Göttinger Stadtgespräche: Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erinnern an Größen ihrer Stadt [1 ed.] 9783666300950, 9783525300954

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Göttinger Stadtgespräche: Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erinnern an Größen ihrer Stadt [1 ed.]
 9783666300950, 9783525300954

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Göttinger Stadtgespräche Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erinnern an Größen ihrer Stadt

Herausgegeben von Christiane Freudenstein

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 34 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30095-0 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz und Umschlaggestaltung: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Umschlagillustration unter teilweiser Verwendung der »Skyline Göttingen« (© wandspruch.de): Daniela Weiland, Göttingen

Inhalt

9

Vorwort

11

Albrecht von Hallers Zeit in Göttingen

18

Anna Vandenhoeck, Verlegerin

25

Johann Stephan Pütter

34

Georg Christoph Lichtenberg Ein Zwerg als Denk-Riese

von Dietmar Robrecht

von Dietrich Ruprecht

von Eva Schumann

von Tete Böttger

42

»Hurrah! Die Toten reiten schnell« Gottfried August Bürger, der ›Condor‹ des Göttinger Hains von Ulrich Joost

50

Caroline Michaelis Eine Göttingerin auf der Suche nach Freiheit und dem großen Glück von Rainer Hald

59

Alexander von Humboldt in Göttingen – Anfänge eines großen Weltentdeckers von Andreas von Tiedemann

66

Carl Friedrich Gauß: Astronom, Mathematiker und Physiker in Göttingen von Axel Wittmann

6  Inhalt 75 Friedrich Christoph Dahlmann, die Göttinger Sieben und König Ernst August – Der Verfassungskonflikt von 1837 von Heinrich Prinz von Hannover

83 Johann Conradt Bremer In Vino Veritas – 230 Jahre Weinhandelstradition in Göttingen von Georg Friedrich Bremer und Philipp Bremer

91 Heinrich Heine Die Sicht eines Göttinger Wurstfabrikanten von Frank-Walter Eisenacher

99 Otto v. Bismarck Lehrjahre des Reichsgründers von Hans-Christof Kraus

106 Ein Gasthaus für Göttingen Carl Gebhard und sein Hotel von Ernst Böhme

113 Rudolf von Jhering Ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit von Okko Behrends

121 Otto Wallach – ein großer Göttinger Chemiker von Jürgen Troe

128 Der Mathematiker Felix Klein, Kosmopolit und Nationalist Der Begründer der goldenen Ära der Mathematik in Göttingen von Samuel Patterson

136 Gustav Wurm Das erfolgreiche Leben eines Zeitungsverlegers im Wandel der Zeiten von Michael Schäfer

Inhalt 7

143 Max Planck in Göttingen und was daraus wurde Betrachtungen aus einer persönlichen Perspektive von Andreas J. Büchting

151 »Im Häuschen will ich auch sterben und nur von dort aus noch leben« Lou Andreas-Salomé und Göttingen von Inge Weber

161 In Memoriam Ernst Ferdinand Geismarus Ruhstrat von Andrea Ruhstrat

167 Eine stille, aber laut vernehmbare Größe: Otto Hahn von Matthias Heinzel

177 Max von Laue und Göttingen von Hubert Goenner

185 »Die Weiblichkeit war nur durch Fräulein Emmy Noether vertreten« – die Mathematikerin Emmy Noether von Cordula Tollmien

194 James Franck, Nobelpreisträger Wissenschaft in moralischer Verantwortung von Friedrich Smend

201 Max Born und die Entstehung der Quantenmechanik von Kurt Schönhammer

209 Heinz Hilpert, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Hausherr des Deutschen Theaters in Göttingen von Norbert Baensch

216 Edith Stein in Göttingen Die dunkle Nacht der Seele von Heinrich Detering

8  Inhalt 222 Herta Sponer – eine Pionierin der Physik an der Grenze zur Chemie von Claudia Binder

230 Gerhard Leibholz Rückkehrer aus dem Exil von Thomas Oppermann

237 Werner Heisenberg: Jugendlicher Entdecker der modernen Quantentheorie Suche nach einer zentralen Ordnung der Natur von Helmut Reeh

245 Lucinde Sternberg geb. Worringer »Man darf sich nur nicht entmutigen lassen« von Helga Grebing

252 Jochen Brandi Eine Architektin und ein Kunsthistoriker erinnern sich im Gespräch an den Göttinger Architekten von Susanne Arndt und Karl Arndt

259 Robert Gernhardt Reminiszenzen – erinnerte Glücks-Momente von F. W. Bernstein

267 Heinz Ludwig Arnold, Freund der Dichter von Thedel v. Wallmoden

274 Bildnachweis 275 Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren

Vorwort

Dieser Band verdankt sein Entstehen der Idee, große Per­ sönlichkeiten, die in Göttingen gelebt und gewirkt haben, von besonders interessanten und wichtigen Göttinger Zeitgenossen vorstellen zu lassen. Erwünscht waren keine trockenen Darstellungen, sondern lebendige Charakterbilder sollten entstehen. Diese Konzeption brachte es mit sich, dass sowohl Fachleute von Rang über ihre Vorgänger in der Wissenschaft geschrieben haben, als auch gewichtige Persönlichkeiten aus der Kultur und Wirtschaft Göttingens beteiligt waren. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders dem Altverleger des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, Dietrich Ruprecht, danken. In Brainstorming-Gesprächen gab er mir Hinweise auf wichtige Unternehmer, deren Firmengründungen eng mit der Geschichte der Stadt und der Universität Göttingen verquickt sind. Dankbar bin ich auch Traudel Weber-Reich, die mit ihrem 1993 im Wallstein Verlag erschienenen Buch, »Des Kennenlernens werth. Bedeutende Frauen Göttingens«, wichtige und spannend zu lesende Vorarbeit geleistet hat. Denn auch kluge und kreative Frauen sollten in angemessener Präsenz vorgestellt werden  – Lou Andreas-Salomé, Caroline Michaelis, Emmy­ Noether, Herta Sponer, Edith Stein, Lucinde Sternberg und Anna Vandenhoeck sind es. Nur sieben weibliche Biographien sind also in meinem Buch vertreten neben 27 männlichen. Dieses Missverhältnis ist dem Umstand geschuldet, dass die jüngste Persönlichkeit, deren Werdegang im letzten Beitrag dargestellt wird, 1940 geboren wurde  – zu einem Zeitpunkt, als Frauen wichtige Positionen eben noch nicht erringen konnten. Indem die Porträts der bedeutenden Göttingerinnen und Göttinger in chronologischer Reihenfolge nach ihrem Geburtsjahr ange­ordnet sind, ist zugleich ein Panorama Göttinger Stadtgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts entstanden.

10  Christiane Freudenstein Dass die Persönlichkeiten auch mit einem Bildnisporträt vorgestellt werden konnten, haben wir einerseits der großzügigen Unterstützung durch das Stadtarchiv Göttingen und das Städtische Museum Göttingen zu verdanken, andererseits auch dem Griff ins Privatarchiv einiger Beiträger – dafür Danke! Besonders dankbar bin ich auch meinem Schwager Michael Buback, der mich im Bereich der Naturwissenschaften beraten hat, für die Göttingen nicht nur Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinem ›Nobelpreiswunder‹ berühmt war, sondern auch vorher und danach. Auch heute noch kann man Göttingen als ein Zentrum der Forschung bezeichnen. Nicht ohne Grund – sind doch gleich fünf Max-Planck-Institute in unserer Stadt beheimatet. Ohne Michael Bubacks Hilfe und ohne die Vermittlung von Stefan Tangermann und Kurt Schönhammer hätte ich  – zwar naturwissenschaftlich interessiert und durch Eva Nehers Science Festival mit einigen neueren Forschungen bekannt – kaum die passenden Beiträger für die bedeutenden Physiker und Chemiker finden können, deren Porträts in meinem Buch gemalt worden sind. Unter den Beiträgern dieses Bandes befinden sich auch einige Freunde, die trotz Arbeitsüberlastung mitgewirkt haben und erst überzeugt werden mussten, dass sie tatsächlich auch zu den ›bedeutenden Göttingern‹ gehören. All ihnen danke ich sehr, besonders Martina Kayser, der ehemaligen Leiterin des Bereichs Geistes­wissenschaften bei Vandenhoeck & Ruprecht, denn auf ihrer Idee beruht letztlich dieses Buch. Der Name ›Neher‹ fiel eben bereits und ist ein Stichwort: Göttingens drei Nobelpreisträger, Manfred Eigen, Erwin Neher und Stephan Hell sowie auch andere, die es verdient hätten, sind in diesem Band nicht vertreten, dessen Konzeption vorsah, nur verstorbene Persönlichkeiten vorzustellen. Unter ihnen be­ findet sich auch mein Mann, Heinz Ludwig Arnold, dem ich dieses Buch in memoriam widme. Christiane Freudenstein

Göttingen, am 18. April 2016

Albrecht von Hallers Zeit in Göttingen von Dietmar Robrecht »Haller hat Göttingen gewiss viel gebracht, aber ohne Göttingen wäre er nie geworden, was er geworden ist.« Gérard von Haller1

Albrecht Haller wurde am 16.  Oktober 1708 in Bern geboren und verstarb dort am 12. Dezember 1777, gefasst und das eigene Sterben bis zuletzt beschreibend. Sein Begräbnisplatz neben der französischen Kirche wurde Anfang des vorigen Jahrhunderts eingeebnet. Wie sie es zeit seines Lebens gehalten hatten, kümmerten sich die Bürger von Bern auch nach seinem Tod wenig um den größten Sohn ihrer Stadt. Johann Georg Zimmermann, sein berühmter Schüler und erster Biograph, schrieb mit Recht: »Den Tod des Herrn von Haller werden zunächst um sein Grab nur wenige Herzen fühlen, der zu große Ruhm eines Mitbürgers ist Schweizern immer lästig. Aber Deutschlands Männer gestehen, dass man seit Leibnizens Tod keinen empfindlicheren Verlust erlitten.«2 1736 war Haller als Professor für Anatomie, Chirurgie und Botanik an die erst wenige Jahre zuvor gegründete Universität Göttingen berufen worden und wirkte hier, bis ihn Heimweh 1753 in die Heimatstadt zurückzog. Der Trennungsschmerz scheint so groß gewesen zu sein, dass der in ganz Europa hochberühmte Gelehrte seine gut dotierte Stelle aufgab und sich zunächst mit dem bescheidenen Posten eines Rathausammanns3 in Bern zufriedengab. Eine 1769 kurzzeitig erwogene Rückkehr nach Göttingen, wo ihn Georg  III . zum Kanzler machen wollte, scheiterte letztendlich am Widerstand seiner Familie. Eigentlich zur Theologie bestimmt, entschloss sich Haller als 15-Jähriger zunächst zum Studium der Naturwissenschaften in Tübingen. Die Grundlagen für seine späteren wissenschaft-

12  Dietmar Robrecht lichen Arbeiten erarbeitete er sich jedoch in Leiden als eifriger Schüler des in der damaligen Zeit wohl bedeutendsten Mediziners Herman Boerhaave, bei dem er Medizin, Botanik und Chemie hörte. In Paris intensivierte er seine anatomischen Studien, wobei ihn sein Drang, das neu gewonnene Wissen zu vertiefen, dazu brachte, verbotenerweise Leichen ausgraben zu lassen. In Basel entdeckte er schließlich für sich die Botanik als selbständiges wissenschaftliches Fach. 1728 unternahm er seine erste botanische Studienreise in die Alpen. Sein umfangreiches Lehrgedicht »Die Alpen« (1732) machten ihn auch als Poet weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus bekannt. Aus der Position eines praktizierenden Arztes in Bern heraus wurde Haller dann von seinem lebenslangen Gönner Gerlach Adolph von Münchhausen an die Universität Göttingen berufen. Der Umzug in den Norden stand unter keinem guten Stern. Schon vier Wochen nach der Ankunft starb Hallers geliebte Frau Marianne und ließ ihn mit drei kleinen Kindern zurück. Für sie hatte er sein damals weithin bekanntes Liebesgedicht »Doris« (1730) geschrieben. Auch seine zweite Frau verstarb nach nur kurzer Ehe. Hallers Tage in Göttingen waren mit Lesen, Schreiben, Lehren und Experimentieren ausgefüllt. Offenbar gehörte der Wissenschaftler zu den Menschen, die selbst beim Essen, Spazierengehen und sogar beim Reiten lesen mussten und das Gelesene lückenlos wiedergeben konnten. Im Winter stand die Anatomie im Zentrum seiner Arbeit. Insgesamt hat Haller um die 350 Leichen in Göttingen selbst seziert und die Befunde präzise aufgezeichnet. Der Sommer blieb der Botanik vorbehalten. In Anlehnung an Idee und Konzept eines botanischen Gartens, den er in Leyden kennengelernt hatte und der mit 6000 Pflanzen der bedeutendste in Europa war, begann er die Planung und Erweiterung des »Medizinischen Gartens« in Göttingen. Nachdem in der Unteren Karspüle ein geeignetes Feld gefunden war, wurde rasch der Bau der Treibhäuser und seines Wohnhauses in Angriff genommen. Am 8. Mai 1738 konnte ihm der Schlüssel des Botanischen Gartens übergeben werden. Die Aussaat nahm er eigenhändig vor, da eine Gärtnerstelle zunächst nicht vorgesehen war.

Albrecht von Haller 13

Die junge Universität und auch die Stadt erlebten einen enormen Aufschwung durch Hallers Wirken. Er zog Studenten von weit her an, weil er sein immenses Wissen verständlich vortragen konnte und seine Schüler zu eigenständigen, oft tierexperimentellen Arbeiten anleitete. Die Zahl seiner viel gelesenen Publikationen beeindruckt auch heute noch. In Göttingen gab er die Vorlesungen seines geschätzten Lehrers Boerhaave in sieben Bänden reich kommentiert heraus, was auch für die Universitätsbuchhandlung Vandenhoeck sehr vorteilhaft war, da das Werk mehrere Nachdrucke erlebte. Die Darstellung der Schweizer Pflanzen und auch die Beschreibung der Pflanzen des Göttinger Botanischen Gartens, der bei Hallers Weggang zum größten in Europa angewachsen war und bis heute besteht, wurden publiziert. Daneben erschien eines seiner Hauptwerke, die »Icones anatomicae« (1756), das sich im Wesentlichen mit der Verteilung der Blutgefäße im menschlichen Körper beschäf-

14  Dietmar Robrecht tigte. Durch Einspritzungen von gefärbtem Terpentinöl oder Talg in die Gefäßbahnen von Leichen erfasste Haller viele bisher unbekannte Verästelungen. Auch sein Lehrbuch der Physiologie (»Primae lineae physiologiae«, 1751), das erstmals kurz und verständlich zusammenfasste, was die gelehrte Welt über die Funktionen der Organe des menschlichen Körpers, speziell der Atmung und des Blutkreislaufes, wusste, erschien 1747 in Göttingen und steigerte die Attraktivität der Universität. Schon für Haller war die Physiologie »belebte Anatomie«. Schließlich wurde 1753 auch sein auf Tierversuchen basierendes klassisches Werk von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers publiziert (»De partibus corporis sensilibus et irritabilus«), in dem er die unterschiedlichen Funktionen von Muskulatur und Nerven beschrieb. Wie Empfindungen und Bewegungen zusammenhängen, war damals noch weitgehend unbekannt.4 Erst mit Haller wurden Tierversuche allgemein üblich. 1747 übernahm Haller die Redaktion der Zeitschrift, die bald unter dem Namen »Göttingische Anzeigen von gelehrten ­Sachen« zum führenden Rezensionsorgan in Deutschland werden sollte. Er selber hat bis zu seinem Tod 10.000 Rezensionen beigesteuert. Seine Berichterstattung erstreckte sich auf medizinische und naturwissenschaftliche, mathematische und physikalische, geographische und historische, philosophi­ sche und theologische, schriftstellerische und dichterische Erzeugnisse. Diese Tätigkeit in Verbindung mit einer Korrespondenz, die sich über ganz Europa erstreckte, erklärt, warum Haller wohl zu den am besten informierten Menschen seiner Zeit gehörte. 12.000 Briefe von über 1000 Absendern sind erhalten geblieben.5 Rufe nach Oxford, Utrecht und Berlin lehnte Haller ab und wurde wohl auch wegen dieser Treue zu Göttingen durch Vermittlung seines Förderers von Münchhausen 1749 von Kaiser Franz I. in den erblichen Adelsstand erhoben. 1751 erhielt Albrecht von Haller den Auftrag zum Erstellen einer Satzung für die »Königlich Grossbritannische Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen«. Diese wurde schnell erarbeitet und genehmigt; Haller wurde zum beständigen Prä-

Albrecht von Haller 15

sidenten der Akademie ernannt. Auf seine Initiative hin konnte im November 1751 auch eine Entbindungsanstalt eröffnet werden, die der Verbesserung der Ausbildung von Ärzten und Hebammen dienen sollte. Ihr erster Leiter war der 25-jährige­ Johann Georg Roederer, der wie Haller »ein rastloser Lehrer und Schriftsteller war und dessen Handbuch der Geburtshilfe führend wurde. Hallers nächstes großes Anliegen war ein Spital für den Unterricht am Krankenbett. Es wurde erst nach seinem Wegzug verwirklicht.«6 Aus diesen revolutionär zu nennenden Neuerungen, die auf Haller zurückgehen, wird deutlich, dass er kein Wissenschaftler fernab der Welt war, sondern mitten im Leben stand und im Bewusstsein seiner sozialen Verantwortung handelte. Er selbst hat einmal über sich geschrieben: »Ich möchte, wenn es möglich wäre, auf die Nachwelt als Freund der Menschen wie als Freund der Wahrheit übergehen.«7 Haller war überzeugter Christ und treues Glied der ihm vertrauten reformierten Kirche der Schweiz. Aber er hat es nicht leicht gehabt mit seinem Glauben. Der Verlust seiner beiden ersten Frauen und der Tod der drei jeweils erstgeborenen Söhne trafen ihn schwer. Die ewige Frage, »wie kann mit deiner Huld sich unsre Qual vertragen?«, hat ihn sein Leben lang gequält. Als Mann der Aufklärung versuchte er stets, seinen Glauben auch wissenschaftlich zu begründen, wobei die Kenntnis der Natur ihn gelehrt habe, »höher von Gott zu denken«. In seinen »Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben«, dem sechsten Kapitel der »Alpen«, ruft er schließlich aus: »Genug, es ist ein Gott; es ruft es die Natur / Der ganze Bau der Welt zeigt seiner Hände Spur.« Schon bei seiner Berufung nach Göttingen hatte Haller dafür geworben, eine reformierte Predigerstelle einzurichten und eine Kirche zu bauen. Göttingen aber hatte sehr unter dem Dreißigjährigen Krieg gelitten; wirtschaftlich und baulich war die Stadt in einem erbärmlichen Zustand. Erst nach der Bewilligung von Steuervergünstigungen und Zuschüssen zur Bebauung der »wüsten Stellen« Anfang des 18. Jahrhunderts besserte sich die Situation allmählich. Göttingens Einwohnerzahl jedoch stieg erst, als die Vorbereitungen zur Universitätsgründung begannen

16  Dietmar Robrecht und deshalb auch vermehrt Handwerker in die Stadt kamen. Darunter waren oft Reformierte. Auch einige reformierte Professoren, Lektoren und Studenten ließen sich schon vor der offiziellen Gründung der Universität in Göttingen nieder. Bis dahin durften die Göttinger Reformierten nur einmal in drei Monaten den reformierten Pastor aus (Hannoversch) Münden kommen lassen, um mit ihm »in aller Stille und ohne Aufsehen« das Abendmahl zu feiern. Nun aber wurden immer wieder Petitionen an die Regierung in Hannover geschickt mit der Bitte um Gewährung der freien Religionsausübung. Auch hier hat sich Gerlach Adolph von Münchhausen unterstützend hervorgetan. Zahllose Briefe an den König in London und den Rat der Stadt Göttingen wurden von ihm verfasst. Wenn immer wieder gesagt wird, dass die reformierte Gemeinde Göttingen ihre Existenz Albrecht von Haller verdanke, dann darf die Rolle von Münchhausens dabei nicht zu gering eingeschätzt werden. Die Regierung in Hannover lenkte schließlich ein, weil deutlich wurde, dass sich einige reformierte Studenten nicht in Göttingen einschrieben, weil es dort keine reformierte Gemeinde gab. So wurde einmal mehr Haller mit der Aufgabe betraut, dieses Problem zu lösen, und die langwierige Suche nach einem ge­eigneten Bauplatz begann. Haller schrieb Briefe an die Regierungen von Bern, Zürich und Basel sowie an reformierte Gemeinden in Holland und bat um finanzielle Unterstützung bei der Gemeindegründung, die dann auch reichlich gewährt wurde. Über den Tag der Grundsteinlegung für die Kirche gegenüber ›seinem‹ Botanischen Garten sagte er zu einem Freund: »Das war der schönste Tag meines Lebens.« Die Fertigstellung und Einweihung der Kirche am 11. November 1753, die – baulich unverändert  – noch heute den Reformierten in Göttingen als Gotteshaus dient, hat Haller nicht mehr miterlebt. Dass er nach Bern zurückkehrte, war eine völlig unverständliche Entscheidung für die gelehrte Welt. Aber auf Albrecht von Haller wartete noch ein erfülltes Leben »extra Gottingam«.8

Albrecht von Haller 17

Anmerkungen 1 Haller, Gérard von: Festvortrag. In: 250 Jahre Evangelisch-Reformierte Gemeinde Göttingen. Göttingen 2003. 2 Siegrist, Christoph: Albrecht von Haller. Stuttgart 1967. S. 17. 3 Der Rathausammann stand in der Ratshaushierarchie an letzter Stelle und wurde mit bescheidenem Gehalt für vier Jahre gewählt. Er führte die Aufsicht über das Rathaus, hatte für die tägliche Reinigung der Amtsräume zu sorgen und musste bei allen Verhandlungen des Großen und Kleinen Rates anwesend sein. Sonntags hatte er die Bürgermeister zur Kirche und ins Rathaus zu begleiten. 4 Balmer, Heinz: Albrecht von Haller. Bern 1977. S. 19. 5 Ebd. S. 20. 6 Ebd. S. 21. 7 Ebd. S. 72. 8 250 Jahre Evangelisch-Reformierte Gemeinde Göttingen. Festschrift. Göttingen 2003.

Anna Vandenhoeck, Verlegerin von Dietrich Ruprecht

Der Name dieser schon zu Lebzeiten bedeutenden Verlegerin taucht im Göttinger Stadtbild an zwei eher unauffälligen Stellen auf: im Groner Gewerbegebiet südlich der Bundesstraße 27 als ›Anna-Vandenhoeck-Ring‹, sodann auf dem alten Bartholomäusfriedhof an der Weender Landstraße. An der Südost­ ecke des Friedhofs befindet sich ihr Grabmal, das mit einer Urne gekrönt und mit der Inschrift versehen ist: »Hier ruhet Anna Vandenhoeck, geborene Parry, gebor. zu London, d. 24.  May  1709, starb d. 5.  März 1787. Das Denkmal stiftete aus Liebe und Dankbarkeit Carl Friedrich Ruprecht«. Dieser Stifter war Uni­versalerbe der kinderlosen Witwe des Holländers Abraham Vandenhoeck (1700–1750). Der war am 13.  Februar 1735 von der hannoverschen Regierung zum »Universitäts-Buchdrucker / u.-Buchführer« in Göttingen berufen worden. Druckerei, Verlag und Buchhandlung lagen damals in der Regel noch in einer Hand. Man tauschte unter den Firmen bargeldlos Druckbogen gegen Druckbogen; Differenzen wurden dann auf der Buchmesse in Leipzig (zuvor in Frankfurt) in Bargeld ausgeglichen. Der Anfang im sprachlich fremden Göttingen war für den nicht sonderlich bemittelten Vandenhoeck wirtschaftlich schwierig. Doch trugen sicherlich seine Erfahrungen auf dem französischen, niederländischen und englischen Markt dazu bei, dass seine Universitätsbuchhandlung bald als die leistungsfähigste angesehen war und sich langfristig behaupten konnte. Vandenhoeck war, wie dann auch seine Frau Anna, evangelisch-reformierter Konfession, was bald für ihren Verlag, später auch für die kirchliche Situation Göttingens Folgen haben sollte: Als der 28-jährige, bereits berühmte und einflussreiche Universal-Gelehrte Albrecht Haller (geadelt erst 1749) 1736 aus

Anna Vandenhoeck 19

Bern an die in Gründung befindliche Georgia Augusta als Professor der Medizin und Botanik berufen wurde, vermisste er im lutherischen Göttingen das Vorhandensein einer reformierten Kirche und eines Geistlichen.1 Beide einer religiösen Minderheit angehörend, kamen sich die in Göttingen neuen Familien Haller und Vandenhoeck rasch nahe. Das wirkte sich alsbald persönlich wie auch geschäftlich aus. So wird bereits 1749 von einer gemeinsamen mehrtätigen Vergnügungsreise der Damen­ Haller und Vandenhoeck per Kutsche nach Kassel berichtet. Auch wird Haller, der zuvor in Leiden studiert und gelehrt hatte, mit der holländischen Sprache vertraut gewesen sein. Jedenfalls überließ er dem Vandenhoeck-Verlag etliche seiner bahnbrechenden medizinischen und botanischen Publikationen. Hinzu kamen mehrere Auflagen seines »Versuchs Schweizerischer Gedichte« mit dem Gedicht »Die Alpen«, mit dem Haller in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Die enge Verbindung der

20  Dietrich Ruprecht von Haller 1731 gegründeten ›Akademie (damals Sozietät) der Wissenschaften‹ mit dem Verlag besteht bis heute. Als Abraham im August 1750 im Alter von nur 50 Jahren starb, übernahm die 41-jährige kinderlose Witwe Anna, offenbar nicht unvorbereitet, als alleinige Erbin das Ruder in Verlag, Buchhandlung und Druckerei. Letztere, in welcher der ausländische Chef immer Schwierigkeiten mit dem Verhalten der deutschen Schriftsetzer gehabt hatte, wurde alsbald verkauft. Bücher des Verlags firmierten fortan, damaligem Brauch folgend, unter »verlegts seel. Abraham Vandenhoecks Wittwe« – so oder ähnlich wurde es auch bei lateinischen, französischen oder englischen Titeln gehalten.2 Über Annas Herkunft und Vorleben in London und Hamburg ist nichts bekannt. Ein gewisses eigenes Vermögen muss sie besessen haben, da sie sich nach ihrer Ankunft in Göttingen für ein Start-Darlehen verbürgen konnte, das ihrem Ehemann gewährt wurde, oder da sie die Vergnügungsreise mit Frau ­Haller finanzierte. Wie ihr verstorbener Ehemann gehörte sie nun als Prinzipalin zu den sogenannten ›Universitätsverwandten‹, die nicht der Gerichtsbarkeit der Stadt, sondern derjenigen der Universität unterstanden; das waren universitätsnahe Berufe wie Reitlehrer, Fechtlehrer, Tanzlehrer und Perückenmacher. Bald nach ihren ersten Jahren als Verlegerin muss ihr Carl Friedrich Ruprecht (1730–1816) eine wertvolle Hilfe geworden sein. Der in der thüringischen Residenzstadt Schleusingen als Sohn eines Regierungsadvokaten und Forstschreibers geborene Carl war gleich nach Abschluss des dortigen Gymnasiums am 1. Januar 1748 bei Abraham Vandenhoeck als Lehrbursche angetreten. Vermittelt hatte ihm die Stelle der mit Ruprechts Familie verwandte Göttinger Medizinprofessor und Prorektor Johann Andreas von Segner, einer der bedeutendsten Natur­ wissenschaftler seiner Zeit. Der unterschrieb auch den Lehr­ vertrag für Carl und nahm ihn bei sich auf. Die frühesten überlieferten Zeugnisse von Ruprechts Tätig­ keit in Göttingen sind zwei Briefe, die er von der Leipziger Ostermesse 1758 an seine »hochzuverehrende Gönnerin« Anna Vandenhoeck über den Verlauf der Messe schrieb. Deren zu­ gewandtes Vertrauen in ihn spricht auch aus dem erhaltenen

Anna Vandenhoeck 21

Jugendbildnis ihres Mitarbeiters, das sie in dieser Zeit in Auftrag gegeben hat. Über die Rollenverteilung zwischen Anna Vandenhoeck und C. F. Ruprecht und deren Ablauf gibt die Quellenlage kaum Genaueres her. Fest steht, dass sie als allein haftende Verlegerin wirtschaftliche Kenntnisse und unternehmerische Entschlusskraft besaß, auch zeitlebens alle Verträge unterschrieb. Ihr gesellschaftliches Ansehen war vermutlich hoch, weil sie als Engländerin nicht nur für Damen (wie Frau Haller und Frau Pütter) interessant war, sondern auch für etliche Professoren, die Verbindungen zu englischen Kollegen und Studenten in Göttingen pflegten. Bei ihrem jungen Adlatus Ruprecht liegt es nahe anzunehmen, dass sein schon erwähnter Vormund Professor von ­Segner, der als Autor des Vandenhoeck-Verlags sicher auch Kunde im Buchladen war, seinen Schützling Carl mit Kollegen bekannt gemacht hat. Die Autoren des Verlags waren, wie damals üblich, fast ausnahmslos in Göttingen ansässig. In die Zeit von Annas Verlagstätigkeit fällt auch der Beginn des Aufschwungs der Georgia Augusta zu einer in Deutschland, ja in Europa führenden Universität. Das verdankte sie nicht zuletzt der ihr vom Kurfürstentum Hannover gewährten, für Professoren wie Studenten attraktiven, weitgehenden Zensurfreiheit. Anna Vandenhoeck nutzte die daraus resultierende Chance, die Kontakte zu bereits von ihrem Ehemann übernommenen Autoren zu pflegen und neu berufene Professoren für den Verlag zu gewinnen. Nach Verlagsautoren sind noch heute Göttinger Straßen benannt, z. B. Haller, Roederer, Michaelis und Schlözer. Der Letztgenannte war für den Verlag ein besonders wich­ tiger Autor. August Ludwig Schlözer (1736–1808) hatte als hochbegabter, exzentrischer württembergischer Pfarrerssohn früh ein Studium der Theologie absolviert. Nach Aufenthalten in Uppsala und St. Petersburg, wo er bereits Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften geworden war, folgte er 1769 einem Ruf an die Georgia Augusta als Professor für Geschichte und Statistik. Besonders interessiert war der vielseitige und kommunikationsfreudige Schlözer an den gegenwärti-

22  Dietrich Ruprecht gen politischen, religiösen und wirtschaftlichen Geschehnissen in den Zentren Europas bis hin nach Nordamerika. Zudem trieb ihn unbändige Reiselust um. In den von ihm (teils mit behördlicher Sondererlaubnis) besuchten Hauptstädten Europas nahm er jeweils Verbindungen mit gut informierten Persönlichkeiten auf (Politikern, Juristen, Kaufleuten, Geistlichen), die ihm zunächst mündlich, später auch schriftlich Neuigkeiten, auch kritischen Inhalts, berichteten. 1774 beschloss Schlözer, die Berichte seiner Korrespondenten regelmäßig zu veröffentlichen. Nachdem ein erster Publikationsversuch bei dem 1765 von ­Gotha nach Göttingen gezogenen profilierten Verleger Dieterich gescheitert war, glückte dann der zweite Anlauf bei Anna Vandenhoeck. Ab 1776 konnte bei ihr der »Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts« sechsmal jährlich als Zeitschrift erscheinen. Wegen der Zensurfreiheit konnten auch kritische Beiträge zu den berichteten Zuständen aufgenommen werden, natürlich zum Verdruss der dort Herrschenden. Erwiesene Falschmeldungen wurden nachträglich berichtigt. Von Kaiserin Maria Theresia in Wien ist überliefert, sie habe einmal einen Plan ihres Staatsrats mit der Begründung abgelehnt: »Was würde Schlözer dazu sagen?« 1782 wurde der Titel des überaus erfolgreichen »Brief­ wechsels« umgewandelt in »Staatsanzeigen«. Deren für damals ungewohnt hohe Verkaufsauflage betrug ca. 4000 Exemplare, mehrere Hefte mussten nachgedruckt werden. Das Heraus­ geber-Honorar betrug (historisch ganz seltene) 25 Prozent vom Ladenpreis und erreichte schließlich 3000 Reichstaler im Jahr. So hohe Gewinne mit ihren Büchern zu erzielen, hieß es, gelang damals allenfalls Goethe und Kotzebue. Exzeptionell war auch Schlözers vertraglich fixiertes Angebot an C. F. Ruprecht: Falls mehr als 4000 Exemplare verkauft würden, solle der Geschäftsführer »als Gratial für seine activité« das Honorar dafür statt seiner erhalten. Das einzige überlieferte mündliche Zitat Anna Vandehoecks bezieht sich auf Schlözer. Wenn sie ihn durchs Fenster auf der Straße ihr Haus passieren sah, pflegte sie zu den Umstehenden erheiterten Gesichts zu sagen: »Da geiht meyn Briefwechselmann.« Schließlich fiel das weitere Erscheinen der »Staatsanzeigen« 1794 der wieder erstarkten staatlichen Zensur

Anna Vandenhoeck 23

zum Opfer. Man kann dieses aufklärerische Periodikum wohl mit gewissem Recht als eine Art Vorläufer des heutigen Magazins »Der Spiegel« bezeichnen. Als Anna Vandenhoeck am 5.  März 1787 78-jährig starb, hinterließ sie ihr bereits am 17.  November 1778 unterzeichnetes Testament, verfasst und geschrieben von dem ihr vertrauten evangelisch-reformierten Pastor und Prorektor der Universität Lüder Külenkamp. Ihr Geschäftsführer Carl Friedrich Ruprecht war als Universalerbe eingesetzt. Die Firma sollte auf Dauer ›Abraham Vandenhoecks Buchhandlung‹ heißen. Das Erbe war indessen durch Legate und andere Auflagen erheblich belastet. Vor allem die damals noch junge, wenig bemittelte ProfessorenWitwenkasse sowie die noch jüngere, weitgehend durch H ­ allers Einfluss lizenzierte Göttinger Reformierte Gemeinde waren nicht nur mit Geldsummen und Wertgegenständen bedacht, sondern auch mit Aufsichts- und Kontrollrechten über die Verlagsbuchhandlung. Sollten Ruprecht oder seine Nachkommen ohne eheliche Erben sterben, ginge die Firma an beide Institutionen über und sollte durch einen Verwalter geführt werden. Ruprecht solle in der Weender Straße anstelle zwei vorhandener baufälliger Vandenhoeck-Gebäude ein neues Geschäftshaus für mindestens 6000 Taler erbauen (heute Nr. 36, schräg gegenüber der Konditorei Cron & Lanz). Kein Wunder, dass sich beide Seiten damit nicht zufrieden­ gaben. Die beiden bedachten ›Pia corpora‹ waren mehr am Erhalt höherer Geldsummen interessiert als an wirtschaftlichen Rechten. Dem 57-jährigen Ruprecht hingegen war vor allem an seiner Unabhängigkeit gelegen. Durch einen von der Universität vermittelten Vergleich konnten schließlich nach zähem Ringen die Interessen beider Seiten gewahrt werden: Über die von der Erblasserin fixierten Legate hinaus3 waren an die Professoren-Witwenkasse und die Reformierte Gemeinde je 15.000 Reichstaler zu entrichten. Als künftige Firmierung wird ›Abraham Vandenhoeck und Ruprecht‹ vereinbart (›Abraham‹ entfiel dann später). Um all diesen erheblichen Verpflichtungen nachkommen zu können, musste sich Ruprecht verschulden. Erst sein dann noch 1791 geborener Sohn Carl (›II .‹) konnte viel später die letzte Tilgungsrate des aufgenommenen Dar­lehens entrichten.

24  Dietrich Ruprecht Ja, der 57-jährige Junggeselle ›Carl I.‹ hatte es dann mit dem Heiraten eilig. Wenige Wochen nach dem Vergleich war er auf einer Reise nach Leipzig in Weimar abgestiegen und hatte eine sympathische, nicht mehr ganz junge Dame kennengelernt: Friederike Dorothea Heintze (1754–1800). Er hielt sofort bei ihrem Vater, dem Weimarer Gymnasialdirektor und späteren Autor, um die Hand dieser Tochter an. Durch Heintzes Vorgesetzten und Freund Johann Gottfried Herder fand die Trauung alsbald statt. Dass die Geschichte des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, dessen Geschicke in der Gründungsphase eine kluge und mutige Frau gelenkt hatte, damit noch nicht zu Ende war, ist in Göttingen hinlänglich bekannt. Anmerkungen 1 Beide konnten nicht zuletzt dank Hallers Initiative realisiert werden: 1753 wurde die in der Unteren Karspüle errichtete Kirche feierlich eingeweiht; die Baukosten betrugen 55.850 Reichstaler. 2 Aber nie unter Beifügung ihres eigenen Vornamens, wie Barbara Lösel in ihrer materialreichen Magisterarbeit feststellte (S. 81/82). 3 Nach Ruprechts Tod sollte z. B. das bisherige Wohnhaus Annas, LangeGeismar-Straße 64, als Wohnsitz des Pfarrers an die Reformierte Gemeinde fallen.

Literatur Ebel, Wilhelm: Memorabilia Gottingensia. Elf Studien zur Sozialgeschichte der Universität. Göttingen 1969. Lösel, Barbara: Die Frau als Persönlichkeit im Buchwesen. Dargestellt am Beispiel der Göttinger Verlegerin Anna Vandehoeck (1709–1787). In: Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. Bd. 33. Wiesbaden 1991. Ruprecht, Wilhelm: Väter und Söhne. Zwei Jahrhunderte Buchhändler in einer deutschen Universitätsstadt. Göttingen 1835. Ziegler, Edda: Buchfrauen. Frauen in der Geschichte des deutschen Buchhandels. Göttingen 2014. S. 32–41.

Johann Stephan Pütter von Eva Schumann

»Den 12. August starb der Patriarch der Deutschen Publicisten, der berühmte geheime Justizrath Johann Stephan Pütter, dessen ausgezeichnet große Verdienste um seine Wissenschaft, um die Bildung so vieler tausend Staatsdiener, und um den Glanz der Universität, der er über fünfzig Jahre seine rastlose Thätigkeit mit seltenem Eifer widmete, unvergeßlich bleiben werden. Er erreichte ein Alter von 82 Jahren und fast 2 Monathen.« Mit dieser kurzen Notiz gab der Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen«1 von 1807 der gelehrten Öffentlichkeit den Tod des berühmtesten Göttinger Juristen des 18.  Jahrhunderts bekannt. Europa befand sich in dieser Zeit im Umbruch, und mit dem Untergang des Alten Reiches im Jahr 1806 war der ertragreichste Gegenstand des umfangreichen Pütter’schen Werkes über Nacht bedeutungslos geworden: Die staatsrechtlichen Arbeiten zur Verfassung und zu den Institutionen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die Pütters Ruhm begründet hatten, sollten erst für nachfolgende Generationen wieder und dann von rechtshistorischem Interesse sein. Diese Entwicklung und die Auswirkungen auf sein Lebenswerk dürfte Pütter ebenso wie den Tod seiner geliebten Frau im selben Jahr nicht mehr bewusst erfasst haben. Seit 1805 galt er als geistig verwirrt, und ab 1806 stand er unter ständiger Betreuung. Pütters Biographie zeigt ein Leben in Superlativen: Johann Stephan Pütter, am 25.  Juni 1725 in Iserlohn geboren, schrieb sich 1738 als Zwölfjähriger zum Studium an der Marburger Philipps-Universität ein. Er dürfte damals der jüngste Student gewesen sein und war so zart und klein, dass er nicht nur stets einen Auszug aus der Universitätsmatrikel als Nachweis für

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seinen Status mit sich führte, sondern seine Wohnung auch nur mit einem studentischen Degen verließ, um sich auf diese Weise bei den älteren Marburger Gymnasiasten Respekt zu verschaffen. Weiteren Schutz bot sein Zimmernachbar und Freund, der kräftige Michail Lomonossow, der später in seiner russischen Heimat als Dichter, Naturwissenschaftler und Universalgelehrter Bedeutung erlangte und als Namensgeber für die Moskauer Universität fungierte, an deren Gründung er 1754/1755 mitwirkte. Nach drei Marburger Studiensemestern, in denen Pütter auch Vorlesungen bei dem berühmten Aufklärungsphilosophen Christian Wolff gehört hatte, wechselte er nach Halle und konzentrierte sich nun stärker auf das juristische Studium. Die nächste wichtige Station war dann ab 1741 Jena: Hier wurde er Schüler des Rechtsgelehrten Johann Georg Estor, der ihn in sein Haus aufnahm und die nächsten Jahre auch intensiv förderte.

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Im Hause Estors war sein Zimmernachbar Gottfried Achenwall, der später in die Göttinger Universitätsgeschichte als Vater der Statistik eingehen sollte. Pütter und Achenwall blieben zeitlebens eng verbunden: 1748 half Pütter, der kurz zuvor nach Göttingen berufen worden war, seinem Freund, ebenfalls an der Georgia Augusta Fuß zu fassen. 1750 erschien das gemeinsam verfasste Lehrbuch »Elementa iuris naturae« (Staatsrecht und Bürgerliches Recht stammten von Pütter, philosophische Grundlagen, Natur- und Völkerrecht von Achenwall), und von 1753 bis 1764 lebten beide gemeinsam unter einem Dach in der Goetheallee 13 (dort sind heute zwei Gedenktafeln angebracht). Als Estor 1742 einen Ruf nach Marburg erhielt, folgte ihm Pütter und betreute von nun an dessen umfangreiche Bibliothek. Das Verhältnis zwischen Pütter, der im Alter von sieben Jahren seinen Vater verloren hatte, und Estor (unverheiratet und kinderlos) war über das Schüler-Lehrer-Verhältnis hinaus geradezu familiär. Pütter nutzte die zweite Marburger Zeit, um Erfahrungen in der Praxis zu sammeln, vor allem aber zum Erwerb der Lehrbefugnis. Im April 1744 hielt der 18-Jährige seine erste Vorlesung über »Deutsche Reichsgeschichte«, und 1745 erschien in Estors Werk »Fortsetzung des gemeinen und Reichsprocesses« eine »Anleitung für angehende advocaten und anwälde« als eigene Abhandlung von Pütter. 1746 hatte Pütter die Wahl zwischen vier Stellenangeboten: Neben Offerten der Universitäten Tübingen und Marburg sowie dem Angebot einer Stelle als Regierungsrat in Sachsen-Meiningen bekundete der kurfürstliche Minister und Göttinger Kurator Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen sein Interesse, ihn für Göttingen zu gewinnen. Zu diesen Verhandlungen in Hannover reiste Pütter über Göttingen, das – wie er in seiner »Selbstbiographie« später bemerkte  – »schon sehr guten Eindruck auf mich gemacht [hatte], um hoffen zu können, daß ein dortiger Aufenthalt mir nicht zuwider seyn würde«. Neben einem ordentlichen Gehalt handelte der damals 20-jährige Pütter auch einen aus der Staatskasse zu finanzierenden mehrmonatigen Aufenthalt an den wichtigsten verfassungsrechtlichen Stätten, namentlich am Reichskammergericht

28  Eva Schumann in Wetzlar, am Reichstag in Regensburg sowie am Reichshofrat in Wien aus, »um dadurch das recht brauchbare vom Staatsrecht abzusehen, von vielen Sachen […] lebhafftere Begriffe zu erlangen, und überhaupt dadurch in den Stand gesetzt zu werden, daß man […] der studierenden Jugend ein brauchbares Staatsrecht, und […] die rechten Gründe des Reichsgerichtsprozesses beyzubringen«. Als Gegenleistung versprach er, »mit dem größten Vergnügen nach Göttingen« zu kommen »und dorten Lebenslang durch brauchbare Vorlesungen der Universität zu dienen«.2 Die Reisen nach Wetzlar, Regensburg und Wien, die Pütter wie vereinbart vor Antritt seiner Stelle in Göttingen unternahm, dauerten gut ein Jahr, wobei die Kosten die von Münchhausen zugesagten Mittel in Höhe von 500 Reichstaler um mehr als das Doppelte überstiegen (von den Zusatzkosten übernahm Münchhausen nochmals 240 Reichstaler). Allerdings dürfte Pütter auch der einzige Professor gewesen sein, der sich durch Eid verpflichtete, zeitlebens der Universität Göttingen treu zu bleiben. An diesen Eid hielt er sich trotz zahlreicher attraktiver Angebote und trug in Forschung und Lehre fast 60 Jahre lang zum Ruhm und Glanz der Göttinger Juristen­ fakultät, ja der gesamten Universität bei. Im Herbst 1747 begann der gerade 22-Jährige mit der Lehre an der Juristischen Fakultät, der damals sechs Ordinarien und mit Pütter drei außerordentliche Professoren angehörten. P ­ ütter verfasste von Anfang an zu allen seinen Vorlesungen Lehrbücher, die am Ende seines Lebens einen nicht unwesentlichen Teil des rund 850 Titel umfassenden Werkes ausmachen sollten. Eine der berühmtesten Schriften der ersten Jahre war sein 1748 erschienenes Lehrbuch zum deutschen Privatrecht, die »Elementa iuris Germanici privati hodierni, in usum auditorium«. Obwohl Pütter nicht aus eigenem Interesse, sondern eher zufällig über seine Lehrverpflichtung an dieses Rechtsgebiet geraten war, stellte er mit seinen »Elementa« wesentliche Weichen für diese junge Wissenschaftsdisziplin, die bis dahin noch keine überzeugende Methode zur Erfassung ihres Stoffes entwickelt hatte.3 In den 1750er Jahren bewältigte der 1753 zum Ordinarius ernannte und inzwischen frisch verheiratete Pütter  – die 1751

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mit Petronella Gertraud Stock geschlossene Ehe blieb kinderlos – ein ungeheures Arbeitspensum. Der Umfang seiner Vorlesungen betrug bis zu 30 Wochenstunden, und in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre produzierte er jährlich im Schnitt 40–50 Schriften und Privatgutachten. Zudem sollte er als Mitglied des Spruchkollegiums der Juristischen Fakultät im Laufe seines Lebens mehr als 540 Voten verfassen; seine zahlreichen Gutachten vor allem zu Materien des Staats- und Privatfürstenrechts wurden unter dem Titel »Auserlesene Rechtsfälle aus allen Theilen der in Teutschland üblichen Rechtsgelehrsamkeit in Deductionen, rechtlichen Bedenken, Relationen und Ur­ theilen theils in der Göttingischen Juristen-Facultät, theils in eigenem Namen ausgearbeitet« in mehreren Bänden 1760–1809 publiziert. Reichsweite Berühmtheit erlangte Pütter aber mit seinen Vorlesungen zum »Ius Publicum« und zur Reichsgeschichte – beide Vorlesungen hielt er jeweils rund sechzig Mal im Laufe seines Lebens –, vor allem aber mit seinen juristischen »Practica«, die er insgesamt über hundert Mal anbot: Unter dem Vorlesungstitel »Anleitung zur juristischen Praxis« bzw. »Practicum iuris« ließ Pütter seit 1752 seine Studenten jedes­ Semester praktische Fälle aus allen Gebieten des Rechts anhand von Akten bearbeiten. Diese neue Unterrichtsform sollte sich als ›Mos Goettingensis‹ bzw. ›Göttinger Stil‹ im Laufe der Zeit überall durchsetzen. Dass die Georgia Augusta in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als »die epochemachende Universität« galt,4 lag nicht zuletzt an Pütter, dem damals bedeutendsten Reichspublizisten. Sein Name und Ruf machten Göttingen zum Anziehungspunkt für Studenten nicht nur aus allen Teilen des Reiches. Auch Benjamin Franklin, später Mitautor der amerikanischen Verfassung, reiste im Sommer 1766 nach Göttingen, um sich bei Pütter über die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches als mögliches Modell für eine Vereinigung der amerikanischen Kolonien unterrichten zu lassen.5 Die Universität, die aufgrund der von Münchhausen konzipierten Ausrichtung in den ersten hundert Jahren ohnehin von Juristen geprägt war – durchschnittlich studierten mehr als

30  Eva Schumann die Hälfte aller Göttinger Studenten Jura  –, wurde dank Pütter in den 1770er Jahren geradezu von Jurastudenten überschwemmt: 1774 lag deren Anteil bei ca. 560 von insgesamt rund 900 Studenten. Seine Vorlesungen hatten zeitweise mehr als 200 Hörer und erreichten damit fast ein Viertel aller Göttinger Studenten. Für einen Juristen, der eine Karriere im Staatsdienst plante, war es in dieser Zeit ein Muss, bei Pütter in Göttingen studiert zu haben. Angesichts von rund 6000 Studenten, die in sechzig Jahren bei Pütter studierten, hatte dieser »fast ein Monopol auf die höhere Juristenausbildung im letzten halben Jahrhundert des Alten Reiches«; die von ihm geprägte »administrative und juristische Elite Deutschlands um 1806« bezeichnet man sogar als »Generation Pütter«.6 Selbst der Staatsrechtler und Politiker Robert von Mohl, der über Pütter insgesamt ein vernichtendes Urteil fällte, würdigte dessen Lehrerfolge: »[…] wer an den Glanz Göttingens denkt, erinnert sich Pütter’s vor den meisten seiner Genossen. […] Während zweier Generationen sassen Deutschlands beste Söhne zu seinen Füssen; und kaum war eine bedeutende Stelle, welche nicht einer seiner Schüler eingenommen hätte.«7 Zu diesen »besten Söhnen« gehörte aus dem Adel alles, was Rang und Namen hatte, etwa die preußischen Reformer Karl Freiherr vom Stein und Karl August Fürst von Hardenberg sowie der spätere König Ernst August I. von Hannover. Auf Wunsch von dessen Mutter, Königin Sophie Charlotte von England, beschrieb Pütter die »Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches«; das dreibändige Werk erschien erstmals 1786. Der engen Bindung zum Haus Hannover war es zudem zu verdanken, dass Pütter in den Jahren 1764 und 1790 als Rechtsexperte des Kurfürsten von Hannover zu den Kaiserwahlen nach Frankfurt geschickt wurde. Seine Beziehungen zum Hochadel führten auch zu einer Begegnung mit Friedrich dem Großen am Hof in Gotha, wo P ­ ütter 1762/1763 den Prinzen von Sachsen-Gotha-Altenburg Privatunterricht erteilte. Zum Schülerkreis Pütters gehörten aber keineswegs nur Juristen, sondern auch die Dichter Ludwig Hölty und Gottfried August Bürger, der Philosoph Friedrich Ludewig Bouterweck,

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der Mathematiker Johann Heinrich Lambert, der Leipziger Buchhändler Johann Friedrich Weygand und der Universalgelehrte Wilhelm von Humboldt sowie die Historiker Ludwig Timotheus Spittler, Matthias Christian Sprengel und Johann Georg August Galletti. Selbst Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe kannten und schätzten Pütters Werke.8­ Goethe rühmte dessen Stil in »Dichtung und Wahrheit« als geradezu vorbildhaft – im Gegensatz zu dem sonst vorherrschenden »abstrusen Styl« der »Rechtsgelehrten«, der sich überall »auf die barockste Weise« erhalten habe.9 Als man später begann, Pütter mit dem zweiten bedeutenden Staatsrechtslehrer des 18.  Jahrhunderts, dem streitbaren Württemberger Johann Jacob Moser, zu vergleichen, war das Urteil über Pütter als einen unpolitischen Gelehrten ohne »Gesinnung« schnell gefällt (so Robert von Mohl). Tatsächlich bestand Pütters wissenschaftliches Selbstverständnis darin, jedes Rechtsgebiet, sei es noch so gewaltig oder auch ganz neu, sei es von staatstragender Bedeutung oder eher ein Randgebiet, anhand rationaler Prinzipien zu durchdringen und zu systema­ tisieren, wobei er streng logisch vorging und politischen Einflüssen oder ideologischen Strömungen weitgehend widerstand. Dieser Ansatz und der Wille, diesen auf jeden Rechtsstoff, ja auf das gesamte Recht anzuwenden, wirkten sich auf zahl­ reichen Gebieten ungemein befruchtend aus und hinterließen bleibende Spuren: Pütter gab einzelnen Wissenschaftsdisziplinen neue Richtun­ gen, so etwa dem deutschen Privatrecht, er formte neue Fächer wie etwa das Privatfürstenrecht, er legte mit der Erfindung des »geistigen Eigentums« in seinem Werk »Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft« von 1774 den Grundstock für die weitere Entwicklung des Urheberrechts, er ordnete gewaltige Stoffmassen wie die Verfassung des Alten Reiches bis ins kleinste Detail und er stellte mit seinem »Entwurf einer juristischen Encyclopädie und Methodologie« (so der Titel der zweiten Auflage von 1767) die Weichen für die Ausbildung einer neuen juristischen Systematik für das gesamte Recht. Da Ruhm und Glanz seines Werks jedoch vor allem mit der Zuschreibung der Position des bedeutendsten Reichs­

32  Eva Schumann publizisten des 18.  Jahrhunderts verbunden waren, hat man lange Zeit den Untergang des Alten Reiches auch als tragisches Ende des Pütter’schen Lebenswerkes empfunden. Daher hat es auch etwas gedauert, bis man Pütter (wieder) zu den »Klassikern unserer Rechtskultur« zählte. Heute blickt Pütter vom Alten Auditorium, in dem bis 1960 auch die Juristen untergebracht waren, zusammen mit G ­ ustav Hugo, seinem bedeutendsten Göttinger Schüler, und sieben weiteren berühmten Gelehrten der Georgia Augusta auf das studentische Treiben in der Weender Landstraße herab. Vermutlich hätte es ihn gefreut, dass in diesem Gebäude nun die Rechtsgeschichte wieder ihre Wirkstätte gefunden hat. Anmerkungen 1 H. 138. S. 1369.

2 Promemoria Pütters vom 1. und 2. Juni 1746, Personalakte UAG , abgedruckt bei Ebel, S. 17–19. 3 Dazu Schumann, Eva: Auf der Suche nach einem deutschen Privatrecht. Göttinger Beiträge zur Ausbildung einer neuen Wissenschaft. In: Wendepunkte der Rechtswissenschaft. Aspekte des Rechts in der Moderne. Hrsg. von Werner Heun und Frank Schorkopf. Göttingen 2014. S. 34–82 (S. 39 ff.). 4 Hammerstein, Notker: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1972. S. 309. 5 Overhoff, Jürgen: Benjamin Franklin. Student of the Holy Roman Empire. His Summer Journey to Germany in 1766 and His Interest in the Empire’s Federal Constitution. In: German Studies Review. Jg. 34. 2011. H. 2. S. 277–286 (insb. S. 281 ff). 6 Burgdorf, Wolfgang: Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806. München 2006. S. 13 f. 7 Mohl, Robert von: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften in Monographien dargestellt. Bd. 2. Erlangen 1856. S. 426, 429. 8 Hien, Markus: Altes Reich und neue Dichtung. Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830. Berlin 2015. S. 192 ff. (zu Goethe), S. 263 f. (zu Schiller). 9 Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Dieter Sprengel. München 1985. (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 16). S. 300 f.

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Literatur Pütter, Johann Stephan: Selbstbiographie. Zur dankbaren Jubelfeier seiner 50jährigen Professorenstelle zu Göttingen. 2 Bde. Göttingen 1798. Neudruck: Hildesheim 2012. Ebel, Wilhelm: Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn. Göttingen 1975 [Schriftenverzeichnis S. 123–185]. Link, Christoph: Johann Stephan Pütter (1725–1807). Staatsrecht am Ende des alten Reiches. In: Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren. Hrsg. von Fritz Loos. Göttingen 1987. S. 75–99. Kleinheyer, Gerhard: Johann Stephan Pütter. In: Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Hrsg. von Gerhard Kleinheyer und Jan Schröder. 5. Aufl. Heidelberg 2008. S. 345–349, besonders S. 348 f. [mit weiteren Nachweisen zur Sekundärliteratur].

Georg Christoph Lichtenberg Ein Zwerg als Denk-Riese von Tete Böttger

Es war einmal, als landesväterliche Fürsten zwei jungen genialen Untertanen, erst Lichtenberg, dann Gauß, das Studium an Göttingens blutjunger Universität zahlten! Dankbar blieben gleich beide ihrer Alma Mater bis zur Professur erhalten, in Wissensglanz verpflichtend ausstrahlende Leuchttürme durch Jahrhunderte. Lichtenbergs physikalisches Eigenwilligkeits-System, in akademischer Hell-Sichtigkeit gleich gänzlich an der Universität zu bleiben, wiederholte sich bis in unsere Tage: Entdecktes Denken muss nicht mit seinem Denker weltweit wallfahren, es zieht wie ein Magnetberg gleich Nachsinnende an sich. Göttingens Physik zog dann im 20. Jahrhundert alle Atom-Zerlegungs-Wüteriche an, wo sich Ruhm weiterentwickelte aus anhaltender folgenschwerster universitärer Denkunruhe. Lichtenberg war der Erste, der ab 1766 als Student, ab 1770 als Professor dieser ungezügelten neuen Universität wissenschaftlich weiterwirkende Kraft des ›Für-immer-Entdeckten‹ ver­leihen sollte. Denn die von ihm in der Elektrizität eingeführten Zeichen + und – stellen bis heute die Denkgrundlage aller Lebens-Strom-Welten dar. Daneben feiert ein jedes auf der Welt fotokopierte Blatt, das aus den »Lichtenberg’schen Figuren« technisch entwickelt wurde, still seinen damals unnützen Forschungserfolg. Seiner Entdeckung der elektrischen Aufladbarkeit von Papier verdankt alle Welt ihre papierene Aufblasbarkeit. 1742 wurde Georg Christoph Lichtenberg in Ober-Ramstadt als nahezu todkrankes 17. und letztes Kind eines Pfarrers geboren, mit Rückgratverkrümmung zum Zwerg heranwachsend. Er überlebte, brachte es zum Ende des Äons wissenschaftlich

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zu weltweisem Ruhm, und sein Name steht heute obendrein einzigartig für ein erstaunliches Wiederauferstehungs-Phänomen in der Wissenschaftsgeschichte. Seine Weltwirkung beginnt Lichtenberg als Physikprofessor, um einzuwirken bis in unsere Zeit als mächtiger zu Literatur Verwandelter, Satire­ vergnügter, Immerdenker, wie ihn sein Bewunderer Horst Janssen im Zeichnen preist. Die gelehrte wissbegierige zeitgenössische Welt, Goethe, Italiens Volta, der USA-Mitgründer Benjamin Franklin, veritable britische Prinzen, die er überdies sogar zu erziehen hatte, suchte ihn zu allen Lebzeiten auf. Der König von England, sein Dienstherr, rief ihn oft zu sich nach London. Seine zauberhaft mit tollen Experimenten gespickten heiteren Vorlesungen zogen seine Göttinger Studenten in bis dahin nicht erlebten wissenschaftlichen Bann. Aus dem Gefühl tiefer akademischer Verwaistheit folgten darum nach seinem Ableben im Jahr 1799 fast alle Inscribierten der Univer-

36  Tete Böttger sität seinem Sarg dorthin, wo der Geistestitan heut ruht, auf den Bartholomäusfriedhof an der Weender Landstraße. Um 1900 war alles, was Lichtenberg zu Lebenszeiten ver­ öffentlicht hatte, gerade dabei, gelind zu verblassen, als hundert Jahre nach seinem Tod seine gesamten Aphorismen publiziert wurden und so ein lange verborgener Kosmos des Andenkens wiederentdeckt werden konnte. Diese mühevolle Edition kam zustande aus seinen von der Familie zurückgehaltenen Tag /  Nacht-Notizbüchern – einzelne Bändchen hatten die Erben gar, verstört von seinen Einfällen oder Weltsichten, verbrannt! Entziffert wurden Tinten-Orkane der winzigen Schrift seiner »Sudelbücher«, in denen er sich möglichst alles ihm Wissensnötige notierte: wilde akademische wie auch sonstige beiläufige Gedankenblitze, Tagestaten, Erotikeruptionen, anarchische Selbstbefragungen, Versuche des Aberglaubens. Nicht ohne begriffene Abgründigkeit durch seine Gefährdung beschreibt er sich darin deshalb in Selbsterkenntnis als ein in der Uni­ versitätsstadt Göttingen »auf Scheiterhaufen Lebender«. Bürger allerdings wurde er als Haus- und Grundstückloser nie, sondern blieb fein getrennt Bürger der Universität. Aus seinem Nachlass beginnt also der Zeitgeist begeistert heftig wie lustig sich zu bedienen, wie aus einer Gedankengoldmine. Nietzsche, Freud (besonders und verschwiegen), Tucholsky, Karl Kraus, Gott weiß wer, alle Umrüttler des Denkens finden sich ein, um die Wonnen seiner Einfälle auch ihrem Denken zu gönnen und offen oder versteckt sein Niveau sich zu instrumentalisieren, bis hin zur aufwertenden Etikettierung eigener kurzgedachter Kuckucksgedanken durch seinen Namen, et vice versa durch Nutzen in Fremdfedrigkeit mit seinem Denkvorgaukeln. Goethe heute zu zitieren soll verpflichten, was man zu denken hat, Lichtenbergs Zitate dagegen zeigen brauchbar auf, was man denken könnte. Goethe wird immer wortwörtlich und peinlich genau zitiert  – Lichtenbergs Aphorismen meist im Ungefähren, stets jedoch ihren Gedanken und ihre abgründige Offenheit rettend. Wenn er guillotinemesserscharf während des Blutrauschs der Französischen Revolution heimlich notierte »Dann gnade

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Gott denen von Gottes Gnaden«, hätte diese zornige Zeile ihn landesväterlicherseits mehr als die professorale Perücke kosten können, zumindest Vertreibung, wie es den später geborenen Göttinger Sieben geschah. Lichtenberg mischt sich stets mit seinen Gedanken in Gott weiß welches Zukünftiges ein. »Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung« leuchtet just wieder bös untergründig im Zickzack Geschichtspfad seltsamer Cuba-USA-Entspannung blutrot auf. Damit ist auch schon die dritte, noch 100 Jahre spätere Wiederauferstehung des erleuchteten »Für-immer-Denkers« erreicht, wie Horst Janssen fand, als er ihn auf meine Bitte hin für sich nochmals wiederentdeckte. Janssen zeichnete ihn aus, nach eigener Art, linienlang, über Jahre, dokumentiert in etlichen edel verspielten Büchern. Der Immerzeichner Janssen beendete sein Zeichnerleben mit einem Gedanken an einen Lichtenberg-Aphorismus: »Man will wissen, dass im ganzen Lande noch niemand vor Freude gestorben ist. Ausnahme ich – mehrmals.« Aller Technologiefrische der Nachwelt gewachsen, erfüllt unser Lichtenberg quicklebendig spielend die Vorgaben derzeitig mageren Denk-Keulenschwingens: Er bereits gab dem­ Twittern die Form vor! Der Gedanke wird dabei eingesperrt mit so wenig Buchstaben wie möglich, aus denen er dann im Kopf des ihn vielleicht Begreifenden ausbrechen soll. Noblerweise bestaunte Grass ihn für seine Größe im Kleinen. Der Auch-Bildhauer Grass, Göttinger Nachkriegs-Abiturient, gab hiesigem Lichtenberg-Marktdenkmal in einem späten Buch seitenlang die Ehre, sogar durch sein nahezu letztes Gedicht: Juckt er euch wieder, der Buckel? Ihn mit Schlägen zu salben, einreiben mit Pfeffer und Salz. Sich einen Buckel lachen, auf dem sich rutschen läßt, bergab. […] Und aus Lichtenbergs Buckel, sagte Tete Böttger, der es wissen muss, könne man Funken schlagen, auf daß uns die Tranfunzel Vernunft brenne und brenne.1

38  Tete Böttger Grass ist in »Grimms Wörter« Lichtenberg-Lobes voll und hingerissen baff über diesen geläuterten Umguss zur Vergöttlichung: 200 Jahre (!) nach Lichtenbergs Tod wurde seine Statue, gegossen aus albanischem Politschrott, endlich auf Göttingens Markt aufgestellt. Lebensklug wie lebensklein, polizeibeaufsichtigt. Jeder auf ihn Neugierige beugt sich herab zu seinem Namen; er wird karessiert wie ein Heiliger, wunschberührt, wie es ihm gebührt. Er steht mit der Weltkugel + und – in der Hand, staunend in Richtung Gänseliesel. Im Vorhof-Bereich der Paulinerkirchen-Bibliothek sitzt er dann noch mal. Auch 200 Jahre zu spät für notwendig erachtet worden, Lichtenberg dort zu ehren, wo er nun denkt, doppelgängerisch, wie es seine von ihm angedachte Autobiographie »Der doppelte Prinz« vorwegnahm. Buchbewehrt, als ein gegossener Bronze-Wiedergänger seiner Gedanken, versunken in eine der vielen Zukünfte, die zu bebrüten wären, ob sie denn nun bei ihm ordentlich kurz gefasst vorweg genommen seien. Eine symbolisch beiseitegelegte Schwarte zeigt das dem Heuti gen Unnötige. Zeitgeistig ließe seine leere linke Hand sich folgerichtig mit einem iPhone oder iPad füllen. Auch Göttingens Klassiker Robert Gernhardt entbot Lichtenberg einen 100-fältigen Zeichnungs-Kotau, zuerst erschienen in jener Zeitung mit dem klugen Kopf. Das Wiederauftauchen geht weiter mit der wandernden Ausstellung »Lichtenberg reloaded«, die aus emphatischer Freude des ›Auf-ihn-zu-Zeichnens‹ mannigfaltigster Satiriker leuchtet. Angemessen auch ist der einsichtige Denkteufelskerl wieder in unserer Forschungs-Gegenwart angekommen, wo bio­ physikalisch-chemisch in Göttingen sich um die Aufhellung molekularen Aufbaus von Bewusstsein denkerisch gekatzbalgt wird. Jedwelches Chaos soll durchschaut und geordnet werden, wozu dessen Dynamik wie auch das Vermögen, sich selbst zu organisieren, erforscht wird. Organisation war Lichtenbergs Lebens-Problem, um seine bemitleidenswerte Figur in ein über großes Wollen des Denkens wie das des Sich-Auslebens gesellschaftlich erfolgreich einzubringen. Liebe zum Licht fesselte ihn, die haarsträubend neuestens zur Verfügung stehende Elektrizität, Funken und Blitze besonders.

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Mit seinem Blitzableiter-Entwurf wäre er woanders gotteslästerlicher Himmelszähmung schon lebensgefährlich nahe geraten. Gottlob war wenigstens der Theologiefakultät an Göttingens Universität ihre sonstige Dominanz versagt, erstmalig in akademischen weltumfassenden Gefilden. Die Nachwelt ist durch Nachschriften der Vorlesungen Lichtenbergs, die dessen Schüler Gottlieb Gamauf angefertigt hat, darüber informiert, es sei dem Physiker durch wissenschaftliche blitzneue Kondensator-Entladung gelungen, den nachmaligen König Hannovers, Ernst August, vor ihm auf die Knie zu hexen. Denn den studierenden Prinzen durchfuhr ein umwerfender Stromschlag, als er auf seinen neugierigen Wunsch hin zum Teil eines Entladungs-Stromkreises und damit in eine unziemliche Anbeterhaltung geworfen wurde. Wie wir alle freiwillig jetzt. Lichtenberg als Vorbild gibt unserer Zeit streng vor, wie Gedanken zu gestalten sind, damit sie heftig Sinn machen innerhalb einer minimal gestatteten Buchstabenmenge. Gedanken müssen wie eine Art Gedanken-Virus vitale Kraft in sich tragen, um im Denken grandios von sich selbst ausgehend auszuufern. Lichtenbergs Gedanken werden getragen durch die Verführung, sie wieder und wieder nach-denkend aufs Neue zu mögen – das Aufleuchten von Erkenntnis in ihrer hilfreichen Intensität belohnt jedes Stöbern in den »Aphorismen«. Lichtenberg verführt zum Denken durch das Gelächter des Entdeckens. Das ist die größte Belohnung, die der Mensch erfährt, um sich damit über das Animalische zu erheben – ein bisschen ist es auch ein ertapptes Lächeln, diesen Gedanken nicht selbst geschafft zu haben. »Ihr werdet sein wie Gott, wissen was Gut und Böse«, was mithin also + und – ist. Jeder mag alles seinen Followern besserwisserisch daumensenkend zutwittern. Bloß, was gibt’s denn an wirklich Neuem? Genau darin tröstet für alle Zeit Lichtenberg alle Denkenden: »Hast du selbst gedacht, so wird deine Erfindung einer schon erfundenen Sache gewiss allemal das Zeichen des Eigentümlichen an sich tragen.« In diesen Worten liegt das Versprechen minimaler Denk-Rettung. Auch allen ertappten Plagia-Toren/-innen gewährt dieser Aphorismus Lichten­bergs

40  Tete Böttger letzten Glanz als akademischer Abschiedstrost auf ihr Nichts, ein Kleinbisschen werden sogar sie nachgedacht haben müssen. Vom Befall der Welt mit der heutigen Denkschwemme des Twitterns hat Lichtenberg eine Teil-Ursache voraus geahnt; ihm fiel auf: »Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen.« Seiner ersten  – in heutigen Begriffen schlimm minderjährigen  – Geliebten Stechard brachte er als Professor bei, seine physikalischen Geräte zu verstehen und diese zu warten. Als sie ihm bald wegstarb, betrauerte er sie im sanftest herzzerreißendsten aller Trauerbriefe deutscher Briefgeschichte. Im 18.  Jahrhundert, als jedermanns Lebenserwartung böse kurz war, konnte bereits nach der Konfirmation geheiratet werden. Seine zweite Gefährtin, bereits sehr mit Kindern von ihm gesegnet, wurde endlich doch echte Gemahlin; sie war bei Beginn der Beziehung ebenso altersunmöglich. Der Tochter des Kollegen Schlözer half er zu promovieren, eine Singularität für ein Mädchen zu seiner Zeit der Aufklärung und ein Zeichen seines gerechten Denkens in den Wissenschaften, die eine akademische Duldung von Frauen erst in der Zeit seines Nachfolgers Hilbert aufzubringen vermochte. Wie arg es damals stand, als alle entfesselte Wissenschaft ihre Grenzen im noch nichtaufgeklärten Unwissen zugleich zagend ahnte, zeigt seine Bemerkung »Aus einer Menge unordentlichen S­ trichen bildet man sich leicht eine Landschaft, aus unordentlichen Tönen keine Musik«. Das ist das Erkenntnisproblem. ›Aufklärung‹ – heutzutage ist sie höchst intensiv allpräsent, allerdings zu einem Militär- und Geheimdienst-Begriff verkommen. Als seine Aphorismen ins Chinesische übersetzt werden sollten, nachdem in Taipeh in Janssens Zeichnungen erstmalig seine Gedanken der erdballhäufigsten Sprache ihre Aufwartung machten, ließ Lichtenberg seine Verwirrungs-Macht spielen: »Messer ohne Griff, woran die Klinge fehlt« – diese Beschreibung des Null-Nichts wollte und wollte nicht in die andere Sprache wechseln. Das ähnelte dem Verlust mathematischen Denkens anlässlich des Durchgangs einer Kurve durch den Nullpunkt ins Negative. Das Lichtenberg-Kolleg in der Sternwarte seines NachfolgeGenies Gauß wie auch die jährlich stattfindenden Lichtenberg-

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Poetikvorlesungen bilden schmuckvolle Möglichkeiten zu fröhlicher Reinkarnation seines blitzgescheiten Denkens. »Die letzte Hand an sein Werk legen, das heißt verbrennen.« Gottseidank bei Lichtenberg nicht alles. Anmerkung 1 Grass, Günter: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Göttingen 2010. S. 70. © Steidl Verlag, Göttingen 2010.

