiale des médaillons organisée en fonction de la relation intellectuelle de leurs contenus respectifs continue à recevoir, jusqu’à la fin du XIIIe siècle, un développement particulier sous la double impulsion de la scolastique et de l’université, en des compositions souvent très savantes. L’évolution de la mise en page, entre Vienne 2554 et les Bibles moralisées qui suivent, est essentielle à cet égard. Dans Vienne 2554 en effet (fig. 1), au contraire des autres versions du XIIIe siècle, on observe d’abord un balayage des paires de médaillons dans un sens horizontal et non vertical; on lit les deux paires du haut de la page, de gauche à droite, avant de reprendre le même sens horizontal de lecture pour la moitié inférieure. Par ailleurs les bordures dorées qui séparent les paragraphes du texte, enfermés dans de vrais compartiments sans continuité, accentuent les rythmes horizontaux de la page. Enfin, le renvoi des colonnes de texte sur les côtés, permettant un effet d’extension de la surface enluminée dans toutes les directions, privilégie la notion de surface au détriment de la séquence verticale. On sait que ce parti est abandonné dès Vienne 1179, qui choisit, comme le feront Tolède et OPL (fig. 4), de placer toujours les textes à la gauche des espaces enluminés, ce qui remplace une composition symétrique par une alternance de quatre colonnes verticales. Cela est aussi permis par l’emplacement de la deuxième paire de médaillons, qui passe sous la première. Alors que Vienne 2554 d’une part s’offre comme une grande surface occupant toutes les directions de l’espace, dans un effet visuel analogue à celui des médaillons du Psautier de Munich, réalisé à Oxford vers 1200–121011, et d’autre part se lit encore comme un livre traditionnel, par unités horizontales superposées – que ces unités soient des lignes de texte, ou comme ici un ensemble médaillons-paragraphes – les trois autres versions se lisent avant tout comme une ligne verticale qui court en deux bandes parallèles au travers de tout le volume.12 Cette séquence verticale de médaillons n’est pas unique. On la trouve, plus modeste, mais avec deux médaillons circulaires, consacrés chacun à un thème iconographique, et superposés dans un cadre rectangulaire à motifs dans les écoinçons, dans le calendrier d’un psautier de Thuringe ou Saxe, du début du XIIIe siècle.13 Le premier point à noter, pour comprendre son usage dans toutes les Bibles moralisées du XIIIe siècle qui suivent

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Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 835, fol. 146v; Nigel Morgan: Early Gothic Manuscripts I, 1190–1250 (A Survey of Manuscripts illuminated in the British Isles, 4/1), Londres 1982, n° 23, p. 68 et fig. 84, v. 1200–1210; et The Illuminated Psalter. Studies in the Content, Purpose and Placement of its Images, éd. par Frank Olaf Büttner, Turnhout 2004, p. 51 et fig. 21. Ici une scène unique est répartie dans les différents médaillons de la page, même si il y a une relative répartition par médaillons. Voir les schémas d’observation possible des pages dans les Bibles moralisées successives du XIIIe siècle, donnés par Lowden 2000 (notre note 1), t. I, diagrammes 5, 8, 16, p. 29, 67, 197. Cividale del Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Ms. CXXXVII, fol. 2v; Gude Suckale-Redlefsen: Zwei Bilderpsalter für Frauen aus dem frühen 13. Jahrhundert, dans: The Illuminated Psalter 2004 (notre note 11), p. 249–258, ici p. 250 et fig. 230.

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Vienne 2554, est le lien entre une séquence verticale et l’expression du déroulement ininterrompu d’un récit. L’esprit d’une telle disposition, et peut-être même son origine, nous semblent à chercher dans l’illustration de manuscrits de généalogie, d’histoire, de sciences. Dans la Chronique de Saint-Pantaléon, commencée à Cologne dans la seconde moitié du XIIe siècle, les souverains de la lignée principale sont présentés en bustes dans des médaillons rattachés les uns aux autres dans le long axe vertical qui traverse la page.14 C’est par le même parti organisateur que les arbres d’affinité, et les arbres de consanguinité, expriment la logique des relations parentales; une telle disposition s’y observe, mais en tableaux défiFig. 4: Bible Moralisée, Lamentations de Jérémie 1, Paris, vers 1235 nissant des espaces carrés, (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 11.560, fol. 157v) aux époques préromane et romane, alors que ces compositions se fondent sur la superposition de médaillons circulaires à partir du XIIIe siècle.15 La logique médiévale offre aussi de bonnes comparaisons. Le De temporum ratione, de Bède, du début du XIIe siècle, répartit les personnages des 14

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Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Ms. Guelf. 74.3 Aug. 2°, fol. 90v; Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, catalogue d’exposition (Cologne, Schnütgen-Museum, 1985), dir. Anton Legner, Cologne 1985, t. I, A5 p. 57 et fig. p. 58. Hermann Schadt: Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis und der Arbores Affinitatis. Bildschemata in juristischen Handschriften, Tübingen 1982. Plusieurs de ces « arbres » présentent des blocs de huit médaillons, comme les pages de Vienne 2554; voir ibid., fig. 109–112, 114–117, 130–131, 134–139. Certains d’entre eux présentent même des quadrilobes entiers dans les écoinçons et coupés sur les bords, fig. 132, 152.

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étapes d’un diagramme dans trois cercles alignés dans un cadre rectangulaire à écoinçons.16 Les cercles superposés à inscriptions – sans enluminures – des diagrammes de la Clavis physicae, d’Honorius Augustodunensis, au XIIe siècle, sont aussi à noter.17 L’articulation entre de telles oeuvres fondées sur des schémas, et le principe de l’illustration narrative, apparaît clairement dans des manuscrits anglais du début du XIIIe siècle. Une séquence verticale de médaillons relatant la Création y est à proximité directe d’autres médaillons en chaînes verticales présentant la Généalogie du Christ de Pierre de Poitiers.18 Nous observons bien ici une primauté de l’expression visuelle du concept, et de l’articulation des éléments dans un schéma de relation, Fig. 5: Bible Moralisée, Isaïe 7–8, Paris, vers 1235 (Paris, Biblioau détriment de la suggestion thèque nationale de France, Ms. lat. 11.560, fol. 106r) par le naturalisme sensible. Le souci de la narration se plie à son insertion dans des suites de cercles dont la séquence répond d’abord à une volonté de logique. Le choix de la Bible moralisée s’éclaire encore si on le confronte à l’évolution de la représentation de la Sainte Parenté entre le XIIIe et le XVe siècle. Vers 1270, une page des Miracles de Nostre Dame présente la généalogie 16 17 18

Londres, BL, Ms. Royal 13 A.XI, fol. 33v; The Making of England. Anglo-saxon Art and Culture AD 600–900, catalogue d’exposition (Londres, British Museum, 1991), Londres 1991, fig. 61, p. 77. Paris, BNF, Ms. latin 6734, fol. 2r; Anna C. Esmeijer: Divina quaternitas. A Preliminary Study in the Method and Application of Visual Exegesis, Amsterdam 1978, fig. 24a et b. Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 83 et Londres, BL, Ms. Cotton Faustina B. VII; Morgan 1982 (notre note 11), n° 43, p. 91 et fig. 141–143. Pour la verticalité et son expression dans l’iconographie du XIIIe siècle, voir aussi Wolfgang Kemp: The Narratives of Gothic Stained Glass, Cambridge 1997, p. 50–54.

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de la Vierge en en répartissant les acteurs dans des médaillons reliés par des lignes verticales exprimant les filiations (fig. 6).19 Un schéma analogue se maintient dans l’arbre généalogique enluminé du Speculum Humanae Salvationis, vers 1330.20 Par contre, en 1417, dans un Libellus dicitur Mons quatuor fluvialium arborum, de Winand von Steeg, le thème iconographique répartit les mêmes personnages dans la page, mais hors de tous cadres particuliers, et en les posant sur les branches d’un arbre représenté avec réalisme.21 La peinture sur panneau du XVe siècle abandonne même l’arbre, pour placer la famille dans un jardin.22 Dans ces deux derniers cas, ce n’est plus l’idée, ni l’articulation logique des éléments, qui prime dans la composition, mais l’apparence sensible. Ce n’est pas un hasard si la présentation en chaînes verticales de médaillons narratifs s’épanouit dans l’enluminure du XIIIe siècle. On ne peut séparer cela d’une période où la pensée est dominée par la scolastique, le souci de démonstrabilité, et où des règles analogues organisent tant les diagrammes que la disposition des représentations figurées. Ce système Fig. 6: Gautier de Coinci, Miracles de Nostre Dame, fortement articulé, proche du schéma Généalogie de la Vierge, Nord de la France, vers 1270– logique, mais qui inclut de véritables 1280 (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 3517, fol. 7r) 19

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Paris, BNF, Arsenal, Ms. 3517, fol. 7r; Henry Martin/Philippe Lauer: Les principaux manuscrits à peintures de la bibliothèque de l’Arsenal à Paris, Paris 1929, p. 19 et pl. XVII; Gautier de Coinci. Miracles, Music, and Manuscripts, Actes du colloque de Pittsburgh (Medieval Texts and Culture of Northern Europe, 13), éd. par Kathy M. Krause/Alison Stones, Turnhout 2006, p. 69, 374, 383 note 23. Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Ms. 243, fol. 61r; Speculum Humanae Salvationis, Codex Cremifanensis 243 des Benediktinerstifts Kremsmünster (Codices Selecti, 32), Facsimilé et commentaire par Willibrord Neumüller, Graz 1972, fol. 61r et p. 41. Vatican, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 411, fol. 36v; Bibliotheca Palatina, catalogue d’exposition, éd. par Elmar Mittler, Heidelberg 1986, t. I, E 1.2 p. 190–191 et t. II, p. 139. Par exemple le panneau de l’Ancien Maître de la Sainte Parenté, vers 1420; Frank Günther Zehnder: Katalog der Altkölner Malerei (Katalog des Wallraf-Richartz-Museums, 11), Cologne 1990, p. 21–24 et fig. 2.

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thèmes iconographiques, trouve un de ses aboutissements dans les diagrammes didactiques, dévotionnels et moraux tels que ceux du Speculum Theologiae, ainsi dans le Psautier de Robert de Lisle, vers 1310. Peint à une époque où le goût des médaillons circulaires est peu à peu supplanté par des quadrilobes enrichis d’élégants arcs trilobés, le manuscrit présente pourtant encore, dans la Roue des dix âges de l’homme, dix médaillons enluminés narratifs en une chaîne logique, autour du médaillon central, et jouant à la fois des directions radiale et circulaire. Dans la Table des dix commandements, comme dans la Table des douze articles de la Foi, le contenu des petits médaillons alignés est indiqué par une inscription et non par une enluminure, mais tant ces médaillons que les bandes étroites qui les relient suivent le principe d’un schéma logique.23 Il est significatif de rencontrer dans le Verger de Soulas, de peu antérieur, à la fois des diagrammes du Speculum Theologiae où de petits tituli insistent encore plus sur l’articulation logique des médaillons à l’intérieur d’une vaste composition, et d’autres pages où les scènes peintes se présentent comme les unités cohérentes du discours.24 Dans le cas de la Bible moralisée, le choix est plus simple, car il ne s’agit pas de schémas théologiques ou de diagrammes didactiques, mais d’un récit, dont la séquence en une verticale régulière s’organise également à partir du médaillon comme unité conceptuelle ou narrative. Cela nous amène à un second point important pour comprendre ce choix dans les Bibles moralisées du XIIIe siècle postérieures à Vienne 2554: l’indifférenciation, dans l’emplacement comme dans la forme, des médaillons bibliques et des moralisations. On sait que ce parti sera abandonné après 1300, à la suite de premières modifications majeures – compositions de format carré, peintures sur les deux faces du parchemin – adoptées dans le dernier quart du XIIIe siècle pour Add. 18.719.25 Les Bibles moralisées de Jean le Bon, vers 135026, puis de Philippe le Hardi, commencée vers 140227, utilisent des encadrements alternativement de deux types, rectangulaire à décor architectural, et curvilinéaire de forme complexe. Le thème biblique reçoit alors un cadre différent de sa moralisation, la variation du choix – l’architecture peut être retenue pour l’un ou pour l’autre – empêchant d’y voir une intention symbolique. Or l’iconographie typologique du XIIe présente sur ce point des choix analogues à la Bible moralisée du XIIIe siècle, car elle ne différencie pas, dans la composition, la figure de la préfigure. C’est le cas pour l’ambon de Klosterneuburg, en 1181, où aucune distinction de forme de l’émail ne sépare les scènes des registres respectifs ante legem, sub 23

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Londres, BL, Ms. Arundel 83 II, fol. 126v, 127v, 128r; Lucy Freeman Sandler: The Psalter of Robert de Lisle in the British Library, Londres 1999, p. 43, 47, 49. Sur ce type d’œuvres, voir aussi JeanClaude Schmitt: Les images classificatrices, dans: Bibliothèque de l’Ecole des Chartes, CXXXXVII, 1989, p. 311–341. Voir aussi les pages fondamentales de Ivan Illich: Du lisible au visible: la naissance du texte. Un commentaire du ‹ Didascalicon › de Hugues de Saint-Victor, Paris 1991, p. 123–133. Paris, BNF, Ms. fr. 9.220, en particulier fol. 3v, 4r, 9r, 16r; Sandler 1999 (notre note 23), p. 111–113. Lowden 2000 (notre note 1), t. II, p. 203; voir aussi notre note 4. Paris, BNF, Ms. fr. 167; ibid., t. I, p. 221–250. Paris, BNF, Ms. fr. 166; ibid., t. I, p. 251–284.