»Hurrah! Die Toten reiten schnell« Gottfried August Bürger, der ›Condor‹ des Göttinger Hains von Ulrich Joost

Dem Historiker ist es durchaus erlaubt, hypothetische Fragen zu stellen wie: Was wäre geschehen, wenn …? Was hätte etwa aus der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts werden können, wenn nicht Friedrich Schiller das poetische Konzept eines damals in ganz Deutschland überaus geschätzten Dichters mit einer einzigen scharfen Anzeige in der jenaischen »Allgemeinen Litteratur-Zeitung« vom 15. Januar 1791 in Grund und Boden rezensiert hätte? Wenn Schiller stattdessen genau dieses Konzept, dem er selber in seiner Jugend angehangen hatte, sich zu eigen gemacht haben würde? Nicht schwer zu beantworten: Eine noch radikalere Romantik hätte fast ein Jahrzehnt früher eingesetzt und ein Jahrhundert früher alsbald naturalistische Züge angenommen, aber aus der ganzen Drastik einer volkstümlichen Sprache. So aber zerbrach eine große Dichterpersönlichkeit an jener Kritik, die eine andere anthropologische Idee reiner­ Ästhetik zum Ideal erhob, Schiller verband sich mit Goethe, und ein halbes Jahrhundert über deren Tod hinaus bestimmte kantischer Idealismus die ästhetischen Wunschvorstellungen des deutschen Publikums und seiner Dichter. Es ist dann fast ein Glück zu nennen, dass der Dichter Gottfried August Bürger wenige Jahre nach diesem Überschreiten des eigenen Zenits allzu früh starb, bevor er nämlich ein weiteres Mal sein lyrisches Werk hätte überarbeitet herausbringen und so wohl gar noch als ein mediokrer Epigone Schillers in die Geschichte der deutschen Lyrik eingehen mögen. Aber die Behandlung Bürgers durch die deutsche Philologie wurde so zu einer himmelschreiend dilettantischen Geschichte der Versäumnisse, Nachlässigkeiten und Nichtachtungen – bis heute.

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Immerhin bleiben vier Dinge, die seinen Namen in den ewigen Gedenkstein seiner Wahlheimat eingegraben haben: erstens ein mittlerweile zum Volks- und Kinderbuch gewordenes, in seiner Berühmtheit bereits anonymisiertes Meisterstück, der »Münchhausen«. Zweitens sein kleinepisches Wiedergänger-Gedicht »Lenore« – unser Titel ist ihm entnommen –, mit der er die Ballade als Kunstform wiederbelebte und seine Freunde im ›Hainbund‹ (dem er, der selbsternannte ›Condor‹, nur assoziiert war). Drittens die Erneuerung des im 18. Jahrhundert aus der Mode gekommenen Sonetts durch seine Gedichte an die geliebte Molly, gewissermaßen seine Laura. Dazu kommt eine nachgerade romanhafte Lebensgeschichte, die bei Literaturinteres­ sierten heute – darf man sagen: leider? – mehr noch im Fokus des Interesses steht als sein herausragendes lyrisches Werk. In Molmerswende in der Grafschaft Falkenstein ist dieser »Weltüberwinder von Leichtsinns Gnaden« (einen Ausdruck seines Bewunderers Wilhelm Raabe zu bemühen) in der Alt-

44  Ulrich Joost jahrsnacht 1747 geboren. Bürger freilich gab sich immer einen Tag jünger aus: Am Beginn eines neuen Jahres, des Neuen schlechthin wollte er sich sehen. Das wurde dem aufgeweckten Kind nicht leicht gemacht. Von seinem notorisch trägen Vater hätte er keine geistige Förderung erhalten können, selbst wenn der gewollt hätte, und noch weniger eine materielle. Von der zwar wohl begabteren, aber zänkischen und illiteraten Mutter hatte er erst recht nichts zu gewärtigen. So befriedigte der Knabe seine Einbildungskraft offenbar in der wilden Natur des Nordharzes, seinen Wissens­ hunger durch die Lektüre von Bibel und Gesangbuch. So sollten das elterliche Pfarrhaus und danach die streng pietistische Schulausbildung im Niemeyer’schen Pädagogium zu Halle noch sprachprägend und stilbildend auf seine Dichtung wirken. Theologe hatte Bürger ursprünglich werden sollen, nach dem Wunsch seines vermögenden Großvaters Bauer, der für seine schulische und akademische Ausbildung Sorge trug. Bürger verlegte sich jedoch seit seinen allzu früh begonnenen Studien in Halle auf die ›schönen Künste‹, die schon damals brotlose waren. Er geriet dabei alsbald unter Einfluss und Protek­tion des hochbegabten, von Lichtenberg sehr geschätzten, von Lessing gegeißelten Literaturprofessors Christian Adolf Klotz, der nicht nur das offensichtliche Talent des Jüngeren förderte. Bürger schrieb ihm lateinische Briefe und titulierte ihn darin als »meinen Sokrates«, »meinen Platon«. Der Großvater sah ein, dass es mit der Theologie nichts werden würde, und ließ ihn 1767/1768 nach Göttingen und zur Rechtsgelehrsamkeit über­ wech­seln, damit der Enkel nach sechs vergeudeten Semestern – so lange dauerte damals ein volles ›Brotstudium‹  – wenigstens irgendeins absolviere. Als Bürger dann weiter nur der Dichtkunst und einem fröhlichen Studentenleben frönte, zahlte Großvater Bauer nicht länger und zwang Bürger damit, seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsdichtung und (mutmaßlich) Korrekturlesen beim Buchdrucker zu verdienen. Dabei ist der angehende Jurist keineswegs völlig verbummelt gewesen. Seine ungewöhnlich zahlreichen Entleihungen von der Göttinger Universitätsbibliothek demonstrieren Fleiß; seine späteren juristischen Arbeiten zeigen Sachverstand, Gründ-

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lichkeit und Gewissenhaftigkeit. 1772 erhielt Bürger  – durch Vermittlung des Freundes Heinrich Christian Boie in Göttingen, auch er ein schriftstellernder Jurist, und des väterlichen Dichtermentors Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt – nach einem juristischen Wettstreit die Amtmann­stelle am ­Uslar’schen Patrimonialgericht Altengleichen im Gartetal nahe bei Göttingen. Das war ein mittelgroßer Bezirk mit einem sogenannten geschlossenen Gericht in territorialer Gemengelage, mit hessisch-rotenburgischen, kurmainzischen und landesherrlich-kurbraunschweigischen Einsprengseln sowie den entsprechend komplizierten Rechtsverhältnissen. Die von Bürger zu entscheidenden Rechtshändel betrafen allerdings meist langweiligen Alltagskram wie die Erneuerung der ›Lehnsbriefe‹ (Pachtverträge), Verwaltungskram und Polizeigewalt. Nur selten konnte er einmal sein Können beweisen wie bei der Untersuchung der Kindsmords-Causa Erdmann, die ein Göttinger Jurist später in eine Sammlung von Musterfällen aufnahm. Bürgers besonnene Vernehmung der Delinquentin rettete ihr wahrscheinlich das Leben: Zu einer Zeit, da bei einem solchen Delikt ein Todesurteil noch fast sicher war, wurde sie ›nur‹ mit lebenslänglichem Arbeitshaus bestraft und nach zwei Jahrzehnten verbüßter Haft endlich begnadigt. Ein Familienmitglied v. ­Uslar, der Senior einer der ihm weisungsbefugten beiden Hauptlinien zudem und befehlsgewohnter Militär, zugleich aber von fleckenloser juristischer Ignoranz, erwies sich als obstinater Gegner, der ihm wo immer möglich Steine in den Weg legte. Es lässt sich denken, wie weit unter diesen Voraussetzungen ein solcher Brotberuf von Bürgers poetischen Idealen entfernt lag. Bei genauer Abwägung seiner übrigens unterbezahlten Amtsführung darf klargestellt werden, dass Bürger vielleicht manchen Vorwurf der Unpünktlichkeit hinzunehmen hat, dass jedoch von einer unordentlichen, faulen oder sogar korrupten Amtsführung überhaupt keine Rede sein kann. Im Gegenteil, Bürger verstand sein Fach. Als hätte er nicht genug berufliche Schwierigkeiten gehabt, suchte Bürger auch in den eigenen vier Wänden noch welche. 1774 hatte er sich mit Dorothea Marianne Leonhart verheiratet, der 18-jährigen Tochter des Amtmanns auf dem benachbarten

46  Ulrich Joost Vorwerk Niedeck. Dorette, wie sie gerufen wurde, muss eine liebenswürdige, bescheidene und ihren Briefen zufolge auch keineswegs dumme Person gewesen sein. Ihret­wegen schlug Bürger, der ihr in aufrichtiger Zuneigung zugetan war, die Aussicht auf eine gewiss angenehmere Amtmannstelle in seiner Heimat aus. Ein doppeltes Verhängnis störte aber bald dieses Familien­ idyll: Der Brautvater Leonhart starb allzu früh 1777 und hinterließ dem Schwiegersohn die Verantwortung für seine zum Teil noch unmündigen Kinder. Als viel schlimmer erwies sich, dass Bürger sich gleich im ersten Ehejahr in Niedeck sterblich in Augusta verliebte, Dorettes damals gerade 16-jährige Schwester  – die Molly der späteren Liebes-­Sonette. Nach Leonharts Tod kam sie, die im Unterschied zu Dorette künstlerisch talentiert und ungemein temperamentvoll war, in die gemeinsame Wohnung, und eine erschütternde Verwirrung der Gefühle begann. Es lässt sich wohl denken, welche Emotionen Goethe in jener Zeit wohl durch die Übersendung seiner »Stella« bei dem Sturm-und-Drang-Kollegen Bürger ausgelöst haben mag. »Wären weltliche Geseze nicht entgegen, ich glaube, es wäre längst die Geschichte des Grafen von Gleichen [mit einer päpstlich legalisierten Ehe zu dritt] wiederholt«, schrieb Bürger im Februar 1779 dem in ähnlicher Lage steckenden und daher ins Vertrauen gezogenen Dichter-Freund Leopold Friedrich Günther von ­Goeckingk. Zu dieser Zeit ertrug Dorette aber die Kränkung nicht länger und offenbarte der Verwandtschaft die Ménage à trois. Um die Mitte dieses Jahres gab August dem Drängen Dorettes jedoch nach und schickte ihre Konkurrentin 1779 zu ihrer Schwester Anna Elderhorst nach Bissendorf bei Hannover. Das intensivierte aber nur die verzehrende Liebe der beiden; Weihnachten besuchte er sie, im Frühjahr 1780 kehrte sie ins Gartetal zurück. Als dann Molly 1782 ein Kind von ihm­ erwartete und zur Vermeidung eines Skandals ein ganzes Jahr bei Bürgers Schwester Friederike Müllner in Weißenfels verbrachte, erneuerte die Trennung von der Geliebten die alte Zuneigung zu Dorette noch einmal. Doch gab deren Tod 1784 – sie hatte sich bei der Pflege ihres Bruders an Tuberkulose infiziert – den Weg frei für ein lang ersehntes Glück. Allzu kurz blieb es, denn Molly-Auguste starb zwei Jahre später im Kindbett.

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Mit einem anderen Neuanfang war das Leben mit der Liebsten zusammengefallen: Bürger hatte schon 1780 das Uslar’sche Untergut Appenrode gepachtet und dilettierte neben der nun vollends ungeliebten Amtmannstätigkeit in der Landwirtschaft, bemühte sich nebenher um Juristenstellen und versuchte schließlich im Sommer 1784, in Göttingen als akademischer Lehrer sein Auskommen zu finden, wozu ihm Goethe schon früh geraten und der Freund Lichtenberg ihn ermutigt hatte. Es war dies vielleicht die erste richtige Entscheidung in seinem Leben, denn diesen Beruf verstand Bürger, und er befriedigte ihn zugleich. Es liegen uns begeisterte Zeugnisse über diese Vorlesungen für einen nur kleinen Hörerkreis vor, und sein Hörsaal muss bei einem solchen Meister szenischen Darstellens und rhythmischer Sprache  – ein Vermögen, das uns sogar seine Briefe demonstrieren –, ein lehr- und genussreiches Theater gewesen sein. Er hielt Vorlesungen über Ästhetik und Poetik sowie als einer der Ersten in Deutschland über kantische Philosophie – und das in der Hochburg der Kant-Gegner, Göttingen! Diese Vorlesungen waren nicht immer originell, zum Teil aus handlichen Kompendien zusammengeschrieben, aber immer gut gegliedert, klug durchdacht und wirkungsvoll vorgetragen, vor allem höchst aufschlussreich für den poetologischen und ästhetischen Standort dieses Lyrikers. Literarisch fällt in diese Zeit intensiver Prosa- und theoretischer Schriften Bürgers und einer Serie von Gedichten an Molly, zu ihrem Andenken verfasst, noch das zweite Werk neben der »Lenore«, das ihn unsterblich machen sollte: der »Münchhausen«. Der war zunächst lediglich ein Freundschaftsdienst für den Verlagsbuchhändler Johann Christian Dieterich, eine anonyme Übersetzung aus dem gleichfalls ohne Verfasserangabe gedruckten und durchaus schwächeren englischen Original. Wie alles, was Bürger nachbildend anpackte, machte er sich­ diesen Stoff ganz zu eigen, erweiterte ihn und zeigte daran erstaunliches Fabuliertalent und seine Neigung zu ironisch gebrochenem Bramarbasieren. Materiell war seine Lage in Göttingen gleichwohl alles andere als günstig. Zuerst als Privatdozent, dann als Titular­

48  Ulrich Joost professor, lebte er doch volle zehn Jahre ohne feste Grundbesoldung, hatte nur die fünf Taler pro Semester und Kolleg, die ihm seine studentischen Hörer zahlten, verzehrte Erbschaft und Mitgift – aber wie immer auf einem ein bisschen zu großen Fuß. Immerhin garantierte ihm die Herausgabe des Göttinger Musenalmanachs für seinen Verleger und Hauswirt Dieterich den Mietzins, und die beiden Gesamtausgaben seiner Gedichte von 1778 und 1789 spülten ebenfalls etwas Geld in seine Kasse. Eine letzte Dummheit des gebeutelten, so leicht entflammenden wie entflammbaren Liebhabers Bürger, der alles Böse nur immer sich selbst zufügte, bleibt noch nachzutragen; Bedeutung hatte sie nur in ihrer Publizität. 1789 verliebte er sich auf ein anonymes Huldigungsgedicht hin in die 21-jährige Schwäbin Elise Hahn, heiratete die damals gerade halb so alte junge Frau im Jahr darauf überstürzt und in einer Mischung aus Abenteuerlust, nicht ertragener Einsamkeit und geschmeichelter Männlichkeit. Es kam, wie es kommen musste: Elise dachte gar nicht daran, dem ausgebrannten alternden Ehemann ihre Jugend zu opfern. Als der Hahnrei sich zum Gespött der Stadt gemacht sah, Elises Haushaltsführung ihn überdies zu ruinieren drohte, ließ er sich im März 1792 scheiden. Sein in der Handschrift 70 Seiten langer Rechtfertigungsbrief an die Schwiegermutter, den der gewiefte Jurist Bürger jedenfalls geschrieben hat, um mit einem solchen Beweis die ganze Schuld seiner treulosen Ehefrau aufzubürden und so beim Scheidungsprozess die Herausgabe ihrer Mitgift vermeiden zu können, geriet ganz ungewollt zur Darstellung einer Tragikomödie, so drastischunappetitlich wie erschütternd. Einsam, verlassen und verbittert schleppte er seinen »Madensack« noch zwei Jahre dahin. Am Ende arbeitsunfähig, weil die Stimme ihm den Dienst versagte, hätte er buchstäblich verhungern müssen, wäre er nicht vorher – wahrscheinlich wie Dorette, bei der er sich angesteckt haben könnte  – an Tuberkulose gestorben. Auch ein letzter Versuch, vom ›Universitätskuratel‹ ein Gehalt zu erbetteln, war ohne Erfolg. Nicht einmal einer Antwort hat man ihn gewürdigt; keinen Pfennig hat er aus der Staatskasse erhalten. Caroline Michaelis, damals schon verwitwete Böhmer und längst nicht mehr in Göttingen, meldet im Mai 1794 einem gemeinsamen

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Freund: »Weißt Du, daß Bürger sterben wird  – im Elend, in Hunger und Kummer? Er hat die Auszehrung – wenn ihm der alte D[ieterich] nicht zu eßen gäbe, er hätte nichts, und dazu Schulden und unversorgte Kinder. Armer Mann! Wär ich dort, ich ginge täglich hin, und suchte ihm diese lezten Tage zu versüßen, damit er doch nicht fluchend von der Erde schiede.« Sein Arzt, Freund und späterer Biograph Ludwig Christoph Althof bestätigt, dass es sich um eine Lungenschwindsucht gehandelt hat. An der ist Bürger dann am Abend des 8. Juni 1794 gestorben; leiblich, denn was bleibt, stiften bekanntlich die Dichter, und selbst wenn Bürgers Name nicht mehr genannt werden sollte, so war seine »Lenore« mehr als ein Jahrhundert lang so sprichwörtlich geläufig wie ein Volkslied und wie höchstens noch Goethes »Erlkönig«, und seinem »Münchhausen« garantiere ich noch ein paar weitere Jahrhunderte die Existenz eines echten Volksbuchs. Literatur Bürger, Gottfried August: Briefwechsel. Hrsg. von Ulrich Joost und Udo Wargenau. Göttingen 1915 ff. Häntzschel, Günter: Gottfried August Bürger. München 1988. Scherer, Helmut: ›Lange schon in manchem Sturm und Drange‹. Gottfried August Bürger. Der Dichter des Münchhausen. Eine Biographie. Berlin 1995. Schübler, Walter: Bürger, Gottfried August. Biographie. Nordhausen 2012.

Caroline Michaelis Eine Göttingerin auf der Suche nach Freiheit und dem großen Glück von Rainer Hald

Schon ihr Name spiegelt ein aufregendes, faszinierendes und für das zu Ende gehende 18. Jahrhundert ungewöhnliches Leben wieder: Caroline Albertine Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling. Am 2. September 1763 wurde Caroline als Tochter des bedeutenden Orientalisten Johann David Michaelis geboren. Am 7. September 1809, mit nur 46 Jahren, starb sie als die Frau des großen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. ›Tochter von‹, ›Frau von‹: Die berühmte gebürtige Göttin­ gerin ist nicht wegen messbarer Eigenleistungen in Gestalt von Buchveröffentlichungen in die Geschichte eingegangen, sondern war als Gesprächs- und Briefpartnerin, Lektorin (von Friedrich Schlegels »Lucinde«), Mitarbeiterin (an August Wilhelm Schlegels Shakespeare-Übersetzungen), als Redaktionsassistentin und Sekretärin bedeutender Männer deren intellektuelle Anregerin  – ein Mittelpunkt der geistigen Elite der Frühromantik. Dreimal war sie verheiratet: Zunächst mit dem Amts- und Bergarzt Johann Franz Wilhelm Böhmer, dann mit dem Literaturwissenschaftler August Wilhelm Schlegel und zuletzt mit dem Philosophen Friedrich Schelling. Sie gehörte in Jena dem Kreis der Frühromantiker um August Wilhelm Schlegel an, trat für die Gleichberechtigung der Frauen ein, kämpfte gegen die damalige feudalistische Ordnung und war zeit ihres Lebens auf der Suche nach Freiheit, Glück und Anerkennung. So schrieb sie: »Den Menschen und den Göttern zum Trotz will ich glücklich sein.« Mit Goethe und Schiller stand sie in Verbindung. Ihr Engagement für ein emanzipiertes Leben und moderne politische Entwicklungen charakterisieren eine Frau, die häufig

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ihrer Zeit voraus war. Persönliche Schmach, Verunglimpfungen und sogar Gefängnishaft waren der Preis dafür, aber neue, teilweise auch innige Freundschaften, die in weitreichenden Korrespondenzen gepflegt wurden, sorgten für Ausgleich. Viele Begabungen und Talente zeichneten Caroline aus. Sie war hochgebildet. Zusammen mit anderen Romantikerinnen des legendären Jenaer Kreises gilt sie in der Frauenbewegung auch als Vorkämpferin des Feminismus. Schon die Kindheit der Caroline Michaelis war außergewöhn­ lich. Ihr Elternhaus war geprägt von dem weltläufigen Gelehrtentum ihres Vaters, dessen professoraler Ruhm, auch als Mitglied der Pariser Akademie, über die Grenzen Göttingens hinaus leuchtete. Der Bibelwissenschaftler und Orientalist, der einer Professorenfamilie entstammte, war zunächst als »rechte Hand des großen Polyhistors Albrecht von Haller« tätig, doch bald wurde er auch wegen seines Geschäftssinns  – nicht un-

52  Rainer Hald bedingt wohlwollend – als ›Regent von Göttingen‹ bezeichnet. Die Lehre der orientalischen Sprachen war seine Aufgabe, ausgerichtet auf die Auslegung der Bibel. Über die Philologie hinaus erforschte er die »Lebensverhältnisse der biblischen Welt und Zeit«, so zum Beispiel in seinen 1770–1775 veröffentlichten sechs Bänden »Mosaisches Recht«. Große Wirkung hatte die »Deutsche Übersetzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für Ungelehrte«, die 1769–1783 in 13 Bändern erschien – mit einer späteren Fortsetzung für das Neue Testament – und viele Theologiestudenten nach Göttingen brachte. Seine Vorlesungen waren legendär. Goethe, einer seiner Bewunderer und 1783 zu Besuch im Hause Michaelis in der heutigen Prinzenstraße 21, schrieb in seinen Lebenserinnerungen »Dichtung und Wahrheit«: »Auf Männern wie Heyne, Michaelis und so manchen anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken.« Der »Ausnahme-Wissenschaftler« Michaelis war neben seiner Professur von 1761 bis 1770 Direktor der Göttinger Societät der Wissenschaften. Einige Jahre, während des Interims zwischen den Bibliotheksdirektoren Johann Matthias Gesner und Christian Gottlob Heyne, leitete er zudem die Universitätsbibliothek, die innerhalb weniger Jahrzehnte nach der Gründung der Universität zur ersten modernen Universalbibliothek von europäischem Rang geworden war und noch heute eine führende Rolle unter den großen Bibliotheken Europas innehat. Johann David Michaelis war durch sein KorrespondenzNetzwerk mit vielen bedeutenden Menschen seiner Zeit verbunden. Nicht nur Goethe, sondern auch Gotthold Ephraim Lessing, Benjamin Franklin und Alexander von Humboldt suchten den Gelehrten auf. Der Studienaufenthalt dreier englischer Prinzen in Göttingen, der Söhne König Georgs III ., brachte gesellschaftliche Kontakte. Sie logierten in der damaligen Mühlpfortenstraße schräg gegenüber dem Michaelishaus im sogenannten Prinzenhaus, auf dessen Grundstück später das Gebäude der heutigen Commerzbank errichtet wurde. Ernst August, dem späteren König von Hannover, August Friedrich, Herzog von Sussex, und Adolf Friedrich, Herzog von

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Cambridge, zu Ehren wurde die Mühlpfortenstraße dann in Prinzen­straße umbenannt. Caroline Michaelis’ Familie gehörte also zu den angesehensten in Göttingen. Ihren gesellschaftlichen Anspruch ver­ körperte auch das Wohnhaus der Familie, das »groß und weithin sichtbar gegenüber den Universitätsbauten gelegen« war. Als Londonschänke erbaut, beherbergt es heute die Abteilung Private Banking der Sparkasse Göttingen. Caroline wuchs also in einer enorm anregenden Atmosphäre auf. In ihrem Umfeld wurde die sieben Jahre jüngere Dorothea Schlözer einem historisch neuartigen Experiment unterzogen. Ihr Vater, der Historiker und Pädagoge August Ludwig­ Schlözer, wollte an ihr demonstrieren, dass auch die Erziehung von Mädchen hervorragende Resultate hervorbringen würde. Seine Tochter Dorothea erhielt von klein auf systematisch konzipierten Privatunterricht und wurde als erste Frau Deutschlands zum Dr. phil. promoviert. Ähnlich wie die Schlözer-Tochter wurde auch Caroline erzogen mit Unterricht in Arithmetik, Geschichte und Philo­ sophie. In mehreren Sprachen konnte sie sich ausdrücken, besonders das Englische und Französische waren ihr geläufig; sie übersetzte Goldoni. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine solche Förderung von Mädchen derart ungewöhnlich, dass diese gebildeten Göttinger Professorentöchter Universitätsmamsellen genannt wurden  – neben Caroline Michaelis und Dorothea Schlözer waren es Therese Huber und Meta Forkel. Trotz ihrer außergewöhnlichen Bildung war es ganz klar, dass Caroline als Professorentochter aus besseren Kreisen eine möglichst gute Partie zu machen hatte und nicht etwa einen Beruf ergreifen sollte. Zwar hatte die junge Frau sich vorgenommen, sich niemals zu verlieben. Doch Caroline war klar: »Man schätzt ein Frauen­zimmer doch immer nur nach dem, was es als Frauenzimmer ist« – das heißt als Ehefrau, Hausfrau und Mutter. Für diese Rolle war es unter solchen inneren Voraussetzungen beinahe gleichgültig, wer der Ehemann werden würde. Und so heiratete Caroline am 15. Juni 1784 den sympathischen Nachbarsohn Johann Franz Wilhelm Böhmer, mit dem sie nach Clausthal zog, wo er als Amts- und Bergarzt arbeitete. Zwei Kinder

54  Rainer Hald wurden geboren: Auguste und Therese. Vier Jahre später starb ihr Mann an den Folgen einer Wundinfektion. Wieder schwanger, zog Caroline in das Göttinger Elternhaus zurück, wo dann ihr Sohn Wilhelm geboren wurde. Er und Therese starben schon als Kleinkinder, so dass ihr nur die älteste Tochter Auguste blieb. Für die junge Witwe mit dem Streben nach Unabhängigkeit war das Leben im Elternhaus offenbar recht unerfreulich, zumal ihre Mutter sie rasch wieder verheiraten wollte. ­Carolines Freiheitsdrang war so groß, dass sie überlegte: »Ich würde, wenn ich ganz mein eigener Herr wäre, weit lieber gar nicht heiraten und auf andere Art der Welt zu nutzen suchen.« So übersiedelte sie 1792 mit Auguste nach Mainz; das Elternhaus in Göttingen war nach dem Tod des Vaters im Jahr zuvor ohnehin veräußert worden. In Mainz lebte der Naturforscher Georg Forster, ein alter Freund aus Göttingen, der zusammen mit James Cook um die Welt gesegelt und nun mit Carolines Göttinger Freundin­ Therese, geborene Huber, verheiratet war. In der Bischofsstadt leitete er die Universitätsbibliothek. Bald nach C ­ arolines Ankunft besetzten die revolutionären Franzosen die Stadt und das Kurfürstentum, während deutsche ›Freiheitsfreunde‹ die Region von Bingen bis Landau zur Republik erklärten. Forster spielte dabei eine wichtige Rolle, denn er sah sich auf der Seite der Französischen Revolution und arbeitete mit der französischen Besatzungsmacht gegen die eigene geflohene Regie­rung zusammen. Forster wurde bald Mitglied des republikanischen Jakobinerklubs, an dessen Veranstaltungen auch Frauen teilnehmen konnten. Diese gemeinsame Mainzer Zeit mit Georg Forster prägte Caroline. Ihrem Freund konnte sie trübe Stunden erleichtern, denn Forster war von Therese verlassen worden – Caroline übernahm »das Amt einer moralischen Krankenschwester«, die »alle unermüdliche Geduld weiblicher schwesterlicher Freundschaft« aufbringen musste, um den Unglücklichen »zu ertragen«. Historiker meinen, dass die beiden in der ersten Kommune Deutschlands gewohnt haben, als C ­ aroline in Forsters Haus Unterschlupf fand. Durch ihn fand sie ihr »leidenschaftliches, von den Philistern unverstandenes oder mißdeutetes abgetanes Streben […] auf beglückende Weise bestätigt«. Forster

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öffnete ihr die Augen für die soziale und politische Realität. Die Maxime der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, verinnerlichte sie. C ­ arolines Briefe aus Mainz sind die einzigen existierenden Zeugenberichte von einer Frau aus dieser turbulenten Zeit politscher Umbrüche. Auf einem Ball lernte Caroline 1793 den 19-jährigen, blendend aussehenden französischen Leutnant Jean-Baptiste de Crancé kennen. Caroline wurde schwanger von einem »Kind der Glut und Nacht«. Im gleichen Jahr, nach der Rückeroberung von Mainz  –­ Forster war als republikanischer Abgeordneter nach Paris entsandt worden  –, floh auch sie aus der Stadt und wurde in Oppen­heim vom preußischen Militär festgenommen aufgrund ihrer Nähe zu den Mainzer Jakobinern. Zwei Monate war die Schwangere in der Burg Königstein inhaftiert, zusammen mit der achtjährigen Auguste. Als sie bereits ihren Freitod plante – als unverheiratete Frau wäre sie gesellschaftlich ohnehin ›tot‹, wenn ihre Schwangerschaft entdeckt würde –, wurden C ­ aroline und Auguste freigelassen. Die meisten ihrer Freunde ächteten die ›leichtfertige‹ Frau und ›Democratin‹. Auch ihre Geburtsstadt Göttingen blieb ihr verschlossen. Per Dekret war sie zur unerwünschten Person erklärt worden. In einem Schreiben vom Königreich Hannover an die Göttinger Behörde heißt es: »An den Prorector Hofrat Feder zu Göttingen. Es ist vorgekommen, wasmaasen die sich itzt in Gotha aufhaltende Doctorin Böhmer, gebohrene Michaelis, sich vor einiger Zeit dort eingefunden hat. Da wir nun derselben den Aufenthalt in Göttingen nicht gestatten können. Wenn jedoch wider Vermuthen mehr­ erwehnte Doctorin sich dort einfinden sollte, so wird sie sofort wegzuweysen sein.« In dieser schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation wurde August Wilhelm Schlegel, ein Verehrer aus alten Göttinger Tagen, zum rettenden Engel. Er sorgte dafür, dass Caroline in Lucka, einem Nest bei Leipzig, diskret ihren Sohn Wilhelm Julius zur Welt bringen konnte, den sie in Pflege gab. Auch dieses Kind verstarb früh. Schlegel heiratete 1796 die kompromittierte Freundin, um ihr und Auguste Schutz zu geben. Caroline ging also eine zweite Vernunftehe ein. Die Familie Schlegel zog nach Jena, denn Schiller hatte den Gelehrten,

56  Rainer Hald Kritiker und Literarhistoriker eingeladen, an den »Horen« und der »Allgemeinen Literatur Zeitung« mitzuwirken. In dieser Zeit entstanden Schlegels Shakespeare-Übersetzungen, bei denen Caroline ihn mit ihrem Wissen und ihrem Sprachgefühl unterstützte. Ihre Wohnung im Löbdergraben entwickelt sich zum Treffpunkt von Schlegels Bruder Friedrich und dessen Frau D ­ orothea Schlegel, Tochter des jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, sowie vom Philosophen ­Johann Gottlieb Fichte; die Schriftsteller Ludwig Tieck und Novalis gesellten sich später zu dieser Urzelle der Frühromantik. Caroline als Mittelpunkt dieses Jenaer Kreises spielte »als Anregerin, Kritikerin, Moderatorin und Rezitatorin (schöne Altstimme!) eine bedeutende Rolle[…]. Jetzt zählen ihre Gedanken so viel wie ihre Blicke, ihre Formulierungen so viel wie ihre Frisur und ihr Witz so viel wie die festliche Tafel.« Zwar hatte Schiller August Wilhelm Schlegel nach Jena eingeladen, aber zwischen den Klassikern Schiller und Goethe sowie der neuen romantischen Bewegung öffnete sich eine Kluft. Schillers berühmte Ballade »Das Lied von der Glocke« ließ C ­ aroline vor Lachen beinahe vom Stuhl fallen. Die darin nur abstrakten, nur idealisch umgesetzten Ideen lehnten die Jenaer ab. Zudem trennte Charlotte Schiller und Caroline ­Schlegel eine schroffe gegenseitige Abneigung. In Weimar nannte man Caroline ›Dame Luzifer‹ und ›Das Übel‹. Gehässige Ratschläge kreisten: »Die Schillern lässt Dir sagen, sowie Schlegeln zum Haus heraus ist, sollst Du alle Türen und Fernster öffnen und dann zwei Pfund Räucherpulver verschießen, damit die Luft von der früheren Bewohnerin bis zu deren letzten Hauch gereinigt werde. Ein Pfund Räucherpulver wolle die Schillern selbst dazu geben.« 1798 kam Friedrich Schelling nach Jena. Es entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen Caroline und dem zwölf Jahre jüngere Philosophen. Carolines Ehemann tolerierte das Verhältnis. 1800 erkrankte Caroline schwer. In Bad Bocklet erholte sie sich vom Typhus und wurde von Tochter Auguste gepflegt. Doch diese erkrankte an der Ruhr und starb nach wenigen Tagen. Caroline hatte alle ihre Kinder verloren: »Ich lebe nur noch halb und wandle wie ein Schatten auf der Erde.« ­Schelling und sie steigerten sich in die Wahnidee, dass Augustes Tod eine

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Strafe für ihre Liebesbeziehung sei. 1803 erfolgte die Scheidung von August Wilhelm Schlegel, und einen Monat später fand Carolines und Friedrich Schellings Hochzeit statt – es war Carolines erste Liebesheirat. Das Paar siedelte nach Würzburg über, fünf Jahre später nach München. Dorthin war Schelling in Staatsdienste und auch zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften berufen worden mit einem Gehalt von jährlich 3000 Gulden. »Unter den großen Philosophen«, urteilte später der Kollege Karl ­Jaspers, »ist es nur Schelling, für den eine Frau durch ihre Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung wurde […], durch ihr geistiges Wesen.« Klatsch und Tratsch umgaben die Person Caroline MichaelisBöhmer-Schlegel-Schelling immer wieder. Schon die Geburt ihrer Tochter Auguste wird mit einem Besuch Goethes bei den Böhmers in Clausthal 1784 während seiner Harzreise neun Monate zuvor verquickt. Stichhaltige Nachweise für Goethes Vaterschaft gab es nie. Doch galt Auguste als der Liebling des Dichterfürsten, als Caroline und Goethe im Hause Georg Forsters wieder zusammentrafen. Nach Augustes frühem Tod erklärte Goethe sich bereit, für eine Inschrift auf deren Grab zu sorgen. Zudem schlug der vermeintliche Vater Augustes vor, eine Urne mit ihrem Bild in der Wohnung Carolines aufzustellen. Auch nach Carolines Tod blieb sie in seinem Gedächtnis, forderte er seine Freundin Jenny von Pappenheim doch auf, das Grab Carolines zu besuchen. »Ihr schriftstellerisches Talent bewies sie am meisten in ihren anmuthig plaudernden, von Verstand, Phantasie, wahrem Kunstsinn und poetischem Geist durchdrungenen, mit Neckerei und feiner Bosheit gewürzten Briefen, den schönsten Frauen­ briefen aus der Glanzperiode unserer neueren Litteratur.« Seit 2014 vergibt die Stadt Jena jährlich den Caroline-Schlegel-Preis in den literarischen und journalistischen Kategorien Essay und Feuilleton, um mit dem Preisnamen auch die Frühromantikerin zu ehren. Eigentlich ist es zu bedauern, dass ihre wechselhafte Vita – in der südniedersächsischen Universitätsstadt Göttingen beginnend – noch nicht verfilmt wurde, denn viele Anekdoten sowie literarische Auseinandersetzungen und amouröse Abenteuer böten einen spannenden Stoff.

58  Rainer Hald Literatur Behrens, Katja: Caroline Schlegel-Schelling, geb. Michaelis. In: Dies:­ ›Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter‹. Sechs Romantikerinnen und ihre Lebensgeschichte. Weinheim 2006. S. 102–138. Borcherding, Marit / Wiebel, Marion: Das Michaelishaus in Göttingen. Geschichte, Gelehrte, Gegenwart. Göttingen 2007. Damm, Sigrid: Begegnungen mit Caroline. Leipzig 1979. Damm, Sigrid: Caroline Schelling, geborene Michaelis. In: Des Kennenlernens werth. Bedeutende Frauen Göttingens. Hrsg. von Traudel WeberReich. Göttingen 1993. S. 53–71. Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 9. Hamburg 1948 ff. Harprecht, Klaus / Dane, Gesa: Die Universitäts-Mamsellen. Göttingen 1988. Kleßmann, Eckart: ›Ich war kühn, aber nicht frevelhaft‹ – das Leben der Caroline Schlegel-Schelling. Berlin 1992. Muncker, Franz: Schelling, Caroline. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Bd. 31. Leipzig 1890. S. 3–6. Roßbeck, Brigitte: Zum Trotz glücklich: Caroline Schlegel-Schelling und die romantische Lebenskunst. Berlin 2008. Schlegel-Schelling, Caroline: Die Kunst zu leben. Briefauswahl. Hrsg. von Sigrid Damm. Frankfurt 1997. Sichtermann, Barbara: Zwischen Göttingens gelehrter Welt, Mainzer Republik und dem Jena der Romantik. Das leidenschaftliche Leben der Caroline Schlegel-Schelling. In: Die Zeit, 20.8.2009. Smend, Rudolf: Johann David Michaelis. In: Ders.: Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten. Göttingen 1989. S. 13–24.

Alexander von Humboldt in Göttingen – Anfänge eines großen Weltentdeckers von Andreas von Tiedemann

Es mag vermessen oder gar lokalpatriotisch überhöht erschei­ nen, in einer Vita wie der von Alexander von Humboldt, die sich über neun Jahrzehnte und drei Kontinente erstreckt, angefüllt mit Reisen in viele unerforschte Weltregionen und mit Forschungen in einem Dutzend wissenschaftlicher Disziplinen, im Leben eines Mannes also, der wie wenige andere den Typus eines Universalgelehrten der Zeit der Aufklärung verkörpert, gerade jenes gut eine Göttinger Jahr (nämlich von April 1789 bis Juli 1790) als ein entscheidendes für dieses ungeheuer tätige und ertragreiche Leben anzusehen. Und doch gibt es dafür stichhaltige Gründe. Diese Gründe bestehen nicht nur darin, dass sich Humboldts Erwartungen an Göttingen als den Ort mit der führenden Universität der Aufklärung und somit adäquaten Studienbedingungen in wissenschaftlicher Hinsicht mehr als erfüllten, sondern dass er in Göttingen auch in vielfältiger Weise entscheidende Weichen für sein Leben als Forschungsreisender und Naturwissenschaftler gestellt hat. Diese bestanden in der endgültigen wissenschaftlichen Fokussierung auf naturgeschichtliche und naturwissenschaftliche Fächer, in der bedeutenden Inspiration durch Göttinger Geistesgrößen wie Blumenbach, Link, Heyne und Lichtenberg, in der Durchführung seiner ersten Forschungsreisen und in der Knüpfung lebenslang nachklingender wissenschaftlicher Kontakte und Netzwerke sowie in der Niederschrift seines wissenschaftlichen Erstlingswerks. So kann mit Fug und Recht Göttingen als ein Genius loci Alexander von Humboldts verortet werden. Hier sind wesentliche Entwicklungslinien seines späteren Werdens angelegt worden, hier haben sie ihren Ursprung.

60  Andreas von Tiedemann Ein Leben als Naturforscher und Forschungsreisender war Humboldt alles andere als in die Wiege gelegt. Vielmehr war sein Weg vor allem in den Anfängen in erstaunlichem Maß von Zufällen, Widerständen und Rückschlägen bestimmt und hätte gut auch in gesicherter Position der höheren preußischen Bergbauverwaltung enden können. Alexander von Humboldt, am 14. September 1769 als zweiter Sohn auf Schloss Tegel nördlich von Berlin geboren, verlebte zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Wilhelm eine wenig heitere Kindheit, geprägt vom frühen Tod des Vaters und der unnahbaren, wenig empathischen hugenottischen Mutter, die den Söhnen eine puritanische Erziehung angedeihen ließ. Alexander zog sich früh in seine eigene Welt zurück und entwickelte ein auffallendes Interesse für Naturgeschichte. Zuflucht suchte er in Büchern über die Forschungs- und Entdeckungsreisenden seiner Zeit, insbesondere James Cook und Georg Forster, deren Reiseberichte ihn faszinierten. Während Wilhelm das begabte Vorbild der Familie war, galt Alexander als problematisch: Er lernte nur sehr langsam, war schnell erschöpft und immer unruhig  – Eigenschaften, die so gar nicht zu seinen späteren außerordentlichen Leistungen passten. Das Berlin Humboldts Ende des 18.  Jahrhunderts war ein provinzielles, spießiges und langweiliges Städtchen von 140.000 Einwohnern, ohne jedes wissenschaftliche, künstle­ rische oder geistige Leben. Die Berliner Akademie der Wissenschaften war ein esoterischer Debattierclub, in dem über Dinge wie die Umwandlung von Salz in Gold oder den vermeintlich vulkanischen Ursprung der ägyptischen Pyramiden fabuliert wurde. Humboldt bezeichnete die Akademie als ein »Leprahaus, in welchem man die Gesunden nicht von den Kranken unterscheiden könne«. Allein in einigen jüdischen Kreisen  – ein allerdings verpönter Umgang  – fand er adäquate Gesprächspartner. Naturwissenschaftliche Inspiration ging von Berlin nicht aus. Die beiden wissenschaftlich interessierten jungen Humboldt-Brüder strebten für ihre weitere Ausbildung von Berlin fort. Besonders auf Betreiben der Mutter begannen sie 1787 zunächst ein Studium der Kameralistik, Altertums- und Naturwissenschaften an der Viadrina in

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Frankfurt an der Oder. Seinem Bruder Wilhelm nachfolgend, immatrikulierte sich Alexander im April 1789 an der Göttinger Universität, die Gelegenheit für umfassende wissenschaftliche Ausbildung bot mit wichtigen Kontakten zu bedeutenden Gelehrten. Alexander zog in das Haus Weender Straße 23/25 und legte seinen Studienschwerpunkt auf Fächer der physikalischen Erdbeschreibung, der sogenannten Geognosie. Göttingen war ein Zentrum jener Disziplin, welche die Entstehung von Landschaften und Gesteinen als fundamentales Element der Naturgeschichte betrachtete. Heinrich Friedrich Link und Johann Friedrich Blumenbach waren die beiden Repräsentanten der Göttinger Geognosie und hatten mit ihren Vorlesungen zur Mineralogie erheblichen Einfluss auf Humboldts wissenschaftliche Ausbildung. Daneben hörte er Kollegien über Physik und Mathematik bei Georg Christoph Lichtenberg, Philologie und

62  Andreas von Tiedemann Archäologie bei Christian Gottlob Heyne und Ökonomie und Technologie bei Johann Beckmann. In Göttingen kommt es auch zur ersten Begegnung mit Georg Forster, jenem damals bereits berühmten, 15 Jahre älteren Naturforscher und Schriftsteller, zu dem sich Humboldt sofort hingezogen fühlt. Im Haus von Heyne, Papendiek 16, in dem Forster, zu dieser Zeit Bibliothekar in Mainz, als Schwiegersohn Heynes regelmäßig verkehrt, treffen sich die beiden. ­Forster blickt da schon auf die reiche Erfahrung einer gemeinsamen Weltumsegelung mit James Cook zurück. Durch Forsters Berichte und den Umgang mit Blumenbach wird Humboldt die wesentliche Bedeutung von Forschungsreisen klar. Nur so sind Erkenntnisse über das Entstehen der belebten und unbelebten Elemente der Natur zu erfahren und zu begreifen. Darüber hinaus haben Forschungsreisen zu jener Zeit noch eine weitere wichtige Funktion, nämlich den Kontakt mit entfernt lebenden Kollegen zu pflegen und weit verstreute wissenschaftliche Sammlungen und Bibliotheken zu besichtigen. So dauert es nicht lange, bis Humboldt seine erste Forschungsreise von Göttingen aus startet. Zusammen mit Steven Jan van Geuns aus Utrecht, einem ihm eng verbundenen Kommilitonen, der nach Göttingen vor allem zum Studium der Botanik und Medizin gekommen war, macht er sich im Sep­ tember 1789 zu einer etwa sechswöchigen Reise auf, die die beiden zunächst bis Heidelberg und anschließend rheinabwärts von Speyer bis Düsseldorf führt und Grundlage von Humboldts 1790 veröffentlichten Erstlingswerks wurde, den »Mineralo­ gischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein«. Basalt steht nicht ohne Grund im Zentrum seines Interesses, ist doch die Entstehung dieses Gesteins gerade zur Zeit des großen Wissenschaftsstreits zwischen ›Neptunisten‹ und­ ›Plutonisten‹ von entscheidender Bedeutung. Noch haben die Neptunisten die Oberhand, welche die Bildung der Gebirge aus Meeresablagerungen und nachträglichen Landhebungen des Meeresbodens herleiten, anders als die Plutonisten, die hierfür vor allem vulkanische Kräfte am Werk sehen. Am Basalt entzündet sich der Streit ganz besonders, macht dieser es doch schwer zu verstehen, wie er mit seinem inselförmigen Vor-

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kommen in der Landschaft und seiner vertikalen säulenartigen Struktur aus einer flächigen Sedimentablagerung hervorge­ gangen sein konnte. Schon am ersten Tag der Reise widmet sich Humboldt der geognostischen Untersuchung einer basaltischen Formation nahe Göttingen, des Dransberges, unweit von Dransfeld (heute wohl Hoher Hagen). Auch die folgenden Tage und Wochen sind von der Suche nach möglichen Zeugnissen von Vulkanismus bestimmt, zunächst im Habichtswald und im Hessischen, später vor allem entlang des Mittelrheins. Der führende ­Neptunist dieser Zeit ist Abraham Gottlob Werner, Professor an der Bergakademie Freiberg in Sachsen. Seine Göttinger Lehrer Link und Blumenbach folgten in ihren Vorlesungen weitgehend Werners neptunistischen Vorstellungen. Auch wenn Humboldt aufgrund vielfältiger Beobachtungen während seiner ersten Reise Zweifel an dieser Theorie hätte haben können, äußert er sich in seinem Erstlingswerk zur Genese der Basalte nicht. Vielmehr schickt er Werner ein Exemplar seines Berichts mit einem Begleitbrief zu, in dem er feststellt: »Ich fand nichts, was die Voraussetzung ehemaliger Vulkane nothwendig machte, hingegen überall Gründe für den neptunistischen Ursprung der Basalte.« Humboldt wollte wohl auf seine Göttinger Lehrer Link und Blumenbach Rücksicht nehmen. Auch hatte er zu diesem Zeitpunkt noch keinen tätigen Vulkan gesehen. Dies sollte sich erst viele Jahre später auf seiner Südamerikakreise ergeben, die ihn unter anderem 1802 für sechs Monate durch Ecuador führte, wo er erstmals die aktiven Vulkane der Anden sah und sich unter diesem Eindruck vom rein neptunistischen Weltbild löste, sehr zum Leidwesen seiner akademischen Lehrer in Göttingen und Freiberg, aber auch Goethes, mit dem er darüber in­ Kontakt war. Neben dem geognostischen Netzwerk begründet H ­ umboldt in seiner Göttinger Zeit noch ein weiteres, das ›Salinistische Netzwerk‹, das für sein gesamtes Forscherleben bedeutend sein wird. Bereits auf der ersten Reise hatte er sich neben den vulkanischen Formationen besonders für Salzvorkommen, Salzbergwerke und die Techniken der Salzgewinnung interessiert. Dieses Interesse führte ihn unter anderem zur wichtigsten

64  Andreas von Tiedemann deutschen Siedesaline nach Nauheim und zu den halurgischen Quellen in Wiesbaden und Kreuznach. In Mainz hatte er acht Tage bei Forster verbracht und sich mit ihm zu seiner zweiten Rheinreise verabredet, die er ab März 1790 mit ihm von Göttingen aus unternimmt. Auch sie steht im Zeichen seiner salinistischen Interessen. Den Erfahrungen mit Salinen, Gradierwerken und Salzstöcken in Deutschland fügt er nun Beobachtungen zur Anordnung von Siedepfannen in Flandern und Erkenntnisse über die schottischen Salinen hinzu. Ergebnis dieser zweiten mit Forster unternommenen Rheinreise über Holland bis nach England und zurück über Paris ist unter anderem sein zweites Werk »Versuch über einige physikalische und chemische Grundsätze der Salinenkunde« (1792). Auch die Begabung Humboldts, organisatorische akademische Strukturen zu schaffen – was seinem Bruder Wilhelm wohl noch weit mehr lag –, erwacht in Göttingen. Die auf Initiative Alexanders und seines Freundes van Geuns 1789 gegründete »Societas physica privata Gottingensis«, eine physikalische Privatgesellschaft, ist insofern auch aus heutiger Sicht bemerkenswert, als es sich um eine wissenschaftliche Gesellschaft handelt, die an der Universität von Studierenden initiiert und gegründet wurde, der dann aber bedeutende Professoren als Mitglieder beitraten. Zweck der Gesellschaft war der Austausch über naturhistorische Gegenstände, die von den Mitgliedern in Form von Abhandlungen schriftlich überreicht oder vorgelesen wurden. Alexander hat hier selbst am 16. November 1789 über die Ergebnisse seiner ersten Rheinreise berichtet. Auch aus dem Kreis der Mitglieder dieser Gesellschaft haben sich für Humboldt von Göttingen ausgehend langfristige Beziehungen und Briefverbindungen entwickelt. Alexander von Humboldt war 21 Jahre alt, als er Göttingen verließ, zunächst Richtung Hamburg zum Studium von Handel und Sprachen, dann zum Geologiestudium nach Freiberg. Die entscheidenden Abschnitte seines zukünftigen langen Forscherlebens standen noch bevor. Sie führten ihn in eine erste berufliche Anstellung als Bergassessor im preußischen Staatsdienst, von wo er schnell zum Bergbauexperten avancierte und in kürzester Zeit die fränkisch-bayrischen, schlesischen und

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österreichischen Gruben sanierte. Eine Karriere in der Preußischen Bergbauverwaltung war vorgezeichnet, konnte ihn aber nicht befriedigen, nachdem in Göttingen sein Drang zum Forscherleben geweckt worden war. Allerdings fühlte er sich erst nach dem Tod der Mutter im November 1796 frei, seinen eigenen Weg einzuschlagen, einen Weg, der ihn für mehr als fünf Jahre in weitgehend unerforschte Gebiete des nördlichen und nordwestlichen Südamerikas, auf den vermeintlich höchsten Punkt der Erde, den Chimborazo, nach Mexiko und in die USA führen sollte. Anschließend lebte er mehr als 24 Jahre lang in Paris, unternahm weitere Reisen, unter anderem nach Russland, und kehrte erst im fortgeschrittenen Alter nach Berlin zurück. Mit der entscheidenden wissenschaftlichen Inspiration, dem Ursprung und Beginn seiner Forschungsreisen, dem Entstehen erster Werke und der Gründung wichtiger Netzwerke, auch indem er akademische Kreise begründete, sind die wesentlichen Impulse und Stimuli von Göttingen als Genius loci für Humboldt und die Fülle seines ungewöhnlichen Forscherlebens benannt. Göttingen darf also – mehr als gemeinhin bekannt – als ein Knotenpunkt und Ursprung wesentlicher Lebens- und Entwicklungslinien dieses Forschergenies angesehen werden. Literatur Botting, Douglas: Alexander von Humboldt. Biographie eines grossen Forschungsreisenden. 4. Aufl. München 1989. Kölbel, Bernd / Terken, Lucie / Sauerwein, Martin / Sauerwein, Katrin / Kölbel, Steffen: Alexander von Humboldt und seine geognostischen Studien in Göttingen. In: HiN (Alexander von Humboldt im Netz) VII , 2006, 12.

Carl Friedrich Gauß: Astronom, Mathematiker und Physiker in Göttingen von Axel Wittmann

»Pauca sed matura« (»Weniges, aber Ausgereiftes«)1 war der Wahlspruch im Siegelwappen von Carl Friedrich Gauß, der in Göttingen studierte und von 1807 bis zu seinem Tode als Professor der Astronomie und Direktor der Göttinger Sternwarte in Göttingen lebte und seine Wahlheimat dadurch zu einem weltweit anerkannten Zentrum der Astronomie, der Mathematik, der Geodäsie und der Physik machte. Schon als Dreijähriger konnte der am 30. April 1777 in seinem Elternhaus am Wendengraben in Braunschweig geborene Carl Friedrich Gauß »besser rechnen als sprechen«. Von 1784 bis 1788 besuchte er die Katharinen-Volksschule und tat sich mit besonderen Rechenleistungen hervor. 1788 wechselte er an das Gymnasium Catharineum, dessen Eingangsklasse er überspringen durfte, und ab Februar 1792 besuchte er das Collegium Carolinum.2 Der Braunschweiger Herzog Carl Wilhelm Ferdinand förderte ihn durch ein Stipendium, das es ihm  – der nach Meinung seines Vaters eigentlich einen anständigen Handwerksberuf hätte erlernen sollen  – erlaubte, mathematische und andere Bücher zu erwerben. Schon als Gymnasiast hat Gauß mathematische Untersuchungen in bemerkenswertem Umfang betrieben, was eigentlich nicht ohne Zugang zur Fachliteratur möglich ist. So war es konsequent, dass er den Wunsch hegte, nach abgelegter Matura an der Universität Göttingen zu studieren, denn die Georgia Augusta besaß eine umfangreiche Sammlung nahezu aller mathematischen Fach­bücher. Der Herzog bewilligte Gauß ein Begabtenstipendium,3 das es dem jungen Mann ermöglichte, vom Herbst 1795 bis zum Sommer 1798 in Göttingen zu leben und (einschließlich ­Freitisch)4 zu studieren. Zunächst klassische Philologie und

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Mathematik, nachdem Gauß aber der professionellen Astronomie an der alten Sternwarte in der Turmstraße begegnet war, wechselte er 1796 zur Astronomie und Mathematik. Mathematische Vorlesungen musste Gauß nicht unbedingt hören, denn in diesem Fach war er seinen Professoren weit überlegen. Aber Physik und praktische Astronomie waren für ihn relativ neu. Während der Studentenzeit in Göttingen begann Gauß ein von ihm »Notizenheft« genanntes Tagebuch: Dieses enthält Eintragungen zu seinen mathematischen Ideen und Entdeckungen. Durch glückliche Umstände gelangte es 1899 in das Eigentum der ­Universität. Gauß hat nicht in Göttingen promoviert: Sein Herzog und Wohltäter erklärte sich bereit, die Kosten der Promotion5 zu übernehmen, aber unter der Bedingung, dass er diese an der Braunschweigischen Landesuniversität in Helmstedt ablegen müsse. Gauß’ Doktorarbeit lieferte unter anderem einen seit

68  Axel Wittmann Jahrhunderten vergeblich gesuchten Beweis des sogenannten »Fundamentalsatzes der Algebra«6 und legte wichtige Grundlagen der Zahlentheorie. Damit wurde Gauß 1799 promoviert, und 1801 erschien sein fundamentales mathematisches Werk »Disquisitiones Arithmeticae«, das ihm in Fachkreisen großen Ruhm einbrachte. Als erste astronomische Publikation nach seiner Promotion veröffentlichte Gauß im Jahre 1800 die berühmte »Gauß’sche Osterformel« zur Berechnung des Datums des Ostersonntags für beliebige Jahre.7 Und natürlich war er auf der Suche nach einer dauerhaften beruflichen Stellung. Der Herzog hatte ihm den Bau einer Sternwarte in Braunschweig versprochen, diese Pläne wurden aber  – sollen wir in Göttingen »leider« sagen? – durch den Tod Carl Wilhelm Ferdinands 1806 vereitelt. Schon 1801 hatte ein Ereignis stattgefunden, das Gauß schlagartig weltberühmt und letztlich zum Astronomen machte, nämlich die Wiederentdeckung des »verlorenen« Planeten ­Ceres: Seit langem wusste man, dass sich zwischen den Bahnen der Planeten Mars und Jupiter eine auffällige Lücke befindet, und man vermutete dort einen noch unentdeckten Planeten. Die Astronomen suchten gezielt danach, und schließlich gelang die Entdeckung dem italienischen Astronomen Giuseppe Piazzi in Palermo. Er vermaß jede Nacht alle ihm vor die Linse kommenden Sterne. Dabei bemerkte er am Abend des 1. Januar 1801 ein kleines Sternchen achter Größe,8 das bisher nirgendwo verzeichnet war und das sich an den folgenden Abenden merklich fortbewegte. Wie sich bald herausstellte, war es der gesuchte Planet, den Piazzi »Ceres Ferdinandea« nannte9 und bis zum 11. Februar verfolgte. Dann aber erkrankte er und konnte seine Beobachtungen nicht fortsetzen; zudem verschwand die Ceres im Mai im Licht der Sonne. Und da Piazzi der einzige war, der diesen neuen Himmelskörper zu Gesicht bekommen hatte, gab es bald die üblichen Zweifel neidischer Kollegen. Als Retter in der Not erwies sich Carl Friedrich Gauß, dem es im Spätsommer 1801 gelang, die Bahn der Ceres aus den wenigen Beob­achtungen Piazzis zu berechnen und deren zukünftige Position am Himmel vorherzusagen. Der Gothaer Astronom Franz X ­ aver von Zach, dem Gauß sein Manuskript zur Ver-

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öffentlichung eingereicht hatte, musste nur sein Fernrohr hervorholen und an die von Gauß berechnete Stelle blicken: Dort fand er am 7. Dezember 1801 auf Anhieb die Ceres wieder. Bald danach verliebte Gauß sich in die drei Jahre jüngere Johanna Osthoff und heiratete sie am 9. Oktober 1804. Am 21. August10 1806 wurde der Sohn Joseph geboren. Im Juli 1807 wurde Gauß an die Universität Göttingen berufen und zum Professor für Astronomie sowie zum Direktor der »Göttinger Sternwarte« ernannt.11 Seine wichtigste Verpflichtung in Göttingen bestand darin, die Sternwarte zu leiten. Gauß war noch nicht in Göttingen angekommen, als am 18. August 1807 das bisher in Personalunion zu Großbritannien gehörende Göttingen  – wie auch das Herzogtum Braunschweig  – dem »Königreich Westphalen« einverleibt wurde, welches Jérôme Bonaparte, der jüngste Bruder von Napoleon, von Kassel aus regierte.12 Im November 1807 traf Gauß mit Ehefrau Johanna und Sohn Joseph in Göttingen ein, wo am 29. Februar 1808 als zweites Kind die Tochter Wilhelmine (»Minna«) geboren wurde. Da das ein Schalttag war, bedauerte Gauß etwas süffisant, dass das arme Mädchen nur alle vier Jahre seinen Geburtstag feiern könne. 1808 schrieb Gauß über die alte Sternwarte auf der Stadtmauer: »Was auf einer gut ausgerüsteten Sternwarte in wenigen Minuten geleistet werden kann, kostet mich hier oft ganze Tage und Nächte.« Im Dezember 1807 erfolgten (noch an der alten Sternwarte) die ersten astronomischen Beobachtungen, und im Wintersemester 1808/1809 hielt Gauß vor drei wenig begabten Zuhörern seine erste Vorlesung.13 Im Juni 1809 veröffentlichte er sein astronomisches Hauptwerk: »Theoria motus corporum coelestium in sectionibus conicis solem ambientium«, ein noch heute bedeutsames Fachbuch über Himmelsmechanik. Mit der Geburt des dritten Kindes Ludwig am 10. September 1809 bahnte sich eine Reihe von Tragödien an, die Gauß’ innere Verfassung für den Rest seines Lebens beeinträchtigten: Am 11.  Oktober 1809 starb die geliebte Johanna an Kindbettfieber und wurde am 14.  Oktober 1809 auf dem Albanifriedhof beigesetzt – in einem Grab, das sehr bald schon zu einem Familiengrab werden sollte. Gauß trauerte zutiefst und verfasste ein bewegendes Abschiedsgedicht. Kein halbes Jahr später ereilte ihn

70  Axel Wittmann der nächste schwere Schicksalsschlag, als am 1. März 1810 sein kleines Söhnchen »nach achtstündigen Krämpfen am plötzlichen Einschießen der Zähne« (so Gauß) verstarb. Am 4. April 1810 heiratete Gauß – da die Kinder nicht als Halbwaisen aufwachsen sollten – eine enge Freundin seiner verstorbenen Frau. Diese zweite Ehe mit Wilhelmine Waldeck war zwar glücklich, und es gingen aus ihr zwei weitere Söhne und eine Tochter hervor, aber es lag stets der Schatten der geliebten Johanna über ihr, und sie endete ebenfalls viel zu früh und tragisch mit dem Tode Wilhelmines im Alter von nur 33 Jahren. Im April 1810 erhielt Gauß einen Ruf nach Berlin. Er lehnte diesen letztendlich aber ab, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass einige der dortigen Mitglieder der Berufungskommission um ihre Pfründe im Schatten des großen Mannes fürchteten und die Berufung daher insgeheim torpedierten. Zudem hatte die hannoversche Regierung Wind von der Berufung bekommen und bot Gauß eine deutliche Gehaltserhöhung in Göttingen an. Im selben Jahr wurde Gauß mit dem »LalandePreis« des Institut de France für das Jahr 1809 für eine Preisschrift über die Pallas-Störungen14 geehrt, bei dem man zwischen Gold und Geld wählen konnte: Gauß wählte das Geld und ließ dafür eine Tischpendeluhr »Urania« in Paris für sich kaufen, die heute noch vorhanden ist. Himmelsmechanisch­ beschäftigte Gauß sich vor allem mit der Berechnung der Planetenbahnen und der zwischen den Planeten stattfindenden gegenseitigen Bahnstörungen, aber auch mit der Bewegung der Fixsterne. Im September 1816 wurde die neue Sternwarte an der­ Geismar-Chaussee endlich fertiggestellt: Gauß konnte in seine Dienstwohnung im Westflügel einziehen und bald darauf mit den Beobachtungen beginnen. Zunächst war es seine Aufgabe, die »neue Sternwarte«, wie sie genannt wurde, mit modernen Instrumenten der Zeit auszustatten. Da die Astronomie damals in erster Linie eine ›Positionsastronomie‹ zur Bestimmung und Berechnung der Örter von Sternen, Planeten, Kometen und anderen Körpern am Himmel war,15 handelte es sich bei den Instrumenten in erster Linie um Quadranten, Transitinstrumente, Meridiankreise und Heliometer. Gauß hielt ungern Vorlesun-

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gen, da deren Vorbereitung und Durchführung ihn viel produktive Zeit kostete. Aber er hielt »Collegien zu halten« für seine Pflicht, hielt diese gewissenhaft und in freier Rede, und er bildete im Laufe der Jahre viele bedeutende Schüler aus: Etliche seiner Schüler wurden später bekannte Astronomen16 und einige weitere17 wurden bekannte Mathematiker. Mit einigen seiner Schüler begründete Gauß sogar eine lebenslange Freundschaft. Wissenschaftlich beschäftigte er sich neben seinen mathematischen Studien mit Beobachtungen des Mondes, der Fixsterne, der Kometen, der Planeten, der großen ­Asteroiden und der Sonne, und er berechnete deren Bahnen mit höchster Genauigkeit. Am 29.  Juli 1811 wurde als erstes Kind aus zweiter Ehe der Sohn Eugen geboren. Am 23. Oktober 1813 folgte der Sohn Wilhelm. Am gleichen Tag fand Gauß einen seit sieben Jahren vergeblich gesuchten Satz aus der Theorie der biquadratischen Reste,18 so dass die Geburt bei ihm wohl nicht eine ganz un­ geteilte Aufmerksamkeit gefunden hat. Drei Jahre später folgte als letztes Kind die am 9. Juni 1816 geborene Tochter Therese. 1818 erkrankte Gauß’ zweite Ehefrau an Tuberkulose und wurde von ihrer Stieftochter Wilhelmine aufopfernd gepflegt, die sich dabei schließlich selbst ansteckte, so dass Gauß zunehmend von familiärem Kummer geplagt wurde.19 Es ist kaum fassbar, dass Gauß (der gesund blieb)  trotz aller dieser Belastungen, auch wenn sie seine Schaffenskraft oft lähmten, in so unglaublichem Umfang wissenschaftlich kreativ sein konnte. Im Jahre 1820 wechselte Gauß das Forschungsgebiet, indem er sich der Geodäsie und der Landesvermessung zuwandte: Am 9.  Mai 1820 erhielt er von König Georg IV. den Auftrag, eine Gradmessung und eine Triangulation des Königreichs Hannover durchzuführen. Bei so einer ›Dreiecksmessung‹ wird die Erdoberfläche mit genau vermessenen und aneinander angrenzenden ebenen Dreiecken überdeckt, die im Gelände durch Winkelmessungen bestimmt werden. Bestimmt man außerdem an mehreren Dreieckspunkten die geographische Breite durch die »Gradmessung« an Sternen und vermisst die genaue Länge mindestens einer der Strecken in Metern, so erhält man eine ›Landesvermessung‹ und damit ein genaues, auf topographische Karten übertragbares Abbild der Erdoberfläche. Diese

72  Axel Wittmann mühevollen Arbeiten im Felde hat Gauß von 1821 bis 1825 persönlich durchgeführt und rechnerisch ausgewertet; er wurde dadurch zum Mitbegründer der höheren Geodäsie. Außerdem gelang ihm dabei die Erfindung des »Heliotrops«, eines sinnreich konstruierten Instruments, mit dem es möglich ist, einen hellen Strahl Sonnenlicht genau auf ein in großer Entfernung befindliches Ziel (wie etwa den Brocken oder den Inselsberg) zu richten: Dieses Licht kann dann von jenem Gegenpunkt aus mit einem Theodoliten beobachtet und eingemessen werden. Im Ergebnis errechnete Gauß die mathematisch genau ausge­ glichenen rechtwinkligen Koordinaten von 2578 Dreieckspunkten, die in seinem »Allgemeinen Coordinaten=Verzeichniss« tabelliert sind. Im September 1828 wechselte Gauß erneut sein Arbeitsgebiet, als er auf Einladung Alexander von Humboldts an der Naturforscherversammlung in Berlin teilnahm. Mit Humboldt sprach er über die Messung des Erdmagnetfeldes, mit der sich dieser schon länger in der Praxis beschäftigt hatte. Gauß entwarf im Jahre 1832 das erste absolute physikalische Maß­system, und es gelang ihm, etwas so Unsichtbares und Unspürbares wie ein Magnetfeld mit Hilfe einer Längenmessung, einer Wägung und einer Zeitbestimmung20 in absoluten Einheiten zu messen. Gauß entwickelte daraufhin Pläne für ein ›Magnetisches Observatorium‹ im Vorgarten der Sternwarte, das Ostern 1833 in Betrieb genommen wurde und das Gauß in enger Zusammenarbeit mit dem fast 28 Jahre jüngeren Wilhelm Weber betrieb. Diesen hatte Gauß in Berlin kennengelernt und dafür gesorgt, dass Weber 1831 einen Ruf nach Göttingen erhielt. Im Zuge ihrer physikalischen Messungen von Stromstärken und Magnetfeldern erfanden Gauß und Weber auch den ersten elektromagnetischen Telegraphen der Welt, der 1833 mit einer Doppeldrahtleitung über den Dächern der Stadt Göttingen in Betrieb genommen wurde. Die Messung und Erforschung des Erdmagnetfeldes, die Gauß mit seiner »Allgemeinen Theorie des Erdmagnetismus« untermauerte, organisierte er in einem mit 53 weltweit verteilten Stationen arbeitenden ›Magnetischen Verein‹, dessen Ergebnisse in Göttingen analysiert und veröffentlicht wurden.21 Die fruchtbare Zusammenarbeit mit Weber,

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die die Grundlagen der elektronischen Codierung und Kommunikation22 als Vorläufer unserer heutigen SMS beinhaltete, wurde durch die Entlassung der ›Göttinger Sieben‹, die außer Weber und anderen auch Gauß’ Schwiegersohn betraf, den­ Orientalisten Heinrich Ewald, jäh abgebrochen. Das war ein weiterer schwerer Schicksalsschlag für Gauß, der sich ohne Weber mit solchen Forschungen nicht mehr befassen mochte. Ein weiteres Arbeitsgebiet, auf dem Gauß erfolgreich war, war die Untersuchung optischer Linsensysteme, insbesondere auch die der Abbildung durch achromatische23 »Fernröhre«, wie man damals sagte. Ein ganzes Gebiet der Optik wird heute als Gauß’sche Optik bezeichnet. Zudem befasste sich Gauß mit Kristallphysik und war auch Leiter der hannoverschen Kommission für die Maße und Gewichte. Und schließlich begründete er die Versicherungsmathematik, indem er Sterbe- und Beitragstafeln für die Professoren-Wittwen- und Waisenkasse erarbeitete. Am 18. April 1839 starb Gauß’ Mutter in Göttingen, und am 12. August 1840 erfuhr Gauß mit dem Tod seiner geliebten Tochter Wilhelmine Ewald in Tübingen einen weiteren Schicksalsschlag. Im Lauf seines Lebens erhielt Gauß, der einen aufrechten, seinen Freunden zugewandten und gegenüber Kollegen meist sehr fairen Charakter besaß, zahlreiche Auszeichnungen. So wurde er Mitglied vieler in- und ausländischer Akademien, außerdem im Jahre 1849 Ehrenbürger der Städte Braunschweig und Göttingen. Carl Friedrich Gauß, der auf den Gebieten der reinen und angewandten Mathematik, der Astronomie, der Geodäsie, der Physik und der Geophysik ein Wissenschaftler von Weltrang war und Göttingen dadurch berühmt gemacht hatte, starb in seinem Lehnsessel sitzend am 23. Februar 1855 nachts um 1 Uhr. Nur wenige Wochen zuvor war noch seine letzte ›Lebendbüste‹ im Auftrag des hannoverschen Königs von dem Hofbildhauer Hesemann in Gips modelliert worden. Gauß wurde in der Rotunde der Sternwarte feierlich aufgebahrt und am 26. Februar 1855 mit einer Leichenpredigt im Familiengrab auf dem Albani­ friedhof beigesetzt.