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gratia, sub lege28, mais aussi dans bien des émaux typologiques rhéno-mosans, comme le Triptyque d’Alton Towers, vers 1150.29 Ce principe gouverne aussi les pages typologiques enluminées des Rondels d’Eton, vers 1260–1270, la même forme en médaillon, et avec le même type d’inscription dans la bordure, étant utilisée tant pour la scène néo-testamentaire que pour ses quatre préfigures.30 Les choix seront tout autres au siècle suivant. Si le Speculum Humanae Salvationis déjà cité, vers 1330, aligne la scène principale et ses trois préfigures à la suite31, la Biblia Pauperum distingue très fortement le thème néotestamentaire de ses préfigures32, comme le feront les Concordantiae caritatis d’Ulrich de Lilienfeld.33 En inscrivant les deux vérités testamentaires dans une même séquence de l’histoire du monde, dans des types de médaillons que rien ne distingue, la Bible moralisée du XIIIe siècle n’est pas isolée, mais en accord avec les choix de l’iconographie typologique antérieure à 1300. Parce que l’affirmation de la continuité de l’histoire du Salut a été privilégiée, l’unité globale a été plus forte que l’éventuelle nécessité de faire ressortir les moralisations, qui ne sont pas différenciées dans leur aspect général mais incluses dans le mouvement d’ensemble. De la même manière, pourrait-on dire, que pour la pensée médiévale les significations typologiques sont présentes – cachées – à l’intérieur même du texte et des évènements néo-testamentaires, et que le sens spirituel est contenu dans le sens littéral. L’autre question majeure que nous voulons présenter concerne l’observation d’un habitus visuel, pour comprendre les éléments qui constituent et expliquent sa nature, mais aussi ce que révèle la perte progressive de sa cohérence initiale, l’oubli de sa raison d’être originelle. Nous avons rappelé le principe des plus anciennes Bibles moralisées, consistant à placer dans un champ rectangulaire de grands médaillons circulaires « fixés » par quatre petits quadrilobes. C’est cette disposition précise qui nous occupera ici, avec une analyse plus rapide des carrés inscrits dans de plus grands quadrilobes, dans les écoinçons, tous les éléments cités étant coupés à moitié à leur rencontre avec les bordures. Pour ce qui est, en dehors des questions de mise en page, du développement de grands cycles narratifs au XIIIe siècle, nous n’évoquerons pas le lien de la Bible moralisée avec le vitrail, ou avec des séries enluminées comme le Psautier de Manchester ; tout ceci a

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Marie-Madeleine Gauthier: Emaux du Moyen Age occidental, Fribourg 1972, pl. 118 p. 169 et fig. 118 p. 173. Londres, Victoria and Albert Museum; ibid., pl. 97 p. 141. Eton, College Library, Ms. 177; Avril Henry: The Eton Roundels. A Colour Facsimile with Transcription, Translation and Commentary, Aldershot 1990, pl. 3r–7v. Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Ms. 243, voir notre note 20. Vienne, ÖN, Ms. 1198; Die Wiener Biblia Pauperum, Codex Vindobonensis 1198, éd. par Franz Unterkircher, 3 vol., Graz/Vienne/Cologne 1962. Par exemple un exemplaire viennois de 1413; Sigismundus Rex et Imperator. Kunst und Kultur zur Zeit Sigismunds von Luxemburg 1387–1437, catalogue d’exposition (Budapest, Szépművészeti Múzeum/Luxembourg, Musée National d’Histoire et d’Art, 2006), dir. Imre Takács, Budapest/Luxembourg 2006, n° 7.41, p. 604–605.

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déjà été démontré de manière convaincante.34 Pour le parallèle que l’on observe entre la composition de vitraux par séquences de médaillons superposés, et le choix fait par la Bible moralisée, John Lowden a rappelé qu’il s’agit d’analogies très générales qui ne permettent pas de préciser les comparaisons.35 Mais, en réexaminant le problème à partir des petits motifs qui « fixent » les médaillons, nous voulons d’abord poser la question de savoir jusqu’où les rapprochements fondés uniquement sur la forme, sur des choix plastiques, sont significatifs. L’invention de ce parti pourrait-elle ne dépendre que de raisons esthétiques? Dans le cas de la grande initiale de la Genèse de la Bible de Jean de Cardaillac, manuscrit toulousain de la fin du siècle36, les petits « anneaux » circulaires qui séparent chacun des grands médaillons de l’axe principal de la composition ne sont que le prolongement naturel des cadres des médaillons du centre, qui se développent en rameaux végétaux jusqu’à l’encadrement rectangulaire. C’est de cette manière que sont aussi conçus les ornements placés en écoinçons entre les six médaillons, en deux rangées de trois superposées, dans le bas de la somptueuse page de la Création, de la Bible de Lothian, réalisée à Saint-Albans ou Oxford vers 122037: ces ornements se développent comme des branches issues du tronc constitué par les encadrements des médaillons.38 Certes, au contraire du Psautier de Munich cité plus haut, chaque médaillon est consacré à une scène particulière, et l’effet général n’est pas sans rappeler celui de Vienne 2554, mais on n’y trouve absolument pas le principe des quatre quadrilobes comme pièces en soi qui « fixent » les médaillons. Un autre psautier anglais, vers 1220–1230, présente des paires de médaillons, superposés, mais le lien se fait par le simple entrelacement des deux cercles à leur point

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Pour la place du vitrail dans les grands cycles narratifs gothique, voir Kemp 1997 (notre note 18). Pour le manuscrit cité, voir Yolanta Zaluska: Le Psautier Manchester, John Rylands University Library, Ms. lat. 22 et les Evangiles dans la Bible moralisée, dans: Iconographica. Mélanges offerts à Piotr Skubiszewski (Civilisation médiévale, 7), éd. par Robert Favreau/Marie-Hélène Debiès, Poitiers 1999, p. 231–250. Lowden 2000 (notre note 1), t. II, p. 207, qui cite la bibliographie antérieure. Pour les relations entre les Bibles moralisées et le vitrail, les recherches récentes n’insistent plus sur les parallèles de composition et de mise en page, mais d’une part sur les analogies d’iconographie, voir ainsi Yves Christe/Laurence Brugger: La Bible du roi: Jérémie dans la Bible moralisée de Tolède et les vitraux de la Sainte Chapelle, dans: Cahiers Archéologiques, fin de l’Antiquité et Moyen Age, XLIX, 2001, p. 101–116; d’autre part sur les rapprochements stylistiques, voir ainsi Elisabeth Pastan/Sylvie Balcon: Les vitraux du chœur de la cathédrale de Troyes (XIIIe siècle) (Corpus Vitrearum. France, 2), Paris 2006, p. 121 et 174–177. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. bibl. 2° 8, fol. 4r; L’Art au temps des rois maudits. Philippe le Bel et ses fils, 1285–1328, catalogue d’exposition, éd. par Anne de Margerie, Paris 1998, n° 230 et fig. p. 331. New York, PML, Ms. M. 791, fol. 4v; Morgan 1982 (notre note 11), n° 32, p. 79–81 et fig. 108. Le principe est déjà appliqué dans les sept grands médaillons de l’Arbre de Jessé de la Bible de Lambeth, cité plus haut, mais dans ce cas il est la conséquence normale du développement de l’arbre issu du flanc de Jessé.

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de contact39, comme dans le Psautier dit de saint Louis et de Blanche de Castille.40 Le Psautier de Sens, vers 1220–124041, présente un petit quadrilobe à la jonction de deux médaillons, mais l’application du principe est devenue très fragmentaire: pour deux médaillons superposés, on trouve non pas sept quadrilobes mais un seul, et celui-ci est placé entre les médaillons, sans empiéter sur eux, sa fonction de fixation étant abandonnée. Dans un livre d’heures réalisé à Oxford, vers 124042, quatre médaillons historiés sont assemblés en deux rangées de deux, dans un effet qui rappelle là aussi Vienne 2554, et on trouve de petites rosaces « fixant » les médaillons, mais uniquement à leurs points de jonction, et non au contact avec l’encadrement. Là encore, le principe n’est utilisé que de façon très partielle, comme si son sens d’origine avait été oublié. C’est la même chose pour le Psautier Oscott, vers 1265: un seul élément « fixe », à leur contact, les deux médaillons qui donnent l’impression de flotter dans le cadre, sans vrai ancrage.43 Si ces petits éléments « fixant » les médaillons, dans l’enluminure du XIIIe siècle, sont utilisés de manière de plus en plus partielle, c’est qu’ils ne sont plus vus comme nécessaires, et qu’on ne les comprend plus. Peut-on alors proposer qu’ils ont connu, à l’origine, une nécessité, mais qu’il vivent désormais le sort que finit par connaître toute forme qui n’est plus attachée à une fonction? Dans l’enluminure, ces éléments ne jouent qu’un rôle décoratif. Mais il est un art, l’orfèvrerie, dans lequel de telles formes pourraient directement relever d’un besoin technique. Ces petits quadrilobes apparaissent comme des clous ou des rivets qui maintiendraient sur un fond de bois les grands médaillons en émaux. Selon le principe d’un habitus visuel, d’une inertie des formes – comme le modillon sculpté en pierre sous une corniche, qui continue le motif de la tête de poutre en bois devenue inutile et disparue –, cette composition nous semble copier un parti dont la nécessité est absente dans l’art de l’enluminure, mais qui se fondait sur des besoins techniques dans un contexte et des matériaux autres. Les médaillons circulaires contenant des scènes historiées se rencontrent dans l’orfèvrerie du XIIe siècle, où ils sont plus fréquents que dans l’enluminure. Pour les émaux rhénans et mosans, on peut évoquer le Triptyque d’Alton Towers, déjà cité, ou les six grands médaillons eux aussi narratifs sur chacun des deux versants du toit, dans la Châsse de saint Héribert, à Cologne, vers 1160–1170.44 Dans le Triptyque Stavelot, vers 1150– 39 40

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Londres, BL, Ms. Lansdowne 420, par exemple fol. 7v, 8v, 9r; Morgan 1982 (notre note 11), n° 37, p. 86–87 et fig. 126, 128–129. Paris, BNF, Arsenal, Ms. 1186 Rés., fol. 171v, v. 1230; Le trésor de la Sainte-Chapelle, catalogue d’exposition (Paris, Musée du Louvre, 2001), éd par Jannic Durand, Paris 2001, n° 47, p. 194–195 et fig. Philadelphie, Free Library, Lewis, Ms. E 185, fol. 5r; François Avril: L’enluminure à l’époque gothique, 1200–1420, Genève 1995, p. 15 et fig. Londres, BL, Ms. Add. 49.999, fol. 1r; Morgan 1982 (notre note 11), n° 73, p. 119–121 et fig. 241. Londres, BL, Ms. Add. 50.000, fol. 7r, 8r, 10r, 11v; Nigel Morgan: Early Gothic Manuscripts II, 1250–1285 (A Survey of Manuscripts Illuminated in the British Isles, 4/2), Londres 1988, n° 151, p. 136–139 et fig. 247–250. Ornamenta Ecclesiae 1985 (notre note 14), t. II, E 91 p. 314.

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1160, les trois médaillons formant une séquence verticale sur chacun des volets sont enchâssés dans des plaques de cuivre doré à cabochons, mais aussi fixés chacun par quatre clous45, comme bien des médaillons de châsses mosanes.46 Dans l’émail limousin de la fin du XIIe et du XIIIe siècle, les médaillons fixés sur un fond sont rares, car une haute maîtrise technique permet désormais aux maîtres de créer de grandes plaques d’un seul tenant.47 On y voit des pièces rectangulaires dans lesquelles l’espace Fig. 7: Châsse au Christ bénissant entre les saints Pierre et Paul, est entièrement occupé par face principale, émaux de Limoges, vers 1200 (Bruxelles, Musées de grands motifs ou thèmes Royaux d’Art et d’Histoire) inscrits dans des médaillons, les écoinçons étant animés par des ornements, ainsi vers 1175–1180 dans la châsse de Washington, ou dans celle à décor parousique de Munich.48 D’importantes plaques limousines, toujours d’un seul tenant, présentent des médaillons circulaires « fixés » par un motif en quadrilobe ou en rosace. Sur le long côté d’une châsse de Silos, vers 1190, des rosaces dont le centre est en relief, exactement comme si elles imitaient des clous de fixation renforcés par des rondelles à motif, se trouvent d’une part aux quatre angles, d’autre part à la jonction des trois mandorles.49 Sur une châsse 45 46 47

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New York, PML; The Stavelot Triptych. Mosan Art and the Legend of the True Cross, catalogue d’exposition (New York, The Pierpont Morgan Library, 1980), New York 1980, pl. 1–5. Voir par exemple la Châsse de saint Héribert citée plus haut. Les médaillons du tabernacle de Cherves (New York, The Metropolitan Museum of Art), vers 1220– 1230, n’entrent pas dans les cas évoqués, car il s’agit de pièces fondues, ajourées, et fixées devant un fond en émail; L’œuvre de Limoges. Emaux limousins du Moyen Age, catalogue d’exposition (Paris, Musée du Louvre, 1995/1996), éd par Elisabeth Taburet-Delahaye, Paris 1995, n° 99, p. 299–302. Limoges, vers 1175–1180, Washington, National Gallery of Art; ibid., n° 22, p. 122–125. Châsse à décor parousique, Limoges vers 1175–1180, Munich, Bayerisches Nationalmuseum; Marie-Madeleine Gauthier/Geneviève François: Emaux méridionaux. Catalogue international de l’œuvre de Limoges, t. I: L’époque romane, Paris 1987, n° 151, p. 148 et fig. 521, également médaillons non narratifs. Ibid., n° 315, p. 243–244 et fig. 864.

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de Bruxelles, vers 1200 (fig. 7), le long côté comme le versant du toit sont occupés par trois grands médaillons, chacun « fixé » par quatre de ces rosaces, entières au centre, et tranchées à moitié au bord de la plaque.50 Sur une châsse de Pittsburgh51, vers 1200, et sur une cassette à décor profane du British Museum52, vers 1180, de grands médaillons sont « fixés » par des quadrilobes inscrits dans des boutons, là aussi entiers au centre et tranchés sur les côtés. A Londres (fig. 2, 3), plusieurs de ces médaillons sont occupés par des scènes figurées, et qu’ils soient disposés en une séquence verticale, sur le couvercle, ou horizontale, sur le côté, l’effet visuel rappelle fortement celui de nos Bibles moralisées. Ici, pour Marie-Madeleine Gauthier « les disques cerclés chargés de quadrilobes […] et placés en fermaillets semblent agrafer les uns aux autres les champs ronds historiés du couvercle et des côtés ».53 Sur le noeud d’un chandelier, vers 1190, de petits cercles à quadrilobes paraissent vraiment riveter les médaillons décoratifs.54 De tels fermaillets, non comme motifs plastiques, mais comme pièces autonomes possédant une fonction, ne s’observent pourtant guère dans cet art qui sait faire de grandes plaques et n’a que peu besoin de recourir à des assemblages. Pour approcher la nature de tels fermaillets, il nous faut soit retourner à l’art mosan, ainsi pour la châsse de saint Maurin, à Cologne55, vers 1170, pour les pièces rondes qui fixent réellement les cadres des grandes scènes des versants du toit; soit chercher des objets où une vaste plaque de cuivre n’occupe pas toute la surface. Dans des cassettes, ainsi dans les pièces du Louvre, vers 1180, le fermaillet central des pentures semble bien imiter la fonction qu’il devait remplir dans des exemples antérieurs.56 Il ne nous reste que trop peu de témoins d’œuvres plus anciennes. Le Coffre de l’abbé Boniface, du trésor de Conques, vers 1110–1130, en est un, essentiel.57 Chacun des médaillons y est fixé par quatre clous, qui traversent de courtes excroissances de la pièce, plusieurs d’entre elles dessinant un ornement sommaire à trois lobes. Peut-on voir ici l’amorce, pour la fixation des médaillons, de ces quadrilobes qui se retrouvent, soixante ans plus tard, intégrés au même endroit dans la plaque émaillée, et devenus alors motifs plastiques? De ces décennies d’inventions, pour l’orfèvrerie, avant l’épanouissement des années 1180, trop nous est perdu pour que l’on puisse répondre avec certitude à la question. Mais notre hypothèse prolonge précisément la remarque de Barbara Drake Boehm

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The Year 1200, catalogue d’exposition (New York, The Metropolitan Museum of Art, 1970), éd. par Konrad Hoffmann, New York 1970, t. I, n° 154, p. 149–150 et fig. Gauthier 1972 (notre note 28), n° 70, p. 339. Ibid., n° 50, p. 330; Gauthier/François 1987 (notre note 48), n° 174, p. 160–162 et fig. 563, 566– 567. Ibid., p. 161. Montréal, collection Randall; ibid., n° 291, p. 230 et fig. 790. Ornamenta Ecclesiae 1985 (notre note 14), t. II, E 79 p. 296–302, ici p. 302. L’œuvre de Limoges 1995 (notre note 47), n° 35, p. 152–153. Voir aussi les pentures de la cassette du trésor d’Aix-la-Chapelle, du troisième quart du XIIIe siècle; Gauthier 1972 (notre note 28), p. 190 et n° 136, p. 375. L’œuvre de Limoges 1995 (notre note 47), n° 7, p. 78–82.

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qui notait, pour la cassette de Londres (fig. 2, 3): « la surface est entièrement émaillée mais imite un décor de médaillons appliqués ».58 Les recherches techniques ont montré, pour l’assemblage des émaux limousins, l’importance de rivets recouverts par l’émail, et visibles uniquement sur radiographie, mais aussi de rivets dont les têtes restent visibles et sont incorporées dans le dessin d’ensemble.59 Le clou Fig. 8: Châsse de saint Etienne de Muret, face principale, émaux de de cuivre à tête émaillée, Limoges, vers 1180–1190 (Ambazac [Haute-Vienne], église Saint-Antrouvé par des archéotoine) logues en 1993, et que vient de publier Geneviève François avec d’autres fragments d’un tombeau fait dans les ateliers limousins60, est à considérer comme une découverte très importante. En forme de rosace à six lobes avec un renflement central, il nous apparaît en effet être exactement le frère des rosaces de la châsse de Silos, citée plus haut. Ce clou nous confirme que l’on peut porter un tout autre regard sur ces questions, car il montre bien comment ces rosaces purement décoratives ornant la plaque de cuivre, à Silos ou ailleurs61, imitent les clous de même aspect qui avaient une fonction de fixation dans les œuvres antérieures. Une pièce enfin est essentielle. Sur la face de la châsse de saint Etienne de Muret62, provenant de l’abbaye de Grandmont, vers 1180–1190, les deux grands losanges à cabochons sont 58 59 60

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Ibid., p. 152. Isabelle Biron et al.: Le cuivre et l’émail: techniques et matériaux, dans: ibid, p. 53. Geneviève François: Fragments de cuivre et d’émaux retrouvés du tombeau de Roger de Brosse (mort 1287) à Prébenoît (Creuse), dans: Aquitania, XXIV, 2008, p. 191–204, ici p. 201 et fig. 10. Nous remercions vivement Geneviève François, Responsable du Corpus des Emaux méridionaux (CNRS, programme rattaché au Centre André Chastel), pour cette référence, et pour nos échanges fructueux autour des questions abordées dans cet article. Voir par exemple à l’Ermitage, à Saint-Pétersbourg, une importante plaque limousine vers 1215; Esfir A. Lapkovskaya: L’art appliqué du Moyen Age au Musée de l’Ermitage. Œuvres en métal, Moscou 1971, p. 15 et pl. couleurs. L’œuvre de Limoges 1995 (notre note 47), n° 55, p. 208–212. Il faut noter que l’on trouve aussi sur cette châsse, dans les bandes d’encadrement des compartiments inférieurs (nos fig. 9 et 10), les mêmes rosaces imitant les clous de fixation.

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directement tenus par de petits médaillons à motifs quadrilobés (fig. 8, 9, 10). Dans cette oeuvre qui se fonde sur l’assemblage de nombreuses plaquettes séparées, nous trouvons un témoin capital d’une pratique ancienne de médaillons appliqués, dont on peut voir l’imitation dans les pièces faites ensuite d’un seul tenant. Ces petits disques à quadrilobes ont bien, sur cette châsse, une fonction de fixation. Et lorsqu’ils ne possèdent plus, sur d’autres œuvres, qu’un usage uniquement ornemental, le souvenir de cette fonction perdue est si évident que la recherche, nous l’avons vu, parle alors de fermaillets qui « semblent agrafer les uns aux autres » les médaillons.63 C’est dans ces médaillons d’orfèvrerie effectivement tenus par Fig. 9: Châsse de saint Etienne de Muret, face principale, détail, de petits disques à quadrilobes compartiment latéral gauche (fig. 9, 10), puis dans les pièces où ce principe n’est utilisé qu’en imitation, à titre esthétique (fig. 2, 3), que l’on peut voir une source majeure de ce choix de composition tel qu’il est visible dans Vienne 2554. Nous ne pouvons dire ici que quelques mots sur les carrés inscrits dans des quadrilobes, et contenant des bustes d’anges, de Vienne 2554. On sait la place des anges en écoinçons, « gardiens » de scènes et de motifs majeurs, de l’ambon de Klosterneuburg64 au ciboire de Maître Alpais65, à la Châsse de saint Maurin ou au Psautier de Munich, déjà cités.66 Quand au carré inscrit dans un quadrilobe, Robert Suckale a justement rappelé qu’avant de devenir au cours du XIIIe siècle une simple formule sans contenu précis, il porte un

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Marie-Madeleine Gauthier, citée plus haut, selon notre note 53. Cités par Lowden 2000 (notre note 1), t. I, p. 311 note 28. Gauthier 1972 (notre note 28), fig. 63 p. 109. Pour la Châsse de saint Maurin, voir notre note 55. Pour le Psautier de Munich, voir notre note 11; pour les anges en écoinçons entre les médaillons du fol. 29v, voir The Illuminated Psalter 2004 (notre note 11), fig. 15.

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Fig. 10: Châsse de saint Etienne de Muret, face principale, détail, compartiment latéral droit 67 68

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symbolisme sacré de la plus haute importance.67 Dans l’orfèvrerie rhéno-mosane des années 1160, il est capital, qu’il constitue la forme même du Reliquaire de Saint Gondulphe68, le cœur de l’autel portatif de Stavelot69, ou de petites plaques supports d’allégories sacrées.70 Nous ne pouvons également qu’évoquer trop vite les motifs des écoinçons des Bibles moralisées postérieures à Vienne 2554. Des comparaisons permettent de relier ces ornements végétaux linéaires à l’essor du rinceau vermiculé dans l’orfèvrerie, en Espagne, puis à Limoges à la fin du XIIe siècle.71 Et par leur effet ornemental comme par leur forme, les demi-quadrilobes, coupés dans les angles, de la châsse de Saint-Viance, vers 1230–125072, font écho à ceux des écoinçons d’OPL (fig. 4, 5). L’orfèvrerie a donc joué un rôle essentiel dans les choix de

Robert Suckale: Réflexions sur la sculpture parisienne à l’époque de saint Louis et de Philippe le Bel, dans: Revue de l’Art, CXXVIII, 2000, p. 32–48, ici p. 42. Bruxelles, Musées Royaux d’Art et d’Histoire; Rhin-Meuse. Art et civilisation 800–1400, catalogue d’exposition (Cologne, Schnütgen-Museum/Bruxelles, Musées Royaux d’Art e d’Histoire de la Ville, 1972), Cologne/Bruxelles 1972, G 9, p. 247 et pl. couleurs. Gauthier 1972 (notre note 28), fig. 95 p. 137. Saint-Pétersbourg, Ermitage; Lapkovskaya 1971 (notre note 61), p. 4 et pl. couleurs. Voir aussi les remarques de Gauthier 1972 (notre note 28), p. 138–139, sur l’intensité de ces formes dans l’orfèvrerie mosane. Ibid., p. 88–90. Pour ce rapprochement entre motifs vermiculés gravés et décor enluminé, voir Xénia Muratova: L’ambiguïté des fonds et les caprices des rinceaux. Remarques sur les fonds ornementaux dans l’enluminure du XIIIe siècle, dans: Quand la peinture était dans les livres. Mélanges en l’honneur de François Avril (Ars Nova. Studies in Late Medieval and Renaissance Northern Painting and Illumination, 15), éd. par Mara Hofmann/Caroline Zöhl, Turnhout 2007, p. 235–245, ici p. 236 et 239. L’œuvre de Limoges 1995 (notre note 47), n° 119, p. 347–350.

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mise en page des premières Bibles moralisées. Mais pour relativiser d’une autre manière l’influence possible des vitraux, il faut enfin citer les textiles orientaux, ainsi que la reprise de leurs motifs dans la peinture murale.73 Pour la question des médaillons fixés par des fermaillets, il faut parler des tissus avec de petits motifs circulaires « agrafant » les grands médaillons à leur jonction. On observe cela dans la chasuble de Brauweiler, vers 1100, venue de Byzance ou du Proche-Orient, et dans plusieurs soies occidentales qui s’inspirent de tels tissus, et sont réalisées en Espagne, mais aussi à Cologne, aux XIe et XIIe siècles.74 Les médaillons de ces textiles sont habités d’une faune sauvage ou fantastique répétitive, et non de scènes figurées. Mais de la même manière qu’il faut se souvenir des pertes immenses subies par l’orfèvrerie du XIIe siècle, il faut avoir à l’esprit l’ampleur des surfaces murales, en particulier dans les parties basses des églises, qui étaient couvertes de peintures à médaillons imitant ces tissus. Les grandes églises possédaient des centaines de ces tissus dans leurs trésors, elles en habillaient le sanctuaire, elles les découpaient pour emballer les reliques.75 On a justement vu dans certaines peintures murales gothiques à médaillons une imitation des verrières du XIIIe siècle76, mais ne peut-on pas précisément inverser la réflexion? Pensons aux énormes surfaces de peintures murales à médaillons qui se trouvaient dans les églises préromanes et romanes, à l’image des restes, du Xe siècle, visibles dans le chœur de Saint-Etienne de Vérone.77 De la même manière que ces peintures imitaient des tissus, le vitrail gothique à médaillons ne seraitil pas d’abord un prolongement, dans la baie, du même motif présent dans les peintures murales qui ne trouvent plus de parois où se déployer ? Enfin, pour identifier un habitus, et observer son application, peut-on appliquer une loi de l’évolution et de l’oubli du sens? Le dispositif à petits quadrilobes fixant les médaillons s’observe massivement dans Vienne 2554.78 Il est encore systématique dans Vien-

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Marie-Madeleine Gauthier: Les routes de la foi. Reliques et reliquaires de Jérusalem à Compostelle, Fribourg 1983, p. 92, signale très justement que les motifs de ces tissus orientaux sont « dotés d’une telle efficacité qu’ils constituent un véritable genre ornemental, au point que, transposés dans le métal, ils forment le répertoire des tout premiers émailleurs méridionaux ». Ornamenta Ecclesiae 1985 (notre note 14), t. I, p. 451, t. II, p. 236, 237, 330. Voir les chiffres présents dans la précieuse analyse de Jacqueline Leclercq-Marx: L’imitation des tissus ‹ orientaux › dans l’art du Haut Moyen Age et de l’époque romane. Témoignages et problématiques, dans: Medioevo mediterraneo: l’Occidente, Bisanzio e l’Islam, Actes du colloque de Parme (2004), éd. par Arturo Carlo Quintavalle, Parme 2007, p. 456–469, ici p. 459–460. Voir aussi Albert Lemeunier: Quelques rapports entre textiles et orfèvreries en milieu rhéno-mosan aux XIIe et XIIIe siècles, dans: Textiles du Moyen Age, plus particulièrement dans la région Meuse-Rhin, Actes du congrès d’Alden Biesen (1989), Saint-Trond 1989, p. 172–182. Marie-Pasquines Subes: Quelques parallèles entre deux arts monumentaux au XIIIe siècle: peinture murale et vitrail, dans: Pierre, lumière, couleur. Etudes d’histoire de l’art du Moyen Age en l’honneur d’Anne Prache (Cultures et civilisations médiévales, 20), éd. par Fabienne Joubert/Dany Sandron, Paris 1999, p. 151–164, ici p. 153–154. Leclercq-Marx 2007 (notre note 75), p. 460 et fig. 7. Les manques sont très rares, ainsi pour les demi-quadrilobes latéraux du fol. 47r.

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ne 1179. Mais dans Tolède et surtout OPL, les quadrilobes perdent leur forme, devenant rosaces, puis simples boutons, et surtout sont complètement absents dans de très nombreuses pages (fig. 5).79 Les enlumineurs ne comprennent plus, alors, à quoi se référaient précisément les créateurs de Vienne 2554. Un habitus visuel peut donner une grande force d’impulsion, mais celle-ci a besoin, pour se nourrir, de conserver le contact avec la source originelle. Cette force s’épuise peu à peu lorsque l’artiste n’a plus sous les yeux le modèle, et surtout lorsqu’il n’en comprend plus le sens, lorsque la forme a cessé de correspondre à une fonction.

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Dans Tolède, les manques sont rarissimes dans les tomes I et II, et ne concernent qu’une dizaine de pages dans le tome III. Ils sont beaucoup plus fréquents dans OPL.