74  Axel Wittmann Anmerkungen 1 Dass Gauß »Weniges« geschaffen habe, kann man allerdings nicht behaupten. 2 1745 gegründete höhere Lehranstalt, Vorgänger-Institution der technischen Universität Braunschweig. 3 In Höhe von 158 Reichstalern, nach erfolgter Promotion auf 400 und später 600 Taler erhöht. 4 An dem er seinen Kommilitonen Schönhütte teilnehmen ließ, und so fielen »die Portionen sehr klein aus«. 5 Einschließlich der Druckkosten der Dissertation. 6 Im Laufe seines Lebens in Göttingen hat Gauß noch drei weitere, unabhängige Beweise geliefert. 7 Die weit verbreitete Darstellung, Gauß’ Mutter (und damit Gauß) habe sein Geburtsdatum nicht gewusst, ist unzutreffend, denn Gauß hat das richtige Datum schon als Schüler ins Klassenbuch eingetragen! 8 D. h. die visuelle Helligkeit der Ceres betrug etwa 8,0 mag (Größenklassen). 9 Nach der römischen Göttin der Landwirtschaft und nach seinem Regenten Ferdinand I. von Neapel und Sizilien. 10 Im Kirchenbuch hat der Pfarrer versehentlich »Juli« eingetragen. 11 Also nicht zum Professor für Mathematik. 12 Jérôme förderte den Weiterbau der Sternwarte und schenkte dieser ein wertvolles Teleskop. 13 Im Hörsaal seiner damaligen Wohnung in der Kurzen Straße 15. 14 Störungen der Bahn des Kleinplaneten »Pallas« durch andere Planeten. 15 Astrophysik gab es mangels Photographie und Spektroskopie noch nicht. 16 Schumacher, Nicolai, Möbius, Gerling, Encke, Posselt, Gould u. a. 17 Dedekind, Jacobi, Riemann u. a. 18 »Fundamentum theoriae residuorum biquadraticorum g e n e r a l i s , per septem propemodum annos summa contentione sed semper frustra quaesitum tandem feliciter deteximus eodem die, quo filius nobis natus est« (Math. Tagebuch, 23.10.1813). 19 Auch Therese steckte sich letztendlich bei ihrer Mutter an und starb im Alter von nur 47 Jahren in Dresden. 20 In dem von ihm entwickelten sogenannten »cgs-System«. 21 In Anerkennung dessen erhielt er 1838 die goldene »Copley-Medaille« der Royal Society verliehen. 22 Unter Benutzung des binären Zahlensystems von Leibniz. 23 Aus verschieden brechenden Glassorten zusammengesetzte Objektive, die Farbfehler vermeiden.

Friedrich Christoph Dahlmann, die Göttinger Sieben und König Ernst August – Der Verfassungskonflikt von 1837 von Heinrich Prinz von Hannover

Im Jahr 1837 löste König Ernst August von Hannover die Verfassung von 1833 auf. Sieben Göttinger Professoren protestierten daraufhin gegen den König. Mit ihrer Protestation verbindet sich die Vorstellung vom Widerstand einer bürgerlich-liberalen Gruppe von Gelehrten gegen die willkürliche Zurückweisung fortschrittlicher Gesetze durch den Monarchen.1 Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) war im Verfassungskonflikt des Königreichs Hannover während des Regierungsantritts von König Ernst August 1837 die überragende Persönlichkeit der Göttinger Sieben. Neben ihm gehörten ebenfalls zur Gruppe der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht ­(1800–1876), der Orientalist Heinrich Ewald (1803–1875), der Lite­raturhistoriker Georg Gottfried Gervinus (1805–1871), die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm (1785–1863; 1786–1859), beide Sprach- und Literaturwissenschaftler, sowie der Physiker Wilhelm Weber (1804–1891). Dahlmann hatte Klassische Philologie studiert. Als Sekretär der schleswig-holsteinischen Ritterschaft trat er mit Eifer und Entschiedenheit für deren Rechte ein und geriet dadurch in eine oppositionelle Stellung zur dänischen Regierung. 1829 nahm er einen Ruf als Professor für deutsche Geschichte und Staatswissenschaften in Göttingen an. Hier widmete er sich mit großem Erfolg der Lehrtätigkeit, wurde aber wiederum in die Politik verwickelt. Das geschah, als er nach der sogenannten Göttinger Revolution 1831 als Deputierter der Universität an den Generalgouverneur Herzog Adolph Friedrich von Cambridge abgesandt wurde, dessen Vertrauen gewann, bei der Feststellung

76  Heinrich Prinz von Hannover der Verfassung zu Rate gezogen und von der Universität zu ihrem Vertreter in die Zweite Abgeordnetenkammer der Hannoverschen Ständeversammlung gewählt wurde. Dahlmanns Schreiben zur Verfassungsauflösung im November 1837 im Königreich Hannover: »Ich glaube nie in meinem Leben einen zerreißenderen Schmerz empfunden zu haben«,2 verlangt eine genauere Betrachtung der Vorgeschichte um die Entstehung des neuen Staatsgrundgesetzes. Denn der Streit mit König Ernst August war vorprogrammiert und vorhersehbar. König Wilhelm IV. von Großbritannien und Hannover hatte im September 1833 eine liberale Verfassung für sein Stammland unterschrieben. Doch die Entstehung der neuen Verfassung war zweifelhaft und mit Ungereimtheiten verbunden, besonders für Ernst August Herzog von Cumberland, der als jüngerer Bruder des Königs dessen Nachfolger und somit Thronfolger von Hannover war. König Wilhelm IV. rief im August 1831 eine Kommission ins Leben, die einen Entwurf für eine neue Verfassung erarbeiten sollte. An dem Entwurf hatten unter anderem der Göttinger Staatswissenschaftler Friedrich Christoph Dahlmann sowie der aus Osnabrück stammende Rechtsanwalt Carl Bertram Stüve maßgeblichen Anteil. Nachdem die Kommission 1833 ihre Beratungen beendet hatte, reiste der Geheime Kabinettsrat im Außenministerium, Georg Friedrich Falcke, nach London, um den Entwurf sowohl dem König als auch dem Minister Ludwig von Ompteda vorzustellen. Obwohl bereits zu diesem Zeitpunkt davon auszugehen war, dass Ernst August nach dem Tod seines Bruders Wilhelm in Hannover die Regentschaft übernehmen würde, verbot dieser unter Einfluss Dahlmanns während der Beratungen, den Herzog von Cumberland zu informieren. Erst unmittelbar vor ihrer gemeinsamen Abreise nach Hannover unterrichteten Ompteda und Falcke bei einer Privataudienz in London Ernst August über die einzelnen Bestimmungen. Der künftige König äußerte dabei zahlreiche Bedenken – seine Zustimmung war allerdings nicht vorgesehen. Daraufhin wurde das Staatsgrundgesetz nach mehr als einjährigen Beratungen im März 1833 von beiden hannoverschen Kammern angenommen und König Wilhelm IV. zur Unterschrift nach London

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gesandt. Dieser benötigte einige Monate für seine endgültige Unterschrift und fügte der neuen Staatsverfassung sogar noch 14 Veränderungen hinzu! So konnte das Staatsgrundgesetz dann am 26. September 1833 in Kraft treten. Bereits im Jahr 1819 hatte Ernst August gegen die Einführung der allgemeinen Ständeversammlung im neuen Königreich Hannover protestiert. Der Herzog von Cumberland war politisch interessiert und vertrat als Mitglied der Torys im House of Lords eine erzkonservative Politik. Dabei verlor er seine königlichen Rechte in Hannover aber niemals aus den Augen. Die Einführung von landständischen Verfassungen mit einer gewissen Kontrolle durch ständische Vertreter war allerdings bereits auf dem Wiener Kongress (1815) für alle Länder gefor-

78  Heinrich Prinz von Hannover dert worden. Als dann der greise König Wilhelm IV. 1833 unter dem Druck seiner Minister eine grundlegende Verfassungsreform für das Königreich Hannover in London unterzeichnete, protestierte Ernst August als zukünftiger König vehement. Er beklagte sich bei den Ständen in Hannover, dass er weder konsultiert noch von der Verfassungskommission befragt worden sei. Die neue Verfassung des Königreichs Hannover von 1833 enthielt bedeutende Errungenschaften. In der ersten Kammer der allgemeinen Ständeversammlung saßen Deputierte der Ritterschaften, also der Adel. In der zweiten Kammer saßen Vertreter der Städte und Universitäten. Neu war die erstmalige Einbeziehung des Bauernstandes. Die Bauern wurden durch die neue Verfassung von ihren Lasten und Abgaben befreit (Bauernbefreiung). Es war aber nicht die Zusammensetzung der allgemeinen Ständeversammlung, die der zukünftige König von Hannover ablehnte, sondern dass die künftigen Minister nur noch der Ständeversammlung gegenüber Rechenschaft schuldig seien. Gleichzeitig wurde entgegen dem Willen des Herzogs das dualistische Finanzsystem abgeschafft. Vor 1833 hatte es zwei Kassen gegeben, die königliche Generalkasse und die ständische Generalsteuerkasse. Die erste vereinnahmte den Ertrag der königlichen Domänen, also die der alten Besitzungen des königlichen Hauses und die sogenannten Regalien (Zölle usw.). Die andere Kasse vereinnahmte die direkten und indirekten Steuern. Diese wurden in Hannover nicht von der Krone, sondern von den Ständen erhoben und verwaltet. Die Besonderheit lag darin, dass der König unbegrenzte Verfügung über seine Kasse gehabt hatte. Ab 1833 wurde dem König eine Zivilliste – sie regelt die Einkünfte des Königs aus der Staatskasse und das Nutzungsrecht an bestimmten Gebäuden des Staatsguts – genehmigt, denn die beiden Kassen waren im Zuge der Verfassungsreform vereint worden und unterstanden nun der allgemeinen Ständeversammlung. Der zukünftige König Ernst August berief sich in seinem Protest auf die königlichen Hausgesetze. Diese Gesetze enthielten unter anderem ein Mitspracherecht der männlichen­ Agnaten, der Blutsverwandten, bei wichtigen Verfassungsände-

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rungen im Königreich und erklärten ausdrücklich, dass die königlichen Domänen als ewiges Besitztum des Hauses Braunschweig-Lüneburg vererbt werden müssten. König Wilhelm IV. starb am 20. Juni 1837. Bereits am 29. Juni vertagte sein Nachfolger die Ständeversammlung, obwohl sein Minister von Schele eine Auflösung des Landtages dringlich empfahl. Man erwartete zur offiziellen Thronbesteigung, dass der neue Souverän die Unverletzlichkeit der Verfassung bestätigen werde. Stattdessen wurde am 5. Juli ein königliches Patent veröffentlicht, in dem König Ernst August erklärte: »[…] haben Wir die Überzeugung gewinnen müssen, daß in vielen Puncten das Staats-Grundgesetz Unseren nur auf die Förderung des Wohls Unserer getreuen Unterthanen gerichteten Wünschen nicht entspreche. […] daß Wir in dem, weder in formeller, noch materieller Hinsicht, Uns bindenden Staats-Grundgesetze eine hinreichende Gewähr für das dauernde Glück Unserer getreuen Untertanen […] nicht finden können.«3 Weiterführend erklärte das Patent, dass der König prüfen werde, ob das Staatsgrundgesetz geändert oder gänzlich verworfen würde, und dass er die Stände informieren würde, wenn er zu einer Entscheidung gekommen sei. Die fiel am 1.  November 1837, also fast vier Monate später. Ernst August veröffentlichte ein neues königliches Patent, in dem er die Auflösung der allgemeinen Ständeversammlung und die Aufhebung der bisherigen Verfassung verkündete. Er verwies auf seinen Widerspruch gegen das Staatsgrundgesetz, dessen Unterschrift er zum wiederholten Mal verweigert habe. Daher habe er die auf Grundlage der Verfassung von 1833 zusammengekommene allgemeine Ständeversammlung aufgelöst. Die bis zu dessen Verkündung gültige Konstitution von 1819 setzte er wieder in Kraft. Damit verbunden war auch die Aufhebung des Eides der Beamten gegenüber der suspendierten Verfassung. Dagegen blieben die anderen Gesetze bis auf weiteres gültig. Ferner wurde ein Steuernachlass von 100.000 Talern in Aussicht gestellt. Während in fast allen Teilen der hannoverschen Bevölkerung die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes von 1833 ohne größere Reaktionen hingenommen wurde, entwickelte sich an der Universität Göttingen erheblicher Widerstand. In einem Schreiben

80  Heinrich Prinz von Hannover vom 18. November 1837 an den Kurator der Alma Mater erklärten die sieben Professoren, dass sie sich weiterhin an den Eid auf die Verfassung – des Staatsgrundgesetzes von 1833 – gebunden fühlten und »daher weder an der Wahl eines Deputierten zu einer auf andern Grundlagen als denen des Staatsgrundgesetzes berufenen allgemeinen Ständeversammlung Theil nehmen, noch die Wahl annehmen, noch endlich eine Ständeversammlung, die im Widerspruche mit den Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes zusammentritt, als rechtmäßig bestehend anerkennen dürfen«.4 Allerdings ist dazu anzumerken, dass von diesen sieben Hochschullehrern nur einer – nämlich der Hannoveraner Ewald – tatsächlich jemals einen Eid auf das Staatsgrundgesetz abgelegt hatte. Als König Ernst August von dem Protest der sieben Göttinger Professoren erfuhr, war er erbost. Die Professoren hatten ihre Protestschrift in Windeseile in ganz Deutschland verbreitet, noch bevor der König von ihrem Inhalt in Kenntnis gesetzt werden konnte. Nachdem die Professoren vor dem Universitätsgericht ihre Unterschriften unter der Erklärung bestätigt hatten, entließ König Ernst August am 11. Dezember 1837 die Sieben. Der Monarch warf ihnen vor, mit ihrer Erklärung »den Uns als ihrem rechtmäßigen Landes- und Dienstherrn schuldigen Gehorsam aufgekündigt«5 zu haben. Dahlmann, Jakob Grimm sowie Gervinus, die zugaben, die Erklärung vorbereitet zu haben, wurden vor die Wahl gestellt, entweder vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden oder das Königreich Hannover innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Alle drei entschieden sich daraufhin für Letzteres und reisten am 17.  Dezember 1837 nach Kassel. Zur Bewahrung der Ruhe wurden knapp 150 Mann Infanterietruppen in Göttingen stationiert – doch blieb es vollkommen ruhig in der Stadt. Später gingen Dahlmann nach Leipzig und Gervinus nach Heidelberg. Jakob Grimm blieb in Kassel, wohin ihm sein Bruder folgte. Auch die übrigen vier Hochschullehrer verließen schließlich die hannoversche Landesuniversität. Trotz ihres Protestes vermochten alle, ziemlich rasch ihre universitären Karrieren fortzusetzen, während das Ansehen der Universität Göttingen in den folgenden zehn Jahren stetig sank.

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Der Protest der sieben Professoren enthielt in der Tat sachlich wichtige verfassungsrechtliche Bedenken. Aus Sicht des­ Königs hätten diese ihm aber persönlich vorgelegt werden müssen. Ihm kann man dabei zugutehalten, dass er bereits fast vier Monate vor der Verfassungsauflösung alle fraglichen Artikel zwischen Juli und November 1837 öffentlich zur Disposition gestellt hatte, um diese auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Dahlmanns »zerreißender Schmerz« klingt in diesem Zusammenhang eher heuchlerisch. Viele Staatsrechtler sehen heute in der Verfassungsauflösung durch Ernst August keinen Staatsstreich. Es waren in der Tat juristische Bedenken, die Ernst August bereits als Herzog von Cumberland und später als neuer König erhob. Dabei stand der Staatsrechtler Dahlmann im Mittelpunkt des Geschehens. Er bezog den Thronfolger Ernst August nicht in die Verhandlungen zur Ausarbeitung der Verfassung von 1833 mit ein, denn Dahlmann kannte die sehr konservative Haltung des Herzogs von Cumberland in dieser Frage ganz genau. Zu guter Letzt akzeptierte Dahlmann auch noch die 14 Änderungen, die König Wilhelm IV. nachträglich in die Verfassung einarbeiten ließ, obwohl dieser dazu nicht befugt war. Die weitere Regierung von König Ernst August war geprägt von liberalen Gesetzen. Bereits 1848 erhielt das Königreich Hannover die liberalste Verfassung seiner Geschichte. Dem König kann man aus heutiger Sicht zwei Fehler in seiner politischen Laufbahn unterstellen: Die Entlassung der Professoren wäre vermeidbar gewesen. Der Staatswissenschaftler Dahlmann hätte gewiss eine neue Verfassung ausarbeiten können und wollen. Der zweite große Fehler des Königs war, dass er mit der neuen Verfassung von 1840 die Regentschaft seines blinden Sohnes ermöglichte, der 1851 als König Georg V. in die Regierung eintrat und politisch reaktionäre Entscheidungen traf, die schlussendlich zum Verlust des Königreiches führten. 1866 wurde Hannover unter der Herrschaft von Georg V. von Preußen annektiert. Seit 2015 erinnert am Göttinger Bahnhof ein Denkmal an die Göttinger Sieben Professoren. Es wurde von der Künstlerin Christiane Möbus geschaffen. Es handelt sich um eine 1 : 1-Nachbildung des Sockels des Ernst-August-Reiterstandbil-

82  Heinrich Prinz von Hannover des auf dem Bahnhofsplatz (Ernst-August-Platz) in Hannover, allerdings ohne Ross und Reiter. Das Kunstwerk führt folgenden Schriftzug: »Dem Landesvater seine Göttinger Sieben«, und die Namen der sieben Göttinger Professoren. Die Künstlerin hat sich neben deren sieben Namen auch selbst verewigt. Ihre Aussage scheint klar zu sein: Der König wurde vom Sockel geholt, weil er während des Verfassungsstreits von 1837 die Göttinger Sieben aufgrund ihres Protests entlassen hat. Man kann dieses Kunstwerk auch anders interpretieren, denn der Laie erblickt an dem Sockel-Kunstwerk für die sieben Göttinger Professoren acht Namen im gleichen Schriftzug. Entweiht die Künstlerin damit auch die Göttinger Sieben? Man könnte es vermuten, wenn man die Haltung Dahlmanns in diesem Konflikt kennt und bewerten möchte. Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl.: Sieben gegen den König. 2007. S. 5. Zitiert nach Klaus von See. 1997. S. 15. Zitiert aus: Gesetz-Sammlung f.d. Kgr. Hannover 5. Juli 1837. Schreiben der Professoren vom 18. Nov. 1837, in: Sieben gegen den König. 2007. 5 Entlassungs-Rescript vom 11.  Dez. 1837, in: Sieben gegen den König. 2007.

Literatur Die Göttinger Sieben. Hrsg. von Hermann Wellenreuther. Göttingen 1987. Dräger, Peter: Eine besondere Beziehung – Großbritannien und Hannover. Göttingen 2014. Dylong, Alexander: Hannovers letzter Herrscher. Göttingen 2012. Krüger, Jürgen: Blindheit und Königtum. Berlin 1992. Willis, Geoffrey Malden: Ernst August König von Hannover. Hannover 1961. See, Klaus von: Die Göttinger Sieben. Heidelberg 1997. Sieben gegen den König. Ausstellungskatalog Göttingen und Hannover. Redaktion Carl Philipp Nies. 2007.

Johann Conradt Bremer In Vino Veritas – 230 Jahre Weinhandelstradition in Göttingen von Georg Friedrich Bremer und Philipp Bremer

Die näheren Umstände bei der Gründung der Weinhandlung Bremer bezeugen, wie eng die Göttinger Stadtgeschichte des späten 18. Jahrhunderts mit der Gründung der Universität verknüpft ist. Nach einer Blütezeit Göttingens im Mittelalter, als die Stadt bis 1572 Mitglied im Städtebund der Hanse und durch intensiven Handel im Tuchmachergewerbe zu Reichtum gekommen war, fiel die Stadt nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 in Armut und Bedeutungslosigkeit. Aus diesem Dornröschenschlaf wurde Göttingen erst im Jahr 1737 durch die Eröffnung der Universität geweckt. Erster Kurator der Göttinger Universität war der han­ noversche Minister und Geheime Rat Gerlach Adolph von Münchhausen, auf dessen Konzeption der Aufbau der Aufklärungsuniversität beruhte. Möglichst zahlungskräftige Studenten insbesondere aus dem Adel und dem Stadtpatriziat Kurhannovers sollten für ein Studium in Göttingen gewonnen werden. Dafür musste in dem verschlafenen Nest, das Göttingen damals war, das entsprechende Ambiente geschaffen werden. So wurden beispielsweise ein repräsentatives Wohn- und Logierhaus, die Londonschänke (heute Michaelishaus), ein Universitätsreitstall, eine Apotheke und eine Fechthalle errichtet sowie der Botanische Garten angelegt. Neben der Degradierung der Theologie innerhalb der Stellung der Wissenschaften war es diese Infrastruktur, die der Georgia Augusta schnell den Ruf verschaffte, besonders modern und exklusiv zu sein. Um die Dienstleistungen, die die Göttinger ihren Studenten boten, die immerhin mit ihrer Kaufkraft die unterentwickelte Region im Süden des Kurfürstentums beflügeln sollten, war es

84  Georg Friedrich Bremer und Philipp Bremer allerdings dürftig bestellt. Die Söhne der höheren Gesellschaft fanden zu der Zeit nur wenige Möglichkeiten, Essen und Trinken auf anspruchsvolle Weise zu genießen, und auch die Qualität der in Göttingen dargebotenen Weine gab immer wieder Anlass zur Klage. Der Wein hatte in Göttingen von alters her als Ware und Getränk eine besondere Stellung inne. Zwar war die Stadt – ähnlich wie das benachbarte Einbeck – in früheren Zeiten bekannt für die Herstellung von Bier, was aber schon im Mittelalter die Stadtoberhäupter nicht daran gehindert hatte, selber Wein zu trinken und den gesamten Weinhandel für sich zu beanspruchen. Dass das so war, lässt sich an den Figuren von Gyseler und Othilia Swanenvlogel an der Ecke ihres Hauses, der heutigen Junkernschänke, ablesen: Der wohlbeleibte Händler, ein Bürgermeister Göttingens, und seine Frau halten Weingläser in der Hand. Als der Regierung in Hannover von den ersten Universitätsangehörigen und von Reisenden zugetragen wurde, dass der Wein in Göttingen nicht nur sehr teuer, sondern obendrein auch schlecht sei, nahm sie die Zügel in die Hand und kümmerte sich selbst um die Belange des Weinhandels in Göttingen. Der Geheime Rat Friedrich-Carl Graf Hardenberg persönlich verlangte im Januar 1735 von Bürgermeister und Rat, umgehend einen Bericht über die Situation zu erstatten, und als dieser in Hannover eintraf, wurde die Misere in vollem Ausmaß deutlich. Der Göttinger Magistrat hatte den Pächter des städtischen Weinkellers aufgefordert, alle seine Weine probieren zu lassen. Dieser lieferte daraufhin zwei Proben, von denen er behauptete, dass »darinnen alle Sorten seines Weines Bestünden, von recht guthem Gewächse, und der eine ein veritabler Riedesheimer, der andere aber ein würcklicher Hocheimer wäre«. Der Magistrat schrieb dazu begleitend: »Wir gestehen hierbey nun zwar gerne, dass wir keine Kenner vom Weine seyn, und also, ob des gedachten Keller Pächters Vorgabe in der Wahrheit gegründet sey oder nicht, zu ermeßigen nicht vermögen, inzwischen können wir doch nicht ableugnen, dass die eine Sorte von denen Uns hergegebenen beenden Proben … Unß ziemlich schlecht vorkomme.« Selbst unkundige Weintester

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hatten also die miserable Qualität des Rebensafts erkannt, und diese völlig unhaltbaren Zustände waren in der hannoverschen Geheimen Ratskanzlei Anlass genug, den Weinhandel und Wein­schank in Göttingen in die Hand zu nehmen, um sie völlig neu zu ordnen. Im Jahre 1768 schien der richtige Mann gefunden zu sein, der alles leisten könne, »woran es bishero in Göttingen gefehlet, der nemlich ein gutes Wirths-Hauß für Vornehme auch andere Reisende, nebst einem Speise-Tisch anlegen, ein beständiges Wein-Lager von untadelhaften Weinen erhalten, und beym Verkauf der Weine, und Treibung der Wirthschaft billigere Preise, als bisher geschehen, beobachten und überhaupt das ganze Publikum zu contentiren suchen werde«. Doch es änderte sich wenig. Im Juni 1785 schrieben die Geheimen Räte in einem ungehaltenen Brief an Bürgermeister und Rat, sie hätten »mit Unwillen noch immer Klagen sowohl über den Mangel rechtlicher Wirthshäuser und guter Begeg-

86  Georg Friedrich Bremer und Philipp Bremer nung, als auch über schlechten Weine und deren hohe Preise bey euch vernehmen müssen«. Sie verlangten von dem Magistrat einen ausführlichen Bericht und eine Stellungnahme dazu, wie diesen Missständen nun endgültig abzuhelfen sei. In ihrer Antwort vom 18. Juli 1785 wiesen die Stadtväter darauf hin, dass letztlich alle bisherigen Inhaber von Weinschanks- und Wirtshauskonzessionen an ihrer mangelhaften Qualifikation gescheitert seien, und listeten die Voraussetzungen auf, die ein »Subjectum« für diese Position mitbringen müsse. Es gelte jemanden zu finden, der a) die Weinküperey1 ordentlich, außerdem aber b) wie im Reich und Elsaß üblich ist, die Kücherey, mithin wirtschaftliche Eintheilung und Benutzung der Speisen gelernet hat. c) wo möglich etwas eigenes Vermögen zum Anfange der Nahrung besitzet, und d) wegen Nüchternheit und guter Sitten eine gute Begegnung der Gäste erwarten läßet. Gesucht wurde demnach in einer Person ein guter Weinhändler, zu dessen Fähigkeiten in den damaligen Zeiten auch die Behandlung, Lagerung und Abfüllung der Weine gehörte  – eine Tradition, die das spätere Haus Bremer bis 1985 aufrecht­ erhielt  –, und ein Küchenmeister und erfahrener Gastronom, der die Gäste mit wohlschmeckenden Speisen zufriedenstellen konnte. Diesen Wunschkandidaten zu finden, hielt der Magistrat für nahezu aussichtslos. Doch schon im Frühling des folgenden Jahres präsentierte sich Johann Conrad Bremer als dieser Wunschkandidat. Am Montag den 13.  März 1786 wurde dem Göttinger Magistrat folgendes Schreiben überreicht:

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Wohl- und Hochgebohrene, auch Hochedle Hoch- und Wohlgelahrte, Hoch- und Wohlweise Herren Bürgermeister und Rath der Stadt Göttingen. Hochzuehrende Herren! In einer großen Handlung zu Bremen habe ich binnen 8 Jahren die Behandlung und Bearbeitung der Weine, und überhaupt die einem Weinhändler nötige Kentniß gründlich erlernet. Um die erlangte Kentniß zu erweitern, auch die einem Wirthe nötige Fähigkeiten, besonders in Bereitung der nötigen Speisen für honoratiores und Bedienung derselben zu erlangen, habe ich mich hierauf auf das ansehnliche Wirtshaus in Hannover, die London Schenke genannt, begeben, und daselbst 6 Jahre in Diensten gestanden. Hierauf bin ich bey dem Weinhändler Thyri in Hannover, der daselbst einen sehr großen Weinhandel führet, in Dienst getreten, und führe bey demselben zu seiner Zufriedenheit nunmehro ins fünfte Jahr die direc­tion seines Handels, und mit Hülfe zweyer mir untergebenen Küpers die Aufsicht über sein gantzes, sehr grosses Weinlager. Ich kann also wegen meiner Kentniß und meines Wohlverhaltens mich auf das Zeugniß aller deren bey denen ich in Diensten gestanden habe, berufen, und desfalß glaubwürdige Attestate beybringen. Indeßen wünsche ich nunmehro, da beynahe 19 Jahre in Diensten gestanden, auch 2500 rtl. Reines Vermögen habe, mich zu etabliren, und ein eigenes Gewerbe anzufangen. Ich habe dahero mich entschloßen, mich hieselbst zu besetzen, wenn Euro Wohlund Hochedelgebohren mir die Erlaubniß, einen vollständigen Weinhandel zu führen, und eine Wirthschaft für honoratiores zu treiben, gütigst gestatten werden. Hierbey habe ich Rücksicht auf das von dem Maurermeister Lionnen neu erbaute Haus an der Wehnder Straße, den sogenannten Stern genommen, und dieses, nebst einem zu einem ansehnlichen Weinlager nötigen Keller ausser solchem Hause, von ihm vorerst gemietet. Da dieses Haus annoch vor wenig Jahren ein Wirtshaus für honoratiores gewesen ist, in der That auch äußerst wenig der­gleichen Wirthshäuser anjetzo hieselbst vorhanden sind, darneben die Anzahl der hiesigen Weinhändler sehr gering ist, so hoffe ich, dass Euro Wohl- und Hochedelgebohren es nicht für überflüssig halten wer-

88  Georg Friedrich Bremer und Philipp Bremer den, zum besten des publico, das ehemalige Wirtshaus, den so genannten Stern, wiederum herzustellen, auch mir die Concession darin Wirthschaft, auch einen Weinhandel zu treiben, gütigst zu ertheilen. Ich erkühne mich demnach darum unterthänigst zu bitten, und versichere feyerlich die Wirthschaft und den Weinhandel dergestalt zu führen, daß mir dadurch Euro Wohl- und Hochgebohrenen Beyfall erwerben möge. Der ich mit der vollkommensten Hochachtung die Ehre habe zu sein Euro Wohl- und Hochedelgebohren Untertänigster Diener Johann Conradt Bremer Da diese Bewerbung alle von ihnen im Sommer des Vorjahres geäußerten Wünsche zu erfüllen schien, waren Bürgermeister und Rat von ihr so angetan, dass sie schon zwei Tage später ein mehrseitiges Schreiben an die Königliche Regierung in Hannover sandten und sich darin wärmstens dafür einsetzten, Bremer die Weinschank-Konzession zu erteilen. Als Voraussetzung dafür wurde von Magistratsseite lediglich genannt, dass Johann Conradt Bremer die angebotenen guten Zeugnisse tatsächlich vorlegen könne, vor der Aufnahme seines Gewerbes das Bürgerrecht der Stadt erhalten habe und spätestens »ein Viertheil Jahr nach seinem Etablissement einen Speise Tisch für Studiosos von wenigstens 12 Personen einrichtet und unterhält«. Die Zustimmung des Rats wurde im April 1786 angesichts der vorliegenden guten Zeugnisse gern erteilt, so dass für J­ ohann Conradt Bremer der Weg in die Selbstständigkeit offen war. Er erwarb das Göttinger Bürgerrecht und sogleich das vom Marktamt vorgeschriebene Schild, ohne das kein Gasthaus eröffnet werden durfte und das ihn als Inhaber einer Wirtshauskonzession auswies. Auf das Schild ließ er nicht den angestammten Namen des gemieteten Hauses ›Zum Stern‹ schreiben, sondern er nannte sein Gasthaus ›Die Stadt London‹. Damit knüpfte er an das weit über die Stadtgrenzen Hannovers hinaus bekannte gute Renommee des dortigen Hauses gleichen Namens an, in dem er ja gelernt hatte. Zudem verkündete ­Bremer gleichsam als Programm, mit seinem Göttinger Gasthof einen ähnlichen hohen Standard erreichen zu wollen. Mit der zunächst münd-

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lich erteilten Erlaubnis des Rates eröffnete ­Johann ­Conradt­ Bremer dann am 11. Juni 1786, dem Sonntag Trinitatis, mit dem im 18. Jahrhundert das normale Geschäftsjahr begann, seinen Weinhandel und Weinschank. Die schriftliche Konzession dafür wurde ihm am 27. Juni nachgereicht. Sie galt bis Trinitatis 1789, also für drei Jahre, erstreckte sich auf alle damals bekannten Weinsorten und war ausschließlich für seine Person erteilt. Mit der Erteilung der beiden Konzessionen war die Firmen­ gründung rechtlich abgeschlossen, und Johann Conradt ­Bremer konnte nun beweisen, dass er wirklich dem Wunschkandidaten des Rates entsprach und die Klagen über die Missstände im Herbergswesen und die schlechten und teuren Weine zum Verstummen bringen konnte. Um es gleich vorwegzunehmen – er konnte. Das Gasthaus ›Die Stadt London‹ in der heutigen Weender Straße Nr. 13 galt schon bald bei Reisenden als erste Adresse Göttingens und erhielt erst dann ernsthafte Konkurrenz, als der Wirt Bettmann die benachbarte ›Krone‹ übernahm. Der Bremer’sche Wein aber war von Anfang an offensichtlich so gut, dass nach dem Frühjahr 1786 keinerlei Klagen mehr zu diesem Thema in den Akten des Göttinger Stadtarchivs oder des Staatsarchivs Hannover zu finden sind. Das noch erhaltene erste Geschäftsbuch des Hauses ­Bremer, dessen älteste Eintragungen aus dem Juni 1786 datieren, legt mit den Namen der Kunden ein beredtes Zeugnis dafür ab, wie rasch und überzeugend sich Johann Conradt Bremer mit der Qualität seines Angebotes einen guten Ruf erwarb. So nimmt etwa der höchste königliche Beamte am Ort, der Gerichtsschulze Eberhard Christian Compe, von Anfang Juli an regelmäßig 10 bis 15 Mal pro Monat sein Abendessen bei Bremer ein, zu dem der Richter nicht selten Freunde und andere Gäste einlädt. Auch der Hofrichter Friedrich Ludwig von Berlepsch zu Berlepsch ist bereits im Juni 1786 Kunde der Firma Bremer. Und diesen beiden folgen rasch weitere namenhafte Persönlich­ keiten, so Johann August Graf Einsiedel und Johann Ludwig Graf von Wallmoden-Gimborn. Dann der General von ­Estorff, die Familien von Hardenberg, von Olenhusen und von U ­ slar, der Geheime Justizrat Prof. Böhmer, die Hofräte S­chlözer,­ Gmelin und Mertens, die Senatoren Juncker und Campen  –

90  Georg Friedrich Bremer und Philipp Bremer allesamt die Crème de la Crème der Göttinger Gesellschaft. Besonders der Physiker, Schriftsteller und Kritiker, der Hofrat Georg Christoph Lichtenberg, war bis zu seinem Tod ein treuer Genießer Bremer’scher Rotweine, die er Monat für Monat in nicht unbeträchtlichen Mengen bezog. Zu manchen Zeiten finden sich wöchentliche Eintragungen im »Restantenbuch«, nach denen seine beliebtesten Weine der süße Malaga (vielleicht eher für Besuch?), der einfache Rotwein und immer wieder einige gute Flaschen roter Burgunder gewesen sein dürften. Seit inzwischen sieben Generationen wird die Weinhandlung von den Nachfahren Johann Conradt Bremers geführt. Mit diesem Beginn der Firmentradition nahmen die Klagen über den schlechten Wein in Göttingen rasch ein Ende und sind auch nie wieder aufgeflammt. Der Verantwortung, in Göttingen für gute Weinqualität zu sorgen, fühlen sich auch die heutigen Inhaber noch immer verpflichtet. Nach Georg-Friedrich und seinem Sohn Philipp steht die nächste Generation mit der Enkelin Hannah Bremer, die ihr Weinwirtschaftsstudium in Geisenheim im Rheingau absolviert, bereits in den Startlöchern, so dass die Göttinger Weinfreunde auf eine Fortsetzung dieser Tradition hoffen dürfen. Anmerkung 1 Ein Weinküper ist jemand, der sich mit den Weinen und ihrem Handel im weitesten Sinne befasst. Grimms Wörterbuch: »ein faszbinder der kaufleute und weinhändler« (aber kein Böttcher!) »der kellner bei weinhändlern, der mit den weinen umzugehen weisz und die fässer besorget«

Literatur Gerhard, Hans-Jürgen: ›Bene fundata durant‹. Festschrift anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Firma Bremer. Göttingen 1986.

Heinrich Heine Die Sicht eines Göttinger Wurstfabrikanten von Frank-Walter Eisenacher

Zahlreiche Gedenktafeln an Göttinger Häusern erinnern an einflussreiche Persönlichkeiten, die in Göttingen gelebt haben. Nur ein berühmter Student, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, hat unsere Stadt in seinen Briefen und Schriften mit Hohn und Spott überzogen. Was könnte Heine dazu veranlasst haben, den »Viehstand« neben den »Studenten, Professoren und Philistern« als den bedeutendsten in der Stadt zu bezeichnen? War er enttäuscht darüber, dass er sein Studium unterbrechen musste? Gab er der Stadt, seiner Universität mit den Gelehrten und Studenten die Schuld an der Misere seines Jurastudiums? Viel lieber hätte er Philosophie studiert! Heinrich Heine wurde als ›Harry‹ Heine, Sohn jüdischer Eltern, am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf geboren, wo er auch zur Schule ging. 1819 trat er das Jurastudium in Bonn an. Dann wechselte Heine 1820 nach Göttingen und immatrikulierte sich zum Wintersemester an der Juristischen Fakultät der Georgia Augusta. Er konnte noch nicht wissen, dass sein Aufenthalt in der Stadt, die »einem am besten gefällt, wenn man sie mit dem R ­ ücken ansieht«, nur von kurzer Dauer sein würde. Ein Streit mit dem Studenten Wilhelm Wiebel wegen einer antisemi­tischen Beleidigung endete Anfang Dezember 1820 mit einer Duellforderung. Das Duell auf Pistolen sollte in Hannoversch Münden stattfinden. Die zwangsläufige Folge war dann das ergangene Urteil des Universitätsgerichtes Ende Januar 1821: Sechs Monate Ausschluss vom Studium (Consilium abeundi)! Was muss diese schwere, von Harry Heine gewiss als Ungerechtigkeit empfundene Strafe, verhängt von Vertretern der Jurisprudenz in dieser ungeliebten Stadt, in ihm für ein Satire- und Polemikpotential

92  Frank-Walter Eisenacher freigesetzt haben! Und dann noch schlimmer: Ausschluss aus der Burschenschaft wegen Verletzung des Keuschheitsprinzips. Zu lesen ist von einem angeblichen Bordellbesuch im benachbarten Flecken Rauschenwasser. Ein fadenscheiniger Grund – wo doch die meisten Studenten, die Heine »Rauschenwasserritter« nennt, um Huren buhlten. Den wirklichen Grund hat Harry Heine aber erkannt. Er war Jude. Burschenschaften wollten möglichst keine Juden in ihren Reihen haben. Literarisch schöpferisch war der erste Aufenthalt in Göttingen bis auf einige Gedichte und die Tragödie »Almansor« wenig ergiebig. Aus dem Drama stammt das Zitat »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«, das später in der Nazizeit traurige Wahrheit wurde. Dann auch noch diese Enttäuschung: Der Leipziger Verleger Brockhaus lehnte eine Veröffentlichung der Gedichte »Traum und Lied« ab. Am 4. Februar 1821 schrieb er an seinen alten Bonner Kommilitonen Steinmann in einem Brief: »Es ist dem großen Goethe ebenso gegangen mit seinem ersten Produkt.« Ein Trost immerhin. Den großen Dichter verehrte er sehr. Bald darauf trat Heine seine Strafe an und verließ Göttingen. Er ging nach Berlin, wo er die Möglichkeit nutzte, seine lite­rarische Karriere voranzubringen. Der Künstler wurde Mitglied im Berliner »Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden«. Seine vielfältigen Kontakte zu Verlegern, aber auch seine Persönlichkeit, sein Witz sowie seine Begabung für scharf­ sinnige und humorvolle Ironie und Satire waren Schlüssel für seinen Erfolg. Bald darauf fängt Heine die Atmosphäre Göttingens in dem Gedicht »Auf den Wällen Salamancas« ein. Heine wäre nicht Heine, wenn er damit tatsächlich die spanische Universitätsstadt gemeint hätte. Nein. Es geht wieder um das verhasste Göttingen und um einen Teil  der geschleiften Stadtbefestigung um die Stadt herum. Ein Abschnitt des Walles beginnt am Accouchierhaus, also der einstigen Universitätsgeburtsklinik, dem heutigen musikwissenschaftlichen Seminar. Dieser Abschnitt wurde »Promenadenwall« und von den Studenten sogar »Poussier­wall« genannt. Dort also wurden der Damenwelt

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schöne Augen gemacht. Erst poussieren, dann accouchieren? In einer möglicherweise etwas gewagten Interpretation der dritten Strophe könnte man diesen Zusammenhang herstellen. Die ursprüngliche königliche Entbindungsanstalt war nichts anderes als eine Ausbildungs- bzw. Experimentierstelle für Studenten der Gynäkologie, in der weniger Wert auf die fürsorgliche Betreuung der Schwangeren als auf die Ausbildung von experimentierfreudigen Studenten gelegt wurde. Das brachte vielen Frauen den Tod. Anfang 1824 kehrte Heine nach Göttingen zurück, um sein Studium der Jurisprudenz, das er insbesondere auf Druck der Familie absolvierte, wieder aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen. Das ungeliebte Studium in der ungeliebten Stadt sollte möglichst schnell beendet werden, so Heines Plan, denn er kon­ zentrierte sich ganz auf die Vorlesungen zum Kriminal- und

94  Frank-Walter Eisenacher bürgerlichen Recht. Heine wohnte in der Roten Straße 25, dann in der Groner Straße 4, danach in der Goetheallee 15.  Der Sommer 1824 allerdings war geprägt von allerlei Ablenkung. Um sich die geistige Schaffenskraft für Juristerei und Poesie zu erhalten, waren regelmäßige Besuche in der Landwehrschänke – dort besonders gern bedient von der Kellnerin Charlotte Ludwig –, in der Knallhütte in Bovenden und in Ulrichs Garten an der heutigen Stadthalle dringend erforderlich. Sicherlich haben auch Göttinger Würste zu seiner Schaffenskraft beigetragen. Das schöpferische Ergebnis war beachtlich vor dem Hintergrund, dass Heine sich erneut einer Verbindung (der Guelphia)  angeschlossen hatte. Er schrieb viele Gedichte und begann seine »Memoiren«. »Der Rabbi von Bacherach«, an dem er weiter arbeitete, war das Ergebnis der Auseinandersetzung mit seinem Glauben, dem Judentum. Erstmalig beschäftigte er sich auch mit Goethes »Faust« und dachte über einen Gegenentwurf zu der Tragödie des großen Dichters nach. Im Sommer zog Heine dann erneut um in die Goethe­ allee 10.  Die mangelnde Akzeptanz in der studentischen Gesellschaft, seine Außenseiterrolle aufgrund seiner permanenten Systemkritik und Verhöhnung der gesamten Gelehrtenwelt isolierten ihn mehr und mehr und machte ihm möglicherweise doch stärker zu schaffen, als er sich eingestand. So trat er am 12./13. September 1824 eine Harzreise an. Diese »Gesundheitsreise« führte Heine über Northeim, Osterode, Clausthal und Goslar bis auf den Brocken. In der Harzer Bergwelt entschloss er sich, Goethe aufzusuchen, und er wanderte über Eisleben, Halle, Naumburg und Jena nach Weimar. Dort treffen die beiden Dichter zusammen. Am nächsten Tag setzte Heine seine Harzreise fort und kehrte im Oktober über Erfurt, Gotha, Eisenach und Kassel nach Göttingen zurück. Danach beschäftigte er sich wieder mit seinem Jurastudium, schrieb aber nebenbei einen Reisebericht über seine »Harzreise«. Seinen Besuch bei Goethe hatte Heine brieflich vorbereitet. Er überschüttete Goethe mit Höflichkeit, Anerkennung und Verehrung und bat um eine Audienz beim Dichterfürsten. Das kurze Gespräch zwischen dem 75-jährigen Goethe und dem 27-jährigen Studenten verlief allerdings überhaupt nicht nach

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den Vorstellungen Heines. Er muss tief enttäuscht gewesen sein. Es steht sogar die Vermutung im Raum, dass Heine den Gedankenaustausch über seinen Gegenentwurf zum ersten Teil des »Faust« suchte. Ein solches Ansinnen konnte der große Künstler aus dem Mund eines fast 50 Jahre jüngeren Studenten nur als Affront bzw. Anmaßung empfunden haben. Kein Wunder also, dass die Begegnung kühl und ohne jede Resonanz von Seiten Goethes verlief. Eine mitgebrachte Göttinger Mettwurst hätte sicher deutlich für Entspannung gesorgt. Wie das? Hatte Heine nicht in den ersten Zeilen der »Harzreise« seine Universitätsstadt geschmäht mit dem Satz »Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität […]«? Dass er so etwas Simples wie Mettwürste vor seiner Alma Mater erwähnt, die damals Weltruf besaß, zeigt die pure Ironie, die da waltet. Aber tatsächlich waren die Geschichte, der Genuss und die Berühmtheit der Göttinger Wurst legendär, weshalb es mir als bedeutendem Göttinger Wursthersteller in vierter Generation eine Herzensangelegenheit ist, über­ Heinrich Heine und die Göttinger Wurst zu schreiben. Da man im Mittelalter Frischfleisch nur bedingt haltbar machen konnte, verarbeiteten die ersten Göttinger Wurstmacher das meiste Fleisch zu Dauerwürsten. Die Göttinger hielten seinerzeit viele Schweine, die in den Hainberg getrieben und mit den dortigen Eicheln gemästet wurden – der Name der Göttinger Siedlung Ebertal spiegelt das noch wider. Mit der hervorragenden Qualität der Nahrung und der Haltung wuchs das Göttinger Mettwurstschwein heran, das alle Voraussetzungen für die »chute Chöttinger Wurst« mit sich brachte, angeblich ein Ausspruch des Alten Fritz. Die Qualität des Fleisches bestimmte, wie noch heute, die Qualität der Wurst  – wenn die handwerklichen Parameter stimmten. Seit der Gründung der Georg-August-Universität im Jahre 1737 wurden die Göttinger Würste ausgeführt, was mehrere Quellen im Stadtarchiv belegen. Dabei halfen die Studenten durch Versand von Kostproben bei der Verbreitung. Schon 1755 wurden 1350 Pfund Göttinger Wurst versandt. Im Jahr 1794 sind schon 17.284 Pfund Mettwürste verschickt worden. Nachweislich waren viele berühmte Persönlichkeiten

96  Frank-Walter Eisenacher Freunde der Göttinger Wurst: Friedrich der Große, Kant, Lichtenberg, Schiller und Goethe. Der preußische König ließ sich aus praktischen Erwägungen Göttinger Mettwurst in Kälberblasen herstellen, um so zu einer größeren Wurstscheibe zu gelangen. Den Kontakt zu unserer Region hatte wohl Friedrichs Flötenlehrer und Hofkomponist Johann Joachim Quantz gestiftet, der aus Scheden stammte. Immanuel Kant und Christoph Lichtenberg schätzten die Mettwurst ebenso. Letzterer dichtete Ende des 18. Jahrhunderts über Göttingen: »Berühmt durch allerlei Bedeutung, durch Würste, Bibliothek und Zeitung«. Kein Geringerer als Schiller ließ sich Göttinger Mettwürste nach Weimar schicken und dankte es mit seinem Gedicht: »Ein Pack Göttinger Würste«. Auch Goethe ließ sich bei Buchbestellungen aus der Universitätsbibliothek regelmäßig Göttinger Mettwurst mitschicken – hätte Heine 1824 das doch bloß vorher gewusst! Im verhassten Studium kam er nicht schnell genug voran und musste bei seinem Onkel Salomon, dem Banker, der ihn unterstützte, um Verlängerung ins Sommersemester bitten. Dann endlich trat er am 3. Mai 1825 das Promotionsexamen an bei seinem Doktorvater Professor Gustav Hugo. Heine bestand die Prüfung mit der Note ›rite‹ (genügend). Eine zusätzliche Dissertation war seinerzeit nicht erforderlich. Interessant ist auch, dass Heine sich am 28.  Juni 1825 als Heinrich Heine evangelisch in Heiligenstadt taufen ließ und damit seinen Vornamen Harry ablegte. Es wurde vermutet, dass er sich damit der christlich geprägten europäischen Kultur assimilieren wollte. In dem Übertritt zur evangelischen Kirche suchte er nach Befreiung aus der geistigen und sozialen Isolierung des Judentums der damaligen Zeit. Allerdings musste Heine erfahren, dass selbst protestantisch getaufte Juden im Kreise der europäischen Kultur nur bedingt Akzeptanz fanden. Am 6. August 1825 verließ Dr. jur. Heinrich Heine den »gelehrten Kuhstall« Göttingen. Die Veröffentlichung seines ersten bedeutenden Werkes »Harzreise« fand zunächst, obwohl in dem Periodikum Rheinblüten geplant, nicht statt. Erst als Heine den Berliner Verleger Gubitz um Veröffentlichung bat, erschien das Werk im Februar 1826 in stark gekürzter und zensierter Form, was Heine

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außerordentlich empörte. Da der Abschnitt über den Beginn in Göttingen noch fehlte, titelte Heine seinen ersten Band als »Reise­bilder«. Erst die Bekanntschaft mit dem Buchhändler und Verleger Julius Campe in Hamburg führte dazu, dass der Band dann endlich im Mai in der dem Werk angemessenen Form erschien. »Reisebilder« und der 1827 veröffentlichte Lyrikband »Buch der Lieder« sorgten in der breiten Öffentlichkeit für eine Spur Anerkennung  – aber auch für Kritik aus konservativen Bevölkerungskreisen. Heines »Reisebilder« empörten Göttinger Professoren aufs Äußerste. Diese erwirkten für die Stadt Göttingen ein Verkaufsverbot. Von daher scheint die »Gesundheitsreise« für Heine eine Befreiung des Geistes und damit erfolgreich gewesen zu sein. Spott und Häme hatten die Adressaten erreicht. Danach lebte Heinrich Heine in Hamburg, Berlin und München. Mehrfache Versuche, einen bürgerlichen Beruf als Advokat oder Syndikus zu ergreifen, führten nicht zum Erfolg. Seine liberale Gesinnung wurde als merkwürdig und suspekt eingestuft. Allerdings hatte sich Heine längst eingestanden, dass er mit Rechtswissenschaft nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte, sondern vielmehr nach solcher »gelehrten Bildung« gestrebt hat, um »Geist und Seele zur Menschlichkeit« zu formen. Später, im Jahre 1831, fühlte sich Heine wegen der französischen Juli-Revolution nach Paris gezogen. Er begriff Frankreich nach den beiden Revolutionen 1789 und 1830 als Vaterland der Freiheit und Paris als deren mythischen Geburtsort. Am 31. August 1841 heiratete Heine Mathilde Crescence Eugénie Mirat, die er 1834 in Paris kennengelernt hatte und die seitdem seine Lebensgefährtin war. Beschleunigt wurde diese Entscheidung, weil dem streitbaren Heine wieder ein Duell ins Haus stand. Mathilde sollte für den Fall der Fälle richtig abgesichert sein. Es kam beim Duell mit Salomon Strauß im September 1841 nur zu einer Hüftverletzung durch einen Streifschuss. Heines Gesundheitszustand verschlechterte sich seit 1845  – beginnend mit einem Augenleiden  – und führte den Dichter 1848 zeitweise in eine Heilanstalt. Im Mai des gleichen Jahres brach Heine im Louvre zusammen. Lähmungserscheinungen machten ihm zu schaffen und fesselten ihn an die berühmte

98  Frank-Walter Eisenacher »Matratzengruft«. Die gesundheitliche Beeinträchtigung hinderte ihn allerdings nicht daran, im Juni 1855 eine neue Beziehung zu Elise Krinitz (»Mouche«) zu beginnen. Doch Heine starb kurz danach am 17. Februar 1856 in Paris und wurde auf dem Friedhof Montmartre beigesetzt. Wenn Heine wüsste, dass viele der Göttinger Professoren, von denen er sich gequält fühlte, längst vergessen sind, aber die Göttinger Würste, zu deren Ruhm er beigetragen hat, immer noch in alle Welt verschickt werden  – sogar in einem­ Shanghaier Delikatessen-Laden wurden sie kürzlich gesichtet –, würde er sich bestimmt freuen. Literatur Arnold, Heinz Ludwig: Heinrich Heine. Auf den Wällen Salamancas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.2012. Heine in Göttingen. Hrsg. von Roderich Schmidt. Göttingen 2004. Heine, Heinrich: Bleibe auch Du mir gewogen. Briefe aus Göttingen. Hrsg. von Roderich Schmidt. Göttingen 1992 [Weihnachtsgabe der Buchhandlung Deuerlich]. Heinrich Heine. Dichter und Jurist in Göttingen. Hrsg. von Volker Lipp u. a. Göttingen 2007. Kruse, Joseph A. Heinrich Heine. Leben und Werk in Daten und Bildern. Frankfurt 1983.

Otto v. Bismarck Lehrjahre des Reichsgründers von Hans-Christof Kraus

Otto v. Bismarck ist in Göttingen weder geboren noch gestorben, auch hat er nicht sehr lange hier gelebt. Trotzdem gehört er seit seiner kurzen, lediglich dreisemestrigen Studienzeit an der Universität zwischen Frühjahr 1832 und Herbst 1833 zu dieser Stadt, die bereits zu Bismarcks Lebzeiten das Andenken an die Studienjahre eines der berühmtesten Angehörigen der Georgia Augusta in besonderer Weise gepflegt hat. Und bis heute gibt es in Göttingen einige Spuren, die der damalige jugendliche Student hinterlassen hat und die auch die Jahre seines späteren Ruhms als Diplomat, preußischer Ministerpräsident, als Gründungskanzler des Deutschen Reichs und als zeitweilig bekanntester Politiker Europas überdauert haben. Eigentlich hatte der junge Bismarck die Universitäten Heidel­ berg oder Bonn für den Beginn des eigenen Studiums in Aussicht genommen, doch seine strenge Mutter Wilhelmine, eine Berliner Beamtentochter, befürchtete, der junge Mann werde sich in Heidelberg das ihr »in höchstem Grade widerwärtige Biertrinken« angewöhnen. Deshalb wählte sie für ihren Sohn schließlich Göttingen als Studienort aus, beeinflusst durch einen ihrer Vettern, der ebenfalls in der Leinestadt studiert hatte. So kam Bismarck, gerade siebzehn Jahre alt geworden, im Frühling 1832 nach Göttingen. Das bisherige Leben Bismarcks war eher freudlos verlaufen; er litt unter der unglücklichen Ehe seiner Eltern und der Gefühlskälte und Strenge seiner Mutter. Er hatte  – mit eher mittelmäßigem Erfolg  – seine Schulzeit in Berlin verbracht; nach einigen Jahren an der als Internat geführten Plamann’schen Privatschule und am Friedrich-Wil­ helm-Gymnasium bestand er 1832 am hochrenommierten Elite­ gymnasium zum Grauen Kloster die Abiturprüfung; seine

100  Hans-Christof Kraus Leistungen konnten nur als mäßig gelten, allerdings trat seine ungewöhnliche Sprachbegabung schon früh hervor. Er wolle, heißt es im Abgangszeugnis, »Jura und Cameralia«  – also Rechts- und Staatswissenschaften – studieren. Dies alles muss man wissen, um zu verstehen, warum die eineinhalb Jahre in Göttingen von dem jungen Mann zuerst und vor allem als eine Zeit der Befreiung von strengen elterlichen und schulischen Zwängen, damit auch der persönlichen Selbstfindung, gelebt wurden  – die eigentliche Berufsbildung kam erst an zweiter, wenn nicht sogar an dritter Stelle. Bismarck meinte es sicher ehrlich, wenn er viele Jahre später, schon nach seinem Rückzug aus der Politik, im Jahr 1893 anlässlich einer Durchreise auf dem Göttinger Bahnhof in einer kurzen Rede anmerkte, er sei »vor sechzig Jahren … in die Thore von Göttingen eingezogen als flotter, frischer Student, und er müsse sagen, von allen den Orten, denen er seine Bildung verdanke, sei ihm Göttingen noch jetzt der liebste, da so schöne Jugenderinnerungen ihn an diese Stadt bänden«, auch wenn er hier freilich nicht »zu viel gearbeitet habe«. In der kleinen Universitätsstadt, die im Jahr 1832 gerade einmal knapp 10.000 Einwohner hatte, davon etwas über 800 Studenten, kam Bismarck zuerst in einem Zimmer in der Roten Straße 27 unter; sein Vermieter war ein Bäckermeister namens Schumacher. Erst einige Monate später zog Bismarck in das bis heute mit seinem Namen verbundene kleine Häuschen am Wall, eigentlich ein aus dem Spätmittelalter übrig gebliebener ehemaliger Festungsturm zwischen dem Groner- und dem Geismartor, damals noch am Stadtrand gelegen. Vom Fenster seines kleinen Studierzimmers konnte der altmärkische Junkersohn weit ins freie Land hinausschauen. Als ihm – Jahrzehnte später – der Jurist Rudolf Jhering die Ehrendoktorwürde der Göttinger Juristischen Fakultät überbrachte, erinnerte sich der alt gewordene Reichskanzler »mit Humor« an seine Zeit im Häuschen am Leinekanal, vor allem aber daran, dass er ge­legentlich, nachts von einer Kneipe in seine Unterkunft zurückkehrend, im Kanal noch rasch ein Bad genommen habe, um sich abzukühlen und wieder nüchtern zu werden.

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Überhaupt ist das Bismarck’sche Göttinger Studentenleben bis heute von manchen Legenden geradezu umwuchert, deren wahrer Kern nicht immer leicht freizulegen ist. Einer der damals offiziell verpönten und zeitweilig auch polizeilich über wachten Burschenschaften trat der junge Adlige nicht bei; er wurde schließlich Mitglied des Corps Hannovera, dessen Angehörige hauptsächlich der adligen Oberschicht im damaligen Königreich Hannover entstammten. Die speziellen Annehmlichkeiten des Corpslebens, darunter nicht nur die Kneipen, Rituale und gemeinsamen Ausflüge, sondern auch die Mensuren, scheint Bismarck wenigstens für einige Zeit in vollen Zügen genossen zu haben. Immerhin soll er, wenn der Überlieferung zu trauen ist, nicht weniger als 26 Mensuren geschlagen haben; sieben Mal trug er kleinere Verwundungen davon, von denen später jedoch nur ein sehr kleiner Schmiss sichtbar gewesen sein soll. Zu Pfingsten 1833 unternahm er mit einigen Korpsbrüdern eine Reise nach Thüringen; Eisenach, die Wartburg und Jena wurden besucht. Auch ein Reitausflug der Hannovera in das bei den Studenten beliebte Dörfchen Bremke ist überliefert; hier allerdings passierte Bismarck ein bezeichnendes Missgeschick. Gerade als die Corpsbrüder in das Dorf einritten, wurden sie durch eine die Straße überquerende Gänseherde aufgehalten. Nur der besonders ungeduldige junge Bismarck ritt zu früh drauflos, und das absehbare Unglück passierte – sein Pferd zertrat eine Gans. Der resoluten, mit einer langen Stange bewaffneten Gänsehirtin gelang es indessen, dem rücksichtslosen Reiter in die Zügel zu fallen und drohend Schadensersatz zu fordern; vermutlich unter dem schallenden Gelächter seiner Begleiter blieb Bismarck am Ende nichts anderes übrig, als das von ihm angerichtete Malheur durch sofortige Zahlung eines Talers zu begleichen, um anschließend den Ausritt fortsetzen zu können. In der akademischen Kleinstadt Göttingen hatte der junge Student schon kurz nach seiner Ankunft einiges Aufsehen erregt  – durch sein Aussehen ebenso wie durch sein Auftreten. Der später eher füllige Reichskanzler, von auffallend großer Statur, war als junger Mann extrem schmal  – »dünn wie eine Stricknadel«, wie ein Kommilitone später sagen sollte.

102  Hans-Christof Kraus Eine Zeichnung des jungen Bismarck, angefertigt von seinem Studien­freund Gustav Scharlach, bestätigt diese Beschreibung. Wie viele junge Leute wollte der Student Bismarck auffallen, provozieren, seinen Anspruch auf eine eigene, unverwechselbare Persönlichkeit durch extravagante Kleidung und arrogantes Auftreten besonders unterstreichen. Auf dem Göttinger Wall ging er  – zum Schrecken der sicher einiges gewöhnten Göttinger Spießbürger – mit einer riesigen Dogge spazieren, gekleidet in einen langen gelben Schlafrock und einen apfelgrünen Frack. Damit war er schon bald eine unverwechselbare, wenn auch vermutlich misstrauisch beäugte Erscheinung im Göttinger Straßenbild geworden. Dabei blieb es jedoch nicht. Schon bald nach seiner Ankunft in der Leinestadt war der junge Studienanfänger zum ersten Mal unangenehm aufgefallen: Er hatte nach einer wohl allzu übermütigen Kneiperei im Gasthaus Krone eine leere Flasche durch ein Fenster auf die Weender Straße geworfen. Deswegen erteilte ihm das Universitätsgericht im Juni 1832 einen offiziellen Verweis, außerdem hatte er einen Taler Strafe zu zahlen. Kurz darauf kam es zu einer erneuten Anklage: Gemeinsam mit einem amerikanischen Studenten sollte Bismarck, ebenfalls im Anschluss an einen feuchtfröhlich verlaufenen Abend, einige Straßenlaternen zertrümmert haben; beide Krawallbrüder wurden jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Schon etwas ernster war die nächste Affäre, die sich Bismarck leistete: Er war einem Kommilitonen, mit dem er offensichtlich im Streit lag, nachts auf die Bude gerückt und hatte den Bedauernswerten, wie später amtlich festgestellt wurde, »mit der Lichtschere« (einer Dochtschere) bedroht. Doch noch einmal hatte Bismarck Glück – trotz der Anklage wegen Bedrohung und Hausfriedensbruchs kam er mit einem Verweis davon. Die nächste Strafe fiel allerdings schon entschieden härter aus: Bismarck musste elf Tage im Studentengefängnis, dem­ Karzer im (heute nicht mehr bestehenden) alten Kollegienhaus absitzen. Was war geschehen? Im Januar 1833 hatte er, was jedem Studenten streng verboten war, als Sekundant an einem – übrigens unblutig ausgegangenen – Duell teilgenommen. Noch zweimal wurde er, ebenfalls wegen Verletzung der damals sehr

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strengen akademischen Ordnung, zu kürzeren Karzerstrafen verurteilt, u. a. wegen Rauchens auf offener Straße und wegen Teilnahme an verbotenen Studentenversammlungen. Am Ende wurde es jedoch wirklich problematisch für Bismarck, denn zweimal musste er auf Anweisung des Universitätsgerichts das sogenannte ›Consilium abeundi‹ unterzeichnen; das bedeutete konkret: Nach einem weiteren nachgewiesenen Verstoß gegen die Ordnung der Universität hatte er mit einem offiziellen Verweis von der Hochschule zu rechnen, und das konnte seinerzeit im schlimmsten Fall ein generelles Verbot des Studiums an einer deutschen Universität zur Folge haben. Hierin dürfte wohl  – neben den hohen Schulden, die der junge Mann inzwischen in der Leinestadt angehäuft hatte – der Hauptgrund für Bismarcks raschen Weggang aus Göttingen und seinen Wechsel an die heimische Universität Berlin zu suchen sein. Immerhin hatte man ihm gestattet, einen Teil seiner Karzerstrafe in Berlin abzusitzen.

104  Hans-Christof Kraus Sein Göttinger Abgangszeugnis erhielt er übrigens erst nach beglaubigter Verbüßung dieser Reststrafe. Strafen dieser Art galten zu jener Zeit durchaus nicht als etwas besonders Auffälliges, gar als etwas Ehrenrühriges, sondern viel eher als Ausweis eines sportlichen oder schneidigen Studentenlebens; manche vor allem der adligen Studenten legten es geradezu darauf an, bei Gelegenheit einmal möglichst heftig über die Stränge zu schlagen, um später sagen zu können, man habe auch einmal einige Tage im legendären Karzer verbracht. Ein solches Verhalten scheint in den politisch sehr unruhigen Jahren des Vormärz geradezu zum ›guten Ton‹ in Göttingen gehört zu haben. Ein Bild des jungen Studenten Bismarck in Göttingen wäre unvollständig, wenn man seine Jugendfreundschaften, die er hier schloss, übergehen würde: Zu erinnern ist neben Gustav Scharlach, später Amtshauptmann im Hannöverschen, vor allem an diverse angelsächsische Kommilitonen, von denen er dem späteren amerikanischen Historiker und Diplomaten John Lothrop Motley lebenslange Freundschaft bewahrte. Gerade im Umgang mit seinen Studienfreunden aus Großbritannien und den USA gewann, so der Historiker Arnold Oskar Meyer, »der junge Bismarck, dessen Leben sich bis dahin zwischen Berlin und den väterlichen Gütern abgespielt hatte, […] lebendige Anschauung einer fremden Welt, einer größeren, politisch reiferen und freieren Welt« (S. 19). Und Motley hat einige Jahre später sogar in einem auto­ biographischen Roman mit dem Titel »Morton’s Hope« (1839) ein literarisch kaum verhülltes Bild des jungen Bismarck gezeichnet, der hier als extravagant-selbstbewusster Junker »Otto von Rabenmark« in Erscheinung tritt. Bismarck legte zwar, wie er selbst zugab, als Studienanfänger in Göttingen einen eher geringen Fleiß an den Tag: Im ersten Semester sollen es noch fünf Vorlesungsstunden pro Tag gewesen sein, im zweiten und dritten nur noch drei bzw. zwei, doch der eine oder andere seiner akademischen Lehrer scheint doch einen bleibenden Eindruck auf ihn, der in dieser Zeit schon die Laufbahn eines Diplomaten anstrebte, gemacht zu haben. Unter ihnen befanden sich neben dem berühmten Juristen Gustav Hugo der ebenfalls ältere und

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hoch angesehene Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren, Verfasser eines großen Werks über die Entstehung und Entwicklung des europäischen Staatensystems. Es ist nicht überliefert, welche genauen Eindrücke und Kenntnisse der junge Bismarck aus den Vorlesungen und Schriften Heerens gewonnen hat; jedenfalls soll Bismarcks Schreibtisch im Häuschen am Wall gelegentlich mit Atlanten und Geschichtswerken aller Art überhäuft gewesen sein. Einiges dürfte er also doch in der Leinestadt gelernt haben. Am 11. September 1833 reiste Bismarck aus Göttingen ab; neben einigen Geldschulden hinterließ er dort lebhafte Erinnerungen an einen adligen Studenten aus Preußen mit höchst unkonventionellem Auftreten und extravaganter Persönlichkeit. Das Bismarckhäuschen und der Aussichtsturm im Hainberg, der Bismarcks Namen trägt, erinnern an ihn, der später, abgesehen von mehrmaligen Durchreisen mit der Bahn und Kurzaufenthalten am Bahnhof, niemals wieder in Göttingen gewesen ist. Wenn er sich als alter Mann jedoch gerne an seine etwas wilde Studentenzeit in der Leinestadt zurückerinnerte, dann wohl auch deshalb, weil er eben hier  – den harten Zwängen seiner Kindheit und der familiären Misere entronnen  – erstmals ein freier, selbstbewusster Mensch hatte werden können. Literatur Engelberg, Ernst: Bismarck. Bd. I: Urpreuße und Reichsgründer. Berlin 1985. Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt 1980. Hesekiel, George: Das Buch vom Grafen Bismarck. Bielefeld 1869. Kraus, Hans-Christof: Bismarck. Größe  – Grenzen  – Leistungen. Stuttgart 2015. Marcks, Erich: Bismarcks Jugend 1815–1848. Stuttgart 1909. Mejer, Otto: Aus des Reichskanzlers göttinger Studentenzeit. In: ders.: Kulturgeschichtliche Bilder aus Göttingen. Linden-Hannover 1889. S. 153–169. Meyer, Arnold Oskar: Bismarck in Göttingen. In: Universitätsbund Göttingen. Mitteilungen. 1932. S. 17–24. Nissen, Walter: Otto von Bismarcks Göttinger Studentenjahre ­1832–1833. Göttingen 1982. Stadtmüller, Franz: Otto v. Bismarck als Student in Göttingen 1832/33 und seine späteren Beziehungen zu seinem Corps Hannovera, zur Georgia Augusta und zur Stadt. Göttingen 1960.

Ein Gasthaus für Göttingen Carl Gebhard und sein Hotel von Ernst Böhme

Über Emmanuel Carl Andreas Gebhard ist nicht viel bekannt. Seine Persönlichkeit zeichnet sich nur ganz schemenhaft anhand der kargen Einträge in den städtischen Registern ab. Geboren wurde er am 10.  Februar 1818 im hessischen Elben als Sohn eines aus Naumburg stammenden Schneidermeisters. Verheiratet war Carl Gebhard mit Marie Sophie Christine, geb. Kellner. Das Ehepaar hatte fünf Kinder, von denen Johann Georg Friedrich, genannt Jean, später die Nachfolge eines Vaters als Hoteldirektor antrat. Die Tochter Minna Gebhard heiratete Robert Rathkamp, den Sohn des Architekten Conrad Rathkamp. Alles andere bleibt unklar – sogar die Schreibweise des Nachnamens variiert: Während seine Frau in ihrem Sterbeeintrag die heute korrekte Namensform Gebhard führt, heißt ihr Mann dort konsequent Gebhardt, eine Diskrepanz, die  – angesichts ihrer vielgerühmten Korrektheit  – der deutschen Verwaltung kein besonders gutes Zeugnis ausstellt. Carl Gebhard scheint nur eine, dafür aber umso tiefere Spur in der Göttinger Geschichte hinterlassen zu haben: sein Hotel. Seine Person löst sich gewissermaßen in seinem Hotel auf, er ist das Hotel, das Hotel steht für ihn. Mit dessen Gründung bewies er bewundernswerten unternehmerischen Weitblick, der umso größere Anerkennung verdient, als der Bau 1862 und damit in einer für Göttingen sehr turbulenten Zeit erfolgte. Die Eröffnung der Universität 1737 hatte die künftige Entwicklung der Stadt tiefgreifend geprägt. Auswärtige Professoren und Studenten strömten in die Stadt und gaben kräftige neue Impulse für das gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben. Wichtige Neubauten entstanden wie der Reitstall und die Aula am Wilhelmsplatz. Die Befestigungsanlagen wurden

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nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges zwischen Preußen, Österreich und Russland (1756–1763) in eine Promenade umgestaltet, die sich bald der allergrößten Beliebtheit erfreute. Gleichzeitig bewahrte die Stadt aber bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts allen diesen Veränderungen zum Trotz noch immer ganz wesentliche Charakterzüge des 17.  und 18.  Jahrhunderts. Mit wenigen Ausnahmen wie der bedeutenden Tuchmanufaktur der Familie Grätzel produzierten Handwerk und Gewerbe für den lokalen und regionalen Markt. Der Wall markierte wie früher eine deutliche Grenze zwischen der Innenstadt und dem nur recht locker bebauten Umland, und auch in der Innenstadt verblieben noch beträchtliche Flächen ohne Bebauung. Noch immer wurden, verteilt über das gesamte Stadtgebiet, in 792 von 932 Eigentümer- bzw. Hauptmieterhaushalten an die 1000 Schweine gehalten, in der Regel ein oder zwei Stück pro Haushalt. Auch Ziegen kamen in der ganzen Stadt vor, und bei den Metzgern, Gastwirten und den wenigen Vollerwerbslandwirten in der Stadt standen immerhin 288 Pferde und 384 Rinder. Die meisten Nebengebäude wurden zu diesem Zeitpunkt noch als Ställe genutzt, so dass das Vieh mit allen seinen Begleiterscheinungen zum Alltag gehörte und wichtiger Teil der Selbstversorgung der Einwohner war. Altes und Neues standen oft unvermittelt nebeneinander, ohne dass die Bevölkerung unter diesen spannungsreichen Verhältnissen merklich gelitten

108  Ernst Böhme hätte. Die Menschen machten das Beste daraus – eine Haltung, die der Mundartdichter Ernst Honig treffend zum Ausdruck bringt, wenn er seinen Schorse Szültenbürger, den Prototyp des Göttinger Bürgers, im heimischen Platt sagen lässt: »Ich hawe 4 Stedenten un 3 Schweine – mich cheht es chanz chut!« In diese beschauliche Idylle brach die moderne Zeit gewissermaßen mit Volldampf herein  – durch den Anschluss Göttingens an das Eisenbahnnetz des Königreichs Hannover. Der Ausbau der Verkehrswege und die Verbesserung der Nachrichtenverbindungen (Neudeutsch: Infrastruktur und Kommunikation) sind seit jeher wichtige Voraussetzungen und Antriebskräfte für die wirtschaftliche Entwicklung gewesen. Was heute vielspurige Autobahnen und das weltumspannende Internet leisten, bewirkte im 19.  Jahrhundert die Eisenbahn. Auch für Göttingen gab der Ausbau des Schienennetzes den entscheidenden Anstoß zum Wachstum der Stadt sowie zum Aufschwung von Wirtschaft und Industrie. Der 31. Juli 1854, der Tag also, an dem die Eisenbahn­strecke von Alfeld nach Göttingen eröffnet und der hiesige Bahnhof mit einem prächtigen Fest eingeweiht wurde, war daher für die Stadt ein Datum von überragender Bedeutung. Göttingen wurde dadurch an die Schwelle zur Moderne katapultiert. Die seit Jahrzehnten bei etwa 10.000 verharrende Einwohnerzahl verdreifachte sich binnen 30 Jahren, Wirtschaftsbetriebe siedelten sich an, und durch die Entstehung neuer Wohnviertel sprengte die Stadt endgültig den Ring des mittelalterlichen Walles. Zudem änderte sich durch den Bahnhof auch die verkehrsmäßige Ausrichtung der Stadt. War der Hauptverkehr seit der Stadtwerdung im 13. Jahrhundert auf der Nord-Süd-Achse zwischen Weender und Geismar Tor durch die Stadt gerollt, so erreichten Menschen und Güter Göttingen jetzt über die ostwestlich ausgerichtet Allee. Die Allee wurde in den folgenden Jahrzehnten zum repräsentativen ›Empfangssalon‹ der Stadt. Dass Carl Gebhard dort 1862, also nur sechs Jahre nach Eröffnung der Bahnlinie, sein stattliches Hotel erbaute, kann nur als Geniestreich bezeichnet werden. Architekt des Neubaus war also Conrad Rathkamp, für den das Hotel der erste private Großauftrag war. Offenbar ganz be-

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wusst unterschied sich das neue Haus sowohl im Baumaterial wie auch im Stil von der alteingesessenen Konkurrenz, insbesondere von der Krone von England in der Weender Straße, dem bisherigen ersten Haus am Platz. Carl Gebhard ließ die Fassaden in der damals für Göttingen fortschrittlichen Rohbauweise aus unverputztem Sand- und Tuffsteinmauerwerk errichten. Wohl auf speziellen Wunsch des Bauherrn ist das dreigeschossige Gebäude mit Walmdach zudem im damals modernen sogenannten »Münchner Rundbogenstil« gehalten. Wie sich bald zeigen sollte, hatte Carl Gebhard die Marktlage und die Wünsche seiner Kunden richtig eingeschätzt: Das Publikum fand an Gebhards Hotel schnell so großen Gefallen, dass das Haus schon wenig später erweitert werden musste. 1865 konstruierte Conrad Rathkamp für seinen Auftraggeber – dem altdeutschen Zeitgeschmack entsprechend – einen rustikalen Biertunnel, ein Gewölbe zum Biertrinken, und fügte wenig später eine großzügige Veranda an. Kurz nach der Heirat von­ Rathkamps Sohn Robert und Gebhards Tochter Minna 1880 entstanden an der Allee und in der Oberen Maschstraße weit­ läufige Erweiterungsbauten im gleichen Stil. Der Wirtschaftsaufschwung der Industrialisierung und die damit einhergehende technische Modernisierung insbesondere von Verkehr und Versorgung veränderte das Gesicht der Stadt. 1861 nahm das nach langen Diskussionen in der Nähe des Bahnhofs errichtete Gaswerk seine Arbeit auf, so dass am 28. Januar diesen Jahres Göttingen erstmals von modernem Gaslicht erhellt wurde. Erstmals auch in ihrer Geschichte überschritt die städtische Bebauung in nennenswertem Umfang die Grenze des Walls. Göttingen ergriff von seinem Umland Besitz. Im Osten, an den bisher öden Hängen des Hainbergs, entstand das vornehme Ostviertel, wobei Professoren und Dozenten der Universität als Bauherren diesen Prozess entscheidend vorantrieben. Um diesen expandierenden Stadtteil mit seinen wohlhabenden Bewohnern an die Innenstadt anzubinden, wurden in den 1890er Jahren die Theaterstraße und die Friedrichstraße neu angelegt. Den wachsenden Ansprüchen der Göttinger an Kultur und Bildung wurde durch die Neubauten des Gymnasiums

110  Ernst Böhme (1881–1884) und des Stadttheaters (1889–1890) am Fuß des Ostviertels Genüge getan. Auch die Universität expandierte und errichtete zwischen 1862 und 1865 vor dem Weender Tor das re­ präsentative Auditorium. Eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass in Göttingen die Wirtschaft wuchs, die Kultur aufblühte und damit auch Carl Gebhards Hotel florierte, war ein radikaler politischer Umsturz, den Deutschland in jenen Jahren erlebte. Im sogenannten Deutschen Krieg von 1866 besiegte Preußen unter der Führung Otto v. Bismarcks Österreich und seine Verbündeten. Zu diesen gehörte auch das Königreich Hannover mit der Stadt Göttingen. In dem kurzen, darum aber nicht weniger dramatischen Kampf Hannovers gegen das übermächtige Preußen wurde Göttingen zu einem wichtigen Schauplatz. Am 16.  Juni 1866 hatte der blinde König Georg  V. von Hannover sein Hauptquartier in Göttingen aufgeschlagen. Er selbst logierte allerdings nicht im modernen Hotel Carl Gebhards, sondern hatte der traditionsreichen Konkurrenz den Vorzug gegeben und nahm in der Krone Quartier. Am 21.  Juni rückten die hannoverschen Truppen nach Süden ab, um sich sechs Tage später bei Langensalza ein Gefecht mit einer kleineren preußischen Abteilung zu liefern. Der dabei errungene Sieg war vergeblich. Hannover musste am 29. Juni kapitulieren; die eisenbeschlagene Truhe, in der der hannoversche Kriegsschatz verwahrt worden war, wird noch immer im Städtischen Museum verwahrt. Nach der Annexion Hannovers durch Preußen am 3. Oktober standen die Göttinger den neuen Herren zunächst sehr feindselig gegenüber. Schon bald allerdings zeigte sich, dass ihre Stadt von der Zugehörigkeit zu dem mächtigen und gut organisierten preußischen Staat nur profitieren konnte. Insbesondere die Universität, die gezielt von der preußischen Regierung gefördert wurde, blühte auf und errang nationales und internationales Ansehen vor allem in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Schon bald ließen sich die Göttinger in ihrer Bewunderung für den ehemaligen Göttinger Studenten Otto v. Bismarck von niemandem übertreffen und errichteten ihm zu Ehren nicht nur einen Bismarckturm, sondern auch einen Bismarckstein.

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Es war eine glückliche Fügung, deren Bedeutung nicht zu überschätzen ist, dass 1870 und damit rechtzeitig zum Beginn der preußischen Ära in Göttingen mit Georg Merkel ein äußerst tatkräftiger und erfolgreicher Mann zum Bürgermeister gewählt wurde. Über 23 Jahre lenkte er die Geschicke Göttingens, das sich in dieser Zeit von einem verschlafenen hannoverschen Landstädtchen zu einer modernen preußischen Mittelstadt entwickelte. Merkels Modernisierungspolitik erfasste so gut wie alle Bereiche des Kommunalwesens: Straßenbau, Kanalisation und Wasserversorgung, Schulwesen und Friedhöfe, die Feuerwehr, das Sozialwesen und die Finanzen. Das Lieblingsprojekt des Bürgermeisters war die Bewaldung des Hainbergs, wodurch Göttingen an Attraktivität nicht zuletzt als Altersruhesitz für wohlhabende Pensionäre gewann. Sogar international zog Göttingen damals die Blicke auf sich. Auf der 19.  Weltausstellung in Chicago 1893 präsentierte sich die Albanischule im Themenbereich ›Ausstellung des Schulund Unterrichtswesens‹. Sie bot als erste Schule in Deutschland eine Badeeinrichtung für Schüler an. Vorgesehen war, dass jedes Kind zweimal in der Woche kostenlos ein Bad nahm und währenddessen die Kleider der Kinder desinfiziert wurden. Die Albanischule galt damit als Musterbeispiel für neue Hygienemaßnahmen im öffentlichen Raum und wurde auf der Welt­ ausstellung mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet. Carl Gebhard und sein Hotel haben diesen Aufschwung, diese Veränderungen und Modernisierungen nicht nur begleitet. Sie haben sie vorangetrieben und davon profitiert, wovon die großzügigen Erweiterungsbauten in den 1880er Jahren ein beredtes Zeugnis ablegen. Dieser Ausbau war allerdings bereits in der Verantwortung seines Nachfolgers Jean Gebhard erfolgt, dem er die Leitung des Hotels Anfang der siebziger Jahre übergeben hatte. Nachdem seine Frau Marie Sophie Christine 1883 verstorben war, erlag Carl Gebhard am 10. Dezember 1895 einer Lymphgefäßentzündung.

112  Ernst Böhme Literatur Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Bd. 2: Vom Dreißigjähri­ gen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1866). Hrsg. von Ernst Böhme und Rudolf Vierhaus. Göttingen 2002. Saathoff, Albrecht: Geschichte der Stadt Göttingen. Bd. 2: Seit der Gründung der Universität. Göttingen 1940.

Rudolf von Jhering Ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit von Okko Behrends

Rudolf von Jhering wurde am 22. August 1818 im ostfriesischen Aurich als Sohn einer alteingesessenen, hoch angesehenen Juristenfamilie geboren. Die in der Nähe seines Geburtsorts gelegene Moorkolonie Jheringsfehn hält noch heute, den unternehmerischen Sinn eines Vorfahren bezeugend, den Namen der Familie in der Region wach. Jhering begann sein Studium der Rechtswissenschaften im Mai 1836 in Heidelberg, setzte es nach zwei Semestern in München fort, wurde aber von den weitsichtigen Seinen, die über ihn wachten, nach Göttingen beordert. Der Dichter Friedrich Hebbel, dem er an den beiden ersten Studienorten begegnet war, hatte seine literarische Begabung erkannt und in ihm den Gedanken an eine mögliche Laufbahn als Schriftsteller geweckt. Erst in Göttingen, wo er 1837 die Vertreibung der Göttinger Sieben erlebte, begann Jhering ernsthaft zu studieren und wäre nach dem Abschluss in den Staatsdienst eingetreten, wenn ihn die damalige königlich-hannoversche Landesregierung zum Staatsexamen zugelassen hätte. Man wollte aber neben seinem älteren Bruder, der bereits hannoverscher Staatsbeamter war, nicht noch einen weiteren einfluss­ reichen Jhering in Staatsdiensten haben. So wurde er auf die Hochschullehrerlaufbahn verwiesen, die ihn zunächst nach Berlin führte. Auf dem damit eingeschlagenen Weg, der ihn nach einer kurzen Berliner Privatdozentur über Basel, Rostock, Kiel und Gießen nach Wien führte, erlebte er dann ein zweites Mal eine Rückkehr zur nüchtern-arbeitsamen Stadt an der Leine. Denn nach vier glanzvollen Jahren in der mondänen Kaiserstadt an der Donau, wo er Auditorien von 400 Studenten hatte, entschied sich Jhering 1872, wie er brieflich in vielen Variationen berichtet, für »die Stille, Ruhe, Langeweile

114  Okko Behrends

von Göttingen«, um sich ganz seinem »Hauptberuf«, der – juristischen – »Schriftstellerei«, widmen zu können. Das gelang ihm. Zugleich hat seine lebhafte, den Studenten zugewandte Lehre und seine ebenso anregende wie großzügige häusliche Geselligkeit damals viel zur Attraktivität des Studienortes Göttingen beigetragen. Durch einen lebenslangen »Kampf um’s Recht« und die gleichnamige in fast alle Sprachen der Welt übersetzte Streitschrift zu einer juristischen Weltberühmtheit geworden, ist er hier am 17. September 1892 gestorben. Die Stadt Göttingen hält die Erinnerung an ihn wach: durch die Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Bürgerstraße Nr. 14 und die nach ihm benannte Jheringstraße an der Ostseite des Alten Stadtfriedhofs, nahe seiner sorgfältig instand gehaltenen Grabstätte. Die Göttinger Universität steht dem nicht nach. Im großen Seminarraum des Instituts für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung

Rudolf von Jhering 115

im Auditorium, Weender Landstraße 2, in dem Jhering einst gelehrt hat, steht ein schwarzes, robustes Schreinermöbel, auf dem eine Silberplakette stolz verkündet: »Jherings Schreibtisch«. In der Tat hat er, einst in Rostock für den jungen Hochschullehrer gezimmert, dessen arbeitsreiches Leben bis zum Ende begleitet. Jherings Marmorbüste steht prominent im Eingangsbereich der Aula am Wilhelmsplatz, ihr Gipsmodell im Sitzungszimmer seiner ehemaligen Juristischen Fakultät. Abgüsse von ihr finden sich nicht nur im Foyer des Göttinger Instituts für Rechtsgeschichte, sondern auch an manchen anderen Orten der Welt wie in Neapel, das Jhering einst besucht hat, oder wie in der Cornell University in Ithaca, wo man sich ihm besonders intensiv gewidmet hat. Selbst in Studierstuben von Jhering-Verehrern hat sie neuerlich einen Platz gefunden. Das sind äußerliche Zeichen der bis heute anhaltenden Wirkung eines sprachmächtigen, leidenschaftlichen Rechtsdenkers, der seinen Gegenstand nicht nur durchdringend verstehen, sondern zugleich an der Gestaltung der zeitgenössischen Lebensverhältnisse unmittelbar mitwirken wollte. Zugleich vermitteln seine Texte in mitreißend optimistischer Weise die Überzeugung, dass das Recht in Geschichte und Gegenwart die Hauptbedingung eines freien, tätigen Lebens ist. Die Gewissheit, dass Anerkennung von richtigen Verhaltensnormen und Freiheit einander nicht widersprechen, hatte sich in Jhering früh ausgebildet. Als Schüler schenkte er seiner Mutter einen damaligen pädagogischen Bestseller, das dreibändige Werk von August Hermann Niemeyer »Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner« (8. Auflage 1824) mit der Bitte, ihn fortan danach zu erziehen. Kein Wunder, dass es dann auf höchst fruchtbaren Boden fiel, als ihn auf dem Ulricianum in Aurich sein bis ins hohe Alter hochverehrter Lehrer Wilhelm Reuter mit Gotthold Ephraim Lessings Schrift »Erziehung des Menschengeschlechts« (1780) vertraut machte. Das, was ihm an Idealismus geblieben sei, schreibt er am Ende seines Lebens, verdanke er dieser geistigen Begegnung. Es war eine Vorprägung, die ihn dauerhaft begleiten sollte. Dass das Recht den höheren Auftrag einer kulturellen, die Men-

116  Okko Behrends schen zur Selbständigkeit führenden Erziehung hat, blieb eine Konstante seines geistigen, von einer leidenschaftlich durchlebten Selbstkorrektur geprägten Entwicklungsganges. Dass es zu dieser Selbstberichtigung kommen musste, lag an der einseitigen Art, in der er in Berlin an die damals blühende, von Friedrich Carl v. Savigny gegründete Historische Rechtsschule anknüpfte. Savigny, der Lessing bewunderte, hatte das Römische Recht in seinem System als eine zwischen Freiheit und sozialen Pflichten vermittelnde Ordnungskraft erneuert. In dieser seiner reifen und ausgewogenen Form hatte er das gefunden, was dem römischen Volk einst zum Wohl der Menschheit offenbart und dann seiner inneren Wahrheit wegen von den europäischen Völkern wieder aufgenommen worden sei. Jhering geriet in Berlin aber nicht unter den Einfluss S­ avignys, sondern unter den seines Meisterschülers Puchta. Dessen Werk, der mehrbändige Cursus der Institutionen – Jherings Doktorund Habilitationsvater Rudorff sollte es nach Puchtas frühem Tod in weiteren Auflage betreuen  –, brachte schon in seinem Titel »Geschichte des Rechts bei dem römischen Volk …« zum Ausdruck, dass das »Recht« nicht bei den Römern entstanden sei, vielmehr einen älteren Ursprung habe. Puchta fand ihn im Alten Testament in der Figur Adams: Jedes Mitglied der Menschheit kann sich seitdem darauf berufen, dass ihm »in der Person des ersten Menschen die Herrschaft über die Erde gegeben ist, aber er muss auch anerkennen, daß dies ein Rechtssatz, keine moralische Vorschrift ist; er muss die Bahn zu diesem Ziel einschlagen, die ihm das Recht eröffnet«. In den begrifflichen Formen des Rechts setzt sich danach die aller Staatlichkeit voraufgehende Fähigkeit des einzelnen Menschen, sich der Dinge zu bemächtigen, unmittelbar fort. Jhering nahm diesen höchst individualistischen, die »Thatkraft« des Einzelnen ins Zentrum rückenden Gedanken in seinem ersten Hauptwerk »Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung« mit großer Energie auf. Dem »Andenken des großen Meisters Georg Friedrich Puchta« gewidmet, geht es in seiner Konzeption bereits auf die Vorlesungen des Berliner Privatdozenten zurück. Meister wie Schüler vereinte dabei die Übereinstimmung mit der damals

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in der gesamten bürgerlichen Welt verbreiteten Selbsthilfebewegung, die das alte aristokratische »Dieu et mon droit« verallgemeinerte: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!« Die Sicherheit, die gewaltsame Selbsthilfe einem Erwerb verleihen kann, verwandelt sich in dieser Perspektive in die Sicherheit, die einem Erwerb durch eine formal berechtigende, staatlich gewährleistete Rechtsregel zuteilwird. In Jherings Worten: »Die privatrechtlichen Institute sind die Formen, in denen das Freiheitsbedürfnis des individuellen Lebens sich befriedigt.« Was die »Thatkraft« nach den Begriffen des Rechts erwirbt, verlangte Anerkennung, mag dies auch Härten einschließen. J­ hering war damals noch das, was er später so leidenschaftlich bekämpfen sollte, ein entschiedener »Begriffsjurist«. Kein Wunder daher, dass der junge Jhering keine Bedenken hatte, in einem frühen Aufsatz einem Fragment des römischen Kaufrechts eine erstaunliche Regel zu entnehmen: Wer dieselbe Sache zweimal verkauft, sollte danach, wenn diese Sache noch bei ihm, wie der Jurist sagt, ohne sein Verschulden untergeht und daher, da nicht mehr existent, von ihm nicht mehr geliefert werden kann, den Kaufpreis doppelt bekommen, d. h. je von beiden Käufern. Es war einer der vielen Fälle des Römischen Rechts, deren oft nicht einfache Auslegung in jener Zeit geltendes Recht hervorbrachte: Ein Sklave war zweimal verkauft worden und vor Übergabe eines natürlichen Todes gestorben. Wissenschaftsbiographisch sollte sich für Jhering in jener damals von ihm gelehrten Entscheidungsnorm die verfehlte, einseitig auf den Schutz erworbener Rechte gerichtete Einseitigkeit des Systems konzentrieren, das er bei Puchta gelernt hatte. Denn die Wiederbegegnung mit ihm löste in ihm eine heftige, ihn tief ergreifende Abwehrreaktion aus. Als Hochschullehrer in Gießen gutachtlich mit einem gleichartigen Fall konfrontiert (diesmal war ein Schiff, an dem ein Anteil doppelt verkauft worden war, im Sturm untergegangen, und wieder war ein Verkäufer schuldlos nicht mehr in der Lage, seine Lieferverpflichtung zu erfüllen), sah er sich nicht nur außerstande, jene Entscheidungsnorm aufrechtzuerhalten, sondern fühlte sich gezwungen, seine Denkungsart von Grund auf zu revolutionieren.

118  Okko Behrends Das auf den 1. Januar 1859 datierte Gutachten bedeutete, wie man angesichts des alttestamentlichen Hintergrunds seiner älteren, formalistischen »begriffsjuristischen« Gesinnung gar nicht so unzutreffend gesagt hat, sein »Damaskus«. Höchster Wert ist ihm fortan nicht mehr die Erwerbssicherheit fordernde Freiheit, sosehr sie im Zentrum blieb, sondern die vom »Rechtsgefühl« erfassbare »Gerechtigkeit«. Durch sie fühlte er sich ermächtigt, jene Entscheidung zu revidieren. Auch die Gerechtigkeit will bei Jhering Freiheit, aber nunmehr in Gestalt berechtigter, von ihr inhaltlich als schutzwürdig anerkannter »Interessen«. Im zweiten, der Grundlegung des neuen Denkens gewidmeten Hauptwerk, dem in Göttingen entstandenen »Zweck im Recht«, um dessentwillen er sein Werk »Geist des römischen Rechts« unvollendet ließ, gibt er dem neuen Denken systema­ tischen Ausdruck. Das neue Rechtsbild formt sich jetzt aus zwei Kreisen, dem Individuum und seinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Das Individuum bleibt im Zentrum: »Der Mensch ist Selbstzweck.« Es steht aber in einem Wechselverhältnis zur menschlichen Gesellschaft. Das Individuum, der große Selbstzweck, wird nicht nur von dem, was ihn umgibt, gehalten und gefördert, sondern trägt durch das, was er ist und tut, auch zur Verbesserung und Fortentwicklung der Verhältnisse bei. Jhering fasst das im »Zweck im Recht« in drei lapidare Sätze: »Ich bin für mich da.« »Die Welt ist für mich da.« »Ich bin für die Welt da.« Recht ist ihm jetzt »die verwirklichte Partnerschaft des Individuums mit der Gesellschaft«. Wenn die staatliche Aufgabe lautet: »Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft«, so ist das »Lebensprinzip der Gesellschaft« die den Einzelnen fördernde »Gerechtigkeit«. Daher Jherings optimistisches Wort: »Fiat iustitia ut floreat mundus«, »Es geschehe Gerechtigkeit, auf dass die Welt blühe«. Die religiöse Letztbegründung seines Denkens bleibt. Sie meint aber jetzt ein in der Wirklichkeit greifbares Vernunftprinzip, das zielgerichtet über die Freiheit des Individuums die stete Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen aller Menschen erstrebt. Im Vorwort zum »Zweck im Recht« schreibt er daher, dass sein Rechtsdenken die »Annahme eines von Gott gesetzten Zweckes in der Welt« verlangt. »Zweck« ist

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ihm jetzt die Chiffre für die freies menschliches Zusammenleben ermöglichende Sinnhaftigkeit des »geschichtlich«, in der jeweiligen zukunftgerichteten Gegenwart erfahrbaren Rechts. Es ist im Ergebnis eine Rückkehr zum Lessing’schen Rechtsglauben Savignys. Dessen »heutiges«, d. h. für seine Zeit anwendbar gemachtes Römisches Recht erneuerte Jhering in der berühmt gewordenen Formel: »Durch das römische Recht über dasselbe hinaus!« Jhering hat sich über die Revolution seiner Denkungsart, seines »Umschwungs«, wie er ihn nannte, sofort unter dem unmittelbaren Eindruck des ihn tief ergreifenden seelischen Erlebnisses geäußert, und zwar in Nutzung der ganzen Palette seiner vielfältigen Begabung als geistreicher Schriftsteller und Redner wie als scharfsinniger Rechtsdenker und Rechtspolitiker. In sechs »Vertraulichen Briefen über die heutige Deutsche Jurisprudenz von einem Unbekannten«, die seit 1861 nach und nach im Organ des Deutschen Juristentages erschienen, ging er mit allen Juristen einschließlich seiner selbst, die bisher über Berechtigungen nur nach der begrifflichen Form entschieden hatten, aufs Schärfste ins Gericht. In einer späteren Publikation »Scherz und Ernst in der Jurisprudenz« (1884), in der die Briefe aufgenommen wurden, verhieß er ihnen nicht gerade die Hölle, aber doch als eine Art Vorhölle den »Begriffshimmel«. Der früher von ihm so sehr verehrte Puchta gilt aufgrund der Polemik, die Jhering in der späten Göttinger Monographie »Der Besitzwille« (1889) gegen ihn persönlich gerichtet hat, bis auf den heutigen Tag als Inkarnation des gnadenlosen Begriffsjuristen. In den großen Wiener Vorträgen, der Antrittsvorlesung »Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?« (1868), der Abschiedsvorlesung »Kampf ums Recht« (1870), aus deren Ausarbeitung der schon erwähnte Weltbestseller hervorgegangen ist, und dem späteren Gastvortrag (1884) bei Gelegenheit einer Reise nach Italien, »Die Entstehung des Rechtsgefühls«, entfaltete ­Jhering die Grundgedanken des »Zwecks im Recht« mit hinreißender Beredsamkeit: Die Jurisprudenz erweise sich als »Wissenschaft« dort, wo sie die mit dem Recht gemachten, geistigen Erfah­ rungen ordnet und nutzt; der »Kampf um’s Recht«, den der einzelne, geführt von seinem Rechtsgefühl, ausficht, diene dem

120  Okko Behrends Fortschritt der Gesellschaft; das »Rechtsgefühl« schließlich sei ein Erziehungsprodukt der rückgekoppelten Erfahrung mit Recht: Je besser das Recht, um so feiner und anspruchsvoller das seine Anwendung und Fortbildung führende, nach Gerechtigkeit verlangende Rechtsgefühl. Mit seinem »Umschwung« hatte Jhering zu sich selbst gefunden, war darum aber nicht etwa innerlich zur Ruhe gekommen. Die starke Erregung, welche die Notwendigkeit einer inneren Befreiung von seinem älteren, einseitigen Glauben an die Rechtsbegriffe in ihm ausgelöst hatte, wirkte in der immer wieder durchbrechenden Leidenschaftlichkeit seiner Äußerungen dauernd nach. Sie haben ihn zu einem der einflussreichsten Rechtsdenker der Welt gemacht, aber auch manchem Miss­ verständnis Vorschub geleistet. Selbstkritische Sätze wie »Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen …«, und seine einseitig zugespitzte These, dass der »Staat die alleinige Quelle des Rechts« ist, haben manche in seinem Denken die Keime der Freirechtsbewegung und des Sozialdarwinismus entdecken lassen, deren Saat im Dritten Reich aufgegangen ist. Gerecht war das nicht. Aber es war die Folge des Irrtums seiner Jugendphase. Denn dessen Abarbeitung bewirkte, dass er das, was er als das Richtige erkannt hatte, nicht abgewogen zum Ausdruck brachte wie ein Savigny, sondern immer wieder mit überschießender Leidenschaft, eben wie ein Jhering. Literatur Pleister, Wolfgang: Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings. Ebelsbach 1982. Rudolf von Jhering. Beiträge und Zeugnisse. Hrsg. von Okko Behrends. Göttingen 1993. Schröder, Jan: Rudolf von Jhering. In: Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Hrsg. von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder. 5., neu bearbeitete und aktualisierte Aufl. Heidelberg 2009.

Otto Wallach – ein großer Göttinger Chemiker von Jürgen Troe

Wer kennt nicht den Roman »Das Parfum« von Patrick S­ üskind, in dem der bemerkenswerte Geruchssinn eines Parfumeurs zum Ausgangspunkt mörderischen Geschehens wird? 1972, während meiner Zeit an der École Polytechnique Fédérale in Lausanne, habe ich einem solchen Parfumeur, einem wirklichen Künstler, bei der Arbeit zuschauen können. Von der Firma Firmenich aus Genf kommend, suchte er jede Woche einen meiner Kollegen auf. Dieser analysierte mit der Methode der Hochleistungschromatographie ätherische Öle – wie etwa das bulgarische Rosenöl  – auf ihre Zusammensetzung. Sein Ziel war es, die wesentlichen Komponenten dieser natürlichen Essenzen zu isolieren und zu identifizieren. Was wesentlich war, musste dann die Nase des Parfumeurs entscheiden. Von den modernen Trenn- und Analyseverfahren wie der Gaschromatographie und der kernmagnetischen Resonanz (NMR), mit der sich die Struktur der isolierten Substanzen schnell ermitteln lässt, konnte 80 Jahre zuvor ein Chemiker wie Otto Wallach nur träumen. Er musste noch versuchen, die von der Natur geschaffenen Stoffgemische durch fraktio­ nierte Destillation, Kristallisation und unterschiedliche Verteilung in Lösungsmitteln aufzutrennen, um dann durch gezielten chemischen Abbau die Struktur der so gewonnenen Verbindungen zu erraten. Man kann dieser detektivischen Arbeit heute nur die höchste Bewunderung zollen. Das Göttin­ger Museum der Chemie besitzt Exemplare der seinerzeit verwendeten Geräte wie z. B. optische Refraktometer, mit denen der Brechungsindex gemessen werden kann. Diese alten, oft polierten Geräte aus Messing sind wunderschön anzuschauen, ebenso wie die Sammlung der von Chemikern wie

122  Jürgen Troe Wallach isolierten kristallisierten und in Röhrchen aufbewahrten Substanzen. Die Forschungsarbeit Otto Wallachs erforderte mehr Geduld und experimentelles Geschick, als andere Zeitgenossen aufbringen mochten. Wallachs Nachfolger Adolf Windaus charakterisierte dessen Leistungen im Nachruf von 1931 entsprechend. Er meinte, sie bestünden »nicht in einer genialen Idee, nicht in einer grundlegenden Erkenntnis; er hat auch keine neuen Methoden geschaffen, aber er hat die vorhandenen so lange in allen Einzelheiten studiert, bis er mit ihnen die Ergebnisse erzielte, die andere vergeblich gesucht hatten. So hat er mit unermüdlicher Geduld, mit bewundernswerter Experimentierkunst die Zugänge zu dem kaum betretenen Gebiet der Terpene erschlossen.« Diese Terpene machen einen wichtigen Teil  der pflanzlich produzierten ätherischen Öle und deren Geruchsstoffe aus. Otto Wallach war der erste Göttinger, dessen Leistungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. 1847 in Königsberg geboren und in Potsdam aufgewachsen, studierte er hauptsächlich in Göttingen, wo er 1869 promoviert wurde. Nach Tätigkeiten als Assistent an den Universitäten Bonn und Berlin und als Industriechemiker bei der Firma Agfa habilitierte er sich 1873 in Bonn, wo er 1876 zum Extraordinarius ernannt wurde. Hier begann er 1884, die Chemie der Terpene zu erforschen, und dieses Lebensthema ließ ihn nicht mehr los. Sein Forschungsgebiet verfolgte er auch in Göttingen, wohin er 1889 als Nachfolger der berühmten Chemiker Friedrich Wöhler und Victor Meyer berufen wurde. Meyer seinerseits, der Wallach als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte, ging als Nachfolger Robert Wilhelm Bunsens – also auch eines alten Göttingers – nach Heidelberg. Meyer hatte Göttingen zu einer Hochburg der Aromatenchemie gemacht, also einer aus dem Steinkohlenteer isolierbaren Stoffklasse von ringförmigen Kohlenwasserstoffen mit konjugierten Doppelbindungen. Mit Wallachs Ankunft änderte sich diese Ausrichtung, indem von ihm in Göttingen nun vor allem alicyclische, also nichtaromatische, Ringverbindungen bearbeitet wurden. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1915  – er war damals 68 Jahre alt  – blieb Wallach in Göttingen. Aus seiner Dienst-

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wohnung im Chemischen Institut in der Hospitalstraße zog er dann um in ein eigenes Haus in der Herzberger Landstraße. Verheiratet war er nie; so konnte er sich ganz seiner Laborarbeit widmen. Wallach starb 1931 und wurde auf dem Göttinger Stadtfriedhof an der Kasseler Landstraße nahe dem Nobelpreisträger-Rondell begraben. Wallachs Umzug 1889 nach Göttingen kann man kaum glücklich nennen. Natürlich konnte er diesen Ruf nach Göttingen nicht ablehnen, aber er beschreibt in seinen Lebenserinnerungen sehr anschaulich, wie ihm geschah. Zunächst litt er unter der Behandlung durch den »Universitätspapst Friedrich von Althoff, dessen ganze rücksichtslose, unsachlich-brutale Methodik« er schon in Bonn zu spüren bekommen hatte. Althoff drückte zudem noch Wallachs Göttinger Bezüge unter den Betrag, den er in Bonn als Extraordinarius erhalten hatte, und das war wenig genug. Dann war das Göttinger Wetter so viel

124  Jürgen Troe nasskälter, als er es aus Bonn gewohnt war. Die Umgebung war wenig attraktiv, denn der Hainberg war noch nicht bewaldet. Und dann die Göttinger Professoren … Die kollegialen Beziehungen waren nicht minder unterkühlt als das Wetter. Wehmütig dachte er an die »leichtlebigen, leichtauffassenden und weinfrohen Menschen« in Bonn zurück. In Göttingen traf er auf »diese schwerblütigen Niedersachsen, mit ihrem die einfachsten, ungewohnten Dinge nur schwer aufnehmendem Naturell, … jede dienstliche Anordnung mit einem endlosen, breiten Geschwätz beantwortend. Statt des Welttreibens klösterliche Stille. Dafür verständnisvolle Einschätzung der Arbeitsneigung des Einzelnen.« Vielleicht kam dieser letzte Aspekt dann doch Wallachs Arbeitsleidenschaft entgegen. 1895 gelang ihm die Strukturbestimmung des α-Terpineols, einer Substanz, die aus dem Harz von Nadelbäumen zu isolieren ist und heute als Duftstoff und Bakterizid in Haushaltsreinigern praktische Verwendung findet. Ausgehend von diesem Erfolg erkannte Wallach, dass die Terpene ganz allgemein auf dem Isopren als Grundeinheit aufbauen, einem Molekül mit fünf Kohlenstoffatomen, das die Chemiker mit 2-Methylbuta-1,3-dien bezeichnen. Das Isopren selbst spielt in der Natur eine wichtige Rolle, da es von der Pflanzenwelt in großen Mengen an die Atmosphäre abgegeben wird, etwa in gleicher Menge wie das von der Natur freigesetzte Methan, und deshalb eine wichtige Rolle in der Chemie der Troposphäre spielt. Mit seiner eindeu­tigen Strukturaufklärung der ersten Terpene als vom Isopren abgeleiteter Moleküle leistete Otto Wallach Pionierarbeit auf dem Gebiet der Naturstoffchemie und der Biosynthese. Heute sind viele Tausend verschiedene Terpene bzw. von Terpenen abgeleitete Moleküle aus der Natur bekannt. Sie sind industriell in hohem Maße interessant, nicht nur als Geruchs- und Geschmacksstoffe, sondern auch als Pheromone, Bakterizide und Insektizide sowie vor allem als Ausgangspunkt für viele Pharmazeutika. Die unerschöpfliche Naturstoff­chemie ist ohne die Basis der von Wallach begründeten Terpenchemie kaum denkbar. 1909 publizierte er einen Überblick über die Ergebnisse seiner Untersuchungen in dem Buch »Terpene und

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Campher. Zusammenfassungen eigener Untersuchungen auf dem Gebiet der alicyclischen Kohlenstoffverbindungen«. Dieses Buch kann man als sein Hauptwerk ansehen, und so nahm schließlich auch der Text der Verleihungsurkunde des Nobelpreises 1910 darauf Bezug. Wie so oft im Leben liegen Höhen und Tiefen dicht nebeneinander: Während sich Wallach auf die Winterreise nach Stockholm vorbereitete, wurden bei einem Einbruch in sein Institut die für Laborexperimente unentbehrlichen und wertvollen Platingeräte entwendet. Auch versuchten dubiose Bittsteller gleich, ihren Teil am Nobelpreis-Geld zu ergattern, aber Wallach war erfahren genug, um sich nicht so einfach übertölpeln zu lassen. Terpene waren nicht Wallachs einziges Arbeitsgebiet. Er konnte noch zu vielen Teilgebieten der Chemie so entscheidende Beiträge leisten, wie es heute kaum mehr möglich ist. Aber nicht alle seine Beschäftigungen mit der Chemie liefen problemlos ab. 1895 kam es in seiner Experimentalvorlesung – wie sich später herausstellte wegen der Unachtsamkeit des Vorlesungs­assistenten bei der Versuchsvorbereitung  – zu einer Acetylen-Sauerstoff-Explosion. Wallach selbst wurde übel verletzt, während die meisten Studenten glücklicherweise mit dem Schrecken davonkamen. In seinen Erinnerungen schreibt Wallach: »Der erste Erfolg war, dass das Studenten-Publikum in wilder Flucht das Lokal räumte. Nur ein paar blieben. Unter diesen der Stabsarzt Lindner, der sich um mich bemühte, und die einzige anwesende Dame, Fräulein Neumann aus Berlin, die damals als eine der ersten Damen Physik studierte. Ihr verdanke ich wahrscheinlich das Leben, weil sie mich auf den von mir gar nicht bemerkten Blutstrom aus der Temporalis aufmerksam machte und zu verbinden suchte, was natürlich nicht recht ging. Die Ader wurde von Lindner zugepresst, bis es gelang, einen Arzt aufzutreiben, was etwa dreiviertel Stunden dauerte.« An den Folgen dieses Unglücks litt­ Wallach noch viele Monate; einige Beschwerden blieben für immer zurück. Chemie war damals ein nicht ungefährliches Geschäft. Robert Wilhelm Bunsen beispielsweise verlor bei Laborversuchen ein Auge. Glücklicherweise ist man heute viel besser auf solche Gefahren vorbereitet. Eher hat man das

126  Jürgen Troe Gefühl, dass übervorsichtige Verordnungen das Experimentieren verhindern und damit möglicherweise die Experimentierkunst verloren geht. Die Verbesserung der Räumlichkeiten der chemischen Institute in der Hospitalstraße hielt mit der ständig wachsenden Bedeutung der Chemie nicht Schritt. Wie seine Vorgänger Wöhler und Meyer musste Wallach viel Zeit in die notwendigen Ausbauarbeiten der Laboratorien und Hörsäle investieren. Endlose Debatten mit der Berliner Kultusbürokratie, mit einer arroganten Bauverwaltung und verständnislosen Baumeistern zehrten an seinen Nerven und verkürzten seine wertvolle Arbeitszeit. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte weitere Einschränkungen, so dass Wallach schließlich froh war, die Verant­wortung in jüngere Hände legen zu können. Wie Wöhler war auch Wallach noch ein ›richtiger Chemiker‹, der sehr große Teile der Chemie selbst bearbeiten konnte, was den heutigen Chemikern nur selten vergönnt ist. Auf be­eindruckende Weise stützte sich Wallach in der Chemie weitsichtig auch auf moderne physikalische Messmethoden und war damit seiner Zeit weit voraus. Seinem Einsatz für die institutionelle Verstärkung der physikalischen Chemie war nicht zuletzt zu danken, dass Walther Nernst 1890 als junger Wissenschaftler nach Göttingen berufen werden konnte, zunächst in die Physik und dann in die physikalische Chemie. Hier griff einmal mehr der Wissenschaftspapst Althoff ein – diesmal zugunsten von Göttingen. Als Wallach emeritiert wurde, hatten die Göttinger mit der Wahl von Adolf Windaus wieder eine überaus glückliche Hand. Wie Wallach wurde auch Windaus mit dem Nobelpreis ausgezeichnet; das war 1928 und acht Jahre nach Walther Nernst. Damit haben die Göttinger Chemiker in gleicher Weise wie die Physiker zum Göttinger Nobelpreiswunder beigetragen. Zurückschauend fragt man sich, wie es einer so unbedeutenden, kleinen Provinzstadt gelang, eine so bedeutende Rolle in der Wissenschaftsgeschichte zu spielen. Ein junger Georgier fragte unlängst, woher wohl die Magie des Ortes käme. Eine Antwort würde man gern den heutigen Hochschulplanern ins Gepäck geben. Vielleicht liegt das Geheimnis in der vorrangigen Konzentration auf

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die besten Köpfe, und die Suche nach ihnen kann bei dem Wettbewerb um eine Exzellenzuniversität leicht zur Nebensache geraten. Literatur Windaus, Adolf: Otto Wallach. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen. Berichtsjahr 1931/32. S. 58. Otto Wallach 1847–1931. Chemiker und Nobelpreisträger. Lebenserinnerungen. Hrsg. von Günther Beer und Horst Remane. Berlin 2000.

Der Mathematiker Felix Klein, Kosmopolit und Nationalist Der Begründer der goldenen Ära der Mathematik in Göttingen von Samuel Patterson

Felix Klein verbrachte in Göttingen die Jahre, in denen er maßgebend die Mathematik in Deutschland und ihre Beziehungen zu allen von ihr betroffenen Bereichen des öffentlichen Lebens mitgestaltete. Sein Umzug von Leipzig markierte die Bewältigung einer Krise und den Anfang eines neuen Lebens. Gleich nach seiner Umsiedlung im Sommer 1886 von Leipzig nach Göttingen bezog er die Wilhelm-Weber-Straße 3 gegenüber dem Eingang zum Botanischen Garten und nicht weit entfernt vom relativ neuen Auditorium, wo die mathematischen Veranstaltungen stattfanden. In diesem Haus wohnte er bis seinem Tod am 22. Juli 1925. Felix Klein wurde am 25.4.1849 im damals preußischen Düssel­dorf geboren. Sein Vater Caspar Klein war persönlicher Sekretär des Regierungspräsidenten; seine Mutter Sophie Elise entstammte einer Aachener Tuchhändlerfamilie. Schon 1865, noch nicht 17-jährig, begann Klein sein Studium in Bonn. Hier hatte er zwei hervorragende Lehrer, Julius Plücker und Alfred Clebsch – Letzterer war ab 1868 Riemanns Nachfolger in Göttingen. Plücker war Mathematiker und Physiker, ein Schüler des Gauß-Schülers Christian Ludwig Gerling, und interessierte sich besonders für Fragen der Optik. Bei der geometrischen Optik, also die Theorie der Ausbreitung des Lichts durch optische Systeme unter Vernachlässigung der Wellennatur des Lichts, wird die Geometrie der Gesamtheit der Geraden im Raum untersucht. Ein Beispiel: Die Sonne wird von der Innenseite der Tasse reflektiert. Es bildet sich eine helle Kurve (die sogenannte

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Kaustik) auf der Oberfläche des Kaffees. Aufgabe der Liniengeometrie ist es, Kurven wie diese zu beschreiben. Plücker war der Initiator dieses Konzepts; Klein verdiente hier seine Sporen. Da Plücker schon 1868 starb, wurde Klein weiter von Clebsch (zu diesem Zeitpunkt in Gießen) betreut. Die Promotion des noch nicht 20-Jährigen fand Ende 1868 statt. Es folgten einige Wanderjahre. Eine wichtige Bekanntschaft aus diesen Jahren war die mit dem Norweger Sophus Lie, der sein mathematischer Weggefährte wurde. Wichtig für Kleins späteres Leben war im Frühjahr 1870 der Aufenthalt in Paris zusammen mit Lie, der im Juli durch den Ausbruch des DeutschFranzösische Kriegs jäh beendet wurde. Klein und Lie begaben sich schnell zurück nach Berlin. Dies war seine erste mathematische Auslandsreise, die erste von vielen. Klein war preußischer Nationalist und zugleich gründlich kosmopolitisch gesinnt; zeitlebens pflegte er zahlreiche Kontakte mit Mathematikern in der ganzen Welt. Im August 1870 lernte Klein bei dem Bonner Nothhelferkorps Friedrich Althoff kennen, den späteren Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft, verbunden mit einer langjährigen Arbeitskooperation. Klein war von der Geometrie begeistert. In diesem Bereich der Mathematik folgert man Eigenschaften von geometrischen Gebilden durch Vergleiche. Euklid z. B. vergleicht Dreiecke an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Orientierungen – man redet hier von Kongruenz. Mit solchen Mitteln erbringt Euklid im ersten Buch seiner »Elemente« auf verhältnismäßig wenigen Seiten den Beweis des pythagoreischen Lehrsatzes, der beileibe nicht der naiven Intuition zugänglich ist. In der Liniengeometrie von Plücker ist die Lage nicht viel anders. Nun ist die Gesamtheit aller Linien im Raum ein komplizierteres Gebilde als die Ebene oder der Raum und damit ihre Behandlung anspruchsvoller, als es bei der Geometrie von­ Euklid der Fall ist. Klein erkannte Anfang der 1870er Jahre, dass das Verfahren von Vergleichen, also die Art und Weise, wie sie durchgeführt werden, eigentlich das Ausschlaggebende in der Geometrie ist. Lie verfolgte ähnliche Gedanken im Bereich der Differentialgleichungen. Die mathematische Sprache, mit der

130  Samuel Patterson

man dieser Idee Gestalt geben kann, ist die Gruppentheorie, die in der 1860er Jahren im Entstehen war. Klein erkannte damals die zentrale Rolle, die diese Theorie in der Geometrie spielt. Es ist charakteristisch für Klein, dass er zu diesen Erkenntnissen nach langer und tiefer systematischer Beschäftigung mit komplizierten Spezialfällen gelangt war. Nachdem er zum Wintersemester 1872 nach Erlangen als Ordinarius berufen worden war  – mit nur 23 Jahren  –, veröffentlichte er im Oktober sein »Erlanger Programm«, eine Schrift, die seine Auffassung der Zusammenhänge zwischen Geometrie und Gruppentheorie darlegte und enormen Einfluss ausübte. Klein blieb nicht lange in Erlangen; 1875 wurde er an die TH München berufen. In diesem Jahr heiratete er Anna Hegel, eine Enkelin Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Eine weitere Station in seinem rastlosen Leben war Leipzig, wohin er 1880 berufen wurde.

Felix Klein 131

In diesen Jahren fing Klein an, ein Problem aus der Theorie der elliptischen Funktionen zu bearbeiten, nämlich die Auf­ stellung der Transformationsgleichungen. Nach einigen Beispielen kam ihm dann ein großer Einfall; er erkannte die gruppentheoretische Grundlage (im Sinne der Modulgruppe) dieser Gleichung. Dies war ein großer Durchbruch. Insbesondere wurde Klein die Bedeutung des Werks von Riemann auf einen Schlag bewusst. Es folgte in den nächsten Jahren eine Flut von Einsichten und Ergebnissen. Nicht nur die Tiefe, sondern auch die Breite seines Schaffens in dieser Zeit ist atem­beraubend. In einem Teilbereich seiner Forschungen, der ihm viel bedeutete, geriet er in Konkurrenz mit dem großen, etwas jüngeren französischen Mathematiker Henri Poincaré. Fieber­haft arbeitete Klein an den Grundlagen der Riemann’schen Theorie der algebraischen Funktionen und insbesondere an einem Fundamentalsatz, dem Uniformisierungssatz, den er als Krönung dieser Theorie ansah. Poincaré hatte ein ähnliches Ziel angepeilt, und auch ihm begegneten erhebliche technische Schwierigkeiten  – erst 25 Jahre später erbrachten Paul Koebe und Poincaré unabhängig voneinander den Beweis, und einer nach Kleins Vorstellungen gelang vollständig erst in der 1960er Jahren. Die Anstrengung war zu viel, so dass es Ende 1882 zu einem Zusammenbruch kam. Klein brauchte gut zwei Jahre, um sich zu erholen  – eine ungewöhnlich lange Zeit. Ein Grund für die Schwere seiner körperlichen und geistigen Zerrüttung mag darin gelegen haben, dass Klein ›leistungssteigernde Mittel‹ verwendet hatte. Eine kleine Anekdote, von der E. T. Bell berichtet, deutet darauf hin: Einer von Kleins Studenten klagte über Schlaflosigkeit, er müsse immerfort an seine mathematischen Problemstellungen denken und könne nicht abschalten. »Was, Sie können nicht schlafen?«, brummte Klein, »wozu gibt es denn Chloral?« Ende des 19. Jahrhunderts war es nicht so ungewöhnlich, sich mit Drogen zu stimulieren, wie z. B. auch Sigmund Freud nicht nur selber Kokain verwandte, sondern es auch vielen anderen empfohlen hat. Ähnlich wie beim Morphium kommt es auch beim Missbrauch von Chloral zur Abhängigkeit von der Substanz. Nach dem Zusammenbruch war nichts wie vorher. Obwohl Kleins Arbeitseifer ungebrochen

132  Samuel Patterson war, fand er es unmöglich, sich wieder so wie vorher in die Forschung zu stürzen. Einen Ausweg bot der Ministerialdirektor Friedrich Althoff an. Die Berliner Regierung beabsichtigte, in einigen Fächern Exzellenzzentren aufzubauen. Da Göttingen die Wirkungsstätte von Gauß und Riemann war, wurde Göttingen als Zentrum für die Mathematik auserkoren. Althoff reiste 1885 höchst persönlich nach Leipzig, um Klein für Göttingen zu gewinnen – mit Erfolg. Ab dem Sommer 1886 in Göttingen, bemühte sich Klein von Anfang an mit seiner immensen Energie um den Ausbau der Mathematik – an der Universität und überhaupt im Kaiserreich. Die enorm hohen Reparationszahlungen, die Berlin von Frankreich am Ende des Deutsch-Französischen Krieges erhielt, führte auf der einen Seite zum Boom der Gründerjahre mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des neuen Kaiserreiches und auf der anderen Seite zu finanzieller Instabilität. Im Kaiserreich wurde großen Wert auf die kulturelle Entwicklung des Landes gelegt, auch in den neu eroberten Provinzen wie Hannover, wofür die Universitäten modernisiert werden mussten. In Klein, der der richtige Mann für diese Zeit war, hatte Althoff einen äußerst geeigneten Mitstreiter gefunden, um seine Vorstellungen zu realisieren und die geplanten Reformen an Ort und Stelle durchzusetzen. Klein, obwohl autokratisch, ja sogar herrisch, war ein Modernisierer. Ziele wurden mit Althoff besprochen und dann rasch entschieden. Klein erkannte relativ früh, dass David ­Hilbert, obwohl dieser sich in seiner mathematischen Ausrichtung recht stark von ihm unterschied, der große Mathematiker der kommenden Jahre sein würde. Er erreichte, dass Hilbert 1895 nach Göttingen berufen wurde. Es ist erstaunlich, dass zwei so starke Persönlichkeiten wie Klein und Hilbert in einer kleinen Gruppe (die anderen Professoren waren Carl Runge, Hermann Minkowski und – nach dem Tod Minkowskis – ­Edmund Landau) so effektiv zusammenarbeiten konnten. Zwischen Hilbert und Klein gab es eine gewisse Rollenverteilung: Hilbert wurde als großer Charismatiker angesehen, wie Zeitzeugen berichten. Er war zu Beginn seiner kreativsten Zeit nach Göttingen gekommen und betreute unzählige Doktoranden und Doktorandin-

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nen, auch aus dem Ausland. Klein dagegen war ein bodenständiger Machtmensch. Mit Hilfe von Klein hat Althoff seine Vorstellung von einem Frauenstudium realisiert. Da wenige Frauen in Deutschland die Gelegenheit hatten, die Hochschulreife zu erlangen, kam die Mehrzahl der Studentinnen aus dem Ausland. Die Göttinger Mathematik wurde zu dieser Zeit extrem international; ja, Göttingen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Zentrum der mathematischen Welt schlechthin. Ein großes Verdienst Kleins war es, Verbindungen im Ausland aufzubauen. Besonders effektiv geriet sein Auftritt 1893 auf der Chicagoer Weltausstellung, den er im Auftrag Althoffs absolvierte. Außerdem hielt Klein auf einem Mathematiker­ kongress in Evanston, heute ein Stadtteil von Chicago, eine Begrüßungsrede. Bei diesen Auftritten machte er großen Eindruck und weckte das Interesse von vielen an den mathematischen Neuerungen in Deutschland. Er machte bald darauf (1895 und 1896) zwei weitere Reisen nach Amerika. Berufungen nach Princeton und Yale (New Haven) verstärkten seine schon mächtige Position in Deutschland. Als Ergebnis dieser Reisen kamen viele Studenten und Studentinnen aus Amerika nach Göttingen und sicherten Göttingens Ruf in der Neuen Welt als Zentrum der Mathematik. Klein vertrat eine sehr breite Auffassung von der Mathematik, wie sie in Universitäten vertreten sein sollte. Die angewandte Mathematik müsse ausgebaut werden, und folgerichtig unterstützte er Ludwig Prandtl beim Aufbau der Aeronautischen Versuchsanstalt – später ein Teil des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in der Bunsenstraße. Auch trat er für eine engere Verbindung zwischen der Mathematik und den Ingenieurswissenschaften ein. Diese Zweck­ optimierung der Wissenschaften durch die Berliner Regierung war unter Wissenschaftlern natürlich sehr umstritten. Solche regierungsnahen Aktivitäten liefen parallel zu sehr aktiven und innovativen Tätigkeiten als Professor. Klein arbeitete an einer Modernisierung der mathematischen Schulausbildung und für eine bessere Verbindung zwischen Gymnasien und Hochschulen. Als Hochschullehrer hatte er eine Gabe dafür, die Stärken von jungen Menschen zu erkennen, und er

134  Samuel Patterson forderte und förderte sie dann unermüdlich. Selbst Seminarvorträge wurden mit ihm vorher in Detail durchgesprochen. Damals hatte das Mathematische Institut seinen Platz im Auditorium-Gebäude am Weender Tor. Klein plante einen Neubau mit einem sehr modernen Konzept, in dem die Architektur die Funktion des Gebäudes ermöglichen sollte, eine Gemeinschaft von Dozenten und Studierenden der Mathematik zu bilden. Dieses Institut konnte zu Kleins Zeit nicht gebaut werden. Wenige Jahre nach seinem Tod wurde es unter der Leitung von Richard Courant in einem etwas zeitgenössischeren Gewand in der Bunsenstraße errichtet und dient noch heute als Vorbild für ein durchdachtes mathematisches Institut. Klein nahm auch nach seiner Emeritierung 1913 regen und aktiven Anteil an den Entwicklungen in der Mathematik und der mathematischen Physik. Besonders großes Interesse entwickelte er an der Relativitätstheorie. Für Klein, der von den Ideen Riemanns durchdrungen war, war Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie die Vollendung von Riemanns Vorstellung. Die Emeritierung damals bedeutet lediglich, dass er von Pflichten entbunden wurde; in Göttingen und in Berlin blieb er lange auch hinter den Kulissen aktiv. Es ist nicht verwunderlich, dass eine starke Persönlichkeit wie Klein nicht nur Freunde hatte. Besonders in Berlin wurde es Klein übelgenommen, dass die Hauptstadt von Göttingen mathematisch überflügelt wurde, denn zwischen den beiden Städten herrschte eine gewisse Rivalität mit unterschiedlichen Auffassungen der Mathematik. Weil Klein vor der Machtergreifung Hitlers starb, blieb es ihm erspart, zusehen zu müssen, wie die nationalsozialistische Regierung sein Lebenswerk in Göttingen zerstörte, Hilbert nicht. Über ihn kursiert die folgende Geschichte: Als Hilbert bei einem Bankett 1934 von dem neuen Unterrichtsminister Bernhard Rust gefragt wurde, ob es denn stimme, dass sein Institut unter dem Weggang der Juden und Judenfreunde gelitten habe, erwiderte er: »Das Institut – das gibt es doch gar nicht mehr!« Trotzdem wurden Kleins Vorstellungen von ehemaligen Studenten und Studentinnen und von vertriebenen Mathematikern und Mathematikerinnen in die große Welt getragen, von Princeton, Chicago und New York aus in viele Universitäten, wo sie dann florierten.

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Literatur Bell, Eric Temple: Men of Mathematics. New York 1937. Deutsche Ausgabe: Die großen Mathematiker. Düsseldorf 1967. Tobies, Renate: Felix Klein. Leipzig 1981. http://www-history.mcs.st-and.ac.uk/Biographies/Klein.html

Gustav Wurm Das erfolgreiche Leben eines Zeitungsverlegers im Wandel der Zeiten von Michael Schäfer

Über Kindheit und Jugend von Gustav Wurm geben die Quellen nur wenig Auskunft. Geboren wurde er am 22. Dezember 1855 im badischen Bruchsal, getauft auf die Vornamen G ­ ustav ­Peter Joseph. Sein Vater hieß Johann Roman Wurm, seine Mutter Sophia.1 »Mein Großvater sprach Dialekt, badisch«, erinnerte sich Enkelin Ilse-Marie Leaver (1925–2015). »Was ich noch von meinem Großvater weiß, ist, dass er Nähmaschinen verkauft hat. Davon gibt es noch Visitenkarten. In dem Geschäft, wo er gewesen ist, müssen sie auch Zeitungsanzeigen angenommen haben. Auf die Weise ist er in die Nähe der Presse gekommen.«2 Sieben Jahre vor Gustavs Geburt war das liberale Baden Ausgangspunkt der deutschen Märzrevolution, die hier auch ihr Ende fand: Am 23. Juli 1849 wurde die Festung Rastatt von preußischen Truppen eingenommen, der deutsche Freiheitstraum war ausgeträumt. Gustav Wurm wuchs also zu einer Zeit auf, in der die Erinnerung an die politische Erhebung und ihre Niederschlagung noch wach war. Er sei mit einem guten »Tropfen demokratischen Öls gesalbt« gewesen.3 In diesem Umfeld sammelt Gustav Wurm erste verlegerische Erfahrungen. Er beteiligt sich Anfang der 1880er Jahre an der Gründung des »Bruchsaler Boten« und des »Heidelberger Tageblattes«. Diese verlegerischen Anfänge wecken bei Wurm offenbar den Wunsch, eine eigene Zeitung zu gründen. Dass er dies in Göttingen unternimmt, ist kein Zufall. »Hier fand er ein mehr als bescheidenes kleinstädtisches Zeitungswesen von biedermeierlicher Gemütlichkeit vor, das von der Tatsache, dass Göttingen eine Universitätsstadt war, kaum Notiz nahm.«4 Es gab

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also Informationsbedarf. Wurm findet einen Standort für sein Unternehmen in der Buchstraße, der heutigen Prinzenstraße, im kleinen Fachwerkhaus Nr. 9. Am 6. August 1889 erscheint die Nummer 1 des »Göttinger Tageblatts«. Wurms Editorial: »Man hat unsere Zeit, in der wir leben, das Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität genannt. Ebenso richtig wäre es vielleicht, sie das Zeitalter der Zeitungen zu nennen. Das Zeitungswesen ist in unserer Gegenwart eine Macht geworden und bildet […] einen der Grundpfeiler unseres gesamten Kultur- und Geisteslebens.«5 Schon nach einem Vierteljahr ist das »Göttinger Tageblatt« »das meistgelesene Blatt in Göttingen und ganz Südhannover«.6 Verantwortlich dafür ist – neben dem Preiskampf gegen die Konkurrenz – die politische Ausrichtung des Blattes. »Gustav Wurms neues GT kann sich, wegen der konsequenten Parteinahme für die in Göttingen vorherrschende Welfenpartei,

138  Michael Schäfer […] bis 1900 auch als anzeigenstärkste Zeitung in Südniedersachsen etablieren.«7 1890 hat Göttingen knapp 24.000, 1905 schon über 34.000 Einwohner.8 Von 1889 bis 1900 wächst die Auflage des »Göttinger Tageblatts« von rund 3000 auf rund 11.000. Die ersten zwölf Jahre wohnt und arbeitet Wurm im Zeitungshaus, das 1894 einen Telefonanschluss bekommt, Rufnummer 74. 1901 zieht er um ins Wohnhaus Düstere-EichenWeg 1, Telefon 152. Die Redaktion ist ein Zweimannbetrieb; Wurm und ein zweiter Redakteur sind die Schreiber. Erst nach 1919 steigt die Zahl der journalistischen Mitarbeiter an. Im Jahr von Wurms 50. Geburtstag, 1905, schreibt sein Unternehmen gesunde Wachstumszahlen – die mit Ehefrau Marie (1867–1923) gegründete Familie wächst ebenfalls. Zwei Töchter und drei Söhne bevölkern das neue Eigenheim: Hedwig (geb. 1887), Alfred (geb. 1891), Theo (geb. 1893), Elly (geb. 1895) und Viktor (geb. 1898). Gustav Wurm ist eine angesehene Persönlichkeit in Göttingen. Er besitzt ein beträchtliches Vermö­ gen, hat Einfluss. Das Bewusstsein, all dies aus eigener Kraft aufgebaut zu haben, dürfte ihn stolz gemacht haben. Und er beschränkt sich nicht auf Göttingen. Seine Enkelin Ilse-Marie Leaver erinnert sich an seine weiteren Zeitungsbeteiligungen in Hildesheim, Nordhausen, Altona und Hanau.9 Auch politisch ist er in dieser Zeit aktiv. Um 1909 wird in Göttingen ein »Verein der entschieden Liberalen« gegründet. Zu seinen 70 Mitgliedern gehört neben dem Verleger Wilhelm Ruprecht und dem Philosophen Leonard Nelson auch Gustav Wurm.10 Das dürften Nachwirkungen des erwähnten »Tropfens guten demokratischen Öls« gewesen sein. Mit der Auflage des »Göttinger Tageblatts« geht es weiter aufwärts. Doch jäh bricht 1914 in diese Entwicklung die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hinein. Sohn Alfred fällt in den ersten Kriegswochen beim Vormarsch auf Paris. Die Enkelin: »Das war ein wahnsinniger Schlag für die Familie.«11 »Der Verlauf des Krieges stellte den Begründer des Göttinger Tage­ blattes vor eine der schwersten Entscheidungen seines Lebens«, schreibt GT-Redakteur Heinz Koch. »Die rückgratlose, wankelmütige Politik der kaiserlichen Regierung […] drohte Deutschland um die Früchte des Sieges der Heere zu bringen. Nach

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schweren inneren Kämpfen stellte der Herausgeber des Göttinger Tage­blattes sich und seine Zeitung bedingungslos in den Dienst der nationalen Verteidigung.«12 Was Koch euphemistisch als »Dienst der nationalen Verteidigung« bezeichnet, ist in Wahrheit der Schwenk Wurms ins radikal-nationalistische Lager, den die Enkelin so beschreibt: »Er kam aus einem liberalen Land. Aber was ihn zum Nationalsozialismus hingetrieben hat? Er war ja ein großer Antisemit, das war er wirklich. Und er war sehr gegen die SPD, das war auch ein Problem bei ihm.«13 Dieser Wandel wird bald deutlich sichtbar. So berichtet das GT über den Kapp-Putsch am 13. März 1920 »wissentlich falsch […] und musste infolge seiner publizistischen Beteiligung am Putsch für einige Tage sein Erscheinen einstellen«.14 Das GT lehnt die Weimarer Republik als »antinational, marxistisch und sozialistisch«15 ab. Erich Ludendorff, militärischer Führer im Ersten Weltkrieg und am Hitlerputsch 1923 in München beteiligt, ist Wurms Leitfigur: »Ludendorff ist auch im Wurmschen Haus im Düsteren-Eichen-Weg gewesen. Da gab es einen Stuhl, da stand mit Rotstift druntergeschrieben: ›Hier hat Ludendorff gesessen‹.«16 Wurms Sohn Viktor, der von 1919 bis 1922 ein Studium der Staats- und Volkswirtschaftslehre in München absolviert und mit der Promotion abschließt, tritt bereits als Student in die NSDAP ein. Am 1. Oktober 1922 wird er Lokalredakteur beim »Göttinger Tageblatt«, anderthalb Jahre später Chefredakteur als Nachfolger von Dr. Wilhelm Lange, der diese Position 1919 von Gustav Wurm übernommen hatte. Offenbar geht es zu dieser Zeit Wurm gesundheitlich schlecht. »Mein Großvater – ›Der alte Herr‹ hieß er – wurde schon früh krank, er hat mehrere Schlaganfälle gehabt. Dann starb seine Frau. […] Darum hat er dann die andere Marie Wurm, geborene Capelle, geheiratet.«17 Die »andere Marie Wurm«, geboren 1865, überlebt ihren Ehemann. Sie stirbt 1939. Die Inflationszeit verursacht zwar einen schmerzhaften Auflageneinbruch – von rund 17.000 Exemplaren 1918 auf 6000 im Jahr 1923 –, aber anschließend erholt sich das »Tageblatt« spürbar. Schon 1911 war nach dem Kauf des Grundstücks Prinzenstraße 11 ein neues GT-Verlagshaus errichtet worden, 1912/1913 kommen die Häuser Stumpfebiel 11/12 hinzu, 1924 das Haus

140  Michael Schäfer Prinzenstraße 10. Zum 40. GT-Geburtstag 1929 wird der Neuund Erweiterungsbau des GT seiner Bestimmung übergeben. 1932 beträgt die Auflage schon wieder rund 15.000 Exemplare. In der Festausgabe zum 40-jährigen Bestehen schreibt Viktor Wurm über das Ende des Ersten Weltkriegs: »Bis zum letzten Augenblick hat das ›Göttinger Tageblatt‹ für ein Durchhalten gekämpft […] Heute wissen wir aus Äußerungen und Auf­zeichnungen feindlicher Heerführer, dass uns der Sieg zum Greifen nahe gewesen wäre, wenn nicht die Heimat und vor allem die Etappe schmählich versagt hätten.« Hier sind präzise die Grundlinien der sogenannten Dolchstoßlegende genannt, zu deren Urhebern Ludendorff gehörte und die von der extremen Rechten zum Kampf gegen die Weimarer Republik instrumentalisiert wurde. »Wenn jetzt  – nach kaum 10-jährigem Bestehen – das Werk von Weimar in allen Fugen kracht, dann wissen wir, dass unsere kritische Einstellung dem heutigen Staate gegenüber keineswegs nur einem unfruchtbaren Negativismus, sondern allein der Gewissheit entspringt, dass die parlamentarische Demokratie dem deutschen Volk und dem deutschen Wesen nicht genügt und entspricht.«18 Als das »Göttinger Tageblatt« bald nach Hitlers Machtergreifung unter der Konkurrenz der NS -Zeitung »Göttinger Nachrichten« zu leiden hat, wird am 31. Mai 1933 ein Aufruf »An die Leser des GT« veröffentlicht. Darin heißt es, seit dem 9. November sei »unser ganzes Wirken, unsere ganze Arbeit ein ununterbrochener […] Kampf gegen das Weimarer System gewesen«. Hitlers Machtergreifung am 30. Januar sei »die Bestätigung und die Wirkung unserer Anschauungen, für die zu kämpfen uns eine Lebensaufgabe erschien«. Diese Selbstdarstellung steht in krassem Widerspruch zu Kochs Reinwaschungsversuchen 1959. Gustav Wurm überlässt es in den Jahren nach 1924 seinem Sohn Viktor, als Chefredakteur die von ihm eingeschlagene politische Linie fortzusetzen. Allerdings soll Gustav Wurm ab 1933 Hitlers Politik abgelehnt haben. Die Enkelin: »Mein Großvater hat ein politisches Testament hinterlassen, Anfang 1933. Was den Ausschlag gegeben hat, war die Erklärung von Hitler, das Ermächtigungsgesetz. Das war für meinen Großvater das Ende des Nationalsozialismus, da war er bitterböse. Als er ge-

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storben ist, da war Hitler und das Dritte Reich für ihn bereits erledigt, weil er ihn als Tyrannen angesehen hat. Das soll er in diesem politischen Testament festgelegt haben. Aber wo das geblieben ist, davon weiß ich nichts.«19 Vier Tage vor seinem 78. Geburtstag, am 18. Dezember 1933, stirbt Gustav Wurm. Er muss nicht mehr miterleben, in welche Katastrophe der Nationalsozialismus Deutschland und die Welt führen wird. Gustav Wurms bewegter Lebensweg ist ein Spiegel der politischen Positionen des Bürgertums dieser Epoche. Seine ideo­ logischen Wurzeln steckten noch tief im Kaiserreich; er war geprägt von der selbstverständlichen Anerkennung autoritärer Strukturen und dementsprechend machtbewusst. Dem linken Spektrum war er nie zugeneigt. Doch scheint seine liberale Haltung durchaus eine Grundüberzeugung gewesen zu sein. Wiederum war sein Liberalismus nicht so stark ausgeprägt, dass er eine demokratische Verfassung hätte befürworten können. Die Kränkung nationalen Stolzes durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs und die Versailler Verträge lösten bei ihm – wie bei vielen Deutschen in dieser Zeit – einen radikalen Schwenk zur äußersten Rechten aus, was ihn sich schon früh dem Nationalsozialismus zuwenden ließ. Für den Umschwung, dass er am Ende seines Lebens den Nationalsozialismus als Tyrannei empfand, fehlt zwar ein schriftlicher Beleg. Aber vorstellbar wäre auch eine solche Volte im wandelbaren Denken von Gustav Wurm. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Moos. Leaver, 2014,1. Koch. Koch. GT, 6.8.1889. GT 1.11.1889. Winters, S. 52. Heumann, S. 5. Leaver 2014,2. Saldern, S. 35. Leaver 2014,1. Koch. Leaver 2014,1.

142  Michael Schäfer 14 15 16 17 18 19

Blümel / Natonek, S. 123. Kühn, S. 38. Leaver 2014,2. Leaver 2014,1. V. Wurm. Leaver 2014,2.