Landpartie mit Cotman und Taylor. Vom Habitus derer, die sich ein Bild der Vergangenheit machen Bernd Carqué I. Terra incognita – Zumutungen und Verheißungen Von Paris aus hatte ein Reisender in nordwestlicher Richtung binnen Wochenfrist das Ende der Welt erreicht. Diesen Eindruck gewann am Vorabend der Revolution der junge Advokat Charles-Louis Cadet de Gassicourt (1769–1821), als die Türme von NotreDame längst außer Sichtweite lagen und er auf seinem Weg durch die Normandie in Le Havre angekommen war.1 Indische Provinzen, so musste er eingestehen, kannte man besser als die des eigenen Landes.2 Auch aus anderen Reiseberichten der Zeit um 1800 sprechen solche Alteritätserfahrungen, die gespeist wurden aus der unvermuteten Begegnung mit dem Fernen in nächster Nähe – mit den rätselhaften Sitten und Gebräuchen der Normandie, ihren absonderlichen Volkstrachten oder den defizitären Wohnbauten ihrer Altstädte.3 Nicht minder frappiert zeigten sich Reisende aus London, wobei deren Wahrnehmung vielfach noch von jenen nationalen Ressentiments geleitet wurde, die im Gefolge der englisch-französischen Kolonialkriege des 18. Jahrhunderts von den Köpfen Besitz ergriffen hatten. Daher stellte sich jenseits des Ärmelkanals zuweilen ein Grad an Befremdung ein, nach dem man auch den Abstand zu Äthiopien bemaß.4 Von derartigen Zuspitzungen abgesehen, beruhte die allgegenwärtige Differenzerfahrung zuvörderst auf dem Bewusstsein eines eklatanten zivilisatorischen Gefälles zwischen Hauptstadt und 1

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Charles-Louis Cadet de Gassicourt: Mon voyage, ou Lettres sur la ci-devant province de Normandie, 2 Bde., Paris An VII [1798], hier Bd. I, S. V: „Je n’avois pas vingt ans [d.i. vor 1789] quand j’ai fait pour la première fois ce petit voyage avec toute la curiosité d’un jeune Parisien, qui n’a jamais perdu de vue les tours de Notre-Dame. Aller au Havre étoit pour moi aller au bout du monde [...].“ – Zum Autor Jean Flahaut: Charles-Louis Cadet de Gassicourt (1769–1821). Bâtard royal, pharmacien de l’Empereur, Paris 2001. Cadet de Gassicourt [1798] (wie Anm. 1), Bd. II, S. 18. Eine Zusammenschau französischer wie englischer Reiseberichte gibt François Guillet: Naissance de la Normandie. Genèse et épanouissement d’une image régionale en France, 1750–1850, Caen 2000, S. 379–417. Thomas Thornton: A Sporting Tour through Various Parts of France, in the Year 1802, 2 Bde., London 1806, hier Bd. I, S. 16: „[...] the contrariety is so apparent, that, except in the complexion of the skin, the Ethiopians are not farther removed from Britons, in their general character, than are the inhabitants of the French republic.“ – Zur Geschichte solcher nationalen Fremdwahrnehmungen Paul Gerbod: Voyages au pays des mangeurs de grenouilles. La France vue par les Britanniques du XVIIIe siècle à nos jours, Paris 1991.

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Provinz, wie es in Frankreich bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkt auch literarisch reflektiert wurde.5 Irritationen rührten außerdem von den Bedingungen des Reisens her, denn neben den düsteren, schmutzstarrenden Städten mit all ihren olfaktorischen Zumutungen waren es erbärmliche Unterkünfte oder miserable Straßenverhältnisse und Fortbewegungsmittel, die zu topischer Klage Anlass gaben.6 Auch als nach dem Ende der Koalitionskriege und der Kontinentalsperre vermehrt englische Reisende den Weg in die Normandie fanden und zugleich von französischer Seite die Anstrengungen zu ihrer landeskundlichen Erschließung intensiviert wurden7, hatte die Provinz nichts von ihrer Fremdheit eingebüßt, hielt das Reisen über Land noch immer mannigfache Beschwerlichkeiten bereit. Wer sie dennoch auf sich nahm, musste gute Gründe haben. Und in der Tat sind bei denjenigen, von deren Werken dieser Beitrag handelt, gewichtige Motive dafür auszumachen, die Normandie namentlich im Hinblick auf die monumentalen Überreste ihrer mittelalterlichen Vergangenheit zu erkunden. Den in Norfolk wirkenden Maler und Radierer John Sell Cotman (1782–1842)8 bewog ein elementares altertumskundliches Interesse, in den Jahren 1817, 1818 und 1820 annähernd dreißig Wochen zeichnend in der Normandie zu verbringen.9 Hohe Erwartungen wurden seiner Arbeit entgegengebracht, denn es galt, auf „a National desideratum“10 zu 5

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Exemplarisch Étienne de Jouy: L’Hermite en province, ou Observations sur les mœurs et les usages français au commencement du XIXe siècle, 14 Bde., Paris 1818–1827 (zur Normandie Bd. VII und VIII). – Zusammenfassend Alain Corbin: Paris – province, in: Les Lieux de mémoire, hg. v. Pierre Nora, Bd. III/1, Paris 1992, S. 776–823. Die erste Eisenbahnlinie von Paris in die Normandie wurde 1843 bis Rouen, 1847 bis Le Havre fertig gestellt; s. Hélène Bocard: De Paris à la mer. La ligne de chemin de fer Paris–Rouen–Le Havre, Paris 2005. – Zu den älteren Verkehrswegen und Transportmitteln Joseph Letaconnoux: Les transports en France au XVIIIe siècle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, XI, 1908/09, S. 97–114 und 269–292. – Die gängigen normannischen Reiserouten um 1800 bei Louis Denis: Le Conducteur français; contenant Les Routes desservies par les nouvelles Messageries, Diligences & autres Voitures publiques, Bd. I, Paris 1776, oder Jean Vaysse de Villiers: Itinéraire descriptif de la France, ou Géographie complète, historique et pittoresque de ce royaume, par ordre de routes, Bd. III: Région du Nord-Ouest, Paris 1830. Dazu im Überblick Guillet 2000 (wie Anm. 3), bes. S. 419–459. Sydney D. Kitson: The Life of John Sell Cotman, London 1937; John Sell Cotman, 1782–1842, hg. v. Miklos Rajnai, London 1982. Kitson 1937 (wie Anm. 8), S. 190–232; kritisch dazu Andrew Hemingway: Cotman’s ‚Architectural Antiquities of Normandy‘. Some Amendments to Kitson’s Account, in: The Walpole Society XLVI, 1976–1978, S. 164–185; Miklos Rajnai/Marjorie Allthorpe-Guyton: John Sell Cotman. Drawings of Normandy in Norwich Castle Museum, Norwich 1975; Voyages pittoresques. Normandie 1820–2009, Ausstellungskatalog (Rouen, Musée des Beaux-Arts; Le Havre, Musée Malraux; Caen, Musée des Beaux-Arts), hg. v. Lucie Goujard/Annette Haudiquet/Caroline Joubert u.a., Mailand 2009, Kat.-Nr. I-10 bis I-20, S. 224–234 (Diederik Bakhuÿs). So der Bankier Hudson Gurney in einem Brief an seinen Kompagnon Dawson Turner vom 14. Juli 1817; zitiert nach Hemingway 1976–1978 (wie Anm. 9), S. 171. – Als Bankiers wie als Altertumsforscher tätig, waren sie die wichtigsten Finanziers der Expeditionsreisen Cotmans; zu Turner s.u. Anm. 13.

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reagieren und sich von England aus auf Spurensuche zu begeben, um mit den architektonischen Zeugnissen aus normannischer wie anglonormannischer Zeit die Grundfesten nationaler Kulturentwicklung zu dokumentieren – in „the most important of our transmarine provinces.“11 Schon 1819 hatte Cotman daher begonnen, seine vor Ort angefertigten zeichnerischen Notate sukzessive im Medium der Radierung auszuarbeiten und einzelne Blätter vorab in Umlauf zu bringen.12 1822 lagen schließlich die Architectural Antiquities of Normandy in zwei Großfoliobänden vor, die 100 Tafeln sowie einen erläuternden Text seines Finanziers und altertumskundlichen Mentors Dawson Turner (1775–1858)13 enthielten.14 In Umfang und Patriotismus übertroffen wurde Cotmans Publikation freilich von einem Werk, das zur selben Zeit in Paris erschien und nichts Geringeres zum Ziel hatte als „un ouvrage complet et un corps entier de documents sur l’histoire et les arts du moyen âge“.15 243 Tafeln sollten dieses Versprechen einlösen und zum Ruhme des alten, des vorrevolutionären Frankreich zunächst das kulturelle Erbe der Normandie erfassen. Ihr galten die ersten beiden, zwischen 1820 und 1825 in Lieferungen erschienenen Großfoliobände der Voyages pittoresques et romantiques dans l’ancienne France.16 Stand

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[Francis Cohen:] Normandy – Architecture of the Middle Ages, in: The Quarterly Review XXV/49, 1821, S. 112–147, hier S. 113. Hemingway 1976–1978 (wie Anm. 9), S. 170 und 176. Dawson Turner. A Norfolk Antiquary and his Remarkable Family, hg. v. Nigel Goodman, Chichester 2007. – Zu dessen Account of a Tour in Normandy (2 Bde., London 1820) hatte Cotman bereits die zeichnerischen Vorlagen der Radierungen beigesteuert. John Sell Cotman: Architectural Antiquities of Normandy; accompanied by historical and descriptive notices by Dawson Turner, 2 Bde., London 1822. – Arthur Ewart Popham: The Etchings of John Sell Cotman, in: The Print Collector’s Quarterly IX, 1922, S. 236–273, hier S. 246–248 und 265–270; Hemingway 1976–1978 (wie Anm. 9); Matthias Noell: „Standards of taste“. Augustus Charles Pugin und die „Specimens of the Architectural Antiquities of Normandy“, in: Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und Moderne, hg. v. Bernd Carqué/Daniela Mondini/Matthias Noell, 2 Bde., Göttingen 2006, S. 417–464, hier bes. S. 440–459; Voyages pittoresques 2009 (wie Anm. 9), Kat.-Nr. I-5-1 bis I-5-10, S. 202–211 (Diederik Bakhuÿs). Charles Nodier/Justin Taylor/Alphonse de Cailleux: Voyages pittoresques et romantiques dans l’ancienne France, 21 Bde., Paris 1820–1878, hier Bd. II, S. 179. – Jean Adhémar: Les Lithographies de paysage en France à l’époque romantique, Paris 1937; Michael Twyman: Lithography 1800–1850, London 1970, S. 226–253; Anita Louise Spadafore: Baron Taylor’s Voyages pittoresques (Ph.D. diss., Northwestern University, Evanston, 1973); Bernd Carqué: Repräsentationsräume des „patrimoine“. Visualisierungen des Mittelalters in den „Voyages pittoresques et romantiques dans l’ancienne France“ (1820–1878), in: Acta Historiae Artium XLVII, 2006, S. 271–301. Sie umfassen freilich nur die Haute-Normandie, denn der Band zur Basse-Normandie erschien, wiewohl seit 1842 zeichnerisch vorbereitet, erst 1878. – Bernd Carqué: Wissensraum Normandie. Zur bildlichen Konstruktion einer Gedächtnislandschaft unter der Restauration, in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich, LXXVIII, 2007, S. 235–257; Ségolène Le Men: Les „Voyages pittoresques et romantiques dans l’ancienne France“ de Taylor et Nodier: un monument de papier, in: Voyages pittoresques 2009 (wie Anm. 9), S. 39–63; ebd., Kat.-Nr. I-1-1 bis I-1-48, S. 152–195 (Laure Dalon, Diederik Bakhuÿs).

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bei Cotman „the Romanesque“ im Vordergrund, das der in den antiquarischen Zirkeln Norfolks omnipräsente William Gunn (1750–1841) gerade erst auf den Begriff gebracht hatte17, so richteten die Voyages ihr Augenmerk bevorzugt auf die „monuments gothiques“ – „la partie la plus essentielle de cette ancienne France“18. 1819 hatte der künstlerisch beschlagene Offizier Isidore Justin Séverin Taylor (1789–1879)19 damit begonnen, seinen lange gereiften Plan zu diesem Werk zielstrebig in die Tat umzusetzen, nachdem mit dem Schriftsteller Charles Nodier (1780–1844)20 und dem architektonisch geschulten Adjutanten Alphonse de Cailleux (1788–1876) geeignete Mitstreiter gefunden waren. Generalstabsmäßig organisiert, leistete eine Equipe von über 50 Künstlern zunächst die zeichnerische Dokumentationsarbeit vor Ort, um sodann in wechselnden Kooperationen die zum Druck bestimmten Lithographien auszuführen. Ungeachtet ihrer abweichenden Epochenschwerpunkte stimmen Cotman und Taylor in der Auswahl der Monumente vielfach überein. Und in beiden Fällen sind Objektkenntnis wie historisches Wissen häufig dem intensiven Austausch mit denselben normannischen Antiquaren geschuldet, allen voran mit Auguste Le Prévost (1787–1859), dem nachmaligen Mitbegründer und Direktor der Société des Antiquaires de Normandie.21 Auch die Praktiken visueller Aneignung und Vermittlung gleichen einander hinsichtlich der komplexen Transformationsprozesse vom standortgebundenen Objekt über intermediäre Bleistift- oder Aquarellskizzen und Federzeichnungen bis hin zur publizierten Lithographie oder Radierung. Damit nicht genug, scheint selbst zwischen den künstlerischen Merkmalen der Abbildungen ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu bestehen, denn mit dem Pittoresken22 führen die Voyages einen ästhetischen Modus der Weltaneignung und 17

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William Gunn: An Inquiry into the Origin and Influence of Gothic Architecture, London 1819, bes. S. 6 mit Anm. 7 (S. 80). – Diskutiert wurden Sache und Begriff bereits seit 1811, als Gunns Abhand-lung im Manuskript vorlag; dazu Tina Waldeier Bizzarro: Romanesque Architectural Criticism. A Prehistory, Cambridge 1992, bes. S. 132–149; s. auch unten Anm. 77. Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. I, S. 2. – Zu den ideologischen Implikationen dieser abweichenden Fokussierungen s.unten Kap. VII. Juan Plazaola: Le baron Taylor. Portrait d’un homme d’avenir, Paris 1989. Jean Larat: La tradition et l’exotisme dans l’œuvre de Charles Nodier. Étude sur les origines du romantisme français, Paris 1923; Miriam S. Hamenachem: Charles Nodier. Essai sur l’imagination mythique, Paris 1972; Vincent Laisney: L’Arsenal romantique. Le salon de Charles Nodier (1824– 1834), Paris 2002. In den Voyages werden die Gewährsmänner vielerorts benannt: Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), z.B. Bd. I, S. 14, oder Bd. II, S. 181f.; im Überblick Le Men 2009 (wie Anm. 16), S. 45f. – Zu den transnationalen Kontaktnetzen Cotmans und Turners Rajnai/AllthorpeGuyton 1975 (wie Anm. 9), S. 30–35; Waldeier Bizzarro 1992 (wie Anm. 17), S. 132–149 passim; Guillet 2000 (wie Anm. 3), S. 261–263. – Zu Le Prévost Adolphe-André Porée: Auguste Le Prévost, archéologue et historien, Bernay 1881; Ders.: Note sur Auguste Le Prévost et Charles Nodier, Rouen 1903. Zur Programmatik des Titels Carqué 2006 (wie Anm. 15), S. 276f. – Zur jüngeren Begriffsge-schichte Christopher Hussey: The Picturesque. Studies in a Point of View, London 1927; Malcolm Andrews: The Search for the Picturesque. Landscape Aesthetics and Tourism in Britain, 1760–1800, Aldershot