Literatur Blümel, Günter / Natonek, Wolfgang: »Das edle Bestreben, der breiten Masse zu nützen«. Beiträge zur Geschichte der Volkshochschule Göttingen. Göttingen 2013. Heumann, Eckhard: Die Geschichte des Göttinger Tageblatts in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus im Spiegel der eigenen Darstellung vor und nach 1945. Göttingen 1973 (masch.). Koch, Heinz: Zeitung – Spiegel der Zeit. Sonderausgabe 70 Jahre Göttinger Tageblatt, GT, 12./13.12.1959. Kühn, Helga-Maria: Die nationalsozialistische »Bewegung« in Göttingen von ihren Anfängen bis zur Machtergreifung (1922–1933). In: Göttingen unterm Hakenkreuz. Göttingen 1983. Gespräch mit Ilse-Marie Leaver. Serie 125 Jahre Göttinger Tageblatt. Folge 1: Der Gründer des Göttinger Tageblatts Gustav Wurm. In: Göttinger Tageblatt, 2.1.2014. Gespräch mit Ilse-Marie Leaver. Serie 125 Jahre Göttinger Tageblatt. Folge  2: Von der Gründung bis zur Konzernübernahme. In: Göttinger Tageblatt, 9.1.2014. Moos. Angaben des Bruchsaler Stadtarchivars Dr. Thomas Moos in einem Telefongespräch am 8. Februar 2016. Saldern, Adelheid von: Göttingen im Kaiserreich. In: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Bd.  3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989. Göttingen 1999. Winters, Hans-Christian: 100 Jahre Tageblatt. Vom »Welfenblatt« zur modernen Heimatzeitung. In: Göttinger Jahresblätter 1989. S. 51–61. Wurm, Viktor: Aus der Geschichte des »Göttinger Tageblattes«. Ein Streifzug durch 40 Jahrbände. In: Göttinger Tageblatt, 22.12.1929.

Max Planck in Göttingen und was daraus wurde Betrachtungen aus einer persönlichen Perspektive von Andreas J. Büchting

Am 4. Oktober 1947 starb Max Planck im Alter von 89 Jahren in Göttingen − etwa ein Jahr nach meiner Geburt im nahe gelegenen Einbeck. Wir sind uns persönlich natürlich nie be­ gegnet, aber er war mir schon als Knabe und Jugendlicher ein Begriff, denn ›seine‹ Max-Planck-Gesellschaft war lebendiger und ehrenwerter Gesprächsgegenstand in unserer Familie. Wie kam es dazu, dass in einem bürgerlichen, unternehmerisch geprägten Haus schon die heranwachsenden Kinder den Namen des Physikers Max Planck oder genauer gesagt die Max-PlanckGesellschaft kannten? Die Verbindung unserer Familie mit der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) reicht zurück bis zur Gründung ihrer Vorgängerinstitution, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG). Mein Urgroßvater Ernst Giesecke (1859–1930) hatte am 11. Januar 1911 zu den 11 Gründungssenatoren dieser Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gehört. Auch ihm bin ich natürlich nie begegnet. Er war die herausragende Persönlichkeit unter den Protagonisten unserer seit über sechs Generationen bestehenden Familiengesellschaft, der heutigen KWS SAAT SE , der früheren Rabbethge und Giesecke oHG , später Kleinwanzlebener Saatzucht Aktiengesellschaft. Nichtsdestoweniger war es ungewöhnlich, dass Ernst Giesecke damals in den Gründungssenat der als wissenschaftliche Vorzeigeinstitution geplanten KaiserWilhelm-Gesellschaft berufen wurde. Die Landwirtschaft hatte zu Beginn des 20.  Jahrhunderts nicht nur eine wesentliche volkswirtschaftliche Bedeutung, sondern war in zunehmendem Maß auf Fortschritte in der Wissenschaft angewiesen. In geeigneten Forschungsprojekten sollten anwendungsorien-

144  Andreas J. Büchting

tierte Verfahren entwickelt werden, um die Produktivität der Landwirtschaft zu erhöhen. Dieses Ziel verfolgten die verantwortlichen preußischen Staatsbeamten im Kultusministerium auf allen naturwissenschaftlichen Gebieten, und so gründete sich mit kaiserlicher Unterstützung 1911 in Berlin die KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, eine außeruniversitäre Forschungsinstitution für die Grundlagenforschung. Im damaligen Gründungssenat waren die verschiedenen Wirtschaftszweige vertreten, denen die wissenschaftliche Grundlagenforschung dienen sollte. Dazu gehörten unter anderem Graf Henckel Fürst von Donnersmarck, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach und der Duisburger Großindustrielle Hugo Stinnes. Ernst Giesecke repräsentierte in diesem Gremium die Landwirtschaft. Seine Familie hatte gemeinsam mit der Familie Rabbethge die 1838 gegründete Zuckerfabrik Kleinwanzleben ab 1856 als Zuckerrüben-Züchtungsgesellschaft weitergeführt.

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Von solchen Unternehmern verschiedener Branchen versprachen sich die Initiatoren ursprünglich eine weitgehende Finanzierung dieser staatlich gelenkten Wissenschaftseinrichtung. Ökonomierat Ernst Giesecke hat das Entstehen der KWG sicher­lich ideell und auch materiell gefördert, auch wenn damals noch keine Forschungsinstitute für Gebiete rund um die Landwirtschaft absehbar waren. Zunächst hatte sich die KWG unter ihrem Gründungspräsidenten Adolf von Harnack, dem großen Theologen und Kichenhistoriker in Berlin, der vorher Generaldirektor der Königlichen Bibliothek gewesen war, auf die Gründung von zwei Instituten für Chemie (1911) und für Biologie (1912) konzentriert. Die Leitung des Instituts für Biologie wurde Carl-Erich Correns anvertraut, einem der Wiederentdecker der Mendel’schen Gesetze. Diese Gesetze der Vererbungslehre waren ein wesentlicher Gegenstand der biologischen Forschung, die sich damals allerdings eher mit biologischer Grundlagenforschung als mit Kulturpflanzen befasste. Das stetig wachsende Wissen um die Genetik der Pflanzen und die züchterische Umsetzung führten 1917 zu einer »Denkschrift über die Gründung eines Forschungsinstitutes für Pflanzenzüchtung«. Es dauerte dann aber noch über zehn Jahre, bis am 29. September 1928 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung in Müncheberg / Mark Brandenburg eröffnet wurde. Dieses Institut griff auch Themenstellungen und He­ rausforderungen auf, die aus der praktischen Pflanzenzüchtung an das Institut herangetragen wurden. Parallel dazu entwickelten die Pflanzenzüchtungsunternehmen eigene Forschungsaktivitäten, so dass sich ein reger wissenschaftlich-anwendungs­ orientierter Austausch entwickelte, wie es die Gründer der KWG mit der Hilfe privater Finanzierung auch beabsichtigt hatten. Das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Züchtungsforschung, das 1945 nach Voldagsen im Kreis Hameln verlagert und 1948 in Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung (MPIZ) un­ benannt wurde, fand 1955 seinen endgültigen Standort in KölnVogelsang. In seinem Kuratorium wirkte mein Großvater ­Oscar Rabbethge fast bis zu seinem Tod im Jahre 1965 beratend mit, nachdem er auch dem Kuratorium des KWI für Züchtungs­ forschung schon seit seiner Gründung angehört hatte. Die enge

146  Andreas J. Büchting Begleitung dieses für die deutsche Pflanzenzüchtung so wichtigen Max-Planck-Instituts setzte dann mein Vater Carl-Ernst Büchting (1915–2010) fort, der am 11. Januar 1949 förderndes Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft wurde und 1962 Mitglied im ­Kuratorium des MPIZ . Auf die Forschungsarbeit der MaxPlanck-Institute hat ein Kuratorium allerdings keinen Einfluss, denn die berufenen Institutsdirektoren sind in ihren Entscheidungen zur wissenschaftlichen Ausrichtung weitgehend frei. Die Kuratorien, in denen sich Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wiederfinden, dienen vor allem der Vermittlung der Forschungstätigkeit der einzelnen Institute in die ›Öffentlichkeit‹ und dazu, finanzielle Unterstützung einzuwerben. Dennoch kann das Kuratorium die Ausrichtung eines Forschungsinstituts der Max-Planck-Gesellschaft indirekt beeinflussen. So hatte Mitte der 1970er Jahre Reimar Lüst als damaliger Präsident der Max-Planck-Gesellschaft nicht nur den wissenschaftlichen Rat der biologisch-medizinischen Sektion aufgefordert, Überlegungen über die künftige Ausrichtung des Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung anzustellen, sondern auch die sogenannte ›Grüne Kommission‹ gebildet, der auch Carl-Ernst Büchting als Vorsitzender des Kuratoriums angehörte. Man folgte damals der Empfehlung dieser Kommission, die wissenschaftliche Forschung des Instituts verstärkt auf den Bereich der Molekularbiologie bei Pflanzen zu fokussieren, indem 1978 der Molekularbiologe Jozef St. Schell zum Direktor des MPIZ berufen wurde. Seither hat sich die molekulare Züchtungsforschung in einem fast revolutionären Ausmaß entwickelt, so dass sich die seinerzeit von der Max-PlanckGesellschaft beschlossene Ausrichtung des Instituts als goldrichtig erwiesen hat. Was hat dies nun alles mit Max Planck und Göttingen zu tun? Der Physiker und Nobelpreisträger Max Planck hat hochbetagt seine letzten beiden Lebensjahre vom Ende des Zweiten Weltkriegs an in Göttingen verbracht. Hier ist er gestorben und liegt auf dem Stadtfriedhof begraben. Dass sein Name weltweit über Göttingen hinaus bis heute sehr präsent ist, hängt neben seinem Weltruhm als Begründer der Quantenphysik

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mit der wissenschaftlichen Gesellschaft zusammen, die seinen Namen trägt. Die Max-Planck-Gesellschaft ermöglichte nach dem Zweiten Weltkrieg als Nachfolgeorganisation der Kaiser-WilhelmGesellschaft einen Neuanfang für die wissenschaftliche Grundlagenforschung in Deutschland unter demokratischen Bedingungen. Schon während des Kriegs waren einige Kaiser-Wilhelm-Institute und die Generalvertretung der Gesellschaft nach Göttingen ausgelagert worden. Max Planck hatte das Kriegsende bei Verwandten in Rogätz an der Elbe erlebt. Auf Initiative des britischen Chemikers Berty Blount, der als Offizier der Besatzungsmächte für die KWG zuständig war, brachte der Astronom Gerard Kuiper Planck und seine Frau Marga Mitte Mai 1945 in einem amerikanischen Militärjeep ins unzerstörte Göttingen, wo sie bei Verwandten unterkommen konnten. Hier übernahm Planck zunächst das Amt des Übergangspräsidenten der KWG und willigte ein, sein großes Renommee und seinen Namen der geplanten Nachfolgegesellschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Am 11. September 1946 wurde in Bad Driburg die ›Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in der britischen Zone‹ gegründet und Max Planck zum Ehrenpräsidenten ernannt. Zwei Jahre später wurde bei der Jahresversammlung in Göttingen der geographisch einengende Zusatz »in der britischen Zone« aufgehoben, wodurch die Max-Planck-Gesellschaft alle Institute der KWG in den westlichen Besatzungszonen wieder vereinte. Der Sitz der Generalverwaltung wurde bei dieser Gelegenheit nach München verlegt. Der Wunsch und Wille deutscher Wissenschaftler und Politiker, die KWG unter neuen Vorzeichen fortzuführen, war anfangs bei den Alliierten angesichts der Beteiligung vieler Institute an NS -Verbrechen nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Dass die Gründung gegen erhebliche amerikanische Vorbehalte und Widerstände dennoch gelang, verdankt die Gesellschaft wesentlich dem internationalen Ansehen, der Integrität und dem Engagement des damals bereits 88-jährigen Namensgebers. Max Plancks Leben und seine Weltanschauung waren geprägt von bürgerlichen Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts.

148  Andreas J. Büchting Dazu gehörten für ihn ein außerordentliches Pflicht- und Ver­ antwortungsgefühl, ein ausgeprägtes Ordnungsbewusstsein, eine tiefe Religiosität und eine große Liebe zur Musik. 1858 in Kiel geboren, durchlief Planck nach dem Studium der Physik und Mathematik in München und Berlin die klassischen Stationen einer wissenschaftlichen Karriere und wurde 1892 auf eine ordentliche Professur für Physik an die Universität Berlin berufen. Für die Entdeckung der Naturkonstante h, das sogenannte Planck’sche Wirkungsquantum, und die Begründung der Quantentheorie erhielt er 1918 den Nobelpreis für Physik. Seine wissenschaftlichen Erfolge bescherten ihm in Verbindung mit sei­ ner geselligen, den Menschen in seiner Umgebung zugewandten Art vielfältige Ämter und Aufgaben. So war Planck ab 1916 Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und übernahm dort 1930 auch die Präsidentschaft. In der Verantwortung dieser und anderer Funktionen sah sich der patriotisch gesinnte Wissenschaftler ab 1933 Ereignissen und Entscheidungssituationen ausgesetzt, die ihn zunehmend in einen inneren Konflikt zwischen unbedingter Staatstreue und den ethischen Grundlagen seines Handelns führten. Historiker und Planck-Biographen sind sich in ihrer Bewertung seines Agierens bis heute uneinig, ob er sich in den ersten Jahren der NS -Herrschaft gezwungener­maßen anpasste und um Konsens bemühte oder ob er mit dem Regime kollaboriert hat. 1937 endete Plancks Präsidentschaft der KWG aus Altersgründen, und ein Jahr später wurde er gezwungen, auch sein Amt als ›beständiger Sekretar‹ der Preußischen Akademie der Wissenschaften aufzugeben. Nun bereiste er als »Wanderprediger« das In- und Ausland und hielt zahlreiche Vorträge zu wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Themen, die er häufig mit Mahnungen und versteckter Kritik an den NS Machthabern verband. Im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Plancks Sohn Erwin verhaftet und trotz verschiedener Gnadengesuche, die sein Vater an höchste NS -Politiker gerichtet hatte, im Januar 1945 in BerlinPlötzensee hingerichtet. Planck schrieb dazu an seinen Freund, den bedeutenden Physiker Arnold Sommerfeld: »Mein Schmerz ist nicht mit

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Worten auszudrücken. Ich ringe nur um die Kraft, mein künftiges Leben durch gewissenhafte Arbeit sinnvoll zu gestalten.«1 Diese Kraft hat er mit seinem Einsatz für die Gründung der Max-Planck-Gesellschaft nach dem Krieg noch einmal aufgebracht und der deutschen Wissenschaft damit einen großen Dienst erwiesen. Für die amerikanische Einwilligung zur Fortführung dieser Institution unter neuem Namen soll das Schicksal seines Sohnes ausschlaggebend gewesen sein. Die Assoziationen, die mein Vater uns Kindern mit der Max-Planck-Gesellschaft vermittelte, waren Exzellenz in der Forschung und höchste Wertschätzung der Persönlichkeiten, sprich der Institutsdirektoren und auch der Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft. So war Adolf Butenandt ein bewunderter Botschafter der Wissenschaft in unserem Hause, dessen Vortrag über ein besonderes Protein ich in den Heften der MaxPlanck-Gesellschaft meines Vaters gefunden und mit glühender Begeisterung verschlungen habe. Gern gesehener Gast war später Reimar Lüst, der während seiner Präsidentschaft häufiger in Göttingen bei den dortigen Max-Planck-Instituten vorbeischaute und gelegentlich Abendeinladungen in unserem Elternhaus annahm, die stets von angeregten Gesprächen geprägt gewesen sein sollen. Als Fußnote bleibt anzumerken, dass auch ich 1978 – ebenfalls am 11.  Januar  – förderndes Mitglied der Max-PlanckGesellschaft wurde und als Nachfolger meines Vaters ab Mitte der 1980er Jahre dem Kuratorium des Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung rund 25 Jahre lang angehört habe, wodurch sich die Wertschätzung unserer Familie für die MaxPlanck-Gesellschaft im Allgemeinen und für die wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Züchtungsforschung im Besonderen nun über vier Generationen und damit ein ganzes Jahrhundert erstreckt. Inzwischen unterstützt nun schon die fünfte Generation unserer Familie die MPG . So spielte die Wirtschaft bei der Gründung der KWG eine wesentliche Rolle und ist bis heute ein nachhaltiger Partner. Der Name Max Planck bleibt nicht nur durch die fünf in Göttingen ansässigen Max-Planck-Institute eng mit »der Stadt, die Wissen schafft« verbunden. Darüber hinaus sticht Göttingen

150  Andreas J. Büchting mit drei lebenden Nobelpreisträgern heraus, die im Abstand von je einer Generation (Manfred Eigen 1967, Erwin Neher 1991 und Stefan Hell 2014) die höchste wissenschaftliche Auszeichnung nach Deutschland holten, wobei sich das Max-PlanckInstitut für Biophysikalische Chemie als Inkubator der Wissenschaft erwies. Oder wie Manfred Eigen es persiflierte: Es gibt hier eben ein Göttin-Gen. Anmerkung 1 Max Planck und die Max-Planck-Gesellschaft. S. 55.

Literatur Fischer, Ernst-Peter: Der Physiker − Max Planck und das Zerfallen der Welt. München 2007. Max Planck und die Max-Planck-Gesellschaft. Zum 150. Geburtstag am 23.  April 2008 aus den Quellen zusammengestellt. Hrsg. von Lorenz Friedrich Beck. Berlin 2008. Meißner, Betina: Erfolg kann man säen. 150 Jahre KWS . Göttingen 2007.

»Im Häuschen will ich auch sterben und nur von dort aus noch leben« Lou Andreas-Salomé und Göttingen von Inge Weber

Würde man Lou Andreas-Salomé fragen können: »Sind Sie eigentlich eine Göttingerin?«, würde ich sie antworten lassen: »Ich? Eine Göttingerin? Ich bin doch ich, Lou Andreas-­Salomé!« Als ich heutigen Göttingern die Frage stellte, hieß es: »Na ja, sie hat hier gelebt, aber eine Göttingerin? Sie hat doch mit niemandem hier gesellschaftlichen Umgang gepflegt. Und anscheinend wollte auch keiner so recht mit ihr zu tun haben.« Und dann fiel schnell noch die eine oder andere jener Zuschreibungen, die in kaum einem Text über sie fehlen, ohne Begründung, einfach so. Das ist schon seltsam. Was hat das mit ihr zu tun? Hat das etwas mit ihr zu tun? Lou Andreas-Salomé hatte sich Göttingen als Lebensmittel­ punkt nicht ausgesucht. Sie kam hierher, weil ihr Ehemann Friedrich Carl Andreas auf den gerade eingerichteten Lehrstuhl für westasiatische Sprachen berufen worden war. Dass beide eine Vorstellung von den gesellschaftlichen Verhältnissen in dieser Stadt hatten, ist eher nicht zu vermuten. Wozu auch? Dies war seine erste Professur; sie würde endlich die lange Zeit ohne Anstellung beenden. Und Lou Andreas-Salomé? Was war mit ihr? Sie war damals bereits eine berühmte Schriftstellerin, 1861 geboren und aufgewachsen in St. Petersburg, wo ihr Vater in der Umgebung der Generalität des Zaren seinen Arbeitsplatz hatte; sie war sozialisiert unter Intellektuellen und Künstlern und hatte ein Jahr in Zürich studiert. Wo hätte sie sich ein­ reihen können, um sich zu den Göttingern zählen zu dürfen? In der Professorengesellschaft war für sie kein Platz, denn sie war keine Akademikerin. Und in der Gesellschaft der Handwerker,

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Geschäftsleute und Dienstleistenden war für sie kein Platz, denn sie übte keinen anerkannten Beruf aus. Sie befand sich also stets zwischen den Stühlen oder noch treffender: außerhalb jeglicher strukturellen Zuordnung. So hielt sie sich einfach von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen fern. Während Friedrich Carl Andreas unter seinen Kollegen als ausgesprochen gesellig galt, isolierte Lou Andreas-Salomé sich selbst mit einer Konsequenz, die »gegen alle gute Sitte 27 Jahre lang verstoßen«, und Andreas’ Kollegen »vor den Kopf gestoßen« hatte. Sie habe das »so total und unhöflich tun müssen«, schreibt Lou AndreasSalomé an Anna Freud, denn »an der einfachen Nötigung zu gesellschaftlicher Konvention wäre ich glatt kaputt gegangen aus innerer Erschöpfung mich selbst zu verstellen« (1924). ›Aus der Reihe zu tanzen‹, um sich selbst zu bewahren, das hatte Lou als einziges Mädchen mit fünf Jungen in der Familie von klein auf viele Male erfolgreich praktiziert: von ihrer Kin-

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dergottesphantasie bis hin zur Verweigerung der Konfirmation und ihrer Wahl des charismatischen Predigers Hendrik Gillot als Privatlehrer, ihres »Gottmenschen«, der seine Privat­ schülerin von ihrer »Phantasterei und Tagträumerei« befreien, streng und unerbittlich ihre »klare Verstandesentwicklung« verfolgen und ihr grundsätzliches Interesse an Erkenntnis wecken durfte, weil sie ihn liebte. Als er aber ihre Leidenschaftlichkeit sexuell interpretierte und sie heiraten wollte, wurde er schlagartig ein Anderer, der ihre Freiheit gefährdete. Sie brach nach Zürich auf. Zwei Jahre später hatten im Salon der Malwida von Meysenbug in Rom Lou Andreas-Salomé sowie die Philosophen Paul Rée und Friedrich Nietzsche, drei »Freigeister«, zueinander gefunden und die Umsetzung von Lou Andreas-Salomés Idee einer »rein geistigen« Lebensgemeinschaft geplant, was bei der Mutter der jungen Frau und bei Malwida von Meysenbug auf nichts als Entsetzen und Widerstand gestoßen war. Auch Lous geliebter Gillot, von dem sie sich eigentlich Unterstützung erhofft hatte, stimmte in das Urteil ein, ein solches Konzept sei für eine junge Frau am Ende des 19.  Jahrhunderts moralisch, sittlich, sozial und rechtlich schlechterdings indiskutabel. Enttäuscht schleudert sie ihm einen Brief hin: »… was, in Drei­ teufelsnamen, habe ich denn verkehrt gemacht? … Ich kann weder Vorbildern nachleben noch werde ich jemals ein Vorbild darstellen können, … hingegen mein eigenes Leben nach mir selber bilden das werde ich ganz gewiss, mag es nun damit gehen wie es mag … Nun schreiben Sie …, ein solches volles Sichhingeben an rein geistige Endziele hätten sie immer nur als ›Übergang‹ für mich gemeint. Ja, was nennen Sie ›Übergang‹? Wenn dahinter andere Endziele stehen, solche für die man das Herrlichste und Schwersterrungene auf Erden aufgeben muss, nämlich die Freiheit, dann will ich immer im ›Übergang‹ stecken bleiben. … glücklicher als ich jetzt bin, kann man bestimmt nicht werden … der frisch-fromm-fröhliche Krieg, der nun wohl losgehen wird, schreckt mich ja nicht, im Gegenteil, der soll nur losgehen. Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten so genannten ›unübersteiglichen Schranken‹, die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche heraus­

154  Inge Weber stellen.« Klarer hätte sie ihren Lebensentwurf nicht in Worte fassen können. Tatsächlich sollten sich in ihrem Leben etliche »Schranken« als »Kreidestriche« erweisen. Als ein Beispiel unter vielen sei hier ihre Ehe mit Friedrich Carl Andreas in den Blick genommen: Lou Andreas-Salomé hat diese nach außen hin ganz bürgerliche Ehe, die ihr gesellschaftlichen Schutz bot, nie in Frage gestellt, obwohl sie auf einer Verabredung beruhte, die alles andere als bürgerlich war – auf seinem Versprechen nämlich, dass sie niemals sexuell vollzogen werde. Dieser Ehevertrag hinderte sie keineswegs daran, Nebenbeziehungen einzugehen, wie zu Rainer Maria Rilke und auch zu dem Wiener Arzt Pineles, den sie offiziell zu ihrem »Leibarzt« erklärt. Strukturell betrachtet lebt sie einen damals in bestimmten Gesellschaftsschichten stillschweigend geduldeten Modus der bürgerlichen Ehe, in dessen Rahmen die Frauen ihren Spielraum für eigene Lebensvorstellungen erweitern konnten. Es war die Zeit der Salons und der Künstlerkolonien, von denen die in Worpswede als eine der bedeutendsten galt. Mit dieser Erfahrung von ›Schranken zu Kreidestrichen‹ betritt die 42-jährige Lou Andreas-Salomé am 23. Juni 1903 erstmals Göttinger Boden. Erwartet wird sie von ihrem Ehemann, denn gemeinsam wollen sie an diesem Tag nach einer Bleibe suchen. Das ist nicht einfach: »… nur Theures, Unbehagliches, im konventionellen Gartenviertel, wo man über Kollegen stolperte«, heißt es in einem Brief an die Freundin Frieda v. Bülow. Das bis heute so begehrte untere Ostviertel passt nicht, aber sie geben nicht auf, und »wie durch ein kleines erlösendes Wunder im Märchen« geraten sie »auf schon halb verzweifelter Suche … auf der Rohnshöhe« an ein Fachwerkhäuschen. »Wie es am Hang dastand! Gar nicht zu haben, und doch so deutlich mein, unser! Und wurde unser! Ich sah es ja! Abends Pfannebergs Bescheid; ich mit den Kirschen im Zimmer. Was für eine Nacht, – als ob man auf der letzten Station vor ›zu Hause‹ sei.« Herzberger Landstraße 101! Zu dritt ziehen sie im Oktober ein: im Erdgeschoss die Haushälterin Marie, die aus Berlin mit umgesiedelt ist, in der ersten Etage Friedrich Carl Andreas, da­ rüber Lou Andreas-Salomé. »Loufried« wird sie mit Rilke das

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Haus schon bald nennen, »nach der Inschrift auf [der] Fahne auf dem Wolfrathshauser Bauernhäuschen«, das im Jahre 1897 beider Liebesnest gewesen war. »Wenn ich an Loufried denke«, schreibt sie ins Tagebuch, »so begreife ich, am Ende einer wie langen Entwicklung es steht: Früher hätte ich nicht zu solchem Hausglück getaugt, mußte in langen Wanderungen dazu hinwandern«, und an ihre Freundin schreibt sie: »… jetzt ist Göttingen mir nun wirklich was es sein musste, um sich schön zu erfüllen: ein Wendepunkt und Markstein, eine neue Lebensepoche. Im Häuschen will ich auch sterben und nur von dort aus noch leben.« So sollte es tatsächlich kommen: Hier, im Haus, starb sie am 5. Februar 1937 kurz vor ihrem 76. Geburtstag. Davor aber, d. h. im Alter von 50 Jahren, nur einige Jahre nach dem Erwerb des Hauses in Göttingen, wird sie zu etwas völlig Neuem, nie Dagewesenem aufbrechen: zur Psychoanalyse. Während jener sieben Jahre bis dahin ist sie ständig auf Reisen. Ihre Ziele heißen Wien, Berlin, München, Paris und St. Petersburg. Das Gemunkel der Göttinger darüber bemerkt sie zwar, aber es kümmert sie wenig. Im Göttinger »Loufried« genießt sie die Stille des Häuschens und der Umgebung – schreibend: »… zum ersten Mal in eigenem Arbeitszimmer, herrlichem alten Pult. Birnbaum am Fenster, und aus dem Schlafzimmer den großen Blick. Die Nächte im Bett geschrieben und wenn der Morgen graute.« Göttingens überschaubare avantgardistische Subkultur mit dem von Otto Hapke betriebenen Nacht-Café gleich neben der Jacobikirche als öffentlicher Anlaufstelle nimmt Lou AndreasSalomé zwar wahr, und sie hat auch Kontakt zu Hapke, aber dem Ort selbst bleibt sie fern. Im Nacht-Café pflegte damals der Philosoph Theodor Lessing zu sitzen und seine »Nachtkritiken« zu schreiben, und weil Lou Andreas-Salomé ein kluges Buch von ihm gelesen hat, lädt sie ihn zu sich ins »Loufried« ein. Für seine Reihe »Göttinger Freie Vortragsabende« engagiert Hapke Autoren wie Richard Dehmel, Gabriele Reuter, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich Mann, Gertrud Eysoldt und Frank Wede­ kind. Fast alle diese Künstler und Literaten kennt Lou AndreasSalomé aus ihrer Berliner Zeit persönlich, weshalb einige von ihnen bei ihr logieren. »Immer wenn die Göttinger literarische

156  Inge Weber Bedürfnisse kriegen, bin ich das Absteigequartier. Weiter laß ich aber meine ›gesellschaftlichen Beziehungen‹ nicht gehen!«, lässt sie ihre Cousine Emma Flörke wissen (1904). Wenn aber Theodor Lessing zu ihr ins Göttinger »Loufried« kommt, kann der Abend schon mal lang werden: »… abends las Lessing uns Stefan George« (1906). Lessing kannte George aus seiner Münchener Bohemezeit, und Lou Andreas-Salomé hatte sich von George sprachlich inspirieren lassen. Von nun an ist und bleibt das Haus »Loufried« der Lebensmittelpunkt der neuen Göttinger Einwohnerin. Die Stadt selbst spielt nur insoweit eine Rolle, als sie der Versorgung mit allerlei materiellen und geistigen Gütern dient. Die Post, den Bahnhof, die Bank, die Buchhandlung Deuerlich, die Universitätsbibliothek und ab und zu ein Kino sucht Lou Andreas-Salomé selbst auf, den Rest besorgt die Haushälterin Marie, später deren Tochter Mariechen. Frauen aus dem Nachbardorf kommen über den Herberhäuser Stieg zu ihr, bringen »Grünkohl und Kartoffeln« und auch in Ordnung gebrachte Kleidung. Die geliebte häusliche Idylle hat aber auch eine andere Seite: Zwischen Friedrich Carl Andreas und Marie hat sich ein intimes Verhältnis entwickelt, das Lou Andreas-Salomé nicht entgehen konnte; denn es hat Folgen. Am 4. Februar 1905 notiert sie im Tagebuch: »Eilige Fahrt zur Klinik: mit Marie: niedergekommen. Und nun endlich auch das Muttergefühl da: daß das Kleine nicht fort soll.« Tochter Mariechen wächst im Haus der Eheleute wie ein »Enkelchen« auf, aber die Beziehung zwischen Lou und Marie wird mit der Zeit immer schwieriger, bis sie »Maries Diensttun« für sich selbst und ihre Räume »gewissermaßen ausgeschaltet« hat. Nur Anna Freud gegenüber bringt sie ihren Gram zur Sprache: »… das ist ja nicht irgendein Dienstbotenärger durch den ich mich in meine freiwillige Ausschaltung hätte hineinärgern lassen, sondern ein richtiger Lebensgram, tief überlegtes Ergebnis, nach Jahren innern Kampfes, denn ich fragte mich tausendmal erst, ob ich nachgeben dürfe, ob ich nicht das Haus reinigen müsse. Wäre er jünger, hätte ich vielleicht anders entschieden: so erschien mir sein Bedürfnis nach Nicht-Umsturz zu heilig« (1923). Andreas hat seine Vaterschaft offiziell nie anerkannt; wahrscheinlich hätte dies

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Lou Andreas-Salomé in der Göttinger Universitätsgesellschaft noch zusätzlich kompromittiert. Im Jahr 1910 – das Nacht-Café gibt es nicht mehr – greift Lou Andreas-Salomé mit dem Essay »Die Erotik« wieder in die kulturwissenschaftliche Diskussion ein. 1911 sieht man sie  – sehr präsent, ganz selbstverständlich, mit einem prächtigen Pelzkragen geschmückt  – auf dem Kongressfoto anlässlich des 3.  Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Weimar, in der Mitte der ersten Reihe sitzend, dahinter versammelt die gesamte damals aktive psychoanalytische Gesellschaft, Sigmund Freud in der Mitte direkt hinter ihr stehend. Das Foto signalisiert unmissverständlich: Lou Andreas-­ Salomé ist angekommen – mit Leib und Seele, mit ihren Kenntnissen und ihrer Erfahrung, mit ihrer Furchtlosigkeit und ihrem Wissensdurst. In ihr Tagebuch schreibt sie: »In der Arbeit unablässig Psychoanalyse, mit immer wachsender Bewunde­ rung für Freuds Rückhaltlosigkeit, Ehrlichkeit, Sachlichkeit. Ich komme tiefer hinein …« So markiert die Begegnung mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse den entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben. Hier finden die Philosophin, die Dichterin und die Psychoanalytikerin so selbstverständlich zusammen, dass sie 15 Jahre später anlässlich von Freuds 70. Geburtstag zutreffend sagen kann: »Im Rückerinnern will mir scheinen, als ob mein Leben der Psychoanalyse entgegen gewartet hätte, seit ich aus den Kinderschuhen heraus war.« 1912, ein Jahr nachdem das Foto entstand, ist Lou AndreasSalomé bereits in Wien bei Sigmund Freud, er wird ihr Meister, ihm vertraut sie sich an wie sonst niemandem; Freud seinerseits rühmt sie als »Versteherin« mit der Gabe, das Abstrakte konkret in Bildern zu vermitteln, frei und kreativ ihre eigene Sprache zu sprechen. Ein weiteres Jahr später beginnt sie bereits mit Psychoanalysen in eigener Praxis als Pionierin, ohne formale Ausbildung und ohne festgeschriebene Behandlungsregeln, aber mutig und unerschrocken. Ihre Praxis ist die erste und bleibt bis 1954 die einzige in Göttingen, und sie ist die erste in Deutschland, die von einer Frau betrieben wird. Lou Andreas-Salomé kann sich kaum mehr vorstellen, ohne Analysanden zu sein. Im Umgang mit ihren Patienten zeigt

158  Inge Weber sie sich ausgesprochen experimentierfreudig. Dabei beherzigt sie ganz intuitiv einen Grundsatz, den sie erst sehr viel später formulieren sollte: »Im Wesen der Psychoanalyse liegt es, daß sie eines Zweierlei bedarf: tiefster, intimster Einfühlung und kältester Anwendung des Verstandes.« Mit manchen ihrer Patienten geht sie privat ins Kino; anderen besorgt sie Unterkünfte. Manchmal findet die Analyse im Garten statt oder auf dem Balkon, oft bis tief in die Nacht; Supervision holt sie sich brieflich bei Freud, der ihr seinerseits Patienten schickt. Die Göttinger Bürger beäugen ihre Praxis neugierig und mit einem gewissen Argwohn; für die Ärzteschaft ist sie ein Stein des Anstoßes; »… wenn das Wort Sexualität fällt, müssen Sie sofort abbrechen«, hatte ein Arzt seiner Patientin mit auf den Weg zur Analyse bei Lou Andreas-Salomé gegeben. Anders als etliche ihrer erzählenden Texte landeten die acht Arbeiten zur Psychoanalyse, die Lou Andreas-Salomé im Laufe der Jahre publizierte, nie auf Bestsellerlisten. Immerhin stoßen sie heute auf ein erkennbar wachsendes Interesse. »Mein Dank an Freud«, der »Offene Brief an Professor Sigmund Freud zu seinem 75. Geburtstag«, war ihre letzte große Arbeit zur Psychoanalyse. Parallel dazu schrieb sie ihre Memoiren, die zugleich ihr psychoanalytisches (Selbst-)Verständnis zum Vorschein bringen. Diesen Erinnerungen gab sie den Titel »Grundriß einiger Lebenserinnerungen, einiger aber nicht, die sich ihr Recht auf Einsamkeit nicht nehmen ließen«. Publiziert wurden sie posthum durch Ernst Pfeiffer, den Freund der letzten Jahre, als »Lebensrückblick«. Zum Verschwiegenen dürfte auch all das gehören, was die Auswirkungen des Nationalsozialismus in Göttingen betraf. Nur eine einzige Stelle findet sich im Briefwechsel mit Anna Freud, die auf die politische Situation seit 1933 verweist: »Außer vom Wetter, möchte man noch von recht vielen anderm erzählen, z. B. von den Hakenkreuzen die unsere Nachbarhäuser sich sogar auf ihre Fensterscheiben kleben. Richtig vernünftig sprechen kann man jetzt hier eigentlich nur mit den 11 Nutrias. – Wir sind im Haus wohlauf …« Erst als Marie 1928 und Andreas 1930 gestorben sind, entspannt sich die Atmosphäre im Haus. Eine veritable »kleine

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Hausfamilie« wird zu einer »aus sich selbst gewachsenen Wirklichkeit« (1933). »… wenn ich manchmal mich erinnere wie anders es einst gewesen, dann denke ich dankbar: wie Rosen sind das über einem stachlichen Dornbusch. Mariechen wird nächstes Jahr 30, … unser Junge [der »Urenkel«] ist schon 10 und Opa und Oma und die Brüder vom Mann sind in Liebe um uns«, schreibt Lou Andreas-Salomé an Anna Freud (1935). Die allmähliche Besiedlung und Bewirtschaftung von Haus und Garten durch Mariechens angeheiratete Familie Apel war für alle Beteiligten von Vorteil. Ganz besonders galt das für die immer kränklicher werdende Analytikerin: Das Haus wurde renoviert und an die Kanalisation angeschlossen. Mariechen blieb ihr, der Diabeteskranken, eine unverzichtbare Betreuerin. Dass Lou Andreas-Salomé Mariechen Apel schließlich noch adoptierte, mag nahegelegen haben, diente aber gewiss auch ihrer eigenen Sicherheit in diesen unsicheren Zeiten. Bedeutender aber ist, dass sie Mariechen auf diese Weise nachträglich als das Kind von Andreas legitimierte. War das eine Geste an Göttingen? Wir wissen es nicht. Und wir wissen auch nicht, wie es bei der gutbürgerlichen Göttinger Gesellschaft ankam, dass hier eine einfache Haushälterin als Alleinerbin eines Professoren-Haushalts eingesetzt wurde, zu dem neben Wohnhaus und Nebengebäuden ein riesiges Garten­ grundstück gehörte. Literatur Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick. Hrsg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt 1974. Andreas-Salomé, Lou: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres (1912/1913). Hrsg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt 1983. »… als käm ich heim zu Vater und Schwester«. Lou Andreas-Salomé  – Anna Freud. Briefwechsel 1919–1937. Hrsg. von Daria A. Rothe / Inge­ Weber. Göttingen 2001. Benert, Britta: Lou Andreas-Salomé als Dichterin. Nachwort. In: Lou Andreas-Salomé: Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelen­ leben halbwüchsiger Mädchen. Hrsg. von Britta Benert. ­Taching am See 2013. S. 407–451. Lou Andreas-Salomé 2011: Vor 100 Jahren begegnete die Dichterin Sigmund Freud. In: Ihr zur Feier. Lou Andreas-Salomé (­ 1861–1937). Inter-

160  Inge Weber disziplinäres Symposium aus Anlass ihres 150. Geburtstages. Hrsg. vom Lou Andreas-Salomé Institut Göttingen. Taching am See 2011. S. 11–30. Marwedel, Rainer: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie. Darmstadt, Neuwied 1987. Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel. Hrsg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt 1952. Welsch, Ursula / Michaela Wiesner: Lou Andreas-Salomé. Vom Lebensurgrund zur Psychoanalyse. München, Wien 1988. Lou Andreas-Salomé: Briefe an Emma Flörke. Lou Andreas-Salomé Archiv Göttingen (unveröffentlicht). Lou Andreas-Salomé: Briefe an Frieda v. Bülow. Lou Andreas-­Salomé Archiv Göttingen (unveröffentlicht). Lou Andreas-Salomé: Tagebücher. Lou Andreas-Salomé Archiv Göttingen (unveröffentlicht). Willkommen im ›Loufried‹. Materialien aus dem Museum ›Loufried‹, zusammengestellt von Gudrun Bautzmann. Göttingen (unveröffentlicht).

In Memoriam Ernst Ferdinand Geismarus Ruhstrat von Andrea Ruhstrat

»Man könnte jeden Tag was Neues erfinden!«  – diesen Ausspruch konnte man von Ernst Ruhstrat oft hören. Am 10. Oktober 1863 als Sohn des Göttinger Stadtphysikus Dr. Adolf­ Wilhelm Conrad Ruhstrat geboren, der früh die Wirkung des Elektromagnetismus auf das menschliche Leben erkannt hatte und Elektrizität in seiner ärztlichen Praxis anwandte, lernte er von Jugend auf den Umgang mit elektrotechnischen Apparaten. Kein Wunder, dass sich Ernst Ruhstrat zum Mechaniker ausbilden ließ. Welche Bedeutung hat der Vorname Geismarus? Der Vater von Ernst war also Stadtphysikus in Göttingen. Aus Dank­ barkeit, dass er die Bewohner von Göttingen vor der Cholera bewahrt hat, hat die Gemeinde Geismar die Patenschaft für den nächstgeborenen Sohn übernommen. Dieser Name ging dann in der nächsten Generation auf den erstgeborenen Sohn über. Ernst Ruhstrat absolvierte seine Lehrzeit bei dem Mechanikermeister Florenz Sartorius, der 1870 seine feinmechanische Werkstatt eröffnet hatte, die der Ursprung des heute weiterhin in Göttingen ansässigen Biotech-Konzerns Sartorius ist. Anschließend besuchte er das Technikum und sammelte Erfahrungen bei den Firmen Leitz in Wetzlar sowie bei Hartmann + Braun in Frankfurt und bei Siemens & Halske in Hannover. Ernst Ruhstrat erkannte die zukünftige praktische Bedeutung der Elektrizität, als sie lediglich in den Hörsälen der Universität zu Hause war. Mit 25 Jahren machte er sich mit seinem ein Jahr älteren Bruder Adolf Ruhstrat (1862–1913) am 1. April 1888 selbständig. Im »Göttinger Tageblatt« gab er die Geschäftseröffnung bekannt: »Einem hochgeehrten hiesigen und auswärtigen Publi­

162  Andrea Ruhstrat kum die ergebene Anzeige, daß wir am hiesigen Platze ein Elec­ tro­tech­nisches Geschäft eröffnet haben. Wir empfehlen uns zur Anlage von Telephonen, Electr. Haus-Telegraphen, Diebessicherungen, Feuermeldern, Alarmapparaten, Blitzableitern etc. und sichern, unter Verwendung anerkannt geschmackvoll und solide gearbeiteter Apparate der besten Systeme, sowie feinsten Mate­rials, zuvorkommendste Bedienung zu. Hochachtungsvoll Gebr. Ruhstrat lange Geismarstraße [sic!] 74. Ferner empfehlen wir unsere Reparatur-Werkstatt für sämmtliche mechanische und electrische Artikel.« In der nur 25 Quadratmeter großen Werkstatt mit zwei Fenstern waren ein Gehilfe und ein Lehrling beschäftigt. Als Stromquellen standen zunächst nur sogenannte Primärelemente oder kleine Akkumulatoren zur Verfügung. Etwa 1897 interessierten sich auch Nachbarn für das ›schöne elektrische Licht‹. Ernst Ruhstrat entschloss sich, Nachbar­ häuser und Geschäfte interessierter Göttinger Bürger in der Jüdenstraße, Barfüßerstraße, Weender Straße und Theaterstraße mit einer Spannung von 120 V zu versorgen. Dazu wurden zwei Gleichstromzentralen – eine in der Langen-Geismar-Straße mit zwei Gasmotoren von 10 und 12 PS Leistung, die zweite in der Jüdenstraße mit einer Dampfturbine von 4 PS Leistung errichtet. Damit begann die Elektrifizierung der Stadt Göttingen. Abgerechnet wurde nach Pauschaltarif, bis ein von Ernst Ruhstrat konstruierter Zähler, der wie viele seiner Erfindungen zum Deutschen Reichspatent angemeldet wurde, serienmäßig gebaut und genutzt werden konnte. Schon um die Jahrhundertwende waren es neun in Göttingen ansässige mechanische Werkstätten, die sich zusammen­ gefunden hatten, um mit einer gemeinsamen Werbeschrift und Ständen auf der Weltausstellung in Paris 1900 präsent zu sein. Die Firma ›Gebr. Ruhstrat‹ war mit dabei wie auch bei weiteren Ausstellungen und Messen in den folgenden Jahren. Die An­ regung zu dem gemeinsamen Unternehmen gab der spätere Nobelpreisträger Walther Nernst, der meinte, dass dadurch eine wünschenswerte direkte Verbindung zwischen Konsumenten mechanischer Produkte und den betreffenden Werkstätten herbeigeführt werden könne.

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Ernst Ruhstrat war der Motor, der Schrittmacher der jungen Firma. Er war der wissenschaftlich Interessierte und zugleich der handwerkliche Praktiker. 1905 wurde den Direktoren des Göttinger Physikalischen Instituts ein vierstöckiges Haus mit einem zweistöckigen Trabanten in einem Weiheakt zu »ausschließlich eigener Verwaltung und Pflege übergeben«. Anlässlich dieses Ereignisses gab es eine aufwendige Festschrift, herausgegeben von der Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik mit dem Beitrag von Extraordinarius Hermann Theodor Simon: »Die elektrischen Anlagen zu Zwecken des Unterrichts und der Forschung sind von Gebrüder Ruhstrat nach meinen Entwürfen durchkonstruiert und vortrefflich ausgeführt worden.« Eingebaut wurden auch die großen Schalttafeln, die von dem frisch berufenen Professor für angewandte Elektrizitätslehre, Theodor des Coudres, und von Ernst Ruhstrat entworfen worden waren.

164  Andrea Ruhstrat Bereits fünf Jahre später konzipierte der Göttinger Erfinder die Elektroausrüstung des neuen Physikalischen Instituts der Universität Helsingfors (heute Helsinki). Die Installationen führte er in Eigenregie aus – mit dem Erfolg, wenig später einen ähnlichen Auftrag aus dem argentinischen La Plata zu erhalten. Aus Helsinki brachte Ernst Ruhstrat Anregungen mit für den aus Kapazitätsgründen erforderlichen Neubau des Fabrikgebäudes in der Langen Geismarstraße 71–75. 1911 wurde dieser erste Stahlbetonbau in Göttingen eingeweiht. Heute gehört dieser Industriebau mit der 1935 angebauten ersten Großgarage Niedersachsens zur historischen Bausubstanz der Innenstadt Göttingens. Ihr besonderes Profil gewann die Firma Ruhstrat unter den Göttinger Werkstätten aber nicht mit ihrer damals besonders expandierenden Elektro-Installationsabteilung, sondern mit speziellen Produktgruppen, die alle im weiteren Umkreis der Universität angesiedelt waren. Sie alle besaßen ihre Basis in der engen Kooperation mit Professoren der Universität – diese Zusammenarbeit hat Ernst Ruhstrat sein ganzes Leben lang gesucht und auch gefunden. Besonders mit Walter Nernst verband ihn eine enge Freundschaft. Ihre gemeinsamen Arbeitsfelder waren die Entwicklung der Nernst-Lampe, des Schiebewiderstands und des Nernst-Hochtemperatur-Ofens für Tempera­ turen bis 3000° C. Mit Walter Nernst teilte Ernst Ruhstrat die Leidenschaft für Automobile. Nernst ratterte als Erster mit einem Auto durch die Straßen Göttingens. Und von ihm erwarb Ernst Ruhstrat sein erstes Automobil  – ein gebrauchter MAFF, der noch mit der Kurbel vorne angelassen wurde – eine ständige Übung der beiden Söhne. Klar, dass Ernst Ruhstrats erfinderischer Geist auch auf diesem Gebiet tätig wurde: Bereits 1889 konnte er den ersten selbstfabrizierten 4-PS -Benzinmotor vorstellen, der in einen von Schmidt-Vockeroth hergestellten Wagen eingebaut wurde. Die Karosserie verbrannte infolge eines Vergaserbrands vollständig. Nur der Motor blieb unbeschädigt und hat noch zehn Jahre in einer Zuckerfabrik zum Antrieb von Drehbänken gute Dienste geleistet. Nach weiteren Motorentwicklungen und -bauten wurde die Fertigung aufgegeben, da die Fertigung elektrischer Pro-

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dukte lukrativer war. So wurde beispielsweise die Schaltanlagenfertigung u. a. für die ›Universal-Anschluß-Schalttafel‹ nach Dr. med. Frank für Elektro-Medizin (Galvanisation, Faradisation, Elektrolyse, Kaustik & Endoskopie) ausgebaut. Hauptschalttafeln für elektrische Beleuchtungsanlagen, Verteilungsschalttafeln für Notbeleuchtung, Experimentierschalttafeln wurden in die Fertigung aufgenommen, dazu Blitzableiter-PrüfungsApparate, Widerstände und Rheostaten  – jeweils mit ReichsPatent-Anmeldungen. Die Ernst-Ruhstrat-Lampe – in Kurzform Perla – beruhte auf einer eigenen Entwicklung, die Ernst Ruhstrat in der Nacht der Geburt seiner jüngsten Tochter zur Patentanmeldung brachte. Den gleichen Namen ließ er am nächsten Morgen ebenfalls eintragen. Als Mutter Ruhstrat zum Standesamt kam mit dem von ihr favorisierten Namen Annemarie, war sie zu spät. Ernst Ruhstrat hatte seine Frau ein zweites Mal enttäuscht. Das erste Mal war es gleich nach der Hochzeit. Er schenkte ihr einen kahlen Berg oberhalb von Geismar. Sie soll bitterlich geweint haben ob der Trostlosigkeit. Er machte aber seine Ankündigung wahr, dort eine blühende Landwirtschaft zu errichten. Angefangen mit einem kleinen Gartenhaus, baute er ein landwirtschaftliches Anwesen mit Bauernhaus, Stallungen für Kühe, Schweine und Pferde, eine Remise, Scheunen, Gewächshäuser und einen Turm, der auch heute noch steht, sowie einen Sommersitz für die Familie – genannt ›Himmelsruh‹. So lautet heute ein Straßenname in dem Wohngebiet. Ernst Ruhstrat war auch Wünschelrutengänger. So fand er Wasser am höchsten Punkt des großen Geländes um Himmelsruh, legte den Tillysee an, auf den er ein Ruderboot setzte  – Anlass genug für eine Schiffstaufe im großen Familienkreis. ›Kappeln‹ wurde das Boot benannt, nach der Geburtsstadt seiner Ehefrau. Seine Familie hatte für Ernst Ruhstrat einen hohen Stellen­ wert. Kurz bevor er am 1.  Januar 1929 starb, äußerte er den Wunsch, dass sich seine Familie in jedem Jahr an seinem Geburtstag treffen solle. Dafür hatte er auch testamentarisch eine Summe hinterlegt. Noch heute trifft sich die Familie an diesem Tag. An Ernst Ruhstrat erinnern noch zwei weitere Straßen-

166  Andrea Ruhstrat namen in der Stadt, die Ruhstrathöhe in der Nähe von Himmels­ ruh und die Ernst-Ruhstrat-Straße im Groner Industriegebiet. Ernst Ruhstrat war aus heutiger Sicht ein großer Netzwerker. Er erkannte schon damals den hohen Nutzen des Miteinanders von Wissenschaft und Wirtschaft, die gegenseitige Förderung und somit die Quelle von Höchstleistungen. Nicht nur für die nächsten Generationen der Familie ist er ein großes Vorbild. Literatur Die mechanischen Werkstätten der Stadt Göttingen. Ihre Geschichte und ihre gegenwärtige Einrichtung. Denkschrift bei Gelegenheit der im Jahre 1900 zu Paris stattfindenden Weltausstellung von den vereinigten Mechanikern Göttingens. Hrsg. von Otto Behrendsen. Leipzig 1900. Kamp, Norbert: Technologietransfer vor 100 Jahren. Festvortrag, gehalten zum 100. Jubiläum der Unternehmen Ruhstrat am 7. April 1988 [unveröffentlichte Broschüre zum Fest].

Eine stille, aber laut vernehmbare Größe: Otto Hahn von Matthias Heinzel

Seine tiefsten Spuren in der Geschichte hat Otto Hahn zwar nicht in Göttingen hinterlassen, aber bis heute ist die Person des großen Nobelpreisträgers, des Entdeckers der Kernspaltung, mit der Vergangenheit und der Gegenwart der Universitätsstadt unauflöslich verbunden. Und immer noch sorgt der berühmte Wissenschaftler in Göttingen ab und zu für Diskussionen, gar für Auseinandersetzungen.1 Dabei hatte Hahn in Göttingen anfangs kaum mehr als eine repräsentative Funktion. Als er nach seiner Internierung in England – das war noch vor der Verleihung des Nobelpreises – im Dezember 1946 nach Göttingen kommt, wird Hahn Präsi­ dent der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Er soll das politisch belastete Institut in eine neue Zukunft führen. Otto Emil Hahn, geboren 1879 in Frankfurt am Main, ist Chemiker und ein Wissenschaftler von Weltruf. Als Pionier der Radiochemie entdeckt er vor und nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche Isotope. Im Dezember 1938 weist er zusammen mit seinem Assistenten Fritz Straßmann und Lise Meitner, die als Jüdin im Sommer zuvor aus Nazi-Deutschland ins Exil geflohen war, mit der ihm eigenen akribischen Arbeitsweise die Kernspaltung des Urans nach – eine wissenschaftliche Weltsensation. Für diese Leistung wird ihm der Chemie-Nobelpreis des Jahres 1944 verliehen, den er aber erst 1946 in Empfang nehmen kann. Zu diesem Zeitpunkt sind die Gefahren der Atomenergie durch die Explosion der ersten Atombomben in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 für jeden Menschen augenfällig geworden. Das bringt Hahn in seinen späteren Lebensjahren dazu, eindringlich vor den Gefahren von Nuklearwaffen zu warnen.

168  Matthias Heinzel Die Alliierten hatten sich auch deshalb für Hahn als neuen Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft entschieden, weil sie sich von ihm ein ganz besonderes Bild machen konnten. Nach Kriegsende war er sechs Monate lang zusammen mit neun anderen namhaften deutschen Kernphysikern im südenglischen Farm Hall interniert, einem Landsitz nahe Cambridge. Was die Deutschen nicht wussten: Mit versteckten Abhöreinrichtungen wollten die Briten herausfinden, wie weit das deutsche Atombombenprojekt fortgeschritten war und welche Rolle die internierten Wissenschaftler dabei gespielt hatten. Erst 1962 wurde die Abhöraktion bekannt. Besonders aufschlussreich ist das Gespräch, das die Internierten führten, nachdem sie einen BBC -Radiobericht über den Abwurf der US -Atombombe auf Hiroshima gehört hatten. Carl Friedrich von Weizsäcker sagte, dass die deutschen Wissenschaftler die Bombe nicht bauen wollten, »weil alle Physiker im Grunde gar nicht wollten, daß es gelang. Wenn wir alle gewollt hätten, daß Deutschland den Krieg gewinnt, hätte es uns gelingen können.«2 Hier reagierte Hahn skeptisch: »Das glaube ich nicht, aber ich bin dankbar, daß es uns nicht gelungen ist.« Zuvor hatte Werner Heisenberg daran erinnert, dass im Frühjahr 1942 ein großer Geldbetrag für das deutsche Uranprojekt bereitgestellt wurde, nachdem er und andere Wissenschaftler den NS Erziehungsminister Bernhard Rust überzeugt hatten, »dass wir den absolut sicheren Beweis hätten, dass die Sache machbar sei«.3 Hahn lieferte den Briten also ungewollt den Beleg für seine Integrität und seinen Widerwillen gegen den Nationalsozialismus. Ein britischer Bewachungsoffizier notierte über ihn: »Ein Mann von Welt. Er hat sich von allen Professoren als am hilfsbereitesten erwiesen, und sein Humor und gesunder Menschenverstand haben bei zahlreichen Gelegenheiten die Situation gerettet. Gegenüber England und Amerika ist er entschieden freundlich eingestellt.«4 Genau solch eine Persönlichkeit wird für die Fortführung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft benötigt, die in der NS -Zeit durch die Beteiligung ihrer Institute beispielsweise an der nationalsozialistischen Rassenforschung in Verruf geraten war. Nachdem die Alliierten ihre Pläne aufgeben, die Gesellschaft

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aufzulösen, wird Hahn, der schon seit 1928 das Kaiser-WilhelmInstitut für Chemie in Berlin geleitet hatte, deren Präsident. Er soll in Göttingen Bestand und Organisation der Gesellschaft erhalten und ihre Institute wieder mit wissenschaftlichem Leben füllen, erklärt später sein Wissenschaftskollege und späterer Nachfolger als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Adolf Butenandt. Nach dem Tod Max Plancks, des Begründers der Quantentheorie, wird die Gesellschaft 1948 nach diesem benannt. Auch als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft tritt Hahn mit großer persönlicher Integrität und immer umgänglich auf, wie sich später Dutzende von Zeitzeugen in einer Vielzahl von Anekdoten erinnern. Dass der zumindest für alliierte Ohren martialisch klingende Name Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verschwunden ist, hilft Hahn nun auch im Ausland. Wie im Privatleben zeichnete sich der berühmte Wissenschaftler auch in

170  Matthias Heinzel seiner hohen Funktion durch Freundlichkeit und Umgänglichkeit aus  – immer mit einem offenen Ohr für jeden, erinnern sich frühere Mitarbeiter. Und Eigennützigkeit ist Hahn auch im Blick auf ›seine‹ Gesellschaft fremd: »In seiner Objektivität und Uneigennützigkeit«, erinnert sich der Physiker Walther Gerlach, der zusammen mit Hahn in England interniert war, »ging er so weit, die Befürwortung von Zuwendungen an die MaxPlanck-Gesellschaft hinter die finanziell schlechter gestellten Hochschulinstitute zurückzustellen.« Unbeschwert bleibt sein Göttinger Leben nicht immer. Der schlimmste Schicksalsschlag ereilt Hahn 1960, als sein Sohn Hanno und dessen Frau Ilse während einer Studienreise in Frankreich bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen. In der Folge dieses furchtbaren Verlusts wird Otto Hahns Ehefrau Edith schwerkrank und schwermütig. Zum anderen belasten den Atomwissenschaftler zeit seines Lebens die Folgen seiner Entdeckung der Kernspaltung: das ungeheure Vernichtungspotential der Atombombe. Immer wieder wendet sich Hahn aus dem beschaulichen Göttingen an die Weltöffentlichkeit, um vor den Gefahren der im Kalten Krieg allgegenwärtigen Nuklearwaffen zu warnen. So meldet er sich im Februar 1955 mit seiner berühmten Rundfunk-Rede »Cobalt 60 – Gefahr oder Segen für die Menschheit?« zu Wort. »Heute ist der Krieg nicht mehr ›die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‹«, gibt Hahn darin zu bedenken. »In einem Bombenkrieg gibt es nicht mehr Sieger und Besiegte. Die großen Bomben zerstören in einem Augenblick die Stätten der Zivilisation.« Im Juli 1955 ist er Mitinitiator der »Mainauer Kundgebung«, in der er mit 17 anderen Nobelpreisträgern auf die Gefahren der Atombombe aufmerksam macht. Ein Jahr später wiederholen 52 Preisträger den Appell. Von Aktionen ähnlichen Inhalts mit prosowjetischer Zielrichtung hält sich Hahn jedoch konsequent fern. Der Name seiner Nachkriegsheimat wird erneut weltbe­kannt, als sich Hahn im Jahr 1957 als Mitverfasser der »Göttinger Erklärung« gegen die Aufrüstung der neu geschaffenen Bundeswehr mit Atomwaffen ausspricht. Zusammen mit 17 anderen führenden westdeutschen Atomwissenschaftlern äußert er

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»große Sorge« über die Pläne und legt sich dadurch mit Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß an, der grob zurückkeilt. Hahn sei »ein alter Trottel, der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt«, pöbelt Strauß. Moralischer Sieger auch diesmal wieder: Otto Hahn. Und der britische »Observer« konstatiert als Folge des Appells eine »gewaltige Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit«. Noch im Jahr der Göttinger Erklärung folgen Hahns Beteiligung am Wiener Appell gegen Experimente mit A- und H-Bomben. Zusammen mit Albert Schweitzer unterzeichnet Hahn im Januar 1958 die später von mehr als 9000 Wissenschaftlern aus 44 Staaten unterstützte »Petition der Natur­ forscher an die Vereinten Nationen« in New York. Das Ziel ist die weltweite Einstellung von Kernwaffenversuchen. Sein konsequenter Einsatz gegen Nuklearwaffen bedeutet allerdings keine Ablehnung der Kernenergie. Immer wieder betont er in Vorträgen die Möglichkeiten, die sich bei der friedlichen Nutzung dieser Energiequelle bieten. Die mit ihr verbundenen technischen Herausforderungen sieht er als Chance für die Nationen, zum gegenseitigen Wohl zusammenzuarbeiten. Um 1960 produziert die Göttinger Filmproduktion einen kurzen 16-Millimeter-Film mit dem Titel »Eine Stadt lebt für die Welt«. Otto Hahn erläutert darin die Bedeutung der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit dem damals herrschenden grenzenlosen Optimismus. Und auch persönlich ist ihm die Angst vor dem Atom fremd. »In seinem Büro«, so erinnert sich Elisabeth Lewinski, ab 1958 in der Hauptverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft tätig, »hatte Otto Hahn ein Glas mit Uranstaub stehen. Das hat er gern mal Besuchern in die Hand gedrückt, weil das so überraschend schwer war. Das Glas ist dann auch mal hingefallen. Da hat der Geigerzähler geknattert wie wild. Otto Hahn hatte überhaupt kein Verhältnis zur Gefahr.« Bis 1960 führt Hahn die Max-Planck-Gesellschaft als Präsident. Aber auch danach nimmt Hahn am Betrieb der Gesellschaft bis zu seinem letzten Lebensjahr teil. Außerdem genießt er sein Rentnerleben  – unter anderem in der Traditionsgaststätte Zum Schwarzen Bären, wo er sich regelmäßig mit Freun-

172  Matthias Heinzel den trifft. Dort wie auch anderswo gönnt er sich ab und zu den nach ihm benannten Cocktail. Der ›Otto Hahn‹ hat es in sich: In ein gut vorgewärmtes großes Cognacglas wird zu gleichen Teilen Whisky und Sherry gegeben – fertig. Ein bisschen Kauzigkeit ist auch immer dabei. So hat Hahn für Hähne ein ganz besonderes Faible, wissen Göttinger zu erzählen, die den berühmten Wissenschaftler persönlich erlebten. Wenn Otto Hahn zu Hause ist, kann das jeder sehen, der an seiner Wohnung in der Gervinusstraße vorbeigeht. Dann nämlich steht ein Holzhahn im Fenster – ein Geschenk, das sein Sohn Hanno als Jugendlicher geschnitzt hatte. Im März 1968 wird Hahn ins Krankenhaus Neu-Mariahilf eingeliefert. Beim Aussteigen aus seinem Dienstwagen war er gestürzt und hatte eine Verletzung der Halswirbelsäule davongetragen. Wie nicht anders zu erwarten, wird er dort durch die ihm eigene Freundlichkeit, Bescheidenheit und Liebens­ würdigkeit schnell zu einem Lieblingspatienten, um den sich die Schwestern gern und aufopferungsvoll kümmern. Doch erholen wird sich Hahn nicht mehr. Vier Monate später stirbt er an akutem Herzversagen. »Er ist ganz ruhig und friedlich eingeschlafen«, erinnert sich Elfriede Prang, die letzte Haushälterin des Ehepaars Hahn. Bundespräsident Heinrich Lübke schreibt an Hahns Witwe Edith: »In tiefer Trauer gedenke ich Ihres verstorbenen Gatten, der mir wie ein Freund nahestand. Ein reich begnadetes und gesegnetes Leben ist vollendet. Unser deutsches Volk und die Menschheit nehmen Abschied von einem Mann, der durch die Kraft des Geistes, durch hohes Verantwortungsbewusstsein, Güte des Herzens und ungewöhnliche Leistungen zum Vorbild für die schöpferische Aufgabe der Wissenschaftler unserer Zeit geworden ist.« Am 29. Juli 1968 veröffentlicht die Max-Planck-Gesellschaft in allen großen Zeitungen eine Todesanzeige: »Unser Ehren­ präsident Otto Hahn ist in seinem 90. Lebensjahr am 28. Juli entschlafen. Als Begründer des Atomzeitalters wird er in die Geschichte der Menschheit eingehen. Deutschland verliert mit ihm einen Gelehrten, der sich durch aufrechte Haltung und innere Bescheidenheit in gleicher Weise auszeichnete. Die Max-

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Planck-Gesellschaft trauert um ihren Gründer, der die Aufgaben und die Tradition der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nach dem Kriege fortführte, und um einen gütigen und geliebten Menschen, der allen unvergessen bleibt, die ihm begegnen durften. Sein Werk wird fortbestehen. Wir gedenken seiner in großer Dankbarkeit und Verehrung.« Hahns Tod wird von weltweiter Würdigung und Anteilnahme begleitet. Nicht nur Göttingen, sondern die Stadt Frankfurt am Main und die Bundesländer Niedersachsen und Berlin flaggen drei Tage halbmast an allen öffentlichen Gebäuden. Am 1. August nehmen um die 600 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft in der Göttinger Universitätskirche St. Nicolai an der Trauerfeier für den berühmten Bürger der Stadt teil  – darunter der Bundespräsident, der Bundesratspräsident, der niedersächsische Ministerpräsident, mehrere Bundesminister als Vertreter der Bundesregierung, die Bürgermeister von Göttingen, Frankfurt am Main und Berlin, die Präsidenten zahlreicher Akademien und Universitäten, die Botschafter von Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Schweden und den USA , zwei Gesandte der israelischen Regierung und des Weizmann-Instituts, dazu Max Born, Manfred Eigen, Walther Gerlach, Werner Heisenberg, Fritz Strassmann, Carl Friedrich von Weizsäcker und zahlreiche mit Hahn befreundete Wissenschaftler. Landesbischof Hanns Lilje hält die Trauerpredigt. Das ZDF überträgt die Feier ungekürzt im Abendprogramm. In einem Nachruf in der »Süddeutschen Zeitung« schreibt Werner Heisenberg: »Seine berühmteste Entdeckung hat in ihren Folgen das politische und wirtschaftliche Bild der Welt von Grund auf umgestaltet. Vielleicht war diese Entdeckung in ihren Auswirkungen umstrittener als irgendein anderer wissenschaftlicher Fortschritt vorher. Aber es hat, wenn man an die Persönlichkeit Otto Hahns denkt, auch kaum je einen Forscher gegeben, der so wenig umstritten, so allgemein ge­ achtet und geliebt gewesen wäre, wie er. Vielleicht war die tiefste Wurzel für seinen überragenden menschlichen und wissenschaftlichen Erfolg der Umstand, dass er allen Schwierigkeiten zum Trotz ohne Vorbehalt zum Leben ›ja‹ sagte, und dass er

174  Matthias Heinzel dieses fröhliche Ja auch auf seine Mitarbeiter und Freunde übertragen konnte.« Beigesetzt wird Hahn in einem Ehrengrab auf dem Göttinger Friedhof neben Max Planck und Max von Laue. Der Grabstein trägt seinen Namen und die Formel der Uranspaltung. Wie populär der berühmte Atomwissenschaftler damals in der Stadt war, wird den Göttingern im Jahr 2007 in Erinnerung gerufen. Das »Göttinger Tageblatt« und Produzentin Monika­ Fanelli stellen zum fünfzigsten Jahrestag der »Göttinger Erklärung« einen Film über den Entdecker der Kernspaltung und Göttinger Ehrenbürger vor. Zeitzeugen kommen zu Wort, die den berühmten Forscher zum Teil ganz privat erlebt haben. Berühmte Kollegen wie auch einfache Bürger erinnern sich, wie sehr Hahn die Umsetzung seiner Forschungen zur Entwicklung der Atombombe bedrückt hat. Zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, 46 Jahre nach seinem Tod, gerät Hahn unerwartet erneut in die lokalen Schlagzeilen. Mehrere Göttinger Organisationen nehmen die Erinnerung an den Kriegsbeginn zum Anlass, die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde für den Atomwissenschaftler, einen der angesehensten Bürger in der Geschichte der Stadt, zu fordern wegen seiner Rolle bei Entwicklung und Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg. Unstrittig ist, dass Hahn 1915 als 35-jähriger Wissenschaftler Mitglied der von Fritz Haber geleiteten deutschen Spezialeinheit für chemische Kriegsführung wurde. Die Einheit entwickelte, testete und produzierte Giftgas für den Einsatz an der Front, schulte Soldaten für den Umgang mit Giftgas und überwachte die Gasangriffe. Auch Hahn selbst pendelte neben Aufenthalten in Habers Institut für Physikalische Chemie in Berlin zwischen West- und Ostfront hin und her. Kritisch äußern sich nun die Anti-Atom-Initiative Göttingen, das Anti-Atom-Plenum Göttingen, das Anti-Kriegs-Komitee, die Antimilitaristische Perspektive Göttingen, das Antirassisti­ sche Aktionsplenum Göttingen, die Initiativgruppe Umweltgewerkschaft Göttingen und das Schüler/innenbündnis Göttingen. Abgesehen von der Aberkennung der Ehrenbürgerwürde setzten sie sich dafür ein, die Otto-Hahn-Straße und das Otto-Hahn-Gymnasium umzubenennen und dafür, dass Hahn

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als Kriegsverbrecher eingestuft würde. Tatsächlich verhielt sich Hahn gegenüber der Verwendung von Giftgas zwiespältig: Einerseits propagierte er den Einsatz aktiv an der Front und überwachte persönlich die Herstellung von Gasgranaten, andererseits, schreibt Hahn in seinen Lebenserinnerungen, sei er beim Anblick sterbender russischer Giftgasopfer »tief beschämt« gewesen. Diese Bemerkung in Hahns zwei Wochen nach seinem Tod veröffentlichen Lebenserinnerungen gibt in der kurzfristig hitzigen Diskussion zu denken. Der Vorstoß zur Aberkennung der Ehrenbürgerwürde verläuft im Sande. Otto Hahn bleibt der Stadt und ihren Menschen als einer ihrer größten und zugleich liebenswürdigsten Bürger in Erinnerung. Anmerkungen 1 Abgesehen von der unten angeführten Literatur beruht der Text auf zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen. 2 Heimlich aufgezeichnete Unterhaltungen deutscher Kernphysiker auf Farm Hall (6./7. August 1945). In: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern. Bd.  7: Deutschland unter der Herrschaft des National­ sozialismus, 1933–1945. S. 5. 3 Ebd. 4 Operation Epsilon – Die Farmhall Protokolle. Hrsg. von Dieter Hoffmann. Berlin 1993. S. 66.