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Wirklichkeitsdeutung programmatisch im Titel, den die Zeitgenossen auch in Cotmans Architectural Antiquities wieder fanden.23 Gleichwohl sind all diese Parallelen kaum geeignet, näheren Aufschluss darüber zu geben, wie sich die Bildwelten Cotmans und Taylors unter stilistischen wie vor allem unter semantischen Gesichtspunkten zueinander verhalten. II. Stil und Bedeutung So sehr sich auf den ersten Blick Ausgangspunkt, Zielsetzung und Vorgehensweise beider Werke gleichen mögen, so unübersehbar verschieden steht uns in Motivgestalt und Formgebung das vor Augen, was die Spurensuche in der Normandie jeweils an Visualisierungen hervorgebracht hat. Vorerst nur angedeutet sei, dass Cotman die Monumente weitgehend ihres Kontextes enthoben hat, derweil sie von Taylors Equipe nachdrücklich in die zeitgenössische Lebenswelt eingebettet wurden. Außerdem zeigt sich hier ihre geschichtliche Dimension durch vielförmige Alterungsspuren hervorgekehrt, während dort die Zeitlosigkeit nahezu intakter Bauten überwiegt, denn wo sich die Tafeln der Architectural Antiquities auf sparsamste Angaben zur Materialität und Oberflächentextur beschränken, warten diejenigen der Voyages mit stupender Detailhaltigkeit auf. Verwendete Cotman bildnerische Mittel wie die Helldunkelmodellierung zur präzisen, stets objektbezogenen Definition plastischer Strukturen, so wurden sie von den Künstlern der Voyages bevorzugt eingesetzt, um übergreifende atmosphärische Qualitäten zu erzielen. Entsprechend sind deren Ansichten als veränderlich und subjektiv ausgewiesen, wohingegen Cotman durch die Wahl der Betrachterperspektive und des Bildausschnitts den idealen, letztgültigen Anblick festzuschreiben suchte. Vielfach in einem Atemzug genannt24, gelten Cotman und Taylor jedoch gleichermaßen als Exponenten eines genuin romantischen, von der Ästhetik des Pittoresken durchdrungenen Antiquarianismus, weshalb solch eklatante Abweichungen der Bildsprache bislang kaum je wahrgenommen, geschweige denn näher nach Beweggründen und Bedeutungen befragt wurden. Erschwerend kommt hinzu, dass im Fall Cotmans die Betonung der künstlerischen Einheit des Œuvre zur Folge hatte, dass die Sonderstellung der Architectural Antiquities verkannt wurde.25 Bei Taylor wiederum

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1989; Wil Munsters: La poétique du pittoresque en France de 1700 à 1830, Genf 1991; Odile ParsisBarubé: „La fabrique du pittoresque“ des Lumières au Romantisme, in: Voyages pittoresques 2009 (wie Anm. 9), S. 27–37. [Cohen] 1821 (wie Anm. 11), S. 115: „[...] picturesque effect [...]“. – John Britton: Historical and Descriptive Essays accompanying a Series of Engraved Specimens of the Architectural Antiquities of Normandy, London 1828, S. 3: „[...] tasteful and beautiful picturesque views [...]“; s. dazu unten Abschnitt IV. Waldeier Bizzarro 1992 (wie Anm. 17), S. 101; Michel Melot: Que reste-t-il du pittoresque?, in: Voyages pittoresques 2009 (wie Anm. 9), S. 17–25, hier S. 20; Diederik Bakhuÿs: Artistes et antiquaires britanniques en Normandie à l’époque romantique, in: Ebd., S. 65–81, hier S. 71 und passim. So durch die pauschalisierende Herleitung aus dem Œuvre Piranesis bei Andrew Hemingway: ‚The English Piranesi‘: Cotman’s Architectural Prints, in: The Walpole Society, XLVIII, 1980–1982,

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schien die Frage nach den Eigentümlichkeiten der Tafeln grundlegend beantwortet, kaum waren diese dem Gattungsbegriff der Landschaftsmalerei subsumiert.26 Wo aber die Spezifika unscharf bleiben, sind auch Unterschiede schwerlich auszumachen. Beide aufzuweisen und in ihren Sinnzusammenhängen zu erhellen, ist Absicht dieses Beitrags. Er handelt von Stilidiomen und der Bedeutung, die sie im je eigenen Kontext der Werke zu tragen imstande waren. Darin greift er Impulse auf, die Lieselotte E. Saurma in grundlegenden mediävistischen Arbeiten zur Semantik des Stils gegeben hat. Insbesondere ihre Untersuchungen zum ‚Heraldischen Stil‘, zum Stilpluralismus und zum Zackenstil27 konnten mit gruppenspezifischen Mentalitäten, Kommunikationsformen und Aussageabsichten bis dahin unberücksichtigte sozialgeschichtliche Faktoren namhaft machen, die entscheidend auf die Formqualitäten der Bilder eingewirkt haben, indem sie Stilmittel zu Bedeutungsträgern werden ließen.28 Auch im vorliegenden Fall ist es das offenkundige Ungenügen herkömmlicher Kategorien der Stilinterpretation, das zum Umdenken zwingt, denn weder ein pittoresker Zeitstil noch auch die Individualstile der beteiligten Künstler sind geeignet, Taylors Voyages und Cotmans Architectural Antiquities in ihrem Verhältnis näher zu bestimmen. Stattdessen bietet sich in Gestalt eines Habitus-Konzepts, das stärker als bisher auch die rhetorische Frühgeschichte des Begriffes zur Geltung bringt29, ein heuristischer Ansatzpunkt, die unterschiedlichen Stilidiome im Sinne abweichender visueller Bedeutungszuweisungen zu verstehen. Denn die in den antiquarischen Wissenskulturen Englands und Frankreichs vorherrschenden Erkenntnisinteressen und Darstellungsabsichten hatten offenbar auf je verschiedenem Weg zur Folge, dass die Sicht- und Verständnisweisen, denen die Monumente der Normandie unterlagen, und die zu ihrer bildlichen Vergegenwärtigung gewählten Repräsentationsweisen in wechselseitiger Verschränkung aufeinander bezogen wurden, dass Denkstil und Darstellungsstil eine Allianz eingegangen sind. Demnach stünden uns bei Cotman und Taylor epistemisch wie ästhetisch verschiedene Konzeptualisierungen desselben historischen Materials vor Augen.

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S. 210–244; ähnlich der Einheitszwang des Schulzusammenhangs bei David Blayney Brown/ Andrew Hemingway/Anne Lyles: Romantic Landscape. The Norwich School of Painters, Ausstellungskatalog, London 2000. Begründet wurde diese Deutungstradition von Adhémar 1937 (wie Anm. 15). Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Der „Heraldische Stil“. Ein Idiom der Kunst am Ober- und Hochrhein im 14. Jahrhundert, in: Revue d’Alsace, CVII, 1981, S. 37–54; Dies.: Stilpluralismus einer Region. Schichtenmodell am Beispiel des Oberrheins im 14. und 15. Jahrhundert, in: Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, hg. v. Hermann Fillitz/Martina Pippal, Bd. III: Probleme und Methoden der Klassifizierung, Wien/Köln/Graz 1985, S. 51–58, 115–122; Dies.: Der Zackenstil als „ornatus difficilis“, in: Aachener Kunstblätter, LX (Festschrift für Hermann Fillitz zum 70. Geburtstag, hg. v. Martina Pippal), 1994, S. 257–266. Zum Paradigmenwechsel in der mediävistischen Stilforschung, den ihre Arbeiten mitbegründet haben, Bernd Carqué: Stil und Erinnerung. Französische Hofkunst im Jahrhundert Karls V. und im Zeitalter ihrer Deutung, Göttingen 2004, S. 146–152. Dazu unten Abschnitt VI.

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III. Kaleidoskopische Brechungen Beinahe vom Betrachter abgewandt, erscheint auf einer Tafel Jean Truchots in den Voyages die Westfassade der Abteikirche von Jumièges über die Mittelachse des Bildfeldes hinaus zur Seite gerückt (Abb. 1, Taf. XII).30 Nur so, nämlich von Südwesten her gesehen, sind freilich die Überreste des Bauwerks durch den Obergaden des Langhauses und die Westfront des Vierungsturmes auch in ihrer Tiefenerstreckung zu ermessen, nur so ist der Westbau durch die südlich angrenzende Ruine der sogenannten Salle des Gardes de Charles VII als integraler Teil eines mehrgliedrigen Gebäudekomplexes ausgewiesen. Auf der entsprechenden Tafel Cotmans zeigt sich die Doppelturmfassade hingegen annähernd mittig und fast frontal ins Bild gesetzt (Abb. 2).31 Ausdehnung und Zustand der

Abb. 1: Jean Truchot, Entrée de l’abbaye de Jumièges, côté de l’occident. Tafel 6 in Nodier/Taylor/de Cailleux: Voyages pittoresques et romantiques. Ancienne Normandie, 1820–1825 (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek)

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Abb. 2: John Sell Cotman, Abbey Church of Jumieges, West Front. Tafel 1 der Architectural Antiquities of Normandy, 1822 (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek)

Die ehemalige Benediktinerabtei Saint-Pierre de Jumièges bei Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. I, S. 39–53 mit Taf. 6–18 (da mehrere Nummern doppelt vergeben wurden, handelt es sich um insgesamt 17 Tafeln). Cotman 1822 (wie Anm. 14), S. 2–4 mit Taf. 2–4.

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Kirche sind im Norden nur angedeutet, wie auch die ruinösen Anbauten im Süden durch den wesentlich enger gefassten Bildausschnitt kaum ins Gewicht fallen. Zuerst und vor allem ist es das hoch aufragende Massiv der Westfassade, das hier durch augenfällige Untersicht monumentalisiert im Zentrum der Tafel steht. Solche in den Architectural Antiquities durchweg plausibleren Perspektivkonstruktionen mit ihren wirklichkeitsnäheren Proportionen sind dem Umstand geschuldet, dass Cotman im Unterschied zu den Künstlern der Voyages bei der zeichnerischen Erfassung der Monumente die Technik der Camera lucida zu Hilfe nahm.32 Ungleich schwerer wiegen indes die Abweichungen, die sich aus den Charakteristika des Helldunkels und der Zeichnung ergeben. Zur Beleuchtung des Objektes wählte Cotman ein gleichförmig helles, in steilem Winkel nahezu von vorne einfallendes Licht, das kurze, die Bauglieder eng begleitende Schlagschatten erzeugt. Doch nur der nördliche Turm und das risalitartig vortretende Westwerk zeigen sich ebenso umfassend wie homogen ausgeleuchtet, während der in seiner Authentizität umstrittene Südturm33 womöglich aus eben diesem Grund der Logik des Lichteinfalls entzogen bleibt. Wie die zu beiden Seiten der Fassade sichtbaren Bauteile, so wird auch er durch konzentrierte Grauwerte optisch zurückgenommen. Dieser ganz an der architektonischen Struktur der Westfront ausgerichteten Lichtführung stehen in den Voyages Beleuchtungseffekte gegenüber, die auf eine dramatische Inszenierung des gesamten Gebäudekomplexes zielen. Hierzu ließ Truchot die Kreidelithographie mit einer ockergelben Tonplatte überdrucken34, deren Aussparungen den Papierton kontrastreich zur Geltung bringen und so den Eindruck eines fahlen, aus jäh aufgerissenen Wolken fallenden Mondlichts erwecken, das die Ruinen der Abtei ungleichmäßig aufscheinen lässt.35 Mit Louis Jacques Mandé Daguerre (1787–1851) oder Pierre Luc Charles Cicéri (1782–1868) trugen renommierte Theatermaler zur Bildwelt der Voyages bei, die solche Effekte im Bühnenbild erprobt36 und die Verwandlung eines Motivs unter wechselnden Beleuchtungen 1822 mit dem

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Wahrscheinlich in Gestalt des 1811 von Cornelius Varley patentierten Graphic Telescope; s. Michael Pidgley: Cornelius Varley, Cotman, and the Graphic Telescope, in: The Burlington Magazine, CXIV, 1972, S. 781–786; Rajnai/Allthorpe-Guyton 1975 (wie Anm. 9), S. 5; Hemingway 1980–1982 (wie Anm. 25), S. 237. – Zur Funktionsweise dieser optischen Zeichenhilfe Cornelius Varley: A Treatise on Optical Drawing Instruments, London 1845, S. 27–54 mit Taf. I und VI–IX. Cotman 1822 (wie Anm. 14), S. 3. Zu dieser aufwendigen, in den Voyages anfänglich wiederholt eingesetzten Drucktechnik Alois Senefelder: Vollständiges Lehrbuch der Steindruckerey, München [1818] 21821, S. 288–292. Beleuchtungs- und Farbeffekte rühren in dieser spezifischen Verquickung unverkennbar aus der Tradition der Mondscheintransparente her und weisen das Blatt als Nachtstück aus; vgl. die Beispiele bei Birgit Verwiebe: Lichtspiele. Vom Mondscheintransparent zum Diorama, Stuttgart 1997. Cathérine Join-Diéterle: Les décors de scène de l’Opéra de Paris à l’époque romantique, Paris 1988; Barry V. Daniels: Le décor de théâtre à l’époque romantique, Paris 2003; Ders.: L. J. M. Daguerre. A Catalogue of his Stage Designs for the Ambigu-Comique Theatre, in: Theatre Studies, XXVIII/ XXIX, 1981–1983, S. 5–40; Ders.: Cicéri and Daguerre. Set Designers for the Paris Opéra, 1820– 1822, in: Theatre Survey, XXII, 1981, S. 69–90.

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Diorama37 zum spektakulären Prinzip erhoben haben. In ihrer metamorphotischen Wirkung auf die Ruinen von Jumièges hat Charles Nodier die untergehende Sonne und den aufgehenden Mond im Text beschrieben.38 Unter der Lichtregie Truchots deutet auch die Tafel an, dass zwischen der Flüchtigkeit jedweden Sinneseindrucks und der Veränderlichkeit des Wahrnehmungsgegenstandes ein unaufhebbarer Zusammenhang besteht. Eine andere Dimension von Zeitlichkeit bringen die Merkmale der Zeichnung ins Spiel. Auch sie lassen ein und dasselbe Objekt – etwa die Westfront der ehemaligen Abteikirche Saint-Georges de Boscherville – bei Cotman und Taylor in kaleidoskopischer Brechung auseinandertreten. Während die Zeichnung in den Architectural Antiquities zuvörderst der prägnanten Definition von Konturen dient (Abb. 3)39, tritt sie in den Voyages als Mittel der Darstellung von Materialität und Oberflächentexturen beherrschend in Erscheinung (Abb. 4)40. Ähnlich wie Truchot an den Ruinen von Jumièges, so hat auch Louis

Abb. 3: John Sell Cotman, Abbey Church of St. Georges de Bocherville, West Front. Tafel 5 der Architectural Antiquities of Normandy, 1822 (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek)

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Abb. 4: Louis Jules Frédéric Villeneuve, Façade de l’église de l’Abbaye de Saint-Georges de Bocherville. Tafel 109 in Nodier/Taylor/de Cailleux: Voyages pittoresques et romantiques. Ancienne Normandie, 1820–1825 (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek)

Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970, S. 25–48; Verwiebe 1997 (wie Anm. 35), S. 76–85. Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. I, S. 48f. Zur Benediktinerabtei von Boscherville Cotman 1822 (wie Anm. 14), S. 4–7 mit Taf. 5–11. Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. II, S. 43–45 mit Taf. 109–122.