Literatur Berninger, Ernst H.: Otto Hahn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1974. Gerlach, Walther / Hahn, Dietrich: Otto Hahn – Ein Forscherleben unserer Zeit. Stuttgart 1984. Hahn, Otto: Mein Leben. München 1968. Heimlich aufgezeichnete Unterhaltungen deutscher Kernphysiker auf Farm Hall (6./7. August 1945). In: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern. Bd. 7: Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, 1933–1945. http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/ German101ed.pdf. Operation Epsilon. The Farmhall Transcripts. Hrsg. von J. A. Revill und Charles Frank. Bristol 1993. Deutsche Ausgabe: Operation Epsilon  – Die Farm Hall Protokolle. Hrsg. von Dieter Hoffmann. Berlin 1993.

176  Matthias Heinzel Otto Hahn – Erlebnisse und Erkenntnisse. Hrsg. von Dietrich Hahn. Düsseldorf, Wien 1975. Otto Hahn  – Begründer des Atomzeitalters. Eine Biographie in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von Dietrich Hahn. München 1979. Otto Hahn. Leben und Werk in Texten und Bildern. Hrsg. von Dietrich Hahn. Frankfurt am Main 1988.

Max von Laue und Göttingen von Hubert Goenner

In zwei Lebensabschnitten spielte Göttingen für den Nobelpreisträger Max von Laue eine besondere Rolle: eine selbst gewählte im Studium und in seiner weiterführenden Ausbildung sowie später  – das war im Pensionsalter  – eine von den Zeitumständen erzwungene. Wegen der Stellung seines Vaters, eines hohen Beamten in der preußischen Militärverwaltung, musste die Familie häufig den Wohnort wechseln. Geboren 1879 in Pfaffendorf bei Koblenz, und nach Stationen in Posen und Berlin, erfolgte die – in Laues Erinnerung ausgezeichnete  – schulische Erziehung am Protestantischen Gymnasium in Straßburg im Elsass. Nach dem Abitur im Jahr 1898 und zwei Semestern an der Universität Straßburg setzte Laue sein Studium im Wintersemester 1899/1900 in Göttingen für vier Semester fort. Von den damaligen Professoren in Göttingen beeindruckten ihn der theoretische Physiker Woldemar Voigt und der Mathematiker David Hilbert am meisten. Voigts Einfluss führte zu Laues Entschluss, theoretischer Physiker zu werden. Bei aller Bewunderung »des vielleicht größten Genies, das ich mit Augen gesehen habe«, nämlich Hilberts, war ihm die Beschäftigung mit reiner Mathematik wie ein »Schwimmen im leeren Raum« vorgekommen. Zu Laues Vorstellung von Mathematik gehörten physikalische Anwendungen. In Göttingen war er Mitglied des Mathematischen Vereins, eines Klubs zwischen studentischer Korporation und wissenschaftlicher Gesellschaft. Nach den zwei Jahren in Göttingen wechselte Laue zum Wintersemester 1901/1902 nach München, absolvierte das physikalische Praktikum bei Wilhelm C. Röntgen, richtete sein Interesse jedoch eher auf anspruchsvolles Bergwandern, das zu einem Hobby wurde wie später das Steuern schneller Autos.

178  Hubert Goenner Danach war Berlin an der Reihe. Wissenschaftlich lockte ihn Max Plancks Reputation, privat das Wiedersehen mit zwei Schulkameraden aus Straßburg. Eine Vorlesung von Otto Lummer von der Physikalisch Technischen Reichsanstalt über »Spezielle Probleme der Optik« mit Demonstrationsversuchen rief in Laue den »optischen Instinkt« hervor, der ihm später sehr zustatten kam. Er bat Planck um ein Thema für eine Doktorarbeit und erhielt von ihm, passend zu Lummers Vorlesung, die Aufgabe, eine Theorie der Interferenzerscheinungen an planparallelen Platten auszuarbeiten. Im Sommer 1903 schloss er die Arbeit ab und promovierte unspektakulär mit »magna cum laude«. Laue befand danach, dass er sein Studium fortführen müsse; er bezog erneut die Universität der ›Kleinstadt‹ Göttingen für weitere vier Semester vom Winter 1903 bis Sommer 1905. Er hörte u. a. bei dem Dozenten der theoretischen Physik Max Abraham »Elektronentheorie« und bei dem Astronomen Karl Schwarzschild »geometrische Optik«. In diese Zeit fallen seine drei ersten Veröffentlichungen gleichen Titels nach der Doktorarbeit »Über die Fortpflanzung der Strahlung in dispergierenden und absorbierenden Medien«, von denen die zwei ersten von W. Voigt bei der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, der Vorläuferin unserer heutigen Akademie der Wissenschaften, eingereicht und in deren Nachrichten publiziert worden sind. In den gesammelten Schriften von Max von Laue werden sie durch eine dritte Göttinger Arbeit Laues zum gleichen Thema aus der Zeitschrift »Annalen der Physik« ersetzt. In Göttingen legte Laue auch das Staatsexamen für den Unterricht an Gymnasien ab. Bei der obligatorischen Chemie-Prüfung kam er in Nöte, da er zu wenig über Kristallographie wusste. Dieses Gebiet hätte er bei W. Voigt lernen können; es sollte ihn bald wieder einholen. Vermutlich machte er im mathema­ tischen Verein Bekanntschaft mit dem drei Jahre jüngeren Max Born, der 1904 als Student nach Göttingen gekommen war. Daraus entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Im Herbst 1905 bot Max Planck Laue eine Assistentenstelle in seinem Institut für theoretische Physik an. Laue kehrte gerne an die Universität Berlin zurück, die er als »seine eigentliche geistige Heimat« empfand. Im Physikalischen Kolloquium des

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Wintersemesters 1905/1906 trug Planck über die soeben erschienene Arbeit Albert Einsteins vor, mit der dieser die Spezielle Relativitätstheorie begründete. Planck versuchte sofort, die neue Theorie zu durchdringen und kündigte 1906 Einstein brieflich eine eigene Arbeit an. Sein Interesse übertrug sich auf Assistent Laue, der sich allerdings zunächst mit der Thermodynamik der Interferenzerscheinungen befasste. Laue konnte zeigen, dass die Additivität der Entropie für kohärente Strahlen nicht gilt – in Einklang mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: Die Entropie von reflektiertem und gebrochenem Strahl ist dieselbe. Noch 1906 habilitierte er sich mit diesem Thema. 1907 publizierte er dann eine erste Arbeit zur Mitführung des Lichtes durch eine bewegte Flüssigkeit nach der Speziellen Relativitätstheorie. Der Privatdozent Laue lehrte fünf Semester lang in Berlin, z. B. über »Ausgewählte Kapitel zur Theoretischen Optik« oder »Kinetische Gastheorie«.

180  Hubert Goenner An die Universität in München ging er 1909 vielleicht, weil der dortige Star unter den theoretischen Physikern, Arnold Sommerfeld, ihn eingeladen hatte, einen Übersichtsartikel über Wellenoptik für die »Encyclopädie der mathematischen Wissenschaften« zu schreiben. Dazu musste er sich umhabilitieren, um die Lehrbefugnis auch für München zu erhalten. Im Sommer 1909 hielt er zunächst bei dem Göttinger Mathematiker Carl Runge um die Hand seiner Tochter Iris an, die neun Jahre jünger als Laue war und für die er vorher keinerlei Inte­ resse gezeigt hatte. Während der Sommerferien verbrachte Iris Runge einige Zeit bei einer befreundeten Familie in der Nähe von München, so dass ein zwangloses Kennenlernen möglich war. Die Umworbene fand Max Laue scheu und unbeholfen; auch missfiel ihr sehr, dass er kein Wort Englisch sprechen konnte. Zuneigung zu ihm entwickelte sich nicht. Max Laue wollte jedoch unbedingt heiraten. Im Oktober 1910 wurde die zwölf Jahre jüngere Magdalena Degen-Milkau seine Frau. Iris Runge traf das Ehepaar im Münchener Physikalischen Kolloquium und musste den sie nicht beachtenden Laue auffordern, ihr seine Frau vorzustellen. Kommunikativ war Laue wohl nicht. Dazu passt, dass er Vorlesungen als lästig empfand. Sein späterer Assistent Max Kohler erzählte mir, dass er diese Lehrveranstaltungen oft übernehmen musste – Bücher schreiben gefiel Laue schon besser. In München entstanden in den Jahren 1911 und 1912 sechs Arbeiten zu Folgerungen aus der Speziellen Relativitätstheorie, denn im Jahr zuvor hatte er vom Verlag Vieweg eine Einladung für ein Lehrbuch zu diesem Thema bekommen. Das Buch erschien dann 1911. Der zweite Band über die Allgemeine Relativitätstheorie folgte 1921. Der vielseitige Laue dachte auch über die Natur der Röntgen­ strahlen nach, über die Sommerfeld und seine Mitarbeiter forschten. Waren sie eine Teilchen- oder Wellenstrahlung? Eines Tages bat der Physik-Doktorand Paul Peter Ewald, der das Verhalten von Lichtwellen in einem Raumgitter von Atomen untersuchte, Laue um Rat. In seiner Erinnerung beschrieb Laue die Situation so: »Bei der Besprechung entfuhr mir wie zufällig der Satz, man solle doch einmal kürzere Wellen, nämlich Rönt-

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genstrahlen, durch Kristalle senden. Wenn die Atome wirklich Raumgitter bildeten, müsse das Interferenzerscheinungen geben, ähnlich den Lichtinterferenzen an optischen Gittern.« Weder Sommerfeld noch Röntgen konnten sich mit diesem Vorschlag anfreunden. Sommerfelds Assistent Walter Friedrich machte den Versuch dennoch, zusammen mit dem Doktoranden Paul Knipping, und fand die Röntgeninterferenzen. Die Beugung von Röntgenstrahlen hat viele Anwendungen nicht nur zur Untersuchung der Struktur von Kristallen in der Kristallographie, sondern auch für die Strukturanalyse der DNS in der Biochemie. Diese Entdeckung begründete Laues Weltruhm. Die gemeinsame Arbeit, für deren theoretischen Teil Laue verantwortlich war, erschien 1912, das Buch dazu 1923. 1915 erhielt er für diese Entdeckung den Nobelpreis für 1914. Noch 1912 hatte Laue eine Professur an der Universität Zürich erhalten; 1914 wurde er als von Laue Ordinarius an der neu gegründeten Universität Frankfurt/M.: Sein Vater hatte 1913 den erblichen Adelstitel erhalten. Der Erste Weltkrieg unterbrach diesen rasanten Aufstieg. Mit dem Nobelpreisträger Wilhelm Wien in Würzburg ar­ beitete er an der Weiterentwicklung von Verstärkerröhren für die Nachrichtentechnik des Heeres, über die er publizierte. 1919 gelang ein Stellentausch zwischen Max Born in Berlin und von Laue in Frankfurt. Bis zu seiner selbst beantragten Emeri­ tierung im Jahr 1943 war er in Berlin, neben seiner Forschungstätigkeit, ein einflussreicher Wissenschaftsorganisator: Vizedirektor und ab 1922 handelnder Direktor in dem für Einstein gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik; gewählter Vertreter der theoretischen Physik in der 1922 gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, aus der nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hervorging; dort auch Vorsitzender des Fachausschusses Physik bis 1934. Die Göttinger Akademie der Wissenschaften wählte ihn 1921 zum korrespondierenden Mitglied; ordentliches Mitglied war er schon in der preußischen Akademie in Berlin. Seit 1925 beriet er die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR). Nach seiner Beschäftigung mit der Supraleitung

182  Hubert Goenner im Rahmen der klassischen Elektrodynamik kam es ab 1932 zu einer Zusammenarbeit mit Walther Meißner, dem Leiter des Kältelabors der PTR und danach des entsprechenden Labors der Technischen Hochschule München. Die Machtübernahme Hitlers brachte von Laue, der von 1931 bis 1933 Vorsitzender der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) war, in eine schwierige Situation: Trotz politischem Interesse hatte er sich nie politisch betätigen wollen, ja Einstein für dessen politische Äußerungen kritisiert. Jetzt bezog er mutig Stellung und wehrte sich gegen die »Eingriffe in die Freiheit der Wissenschaft und der Hochschulen« durch die Nationalsozialisten und deren Anhänger in der Physik wie etwa den Nobelpreisträger Johannes Stark. Dieser versuchte als Präsident der PTR ab 1933 und als Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft von 1934–1936, die gesamte Physik unter seinen Einfluss zu bringen. Seine Mitgliedschaft in der preußischen Akademie wurde durch Max von Laue verhindert. Dieser hatte sich 1933 in der Akademie auch gegen den Ausschluss von Albert Einstein gewehrt. In öffentlichen, wenn auch allegorisch verkleideten Reden wandte er sich gegen die nationalsozialistische Politik. Er half vielen zur Emigration gezwungenen Kollegen bei der Suche nach neuen Stellen und unterstützte Otto Hahn, als dessen Kollegin Lise Meitner ohne gültigen Pass 1938 heimlich außer Landes gebracht werden musste. Außerdem schickte er seinen Sohn Theodor schon 1937 zum Studium nach Princeton, »damit er nicht in die Zwangslage käme, für einen Hitler kämpfen zu müssen«. Auch als Werner Heisenberg Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik geworden war, blieb er Vizedirektor und zog am Ende des Krieges mit dem Institut, das ab Mitte 1943 teilweise verlagert worden war, nach Hechingen / Hohenzollern. Obgleich nicht an Heisenbergs Uran-Projekt beteiligt, wurde er mit ihm im britischen Farm Hall interniert. Ein Teil der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war Anfang 1945 von ihrem Direktor Ernst Telschow nach Göttingen verlegt worden. Sowohl Otto Hahn als auch Heisenberg und von Laue gingen nach der Entlassung aus Farm Hall nach Göttingen. Letztere bauten dort in der Aerodynamischen Versuchsanstalt das Kaiser-Wilhelm-

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Institut für Physik neu auf. Von Göttingen aus spielte der neben Otto Hahn von der britischen Besatzungsmacht besonders geschätzte Max von Laue eine bedeutende Rolle bei der Erneuerung der organisatorischen Strukturen der deutschen Wissenschaft: An der Neugründung der DPG und der PhysikalischTechnischen Bundesanstalt in Braunschweig sowie der DFG als Nachfolgerin der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft war er maßgeblich beteiligt. Auch in der im Wesentlichen von Ernst Telschow und Otto Hahn vorangetriebenen Umwandlung / Neugründung der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft, die sich von 1948 bis 1953 hinzog, spielte von Laue eine Rolle. Er wurde erster Schriftführer der neuen Max-PlanckGesellschaft unter dem Präsidenten Otto Hahn und dem Ehrenpräsidenten Max Planck. Nach Vorarbeiten in Hechingen schrieb von Laue 1946/1947 in Göttingen seine »Geschichte der Physik«, zu der er auch Vorlesungen hielt  – er war Honorar­ professor an der Universität geworden. Die Göttinger Quantenmechanik von Born, Heisenberg und Jordan wird in dieser Geschichte nur knapp erwähnt; das Hauptgewicht liegt auf der Schrödinger’schen Wellenmechanik, obgleich beide Theorien äquivalent sind. Ähnlich wie Einstein, der sich mit der Wahrscheinlichkeitsinterpretation nicht abfinden konnte, stand von Laue der Göttinger Form der Quantenmechanik mit ihren Matrizen reserviert bis ablehnend gegenüber. Im April 1951 übernahm er die Stelle des Direktors des ehemaligen KaiserWilhelm-Instituts für Chemie und Elektrochemie in BerlinDahlem und erreichte die Umbenennung in Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft. Zur Abwehr der Bestrebungen der Bundesregierung unter Konrad Adenauer und Verteidigungsminister F. J. Strauß, Verfügung über Atomwaffen für die Bundeswehr zu erhalten, unterzeichneten 18 führende Atom- und Kernphysiker im April 1957 die Göttinger Erklärung. Auch Max von Laue unterschrieb diesen Appell. Max von Laue hatte wenige, aber erfolgreiche Doktoranden; etwa Leo Szilard, der eine bedeutsame Rolle bei der Entwicklung der Atombombe spielte. Max von Laue starb 1960 nach einem Verkehrsunfall auf der Avus in Berlin. Wie sein Lehrer

184  Hubert Goenner Max Planck ist er in Göttingen begraben. Sein Schüler Max Kohler hat 1981 in der Bunsenstraße eine Gedenktafel für ihn enthüllt. Literatur Herneck, Friedrich: Max von Laue. Leipzig 1979. Tobies, Renate: Iris Runge. A Life at the Crossroads of Mathematics, Science, and Industry. Basel 2012.

»Die Weiblichkeit war nur durch Fräulein Emmy Noether vertreten« – die Mathematikerin Emmy Noether von Cordula Tollmien

»Men of Modern Mathematics« war ein Plakat betitelt, das 1964 auf der Weltausstellung in New York gezeigt wurde und auf dem etwa 80 Mathematiker abgebildet waren und – subsumiert unter den »men« – eine einzige Frau: die »Mutter der modernen Algebra« Emmy Noether. Tatsächlich war Emmy Noether, die 1882 als die einzige Tochter des Erlanger Mathematikprofessors Max Noether geboren wurde und mit drei Brüdern aufgewachsen war, zeitlebens hauptsächlich von Männern umgeben. Dies begann schon, als sie sich nach der Höheren Töchterschule entschloss, den für Mädchen vorgezeichneten Weg zu verlassen und das Abitur zu machen, was in Bayern erst ab 1898 möglich war. Das für die Abiturprüfung notwendige Wissen erarbeitete sich Emmy ­Noether in Privatstunden bei den Lehrern ihrer Brüder und indem sie sich im Jahr 1900 als Gasthörerin (als reguläre Studentinnen waren Frauen damals noch nicht zugelassen) an der Universität Erlangen einschrieb. Zu Beginn dieses Gaststudiums hatte sie eine einzige Mitstudentin, die aber kein Interesse an Mathematik und Physik hatte, und obwohl die Zahl der Gasthörerinnen in den folgenden Jahren geringfügig stieg, blieb Emmy Noether immer die einzige Frau in den Mathematikvorlesungen. Als sie dann im Juli 1903 als Externe ihr Abitur am Real­ gymnasium in Nürnberg machte, war sie das erste »Fräulein«, das an dieser Schule die »Absolutorialprüfung« ablegte1 und eine der ersten Frauen überhaupt, die in Deutschland das Abitur erwarb. Und so ging es immer weiter: Als sie 1907 an der Universität Erlangen von Paul Gordan »summa cum laude«

186  Cordula Tollmien promoviert wurde, war sie dort zwar nicht die erste Frau, die einen Doktortitel erwarb (eine Amerikanerin war ihr zuvor­ gekommen), aber sie war die erste Frau mit einem Doktor in Mathematik und sollte in Erlangen lange die einzige bleiben. Emmy Noether war dann auch die einzige Frau im Team des berühmten Göttinger Mathematikers David Hilbert, als dieser sich mit Albert Einstein einen Wettlauf bei der Aufstellung der Gleichungen für die allgemeine Relativitätstheorie lieferte. Gemeinsam mit Felix Klein, einem Freund ihres Vaters aus gemeinsamen Erlanger Tagen und einflussreichem Förderer des Frauenstudiums, hatte David Hilbert Emmy Noether 1915 als Unterstützung für seine Arbeit an der Relativitätstheorie gezielt nach Göttingen geholt. Da Frauen sich in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht habilitieren konnten, war Emmy­ Noether zuvor acht Jahre lang nur inoffiziell für ihren alternden Vater und auch den Nachfolger ihres 1912 verstorbenen Doktorvaters Paul Gordan, Ernst Fischer, tätig gewesen. Eine ihren wissenschaftlichen Leistungen angemessene akademische Stellung konnten ihr Hilbert und Klein natürlich auch in Göttingen nicht bieten, aber sie bemühten sich zumindest darum, indem sie schon im Juli 1915 einen Antrag auf die ausnahmsweise Bewilligung der Habilitation einer Frau für Emmy N ­ oether stellten. Der Antrag blieb trotz wiederholter Anläufe erfolglos,2 doch durfte Emmy Noether immerhin Seminare unter dem Namen David Hilberts anbieten, und dieser hatte auch durchgesetzt, dass sie (als erste Frau in der Geschichte der Göttinger Universität) dabei namentlich im Vorlesungsverzeichnis genannt wurde: »Invariantentheorie. Prof. Hilbert mit Unterstützung von Frl. Dr. E. Noether«, so stand es erstmals im Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1916/1917. Erst nach dem Krieg, aber noch vor der allgemeinen Zulassung von Frauen zur Habilitation, gelang es dann Hilbert und Klein, Emmy Noether im Mai 1919 zu habilitieren. Sie war die erste an der Universität Göttingen habilitierte Frau. Als Habilitationsarbeit wurde ihre im September 1918 fertiggestellte Arbeit über »Invariante Variationsprobleme« anerkannt. Emmy Noether war es in dieser Arbeit gelungen, einen Zusammenhang zwischen der Symmetrie einer mathemati­

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schen Form und der Erhaltung einer physikalischen Größe herzu­stellen und so den Energieerhaltungssatz, der im 19. Jahrhundert mühsam experimentell bestätigt worden war, mathematisch als Konsequenz aus einer ästhetischen Qualität, nämlich der Symmetrie, abzuleiten. Und nicht nur das: Sie bewies, dass sich für jede Symmetrie ein physikalischer Erhaltungssatz finden lässt. Der Wissenschaftshistoriker und -publizist Ernst Peter Fischer hat diese damals völlig überraschende, ganz und gar neue Erkenntnis, die heute als Noether-Theorem bezeichnet wird, »eine der schönsten Verbindungen« genannt, die »zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht«.3 Es hat lange gedauert, bis dieser fundamentale Beitrag Emmy Noethers zur mathematischen Physik in der Fachwelt als ebenso bedeutend wahrgenommen wurde wie Emmy Noethers Neubegründung der Algebra, durch die sie sich in der wissenschaft-

188  Cordula Tollmien lichen Welt bis heute einen unauslöschlichen Namen erworben hat. Grundlegende Begriffe der Algebra, die für Nichtmathematiker merkwürdig klingende Namen wie Gruppe, Ring, Körper oder Ideal tragen, definierte Emmy Noether neu und gab der Algebra auf diese Weise ein auch für viele ihrer Kollegen zunächst sehr ungewohntes, modernes Gesicht. Viele algebraische Begriffe tragen daher heute ihren Namen. So gibt es beispielsweise Noether’sche Ringe und Noether’sche Module, einen Noether’­ schen Normalisierungssatz und eine Noether’sche O ­ rdnung. Obwohl Emmy Noether in den 1920er Jahren unter den Göttinger Mathematikern zweifellos die produktivste war und zum Kristallisations- und Mittelpunkt einer mathematischen Bewegung wurde, die Wissenschaftler aus dem In- und Ausland nach Göttingen zog, erhielt Emmy Noether niemals einen Ruf an eine deutsche Universität und musste sich stattdessen mit dem Titel »eines nicht-beamteten Professors«, der mit keinerlei Vergütung verbunden war, und einem minimal dotierten Lehrauftrag zufriedengeben, der noch dazu jedes Semester zu erneuern war. Nur ein einziges Mal wurde Emmy Noether in Deutschland ohne jede Einschränkung ihren männlichen Kollegen gleichstellt. Das war, als die Nationalsozialisten sie aufgrund des Gesetzes zur »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 von ihrer Tätigkeit an der Universität beurlaubten. Emmy Noether gehörte zu den ersten sechs jüdischen Wissenschaftlern, denen untersagt wurde, weiter an der Göttinger Universität zu lehren. Über ihre ausländischen wissenschaftlichen Freunde gelang ihr im November 1933 die Emigration in die USA , und als Gastprofessorin am Frauencollege Bryn Mawr erhielt Emmy­ Noether dann erstmals in ihrem Leben ein Gehalt, das mehr war als nur ein Almosen. Am 14. April 1935 starb sie dort völlig überraschend nach einer Operation im Alter von nur 53 Jahren. »Die Weiblichkeit war nur durch Fräulein Emmy ­Noether vertreten«  – der titelgebende Satz stammt aus den Erinnerungen ihres Freundes und Kollegen, des russischen Mathematikers Pawel Alexandroff, der 1923 als 26-Jähriger erstmals nach Göttingen gekommen war. Er könnte als eine Art Motto über Emmy Noethers wissenschaftlichem Leben stehen, ist je-

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doch in einem Zusammenhang gefallen, der mit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, wenn überhaupt, nur mittelbar zu tun hat. Alexandroff spricht hier nämlich nicht von Emmy­ Noethers Ausnahmestellung an der Universität, sondern in der Universitätsbadeanstalt: »Diese Badeanstalt«, berichtete Alexan­droff in einem 1969 veröffentlichen Vortrag, »mit ihrem ›Oberhaupt‹, dem Bademeister Fritz Klie, einer überaus markanten Persönlichkeit des Göttinger Universitäts- und Studentenlebens, aber auch des ganzen Göttinger wissenschaftlichmathematischen Betriebs, ist einer besonderen Erwähnung wert. Manches mathematische und nicht nur mathematische Gespräch fand ›beim Klie‹ statt: am bewegten, nicht immer so recht sauberen, nach dem Regen öfters sogar ziemlich braunen Leinewasser oder in der Sonne, oder im (von Mücken gerne aufgesuchten) Schatten der schönen Bäume der Klieschen Schwimmanstalt. Auch ist dort manche mathematische Idee geboren.« »Die Schwimmanstalt Klie war ein ausgesprochenes Männerbad«, so Alexandroff weiter, »die Weiblichkeit war nur durch Fräulein Emmy Noether und Frau Nina Courant vertreten; die beiden Damen pflegten dabei ihre Ausnahmerechte täglich, des Wetters ungeachtet, zu geniessen.«4 Nina Courant, die Ehefrau des Mathematikers Richard­ Courant und keine Mathematikerin, wollte sich allerdings, als sie 1980 schon fast 90-jährig nach diesen gemeinsamen Bade­ vergnügen befragt wurde, nicht mehr daran erinnern. Sie sei nicht Mitglied dieser von Alexandroff als »unvergesslich« bezeichneten mathematischen Gemeinschaft gewesen, schrieb sie Clark Kimberling, dem amerikanischen Biographen Emmy­ Noethers. Da Nina Courant in diesem Punkt sehr bestimmt war, habe ich mir die Freiheit genommen, sie in dem titelgebenden Zitat zu unterschlagen.5 David Hilbert wird nachgesagt, dass er 1915 bei den Verhandlungen über Emmy Noethers Habilitation, bei denen er auf den erbitterten Widerstand vor allem seiner geisteswissenschaftlichen Kollegen stieß, ausgerufen haben soll: »Aber meine Herren, wir befinden uns doch hier an einer Universität und nicht in einer Badeanstalt.«

190  Cordula Tollmien Durch Alexandroffs Erinnerungen wird dieser schöne, allerdings niemals wirklich belegte Ausspruch David Hilberts auf wunderbare Weise konterkariert: Die Universität war zwar keine Badeanstalt, doch sie besaß eine solche, und Emmy­ Noether, die seit frühester Jugend eine begeisterte Schwimmerin war, schaffte nicht nur den Sprung an die Universität, sondern auch in das tiefe Wasser der Universitätsbadeanstalt, die an einem durch ein Leinewehr gebildeten Wasserfall lag und in der sich nur versierte Schwimmer behaupten konnten – ein Bild, das sich auch auf das Haifischbecken Universität übertragen lässt und uns zugleich eine weitere Facette von Emmy Noether zeigt, die nicht nur eine geniale Wissenschaftlerin, sondern auch eine überaus bewegungsfreudige Frau war. Ihre besten Ideen entwickelte sie nicht nur im Schwimmbad, sondern vor allem auf den ausgedehnten Spaziergängen, auf die sie alle ihre Schüler, die »Noetherknaben«, wie sie in Göttingen genannt wurden, mitzuschleppen pflegte. Mathematikerspaziergänge hatten nicht nur in Göttingen Tradition: Schon Emmy Noethers Doktorvater, Paul Gordan, entwickelte mathematische Gedanken gern in angeregtem Gespräch bei Spaziergängen. Auch David Hilbert wanderte zeitweise täglich mit seinen Kollegen in Königsberg, wo er bis zu seiner Berufung nach Göttingen 1895 gelehrt hatte, und durchstöberte dabei »wohl alle Winkel mathematischen Wissens«6. Und in Göttingen etablierte Felix Klein Mathematikerspaziergänge, an denen auch Studenten teilnehmen durften, als feste Tradition im Wissenschaftsbetrieb. Doch niemand spazierte so ausdauernd und extensiv wie Emmy Noether. Es schien fast, als könne sie nur im konzentrierten Gehen für sich die Gedanken klären, die die mathematische Begriffswelt revolutionieren sollten. In einem Brief an Emmy Noethers erste Biographin Auguste Dick schilderte Heinrich Kapferer, der 1922 ein Semester in Göttingen verbrachte, humorvoll einen dieser Spaziergänge: »Es war ein schöner Sommertag«, so Kapferer. »Aber kein einziges Wort fiel ihrerseits über die schöne Umgebung und was uns da begegnete, sondern es war eine einzige mathematische Unterhaltung ohne Unterbrechung, von mindestens zwei Stunden Dauer. Es

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war aber im Grunde ein Monolog von E. N., die sich rührend Mühe gab, mich an ihren Problemstellungen zu interessieren, ohne irgendwelche schriftliche Unterlagen, und für mich ohne jede Gelegenheit, einige Notizen zu machen, an die ich mich später hätte halten können. Auf diese Weise war es für beide Teile eine strapaziöse Angelegenheit, bei E. N. natürlich produktiver Art, bei mir rezeptiver Art, immer be­gleitet von dem üblichen Kopfnicken, aus Höflichkeit auch dann, wenn noch lange nicht alles klar erfasst war. Schliesslich landeten wir an einer sonnendurchfluteten Waldlichtung, die sich uns zur verdienten Ruhe anbot, keine Sitzbank, nur eine sanft ansteigende Grasfläche, auf der wir uns dann erschöpft niederliessen.«7 Natürlich war dieser Austausch keineswegs immer so ein­ seitig, wie hier von Kapferer geschildert. In aller Regel fand zwischen Emmy Noether und ihren Schülern, »ihren Trabanten«, wie sie selbst sie bezeichnete, ein stetes Geben und Nehmen statt: Das wissenschaftliche Gespräch (»Mathematik reden«, wie Emmy Noether es nannte) als dialogischer Austausch – das war ebenso charakteristisch für Emmy Noethers Denken wie für ihr Unterrichten. Auch nachdem sie am 25.  April 1933 das Telegramm erhalten hatte, in dem ihr das weitere Lehren an der Universität untersagt wurde, ließ sie sich nicht aus dieser Gemeinschaft mit ihren »Trabanten« vertreiben. Scheinbar unbeeindruckt von den äußeren Verhältnissen setzte sie die Arbeit mit ihren Schülern einfach in ihrer Wohnung fort und ließ sich natürlich auch nicht vom Spazierengehen abhalten: »Die ›Arbeitsgemeinschaft für Zahlentheorie‹ […] scheint gut zu funktionieren«, schrieb sie am 28.  Mai 1933 an ihren Königsberger Kollegen R ­ ichard Brauer, der im November 1933 ebenfalls in die USA emigrieren sollte, »ich habe sie mit den Leuten auf dem traditionellen Spaziergang nach Kerstlingerode […] vorbereitet.«8 Auch im amerikanischen Exil ließ Emmy Noether nicht von ihren Göttinger Gewohnheiten. So unternahm sie, ungerührt von der Tatsache, dass Spaziergehen in den USA eigentlich keine übliche Freizeitbeschäftigung ist, auch mit ihren amerikanischen Studentinnen ausgedehnte Wanderungen, auf denen »Mathematik geredet« wurde. Ruth Stauffer (verheiratete

192  Cordula Tollmien McKee), Emmy Noethers einzige Doktorandin in den USA , erinnerte sich an einen dieser Spaziergänge: »Wir gingen direkt hinter dem College los, wo es ein offenes Feld gab. Ich sah bald, dass wir direkt auf einen Weidezaun zuliefen; Miss Noether, in eine mathematische Diskussion vertieft, in zügigem Tempo voraus. Der Zaun kam immer näher und ich machte mir allmählich Sorgen. Wir junge Frauen um die 20 konnten leicht über den Zaun klettern, aber was würde diese alte fünfzigjährige Lady tun? Der Zaun war da und ohne ihren Redefluss auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, quetschte sich Emmy­ Noether zwischen seinen beiden Querstangen hindurch und marschierte weiter.« »Miss Noethers Denk- und Arbeitsmethoden«, schrieb Ruth McKee dazu, »waren ein Spiegel ihrer Art zu leben: nämlich, das Unwesentliche zu erkennen, es beiseite zu schieben, und sich vollen Herzens, dem zu widmen, worum es wirklich ging.«9 Anmerkungen 1 Jahresberichte des Nürnberger Realgymnasiums 1902/1903. S. 67. 2 Siehe dazu Cordula Tollmien: »Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann …« – eine Biographie der Mathematikerin Emmy Noether (1882–1935) und zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Habilitation von Frauen an der Universität Göttingen. In: Göttinger Jahrbuch 38. 1990. S. 153–219. 3 Fischer, Ernst Peter: Emmy Noether oder die Bedeutung der Symmetrie. In: Ders.: Leonardo, Heisenberg & Co. Eine kleine Geschichte der Wissenschaft in Portraits. München, Zürich 2002. S. 136–147, hier S. 136. 4 Alexandroff, Pawel: Die Topologie in und um Holland in den Jahren 1920–1930. In: Nieuw Archief voor Wiskunde 17.1969. 3. S. 109–127, hier S. 121 und S. 122. 5 Nina Courant an Clark Kimberling 1.6.1980, Handschriftenabteilung der Universität Göttingen, Cod. Ms. C. Kimberling 6. Es ist gut möglich, dass Alexandroff, der seine Erinnerungen ebenfalls erst im Nachhinein mit über 70 Jahren formulierte, sich hier geirrt hat, zumal er im gleichen Absatz auch von gemeinsamen (Nicht-Bade-)Vergnügungen mit dem Ehepaar Courant berichtete. 6 Roquette, Peter: David Hilbert in Königsberg. Vortrag gehalten am 30.9.2002 an der Mathematischen Fakultät Kaliningrad, http://www.

Emmy Noether 193 rzuser.uni-heidelberg.de/~ci3/vortrag.pdf, S.  7 (Zitat aus den Erinnerungen Hilberts). 7 Heinrich Kapferer an Auguste Dick 12.12.1966, Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Auguste Dick 8/36. 8 Emmy Noether an Richard Brauer 28.5.1933, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen Cod. Ms. C. Kimberling 26. 9 McKee, Ruth S. In: Emmy Noether in Bryn Mawr. Hrsg. von Bhama Srinivasan und Judith Sally. New York u. a. 1983. S. 142 ff., hier S. 144 und S. 143 (Original Englisch, gekürzte Übersetzung C. Tollmien).

James Franck, Nobelpreisträger Wissenschaft in moralischer Verantwortung von Friedrich Smend

James Franck wurde am 26. August 1882 in Hamburg als Sohn eines Bankkaufmanns geboren und wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Er studierte ab 1902 Physik in Berlin, promovierte nach vier Jahren und wurde nach seiner Habilitation 1911 Privatdozent. Gemeinsam mit dem zwei Jahre jüngeren Gustav Hertz machte er in Berlin vom selben Jahr an Experimente über Zusammenstöße zwischen Elektronen und Quecksilber-Atomen, die im Jahr 1913 eine sensationelle Bestätigung gleich zweier Hypothesen der jungen Quantenphysik lieferten: erstens der ganz neuen Behauptung von Niels Bohr (1913), dass ein Atom angeregte Zustände mit definierter Energie einnehmen kann  – in diesem Fall durch Stoß eines Elektrons, und zweitens der etwas älteren Annahme Einsteins (1905), dass Licht gegebener Farbe (genauer: Frequenz) aus einzelnen Lichtteilchen (Photonen) besteht, deren Energie durch die Frequenz des Lichts bestimmt ist. Sowohl für Franck als auch für Hertz begannen damit erfolg­ reiche Laufbahnen als Forscher. Im April 1921 trat Franck eine ordentliche Professur für Experimentalphysik an der Universität Göttingen an. Er war schon als brillanter Forscher bekannt. Aber niemand sah voraus, wie viel er als Direktor des II . Physikalischen Instituts zum weltweiten Ansehen Göttingens in den Naturwissenschaften beitrug, wie schlecht sein Land ihm dies dankte, und wie er nach seiner Emigration in den Vereinigten Staaten vor einer Politik warnte, die für rasche militärische Erfolge große Gefahren für die Zukunft der Welt in Kauf nehmen wollte. Seine engsten Kollegen in der Göttinger Physik kannte Franck schon seit der Studienzeit: Robert Pohl, Direktor des

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I. Physikalischen Instituts für Experimentalphysik, und Max Born, Direktor des Instituts für Theoretische Physik. Besonders mit Born verband ihn eine enge Zusammenarbeit. Beide arbeiteten mit ihren Assistenten und Doktoranden daran, die Atome und Moleküle als Bausteine der Materie zu verstehen. Die Zahl der Studenten war, verglichen mit heute, idyllisch klein; sie nannten einander »Pohlierte«, »Bornierte« und »Franckierte«. Zwischen Lehrenden und Lernenden entwickelte sich ein Gefühl der Gemeinsamkeit – der viel gerühmte ›Geist von Göttingen‹. Francks letzter Göttinger Doktorand Heinz Maier-Leibnitz hat das 1982, anlässlich der hundertsten Wiederkehr des Geburtsjahres von James Franck und Max Born, so beschrieben: »Die guten äußeren Bedingungen waren aber vielleicht nicht einmal das Wichtigste in Göttingen. Noch wichtiger war, dass die Professoren sich kannten und miteinander redeten, und ebenso die jungen Wissenschaftler, die dort

196  Friedrich Smend aus aller Welt zusammenkamen. Sie alle haben eine Atmosphäre geschaffen von gegenseitiger Information, von Kritik und Selbstkritik, von gegenseitiger Anerkennung und oft von Freundschaft. Damals war Göttinger mehr als die Summe der Einzelnen. Das war wohl die Grundlage des Erfolgs.« Ehemalige Studenten und Mitarbeiter Francks sprachen noch nach Jahrzehnten geradezu verehrungsvoll von ihrem Lehrer und der Zuwendung, die sie von ihm erfuhren – bei ihrer Arbeit und auch darüber hinaus. Im Jahr 1926 erhielten Franck und Hertz gemeinsam den Nobelpreis für Physik in Anerkennung ihrer gemeinsamen Berliner Experimente – und Göttingen konnte auf einen neuen Nobelpreisträger in seinen Mauern stolz sein. Typisch für Francks unprätentiöse Art ist der Brief an den Universitätskurator, mit dem er am 1. Dezember 1925 Urlaub für die Entgegennahme des Preises in Stockholm beantragt, ohne die große Auszeichnung auch nur mit einem Wort zu erwähnen: »Ew. Hochwohlgeboren bitte ich ergebenst um Urlaub für die Zeit vom 6. bis 29. Dezember, da ich nach Stockholm und anschliessend Russland reisen muss. J. Franck«. Dieses glanzvolle wissenschaftliche Leben fand statt, während das Ende der Weimarer Republik nahte. Aber kaum jemand rechnete ernsthaft mit dem, was 1933 geschah: Nun folgte ein brutaler Schlag dem anderen. Nach dem sogenannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.  April 1933 wurde Born beurlaubt. Franck war – als Frontoffizier des Ersten Weltkriegs – zunächst verschont, erkannte aber sofort, dass auch seine Lage auf Dauer unhaltbar war. Mehr noch, seine Selbstachtung erlaubte ihm nicht, sich anzupassen. Deshalb schrieb er am 17. April 1934 an den preußischen Kultusminister: »Durch diese Zeilen bitte ich Sie, Herr Minister, mich von meinen Pflichten als ordentlicher Professor an der Universität Göttingen und Direktor des II . Physikalischen Instituts dieser Universität zu entbinden. Der Entschluß ist mir innere Notwendigkeit wegen der Einstellung der Regierung dem deutschen Judentum gegenüber.«

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Gleichzeitig schreibt er an den Rektor der Universität; in seinem Brief äußert er unter anderem: »Ich habe meine vorgesetzte Behörde gebeten, mich von meinem Amte zu entbinden. Ich werde versuchen, in Deutschland weiter wissenschaftlich zu arbeiten. Wir Deutsche jüdischer Abstammung werden als Fremde und Feinde des Vaterlands behandelt. Man fordert, daß unsere Kinder in dem Bewußtsein aufwachsen, sich nicht als Deutsche bewähren zu dürfen. Wer im Kriege war, soll die Erlaubnis erhalten, weiter dem Staat zu dienen. Ich lehne es ab, von dieser Vergünstigung Gebrauch zu machen, wenn ich auch Verständnis für den Standpunkt derer habe, die es heute für ihre Pflicht halten, auf ihrem Posten auszuharren.« Diese Sätze erschienen am 18. April in der – damals noch existierenden – liberalen »Göttinger Zeitung«, die in ihrem Kommentar Sympathie mit Franck zum Ausdruck brachte. Allerdings überwogen im ganzen Land die negativen Äußerungen – eine Folge der bereits begonnenen Gleichschaltung der Presse. Auch aus der Göttinger Universität kam wenig Unterstützung – stattdessen eine üble Erklärung von 42 Dozenten und Professoren, in der es unter anderem heißt: »Wir sind uns einig darin, daß die Form der obigen Rücktrittserklärung einem Sabotageakt gleichkommt, und hoffen, daß die Regierung die notwendigen Reinigungsmaßnahmen daher beschleunigt durchführen wird.« So kam es dann auch: Franck wurde zum 8. Februar 1934 förmlich entlassen; sein Institut wurde – wie dasjenige Borns – personell praktisch ausgelöscht, weil nicht nur die Direktoren, sondern auch viele Assistenten und Mitarbeiter im Sinne der Nazis ›untragbar‹ waren. Es dauerte Jahre, bis die Direktorenstellen wieder besetzt wurden. Franck emigrierte mit seiner Familie in die USA . Dort war er zunächst in Baltimore und später in Chicago als Professor tätig. Als während des Zweiten Weltkriegs die Furcht vor einer möglichen deutschen Kernwaffe zunahm, setzte auch Franck sich dafür ein, dass die USA ihrerseits eine solche Waffe entwickelten. Er unterbrach 1942 seine Arbeit an der Universität und

198  Friedrich Smend übernahm in Chicago Aufgaben im Metallurgischen Labor des Kernwaffenprojekts der USA . Schon im Jahr 1943 äußerten Wissenschaftler des Labors Bedenken gegen die militärische Herrschaft über das Kernwaffenprojekt. Franck sagte darüber Anfang 1945 persönlich einem Minister: »Sie (die Wissenschaftler) sehen mit Sorge, dass die Menschheit gelernt hat, die Atomkraft zu entfesseln, ohne ethisch und politisch auf ihren klugen Gebrauch vorbereitet zu sein.« Ein von Franck geleiteter siebenköpfiger Ausschuss verfasste ein Memorandum, den sogenannten »Franck-Report«, der dem Verteidigungsminister überreicht werden sollte. Darin wird von der sofortigen militärische Anwendung der Kernwaffe gegen den letzten verbliebenen Kriegsgegner Japan abgeraten. Stattdessen sollte die Wirkung der Waffe an einem entlegenen Ort und vor Vertretern aller Länder demonstriert werden. Dadurch könne, so die Hoffnung, Japan ohne Abwurf der Bombe zur Kapitulation bewegt werden. Ein Kriegseinsatz der Nuklear­waffe sei nicht einfach eine Frage der militärischen Taktik, sondern eine schicksalhafte politische Entscheidung. Er werde ein nukleares Wettrüsten aller Staaten in Gang setzen, die über entsprechende wissenschaftliche und technische Fähigkeiten verfügten. Ein internationales Abkommen über die Kontrolle solcher Waffen werde dann nicht mehr möglich sein. Der »Franck-Report« wurde noch vor dem Abwurf der ersten Kernbombe über Hiroshima fertig und der Projektleitung übergeben; aber die Bereitschaft zum Innehalten war nicht vorhanden, und das vorhergesagte nukleare Wettrüsten begann sofort. Trotzdem ist der Franck-Report bis heute ein Vorbild dafür, wie Wissenschaftler die Folgen ihres Tuns für die Menschheit bedenken und danach öffentlich Stellung beziehen sollten. Nach dem Ende des Kriegs kehrte Franck wieder zur ›reinen‹ Wissenschaft zurück, blieb jedoch weiter ein aufmerksamer Beobachter der Politik. Als der Morgenthau-Plan bekannt wurde, der das besiegte Deutschland in ein reines Agrarland verwandeln sollte, sah er die fatalen politischen Folgen voraus und unterstützte einen Aufruf gegen den Plan. In diesem Sinn schrieb er auch an Albert Einstein. Dieser war über die Petition jedoch so erzürnt, dass er in seiner Antwort anstelle des gewohnten

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›Du‹ das distanzierte ›Sie‹ verwendete – das hätte beinahe das Ende der jahrzehntelangen Freundschaft der beiden bedeutet. Glücklicherweise wurde der Morgenthau-Plan fallengelas­ sen; stattdessen entstand die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer Rechtsstaat. Der Gesetzgeber gelangte zu der Einsicht, dass politisch Verfolgte wenigstens für ihre materiellen Verluste entschädigt werden müssten. Nun wandte sich Franck an die zuständige staatliche Behörde  – das niedersächsische Kultusministerium – und beantragte 1949 Wiedergutmachung. Dieses Verfahren zog sich jedoch hin, weil das Ministerium sich lange weigerte, dabei recht unsensibel und formalistisch argumentierte und sich am Ende noch darauf berief, dass Franck seinerzeit selber seinen Rücktritt erklärt habe und dass – jetzt wörtlich – »seinerzeit ein unmittelbarer Zwang auf Prof. Franck seitens der Behörden zum Verzicht auf sein Amt nicht ausgeübt worden ist«. Schließlich wurden im August 1954 Francks Anwälte energisch und schrieben: »Die verzögerliche Behandlung macht insbesondere bei den ausländischen Fragern einen sehr schlechten Eindruck. Es ist bereits sogar die Vermutung geäußert worden, dass versteckte antisemitische Gründe mitspielen könnten.« Im November 1954 wurde das Wiedergut­ machungsverfahren endlich abgeschlossen. Man hätte es durchaus verstehen können, wenn Franck sich nach diesen Querelen ganz von Göttingen abgewandt hätte. Aber das Gegenteil trat ein: Franck war schon 1953 bereit, aus Anlass der Tausendjahrfeier Göttingens die Ehrenbürgerschaft der Stadt anzunehmen  – zusammen mit Max Born und dem ebenfalls vertriebenen Mathematiker Richard Courant. Franck hatte zuvor an Born geschrieben: »… dass ich Deine und meine Wahl für die Ehrung dahin verstanden habe, dass der Rat der Stadt Göttingen die Absicht hatte, in uns das Andenken der Millionen zu ehren, die dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind.« Dieser Satz findet sich auch in dem Brief an den Oberbürgermeister, mit dem Franck die Ehrung annimmt. Franck lebte auch weiterhin in seiner neuen Heimat, den USA , kam aber gelegentlich nach Göttingen. Im Mai 1964 traf er sich hier mit Max Born, der seit längerer Zeit in Bad Pyrmont

200  Friedrich Smend lebte. Kurz darauf – noch in Göttingen – starb er am 21. Mai 1964 an Herzversagen. Er wurde auf dem Friedhof in HamburgOhlsdorf beigesetzt. Zum Schluss soll noch die abenteuerliche Geschichte der Franck’schen Nobelpreis-Medaille berichtet werden, wie sie vom Stockholmer Nobel-Institut publiziert worden ist: Franck und sein Freund, der deutsche Physik-Nobelpreis­ träger von 1914, Max von Laue, wollten verhindern, dass ihre goldenen Nobel-Medaillen, die sie von der Schwedischen Akademie erhalten hatten, in die Hände der Nazis fielen. Deshalb hatten beide sie schon frühzeitig ihrem Freund Niels Bohr in Kopenhagen anvertraut, der sie in seinem Institut verwahrte. Aber im Jahr 1940 besetzten die Deutschen Dänemark, und Bohrs Institut war nun kein sicherer Ort mehr. Kurzerhand wurden beide Medaillen chemisch aufgelöst und die Flasche mit der Lösung ohne Etikett in eine Ecke gestellt, wo sie bis zur Befreiung Dänemarks unerkannt blieb. Nun wurde das Metall aus der Lösung zurückgewonnen und nach Stockholm geschickt. Dort wurde es zu erneuerten Medaillen geformt. James Franck erhielt seine Nobel-Medaille in einer akademischen Feier in Chicago am 31. Januar 1952 zurück. Literatur Der ›Franck-Report‹. Ein Bericht an den Kriegsminister der USA , Juni 1945, von J. Franck, E. Rabinowitch, D. Hughes, G. Seaborg, L. Szilard, J. J. Nickson, J. Stearns. Deutsche Übersetzung in: Wissenschaft & Frieden. 1995. H. 2. http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikel ID =1092. Kuhn, Heinrich G.: James Franck 1882–1964. In: Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society. Vol. 11. 1965. S. 53–74. Lemmerich, Jost: Aufrecht im Sturm der Zeit. Der Physiker James Franck 1882–1964. Diepholz 2007. Rice, Stuart A. / Jortner, Joshua: James Franck 1882–1964. In: Biographical Memoirs, National Academy of Sciences of the USA . Washing­ton 2010.

Max Born und die Entstehung der Quantenmechanik von Kurt Schönhammer

Max Born wurde 1882 in Breslau als Sohn des Privatdozenten an der Medizinischen Fakultät Gustav Born geboren. Seine Mutter, die bereits vier Jahre nach der Geburt von Max starb, entstammte einer Familie, die mit Textilhandel wohlhabend geworden war. Nach Studienbeginn in Breslau verbrachte Born die beiden folgenden Sommersemester in Heidelberg und Zürich. In Heidelberg fand sein erstes Zusammentreffen mit James Franck statt. Sie wurden später enge Freunde. An der ETH Zürich war Born von der Vorlesung über elliptische Funktionen von Adolf Hurwitz tief beeindruckt. Sein Breslauer Studienfreund Otto Toeplitz empfahl Born, nach Göttingen zu gehen, wenn er in Deutschland Vorlesungen von der Qualität wie der von Hurwitz hören wollte. Born selbst wusste nichts über Göttingen, nicht einmal, wo die Stadt lag. Die Mathematik in Göttingen war damals im Jahr 1904 durch vier große Namen vertreten: Felix Klein, David Hilbert, Hermann Minkowski und Carl Runge – von den Studenten als ›die Bonzen‹ bezeichnet. Borns Stiefmutter stammte aus Königsberg und hatte Hermann Minkowski dort in ihrer Tanzstunde kennengelernt. Daher gab sie Max bei seiner Abreise nach Göttingen einen Empfehlungsbrief mit, in dem sie Minkowski an diese Zeit erinnerte. Da Hilbert Borns Mitschrift der ersten Vorlesung besonders gut gefiel, bekam er die Aufgabe, die ›spezielle‹ Vorlesungsmitschrift für das ganze Semester anzufertigen, die später im Lesesaal der Mathematik ausgelegt wurde. Dies führte zu regelmäßigem Kontakt mit Hilbert, der Born bald wie einen jungen Freund behandelte. Bald erhielt der junge Student eine private Einladung zu den Minkowskis. Wegen des guten Verhältnisses

202  Kurt Schönhammer zu Hilbert war Born entschlossen, Mathematiker zu werden. Hilbert schlug ihm vor, darüber nachzudenken, ob die Null­ stellen der Besselfunktionen transzendente Zahlen sind. Auch nach vielen Monaten machte Born keinerlei Fortschritte  – es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis Carl Ludwig Siegel der Nachweis gelang. Das ließ Born an seiner Zukunft als Mathematiker zweifeln. Das Verhältnis zu Felix Klein entwickelte sich gar nicht gut. Klein hatte der Fakultät vorgeschlagen, das Thema »Die­ Stabilität der elastischen Linie« für den Akademischen Preis des Jahres zu wählen, und er schlug Born vor, sich zu beteiligen. Born, in seinem jugendlichen Leichtsinn, schlug diese freundliche Einladung aus und antwortete Klein, dass er an Problemen der Elastizitätstheorie nicht wirklich interessiert sei und daher nicht teilnehmen werde. Das machte den »Großen Felix« sehr wütend. Borns Freunde überzeugten ihn schließlich, seinen Entschluss zu revidieren, und je tiefer er sich einarbeitete, umso mehr interessierte ihn das Thema. Im Juni 1906 wurde der Gewinner des Preises bekanntgegeben: Es war Max Born. Die Arbeit diente ihm auch als Doktorarbeit, und die Promotion erfolgte einen Monat später. Diese Affäre sollte nicht der letzte Zusammenstoß mit Felix Klein bleiben. Nach der Promotion ging Born zurück nach­ Breslau, um den Militärdienst abzuleisten, von dem er wegen seines Asthmas nach dem Abitur zurückgestellt worden war. Bereits im Januar 1907 führte ein erneuter Asthmaanfall zu seiner Entlassung. Borns Freund James Franck, der Physiker geworden war, riet ihm, nach Cambridge zu gehen, wenn er mehr Physik lernen wollte. Zurück in Breslau, beschloss Born tatsächlich, Physiker zu werden, und begann sich für Probleme im Umfeld von Einsteins »spezieller Relativitätstheorie« zu interessieren. Da er von Hermann  Minkowskis Formulierung dieser Theorie im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum (»Minkowski-Raum«) wusste, schickte er ihm einen Brief, als er mit seinem Projekt nicht weiterkam. Zu Borns großer Überraschung und Freude bot ihm Minkowski an, nach Göttingen zu kommen, um gemeinsam an diesem Problem zu arbeiten. Und so begann im Dezember 1908 Borns zweiter längerer

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­Aufenthalt in Göttingen. Leider mit einem sehr traurigen Beginn: Wenige Tage nach der Notoperation wegen einer Blinddarmentzündung starb Minkowski Anfang 1909. Born hatte einen Mentor und Freund verloren. Das physikalische Problem, das Born zu dieser Zeit bewegte, war die kontroverse Frage, ob man ein beschleunigtes Elektron als homogen geladene starre Kugel beschreiben kann. Sein Vortrag dazu, vor den großen Göttinger Mathematikern und Physikern, wurde ein Desaster. Felix Klein beendete den Vortrag harsch: Born solle sich doch erst einmal mit der Literatur zum Thema vertraut machen. In den folgenden Tagen erläuterte Born seine Ideen in kleinerem Kreis. Daraufhin setzten Hilbert und Runge durch, dass ein zweiter Vortrag anberaumt wurde. Klein musste dabei einräumen, dass er Born beim ersten Vortrag falsch verstanden hatte. Nun stand Borns Habilitation im Sommer 1909 nichts mehr im Wege.

204  Kurt Schönhammer Im Jahr 1913 heiratete Born Hedwig (»Hedi«) Ehrenberg, Tochter des Juristen Victor Ehrenberg, der vor seinem Ruf nach Leipzig Professor in Göttingen gewesen war. Hedi war eine Freundin von Iris Runge, einer Tochter von Carl Runge. Auf Initiative von Max Planck erhielt Born den Ruf auf eine außerordentliche Professur in Berlin, und nach der Rufan­ nahme fand der Umzug im Frühjahr 1915 statt. In Berlin ist insbesondere der Kontakt zu Albert Einstein zu nennen. Bei Besuchen bei den Borns brachte Einstein oft seine Geige mit und musizierte mit Born, der den Klavierpart spielte. Auch Hedi war von den Treffen mit Einstein sehr angetan. Bis zu Einsteins Tod blieb die enge Freundschaft zwischen diesen beiden bedeutenden Wissenschaftlern bestehen, wie der Briefwechsel zwischen ihnen bezeugt. 1920 sollte Peter Debyes Göttinger Professur in theoretischer Physik wieder besetzt werden. Nachdem Arnold Sommerfeld als Erster auf der Berufungsliste abgesagt hatte, erging der Ruf an Max Born, der 1919 ordentlicher Professor in Frankfurt am Main geworden war. Da ein neuer Lehrstuhl für Experimentalphysik geschaffen wurde, den sein Freund James Franck erhielt, nahm Born den Ruf an. Von der Experimentalphysik getrennt, wurde 1921 das Institut für Theoretische Physik gegründet. Borns erste Assistenten in Göttingen waren Wolfgang Pauli, Friedrich Hund und Werner Heisenberg, mit dem er auch vierhändig Klavier spielte. Born ist vor allem für seinen Beitrag zur Quantenmechanik bekannt  – diesen Begriff benutzte er als Erster. Den ersten Schritt, die Grenzen der klassischen Physik zu überschreiten, machte Max Planck im Jahr 1900 bei der Ableitung seiner Strahlungsformel. 1905 griff Einstein Plancks Quantisierungsidee erfolgreich zum Verständnis des photoelektrischen Effekts auf. Zur Erklärung der Frequenzen der Spektrallinien des Wasserstoffatoms postulierte Niels Bohr 1913 quantisierte stationäre Bahnen des Elektrons, das den Atomkern umläuft. In den folgenden Jahren wurde das Modell durch Arnold Sommerfeld erweitert. Einstein führte 1916 den Begriff der »Übergangswahrscheinlichkeit« zwischen den stationären Bahnen ein und lieferte damit eine alternative Herleitung von Plancks Strah-

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lungsformel. Im Sommer 1922 war Niels Bohr in Göttingen und gab mehrere Vorlesungen (»Bohrfestspiele«) zu den Erfolgen und Misserfolgen des Bohr-Sommerfeld-Modells. In den folgenden Jahren wurde es Born und seinen Mitarbeitern immer klarer, dass eine völlig neue Quantenmechanik geschaffen werden musste, um auch Atome mit mehreren Elektronen zu verstehen. Born und sein Doktorand Pascual Jordan fanden heraus, dass sich die Übergangswahrscheinlichkeiten als Absolutquadrate von Übergangsamplituden schreiben lassen. Der entscheidende Schritt zur Geburt der Quantenmechanik erfolgte, als Borns Assistent Werner Heisenberg »Multiplikationsregeln« für diese Übergangsamplituden einführte und feststellte, dass das Ergebnis im Allgemeinen von der Reihenfolge der Faktoren abhängt. Heisenberg übergab im Juli 1925 Born die Niederschrift seiner Forschungsergebnisse und bat ihn, sie an die »Zeitschrift für Physik« zu schicken, falls er mit der Sache etwas anzufangen wüsste. Born realisierte, dass es sich bei Heisenbergs Multiplikationsregel um die ihm schon seit der Breslauer Zeit bekannte Matrizenmultiplikation handelt und dass sich Heisenbergs Quantisierungsregel in der Form pq – qp = h/2πi schreiben lässt. Diese »Vertauschungsrelation« ist auf Borns Grabstein im Göttinger Stadtfriedhof verewigt. Da Heisenberg längere Zeit nicht in Göttingen war, stellte Born in Zusammenarbeit mit Jordan die grundlegenden Gesetze der Matrizenmechanik auf, und zu dritt verallgemeinerten er, Heisenberg und Jordan sie in der im November 1925 eingereichten sogenannten »Dreimännerarbeit«. Neun Tage früher hatte Paul Dirac in Cambridge (England), angeregt durch Heisenbergs erste Arbeit, eine Veröffentlichung mit einem allgemeinen Kalkül nicht vertauschbarer Größen eingereicht. Zu Jahresbeginn 1926 veröffentlichte Erwin Schrödinger in Zürich Arbeiten zu seiner Wellenmechanik, in denen er de­ Broglies Idee von Materiewellen ernst nahm. Eine kurze Zeit sah es so aus, als ob es zwei ganz verschiedene Erklärungs­ systeme für die Welt der Atome gäbe, die Matrizenmechanik und die Wellenmechanik. Kurze Zeit später zeigte aber Schrödinger die Äquivalenz der beiden verschiedenen Betrachtungsweisen, zwei verschiedene Bilder der Quantenmechanik.

206  Kurt Schönhammer Schrödingers Wellenmechanik fand, im Gegensatz zur Matrizenmechanik, schnell breiten Zuspruch, eine Wendung, die den Göttingern gar nicht gefiel. Die physikalische Bedeutung der Wellenfunktion, dem zentralen Objekt der Wellenmechanik, war aber nicht wirklich klar. Nach Schrödinger beschreibt die Wellenfunktion die räumliche ›Ausschmierung‹ des Elektrons. Hier kam nun Born wieder wesentlich ins Spiel, als er versuchte, atomare ›Streuprozesse‹ quantentheoretisch zu beschreiben. Mit der Matrizenmechanik gelang ihm dies nicht, so dass er wohl oder übel zu Schrödingers Wellenmechanik wechselte. Bei seinen Untersuchungen stellte er fest, dass man nur eine Aussage darüber erhält, wie wahrscheinlich ein vorgegebener Effekt des Zusammenstoßes ist. Born lieferte dann seine Interpretation der Wellenfunktion eines Teilchens. Ihr Absolutquadrat an jedem Ort bestimmt die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen in einem kleinen Raumbereich um diesen Ort anzutreffen. Nach Abschluss der »Dreimännerarbeit« trat Born eine längere Reise in die USA an, während der er an mehreren wichtigen Universitäten die neue Matrizenmechanik vorstellte. Dies hatte zur Folge, dass viele hervorragende junge amerikanische theoretische Physiker (und auch aus vielen anderen Ländern) zur Promotion oder als Nachwuchswissenschaftler nach Göttingen kommen wollten, was eine enorme Bereicherung für Borns Arbeitsgruppe war. Göttingen wurde ein zentraler Ort, an dem die Quantenmechanik die verschiedensten Anwendungen fand, z. B. in der Beschreibung von Molekülen – mit seinem Doktoranden Robert J. Oppenheimer war Born direkt daran beteiligt. Es setzte Born unter starken Druck, mit all diesen hochbegabten jungen Leuten mitzuhalten, was schließlich sogar zu einem Nervenzusammenbruch führte, von dem er sich im Winter 1928/1929 in einem Sanatorium am Bodensee und später im Schwarzwald erholte. Anschließend reduzierte Born sein Arbeitspensum deutlich, denn auch seine Ehe hatte gelitten. Hedi wollte die Scheidung, um den Mathematiker Gustav Herglotz zu heiraten. Zur Trennung kam es aber nicht. Hedi fand in der Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé eine wichtige Gesprächspartnerin.

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Zur Entwicklung der Quantenmechanik sind mehrere Nobelpreise vergeben worden. Werner Heisenberg erhielt den Preis von 1932 für die Begründung der Quantenmechanik sowie Erwin Schrödinger und Paul Dirac den Preis von 1933 für die Weiterentwicklung der Quantenmechanik. Es versteht sich, dass Max Born über die Entscheidung des Nobelkomitees gar nicht erfreut war. Auch Heisenberg war nicht glücklich darüber, dass sein Preis nicht mit Born geteilt wurde. Born musste noch über zwanzig Jahre warten, bis auch ihm die Ehre des Nobelpreises zuteilwurde. Die Begründung für Borns Anteil des Preises für das Jahr 1954 lautet: »Für seine grundlegenden Forschungen in der Quantenmechanik, besonders für seine statistische Interpretation der Wellenfunktion«. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten fand Göttingens Blüte als eines der Zentren der Quantenphysik ein jähes Ende. Bereits 1933 wurde Born wegen seiner jüdischen Abstammung zwangsbeurlaubt. Er ging mit seiner Frau und den Kindern Irene, Margarethe und Gustav nach Großbritannien und nahm nach zeitlich befristeten Anstellungen in Cambridge und einem halben Jahr in Bangalore (Indien) 1936 die TaitProfessur für Naturphilosophie in Edinburgh an. Nachdem Born die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden war, wurde er 1939 britischer Staatsbürger. Im Jahr 1953 wurde Max Born anlässlich der Tausendjahrfeier der Stadt Göttingen gemeinsam mit James Franck und Richard Courant zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Im Zuge der Wiedergutmachung erhielt er den vollständigen Status eines deutschen Emeritus und kehrte mit Hedi nach Deutschland zurück. Sie lebten bis zu seinem Tod im Jahr 1970 in Bad Pyrmont. In diesem Lebensabschnitt war er häufig in Göttingen und nahm zu seinem alten Institut wieder Kontakt auf. 1957 war Born einer der Unterzeichner des »Göttinger Manifests« gegen die Aufrüstung der Bundeswehr mit Kernwaffen. Den großen Erfolg seiner Enkelin Olivia Newton-John (Irenes Tochter) als Sängerin erlebte Max Born nicht mehr.

208  Kurt Schönhammer Literatur Born, Max: Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers. München 1975. Greenspan, Nancy Thorndike: The End of a Certain World. The Life and Science of Max Born. Chichester 2005.

Heinz Hilpert, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Hausherr des Deutschen Theaters in Göttingen von Norbert Baensch

Heinz Hilpert war und blieb ein Glücksfall für Göttingen. Theaterbegeisterte und theaterkundige Menschen an der Stadtspitze, aus dem Universitäts- und Kulturbereich, die ihn aus seiner reichen Berliner Zeit vor 1945 kannten, haben ihn für unsere Stadt gewinnen können. Neben anderen Vorzügen reizte ihn ganz wesentlich, dass das grenznahe Göttingen ein besonderer »Vorposten« sei, das Gefühl unserer deutschen Einheit lebendig zu halten. Darüber korrespondierte er u. a. mit seinem Musiker-Freund Rudolf Wagner-Régeny vom Deutschen Theater Berlin: Es werde »eine Zeit geben, wo die Telegrafenlinien unserer Gedanken und unsere Gefühle wieder reale Wege werden«. Solche Hoffnungen und Nachdenklichkeiten finden wir immer wieder in den damaligen Projekten des vielgestaltig sich präsentierenden Deutschen Theaters in Göttingen  – für das Hilpert den Namen wählte und erstmals die Rechtsform der GmbH durchsetzte, die wegen ihrer Leitungsvorteile später von den meisten kommunalen deutschen Bühnen übernommen wurde. Heinz Hilpert – geboren am 1. März 1890 in Berlin, gestorben am 25.  November 1967 in Göttingen  – war ausgebildeter Lehrer mit Schulpraxis an der Lichtenberger Erziehungsanstalt für gestrauchelte Jugendliche und später am Prenzlauer Berg in Berlin. Dort hat der spätere Student der Philosophie, Literatur- und Kunstgeschichte nach eigenen Worten die wichtigste Aufgabe des Regisseurs gelernt: Menschen zu führen. Im Ersten Weltkrieg hatte er als Funker im Orient Telefonleitungen gelegt. Zurück kam er als Wachtmeister und mit einer dauer­ haften »Abscheu gegen Völkermord und Militarismus«.

210  Norbert Baensch Nach schneller Ausbildung debütierte der von Jugend auf Theaterbesessene 1919 im Ensemble von Friedrich Kayssler an der Berliner Volksbühne zunächst als Schauspieler, bald als junger Spielleiter. Nach Wanderjahren über erste Adressen und Positionen an den Theatern in Düsseldorf (Luise Dumont), Köln (Gustav Hartung) und Frankfurt am Main (Richard Weichert) führte der Weg wieder zurück nach Berlin, an Max Reinhardts Deutsches Theater. Von 1934 an, nach zwei Jahren der Direktion an der Volksbühne, war Hilpert, vom emigrierten Max Reinhardt ausdrücklich als Nachfolger bestätigt, Direktor des Deutschen Theaters und der Kammerspiele Berlin, von 1938 bis 1945 zugleich am Theater in der Josefstadt in Wien. Wir wissen von den atmosphärestarken, reich ornamentierten Aufführungen, die Max Reinhardt, der »Zauberkönig des Illusionstheaters«, schuf, und nun unter Hilpert von neuen Tönen und schlichteren Bildern im selben Haus. Hilpert war ein stärker textbezogener, dramaturgischer Regisseur, der sich eher auf Otto Brahm (1856–1912) bezog, den Wegbereiter des naturalistischen Theaters, wesentlich Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen. Max Reinhardt war aber bereit und fähig, divergierende, sich von seinem Stil absetzende Begabungen anzuerkennen und neben sich, wie in der Nachfolge, an seinem Haus arbeiten zu lassen. Heinz Hilpert hielt es später ebenso, auch in Göttingen (als er z. B. für Günther Fleckenstein votierte). Das geschieht zum Nutzen des Facettenreichtums und unbedingt mit Erfolg für das jeweilige Haus, das Ensemble und sein Publikum. In der Zeit des Nationalsozialismus blieb Hilpert künstlerisch wie in seiner menschlichen Haltung unbeirrbar, »ohne Opportunismus und Servilität«. »Hilpert gelang es, das Deutsche Theater Berlin als eines der bedeutendsten Theater Deutschlands von dem faschistischen Kulturbetrieb fernzuhalten«, attestierte ihm Wolfgang Langhoff, sein Berliner Nachfolger. »Ich hatte Narrenfreiheit«, sagte Hilpert, der nicht auf Lorbeer aus war. Er bekundete die innere Freiheit des selbstbewußten, seinem Auftrag verpflichteten, seine Überzeugungen verfechtenden Mannes, der sich vor seine oft einzeln und insgesamt gefährdeten Mitarbeiter stellte, seine »geliebte Bande«.

Heinz Hilpert 211

Nach dem Krieg liegen vor den Göttinger Jahren, von 1950 bis 1966, kurze Stationen von Gastarbeiten in Zürich, dann als Theaterleiter in Frankfurt am Main und in Konstanz. Heinz Hilpert war als aufgeklärter Theatermann stets ein Diener am Werk seiner Autoren, er liebte das leise, verhaltene Wort, das unbetont seinen Sinn offenbart, und war ein Regisseur der Zwischentöne. Ihm ging es bei all seinem Tun nicht um den äußerlichen Effekt, vielmehr um echte und tiefe Wirkungen. »Er hat sich als Sachwalter der guten Kräfte deutscher Theatertradition erwiesen, als Prinzipal im Sinne der Väter des Theaters, schlicht: als Mann des Theaters, der mit der Leidenschaft zum Wesentlichen in Klarheit, Einfachheit und Menschlichkeit vorbildliche Theaterarbeit geleistet hat«, so formulierte ich 1966 für die Urkunde seiner Ehrenmitgliedschaft am Deutschen Theater in Göttingen. Seine Theater führte Hilpert mit

212  Norbert Baensch kundiger, unangefochtener Autorität, jedoch nie autoritär. Er war im Barrault’schen Sinne ein ›Theatermensch‹ par excellence: Er war ein Erzieher und Menschenbildner als Direktor (den Titel ›Intendant‹ mochte er nicht), Regisseur und Schauspieler. Für sein Ensemble war er ein maßstabsetzender Entdecker, Lehrer, Mentor, Förderer und Freund, ein Pflanzer und Heger im be­hüteten Garten seiner Ensembles. In der Ausstellung »100 Jahre Deutsches Theater Berlin« (1983), die 1990 in Göttingen gezeigt wurde, konnten wir dazu lesen: »Was L’Arronge«, einer der Begründer des Berliner Deutschen Theaters, »einst anstrebte, aber nicht erreichte, nämlich aus bedeutenden Schauspielerpersönlichkeiten ein homogenes Schauspielerensemble zu bilden, das wurde nach Reinhardtschem Vorbild bei Hilpert zur künstlerischen Tatsache.« Es war ein Erlebnis und Spaß, wenn er auf den ersten­ »Laber«-Proben alle Rollen las, charakterisierte, ihre Gänge abschritt und dabei auch sang, auf diese Weise die Leitlinien der Aufführung signalisierend. In ihren Nachrufen auf Heinz Hilpert, 1967, würdigte und pries die große deutsche Presse seine Leistungen als Theaterleiter, als beispielhafter Ensemble-Lenker und seine unerschrockene Haltung in schlimmer, auch der Nachkriegs-Zeit, seine »breite, von Einfühlung, menschlichem Takt und geistiger Souveränität getragene erzieherische Arbeit«. Der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft fasste das exemplarisch charakterisierend zusammen: »Hilpert konnte Handfestes handfest spielen lassen  – und man nahm doch immer die Obertöne des Poetischen wahr. Er war für Schauspieler ein Glück, weil er, während er sie zu führen verstand, mit ihnen jene seltene Künstlerkumpanei halten konnte, die auf dem Theater sonst abhanden gekommen ist … Ein Prinzipal mit Herz … Er glaubte an das Theater. Es gelang ihm, als die Zeiten braun und böse waren, den Beweis zu erbringen, daß die Künste nicht die Huren der Politik zu sein brauchen … Sein Verhältnis zur Bühne war niemals artifiziell oder hochgestochen. Er war der große, war der kunstverständige Handwerker mit dem Herzen und dem Ohr der Liebe. Kein Leisetreter, wahrhaftig, eher rauhbeinig und nach außen robust. Aber doch ein Freund der Stille

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und ein Meister in der Kunst ehrlicher Demut. Seinesgleichen werden wir kaum wieder erleben.« Heinz Hilpert sah Theater nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Vermenschlichung unserer Gesellschaft. Daran erinnert jene eindrucksvolle Ankündigung von 1932, die, oft zitiert, bis heute eine Maxime für Handeln am Theater sein kann, ein Bekenntnis für das gesamte Lebenswerk von Heinz Hilpert: »Ich möchte … soweit es in meinen Kräften steht, dahin wirken, daß beim Theater wieder das Bild wichtiger ist als der Rahmen, der Dichter und seine Atmosphäre wichtiger als die aktive Behandlung des Publikums, der zum Ganzen gereifte Schauspieler wichtiger als der protheische Versteller wird. Ich möchte … ein Helfer der Dichter und ein Förderer der Menschengestalter alias Schauspieler sein.« Wie sehr ihm sein Publikum wichtig war, lesen wir in den Geleitworten der Spielzeitankündigungen. 1961/1962 wandte sich Heinz Hilpert so an seine Partner jenseits der Rampe: »Es wird vom Publikum … immer wieder gesagt: ›Wir wollen eine positive Wahrheit, eine positive Antwort auf unsere Fragen, die uns alle angehen, mit nach Hause nehmen.‹ Ich habe in dem ganzen Umkreis meiner Arbeit kaum ein einziges Stück kennengelernt, das dieser Forderung entspricht. Ist es für die lebendige Entwicklung eines Menschen nicht viel wichtiger, in Fragen gestürzt zu werden, über die er dann selber nachzudenken gezwungen ist, um auf diese Art selbständig ein kleines Stück unentdeckten Landes aus seinem inneren Dunkel ins Überblickbare zu bringen? … Ich möchte die Fragwürdigkeit des lebendigen Theaters preisen, die den Zuschauer zum mündigen Menschen machen hilft …« Unter diese Gedanken lassen sich alle 270 Titel stellen, die von 1950 bis 1966 auf dem Spielplan des Deutschen Theaters in Göttingen standen und in 283 Premieren dargeboten wurden. Das waren nicht nur die populären Stücke z. B. von Shakespeare, Shaw, Hauptmann, Hofmannsthal, Zuckmayer, schließlich Bertolt Brecht, sondern auch 46 Ur- bzw. deutsche Erstaufführungen von engagierten jüngeren Autoren, dabei Erwin Sylva­ nus, »Korczak und die Kinder«, der Prager Milan Kundera mit »Die Schlüsselbesitzer« aus der Besetzungszeit, Goodrich / 

214  Norbert Baensch Hackett, »Das Tagebuch der Anne Frank«, Millard Lampells Getto-Drama »Die Mauer« u. a. m. Mit 91 Inszenierungen und der beachtlichen Folge seiner stücktragenden Rollen führte Hilpert persönlich die Reihe seiner Regisseure und Schauspieler an. Er stand besonders erfolgreich auf der Bühne etwa als Narr in Shakespeares »Was ihr wollt«, in Shaw / Campbells »Geliebter Lügner«, als Miller in Schillers »Kabale und Liebe«, als Big Daddy in Williams’ »Die Katze auf dem heißen Blechdach«, als Hauptmanns Geheimrat Clausen (»Vor Sonnenuntergang«) und »Michael Kramer«, ganz wichtig als Koch in Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder« und in einigen Rollen mehr. Hinzu kommen 117 eigene Matinee-Lesungen, die vom Publikum sehr geliebten sonntäglichen »Morgenfeiern«. Heinz Hilpert war außerordentlich belesen, fleißig und preußisch diszipliniert. Er sprach in seiner Dankesrede am 75. Geburtstag »vom Begriff der Freiheit im Sinne von Fontane« in totaler Unabhängigkeit; er sprach »vom Tanz ums goldene Kalb und von all den konventionellen Dingen, die die Menschen sonst sehr anerkennen und unter denen sie leiden und von denen sie immer behaupten, daß sie sie doch ganz notwendig brauchen – ich habe sie nie gebraucht. Und diese Freiheit … ist eigentlich der Umstand gewesen, daß die Einsamkeit wirklich sehr viel für mich bedeutet hat.« Die »stillen Stunden«, die Heinz Hilpert für sich selbst frei hielt, waren Zeiten der Lektüre, und sie waren sowohl ein den Dichterfreunden gewidmeter Dialog im Innehalten, zur eigenen Erbauung und Erweiterung, als auch zur Vorbereitung der »Morgenfeiern«, in denen er die »Lesefrüchte« – Bedenkenswertes, Erheiterndes, Bekanntes und Neugefundenes, zur Weiterbeschäftigung Reizendes  – vor einem aufmerksam gespannten, das Haus stets füllenden Publikum las. Es war sein Ziel nicht nur, »guten Menschen eine gute Stunde« zu bereiten, einem größeren Publikum Gefühle und Ansichten nutzbringend mitzuteilen, das Werk der Dichter und dessen Wert ins Bewußtsein zu rufen; er wollte zugleich aufrütteln und mit Erscheinungen der Welt konfrontieren. Als Kenner der Literatur und ihrer wirkenden Kräfte las Hilpert nicht nur und erst in Göttingen, sondern schon in seinem Deutschen Theater Berlin, wo er unter den Augen der braunen Machthaber zeigte,

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was wirklicher »deutscher Geist« und in ihm das Un­zerstörbare war, welche Hilfe das wahre Wort in Not und Bedrängnis sein konnte. Heinz Hilpert war als Theaterleiter, Regisseur, Schauspieler und Vorleser ein Humanist, er fühlte sich Gleichgesinnten der Zeit und auch früherer Jahrhunderte verbunden. In seinem Vortrag überzeugten gleichermaßen die unprätentiöse Lesehaltung, die dramaturgische Klarheit, die Eindringlichkeit des Tons, das innerliche Engagement und persönliche Bekenntnis des Sprechers  – ebenso das zuweilen mitschwingende Pathos, das sich aus der spontanen Kraft des Gefühls­ entwickelte. In der Laudatio zum 75. Geburtstag schaute sein einstiger Dramaturg Wolfgang Drews sehr aufmerksam auf den gefeierten Meister: »Hilpert: Ein Temperament und ein Charakter, ein Mann mit Eigenschaften, die einander entsprechen, obwohl sie sich zu widersprechen scheinen. Penibel pünktlich und genau, dazu impulsiv und spontan. Mit Lust am Pointieren und verschwenderischer Suada. Offen für Erfahrung und Erlebnis, verschlossen im Persönlichen. Heiter gesellig und einsam im Innern. Von überströmendem Empfinden und von kritischer Klarheit …« Das Wirken von Heinz Hilpert fand allenthalben höchste Anerkennung: Heinz Hilpert wurde 1955 Ordentliches Mitglied der Berliner Akademie der Künste, 1960 Ehrenmitglied des Schillertheaters und des Schloßpark-Theaters Berlin (­Boleslaw Barlog), 1965 des Deutschen Theaters Berlin (Wolfgang Heinz) und 1966 des Göttinger Hauses (Günther Fleckenstein). Bundespräsident Theodor Heuss zeichnete ihn 1954 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern aus, 1956 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Goslar, 1960 sowohl die Ehrenmedaille der Stadt Göttingen als auch die Niedersächsische Landesmedaille sowie 1965 die erste Göttinger Universitätsmedaille ›Aureus Gottingensis‹, überreicht durch den befreundeten Rektor Walther Zimmerli. Als auszeichnendes Geschenk empfand Hilpert ebenso die herzliche persönliche Freundschaft mit Otto Hahn, der 1967 ergriffen kondolierte: »Der Name Hilpert bedeutet einen Glanzpunkt in der Geschichte des Göttinger Theaters und die Ära Hilpert wird nicht vergessen werden.«

Edith Stein in Göttingen Die dunkle Nacht der Seele von Heinrich Detering

Nein, ›arm im Geiste‹ ist Edith Stein sicher nicht gewesen. Dass ausgerechnet sie, die 1891 in Breslau geborene Tochter orthodox jüdischer Eltern, einmal selig- und heiliggesprochen und gar zu einer Patronin Europas erhoben werden würde: Das hätte sie sich in ihren Göttinger Jahren als Doktorandin der Philo­ sophie und während ihrer späteren Besuche in dieser Stadt nicht vorstellen können. Vielleicht hätte der Gedanke sie sogar abgeschreckt. Ausgerechnet sie, die Intellektuelle, die schon als Schülerin in Breslau durch ihre Brillanz aufgefallen war und die in Göttingen zum aufsteigenden akademischen Stern am philosophischen Firmament wurde. Sie hatte sich vom jüdischen Glauben ihrer Familie ab- und, stattdessen, der aktuellsten Philosophie zugewandt. Was der Philosoph Edmund Husserl hier in Göttingen unter dem klangvollen und rätselhaften Namen ›Phänomenologie‹ betrieb, fand in Edith Stein eine begeisterte und begabte Jüngerin. Von 1913 bis 1916 war sie hier (wo bereits ihr Cousin lebte, der Mathematiker Richard Courant) seine Schülerin und diskussionsfreudiges Mitglied des Göttinger Phänomenologen-Kreises. »Edith Stein, Philosophin« steht denn auch auf ihrer Gedenktafel, am Haus Lange-GeismarStraße 2 nahe dem Albanikirchhof. Mehr nicht. Selbstbewusst sei sie als junge Frau gewesen, bis zum Hochmut, so erinnern sich Mitschüler und Kommilitonen an sie, und übrigens von modebewusstem Chic. Arm im Geiste hätte sie da beim besten Willen niemand genannt. Eben aus ihrer intellektuellen und seelischen Unruhe heraus begegnet sie in Göttingen zum ersten Mal auch der Frage nach dem christlichen Glauben, die sich ihr in persönlichen Begegnungen mit Göt­ tinger Lutheranern stellt, darunter Husserls Assistenten Adolf

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Reinach und seiner Ehefrau, aber auch als intellektuelle Herausforderung: in Abendvorträgen des Philosophen Max ­Scheler. Der war 1899 zum Katholizismus konvertiert und schien einen Weg zu öffnen, der die neue Philosophie und den alten Glauben versöhnte; er wurde »meine erste Berührung mit dieser bis dahin völlig unbekannten Welt«. In Göttingen, so erinnerte sie sich später, habe sie »Ehrfurcht vor Glaubensfragen und gläubigen Menschen gelernt«. Nachdem sie 1915 ihr Göttinger Staatsexamen mit Auszeichnung bestanden und 1916 ihre Dissertation »Zum Problem der Einfühlung« weitgehend abgeschlossen hatte, ging sie mit ihrem Lehrer Edmund Husserl nach Freiburg, um sich zu habilitieren; bis 1918 blieb sie seine Assistentin. Aber die Zeiten ändern sich. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die emanzipierte Frau, die jüdische Philosophin, vom einen Professor zum anderen geschickt, von Husserl zu H ­ eidegger

218  Heinrich Detering und zurück; alle weisen sie höflich, aber entschieden ab. Viermal wird schon der Versuch der Habilitation abgelehnt, an drei Universitäten; Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit gehen dabei Hand in Hand. In Göttingen nahm Edith Stein dann, während eines Besuchs bei Reinachs Witwe 1921, auch zum ersten Mal die Autobiographie der heiligen Teresa von Avila zur Hand, die für sie lebensverändernd werden sollte; am 1. Januar 1922 lässt sie sich in Bergzabern taufen. So wird Edith Stein zur liberal-katholischen Frauenrechtlerin, zur Lehrerin und pädagogischen Publizistin. Sie setzt nun ihren wissenschaftlichen Ehrgeiz darein, Husserls Philosophie mit dem Christentum zu verbinden, Brücken zu errichten zwischen katholischer Tradition und moderner Gegenwart, zwischen Edmund ­Husserl und Thomas von Aquin. Erst jetzt entdeckt sie auch das Judentum neu, dem sie entstammt, und begreift das Christentum nicht als Gegensatz, sondern als eine Frucht des Judentums. Auch das bringt sie in neue Konflikte. Ihre Mutter kommt niemals über das hinweg, was sie als einen Verrat an Herkunft und Familie empfindet. In der Kirche erlebt sie den Argwohn gegenüber Juden, auch wenn sie getauft sind. Und sie erkennt von Anfang an, worauf die Verfolgung der Juden durch den nationalsozialistischen Staat hinauslaufen wird. Im April 1933, nur drei Monate nach Hitlers Machtübernahme und unter dem Eindruck der antijüdischen Boykottmaßnahmen, schreibt sie einen später berühmt gewordenen Brief an Papst Pius XI . Jahrzehntelang hat es in der Kurie Versuche gegeben, diesen Brief zu verdrängen. Als er 2003, nach siebzig Jahren, endlich veröffentlicht wurde, konnte alle Welt sehen, wie entsetzlich recht Edith Stein gehabt hatte und wie allein sie auf weiter Flur stand. Dieser Brief ist ein Lehrstück geblieben. »Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist«, so schreibt Edith Stein, »wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt. Seit Wochen« (denn es sind ja erst Wochen) »sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit […] Hohn sprechen. Jahre hindurch haben die nationalsozialisti-

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schen Führer den Judenhass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht […] hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen.« Dann spricht sie von Selbst­ morden bedrängter Juden und fährt fort: »Ich bin überzeugt, dass es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird.« Die »Verantwortung fällt doch zum großen Teil  auf die, die sie so weit brachten. Und«, auch das schreibt sie an den Papst, »sie fällt auch auf die, die dazu schweigen. Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich ›christlich‹ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der A ­ postel? Steht nicht dies alles im äußersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? […] Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält.« So endet sie mit »der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. […] Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt.« Und diesen Brief unterschreibt sie mit den Worten: »Zu Füssen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend, Dr. Editha Stein«. Auf diesen Text hat sie  – oder vielmehr der für sie zu­ ständige Erzabt Raphael Walzer – eine nichtssagende Antwort be­kommen, nicht vom Papst, sondern von Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, dem späteren Pius XII . Wieder sieht es so aus, als sei sie gescheitert, wie bei näherem Hinsehen eigent-

220  Heinrich Detering lich fast überall. Nun aber beginnt eine erstaunliche Wandlung. Edith Stein nimmt ihr Scheitern an, willigt in es ein, will es. Sie kehrt die Denkrichtung um, existentiell und radikal, indem sie ihre Spottlust in Strenge gegenüber sich selbst ver­ wandelt und die ihr zugefügte Demütigung in eine gewissermaßen frei gewählte Selbst-Erniedrigung. Sie zwingt sich mit aller Willenskraft, aus dem Scheitern einen Sieg zu machen. 1933 tritt sie in das strengste Kloster ein, das sie finden kann, in die Klostergemeinschaft der Karmelitinnen, den Orden der heiligen T ­ eresa. Weil sie nirgends die Erste werden durfte, wird sie, als unbeschuhte Karmelitin, willentlich die Letzte. Aus ›Edith Stein‹ wird ›Teresa Benedicta  a Cruce‹. Das ist der Ordensname, den sie selber wählt: Teresa, gebenedeit vom Kreuz. Auf dem Weg über die heilige Teresa, der sie in Göttingen zuerst begegnet war, entdeckt sie die Kreuzes- und Leidensmystik des Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz), dessen spanische Dichtungen sie kongenial übersetzt. Sie schreibt Bücher, die mit größter Klarheit die Dunkelheit dieser Mystik erhellen, zunächst ihr philosophisches Hauptwerk »Endliches und ewiges Sein«, dann die Juan de la Cruz gewidmete »Kreuzeswissenschaft«. Sie hört nicht auf, und sie gibt nicht auf, auch nicht nach der Flucht aus Deutschland in das Kloster Echt in den Niederlanden 1938, aus dem sie – nachdem der Versuch einer Auswanderung in die Schweiz gescheitert ist – 1942 deportiert wird, zusammen mit ihrer Schwester Rosa, die mittlerweile ebenfalls konvertiert ist und in der Klostergemeinschaft als Pförtnerin Dienst tut. Längst ist es um diese Zeit für Edith Stein zum beherrschenden Gedanken (und in ihrem »Echter Testament« zum Vorsatz) geworden, dass man mitten in allem Scheitern versuchen müsse, eben mit dem Scheitern die andere Waagschale zu füllen: gegen die Macht die Ohnmacht zu setzen, sie mit aller Kraft anzunehmen, zu umarmen als radikale Nachfolge Jesu, als Nachfolge des Kreuzes, Benedicta a Cruce. Diese Nachfolge endete im August 1942 im Vernichtungslager Auschwitz. Seit Ende 2015 steht in der katholischen Kirche St. Michael in der Kurzen Straße ein Denkmal für Edith Stein, das der Bildhauer Peter Marggraf gestaltet hat; die Inschrift zitiert die be-

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rühmte Wendung des Johannes vom Kreuz von der »dunklen Nacht der Seele«. Tatsächlich hat Edith Stein in ihrer Göttinger Zeit, dieser Zeit der allmählichen Annäherung an das Christentum, einmal nachts an der Türe dieser Kirche gestanden. Es war an einem Heiligabend, in der Hoffnung auf eine weihnachtliche Mitternachtsmesse. Da aber blieb die Tür für sie verschlossen, weil es in dieser Kirche keine solche Messe gab. Die Szene hat etwas Sinnbildhaftes. Für sie, die Jüdin, die selbstbewusste Frau, die scharfsinnige Intellektuelle, die fromme Ordensfrau  – für sie blieben im entscheidenden Augenblick die Türen geschlossen. Alle Türen, auch die ihrer Kirche. Eben deshalb wurde gerade sie dann für den polnischen Papst Johannes Paul II . in seinem Bemühen um einen neuen Umgang mit der Schuld der Christen an den Juden zu einer so wichtigen Gestalt. Eben deshalb hat er sie zu den höchsten Ehren erhoben, zu denen die katholische Kirche sie erheben konnte.

Herta Sponer – eine Pionierin der Physik an der Grenze zur Chemie von Claudia Binder

Eine frühe Fotografie zeigt Herta Sponer mit ernstem, etwas skeptisch wirkendem Blick, der trotz der mädchenhaften Schleifen im Haar Ehrgeiz und Zähigkeit erahnen lässt. Vermutlich bereits um diese Zeit hatte sie den festen Wunsch zu studieren, und zwar Physik, das aufstrebende Fach zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies war jedoch nicht einfach. In Preußen war für Mädchen allenfalls die Höhere Töchterschule vorgesehen, das Abitur jedoch konnten sie lediglich über Umwege erreichen. Studieren durften Frauen erst seit 1909. Die wenigen, die dies dennoch taten, entstammten typischerweise dem höheren Beamtentum oder Kaufmannsfamilien und waren jüdischen oder protestantischen Glaubens. Die Habilitation für Frauen wurde erst 1920 durch die Weimarer Republik gestattet, wovon bis 1933 nur fünf Frauen Gebrauch machten, unter ihnen Herta Sponer. Als erstes von fünf Kindern wurde sie am 1. September 1895 im schlesischen Neisse in eine evangelische Kaufmannsfamilie hineingeboren  – die genannten Kriterien waren somit erfüllt. Der Vater führte ein Schreibwarengeschäft und hatte spät geheiratet, so dass die Familie finanziell konsolidiert war und sich eine höhere Ausbildung ihrer Kinder leisten konnte. Es scheint eine tolerante und fördernde Stimmung geherrscht zu haben, da nicht nur die beiden Brüder, sondern auch Herta und die jüngste Schwester studieren durften. Zunächst musste sie jedoch das Abitur ablegen, was nur über den Umweg einer Ausbildung zur Erzieherin möglich war. Nach einer kurzen Phase als Kriegsvertretung an einer Schule wechselte sie 1916 an ein privates Institut, um sich auf das an einem staatlichen Jungen-Gymnasium abzulegende Abi-

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tur vorzubereiten. Gegen den Willen des Institutsleiters, der um sein Renommee im Falle ihres Versagens fürchtete, meldete sich Herta 1917 bereits nach zwei Jahren vorzeitig zur Prüfung an. Seine Aufforderung, die Erlaubnis ihrer Eltern einzuholen, lehnte sie mit beträchtlicher Selbstsicherheit ab. Sie sei schließlich volljährig. Die Sorge war unnötig, erhielt sie doch sehr gute Noten, insbesondere in Physik. Ihre Eltern, die bis dahin allenfalls von einer Laufbahn als Lehrerin an einer Höheren Töchterschule ausgegangen waren, erfuhren davon über einen Zeitungsartikel, in dem der Institutsleiter Fräulein Sponers sehr gutes Abschneiden zu Werbungszwecken annonciert hatte. Sie telegrafierten jedoch großmütig: »Studium erlaubt. Prachtkerl. Eltern.« ›Prachtmädchen‹ zu schreiben, hätte vermutlich zu viel gekostet. Inzwischen war das Frauenstudium überall möglich, gegen das heimatnahe Breslau sprachen jedoch  – wie Herta Sponer

224  Claudia Binder später erzählte – die dortigen, wegen des Ersten Weltkriegs kargen Lebensbedingungen. In Süddeutschland hingegen »gab es zu essen«, so dass sie sich in Tübingen einschrieb. Besonders fasziniert war sie von der Vorlesung für Experimentalphysik sowie den dazugehörigen Übungen. Hier kam sie das erste Mal in Kontakt mit der damals im Aufschwung befindlichen Methode der Spektroskopie, die sie durch ihr gesamtes wissenschaftliches Schaffen hindurch begleiten sollte. Auch in Tübingen machte sich der Krieg bemerkbar, und der Institutsbetrieb wurde teilweise eingestellt. Herta Sponer musste sich daher nach einem anderen Studienplatz umsehen und ging im April 1918 nach Göttingen. Zu der Zeit hatte der spätere Nobelpreisträger für Chemie, Peter Debye, den Lehrstuhl für Theoretische Physik inne. Anders als der zweite Ordinarius für Physik, Robert Pohl, war Debye dem Frauenstudium gegenüber aufgeschlossen. Der Frauenanteil unter den Studierenden in Göttingen lag damals bei 9 Prozent, somit noch leicht unter dem Reichsdurchschnitt von 10 Prozent. Auch war die Großwetterlage bezüglich des Frauenstudiums nach wie vor ungünstig. Paul Julius Möbius’ 1900 erschienenes Buch »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« war allenthalben verbreitet, und sogar Max Planck hatte noch 1897 konstatiert, dass »Amazonen auch auf geistigem Gebiet naturwidrig« seien – derselbe Max Planck übrigens, der Lise Meitner 1912 zu seiner Assistentin machte. Herta Sponer ließ sich dadurch nicht beirren. Genuin an ihrem Studium interessiert, ärgerte sie sich über die chao­tischen Praktikumsverhältnisse. Ihre Beschwerde hatte eine Vorladung beim Institutsleiter Debye zur Folge. Dass sie auch hier unerschrocken ihre Meinung äußerte, führte letztlich zu ihrer Aufnahme als Promovendin. Hatte sie umständehalber noch relativ lange bis zum Abitur gebraucht, so schloss sie nun Studium und Dissertation »Über ultrarote Absorption zweiatomi­ ger Gase« bereits nach sechs Semestern im Jahr 1920 ab. Die Schrift, die nie veröffentlicht wurde, gehörte zu den ersten Arbeiten, die durch Molekülrotation hervorgerufene Bandenspektren mittels quantentheoretischer Methoden untersuchte. Grund für die Eile war der bevorstehende Weggang ihres Dok-

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torvaters und die nicht unberechtigte Sorge, dass andere Mitglieder der Fakultät sich Frauen gegenüber weniger unterstützend verhalten könnten. Dem Rat Debyes folgend, wechselte die frischgebackene Frau Doktor an das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie in Berlin unter Leitung Fritz Habers. Wie sie sich später erinnerte, hatte Debye den dortigen Arbeitsgruppenleiter mit den Worten empfohlen: »Ich kenne jemanden. Er ist nett, er ist noch nicht so alt … Ja, und er leistet hervorragende Arbeit. Sie können zu ihm gehen.« So begann die lebenslange Partnerschaft mit James Franck, als Wissenschaftler, als Freund und später auch als Ehemann. Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte die goldene Zeit der Physik, vergleichbar den Umwälzungen in der Molekularbiologie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Einer der Brennpunkte war Berlin, wo sich um Max Planck, den Vater der Quantentheorie, zahlreiche spätere Nobelpreisträger versammelten. Plancks Theorie revolutionierte das Verständnis des Innenlebens der Atome, kulminierend im Bohr’schen Atommodell. Albert Einsteins Formel E = m ∙ c2 erlaubte Lise Meitner und Otto Hahn die Berechnung der Energiemenge, die bei der Spaltung eines Atoms freigesetzt wird, und die Entdeckung der Kernspaltung. Allerdings mündeten diese Erkenntnisse auch in die Konstruktion der Atombombe, womit die Menschheit die Fähigkeit erlangte, sich selbst zu vernichten. Heute besteht die Sorge, dass weitere solcher Möglichkeiten dazukommen könnten. Von all dem war zu Herta Sponers Berliner Zeit noch nichts zu ahnen. Ein Foto aus dem Institut zeigt die junge Assistentin etwas zaghaft, als ob sie es selbst noch nicht fassen könne, am seitlichen Rande sitzend mit all den Großen der Zeit: Albert­ Einstein, Gustav Hertz, Peter Pringsheim, Fritz Haber, Lise Meitner, Otto Hahn und James Franck. Ihre erste Veröffentlichung, angeregt von ihrem Mentor, »Über die Häufigkeit unelastischer Zusammenstöße von Elektronen und Quecksilberatomen«, erschien 1921 in der Zeitung für Physik. Da Franck einen Ruf auf den Lehrstuhl für experimentelle Physik nach Göttingen erhielt und seine Mitarbeiterin 1921 mitnahm, währte die Berliner Zeit nur kurz.

226  Claudia Binder In Göttingen erlebte die Physik damals ebenfalls eine Blütezeit. Neben Franck forschten dort Max Born sowie seine Assistenten Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg und Maria GöppertMayer, sie alle zukünftige Nobelpreisträger, außerdem Edward Teller und Robert Oppenheimer, die später in den USA am Bau der Atombombe beteiligt waren. Franck führte sein Institut auf unkomplizierte und unhierarchische Art.  Gemeinsame Unternehmungen, regelmäßige Seminare in privater Umgebung, auch bei Born und Herta Sponer selbst, schufen eine vibrierende Atmosphäre des wissenschaftlichen Aufbruchs und Austausches. Herta Sponer erinnerte sich noch viele Jahre später daran als die schönste Zeit ihres Lebens. Auch wissenschaftlich war sie zunehmend erfolgreich. Neben ihren Aufgaben in der Lehre, wo sie  – organisatorisch talentiert – das Praktikum leitete, widmete sich Herta Sponer weiter ihrem Lebensthema, der Untersuchung von Molekülspektren. Im Oktober 1925 erlangte sie als eine von drei Frauen, die sich in Deutschland für Physik habilitieren konnten, die Venia legendi mit der Schrift »Anregungspotentiale der Bandenspektren des Stickstoffs«. Dies geschah nicht ohne Probleme, da Robert Pohl strikt gegen weibliche Professoren war. Er stimmte schließlich unter der Bedingung zu, dass Franck im Falle seines Weg­ganges von Göttingen Herta Sponer mit sich nähme. Erstaunlicherweise beantwortete Sponer jedoch Jahre später die Frage, ob sie als Frau in Göttingen Schwierigkeiten gehabt habe, mit »nein«. Hier, wie auch sonst bei politischen Äußerungen, war sie extrem zurückhaltend. Direkt danach erhielt die frisch gekürte Privatdozentin ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung. Wie das »Göttinger Tage­ blatt« am 29. Oktober 1925 notierte, war die Zahl der sie zum Bahnhof Begleitenden so groß, dass man sich glücklich schätzte, dass die »Firma Kulp in der Lage war, das neue, in den öffentlichen Verkehr noch nicht eingestellte Riesenauto«, den ersten Omnibus, zur Verfügung zu stellen. »Jeder Gegner des Frauen­ studiums und insbesondere der Zulassung zum Dozenten­ berufe hätte wohl verstummen müssen angesichts der Zeichen offenkundiger Verehrung, die dieser jungen Dozentin gezollt wurde.« Mit diesem großen Bahnhof verabschiedete sich Herta

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Sponer nach Berkeley, einem Mekka der Spektro­skopie. Sie arbeitete dort an einem hochmodernen Vakuumspektrographen, untersuchte das Spektrum von Stickstoff und ver­öffentlichte darüber einige Arbeiten. Außerdem lernte sie sehr gut Englisch, was sich später als nützlich erweisen sollte. Rechtzeitig zurück zur Feier des Nobelpreises für Franck und Hertz, setzte sie diese Arbeiten ab 1926 fort und wurde 1932 zur außerordentlichen Professorin ernannt. Insgesamt resultierten aus der Göttinger Zeit mehr als ein Dutzend Veröffentlichungen, alle gemeinsam mit Franck. 1931 wurde sie eingeladen, über »Molekülspektren und ihre Anwendung auf chemische Probleme« zu schreiben. Die Abfassung zog sich hin, so dass die beiden Bände, die zu einem viel gelesenen Standardwerk wurden, erst 1935 und 1936 erschienen. Mit der Machtergreifung fand all dies ein jähes Ende. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.  April 1933 verlangte die Entlassung aller Beamten ›nicht-­ arischer‹ Abstammung. James Franck, der – obwohl Jude – infolge der Ausnahmeregelung für Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg zunächst hätte bleiben können, legte am 17.  April aus Protest sein Amt nieder. Das Institut war verwaist, Göttingen verlor etwa ein Drittel seiner Professoren. Herta Sponer war zwar nicht unmittelbar betroffen, hatte aber keine berufliche Zukunft mehr, da Pohl eine Verlängerung ihres Vertrages ablehnte. Es begann eine Zeit des Zweifels und der Unschlüssigkeit. Schließlich entschied sie sich für ein von der RockefellerStiftung teilfinanziertes Professorat an der Universität Oslo. Ihren Flussspat-Vakuumspektrographen durfte sie für ein Jahr dorthin ausleihen. In Oslo fühlte sie sich jedoch einsam und klagte über die schlechten Bedingungen im Institut. Sie verstand die Sprache nicht und schrieb an ihren Freund Franck: »Oslo ist doch nicht Endstation für mich.« Endstation waren schließlich die USA , wo sie 1936 dank Vermittlung von Franck, der inzwischen eine Professur in Baltimore angetreten hatte, die erste weibliche Voll-Professorin für Physik an der Duke’s University in Durham, North Carolina, wurde. Mit vierzig Jahren jung genug, gelang es ihr, ein zweites Leben aufzubauen. Sie arbeitete weiter mit der Vakuum-Spektro­

228  Claudia Binder graphie und trug mit ihren insgesamt über 80 Veröffentlichungen viel zum Verständnis von Vorgängen in Molekülen und der Fluoreszenz bei. Da ihre Arbeit an der Schnittstelle von Physik und Chemie angesiedelt war, wurde Sponer zu einer Pionierin der interdisziplinären physikalisch-chemischen Forschung. Wissenschaftlich war sie nun unabhängig von James Franck, mit dem sie jedoch weiter eng verbunden blieb. Nachdem er 1941 Witwer geworden war, entschlossen sie sich 1946 zur Heirat. Mit Bezug auf eine der wenigen außerberuflichen Aktivitäten von Herta Sponer, die Dobermänner liebte und selbst züchtete, äußerte sich Lise Meitner in ihrem Gratulationsbrief erfreut darüber »… zu wissen, dass Deine Hunde … nicht mehr die erste Geige spielen«. Ein Bild zeigt das jungvermählte Paar am selben Tag schon wieder in Herta Sponer Francks Labor. Die Eheleute wohnten überwiegend getrennt an den jeweiligen Arbeitsstätten, verbrachten jedoch die gemeinsame Zeit in ihrem Ferienhaus auf Cape Cod. Achtzehn Jahre dauerte ihre Ehe und war offenbar glücklich. Sie unternahmen gemeinsame Reisen, in den letzten Jahren auch wieder nach Deutschland. Auf einer dieser Reisen starb James Franck 1964 mit 81 Jahren in Göttingen an Herzversagen. Ihres langjährigen Gefährten beraubt, setzten bei Herta Sponer bald darauf Anzeichen einer Demenz-Erkrankung ein. Kurz nach ihrer Emeritierung kehrte sie 1966 nach Deutschland zurück und wohnte zunächst bei ihrem Neffen. Ein Jahr darauf wurde sie entmündigt und in ein Pflegeheim in Ilten bei Hannover eingewiesen, wo sie am 17. Februar 1968 verstarb. Literatur Akademische Karrieren von Naturwissenschaftlerinnen gestern und heute. Hrsg. von Ute Pascher und Petra Stein. Wiesbaden 2013. Alma Maters Töchter im Exil. Hrsg. von Inge Hansen-Schaberg und Hiltrud Häntzschel. München 2011. European Women in Chemistry. Hrsg. von Jan Apotheker und Livia Simon Sarkadi. Weinheim 2011. Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Hrsg. von Christoph Meinel und Monika Renneberg. Bassum 1996. https://www.phy.duke.edu/history/DistinguishedFaculty/HerthaSponer

Herta Sponer 229 Kerner, Charlotte: Lise, Atomphysikerin. Die Lebensgeschichte der Lise Meitner. Weinheim 1999. Maushart, Marie-Ann: ›Um mich nicht zu vergessen‹. Bassum 1997. Oral History Interviews. James Franck and Hertha Sponer Franck. Session VI. 1962. https://www.aip.org/history-programs/niels-bohr-library/ oral-histories/4609–5

Gerhard Leibholz Rückkehrer aus dem Exil von Thomas Oppermann

Als die Nationalsozialisten jüdische Wissenschaftler, Sozia­ listen, Liberale und andere ihnen missliebige Professoren verfolg­ten und aus Deutschland vertrieben, richteten sie unermesslichen Schaden an. Die Universitäten verloren große Forscherpersönlichkeiten, darunter 25 Nobelpreisträger wie Max Born, James Franck, Max Delbrück, Albert Einstein oder Fritz Haber. Allein Göttingen verlor aus rassistischen oder politischen Gründen über 20 Prozent seiner Hochschullehrer. Nur wenige Emigranten waren nach dem Zweiten Weltkrieg bereit zurückzukehren. Zu denjenigen, die sich trotz der er­ littenen Demütigungen dazu entschlossen und tatkräftig am demokratischen Neuanfang in Göttingen mitwirkten, zählen der Physik-Nobelpreisträger Max Born, unser ehemaliger Oberbürgermeister Artur Levi (1973–1981; 1986–1991) und der Verfassungsrichter Gerhard Leibholz. Leibholz hat mehrere Jahrzehnte in Göttingen gelebt, geforscht und gelehrt und wurde ebenso wie Born und Levi auf dem Städtischen Friedhof beigesetzt. Geboren wurde er aber nicht in Göttingen, sondern in Berlin-Charlottenburg, nämlich am 15. November 1901 als Sohn einer großbürgerlichen Industriellenfamilie. Sein Vater William engagierte sich während der Weimarer Republik als Stadtrat in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), war Jude, aber kein Synagogengänger. Es war zur damaligen Zeit auch nicht ungewöhnlich, dass er Gerhard und dessen zwei Brüder protestantisch taufen ließ. Nach behüteter Kindheit und dem Abitur am humanistischen Gymnasium studierte Leibholz in Heidelberg Jura, Philo­ sophie und politische Ökonomie. Mit 19 Jahren promovierte er

Gerhard Leibholz 231

in Philosophie und setzte dann sein Jurastudium in Berlin fort. Mit 23 legte er seine zweite Dissertation »Gleichheit vor dem Gesetz« vor, in der er den Gleichheitssatz der Weimarer Reichsverfassung als Willkürverbot interpretierte und die These vertrat, dass nicht nur die ausführende Gewalt, sondern auch der Gesetzgeber an den Gleichheitssatz gebunden sei. Mit dieser bahnbrechenden Arbeit schien ihm eine steile Karriere vorgezeichnet. Der Justizminister Erich Koch-Weser, Parteifreund seines Vaters, bot ihm 1929 die Stelle des persönlichen Referenten an. Leibholz entschied sich für die Wissenschaft und eine Professur in Greifswald. Als Leibholz im Jahr 1931 einen Ruf nach Göttingen erhielt, zögerte er zunächst. Seine Frau Sabine Leibholz-Bonhoeffer schildert in ihren Erinnerungen, dass sie sich wegen der linksund rechtsextremen Radikalisierung Sorgen machten. Sie zitiert ihren Mann, es lohne sich vielleicht gar kein neuer Anfang

232  Thomas Oppermann mehr: »[…] entweder bringen mich die Kommunisten als Kapitalisten um oder die Nationalsozialisten als Juden.«1 Ein trauriges Kapitel der Göttinger Stadtgeschichte ist, dass sich die Nazis hier früh etablierten: 1922 gründete sich eine der ersten NSDAP-Ortsgruppen Norddeutschlands. Ab 1931 hatten die Nazis die absolute Mehrheit sowohl in der Stadt als auch in der studentischen Selbstverwaltung.2 Wie ausgeprägt der Antisemitismus bereits war, zeigt der Widerstand an der Juristischen Fakultät gegen die Berufung von Leibholz, wobei formale Argumente vorgeschoben wurden.3 Nachdem der damalige preußische Wissenschaftsminister Adolf Grimme (SPD) die Berufung gegen die Fakultätsmehrheit durchgesetzt hatte, wurde Leibholz im Oktober 1931 jüngster Jura-Professor an der Georgia Augusta. Bemerkenswert ist der Titel einer Abhandlung von Leibholz, die Anfang 1933 erschien: »Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild«. Die Analyse war hellsichtig, wurde aber noch schneller als befürchtet Realität: Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht. Schon im April 1933 wurde deutlich, wie sehr der Rassenwahn der Nazis die berufliche und private Existenz von Leibholz gefährdete. Am 7. April wurde das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erlassen. Leibholz drohte der Verlust seines Lehrstuhls, weil er nach NS -Terminologie ›Volljude‹ war. Da er im Fragebogen einen Freikorps-Einsatz gegen Arbeiteraufstände 1919 angab,4 durfte er seinen Lehrstuhl wegen der sogenannten »Frontkämpferklausel« zunächst behalten. Als im selben Monat sein Vater starb, wünschte sich seine Frau ihren Zwillingsbruder Dietrich Bonhoeffer als Pastor für die Beerdigung. Bonhoeffer wurde von seinen Vorgesetzten bedrängt, keinen Juden zu beerdigen. Er beugte sich dem Druck. Später leistete er als einer der mutigsten Christen Widerstand und machte sich Vorwürfe: »Wie konnte ich damals nur so grauenhaft ängstlich sein?«5 Die antisemitischen Anfeindungen häuften sich. Im Sommer 1933 wurde der Zugang zu Leibholz’ Vorlesung blockiert: »Breitbeinig, wie nur diese SA-Männer stehen konnten, standen da ein paar Studenten in SA-Uniform in ihren hohen Stiefeln vor dem Vorlesungssaal und ließen niemanden herein.«6 Weder

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der Rektor noch die Kollegen schritten ein, erst Wissenschaftsminister Rust setzte die Veranstaltung durch.7 Die beiden Töchter hatten in der Schule zu leiden. »Der Vater des Juden ist der Teufel«,8 stand über dem Eingang. Eine nächste Eskalationsstufe wurde erreicht, als die »Göt­ tin­ger Nachrichten« im Februar 1935 einen Offenen Brief veröffentlichten: »Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund stellt dazu fest, dass Prof. Leibholz Jude ist. Aus diesem Grunde muss er die oben genannten Vorlesungen ablehnen.«9 Der fachlich unumstrittene Professor war erst 34 Jahre alt, als er beurlaubt und in die Bibliothek strafversetzt wurde, wo »geeignete Maßnahmen« getroffen werden sollten, »dass Prof. Leibholz mit dem Publikum nach Möglichkeit nicht in Berührung kommt«.10 Einige Tage später wurde Leibholz vom Bibliotheksdirektor mitgeteilt, dass er am besten zu Hause bleibe: Das mache weniger Ärger.11 Bald darauf wurde er emeritiert. Seine Frau beklagte: »In Göttingen versuchten viele mitzu­laufen. Nicht weitergekommene Privatdozenten sahen jetzt ihre Chance.«12 Positiv hebt sie Walter Bauer und Paul Oertmann hervor, der unter Tränen sagte: »Herr Kollege, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.«13 Hans von Dohnanyi, ein weiterer prominenter Schwager,14 war damals Büroleiter des Reichsjustizministers. Er warnte vor weiteren Gesetzesverschärfungen und drängte Familie Leibholz, ins Exil zu gehen. Leibholz erkannte die Gefahr, zögerte aber, da er im Ausland als Professor für deutsches Verfassungsrecht und wegen mangelnder Englischkenntnisse kaum Perspektiven sah: »In unserem großen Garten wanderte er viele Kilometer herum; ich konnte es manchmal gar nicht mitansehen«, schrieb seine Frau.15 Kurz vor der Reichspogromnacht und der Verordnung, dass Juden ein »J« in den Pass gestempelt wird, emigrierte die Familie im September 1938 über die Schweiz nach England. »Nachdem wir 12 Jahre unserer Ehe ohne finanzielle Sorgen gelebt hatten«, so Sabine in ihren Erinnerungen, »musste jetzt jeder Pfennig umgedreht werden.«16 Der Neuanfang war hart, auch wenn sie von Kontakten profitierten, die Bonhoeffer geknüpft hatte. Als die Nazis im Frühjahr 1940 in Frankreich und

234  Thomas Oppermann Holland einfielen, wurde Leibholz wie alle deutschen Männer zwischen 16 und 70 als »feindlicher Ausländer« interniert. Es war ein Schlag ins Gesicht, als ein englischer Polizist hämisch sagte: »Nun werden Sie für Ihren Führer leiden müssen!« Leibholz erwiderte: »Danke, das habe ich schon in Deutschland getan!«17 Nach Interventionen seiner Frau und von Kirchenleuten kam er bald frei, aber sein Bruder Hans nahm sich im holländischen Exil das Leben, da ihm die Deportation ins KZ drohte. Den Krieg verbrachte die Familie in Oxford; er hielt dort einige Vorlesungen und wurde Berater von George Bell, dem anglikanischen Bischof und Lord im Oberhaus. Sie setzten sich für eine andere britische Deutschland-Politik ein, fanden bei Churchill, der auf »bedingungslose Kapitulation« pochte, jedoch kein Gehör. Mehrfach traf sich Leibholz mit Adam von Trott, der 1927/1928 drei Semester Jura in Göttingen studiert hatte und im Kreis um Graf von Stauffenberg für die internationalen Kontakte zuständig war. Die Universität von Göttingen erinnerte mit einer Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler an diesen mutigen Kosmopoliten, der 1945 hingerichtet wurde. Dieses Schicksal erlitten auch die beiden Schwäger ­Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi, die 1943 verhaftet wurden. Dohnanyi kam ins KZ Sachsenhausen, Bonhoeffer nach Buchenwald, dann nach Flossenbürg. Auf Hitlers Befehl wurden sie kurz vor Kriegsende standgerichtlich zum Tod verurteilt und am 9. April 1945 hingerichtet. Der SS -Mann Walter Huppenkothen, der an diesen Verfahren maßgeblich mit­ gewirkt hatte, wurde vom BGH im Jahr 1956 wegen anderer Delikte verurteilt, aber von der Anklage der Beihilfe zum Mord an ­Dohnanyi und Bonhoeffer freigesprochen. Leibholz kommen­ tierte bitter: »Das Urteil scheint mir wie Hohn.« Kurz vor seinem Tod bilanzierte er in einem Interview: »Und so entsteht manchmal das Bild, dass die Mörder noch unter uns leben.«18 Weder Gerhard Leibholz noch seine Frau durften erle­ben, dass sich 2002 der Präsident des Bundesgerichtshofs ­Günter Hirsch zum 100. Geburtstag ihres Schwagers Hans von ­Dohnanyi ausdrücklich bei dessen Familie entschuldigte: »Für dieses Urteil des Bundesgerichtshofs, an dem im übrigen ein Richter mitgewirkt

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hat, der im Dritten Reich Beisitzer eines Sondergerichts und später Oberkriegsgerichtsrat war, muss man sich schämen.«19 Auch wenn diese Geste des BGH-Präsidenten zu spät kam, erfuhr Leibholz dennoch eine doppelte Wiedergutmachung: sowohl durch die Georg-August-Universität Göttingen als auch durch den deutschen Staat. Die Georgia Augusta warb bereits ab November 1945 darum, dass Leibholz auf seinen Lehrstuhl zurückkehren sollte. Die Verhandlungen gestalteten sich schwierig, auch Berlin, München und Heidelberg wollten ihn berufen. Um weiter in Oxford lehren zu können, kam er 1947 zunächst als Gastdozent nach Göttingen zurück. Außerdem war ihm nach der Zeit des Totalitarismus wichtig, sich nicht allein auf Jura zu beschränken, sondern auch die Venia legendi für Politikwissenschaft zu erhalten.20 1951 wurde ihm dieser Wunsch erfüllt. Im Alter von 50 Jahren kehrte er auf den eigens geschaffenen Lehrstuhl für politische Wissenschaft und allgemeine Staatslehre an die Universität zurück, von der er vertrieben und im Stich gelassen worden war. In den folgenden Jahrzehnten wirkte Leibholz als einer der großen Professoren der Georgia Augusta weit über Göttingen hinaus. Mit in zahlreiche Sprachen übersetzten Standardwerken wie »Strukturprobleme der modernen Demokratie« (1958) prägte er die juristische und politologische Debatte über Jahrzehnte. In dieser Aufsatzsammlung befasste er sich mit antidemokratischen Vorurteilen. Denn die »Aversion gegen die politischen Parteien und den parlamentarischen Prozess«21 war eine zentrale Ursache für das Ende der Weimarer Republik gewesen. Vor allem drückte Leibholz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seinen Stempel auf. Er war einer der konstituierenden Richter und hatte eine der längsten Amtszeiten in Karlsruhe (1951–1971). Als Verfasser des sogenannten »StatusBerichts« trug er dazu bei, dass sich das Bundesverfassungsgericht seine Unabhängigkeit gegenüber anderen politischen Institutionen erkämpfte. Außerdem sorgte er für die verfassungsrechtliche Stärkung der Parteien. Ernst Benda, seinerzeit Präsident des Bundesverfassungsgerichts, würdigte Leibholz zum 80. Geburtstag als »grand old

236  Thomas Oppermann man, eine Persönlichkeit, wie sie wohl nur in Ausnahmefällen zu finden ist«.22 1968 wurde Leibholz außerdem das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen: Diese höchste Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland war Anerkennung seines Beitrags zum demokratischen Neubeginn nach 1945 und zugleich eine Wiedergutmachung für die Verbrechen der Nazis an ihm und seiner Familie. Gerhard Leibholz starb am 19. Februar 1982 in Göttingen. Anmerkungen 1 Leibholz-Bonhoeffer, Sabine: Vergangen – erlebt – überwunden. Schicksale der Familie Bonhoeffer. 9.  Aufl. Gütersloh 2002 (Erstauflage 1976). S. 92. 2 Dahms, Hans-Joachim: Einleitung. In: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Hrsg. von Heinrich Becker, Hans-Joachim Dahms, Cornelia Wegeler. München u. a. 1987. S. 32. 3 Wiegandt, Manfred H.: Norm und Wirklichkeit. Gerhard Leibholz (1901–1982). Leben, Werk und Richteramt. Baden-Baden 1995. S. 30. 4 Wiegandt über die Zweifel an der Richtigkeit der Angabe. S. 31 ff. 5 Leibholz-Bonhoeffer. S. 100 f. 6 Ebd. S. 98. 7 Wiegandt. S. 33. 8 Leibholz-Bonhoeffer. S. 102. 9 Wiegandt, S.  38 f., mit entsprechenden Nachweisen aus »Göttinger Nachrichten« und Personalakte bei der Universität. 10 Der Erlass des Ministers ist zitiert bei Wiegandt, S. 39. 11 Wiegandt. S. 40. 12 Leibholz-Bonhoeffer. S. 98 f. 13 Ebd. S. 99. 14 Er war mit Christine Bonhoeffer verheiratet. Siehe zu beiden Marijke Smid: Hans von Dohnanyi – Christel Bonhoeffer. Eine Ehe im Widerstand gegen Hitler. Gütersloh 2002. 15 Leibholz-Bonhoeffer. S. 112. 16 Ebd. S. 138. 17 Ebd. S. 153. 18 Wiegandt. S. 59. 19 Online auf der Webseite des BGH : http://www.bundesgerichtshof.de/ DE/DasGericht/Praesidenten/Hirsch/HirschReden/rede08032002.html. 20 Wiegandt. S. 62 ff. 21 Ebd. S. 307. 22 Ebd. S. 13.

Werner Heisenberg: Jugendlicher Entdecker der modernen Quantentheorie Suche nach einer zentralen Ordnung der Natur von Helmut Reeh

Werner Heisenberg ist einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts. Er lebte zwischen 1922 und 1926 und von 1946 bis 1958 in Göttingen. Geboren 1901 in Würzburg als Sohn eines Altphilologen und Professors für Byzantinistik, wuchs Heisenberg in München auf, glänzte schon am Maximiliansgymnasium durch hohe Begabung und großes Leistungsbewusstsein. Der Ehrgeiz, stets Spitzenleistungen zu bringen, am Klavier, beim Schach, Tischtennis und in der Wissenschaft, war gepaart mit einem bescheidenen und offenen Wesen. Nach dem Ersten Weltkrieg, als Schüler, Student und junger Wissenschaftler, war Heisenberg aktives Mitglied der neuen Jugendbewegung und der Neupfadfinder. Sein Klavierspiel war auf hohem Niveau. Als er 1927 eine noch provisorische Wohnung bezog, schaffte er als Erstes einen Flügel an, um für Musikabende zu üben. Später wurde in seinem Haus regelmäßig Kammermusik veranstaltet. In die Physik und gleich auch in die aktuellen Probleme der damaligen Atomtheorie wurde Heisenberg von dem mathematischen Physiker Arnold Sommerfeld eingeführt. Im Frühjahr 1922, Heisenberg war in seinem vierten Semester, nahm Sommerfeld ihn von München mit nach Göttingen zu den­ sogenannten »Bohrfestspielen«, einer Woche mit täglichen Vorträgen des dänischen Physikers Niels Bohr über aktuelle Probleme der damaligen noch unzureichenden Quanten- und Atomtheorie. Bohr war der weltweit führende Experte. Heisenberg mischte sich in die fachliche Diskussion mit Bohr ein, und es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft und Wertschätzung, abgesehen von einer großen Krise anlässlich einer

238  Helmut Reeh Begegnung 1941 im deutsch besetzten Kopenhagen während des Zweiten Weltkrieges. Heisenberg sagte einmal später rück­ blickend über sein Studium der Physik: »Von Sommerfeld hab’ ich den Optimismus gelernt, von den Göttingern die Mathematik, von Bohr die Physik.«1 Eine weitere lebenslange Freundschaft auf fachlicher Grundlage, schon aus dem ersten Semester, verband Heisenberg mit Wolfgang Pauli, damals vier Semester weiter im Studium bei Sommerfeld. Auch Pauli hat Beziehungen zu Göttingen: Er war hier 1921/1922 Assistent bei Max Born, und es gibt den sogenannten Pauli-Effekt: Physikalische Experimente versagten ihren Dienst, wenn Pauli in die Nähe kam, z. B. wenn er im Zug an Göttingen vorbeifuhr. Während eines USA-Aufenthaltes von Sommerfeld studierte Heisenberg in Göttingen bei Max Born. Es folgte die Promotion bei Sommerfeld in München über ein Thema aus der Turbulenztheorie, Heisenberg trat eine Assistentenstelle bei Born an, und er war öfter bei Bohr in Kopenhagen, dem damaligen Zentrum der Atomphysik, so im Winterhalbjahr 1924/1925; dort lernte er auch Dänisch und Englisch. Im Frühsommer 1925 packte ihn in Göttingen heftiges Heufieber, vor dem er nach Helgoland floh. Wissenschaftlich beschäftigte er sich dort mit der Berechnung von Übergangsamplituden von Atomen. Die BohrSommerfeld’sche Theorie, basierend auf klassischer Mechanik und Quantenbedingungen, funktionierte nicht so richtig. Heisenberg studierte ein einfacheres Modell, den anharmonischen Oszillator. Er sieht den entscheidenden Punkt: Quantenmechanische Größen müssen auf eine besondere Weise multipliziert werden. Das ist der Durchbruch. Später, im Rückblick, vergleicht Heisenberg diesen Durchbruch mit dem Erlebnis eines Berggängers, der im Nebel den Weg zu einem unbekannten Berg sucht. Auf einmal reißt der Nebel auf, der Berg und der weitere Weg liegen wunderbar klar vor den Augen des Suchenden. Heisenberg besprach seine Entdeckung mit Pauli und legte sie dann Born vor. Natürlich blieb noch viel zu tun. Aber die Entdeckung löste eine wissenschaftliche Revolution aus. Pauli schreibt etwas später in einem Brief: »Die Heisenberg’sche Mechanik hat mir wieder Lebensfreude und Hoffnung gegeben. Die Lösung des

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Rätsels bringt sie zwar nicht, aber ich glaube, dass es jetzt wieder möglich ist, vorwärts zu kommen. Man muss zunächst versuchen, die Heisenberg’sche Mechanik noch etwas mehr vom Göttinger formalen Gelehrsamkeitsschwall zu befreien und ihren physikalischen Kern noch besser bloßzulegen.«2 Tatsächlich aber sah Born rasch, dass die Heisenberg’sche Multiplikation aus dem Matrizenkalkül bekannt ist, und Born formulierte dann auch als Erster die kanonischen Vertauschungsrelationen, die allgemeiner den Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantentheorie bewerkstelligen. Heisenberg, Born und Pascual Jordan arbeiteten dann in wenigen Jahren die Quantentheorie aus, und unabhängig von ihnen E. Schrödinger und P. A. M. Dirac. Auf erkenntnistheoretischer Seite wurde sie ergänzt durch die sogenannte ›Kopenhagener Interpretation‹. Die neue Quantentheorie, erweitert durch die Entdeckung und Einarbeitung des Elektronenspins, erlaubte es, die Physik

240  Helmut Reeh der Atome zu verstehen, die Natur der chemischen Bindung und vieles mehr. Das gab der Forschung einen ungeheuren Auftrieb. Werner Heisenberg, 24-jährig, Assistent in Göttingen, seit 1924 habilitiert, steht in der ersten Reihe einer neuen aufregenden wissenschaftlichen Entwicklung. Es kommen Gäste aus aller Welt, um das Neue zu erlernen. Von Mai 1926 an ist er­ Dozent für Theoretische Physik bei Niels Bohr in Kopenhagen. Ab Oktober 1927 ist er ordentlicher Professor für Theoretische Physik an der Universität in Leipzig, das zu einem Zentrum der neuen Entwicklung wird. 1933 erhält Heisenberg den Nobelpreis für Physik des Jahres 1932, gleichzeitig mit Schrödinger und Dirac, die gemeinsam den Nobelpreis des Jahres 1933 erhalten. In einem Brief an Bohr am 27. November 1933 schreibt Heisenberg, dass er den Preis gerne zusammen mit Born bekommen hätte. Neue physikalische Themen, denen sich Heisenberg zuwendet, sind: Ferromagnetismus, Quantenelektrodynamik (mit Pauli), Theorie der Atomkerne, Höhenstrahlung, Streu­ matrix. Neben den Fragestellungen der Physik beschäftigt er sich zeitlebens mit dem philosophischen Hintergrund der naturwissenschaftlichen Forschung, und er hält Vorträge dazu auf vielen Foren. Die Berufung auf die Nachfolge seines Lehrers Sommerfeld an die Universität in München scheiterte an fachlicher und politischer Diffamierung von Seiten der Anhänger der von den Nationalsozialisten, insbesondere von Philipp Lenard und Johannes Stark propagierten ›Deutschen Physik‹. Trotzdem lehnte Heisenberg Stellenangebote amerikanischer Universitäten ab. 1937 heiratete er Elisabeth Schumacher. Er war ihr auf einem Musikabend begegnet und hatte sie dort durch sein Klavierspiel in Beethovens zweitem Klaviertrio für sich gewonnen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Heisenberg vom Heereswaffenamt einberufen und zur Forschung an der Kernspaltung und zur Nutzbarmachung der Kettenreaktion des Urans verpflichtet; er entging so der Militärpflicht. Heisenbergs Untersuchungen zeigen, dass eine Bombe unter Kriegsbedingungen in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht entwickelt werden kann. Vom Heereswaffenamt als kriegswichtig erkannt wurde die Arbeit an der sogenannten »Uranmaschine«, die auf

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einen Reaktor zur Energieerzeugung zielte. Die von Heisenberg ge­leitete Arbeitsgruppe war zunächst in Leipzig angesiedelt, ab 1942 am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Physik in Berlin, dessen Direktor er wurde (anstelle des beurlaubten, von ihm sehr geschätzten P. Debye), und schließlich in Haigerloch bei Hechingen, wohin die Arbeitsgruppe evakuiert worden war. Nach der Verlagerung der beruflichen Tätigkeit Heisenbergs nach Berlin und angesichts der Bombenangriffe auf deutsche Städte zog Frau Heisenberg mit den Kindern und ihrer Schwiegermutter im Februar 1943 in das Refugium Heisenbergs in Urfeld am Walchensee um. Das Ferienhaus hatte vorher dem Maler Lovis Corinth gehört; Heisenberg hatte es 1939 erworben. In den letzten Tagen des Krieges, als die Arbeit am Uranprojekt in Haigerloch eingestellt worden war, schlug sich Heisenberg auf abenteuerliche Weise mit dem Fahrrad nach Urfeld durch. Wenig später wurde er dort von einem amerikanischen Suchkommando aufgespürt und festgenommen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach Entlassung aus der Internierung zusammen mit anderen Atomkernforschern in Farm Hall in England begann im Februar 1946 Heisenbergs zweiter Lebensabschnitt in Göttingen. Nach Provisorien wohnte er mit seiner inzwischen großen Familie in der Merkelstraße. Man konnte ihm mit seinen Kindern ge­ legentlich in der weiteren Göttinger Umgebung bei einem Ausflug begegnen. Das KWI für Physik hatte eine neue Heimstatt in der Böttinger Straße (bald darauf erfolgte die Umbenennung in MaxPlanck-Institut für Physik). Es entwickelte sich zu einem Zentrum mit Mitarbeitern und Gästen aus vielen Ländern. 1958 zog das Institut bei gleichzeitiger Erweiterung um nach München. Während in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg Heisenbergs Tätigkeiten konzentriert waren auf die Physik und ihren erkenntnistheoretischen und philosophischen Hintergrund, übernahm er jetzt in größerem Rahmen Verantwortung für den Wiederaufbau der Wissenschaft und der Gesellschaft. Die Erfahrung der Katastrophe, in die der Nationalsozialismus geführt hatte, brachte ihn zu der Überzeugung, dass er als Wissenschaftler auch Einfluss auf die Politik nehmen sollte. Er

242  Helmut Reeh wurde 1949 Vorsitzender des Deutschen Forschungsrates und Mitglied in vielen Gremien. Er war auch Berater der Bundesregierung und Konrad Adenauers. In der Fortsetzung seiner Tätigkeit während des Krieges im Uranverein setzte er sich auch ein für die Kernforschung mit dem Ziel der Energiegewinnung, wobei die mit der Kernenergie verbundenen Probleme und Risiken damals leider nicht erkannt wurden! Heisenberg engagierte sich mit Nachdruck für die Gründung des CERN, die europäische Organisation für Elementarteilchenforschung. 1953 wurde er Präsident der Alexander von Humboldt Stiftung, deren Anliegen die internationale Vernetzung der Wissenschaften ist. Im April 1957 war Heisenberg einer der Unterzeichner der »Erklärung der Göttinger 18« gegen die von Adenauer und dessen Verteidigungsminister F. J. Strauß geplante Bewaffnung der Bundeswehr mit atomaren Waffen. Die wissenschaftliche Arbeit Heisenbergs konzentrierte sich nach Beiträgen zur Theorie der Supraleitung und zur Statistischen Theorie der Turbulenz in diesen Jahren zunehmend auf die Elementarteilchenphysik. Er möchte die theoretische Beschreibung mit Hilfe eines Spinorfeldes erreichen, das einer nichtlinearen Gleichung genügt. Die ihn dabei leitende physikalische Idee ist folgende: Wenn man versucht, Elementarteilchen immer weiter zu teilen, indem man zwei Teilchen mit hoher Energie aufeinanderschießt (an den großen Teilchenbeschleunigern, z. B. am CERN), so findet das eine Grenze: Es entstehen keine neuen fundamentaleren Teilchen mehr, sondern nur viele Teilchen der schon bekannten Arten. Bei dem Aufeinanderschießen von Teilchen wird also eigentlich Energie in bekannte Materie umgewandelt. Die Teilchen sind nicht das fundamentale physikalische Objekt, sie erscheinen erst unter geeigneten äußeren Bedingungen. Im Feld enthalten sind die Symmetrien, die sich in Eigenschaften der erzeugten Teilchen manifestieren. Andere Eigenschaften der Teilchen, wie ihre Massen, sollten aus der Theorie folgen, nicht ihr Fundament sein. Wolfgang Pauli, inzwischen Professor in Zürich, dessen scharfer Kritik Heisenberg seine wissenschaftlichen Ideen stets vorlegte, ist bald begeistert von diesem neuen Ansatz. Ein umfangreicher Briefwechsel2 aus der Zeit um die Jahreswende

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1957/1958 dokumentiert eine sich entwickelnde intensive Zusammenarbeit. Eine gemeinsame wissenschaftliche Publikation wird in Angriff genommen. Im Januar 1958 reist Pauli für einige Monate zu einem Gastaufenthalt in die USA . Dort diskutiert er die neuen Überlegungen auch mit Fachkollegen, und er wird skeptisch. Nachdem Heisenberg am 24.  Februar 1958 im Göttinger physikalischen Kolloquium (auf Anregung von F. Hund) über den neuen Ansatz vorgetragen hatte, ungewöhnlicherweise mit großem Presseecho, und etwas später auch noch im Westberliner Kongresszentrum vor 1800 Zuhörern, distanzierte sich Pauli von der gemeinsamen Arbeit. Der Rückzug Paulis vom zuerst so begeistert begrüßten Projekt traf Heisenberg schwer. Er erklärte ihn sich später als Folge der schon latent vorhandenen tödlichen Erkrankung Paulis, der dieser im Dezember 1958 erlag. Im Rückblick von heute war Heisenbergs Ansatz für eine Theorie der Elementarteilchen trotz langjähriger Unterstützung durch viele Mitarbeiter nicht erfolgreich. An die Existenz von Quarks wollte Heisenberg nicht glauben. Quarks waren in den sechziger Jahren insbesondere von dem amerikanischen Physiker M. Gell-Mann postuliert worden als Bestandteile von stark wechselwirkenden Elementarteilchen, wie Proton und Neutron. Sie sind ein integraler Bestandteil des sogenannten Standardmodells. Zwischen etwa 1960 und 1970 habe ich Heisenberg oft in Vorträgen und Seminaren erlebt. Er besaß eine intuitive Art vorzutragen, so wie er auch Physik intuitiv verstand. Auch ohne in mathematische Details zu gehen, konnte er zum Kern eines Problems kommen. Er hatte dabei große rhetorische Überzeugungskraft. Als Zuhörer in Vorträgen anderer drang er in der anschließenden Diskussion rasch zum zentralen physikalischen Punkt vor. Sein intuitives Erfassen war kombiniert mit großer Hartnäckigkeit im Umsetzen dessen, was er für richtig hielt. Ich erinnere mich, dass er mich einmal zu sich ins Büro rief. Er hatte die Idee, Photonen aufzufassen als Goldstone­teilchen zu einer spontanen Brechung der Isospininvarianz. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass das nicht sein könne, weil dann die Photonen eine Ladung tragen müssten. Am Ende glaubte

244  Helmut Reeh ich, ich hätte ihn überzeugt. Aber am nächsten Vormittag rief er wieder an, und die Auseinandersetzung begann von neuem. Hochgeehrt starb Werner Heisenberg 1976 nach schwerer Erkrankung. Anmerkungen 1 Weizsäcker, C. F. von, in: Werner Heisenberg in Leipzig 1­ 927–1942. Berlin 1993. S. 9. 2 Wolfgang Pauli: Brief an Ralph Kronig (9.10.1925). In: Ders.: Wissenschaftlicher Briefwechsel. Berlin u. a. 1979 ff.

Literatur Heisenberg, Werner: Gesammelte Werke (Mit Anmerkungen und Kommentaren). Berlin u. a. 1985 ff. Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München 1969. Hermann, Armin: Heisenberg. Reinbek bei Hamburg 1976. Cassidy, David C. / Rechenberg, Helmut: Biographical Data. Werner Heisenberg (1901–1976). In: Werner Heisenberg: Gesammelte Werke. Hrsg. von Walter Blum u. a. Bd. A/1. Berlin u. a. 1985. S. 1–16. Cassidy, David C.: Uncertainty. The Life and Science of Werner Heisenberg. New York 1991. Werner Heisenberg. Physiker und Philosoph. Hrsg. von Bodo Geyer. Heidelberg 1993. Werner Heisenberg in Leipzig 1927–1942. Hrsg. von Christian Kleint. Berlin 1993.

Lucinde Sternberg geb. Worringer »Man darf sich nur nicht entmutigen lassen« von Helga Grebing

Lucinde Sternberg wurde am 29.  März 1918 in Bonn geboren und verbrachte dort ihre Kinderjahre; in Königsberg i. Preußen wuchs sie zu einer jungen Erwachsenen heran; in Düsseldorf, Berlin und Warschau konnte man sie während des Zweiten Weltkriegs als Schauspielerin bewundern; in München erlebte sie erst schwierige Nachkriegsjahre, dann glückliche Zeiten; in Frankfurt am Main verbrachte sie einige Berufsjahre als Verlagslektorin, und in New York eroberte sie sich die andere Welt. Und erst dann wurde Göttingen für mehr als zwei Jahrzehnte der letzte, ein Viertel ihres Lebens umfassende Abschnitt. Am Karfreitag, dem 29. März 1918, ließ die Bonner Malerin Marta Worringer ihrem Mann Wilhelm, dem Kunsthistoriker von internationalen Rang und nunmehrigen Unteroffizier an der Westfront, ein Telegramm schicken: »Sie genas von einem Kinde, genannt Lucinde.« Diesen ungewöhnlichen Namen erhielt die dritte Worringer-Tochter nicht etwa wegen des Reimes, sondern er entsprang literarischer Vergnügtheit. Brigitte (geb. 1908) hatten sie nach Stifter benannt, Renate (geb. 1911) nach Storm, und nun Lucinde – nach Friedrich Schlegels Romanheldin. Der Nachkömmling schielte und hatte krumme Beine, aber die Mutter mutmaßte zu Recht, Lucinde sei die Schlaueste. Und der Vater verkündete schon bald die treffende Umformung des Namens in »Revolucinde«. Lucinde Sternberg hat einmal später in einem Interview gesagt, das Vernünftigste, was sie im Leben getan hätte, sei gewesen, sich diese Eltern auszusuchen. Biographisch lässt sich dies ohne Einschränkungen bestätigen: Die Worringers waren literarisch und künstlerisch hoch kompetent, schon vor 1914 in der klassischen Moderne verankert und in den kurzen Jahren

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der Weimarer Republik deren Kern mit bildend. Es bestanden unzählige intellektuelle Verknüpfungen zur Welt der Kunstgeschichte und Kunsttheorie, der Literaturwissenschaft, Philosophie und Bildenden Kunst, wo Marta zu den bekannteren rheinischen Spätexpressionisten gehörte. Nur einige Namen seien genannt: Heinrich Mann, Thomas Mann, Max Ernst, Sigfried Giedion, Louise Dumont, Martin Buber, Wilhelm Lehmbruck, August Macke. Dieses bildungsbürgerliche Umfeld prägte Kindheit und Jugend von Lucinde mit. Fast könnte man die Sorge haben, sie hätte zu früh zu klug werden können. Aber das passierte nicht, sieht man davon ab, dass sie ziemlich frech war und erst recht nicht auf den Mund gefallen, selbstbewusst, oppositionsfähig und frei denkend, wofür übrigens auch die älteren Schwestern sorgten. Den ersten Test auf Eigenständigkeit hatte Lucinde in Königsberg zu bestehen. An die dortige Universität, an der einst Kant gelehrt hatte,

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war ihr Vater 1928 als Professor berufen worden. Königsberg wurde früh und nachhaltig zur Metropole der NSDAP, und die Worringers entwickelten früher als die meisten Freunde im ›Reich‹ ein starkes Gefühl für die Bedrohung durch den­ Nationalsozialismus. Und so kam dann 1933 alles wie befürchtet: Den Liberalen Wilhelm Worringer rettete nur seine internationale Bekanntheit vor der Zwangsemeritierung. Die Werke von Marta Worringer, die politisch linkskatholisch-sozialdemokratisch orientiert war, wurden zur ›Entarteten Kunst‹ gezählt. Im Verlauf der Nazi-Jahre kamen drei Verwandte ins Konzentrationslager, eine psychisch kranke jüdische Verwandte wurde ermordet. Und Lucinde? 1935 wurde sie ostpreußische Landesmeisterin im Staffellauf und hätte nach Berlin zur Olympiade fahren können. Das jedoch lehnte sie ab. Für die Zulassung zum Abitur 1938 schummelte sie sich am Bund Deutscher Mädchen vorbei und floh nach Düsseldorf zur Schauspielschule, die einst ihre Patentante Louise Dumont gegründet hatte. Die Eignungs­ prüfung hatte sie bereits 1937 abgelegt, und im Juni 1940 schloss sie die Ausbildung »mit gutem Erfolg« ab; die Note wurde ergänzt durch die Bemerkung: »zeigt eine überdurchschnittliche Begabung, die sie auf das Fach jugendliche Liebhaberin und Charakterdarstellerin hinweist«. Das erste Engagement begann dann auch gleich ab September 1940 am Stadttheater Landsberg an der Warthe. Viel folgte dem nicht: Es war Krieg, es kam der ›totale Krieg‹, und die Theater wurden geschlossen. 1942 kam Lucinde ans Deutsche Theater in Warschau, das sich neben der obligatorischen Truppenbetreuung um ein anspruchsvolles Programm bemühte. Hier in Warschau wurde Lucinde Zeugin der Auslöschung des jüdischen Gettos, hier übernahm sie Kurierdienste für eine polnische Widerstandsgruppe nach Berlin, hier konnte sie auf dem schwarzen Markt Lebensmittel für Pakete an die Verwandten im KZ kaufen. 1944, wieder in Berlin, arbeitete sie in einer chemischen Rüstungsfabrik und kochte für die zur Arbeit aus dem KZ Sachsenhausen abgestellten Häftlinge auf dem Bunsenbrenner Essen. Eigentlich war alles, was sie tat oder nicht tat, jenseits der Gebote der NS -Diktatur.