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Jules Frédéric Villeneuve (1796–1842) an der Fassade in Boscherville die kleinteilige Helldunkelmodellierung der Kreidelithographie durch die zeichnerischen Möglichkeiten der Federlithographie ergänzt, um in das bewegte Oberflächenrelief des Quaderwerks vielförmige Spuren des Verfalls und der Verwitterung einzutragen. Nachdrücklich wird damit auf die der Zeitlichkeit unterworfene Substanz des Gebäudes, auf dessen Geschichtlichkeit verwiesen. Cotman dagegen zeigt dieselbe Architektur gleichsam entmaterialisiert und dem Zeitverlauf enthoben, indem er über weißem Papiergrund vereinzelt eine weitgehend abstrakte, besonders schwach geätzte Binnenzeichnung aus parallel geführten Wellenlinien zur Anschauung bringt. Nur die Voyages führen außerdem vor Augen, dass zwischen der Geschichtlichkeit der Monumente und der Gegenwart ihrer Betrachter ein innerer Zusammenhang besteht, denn mit szenischen Versatzstücken der zeitgenössischen Lebenswelt bekunden sie die lebendige Gegenwart einer Vergangenheit, die sich in überkommenen Sitten und Gebräuchen perpetuiert41 – vorzugsweise mit den zahlreich dargestellten Volkstrachten oder kirchlichen Riten, wie sie zu einer volkreichen Prozession vereint auf der Tafel Villeneuves begegnen. Sporadisch bevölkert zeigen sich demgegenüber die Szenerien Cotmans, wo infolge des überwiegend eng an die Monumente herangerückten Bildausschnitts ohnehin nur angedeutet bleibt, dass diese als historische Relikte gleichwohl ihren Sitz im Leben, im Hier und Jetzt normannischer Alltagskultur haben. Auf diesen Anschein von Zeitlosigkeit wirken auch die schon erwähnten bildnerischen Mittel hin, indem sie den unbeständigen Sinneseindruck des Beschauers ebenso negieren wie das veränderliche Erscheinungsbild der Bauten. IV. Die „Architectural Antiquities of Normandy“ im Œuvre Cotmans Cotman hätte gut daran getan, neben seinen „picturesque views“ auch „a few plans, sections, and elevations“ aufzunehmen – so aber finde sein Werk Anklang nur bei „the amateur and antiquary“, nicht jedoch bei „the architect and man of science“.42 Nach sechs Jahren mäßigen Verkaufserfolges43 gab dies John Britton (1771–1857) zu bedenken, der selbst als Autor, Herausgeber und Verleger vielbändiger Werke namentlich zur gotischen Architektur Englands reüssierte – vor allem deshalb, weil er mit seismographischer Em-pfindlichkeit auf Veränderungen der Nachfrage reagiert hat: Werken wie den Architectural Antiquities of Great Britain (1807–1826) oder den Cathedral Antiquities (1814– 1835), deren Illustrationen ganz einer Ästhetik der ‚schönen Unregelmäßigkeit‘44 und

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Um das Geschichtliche in all seinen Erscheinungsformen aufzuspüren, gelte es, auch „les moindres traces d’une coutume conservée par le caprice du hasard“ zu erfassen; Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. I, S. 3f., ähnlich auch 2f. Britton 1828 (wie Anm. 23), S. 3f. Ausführlich zur wirtschaftlichen Seite des Unternehmens Hemingway 1976–1978 (wie Anm. 9), S. 172–178; s. außerdem Paul Oppé: Cotman and his Public, in: The Burlington Magazine, LXXXI, 1942, S. 163–171, hier S. 165f.

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des effektvollen Helldunkels verpflichtet sind, stellte er mit Bedacht die hier zitierten Specimens of the Architectural Antiquities of Normandy zur Seite.45 Die nach Zeichnungen des Architekten Augustus Charles Pugin (1769–1832)46 von den Brüdern Le Keux gestochenen Tafeln bedienten mit vermassten Schnitten, Rissen und Detailansichten den im Zeichen des Gothic Revival sprunghaft gestiegen Bedarf an exakten Bauaufnahmen, die einer Adaption durch die kunstgewerbliche oder architektonische Praxis offenstanden.47 Mit seinen Architectural Antiquities of Normandy nimmt Cotman ziemlich genau die Mitte zwischen diesen zielgruppenspezifischen Darstellungsmodi der pittoresken Ansicht und des präzisen Umrissstichs ein – nicht aus Unentschlossenheit freilich, sondern offenbar Abb. 5: John Sell Cotman, Castle-Acre Priory, wohlüberlegt, denn einzig bei diesem Werk South-West Tower, seen from the inside. Tafel 28 verzichtete er auf eine Formensprache, die der Architectural Antiquities of Norfolk, 1818 er vor allem mit den Architectural Antiq(London, The British Library) uities of Norfolk (1818)48 bereits als erfolgreiches Markenzeichen etabliert hatte und der er noch mit den zum Liber Studiorum (1838)49 zusammengefassten Radierungen treu geblieben ist. 44

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Zu dieser Tradition Norbert Miller: Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit, München/Wien 1986, bes. S. 247–296. John Britton: The Architectural Antiquities of Great Britain, 5 Bde., London 1807–1826; Ders.: Cathedral Antiquities, 14 Bde., London 1814–1835. – Grundlegend zu Brittons Publikations- und Visualisierungsstrategien Noell 2006 (wie Anm. 14); zum antiquarischen Kontext außerdem Rosemary Sweet: Antiquaries. The Discovery of the Past in Eighteenth-Century Britain, London/New York 2004, S. 266f. und 325–328. Megan Aldrich: Gothic Sensibility. The Early Years of the Gothic Revival, in: A. W. N. Pugin. Master of Gothic Revival, Ausstellungskatalog (New York, The Bard Graduate Center for Studies in the Decorative Arts), hg. v. Paul Atterbury, New Haven/London 1995, S. 13–29, hier S. 26–28. J. Mordaunt Crook: John Britton and the Genesis of the Gothic Revival, in: Concerning Architecture. Essays Presented to Nikolaus Pevsner, hg. v. John Summerson, London 1968, S. 98–119. John Sell Cotman: A Series of Etchings illustrative of the Architectural Antiquities of Norfolk; with References to the Authors who have Described or Figured them, London 1818. – Popham 1922 (wie Anm. 14), S. 246 und 260–264; Hemingway 1980–1982 (wie Anm. 25), S. 218–223; zum biographischen Kontext auch Kitson 1937 (wie Anm. 8), S. 169–189. John Sell Cotman: Liber Studiorum. A Series of Sketches and Studies, London 1838. – Popham 1922 (wie Anm. 14), S. 248–251 und 270f.

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Der Modus der Umrisszeichnung ist auf den Tafeln zur Normandie eingelassen in eine Schilderung der Monumente, die verschiedene Hinweise auf deren Standort, Zustand und Beleuchtung gibt. Doch zeigen sich solche Angaben im Unterschied zu den Voyages nur schwach ausgeprägt – ebenso schwach, wie im Vergleich mit Cotmans übrigen Werken, darin die irreguläre Vielförmigkeit individualisierender Details, reiche tonale Abstufungen oder die Asymmetrie und das Überraschende des Anblicks überwiegen. Der bildparallelen Überschaubarkeit der Westfassade von Boscherville (Abb. 3) steht in den Antiquities of Norfolk mit den Ruinen des Cluniazenserpriorats in Castle Acre (Abb. 5) ein angeschnittenes, übereck ins Bild gerücktes Motiv gegenüber, an dem sich der bauliche Zusammenhang einer raschen Erfassung durch den Betrachter entzieht. Anstelle der gleichmäßigen AusAbb. 6: John Sell Cotman, Walsoken Church, leuchtung wird ein breites Spektrum an Interior. Tafel 53 der Architectural Antiquities Tonwerten und Schärfegraden zur Anof Norfolk, 1818 (London, The British Library) schauung gebracht, das nicht vom Umriss her gedacht ist, sondern höchst variabel räumliche und plastische Qualitäten formt. Während die Monumente der Normandie in ihrem Oberflächenrelief beinahe ausschließlich von der Konstellation der Bauglieder bestimmt werden50, weisen diejenigen Norfolks lebhafte Texturen auf, die detailreich den momentanen Zustand der Bausubstanz beschreiben. Auf ebenso grundsätzliche Weise treten Innenansichten auseinander, wenn in der Pfarrkirche von Walsoken (Abb. 6) Bildausschnitt und Blickführung einer absichtsvollen Verunklärung der Raumdisposition dienen, wohingegen in der Pfarrkirche von Creully (Abb. 7)51 der Wandaufriss frontal in den Blick genommen wird, sich die Weite des Gesichtsfeldes an den Jochgrenzen orientiert und die Helldunkelmodellierung eher der architektonischen Struktur als der Logik eines natürlichen Lichteinfalls gehorcht.

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Davon ausgenommen sind vor allem die Tafeln 1 (Castle of Arques), 14 (Abbey Church of St. Sauveur le Vicomte) und 86 (Entrance to the Castle at Tancarville), die den Antiquities of Norfolk am nächsten stehen. Cotman 1822 (wie Anm. 14), S. 110f. mit Taf. 91.

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Abb. 7: John Sell Cotman, Interior of the Church of Creully. Tafel 91 der Architectural Antiquities of Normandy, 1822 (Heidelberg, Universitätsbibliothek)

In alledem scheint Cotman bewusst und aus noch näher zu bestimmenden Gründen von seinem bewährten Darstellungsstil abgewichen zu sein, um den normannischen Relikten ein eigenes, deutlich unterschiedenes Gepräge zu verleihen. Die Inkommensurabilität der Tafeln hielt offenbar nicht geringe Irritationen bereit, denn als der Verleger Henry G. Bohn 1838 eine Gesamtausgabe der Radierungen Cotmans besorgte, nahm er einzig die Antiquities of Normandy nicht darin auf.52 Und als diese 1881 in einer französischen Ausgabe erschienen, waren die Originalplatten auf signifikante Weise überarbeitet worden, um mit stärker ausgeprägten Tonwertkontrasten und materialbezeichnenden Binnenstrukturen gezielt den Anteil des Pittoresken zu erhöhen.53 Schon die Kritik mancher Zeitgenossen

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Specimens of Architectural Remains in Various Counties in England, but Principally in Norfolk, Etched by John Sell Cotman; With Descriptive Notices by Dawson Turner, and Architectural Observations by Thomas Rickman, 2 Bde., London 1838. Les Antiquités monumentales de la Normandie, dessinées et gravées par John Cotman; avec des no-

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galt eben jenen Merkmalen, die allein dieses Werk Cotmans wesentlich kennzeichnen: „it seems cold, chilling and raw, – the strokes very sparingly scattered“54. Das Erscheinungsbild der Tafeln widersprach allen für die Architektur des Mittelalters eingespielten Visualisierungsstrategien – insbesondere denen der pittoresken Ansicht und des präzisen Umrissstichs – und bleibt daher im Kontext des Œuvre ebenso erklärungsbedürftig wie darüber hinaus. V. Die “Voyages pittoresques et romantiques” im Zusammenhang der Gattung Auch Taylors Voyages fügen sich nicht eben passgenau den zu ihrer Erklärung aufgebotenen Kontexten ein. Durch den Verweis auf die Traditionen der Landschafts- und Vedutenmalerei oder des illustrierten Reiseberichts sind sie nur unzureichend charakterisiert. Zwar trifft es zu, dass sie sich durch die Schilderung landschaftlicher und lebensweltlicher Zusammenhänge der Monumente fundamental sowohl von den sachbezogenen Bildwelten antiquarischer Erschließung55 als auch von den aus der ikonischen Tradition der Traktatliteratur herrührenden architekturgeschichtlichen Visualisierungen56 unterscheiden. Und ebenso richtig ist, dass sie darin die Praktiken reisender Weltaneignung57 beerbt und den auf die Stätten antiker Kunst und Kultur in Italien, der Ägäis, in Kleinasien, der Levante oder Ägypten gerichteten Blick gleichsam aus der Ferne zurück ins eigene Land gelenkt haben. Gleichwohl haben sie in ihrem Bestreben, die materiellen wie mentalen Spuren vaterländischer Geschichte dem Vergessen zu entreißen, vor weiterem Verlust zu bewahren und die lebendige Gegenwart der Vergangenheit in Sitten und Gebräuchen zu bekunden58, mit dem Herkommen gebrochen und eine ästhetisch wie his-

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tes historiques et descriptives par Paul Louisy; précédées d’une introduction par M. de Beaurepaire, 2 Bde., Paris 1881. So der Altertumskundler und Autographensammler William Upcott, der sich an der Vorfinanzierung der Publikation beteiligt hatte, in einem Brief an Dawson Turner vom 3. Januar 1820; zitiert nach Hemingway 1976–1978 (wie Anm. 9), S. 177. Paradigmatisch dafür steht Aubin-Louis Millin: Antiquités nationales, ou Recueil de monumens pour servir à l’Histoire générale et particulière de l’Empire François, 5 Bde., Paris 1790–1796. – Cecilia Hurley: Demonumentalizing the Past. Antiquarian approaches to the Middle Ages during the Eighteenth Century, in: Visualisierung und Imagination 2004 (wie Anm. 14), S. 323–377. Für die Erfassung mittelalterlicher Architektur repräsentativ ist J. B. L. G. Séroux d’Agincourt: Histoire de l’Art par les monumens, depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe, 6 Bde., Paris 1810–1826. – Daniela Mondini: Mittelalter im Bild. Séroux d’Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800, Zürich 2005. Dazu im Überblick Henri Omont: Missions archéologiques françaises en Orient aux XVIIe et XVIIIe siècles, 2 Bde., Paris 1902; Irini Apostolou: L’orientalisme des voyageurs français au XVIIIe siècle. Une iconographie de l’Orient méditerranéen, Paris 2009; grundlegend außerdem Barbara Maria Stafford: Voyage into Substance. Art, Science, Nature, and the Illustrated Travel Account 1760–1840, Cambridge/London 1984. Zur Programmatik der Voyages Carqué 2006 (wie Anm. 15), passim; Ders. 2007 (wie Anm. 16), S. 240–245.

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toriographisch neuartige Konzeptualisierung der Geschichtszeugnisse ins Werk gesetzt. Von den gefeierten Publikationen archäologischer und landeskundlicher Entdeckungsreisen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weichen sie in Motivgestalt wie Formgebung ab. Gespeist wurden die Bildwelten eines Julien-David Le Roy (1724–1803)59 und JeanPierre-Louis-Laurent Houël (1735–1813)60, des Abbé de Saint-Non (1727–1791)61 oder des Comte de Choiseul-Gouffier (1752–1817)62 aus verschiedenen Quellen: aus der Landschaftsmalerei in arkadischer und heroischer Ausprägung ebenso wie aus der Schilderung von Sitten und Gebräuchen im Genrebild, aus der Vedutenmalerei ebenso wie aus den Visualisierungsstrategien der Architekturtraktate. Diesen ungleichen Traditionen entsprechen Bildtypen, die je spezifische Zeigeabsichten hegen. Weitgehend voneinander geschieden begegnen topographische Ansichten, Stadt- und Architekturveduten sowie präzise Bauaufnahmen, außerdem Genreszenen und Kostümporträts. Nur einzelne dieser Bildtypen haben die Voyages aufgegriffen und sie zugleich jenseits der angestammten Gattungsgrenzen miteinander verschmolzen. So ist die Architekturvedute auch zum eigentlichen Medium der Darstellung kirchlicher Riten, religiösen Brauchtums, der Alltagskultur und ihrer Trachten geworden. Der Anteil der Bauaufnahmen zeigt sich auf vereinzelte Grundrisse reduziert, während die Detailansichten nicht mehr rekonstruktiv und idealtypisch ergänzend verfahren, sondern der vorherrschenden Schilderung eines momentanen Zustands in all seiner irregulären Vielförmigkeit angeglichen sind. Mit besonderem Nachdruck wurde außerdem der Darstellungsmodus verändert. An die Stelle der panoramatischen Überschau, unter deren Bildregie die Monumente bevorzugt zentriert, bildparallel und kaum angeschnitten vor Augen geführt wurden, trat die betonte Ausschnitthaftigkeit des Anblicks aus schrägem Winkel. Damit nicht genug, ist auch die gleichmäßige Bestimmtheit der Formerscheinung aufgegeben worden. Beispielhaft zeigt

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Julien-David Le Roy: Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce, 2 Teile in 1 Bd., Paris 1758. – Frédéric Pousin: L’Architecture mise en scène. Essai sur la représentation du modèle grec au XVIIIe siècle, Paris 1995; Jeanne Kisacky: History and Science. Julien-David Leroy’s Dualistic Method of Architectural History, in: Journal of the Society of Architectural Historians, LX, 2001, S. 260–289. Jean-Pierre-Louis-Laurent Houël: Voyage pittoresque des Isles de Sicile, de Malte et de Lipari; où l’on traite des antiquités qui s’y trouvent encore; des principaux phénomènes que la nature y offre; du costume des habitans, & de quelques usages, 4 Bde., Paris 1782–1787. – Madeleine Pinault: Houël. Voyage en Sicile, 1776–1779, Ausstellungskatalog, Paris 1990. Jean-Claude-Richard de Saint-Non: Voyage pittoresque, ou Description des royaumes de Naples et de Sicile, 5 Teile in 4 Bde., Paris 1781–1786. – Petra Lamers: Il viaggio nel Sud dell’Abbé de SaintNon. Il „Voyage pittoresque à Naples et en Sicile“: la genesi, i disegni preparatori, le incisioni, Neapel 1995. Marie-Gabriel-Florent-Auguste de Choiseul-Gouffier: Voyage pittoresque de la Grèce, 2 Bde. in 3 Teilen, Paris 1782–1822. – Léonce Pingaud: Choiseul-Gouffier. La France en Orient sous Louis XVI, Paris 1887; Le voyage en Grèce du comte de Choiseul-Gouffier, Ausstellungskatalog (Avignon, Musée Calvet), hg. v. Odile Cavalier, Le Pontet 2007.

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die Tafel Daguerres zur Abteikirche von Jumièges (Abb. 8), wie nun die Prägnanz der Modellierung ebenso stark variiert wie die Konturschärfe oder die Detailhaltigkeit der Zeichnung, wie in der grobkörnigen Textur der Kreidelithographie feinste tonale Abstufungen Effekte wachsender Unschärfe erzeugen und fließende Übergänge zwischen dem Objekt und seiner atmosphärischen Umgebung herstellen. In solchen Merkmalen hat das Gegenteil dessen Gestalt angenommen, was Cotman mit der deutlichen Artikulation gegenstandsbezeichnender Umrisslinien oder den klar voneinander abgesetzten Tonwerten zu erreichen suchte. Gleichwohl bezeugt eine Bleistiftskizze nach der Tafel Jean-Philippe Schmits zur Pfarrkirche von Harfleur63 sein Inte-resse Abb. 8: Louis Jacques Mandé Daguerre, Ruines de an der motivisch wie stilistisch innol’Abbaye de Jumièges, côté du nord. Tafel 12 in Nodier/ Taylor/de Cailleux: Voyages pittoresques et romantiques. vationsreichen Bildsprache der VoyAncienne Normandie, 1820–1825 (Darmstadt, Univer- ages – an einer Bildsprache, die dort sitäts- und Landesbibliothek) ungeachtet der zahlreich betei-ligten Hände markant in Erscheinung tritt. Herbeigeführt wurde diese Überformung individueller Stile zugunsten eines einheitlichen Konzepts durch den hohen Grad an Arbeitsteiligkeit, denn in der Regel verteilte sich der mehrstufige Transformationsprozess vom zeichnerischen Notat zum lithographischen Druck auf mehrere Künstler. Selbst der Druckstein unterlag noch diesem Organisationsprinzip, da dort die Figurengruppen vielfach erst von eigens herangezogenen Spezialisten nachgetragen wurden.64 Dies legt den Schluss auf eine gezielte Steuerung des Visualisierungsprozesses nahe und wirft zugleich die Frage nach den Beweggründen 63

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Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. I, Taf. 45 (nach der Vorzeichnung Daguerres); die Bleistiftskizze Cotmans: The British Museum, Prints & Drawings, British 200.c.04 PV. Da die Tafeln durchweg bezeichnet sind, können die wechselnden Kooperationen der Zeichner, Lithographen und Figurenmaler nachvollzogen werden. – Überblicke zu den beteiligten Künstlern geben Twyman 1970 (wie Anm. 15), S. 236–249, und Spadafore 1973 (wie Anm. 15), S. 85–147; speziell zu den faiseurs de bonshommes Adhémar 1937 (wie Anm. 15), S. 230–232.

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und Aussageabsichten wie vor allem nach dem Zusammenhang auf, der zwischen dem Habitus der prägenden Köpfe, ihren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, und dem Stil der bildlichen Objektivationen bestand. VI. Wissenskultur, Habitus und Stil Zwischen Habitus und Stil besteht schon deshalb ein enger Zusammenhang, weil beide dem Begriff und der Sache nach auch in einer gemeinsamen, rhetorisch geprägten Denktradition antiken Ursprungs wurzeln. Darin beschreibt der Stil die nach dem regulativen aptum-Prinzip sach- oder situationsbezogen eingesetzten sprachlichen Mittel des Redners, während sich der Habitus als technischer Begriff der actio-Lehre auf die Wirkungsund Überzeugungsmittel der Körperberedsamkeit als Teil der äußeren Gesamterscheinung des Redners bezieht.65 In frühneuzeitlicher Engführung wurde der Stil später mit dem Habitus nicht nur des Redners, sondern der Rede selbst in eins gesetzt: „est enim stylus habitus orationis.“66 Auf dem langen Weg der Begriffe in die Kunstgeschichte und Soziologie ging freilich die aus der oratorischen Praxis herrührende pragmatische und intentionale Stoßrichtung verloren, denn dort, wo beide erneut aufeinander trafen, war von Wirkungs- und Überzeugungsmitteln nicht mehr die Rede. Bekanntlich orientierte sich der Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) bei seiner nachgerade kanonischen Formulierung des modernen Habitus-Konzeptes67 an der These des Kunsthistorikers Erwin Panofsky (1892–1968), wonach die Strukturprinzipien scholastischen Denkens und gotischen Bauens einander aufgrund desselben modus operandi, nämlich eines gemeinsamen „mental habit“68 entsprächen. Hatte Panofsky den „wesenmäßige[n] Gehalt“ künstlerischer Hervorbringungen in idealistischer Tradition als „ungewollte und ungewusste Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt“69 bestimmt, so definierte Bourdieu den Habitus als „ein System verinnerlichter Muster“70, das sein generatives Potential „ohne Wissen und Bewusstsein“71 entfaltet. Als Vermittlungsinstanz zwischen Dis65

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Jeweils im Überblick Alexander Košenina: s.v. Habitus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. III, Tübingen 1996, Sp. 1272–1277; Bernhard Sowinski: s.v. Stil, in: Ebd., Bd. VIII, 2007, Sp. 1393–1419; Heike Mayer/Bernhard Sowinski u.a., s.v. Stillehre, Stilistik, in: Ebd., Bd. IX, 2009, Sp. 1–83. Alfonso García Matamoros: De formando stylo (1570), zitiert nach Košenina 1996 (wie Anm. 65), Sp. 1273. Beate Krais/Gunter Gebauer: Habitus, Bielefeld 2002. Erwin Panofsky: Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe 1951, S. 27f. Ders.: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [zuerst 1932], in: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer/Egon Verheyen, Berlin 51992, S. 85–97, hier S. 93. – Zum weiteren Kontext dieser Deutungstradition Carqué 2004 (wie Anm. 28), S. 131–146. Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis [zuerst fr. 1967], in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 21983, S. 125–158, hier S. 143. Ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft [zuerst fr. 1980], Frankfurt a.M. 1987, S. 105.

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positionen und Konkretionen wirkt der so verstandene Habitus auf formgenetische Prozesse ein, die der reflexiven Steuerung durch die beteiligten Subjekte entzogen bleiben. Indizien einer wohlüberlegten Stilwahl bei Cotman und einer planvollen Formung der Bildsprache in den Voyages verlangen indes nach einem Ansatz, der geeignet ist, auch die zielbewusste Verwendung bildnerischer Mittel in Betracht zu ziehen. Bahnbrechend hat hier der polnische Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck (1896– 1961) darauf hingewiesen, dass es konkrete Erkenntnisinteressen und Aussageabsichten sind, die zwischen gruppenspezifischen Denkstilen und den Darstellungsstilen epistemischer Bilder vermitteln.72 Diesem Weg einer Analyse ikonischer Repräsentationsformen ist die Wissenschaftsforschung in der begründeten Annahme gefolgt, dass es sich bei Wissenschaftsbildern um Konkretionen der Sichtweisen, Denkformen und Deutungsmuster bestimmter Wissenskulturen und zugleich um genuin rhetorische Medien handelt, die sich visueller Wirkungs- und Überzeugungsmittel bedienen.73 Mit dieser Polyvalenz ist ein heuristischer Ansatz gegeben, die wechselseitige Verschränkung von Habitus und Stil auch unter Berücksichtigung ihrer intentionalen, aus der Rhetorik herrührenden Dimension für das Verständnis der abweichenden bildlichen Transformationsprozesse fruchtbar zu machen, denen die monumentalen Überreste des normannischen Mittelalters bei Cotman und Taylor unterlagen. Nach der symbolischen Konstruktion geschichtlicher Wirklichkeiten ist in jenen antiquarischen Wissenskulturen zu fragen, die mit ikonischen Mitteln je spezifischen historischen Sinn hervorzubringen suchten. VII. Ikonische Historiographien diesseits und jenseits des Ärmelkanals Als vielseitige Chiffre dessen, was mit der Visualisierung normannischer Altertümer jeweils beabsichtigt war, begegnet das antike Palmyra diesseits wie jenseits des Ärmelkanals. Charles Nodier gebrauchte es mit dem Blick auf die monumentalen Überreste

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Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [zuerst 1935], hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, bes. S. 165–190. – Zur kunsthistorischen Valenz dieses Ansatzes Bernd Carqué: Epistemische Dinge. Zur bildlichen Aneignung mittelalterlicher Artefakte in der Moderne, in: Bilder gedeuteter Geschichte, hg. v. Otto Gerhard Oexle/ Áron Petneki/Leszek Zygner, 2 Bde., Göttingen 2004, S. 55–162, hier S. 59–62; jüngst auch Anja Zimmermann: Ästhetik der Objektivität, Bielefeld 2009, S. 39–43. Exemplarisch zu dieser Forschungsrichtung Bild und Erkenntnis, hg. v. Andreas Beyer/Markus Lohoff, München/Berlin 2005; The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, hg. v. Inge Hinterwaldner/Markus Buschhaus, München 2006; Konstruierte Sichtbarkeiten, hg. v. Martina Heßler, München 2006; Lorraine Daston/Peter Galison: Objectivity, New York 2007; Bilderwelten. Vom farbigen Abglanz der Natur, hg. v. Norbert Elsner, Göttingen 2007; Konstruieren, Kommunizieren, Präsentieren. Bilder von Wissenschaft und Technik, hg. v. Alexander Gall, Göttingen 2007; Das Technische Bild, hg. v. Horst Bredekamp/Birgit Schneider u.a., Berlin 2008; Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, hg. v. Bernd Hüppauf/Peters Weingart, Bielefeld 2009. – Zu den Sozial- und Praxisformen des Wissens z.B. Karin Knorr Cetina: Epistemic Cultures, Cambridge, MA/London 1999.

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des Mittelalters als Metapher für eine der griechisch-römischen Antike im Geltungsrang ebenbürtige, dabei aber gänzlich autochthone Frühzeit nationaler Kultur und Geschichte, um der klassizistischen Ästhetik eine ebenso gründliche Absage zu erteilen wie den kulturellen Ansprüchen der Engländer auf die Normandie.74 Diese haben Palmyra ihrerseits bemüht, um aus den dort einst von der eigenen Altertumskunde vollbrachten Pioniertaten ein besonderes Anrecht darauf herzuleiten, nun das normannische Erbe von der kulturellen Ignoranz der Franzosen zu erretten.75 Besondere Brisanz hatte dieses Erbe gewonnen, weil mit einer heftig angefeindeten Schrift George Downing Whittingtons (1781–1807) die lange gehegte Überzeugung, wonach die Baukunst der Gotik eine genuin englische Schöpfung sei, zugunsten Frankreichs revidiert werden musste.76 Stattdessen versprach nun Gunns „Romanesque“ nationale Identitätsstiftung im Medium architekturgeschichtlicher Ursprungsnarrative: Der in der Normandie entstandene Baustil habe mit der Invasion 1066 die daniederliegende Kultur der Angelsachsen erfolgreich überwunden und in einzigartiger Reinheit die Traditionen antiker Architektur ins Zentrum des anglonormannischen Reiches getragen.77 Insbesondere das zweite Argument besaß allergrößte Schlagkraft in einer antiquarischen Wissenskultur, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Banne der Antike stand und nun auch die Romanik den vertrauten Deutungsmustern unterwerfen konnte.78 Die zentralen Referenzwerke des künstlerischen und architektonischen Neoklassizismus aber hatten eine Bildsprache archäologischer Bauaufnahmen etabliert, die geeignet ist, das inkommensurable Erscheinungsbild der normannischen Radierungen Cotmans zu erklären. So finden sich beispielsweise in den Ruins of Balbec (1757)79 von Robert Wood (1717?–1771) jene zur Makellosigkeit tendierenden Ansichten vorgeprägt, welche die Monumente in einem beinahe zeitlosen Idealzustand imaginieren, indem sie sich auf Umrisse und auf die Stereometrie der Baukörper konzentrieren, ephemere Merk-

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Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. II, S. 180; die Frontstellung gegen „cette universelle domination“ der Antike ebd. Bd. I, S. 2f.; dazu Carqué 2006 (wie Anm. 15), S. 286f. [Cohen] 1821 (wie Anm. 11), S. 147; der Vorwurf der Ignoranz auch bei Turner 1820 (wie Anm. 13), S. VI. – Archäologische Legitimationsinstanz war Robert Wood: The Ruins of Palmyra, London 1753; dazu Bruce Redford: Dilettanti. The Antic and the Antique in Eighteenth-Century England, Los Angeles 2008, S. 45 und 49–52. George Downing Whittington: An Historical Survey of the Ecclesiastical Antiquities of France, London 1809. – Zu der damit entmachteten Deutungstradition Simon Bradley: The Englishness of Gothic, in: Architectural History, XLV, 2002, S. 325–346; Sweet 2004 (wie Anm. 45), S. 260–265; Jean Nayrolles: L’Invention de l’art roman à l’époque moderne (XVIIIe–XIXe siècles), Rennes 2005, S. 52–54. In seinen Grundzügen von Andrew Coltee Ducarel (Anglo-Norman Antiquities, London 1767) formuliert, wurde dieses Narrativ maßgeblich von William Gunn geprägt; J. B. Bullen: Continental Crosscurrents. British Criticism and European Art 1810–1910, Oxford 2005, S. 35–90; Nayrolles 2005 (wie Anm. 76), S. 49f. und 54f.; zu Gunn s. Michael Riviere: The Rev. William Gunn, in: Norfolk Archaeology, XXXIII, 1962–1965, S. 351–406. Zur engen Verflechtung der mediävistischen mit den archäologischen Gelehrtenmilieus Waldeier Bizzarro 1992 (wie Anm. 17), S. 132–149; zu letzteren bes. Redford 2008 (wie Anm. 75). Robert Wood: The Ruins of Balbec, London 1757; zu Wood s.o. Anm. 75.

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Abb. 9: Thomas Major, View of the portico in its present ruinous state. Tafel IV in Wood: The Ruins of Balbec, 1757 (Heidelberg, Universitätsbibliothek)

male dagegen auf schmalste Schlagschatten oder spärliche Zustandsangaben reduzieren (Abb. 9). Auch Cotmans eigentümliche Verschränkung von strukturanalytischem und naturmimetischem Helldunkel, welche etwa die Fensterlaibung in der Schildmauer des mittleren Joches in Creully (Abb. 7) vom Lichteinfall ausnimmt, zeigt sich charakteristisch bereits in den Antiquities of Athens (1762–1816)80 von James Stuart (1713–1788) und Nicholas Revett (1720–1804), wo eine Tafel zum Turm der Winde die drei im Schnitt sichtbaren Wandkompartimente des Oktogons einerseits auf abstrakte Weise tonal unterscheidet, andererseits aber mit einem natürlichen Schlagschatten überzieht (Abb. 10). Diese bewährten Modi der Darstellung, die im Bildgedächtnis der Zeitgenossen aufs engste mit der antiken Baukunst verbunden waren, hat sich Cotman zu eigen gemacht, um das antikische Gepräge der Monumente herauszustreichen und jene Erwartungen zu bedienen, die vom Narrativ des genuinen Antikenbezugs normannischer und also ‚englischer‘ Architektur genährt wurden.

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James Stuart/Nicholas Revett: The Antiquities of Athens, 4 Bde., London 1762–1816. – Dora Wiebenson: Sources of Greek Revival Architecture, London 1969; James „Athenian“ Stuart, 1713–1788. The Rediscovery of Antiquity, Ausstellungskatalog, hg. v. Susan Weber Soros, New York/ London 2006.

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Eine nationale Bedeutungszuweisung anderer Art hatten Taylors Voyages im Sinn. Kennzeichnend ist hier das abrupte Nebeneinander von Tradition und Innovation, denn während der Leitgedanke des Unternehmens, das vorrevolutionäre Frankreich namentlich in den materiellen und mentalen Spuren seiner mittelalterlichen Geschichte zu erfassen, unverkennbar restaurative Züge trägt, sind die hierfür entwickelten historiographischen Modelle auf frappierende Weise modern, in mancher Hinsicht sogar antizipativ. Die Modernität des Ansatzes rührt von seiner Nähe zu den Schlüsselkonzepten jener école narrative her, die der Historiker Prosper de Barante (1782–1866) programmatisch begründet hat: Suchte dieser die Vergangenheit durch ein evokatorisches Lokal- und Zeitkolorit zu vergegenwärtigen, das wesentlich auf der Unmittelbarkeit des Quellenbezugs und den betont subjektiven Eindrücken des Geschichtsschreibers beruhte81, so hatten die Voyages entsprechend die Visualisierung der Sinneseindrücke zum Ziel, die der Künstler vor Ort im Moment der Betrachtung empfing.82 Und in ihrem Bestreben, die Gegenwart der nationalen Vergangenheit in Monumenten wie in Sitten und Gebräuchen auf einem Blatt Abb. 10: Edward Rooker, A Section of the zu verdichten, haben sie schließlich jenes Tower of the Winds. Tafel IV zu Kapitel III in: Konzept einer allumfassenden Histoire de Stuart/Revett: The Antiquities of Athens, Bd. I, la civilisation ikonisch vorweggenommen, 1762 [Reprint 1968] (Heidelberg, Universitätsdas wenig später die bürgerlich-liberale bibliothek) Geschichtsschreibung unter der Julimonarchie beherrschen sollte.83 Von Cotmans Architectural Antiquities of Normandy unterscheiden sie sich mithin deshalb so grundlegend, weil in beiden Werken die ästhetische zugleich eine historiographische und eine politisch-gesellschaftliche Konzeptualisierung der Monumente wie der von ihnen verkörperten Vergangenheit gewesen ist, weil Denkstile und Darstellungsstile je spezifische Allianzen eingegangen sind.

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Programmschrift ist das Vorwort zu Prosper de Barante: Histoire des ducs de Bourgogne de la maison de Valois, 1364–1477, 12 Bde., Paris 1824–1826, hier Bd. I, Paris 41826, S. 1–94. – Zum Autor Antoine Denis: Amable-Guillaume-Prosper Brugière, Baron de Barante (1782–1866), Paris 2000; zur école narrative Peter Stadler: Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789–1871, Zürich 1958, S. 92–117. Nodier/Taylor/de Cailleux 1820–1878 (wie Anm. 15), Bd. I, S. 4f. und 10f. Carqué 2007 (wie Anm. 16), S. 255–257.

Abbildungsnachweis Christoph Winterer: Abb. 1, 2: © Bibliothèque nationale de France, Paris – Abb. 3: © Bayerische Staatsbibliothek, München – Abb. 4, 5, Taf. I: © The British Library, London – Abb. 6: © Domschatzkammer, Aachen • Ulrich Kuder: Abb. 1: © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (Foto: Hans Hubmann) – Abb. 2, Taf. IIa aus: Vita der Mathilde von Canossa. Codex Vaticanus latinus 4922, Faksimileband, Zürich 1984 – Abb. 3, 7 aus: Codex Egberti. Vollfaksimile-Ausgabe, Basel 1960 – Abb. 4 aus: David M. Wilson: Der Teppich von Bayeux, London/Frankfurt a.M./Berlin 1985 – Abb. 5 aus: Anton von Euw: Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Tafelband, St.Gallen 2008 – Abb. 6 aus: Petrus de Ebulo: Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern, Sigmaringen 1994 – Abb. 8, 9 aus: Das Evangeliar Ottos III. Clm 4453 der Bayerischen Staatsbibliothek München, hg. v. Florentine Mütherich/Karl Dachs, München/London/New York 2001 – Abb. 10, Taf. IIb: © Staatsbibliothek, Bamberg (Foto: Gerald Raab) – Abb. 11 aus: Percy Ernst Schramm: Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 751–1190, Neuauflage hg. v. Florentine Mütherich, München 1983 • Ute von Bloh: Abb. 1: © Niedersächsische Landesbibliothek, Hannover – Abb. 3: © Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Berlin – Abb. 4,Taf. III: Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg • Martin Büchsel: Abb. 1-3: © Museo Nacional del Prado, Madrid – Abb. 10, 11, Taf. IV: © Städel Museum, Frankfurt – Abb. 12: © Walker Art Gallery, Liverpool – Abb. 13, 14: © The Courtald Institut of Art, London – Abb. 15: © Musée des Beaux Arts, Dijon • Susanne Wittekind: Abb. 1: Biblioteca de El Escorial, El Escorial – Abb. 2 aus: Illuminating the Law. Legal manuscripts in Cambridge Collections, hg. v. Susan L´Engle/Robert Gibbs, London 2001, S. 147 – Abb. 3-5 aus: Testamentos de los Reyes de León, Faksimile, hg. v. Jose Manuel Martinez Rodriguez, León 1997 – Abb. 6 aus: J. Homer Herriot, A Thirteenth Century Manuscript of the Primera Partida, in: Speculum XIII/3 (1938), Pl. I – Abb. 7 aus: Alfonso X el Sabio. Primera Partida. Segun el Manuscrito Add. 20.787 del British Museum, hg. v. Juan Antonio Arias Bonet, Valladolid 1975 – Abb. 8, Taf. V: © Universitätsbibliothek, Salzburg: Abb. 9: © Stadtbiblitohek, Nürnberg – Abb. 10: © Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg • Daniela Güthner: Abb. 1: © Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Leiden – Abb. 2–4: © Universitätsbibliothek, Heidelberg – Abb. 5: © The British Library, London – Abb. 6, Taf. VI: © The Pierpont Morgan Library, New York (Foto: Graham Haber 2010) • Beat Brenk: Abb. 2: © Bayerisches Nationalmuseum, München – Abb. 8: © The British Museum, London • Kristin Domanski: Abb. 1, 2, 4, 7, 8, 9, Taf. VIII: Faksimile, mit freundlicher Genehmigung der Zentralbibliothek, Zürich – Abb. 3, 5: © Bibliothèque Nationale de France, Paris – Abb. 6: © Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen – Abb. 10: © Bayerische Staatsbibliothek, München • Margit Krenn: Abb. 1, 2, Taf. IX: © Foto: Stefan Schopf – Abb. 5: © Staatsbibliothek, Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Abb. 7: © Corpus Christi College, Cambridge – Abb. 8: © Bayerische Staatsbibliothek, München • Larry Silver: Abb.1: © The Metropolitan Museum of Art, New York – Abb. 2, 3: © Albertina, Wien – Abb. 4, 5, 8: © The British Museum, London – Abb. 6: © Staatliche Kunstsammlungen, Dresden – Abb. 7: © Rijksmuseum, Amsterdam – Abb. 9: © Crocker Gallery, Sacramento – Abb. 10/Taf. X: Harward Art Museums/Fogg Museum, Cambridge, Foto: Allan Macintyre © President and Fellows of Harward College • Dietrich Schubert: Abb. 1, 2, 6, Taf. 11a: ©Van Gogh Museum Amsterdam – Abb. 4, Taf. XIb: ©Museum of Art, Baltimore – Abb. 5: © Tate Gallery, London – Abb. 7: © Harward Art Museums/Fogg Museum, Cambridge – Abb. 11: © Musée d’Orsay, Paris • Petra Klara Gamke-Breitschopf: Abb. 1: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: Das Deutsche Kunstgewerbe 1906. Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906, Ausstellungskatalog (Dresden, 1906), mit Beiträgen von Fritz Schumacher, Hans Poelzig, Cornelius Gurlitt, Erich Haenel, Hermann Muthesius, Karl Groß, Friedrich Naumann und Ernst Kühn, hg. v. Direktorium der Ausstellung, München 1906, S. 104 – Abb. 2: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: Karl Groß: Architekturplastik [mit einem einleitenden Aufsatz des Autors Das Ornament], Stuttgart o.J. [1912], Taf. 20 – Abb. 3: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., Taf. 31 – Abb. 4: © Petra Klara Gamke-

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Abbildungsnachweis

Breitschopf, aus: VZ V.D.G.F. 1925, o.S. – Abb. 5: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: VZ V.D.G.F. 1925, S. 12f – Abb. 6: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., S. 34f. – Abb. 7: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., Taf. 1 – Abb. 8: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., Taf. 3 – Abb. 9: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., Taf. 7 – Abb. 10: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., S. 85 – Abb. 11: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: Grab und Friedhof der Gegenwart (Bücher des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal, 1), hg. v. Stephan Hirzel im Auftrage des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal, München 1927, S. 3. – Abb. 12a–d: © Petra Klara Gamke-Breitschopf, aus: ebd., S. 4f • Christian Heck: Abb. 1: Österreichische Nationalbibliothek, Wien – Abb. 2, 3: The British Museum, London – Abb. 4, 5: Bibliothèque nationale de France, Paris – Abb. 6: Bibliothèque de l’Arsenal, Paris – Abb. 7: Musées Royaux d’Art et d’Histoire, Bruxelles • Bernd Carqué: Abb. 1, 2, 3, 4, 8, Taf. XII: © Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt – Abb. 5, 6: © The British Library, London – Abb. 7, 9, 10: © Universitätsbibliothek Heidelberg. Alle übrigen Abbildungen stammen aus den Archiven der Verfasser