248  Helga Grebing Als der Krieg endlich zu Ende war, war die ›jugendliche Liebhaberin‹ 27 Jahre alt; noch drei Jahre lang hoffte sie, in ihrem Beruf wieder Fuß fassen zu können. Aber dann gab sie es auf. Mehrere Jahre vergeblicher Neuorientierung und mangelhafter Existenzsicherung folgten, wie damals für nicht wenige jüngere Leute, denen das Nazi-Regime, der Krieg und die Nachkriegszeit Jugend und Karriere gestohlen hatte, so dass sie beinahe zu einer verlorenen Generation wurden. Auch persönliche Verbindungen kamen nicht zustande: Ein Freund starb in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, ein anderer kehrte zu seiner Familie zurück, und ein Dritter nahm sich das Leben. Lucinde gelang es dann, als Verlagslektorin und Redakteurin in Verlagen wie Piper, Knaur und Fischer wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Ihr größter Erfolg wurde »Knaurs Jugendlexikon«, ein auflagenstarkes Buch für Jugendliche und deren Eltern, die von den autoritären Formen alter Schule genug hatten. Angekommen in der Wiederaufbaugeneration, wurde für Lucinde erneut Politik zum Lebenselixier, wie schon vor 1933, als die 15-jährige »Reichstagsabgeordnete« als ihren Traumberuf angab. An eine Partei band sie sich jedoch nicht – frei bestimmt wollte sie sein und bleiben. Jedoch gab es eindeutige Bindungen an die einstigen sozialdemokratischen Widerstandskreise in München und mit diesen zusammen das Bemühen, die »Mörder unter uns« zu identifizieren. Damals lernten auch wir uns kennen, sie, die zwölf Jahre ältere Wissende und Aufgeklärte, und ich als Wissbegierige und Auf­k lärungsbedürftige. Doch weit mehr noch ergab sich: Bei Max und Elfriede Mannheimer, zwei stadtbekannten Sozialdemokraten, lernte Lucinde im Dezember 1954 den Publizisten Fritz Sternberg kennen und wurde wie im Handumdrehen seine Lebensgefährtin und Mitarbeiterin. Sternberg, in den 1920er Jahren ein bekannter jüdischer marxistischer Sozialist, musste im März 1933 aus Deutschland flüchten, lebte seit 1939 in den USA und war inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden. Inzwischen vertrat er, ohne Karl Marx zu vergessen, demokratischsozialistische Positionen und gehörte zu den Beratern von Kurt Schumacher, Fritz Erler und Willy Brandt, den er bereits seit 1936 kannte.

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Lucinde war und blieb Sternbergs Partnerin und wurde nicht etwa, wie damals immer noch keineswegs unüblich, seine Sekretärin. Auch in den eineinhalb Jahren in New York 1958/1959 erwies sie sich als seine leidenschaftliche, auch Kontroversen nicht scheuende Diskussionspartnerin. Streit auf einem geho­ benen Niveau war für sie ein wesentliches Erkenntnismittel. Heiraten wollte sie Sternberg zunächst nicht, denn der Name Worringer bedeutete ihr viel. Aber schließlich wurde dann doch aus Lucinde Worringer Frau Sternberg, da es ja auch um ihre Existenzgrundlagen ging. Sternberg hatte durch Rundfunk und Fernsehen ein ausreichend gesichertes Einkommen. Seit Jahrzehnten von labiler Gesundheit, starb er im Oktober 1963, gerade 68 Jahre alt. Nach Sternbergs Tod gründeten wir eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, die es mir ermöglichte, meine Habilitation zügig durchzuführen, und mit mir kam Lucinde Sternberg nach Göttingen, als ich dort 1972 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erhielt. Sie, die sich lieber auf dem grauen Asphalt einer Großstadt bewegte, gelangte nun über Wiesen vorbei an blühenden Gärten in einer halben Stunde in die Mitte der Universitätsstadt. Überraschend schnell und gut arrangierte sie sich mit den neuen Verhältnissen gemäß ihrer Devise, dass der Sinn des Lebens das Leben war. Keine Metaphysik, erst recht nicht irgendwelche Gläubigkeit änderte daran etwas. Komplementär zu dieser Devise galt ihr zweiter Grundsatz »Man darf sich nur nicht entmutigen lassen«. So ausgerüstet, wurde Göttingen ihr Lebenszentrum, selbst die fünf Jahre, die der Abstecher nach Bochum durch meine Berufung an die Ruhr-Universität ihr abverlangte, änderten daran nichts. Es war beschlossene Sache, nach Göttingen zurückzukehren. Und wie schaffte es die kleine Universitätsstadt, die unruhige Erdenbürgerin mit Weltbürgerambitionen an sich zu binden, für sich zu gewinnen? Sie fand Freunde und Freudinnen, ältere, gleichaltrige, jüngere und ganz junge im universitären Umfeld. Da gab es Anfang der 1970er Jahre immer noch genügend Dünkelhaftigkeit und konservative Aufgeblasenheit einerseits und nur scheinbar linkes, studentisches Chaosleben andererseits,

250  Helga Grebing aber auch durch Neuberufungen eine sozialliberale arbeitende Mitte. Einer von Letzteren war Walter Euchner, Sohn eines Widerstandskämpfers, für dessen Unterstützung Sternberg einst im Schweizer Exil zuständig gewesen war. Jüngere Wissenschaftler, die die Göttinger Universität durchliefen, empfanden Lucinde Sternberg als wirklich ungewöhnliche und bemerkenswerte Frau, sahen sich sofort in ihren Bann geschlagen, der Persönlichkeit mit den blitzenden braunen Augen, schlagfertig, argumentationsfreudig, mit großer Menschenkenntnis urteilend, humorvoll und human. Damalige Studenten und vor allem Studentinnen fanden, so sagen sie es heute noch, den Weg zu mir über ›Frau Sternberg‹, und so mancher scheint gelegentliche Lebens- und Arbeitskrisen erst im Gespräch mit ihr überwunden zu haben. Ja, und dann die SPD, in die Lucinde Sternberg dann doch bereits in München eingetreten war. Erst hier in Göttingen fand sie ihr Aktionsfeld, und zwar in so spezifischer Weise, dass sie sich schon mal hinreißen ließ zu der Behauptung »Wir brauchen keine Familie, wir haben Freunde«. Schließlich bekannte sie sogar, die SPD sei »zu ihrer Familie geworden«. Aber es war auch eine besondere SPD, zu der sie passte: die ›Brandt-SPD ‹ mit ihren Göttinger Protagonisten: Inge­ Wettig-Danielmeier, Gerhard Schröder und Thomas Oppermann seien nur genannt; Peter von Oertzen war Kultusminister und A ­ rtur Levi, ein Exilant jüdischer Herkunft, Göttingens Oberbürgermeister. Zu Theater- und Literaturkreisen wurden die Türen weit geöffnet durch Heinz Ludwig Arnold. Aber auch zu den kleinen Leuten fand sie eindrucksvolle Kontakte, so wenn sie z. B. den Pächter des Versammlungsortes der­ Göttinger SPD dazu veranlassen konnte, statt Bier und Korn »extra für Frau Sternberg Rotwein in den Kühlschrank zu stellen«, oder wenn ihr Lieblingsbettler auf der Theaterstraße ihr beim Anstellen nach Rotwein im Apex die Hand auf die Schulter legte mit der Bemerkung »Heute zahle ich«. Lucinde Sternberg war eine Institution in der und für die SPD geworden. Sie übernahm viele Aufgaben, bewusst ohne Funktionärsstatus, war eine seltene, dann aber auffallend gute Rednerin, eine kritische Diskutantin, nicht selten eine gefürchtete Frage­

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stellerin. Ihre Partei ernannte sie zum Mitglied im zentralen Seniorenrat. Die Rückkehr 1994 nach Göttingen geschah ohne Probleme, zumal wir inzwischen ein Reihenhaus besaßen – die eigentumsfeindliche Sozialistin konnte davon überzeugt werden, dass dies durch die sozialdemokratischen Grundwerte legitimiert werden konnte. Es blieben ihr noch vier Jahre. Der Grundsatz, sich nur nicht entmutigen lassen, verlor seine reale Perspektive, denn man musste noch Mut haben, um für ihn kämpfen zu können. Eine andere Einsicht wurde dominant: ein sehr reiches Leben gelebt zu haben, von dem nichts mehr einzufordern sei. Lucinde Sternberg starb am 26. Juli 1998, vier Monate nach ihrem 80. Geburtstag, den wir noch im Deutschen Theater gefeiert hatten. Literatur Schüler-Springorum, Stefanie / Wickert, Christl: »Man darf sich nur nicht entmutigen lassen«. Lucinde Sternberg 1919–1998. Privatdruck 1998. Grebing, Helga: Die Worringers. Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn – Wilhelm und Marta Worringer (1881–1965). Berlin 2004. Grebing, Helga: Freiheit, die ich meinte. Erinnerungen an Berlin. Berlin 2012.

Jochen Brandi Eine Architektin und ein Kunsthistoriker erinnern sich im Gespräch an den Göttinger Architekten von Susanne Arndt und Karl Arndt Es gilt Begeisterung zu wecken, denn Begeisterung ist das, was wir am meisten benötigen – für uns und für die jüngeren Generationen. Pablo Picasso

Susanne Arndt: Einen Text über einen Lehrer und Mentor schreiben, heißt ganz andere Dinge in den Vordergrund zu stellen, als es gemeinhin vielleicht von Interesse ist: Persönliches stärker als Sachliches, gewonnene Erkenntnisse eher als realisierte Gebäude, die uns als gebaute Referenzen vor Augen s­ tehen. Bei Jochen Brandi aber scheint mir hier gar kein Spagat nötig: Für ihn war die Arbeit eine emotionale Angelegenheit, Ideen galten ihm sehr viel – manchmal sogar mehr als realisierte Architektur. Es ging ihm um Impulse, eher noch als um gebaute Projekte. Beispielhaft mag hierfür die Göttinger Lokhalle hervorge­ hoben sein. Für viele steht Brandis Name in engem Zusammenhang mit dem Erhalt dieses Industriebaus auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks. Heute ist das Gebäude in der Stadt unumstrittenen, bei dem Brandi nie als bauender Architekt tätig werden konnte, umso mehr aber als visionärer Planer. Meine erste Begegnung mit der Lokhalle fand schon weit vor Beginn meiner Ausbildung als Bauzeichnerin bei Jochen Brandi statt – ich muss damals etwa sechs Jahre alt gewesen sein, als du das Gebäude besucht und mich mitgenommen hast. Die Dimensionen des Baus waren – vor allem für mich als kleines Kind  – so beeindruckend, dass es mir noch bis in kleine Details sehr genau erinnerlich ist. Über den Anlass dieser Ent-

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deckungsreise wusste ich damals natürlich nichts  – oder das wurde einfach überblendet vom Erlebten. Aber es war doch so, dass du die Lokhalle auch erst durch­ Jochen Brandi entdeckt hast, oder? Karl Arndt: So ist es. Und es gab auch andere, die damals auf diesen Fall aufmerksam geworden waren: Es war tatsächlich so, dass die Lokhalle – obwohl so dicht am Stadtzentrum – wenig bekannt war und kaum wahrgenommen wurde. Ihre Bedeutung ist auch mir erst 1979 durch Brandis Überlegungen klargeworden: Zum einen stellte sie für ihn die Anbindung der Innenstadt an den Grünraum Leineaue dar, den er damals auch als Gelände für eine Bundesgartenschau untersuchte, zum anderen sah er sie im engen Zusammenhang mit der Anbindung der Weststadt. Susanne Arndt: Das Thema hat Brandi ja über 30 Jahre später, im Jahr 2002, noch mal aufgegriffen: Die Gesellschaft für Wirtschaftsförderung und Stadtentwicklung Göttingen (GWG) mit dem damaligen Geschäftsführer Klaus Hoffmann gab eine Studie in Auftrag, die die Entwicklungspotentiale der LokhallenWestseite untersuchen sollte. Wieder schlug Jochen Brandi eine Verknüpfung der beiden Stadtteile vor – mit einer grünen Mitte als Bindeglied. Leider konnte weder eine solche Anbindung noch der im Zuge der Planungsrecherchen damals wiederentdeckte Park in der Leineaue (Westpark) realisiert werden. Aber: Wie nachhaltig seine Ideen waren, wie gültig sie noch heute sind, zeigt das aktuell vom hannoverschen ArchitektenBüro Spalink-Sievers vorgelegte und wiederum durch die GWG beauftragte Freiraumkonzept für dieses Areal, denn vieles von dem damals Angedachten findet sich hier wieder. Karl Arndt: Damals reichten Brandis Betrachtungen ja noch wesentlich weiter: vom Kiessee im Süden, den Fluss entlang durch die Leineauen bis zum Maschpark. Aber neben den stadträumlichen Gedanken hatte er auch sehr konkrete Nutzungsvorschläge für die Lokhalle entwickelt. Sekundiert z. T. von Arbeiten seines Bruders, des Künstlers und Grafikers Uwe

254  Susanne Arndt und Karl Arndt

Brandi, die das streng Gedachte frei umspielten, waren Ende der 1970er Jahre überdachte Spiellandschaften, Verkaufsbasare und Orte für Massenveranstaltungen seine Ideen für diesen städtischen Bereich. Auch Altenarbeit, Theater oder Kunstmarkt sah er hier, ein Überwinterungsquartier für Zirkusse und einen Aufführungsort für die Händelfestspiele. Er zeichnete ein Zusammenspiel von temporären und dauerhaften, kommunikativen und kommerziellen Nutzungen und sah damit schon 1979 ganz klar die Anziehungskraft und Ausstrahlung des Gebäudes. Nach diesem ersten »freiwilligen Beitrag zur Stadtentwicklung«, den der Bund Deutscher Architekten (BDA) 1982 mit einem 1. Preis würdigte, entstand dann tatsächlich die notwendige und von Brandi so sehr erhoffte öffentliche Diskussion zum Erhalt der Lokhalle. Drei Jahre später, im Dezember 1983, wurde die Halle zum Baudenkmal erklärt. Ein erstes Etappenziel war

Jochen Brandi 255

erreicht – aber es war allen Beteiligten klar, dass nur eine tragfähige Nutzung die nachhaltige Rettung des Gebäudes bedeuten konnte. Susanne Arndt: Ich erinnere mich an verschiedene Vorschläge von unterschiedlichsten Seiten. Teils utopische, teils sehr konkrete Pläne wurden entwickelt und wieder verworfen. Zum Beispiel kommt mir ein Treffen des Forums für Wissenschaft und Technik in den Sinn, das ich als Auszubildende belauschen konnte. Es muss 1993/1994 gewesen sein, und es lag aktuell der Masterplan des amerikanischen Büros Moore, Ruble, Yudell über die Bebauung des Lokhallenumfeldes vor. Gerade die gewünschte soziologische Funktion fand Brandi hier nicht vor – der von ihm wesentlich größer ausgestaltete Westeingang des Bahnhofs, die Querung der Halle selbst wie auch die Turm­ brücke über die Bahnhofshalle als Verbindung zur Lokrichthalle fehlten in dieser Planung. Jochen Brandi konzentrierte sich jetzt auf die Fragen der Nutzung des Baus und verfolgte mit Hilfe eines eigens gegründeten Vereins das Ziel, Wissenschaft und Technik in Deutschland zu fördern. Mit der Lokhalle sollte eine national bedeutsame Begegnungsstätte am Standort Göttingen geschaffen werden: zur Förderung der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Wirtschaft – die Lokhalle als Experimentierfeld. Wie ich schon damals fand, eine sehr verheißungsvolle Idee, und so glücklich uns die heutige Nutzung der Halle machen kann: Um manchen auf dem Weg verlorenen Gedanken bis zum inzwischen erreichten Ziel ist es sicher schade. Rückblickend bewundert man die Geduld Jochen Brandis, der nie aufhörte, sich zu engagieren, und damit eine vorbildliche Treue zur Sache vorlebte. Getragen von einer Begeisterungsfähigkeit, die weder zeitliche noch räumliche Grenzen anerkannte, und geleitet von der übergreifenden Idee. Wenn man seine anderen Projekte betrachtet, dann kann man, im Kleinen wie im Großen, eigentlich immer wieder diesen umfassenden Ansatz entdecken. Ein weiteres schönes Beispiel aus Göttingen: Ist nicht gleich hinter dem Theater das kleine Tor mit der Stufenanlage zum Arboretum des Botani­

256  Susanne Arndt und Karl Arndt schen Gartens durch Jochen Brandis Gedanken an eine hier denkbare Naturbühne begründet? Karl Arndt: Ja, von dieser Idee schwärmte er! Mit leuchtenden Augen sah er dort die »Böhmischen Wälder« mit Schillers Räubern vor sich – und dabei war dieser Concetto, mit dem er die eigentlich disparaten Wirklichkeitsbereiche von Theater und Botanischem Garten miteinander in Verbindung bringt, sicher nicht explizit im Planungsauftrag zur Erweiterung des Theaters enthalten. Das gilt auch für andere Details des umgesetzten TheaterEntwurfes: Obwohl heute meistens nur die damals geforderten ergänzenden Baukörper  – und hier insbesondere der gläserne Anbau an das Theater – mit Jochen Brandi in Verbindung gebracht werden, so ging seine Arbeit ja viel weiter. Er erweiterte das vorgegebene Raumprogramm um die beiden kleineren Bühnen DT Studio und DT Keller und ermöglichte damit ganz neue Spielformen, die in der ursprünglichen Planung mit alleiniger Guckkastenbühne nicht möglich gewesen wären. Im ursprünglichen Hinterhof entstand dann zusätzlich ein von Gebäuden und Natur begrenzter Platz, der sich räumlich in den Botanischen Garten erweitern und der über die erträumte Freilichtbühne an der alten Stadtmauer für die Öffentlichkeit erschlossen werden sollte. Brandi betrachtete hier tatsächlich nicht nur die ursprünglich formulierte Bauaufgabe, sondern hinterfragte sie. Und: Er stellte sie in den stadträumlichen Kontext, erforschte und entdeckte dessen Charakter. Er besaß ein ausgeprägtes Interesse für Städtebau, ein ausgreifendes stadt- und naturräumliches Denken, und ich bin sicher, dass das Reflektieren des Großen auch aus der Begeisterung für das Kleine, das Einzelne rührte – wie auch umgekehrt. Ich habe das immer als außergewöhnlich und vor allem in der Zusammenarbeit mit ihm als sehr bereichernd empfunden: Zum Beispiel hat Brandi sich schon kurz nach der Wende mit weitläufigen stadträumlichen Problemen Dresdens herumgeschlagen und nach Lösungen gesucht, die den vorauszusehenden Umfang wachsender städtischer Wohnbedürfnisse in möglichst idealer Weise würden auffangen können. Das bedeutete

Jochen Brandi 257

konkret: Den sich unmittelbar nach Westen hin an die Altstadt als Ostragehege bekannten anschließenden Landschaftsraum konsequent als Wohnbereich aufzuschließen, also zu verhindern, dass dieser Bereich nach und nach an eher planlos zu nennende Nutzungen verloren würde. Bei diesen Bemühungen erhoffte Brandi sich von mir ein stadthistorisches Mitdenken. Das versuchte ich gern zu geben, denn ich sah hier die Möglichkeit, eine Stadt gewissermaßen mit vier Augen, mit denen eines Architekten und denen eines Kunsthistorikers, zu überdenken. Ich wurde, mit anderen Worten, noch einmal zum Schüler, und das sollte sich in den folgenden Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 2005 wiederholen. So ergab sich eine wunderbare Zusammenarbeit zwischen Jochen und mir im Hinblick auf einen leider offen gebliebenen Wettbewerb um das Reichsparteitagsgelände der NSDAP in Nürnberg. Diese Zeit hatte mich als eine Periode geradezu gewalttätigen politischen Planens schon länger beschäftigt. Nun konnte ich mein Wissen im Zusammenhang mit einem Architekturwettbewerb einbringen, den die Stadt Nürnberg 2001 ausgeschrieben hatte. Das war wiederum und nicht zum letzten Mal eine Möglichkeit, reichlich zu lernen, so wie es wenig später auch im Zusammenhang mit der Entwurfsarbeit zum Areal des NSDAP-Gauforums Weimar noch einmal geschah. Susanne Arndt: Wettbewerbe waren – so glaube ich auch ganz sicher  – für Jochen Brandi immer die schönste aller Bauauf­ ga­ben. Befreit von den Zwängen der Terminkoordination, der Kostenkontrolle, von baukonstruktiven oder technischen Grenzen, stellen sie entwerferisch die Kür dar. Und hier waren es vor allem die städtebaulichen Wettbewerbe, in denen er den Raum für seine gedanklichen Ansätze fand und auch bewies, wie präzise er das Wesen eines Ortes erfassen konnte und zum Teil vergessene Potentiale wiederentdeckte. Ich erinnere mich an einen Morgen im Herbst 2003, als wir gegen neun Uhr ins Büro kamen und mit der Arbeit am weltweit ausgeschriebenen Wettbewerb für das neue Handels-, Kultur- und Verwaltungszentrum im Osten Moskaus beginnen wollten. Jochen Brandi hatte die ganze Nacht durchgezeich-

258  Susanne Arndt und Karl Arndt net und einen vollständigen Masterplan für ein ganzes StadtQuartier erdacht. In der Besprechung des Projektes führte er uns – einem Stadtführer gleich – durch die geschaffenen Straßen, beschrieb Blickbezüge, eröffnete Perspektiven. Das Ganze so intensiv, dass wir alle nach kurzer Zeit diesen nur in Brandis Kopf existenten, ungebauten Ort intensiv kennengelernt hatten und mit dem Aufzeichnen dieser Gedanken beginnen konnten. Er hatte sich in seiner Arbeit nicht auf einen Gebäudekomplex beschränkt, sondern für diesen eine Umgebung geschaffen und erreicht, dass aus einem Bauplatz ein Lebensraum wurde. So hatte Brandi nur zwei Jahre zuvor in Izmir mit einem ebenfalls sehr weit gedachten Ansatz den 1. Preis in einem Städtebaulichen Wettbewerb für das neue Zentrum der türkischen Küstenstadt gewonnen. Der Beitrag war stark geprägt durch die umgebende Landschaft und die Geschichte des Ortes. Sein Entwurf bezeugt einen tiefen Respekt und eine Liebe zum Ort, sowohl auf seine Vergangenheit bezogen wie auch auf seine­ Zukunft. Jochen Brandi, der 1933 als Sohn des Architekten Diez Brandi geboren wurde, hatte in Karlsruhe bei Egon Eiermann Architektur studiert, und obwohl sein Lehrer ihn immer aufforderte, keinen Bezug auf die umgebende Stadtlandschaft und den historischen Kontext zu nehmen, war genau dies oft der Ausgangspunkt für Brandis Entwürfe, die vielfach national wie auch international mit Preisen ausgezeichnet wurden. Möglicherweise war es das Erbe seines Großvaters, des berühmten Historikers Karl Brandi, dass er in seiner Arbeit, die Bauten für Wohnen sowie Gewerbe und Industrie wie auch für Kultur und Bildung umfasste, immer wieder nach dem geschichtlichen oder topographischen Zusammenhang suchte. Diese Auffassung seiner Arbeit weiterzugeben, war Jochen Brandi ein großes Anliegen. Und es gelang ihm – wie viele Wegbegleiter bezeugen können – nicht zuletzt wegen seiner so sehr begeisternden Art, dies zu vermitteln.

Robert Gernhardt Reminiszenzen – erinnerte Glücks-Momente von F. W. Bernstein

Robert Gernhardt schreibt über unser beider Lebensläufe: »Zunächst waren wir denn auch nichts als Kunststudenten, doch dann, Anfang der 1960er, nach in Stuttgart abgelegter Kunsterzieherprüfung und erneutem Berlinaufenthalt – in einem geschockten Berlin nach dem Mauerbau –, begann ein Comingout, und was da rauswollte, war so etwas wie eine Vis comica, eine komische Kraft, die auf Picasso – Schmicasso ebenso pfiff wie auf Wirklichkeit – Schnirklichkeit«.1 Studium in Berlin an der FU; als Beifach zur Kunsterziehung: Germanistik – die Referate waren Stoff für Parodien, die später in Frankfurt mit F. K. Waechter in »Die Wahrheit über Arnhold Hau« zum Druck befördert wurden, eine Überfluss- und Überdruss-Produktion. Sorglose und ungestörte Studien  – ergiebig für die Produktion von Belachbarem; doch Erinnerungs-Collagen ergeben keine Biographie-Struktur; es sind erinnerte Glücks-Momente. Roberts Karriere als freier Schreiber und Zeichner beginnt 1966; auch F. K. Waechter hört auf bei »Pardon« – ich geh in Frankfurt a/M in den Schuldienst und liefere meine Texte ›nebenher‹. Frankfurt in den 1960er Jahren, wenn Robert und ich Heimaturlaub hatten, und oft am Fahrkartenschalter am Hauptbahnhof standen: Robert brauchte eine Rückfahrkarte nach Göttingen, ich eine nach Göppingen – manchmal kam’s zu Verwechslungen der beiden ›GÖ ‹; auf unsere Reklamation hin erfuhren wir nur: Es gibt rein bahnmäßig keinen Unterschied zwischen Göppingen und Göttingen. Beide ›GÖs‹ sind exakt 249 km von Frankfurt entfernt! Unbesorgt konnte ich ab 1972 mit meiner Göppingenfahrkarte nach Göttingen fahren: Ich hatte einen Job als Assistent

260  F. W. Bernstein an der Pädagogischen Hochschule. Robert war häufig in Göttingen bei seiner Mutter. Ihr ist eines seiner typischen Gedichte gewidmet:2 ZUM MUTTERTAG

Ein Liedfragment

Mama – kein einziges Wort auf der Welt das so viele Ma’s enthält wie Mama. Ja – Kaktushecke hat mehr Ka’s Braunbärbabies hat mehr Be’s Erdbeerbecher hat mehr E’s Schamhaaransatz hat mehr A’s Aber Ma’s? Koblenz hat keine Ma München hat so gut wie keine Ma Mannheim hat nur eine Ma doch welche Stadt hat zwei Ma? Na? Göttingen Ja! Denn dort wohnt meine Mama.

Ja! Robert und ich treffen uns auf Feld-, Wald- und Wiesen­ gängen, wandern zur Plesse, zu den Gleichen, Schloss Berlepsch, zum Brotmuseum in Mollenfelde, fuhren zur Fähre nach Hemeln, stiegen auf den Bismarckturm. Auch das ›Elefantenklo‹ war ein beliebtes Ziel für Spaziergänge, »das eigentlich ein Wahrzeichen war und ›Bismarckstein‹ hieß«.3 Doch mehr als die freundlichen niedersächsischen Gegenden sind’s Autoren und Bücher  – Robert war ein großer Entdecker, der die Produktion anregte; Literatur kam auch bei ihm mehr aus Büchern als aus der Natur. Schon in Berlin sind’s die »Sudelbücher« des Göttinger Professors Lichtenberg, Robert wird später, 1999, zum 200. Todestag von Lichtenberg, 99 Sprüche illustrieren, und auch in Kursen mit Lichtenberg-Zitaten­ arbeiten.

Robert Gernhardt 261

Mehr noch als die Kurztexte des »Sudelbuch«-Autors regen ihn die Göttingen-Beschimpfungen Heinrich Heines in dessen »Harzreise« an – ein eigener Band mit Göttingen-Satiren, »Gernhardts Göttingen«, kommt später, 1997. In dem Band zieht er in Gedichten über »Die Göttinger Sieben Bausünden« her:4 Prolog Im Bombenkrieg blieb nicht viel heil, nur Göttingen bekam kein Teil. Woraus man dort geschlossen hat: Dann machen wir uns selber platt. Bausünden sind ein mildes Wort für kalt geplanten Altstadtmord. In Wort und Bild sind Stücker sieben hier aufgezeigt und aufgeschrieben. 1. Carré, vormals Hertie Hier stand die barocke Reithalle einst. Sie mußte dem Fortschritt weichen. Der kam zwar als Totgeburt zur Welt und geht doch seither über Leichen. 2. Stadtbad Der Vorgängerbau war ein Jugendstilbad, sehr schön, sehr rar, sehr eigen. Das brachte der Durchschnitt auf sein Niveau, anno sechzig. Der Rest ist Schweigen. 3. Petrosilienstraße Hier stand mal was, das »Neustadt« hieß und dennoch Altstadt war. Der Bagger machte alles neu, die Raffgier alles klar. 4. Neues Rathaus Ein finstre Burg ist unser Rathaus, sieht so gefängnismäßig fad aus, als sei sogar dem Magistrat klar, daß dieser Trumm ’ne Missetat war.

262  F. W. Bernstein 5. Karstadt am Markt Wer diese blinden Wände schuf? Ein Architekt von Rang und Ruf. Sie sehend denke ich: Das Schwein muss selber blind gewesen sein. 6. Deutsche Bank Vor die Kirche, hoch und schlank, schiebt sich breit und dreist die Bank, damit Heide als auch Christ schaun: Großes Geld darf großen Mist baun. 7. Groner Straße 6 Wem hier die alten, guterhaltnen Fachwerkbauten Zins und Rendite derart nachhaltig versauten, daß er genervt den Bagger rief? Wer will das wissen? Hier hat nicht einer be-, hier hat die Stadt verschissen. Epilog Fünfzig Jahr, daß ich Göttingen kenne. Ich hab all den Wandel gesehn, doch nie hört’ ich ein Wort des Bedauerns über das, was der Altstadt geschehn. Das meint: Ein Bedauern der Täter. Die verzehrn heute ihre Pensionen, weithin leuchtende Beispiele dafür, dass sich Verbrechen doch lohnen.

Gernhardt hat am selben Tag wie Heine Geburtstag. 1997 zu Roberts 60. wird Heine 200, und die FAZ spendiert dem Jüngeren eine Seite für dessen lyrische Heine-Variationen. In dieser Zeit erhält Robert den »Göttinger Elch«, den Satire-Preis: Feier im Deutschen Theater, Ausstellung im Alten Rathaus. Noch eins: Robert referiert: »[…] Bernstein und ich saßen immer noch zusammen, nun weniger zeichnend, häufiger dichtend, so häufig, daß sich ein Gedichtband füllte, ›Besternte Ernte‹«.5 Wie für viele war Göttingen für Gernhardt nur eine Durchgangsstation. Am 13.  Dezember 1937 kam er in Reval (heute­ Tallinn) zur Welt; der Vater war dort ein Richter deutsch-balti-

Robert Gernhardt 263

scher Herkunft. Seine Mutter flüchtete 1947 mit Robert und den anderen beiden Söhnen nach Göttingen, denn dort lebte ihr Bruder. Anfangs konnte Robert nicht gleich eingeschult werden, weil seine Aussprache noch zu baltisch geprägt war. Doch bald schaffte der intelligente Junge die Aufnahmeprüfung an der ­Felix-Klein-Oberschule (heute Gymnasium). Die Schulzeit durchlief er fix und legte 1956 die Abiturprüfung ab.6 Über seine Schulzeit schreibt Gernhardt einen längeren Text, denn er war eingeladen worden, für die Festschrift anlässlich des Schuljubiläums 1990 seine Erinnerungen zu formulieren. In dieser Reminiszenz lässt er seine Lehrer Revue passieren: Mittelstedt (der im nicht begreifenden Schüler einen verstockten Sünder sieht), Hanner (den Feuerzangen-Pauker), die Englischlehrer Biesterfeld, Flock und Kauenhoven – Letzterer, der bei Klassenarbeiten niemals aufpasste, ob abgeschrieben wurde, beschäftigte die Phantasie der Schüler, auch weil er stets »elegant«, nämlich mit Fliege gekleidet war und angeblich eine Sammlung moderner Graphik besaß. Dann Kampe mit seinem Lateinunterricht, fast auf Universitätsniveau. Besonders der Deutschlehrer Kraus, der mit seinen Denk- und Verhaltensstrukturen immer noch den Werten seiner Jugend verhaftet war, bekommt sein Fett weg. Autoren wie Brecht und ­Tucholsky kommen in seinem Unterricht nicht vor – schlicht weil sie nicht auf dem Lehrplan stehen. »Der Nationalsozialismus war kein Thema«, schreibt Gernhardt über seine Schulzeit am FelixKlein-Gymnasium, »doch wir Schüler wußten von Lehrern, die Nazis gewesen waren und 45 ihre Überzeugungen problemlos mit dem Europa-Gedanken, Adenauer-­Bewunderung und einer die ›Masse‹ oder ›Menge‹ verachtenden Kulturkritik verbanden. […] Vom Geschichtslehrer Kaiser erfuhren wir viel über die Schandtaten der Briten während des Burenkrieges, damit war auch das Thema Konzentrationslager ab­gehandelt.«7 Diese angeforderten Erinnerungen an die Göttinger Schulzeit sind erstaunlicherweise nicht in die Jubiläumsfestschrift des FelixKlein-Gymnasiums eingeflossen! Besonders Tucholsky hatte es dem jungen Gernhardt und gleichgesinnten Freunden angetan; sie hängen Zettel mit Zitaten des Schriftstellers an das Schwarze Brett im Klassenraum,

264  F. W. Bernstein

gerne solche mit Texten gegen die Studentenverbindungen, die ihnen ihr Geschichts- und Religionslehrer Hanner immer wieder schmackhaft machen wollte. Tucholsky blieb auch später ein bewundertes Vorbild­ Gernhardts. In zwei satirischen Schilderungen zeigt sich das: Gernhardt nimmt in eigener Sache die Gepflogenheiten bio­ graphischen Schreibens aufs Korn und beschreibt, dass sich bedeutende Menschen stets gerne in seinem Dunstkreis aufhalten. So auch Grass, der Gernhardt offenbar geradezu verfolgt – dieser Gedanke drängt sich auf bei zufälligen Zusammentreffen auf Bahnhöfen und einsamen Spaziergängen.8 Grass hatte seinerzeit noch nicht den Nobelpreis erhalten. Werner Heisenberg dagegen schon, »der extra in die Göttinger Felix-Klein-Oberschule kam, um mich in der Schulaufführung des Stückes ›Diener zweier Herren‹ die herrliche Figur des Pantalone spielen zu sehen. Ich weiß das, weil Heisenbergs Sohn, der in meine Klasse

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ging und während derselben Aufführung Geige spielte, vor der Premiere auf einen runden Herren in einer der ersten Reihen deutete und sagte: ›Mein Vater.‹«9 Nach einem Studium der Malerei und Germanistik in Stuttgart und Berlin kam Gernhardt dann nach Frankfurt, wo er in den folgenden Jahren »zu dem wurde, als der er heute bekannt ist: Hauptfigur der sogenannten Frankfurter Schule für Hochkomik, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift ›pardon‹ und Mitbegründer der ›titanic‹, der Romancier, Lyriker, Dramatiker, Cartoonist, Maler […]. Gernhardt-Reime wurden vom Volksmund in dessen Fundus aufgenommen, wurden Schullektüre, sind aus keiner Anthologie wegzudenken.«10 Eine Ausgabe sämtlicher Gedichte 1954–1994 belegt, dass Robert Gernhardt spätestens 1996 im kanonischen Himmel angekommen ist. Gernhardts gedrucktes Werk ist aber nach seinem Tod am 30. Juni 2006 noch längst nicht abgeschlossen – schon zu Lebzeiten wird er ›marbachisiert‹. Im Literaturarchiv Marbach werden u. a. über 500 Skizzen- und Notizhefte ausgewertet, seine »Brunnenhefte«. Da steht uns noch viel bevor, zu allem, was wir schon im Regal haben. Und dass er in vielen Medien ein großer Teamworker war – wir wissen es. »Ob dermaleinst ein Stückchen Natur auch an mein Erdenwallen erinnern und Spätgeborene zum Gedenken, zur Nachfolge gar bewegen würde?«, fragte sich Robert Gernhardt. »Würde es wenigstens zu einer Gernhardt-Quelle reichen? Zu einer Gernhardt-Linde?«11 Der Kragenbär weiß es besser. Anmerkungen 1 F. W. Bernstein: Luscht und Geischt. S. 103. 2 Robert Gernhardt: Zum Muttertag. Aus: ders.: Wörtersee. © Robert Gernhardt 1981. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 3 Robert Gernhardt: Die Göttinger Sieben Bausünden. © Robert Gernhardt 1997. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. 4 Gernhard, Robert: Gernhardts Göttingen. S. 87–91. 5 F. W. Bernstein: Luscht und Geischt. S. 105. 6 Vgl. Thomas Schaefer: Nachwort. In: Robert Gernhardt: Gernhardts Göttingen. S. 97–98. 7 Gernhardt, Robert: Gernhardts Göttingen. S. 19.

266  F. W. Bernstein 8 Gernhardt, Robert: Ich über mich. S. 155. 9 Ebd. S. 156. 10 Schaefer, Thomas: Nachwort. In: Robert Gernhardt: Gernhardts Göttingen. S. 97–98. 11 Gernhardt, Robert: Wege zum Ruhm. S. 171.

Literatur F. W. Bernstein / Gernhardt, Robert: Besternte Ernte. Frankfurt 1976. F. W. Bernstein: Luscht und Geischt. Hrsg von Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer. Frankfurt 2007. Gernhardt, Robert: Ich über mich. In: Letzte Ölung. Ausgesuchte Satiren. 1962–1984. Zürich 1984. S. 154–156. Gernhardt, Robert: Wege zum Ruhm. Zürich 1995. Gernhardt, Robert: Gedichte. Zürich 1996. Gernhardt, Robert: Gernhardts Göttingen. Hrsg. von Thomas Schaefer. Göttingen 1997.

Heinz Ludwig Arnold, Freund der Dichter von Thedel v. Wallmoden

So ist es früher nicht selten vorgekommen und so geschieht es vielleicht noch heute: Von der Familie zum ungeliebten Studium an einer renommierten Universität gedrängt, suchen junge Menschen in einer intellektuell anregenden Atmosphäre einen Ausweg aus dem vorgezeichneten Karriereplan und finden abseits der fremdbestimmten Wege ihren Lebensort. Auch der Weg von Heinz Ludwig Arnold, den seine Freunde Lutz nannten, beginnt damit, dass er sich in die Büsche schlägt. Als Sohn eines Bundesanwalts scheint dem am 29. April 1940 in Essen geborenen Lutz Arnold eine Juristenlaufbahn in den Fußstapfen des Vaters vorbestimmt. Danach sieht es zunächst auch aus, als er im Oktober 1961 zum Jurastudium nach Göttingen kommt. Allerdings ist er zu diesem Zeitpunkt schon für die Juristerei verloren, denn unter dem Einfluss eines bewunderten Deutschlehrers – auch das kommt vor – hat er sich längst der Literatur verschrieben. Eine Schülerzeitung und erste zaghaft tastende Briefe an den auch von seinem Lehrer verehrten Ernst Jünger sind der Anfang. Eine folgenreiche Annäherung, denn Jünger wird für den Abiturienten zum Ratund Stichwortgeber. Soll man, so fragt er ausgerechnet Jünger, den hochdekorierten Frontoffizier schon im Ersten Weltkrieg, in dieser Zeit den Dienst in der erst vor fünf Jahren gegründeten Bundeswehr leisten? Natürlich soll man, antwortet Frau Jünger. Und so entsteht ein Kontakt, der dann in die Stellung des Secretarius, eigentlich mehr ein Ferienjob, mündet. Arnold ist nun häufig bei den Jüngers in Wilflingen, erledigt Korrespondenz für den »Chef«, formuliert kecke Antwortschreiben an Kritiker, die sich zu Widerworten erdreistet haben, und legt eine Registratur an, die bis heute Jüngers Korrespondenz im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erschließt. Durch

268  Thedel v. Wallmoden Jünger kommt er auch mit dem Kommunisten Richard Scheringer in Kontakt, den damals bereits der Verfassungsschutz observiert. Der Vater in Karlsruhe ist über diese ›Umtriebe‹ entsetzt. Aber das ist erst der Anfang, denn in Göttingen gründet Arnold nach wenigen lustlosen Jurasemestern nun eine Lite­raturzeitschrift. Ausgerechnet spendable Freunde von Ernst Jünger sind es, die ihm den Start dieser studentischen Unternehmung ermöglichen, und es ist ausgerechnet Günter Grass, dem 1963 das erste Heft von »text + kritik« gewidmet ist. In Wilflingen ist man nicht gerade begeistert, und die Beziehung kühlt merklich ab. Zum Bruch kommt es aber erst später, der dann auch von Arnold in dem Essay »Krieger, Waldgänger, Anarch  – Versuch über Ernst Jünger« (1990) ausbuchstabiert wird. In den kurz vor seinem Tod als Manuskript abgeschlossenen »Wilflinger Erinnerungen« (2012) wird die Begegnung mit Jünger dann aus der Distanz vieler Jahre einerseits mit dem nötigen intellektuellen Abstand, zugleich aber auch mit einem versöhnlichen und versöhnten Blick auf die eigenen Anfänge abgeschlossen. Die Freundschaft mit Autoren, das Miteinander in Gespräch und Kontroverse sind für Lutz Arnold von Anbeginn Reiz und Motor seiner Interessen und Aktivitäten. Obwohl »text + kritik« sich bald zu einer der erfolgreichsten und noch heute anerkanntesten Literaturzeitschriften entwickelt, die ab 1969 im Münchner Verlag edition text + kritik erscheint, sind es die Autorinnen und Autoren, die Menschen hinter den Texten, die Arnold interessieren. Mit Autoren, deren Werke ihn faszinieren, sucht er das Gespräch, will sie kennenlernen und schließt lebenslange Freundschaften. Und in dieser Gemengelage aus Lust am Text, Lust am Gespräch und Neugier auf die Autoren als Menschen entwickelt Arnold ausgearbeitete, klug komponierte Interviews und zeichnet diese Gespräche mit dem Tonband auf. Die »Gespräche mit Schriftstellern« werden im Rundfunk gesendet und finden große Resonanz. Dass es damals Rundfunk von solcher Qua­ lität gab, kann man sich angesichts infantilisierter und intellektuell absterbender öffentlich-rechtlicher Medien heute kaum noch vorstellen.

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Mit sicherem Gespür für Rang und Qualität erschließt ­Arnold die zeitgenössische Literatur und führt hier in Werke ein, die zu diesem Zeitpunkt noch kein Gegenstand der Literaturwissenschaft sind. Böll, Frisch, Grass, Handke, Heißenbüttel, Rühmkorf, Walser – man kann angesichts des allgegenwärtigen Talkgebrabbels nur staunen, dass es diese literarische Kunstform des Autorengesprächs einmal gab. Aber zum Glück kann man es in einer eindrucksvollen CD -Edition von mehr als 60 Stunden nachhören und in Büchern noch immer nachlesen. Als enthusiastischer Leser stellt Lutz Arnold fast 50 Jahre lang seine Begeisterung und seinen oft erstaunlich pragma­ tischen Ideenreichtum in den Dienst der Literaturvermittlung. Er will teilen und mitteilen, wovon er als Leser begeistert ist. Zugänge und Einstiege in komplexe Werke und Textentwicklungen will er bieten, und er will dies umfassend und aktuell tun. Was liegt für einen davongelaufenen Juristen näher,

270  Thedel v. Wallmoden als die Idee einer Loseblattsammlung nicht für Gesetzestexte und Kommentare, sondern für die Autorinnen und Autoren der Gegenwart aufzubauen? Ein permanent sich aktualisierendes Kompendium von Einführung, kritischer Darstellung, Werkbibliographie und Dokumenten der literarischen Wirkung. So entsteht seit 1978 in leuchtend roten Ringordnern das »Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartslite­ ratur« (KLG) als Loseblattsammlung. Dieses Lexikon ist eine publizistische Erfolgsgeschichte ohnegleichen. Keine öffentliche Bibliothek, keine Zeitungsredaktion, kein Theater und keine Handbibliothek eines Literaturkritikers, die seit den achtziger Jahren ohne das KLG auskommt. In den besten Zeiten erhalten 13.000 Abonnenten jährlich vier Lieferungen des Lexikons mit jeweils mehr als 100 Blatt an aktuellsten Informationen. Und weil es so gut ankommt und von Arnold als rührigem und effizientem Herausgeber auf hohen Touren angetrieben wird, folgt 1983, diesmal in leuchtend blauen Ringordnern, dann auch das »Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur« (KLfG), ebenfalls als Loseblattsammlung, und auch das wird ein Erfolg und ist über mehr als zwei Jahrzehnte eines der wichtigsten Literaturlexika im deutschen Sprachraum. Mit der Zeitschrift »text + kritik«, mit den beiden Lexika KLG und KLfG spannt Lutz Arnold nun über Jahrzehnte ein Netzwerk von Autorenbeziehungen und Redaktionskontakten. Kommunikatives Zentrum ist einerseits das Büro im Göttinger Tuckermannweg. Eine ganze Regalwand, gefüllt mit den Belegexemplaren seiner Publikationen und der von ihm herausgegebenen Bücher, steht dort. Aus dem Fenster bietet sich ein weiter Blick nach Süden über das Leinetal und bis zum Hohen Meißner. Ebenso ist es der schrundige gemütliche Esstisch in der Wohnung, von dem aus die Gedanken und Gespräche in Bücher, Lexikonartikel, Zeitungsrezensionen oder Rundfunkfeatures münden. An diesem Tisch konkurriert die Kunst der Literaturkritik nur mit dem Geist der Kochkunst. Wen Lutz Arnold jemals an seine Tafel gezogen hat, der ist für alle Zeit dem Gesamtkunstwerk des Literaturgesprächs und der vollendeten Kochkunst verfallen. Ströme von Rotwein, Defilees von Würsten im Grünkohl, Schwärme von Gänsen und ganze

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Herden von Lämmern sind in all ihrer Pracht an uns vorübergezogen. Nie sind Esser hungrig, nie sind Trinker durstig und schon gar nicht nüchtern von diesem Tisch aufgestanden. Dass in diesen Jahren zu den deutschen Literaturpreisen auch ein Göttinger Weinpreis in Gestalt von 99 Flaschen kommt, gehört ebenfalls zu den wunderbaren Gegebenheiten. Unvergessen die Geburtstage und Jubiläen, bei denen sich unterschiedlichste Autorinnen- und Autorentemperamente einträchtig über die Paellaschüsseln beugen und dann kontrovers oder einhellig über Bücher und Menschen debattieren. Diese Ereignisse sind ein unvergesslicher Teil des Literaturbetriebs jener Jahre. Autorinnen und Autoren, die durch erste Bücher auf sich aufmerksam machen, sind ebenso willkommen und werden ebenso ins Gespräch und an die Tafel gebeten wie die Großen der Litera­ tur. An diesem Tisch wird durchaus auch nach persönlicher Sympathie entschieden, wem ein »text + kritik«-Heft gewidmet werden soll und wer darauf noch sehr lange warten wird, vielleicht noch heute wartet. Begeisterungsfähigkeit für das literarische Kunstwerk, Sensationierbarkeit durch das Wort und sein Talent zur Freundschaft lassen um Lutz Arnold einen literaturbetrieblichen Freundeskreis entstehen, dessen Wirksamkeit in die Zeitschrift, die Lexika und die vielen anderen publizistischen Aktivitäten mündet. In diesem Kreis ist er einerseits Impresario, Wortführer und Matador, aber bleibt doch im Grunde auch ein unsicherer Mensch, bleibt es trotz aller öffent­ lichen Anerkennung und aller großen Erfolge. Zweifel und selbstkritische Reflexion, wie sie für wirklich produktive Menschen vielleicht unvermeidlich sind, gehören auch zu seinem Wesen. Seine Zuneigung gilt vielen bewunderten Autoren gleichermaßen, lediglich die langjährige Freundschaft mit ­Friedrich Dürrenmatt und seine beratende und lektorierende Begleitung der drei Bände der »Stoffe« (1980) sind wie eine besondere Kostbarkeit daraus hervorgehoben. Die Beschäftigung mit Dürrenmatts literarischem und bildkünstlerischem Werk bleibt für Lutz Arnold auch lange nach Dürrenmatts Tod im Jahr 1990 Gegenstand intellektueller Auseinandersetzung. Während er nach früher Verehrung zu Ernst Jünger auf Distanz geht, behält der Schweizer Autor unvermindert anhaltende Faszinations­

272  Thedel v. Wallmoden kraft. Die Begegnung mit Dürrenmatt wird zur lebenslangen »Querfahrt« (1990). Aber nicht nur am Schreibtisch entfalten sich Lutz Arnolds Aktivitäten. Er engagiert sich in den Jurys wichtiger (Literatur-) Preise wie des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises der Stadt Osnabrück und des Samuel-Bogumił-Linde-Preises der Partner­ städte Göttingen und des polnischen Toruń. Auf Wunsch der Stadt Göttingen und des Landes Niedersachsen ist er 2000 Gründer des Literarischen Zentrums, das sich mit seiner Unterstützung als Vorstand unter den Geschäftsführern Hauke Hückstädt (bis 2010) und Anja Johannsen in die Liga der großen Literaturhäuser emporarbeitet. 1995 ernennt die Georg-August-Universität Arnold zum Ho­ no­rar­professor. Er wird mit dem Niedersachsenpreis für Publizistik (1998) geehrt und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (1999) aufgenommen. Große Anthologien, wie die elf Bände umfassende Sammlung »Die deutsche Literatur seit 1945« (1995 ff.) entstehen, und immer wieder publiziert er über die Gruppe 47, mit deren Autoren er sich vielfältig verbunden weiß. Sein vielleicht größtes und wirkungsvollstes Projekt aber bestimmt Lutz Arnolds letzte Lebensjahre. Nach langwierigen und schwierigen Verhandlungen mit der Holtzbrinck-Verlagsgruppe beginnt 2004 die Arbeit an der vollständigen Neu­ fassung von »Kindlers Literatur Lexikon«. Hier zeigt sich nun die Routine und Urteilssicherheit, über die Lutz Arnold aus jahrelanger Erfahrung als Zeitschrift- und Lexikonherausgeber scheinbar mühelos verfügen kann. Gestützt auf sein Netzwerk aus kompetenten Fachberatern, wird dieses Lexikon nicht nur der Weltliteratur, sondern auch der diskursprägenden wissenschaftlichen Bücher in Rekordzeit fertiggestellt und erscheint in 18 Bänden nach nur fünfjähriger Arbeit bereits 2009 im Metzler Verlag. Dieses herausragend qualitätvolle Lexikon gehört zu den großen Beispielen und steht zugleich am Ende der mit Diderot beginnenden 250-jährigen Epoche der gedruckten Enzyklopädien. Darauf war Lutz Arnold stolz. Im Herbst 2010 wird dann ein Krebsleiden diagnostiziert. Es folgen Operationen und aufwendige Behandlungen, ein ständiger

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Wechsel von Niedergeschlagenheit und Hoffnung. Als es Gewissheit ist, dass es keine Hoffnung mehr gibt, hat dieser liebenswerte Hypochonder, der er war, seiner Familie und den Freunden in seiner Haltung ein Beispiel der Ars moriendi von geradezu antiker Größe geboten. Mit Besuchen, Briefen und Tele­fonaten verabschieden sich die Autorinnen und Autoren, verabschiedet sich über Wochen die Literatur von Heinz ­Ludwig Arnold, der am 1. November 2011 in Göttingen gestorben ist.

Bildnachweis

S. 13 Albrecht von Haller, Gemälde von Johann Rudolf Huber (1736) S. 19 Verlag Vandenhoeck & Ruprecht S. 26, 35, 43, 77, 93, 103, 114, 123, 130, 179, 195, 211, 223, 231  Städtisches Museum Göttingen S. 51 © ullstein bild – Granger, NYC S. 61 ©  bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H. Schneider S. 67 ©  Universität Göttingen / Gauss-Gesellschaft / A. Wittmann S. 85 Privatbesitz, Familie Bremer S. 107 historische Postkarte – Goethe-Allee, Göttingen S. 137 Porträt Gustav Wurm, Gemälde von HM; Privatbesitz S. 144, 203, 239  Stadtarchiv Göttingen S. 152 ©  akg-images / Archive Photos S. 163 Privatbesitz, Familie Ruhstrat S. 169 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem S. 187 Sammlung von Ilse Sponsel, Erlangen S. 217 AdsD Friedrich-Ebert-Stiftung S. 246 AdsD Friedrich-Ebert-Stiftung; Foto © Christl Wickert S. 254 © Foto: Iris Blank S. 264 Das Gernhardt-Portrait aus den 50er Jahren stammt aus dem Archiv des Abgebildeten. Erneute Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Dr. Almut Gehebe-Gernhardt. S. 269 © Hannah Arnold

Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren

Karl Arndt, geboren 1929. Vater von Susanne Arndt. Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Deutschen Literaturwissenschaft. Nach Tätigkeit am Zentralinstitut für Kunst­geschichte in München 1970 Berufung auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neben Themen der älteren und jüngeren Skulptur und Malerei intensive Auseinandersetzung mit der NS Kunstpolitik und Architektur. Susanne Arndt, geboren 1972, Tochter von Karl Arndt. Abitur und Ausbildung im Büro Jochen Brandi: zunächst nur für zwei Jahre mit Berufsabschluss Bauzeichner, später – begleitend zum Studium und auch nach dessen Abschluss (Dipl.-Ing. Architekt) – für weitere sechs Jahre als Werkstudentin und freie Mitarbeiterin. 2004–2013 selbständige Architektin, danach Tätigkeit im Büro Albrecht + Weisser in Northeim. Norbert Baensch, geboren 1934, Niederschlesier. Universitätsstudium, Schauspielerausbildung (1960). Dramaturgie- und Regieassistent Deutsches Theater in Göttingen. Chefdramaturg Theater der Stadt Trier. Wieder in Göttingen: Chefdramaturg von Heinz Hilpert (1963–1966) und bei Günther Fleckenstein (1966–1986), Heinz Engels (1986–1999); Künstlerischer Leiter des DT (1998–1999). Langjährige Lehraufträge: Universität und VHS Göttingen. 1979 Gründungsvorsitzender der Deutsch-Polni­ schen Gesellschaft Göttingen. Vorstandsvorsitzender Künstlerhaus Göttingen. Aufsichtsrat der Bad Gandersheimer Domfestspiele. Hrsg. und Redaktion der »Blätter des DT« sowie Veröffentlichungen zur Geschichte des DT in Göttingen. Ehrun­ gen u. a. Polnischer »Ordre du Mérite Culturel« (1985). Kava­

276  Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren lierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen (1998). Ehren­medaille der Stadt Göttingen (1999). Ehrennadel des Akademischen Künstlertheaters Moskau (MChAT, 1999). Ehrenmitglied des Deutschen Theaters in Göttingen (1999). Bundesverdienstkreuz am Bande (2011). Okko Behrends, geboren 1939 in Norden / Ostfriesland. Studien der Rechtswissenschaften in Freiburg, Genf, München und Göttingen. Promotion 1967 und Habilitation 1972 in Göttingen. 1974–2007 Hochschullehrer an der Juristischen Fakultät Göttingen. 1982–1983 Dekan der Juristischen Fakultät. 1986–1988 Vizepräsident der Universität Göttingen. Seit 1982 Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 2003–2009 Andrew Dickson White Professor-at-Large Cornell University, Honorarprofessor der Universität Shanghai 2005; 2009 Doctor iur. h. c. Stockholm; 2010 Bok Visiting International Professor, Pennsylvania Law School, Philadelphia. Forschungsschwerpunkte: Religion und Recht, die hellenistischen Philosophien im römischen Recht, die historische Rechtsschule und ihre Folgen. F. W. Bernstein (eigentlicher Name Fritz Weigle), geboren 1938 in Göppingen. 1957 Abitur, Studium an der Stuttgarter Kunstakademie. 1958 Wechsel an die Hochschule der Künste Berlin. 1961 Kunsterzieherprüfung, Grafikstudium in Berlin und Studium der Germanistik. 1964 Examen und Eintritt in die Redaktion der Satirezeitschrift »Pardon«. Zusammen mit ­Robert ­Gernhardt und anderen Begründer der Neuen Frankfurter Schule, deren Publikationsorgan ab 1979 das Satiremagazin »­ Titanic« war. Ab 1972 Kunsterzieher an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen. 1984–1999 Professor für Karikatur und Bild­geschichte in Deutschland an der Hochschule der Künste Berlin. Bernstein lebt und arbeitet in Berlin. Claudia Binder, geboren 1955 in Stuttgart, verheiratet. 1974–1981 Studium der Medizin in Tübingen, Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 1981–1993 Promotion, Weiterbildung zur Internistin und Tätigkeit als Assistenz- und Ober-

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ärztin an verschiedenen Krankenhäusern. 1993 Wechsel an die Universitätsmedizin Göttingen, Weiterbildung für Hämatologie / Onkologie sowie Hämostaseologie. 2001 Habilitation und 2004 außerplanmäßige Professur an der Universität Göttingen. Tätigkeit in Forschung, Lehre und Krankenversorgung als Geschäftsführende Oberärztin der Klinik für Hämatologie und Onkologie. Ernst Böhme, geboren 1956 in Göttingen. Abitur am MaxPlanck-Gymnasium. Ab 1977 Studium der Geschichte und Klassischen Philologie an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. 1982 Erstes Staatsexamen. 1985 Dissertation über ein Thema aus der frühneuzeitlichen deutschen Reichsverfassungsgeschichte. 1987 Zweites Staatsexamen. Ab 1989 am Niedersächsischen Staatsarchiv in Bückeburg. Ab 1997 Archivdirektor des Stadtarchivs Göttingen und ab 2005 in Personalunion Leiter des Städtischen Museums. Zahlreiche Untersuchungen vor allem zur Göttinger Stadt- und niedersächsischen Landesgeschichte. Tete Böttger, geboren 1940 in Bad Saarow. 1961–1968 Studium der Jurisprudenz, Geschichte und Wirtschaft in Genf, Berlin und Göttingen. Dreimal verheiratet, sechs Töchter, inzwischen mehrfacher Großvater. Arbeit im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, danach Kunstverleger, Sammler und Aussteller mit dem Schwerpunkt des Werks von Horst Janssen. Engagement beim Auffinden und bei der Rückgabe von Beutekunst. Intensive Suche nach dem legendären Bernsteinzimmer, das vermutlich zerstört ist. Georg Friedrich Bremer, geboren 1940 in Göttingen als erster Sohn des Weinhändlers Georg Bremer und Marie-Luise Bremer, geb. Jung. Vier ältere Schwestern und ein jüngerer Bruder wurden neben zahlreichen weiteren nach dem Zweiten Weltkrieg in die Karspüle geflüchteten Verwandten von der Chefin des Hauses versorgt. Banklehre und Volontariat beim renommierten Weinimporteur A. Segnitz & Co. in Bremen; 1967 Heirat mit Barbara Lauprecht aus Bremen und Einstieg ins väterliche Un-

278  Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren ternehmen, dessen Leitung er 1976, gemeinsam mit Schwester Ruth Bremer, nach dem Tod des Vaters übernahm. Zwei Kinder: Philipp und Ulrike. Philipp Cordt Bremer, geboren 1968 in Göttingen. Studium Weinbau und Önologie im Rheingau. Anstellung beim Bremer Ratskeller; 1992 Heirat mit Mareike Block aus Göttingen. Drei Töchter: Hannah, Pauline und Viola. 1996 Einstieg in die Weinhandlung, ab 1998 Geschäftsführung. Ausbildung zum Contextuellen Coach. Vorsitz Pro City e. V. Andreas J. Büchting, geboren 1946. 1968–1973 Studium der Agrarbiologie und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten von Stuttgart-Hohenheim, Ithaca / N. Y. und Berlin. Promotion über S­ elektionsverfahren bei Mais. Abschluss als Dr. sc. agr. und Dipl.-Agrarbiologe. Ab 1975 in verschiedenen Positionen bei KWS und ab 1978 in der Unternehmensleitung. Ab 2008 Vorsitzender des Aufsichtsrats der KWS SAAT AG (jetzt: SE). 2009 bis 2015 Mitglied im Senat der Leopoldina, 2012 bis 2015 Mitglied des Stiftungsrats der Universität Göttingen. Interessengebiete: Evolution, Ökologie und Sozialwissenschaf­ ten. 2002 Ehrendoktorwürde der Georg-August-Universität Göttingen, 2003 Niedersächsischer Staatspreis für Wissenschaft, 2011 Ehren­doktorwürde der Universität Stuttgart-Hohenheim, 2015 Ehren­medaille Aureus Gottingensis der Universität Göttingen. Heinrich Detering, geboren 1959. Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göt­tingen. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2009 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. Ab 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Frank-Walter Eisenacher, geboren am 1955 in Göttingen, in zweiter Ehe verheiratet mit der Kauffrau Silvia Eisenacher, vier Kinder. 1973 Abitur am Felix-Klein-Gymnasium. 1973–1975 Ausbildung zum Sparkassen-Kaufmann an der Kreissparkasse Göttingen, 1­975–1977 Ausbildung zum Fleischergesellen bei

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der Fleischerei Sommer, Göttingen. 1975–1982 Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Abschluss Diplomkaufmann an der Universität Göttingen, 1983 Ausbildung zum Fleischermeister an der Fleischereifachschule Heyne, Frankfurt. Ab 1982 MitGeschäftsführer im elterlichen Unternehmen Börner-Eisenacher und ab 1991 alleiniger Geschäftsführer. 2003–2011 Vorsitzender des Verbandes der Niedersächsischen Fleischwarenfabriken, seitdem Vorstandsmitglied im Bundesverband der Deutschen Fleischwarenindustrie. Christiane Freudenstein, geboren 1958. Ab 1986 Lektorin in der Göttinger Redaktion der edition text + kritik. Ab 2004 Koordination und Organisation bei der Erarbeitung der 3.  Auflage von »Kindlers Literatur Lexikon« (KLL); seit Erscheinen des Lexikons (2009) Redaktion der ­Online-Updates vom KLL . Heraus­gebe­rin literarischer Anthologien und anderer Bücher, zuletzt »Katzenliebe«. Frankfurt 2015; »Wilhelm Busch. Umsäuselt von sumsenden Bienen. Schriften zur Imkerei«. Göttin­gen 2016 und »Kindler Kompakt. Deutsche Literatur der Gegenwart«. Stuttgart 2016. Ehrenamtliches Engagement als Vorstandsvorsitzende des Literarischen Zentrums Göttingen, im Auswahlkomitee für die Lich­ten­berg-­Poetik­dozen­tur der Universität Göttingen und als Jury­mit­glied des Samuel-BogumiłLinde-Preises der Partnerstädte Göttingen und Toruń. Hubert Goenner, geboren 1936. Physik- und Mathematikstudium an den Universitäten Tübingen, Göttingen, Braunschweig, Freiburg / Brsg. 1962 Staatsexamen. 1964/1965 DAAD -Stipendiat an der Yeshiva University, New York. 1966 Promotion in Freiburg. Bis 1968/1969 Postdoc an der Temple University, Phila­ delphia. 1973 Habilitation in Göttingen. Ab 1978 dort Professor, in der Philosophischen Fakultät kooptiert. Forschungen an der University of Toronto, an der Australian National University, Canberra, am Hermann-Föttinger-Institut für Fluid- und Thermodynamik, an der TU Berlin und am MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Forschungsschwerpunkte: FinslerGeometrie, Relativistische Gravitationstheorien, Wissen­schafts­ geschichte im Umkreis des Faches.

280  Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren Helga Grebing, geboren 1930. Besuch der Volksschule und Ausbildung zur Industriekauffrau. Mit noch 17 Jahren Reife­prüfung an der Vorstudienanstalt der Berliner Humboldt-Universität und Studium der Geschichte, Philosophie, Staatsrecht und Germanistik. 1952/1953 Abschluss an der Freien Universität Berlin mit der Promotion zum Dr. phil. und dem Staatsexamen für Geschichte und Deutsch. Tätigkeit im Verlagswesen und in der politischen Bildungsarbeit in München und Frankfurt a. M. Rückkehr zur Universität und Habilitation im Fach Politikwissenschaft. 1972 Ruf auf den neu errichteten Lehrstuhl für Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Göttingen. 1988 Wechsel an die Ruhr-Universität Bochum und Aufbau des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung. 1995 emeritiert; lebt heute als Publizistin auch im Namen und für die SPD in Berlin. Rainer Hald, geboren 1957 in Stuttgart, Vorsitzender des Vorstandes der Sparkasse Göttingen, der ältesten kommunalen Sparkasse in Deutschland. Ehrenmitglied der Universität Göttingen. Seit vielen Jahren Engagement in renommierten Kultur-, Wissenschafts-, Sport- und Health-Care-Einrichtungen in Niedersachsen. Heinrich Prinz von Hannover, geboren 1961. Studium der Sport­ wissenschaften, Psychologie und Publizistik in Frankfurt a. M. und Salzburg (Österreich). In seinem Verlag MatrixMedia (Göttingen) erscheinen im Schwerpunkt Veröffentlichungen zu historischen Themen. Matthias Heinzel, geboren 1955 in Cuxhaven, 1974–1984 Studium der Mathematik, Physik, Germanistik und Anglistik in Clausthal-Zellerfeld und Göttingen. Ab 1984 Forschungsprojekt an der Pädagogischen Hochschule Göttingen: Erschließung der Vordemann-Sammlung historischer Kinderbücher. Ab 1987 beim »Göttinger Tageblatt« in verschiedenen Funktionen tätig, zuletzt in der Lokalredaktion. Mehrere Dokumentarfilme, darunter auch über Otto Hahn. Interessengebiete: Geschichte, Evolution, Religion, Malerei, Architektur, Stadtplanung, Musik.

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Ulrich Joost, geboren 1951 in Duderstadt, aufgewachsen in Göttingen. Dort 1970 Abitur, Studium der Germanistik und Geschichte (1975 Staatsexamen), 1976 Gesellenprüfung im Buchbinderhandwerk, 1988 Dr. phil., 1977–1988 Mitarbeiter bei der Akademie der Wissenschaften. Ab 1989 an der Technischen Universität Darmstadt, dort 1996 Habilitation; ab 2002 außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft. Korrespondierendes Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. 1999–2003 Vorsitzender der Lichtenberg-Gesellschaft. Projektleiter der J.-H.-Merck-Edition, Herausgeber, u. a. des Briefwechsels von G. A. Bürger und der Werke Lichtenbergs und J. E. Niebergalls, des Lichtenberg-Jahrbuchs und der Lichtenberg-Studien. Forschungsschwerpunkte: G. C. Lichtenberg; G. A. Bürger; Methodik und Praxis der Editorik; Lyrik des Barock; Geschichte der Germanistik. Hans-Christof Kraus, geboren 1958 in Göttingen. Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Göttingen. 1992 dort Promotion im Fach Mittlere und Neuere Geschichte. 2002 Habilitation für das Fach Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München. Ab 2007 Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Mitglied u. a. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, der Histo­rischen Kommission zu Berlin, der Preußischen Historischen Kommission. Thomas Oppermann, geboren 1954. 1986–1900 Richter an den Verwaltungsgerichten in Hannover und Braunschweig. 1­ 988–1989 Rechtsdezernent der Stadt Hann. Münden. 1990–2005 Mitglied des Niedersächsischen Landtags. 1998–2003 Minister für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen. 2003–2004 Wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD. Ab 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags, ab 2007 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD -Bundestagsfraktion und ab 2013 deren Fraktionsvorsitzender.

282  Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren Samuel Patterson, geboren 1948 in Belfast, Nordirland. Sein Vater war Arbeiter in einer Leinenfabrik, seine Mutter Gärtnerin. Ab 1967 Studium, Promotion und erste wissenschaftliche Karriere in Cambridge (Clare College). 1979–1981 Benjamin Pierce Lecturer (Harvard) in Cambridge, Mass., USA . 1981–2011 Professor am Mathematischen Institut der Universität Göttingen mit dem Spezialgebiet Diskon­tinuierlicher Gruppen und Analytischer Zahlentheorie. Ab 1998 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Helmut Reeh, geboren 1932 in Halberstadt. 1949 Abitur in Schulpforta. Studium erst der Geodäsie, dann der Physik an der TU in Berlin, in Göttingen und in München. Diplom in experimenteller Kernphysik in Göttingen. Promotionsarbeit in Theoretischer Physik am Max-Planck-Institut für Physik, Abteilung Astrophysik, in Göttingen und ab 1958 in München. 1960–1972 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Theorie des MPI für Physik in München. 1964–1966 Member am Institute for Advanced Study, Princeton, N. J., USA . 1968 Habilitation und Privatdozent für Theoretische Physik an der T. U. München. 1972–1997 Professor für Theoretische Physik an der Universität Göttingen. Wissenschaftliches Hauptarbeitsgebiet: Relativistische Quantenfeldtheorie. Seit 1957 verheiratet mit Edda Trommsdorff. Dietmar Robrecht, geboren 1944. Medizinstudium, Examen und Promotion in Göttingen. Nach ›Wanderjahren‹ mit Stationen in­ Oldenburg, Freiburg, Hildesheim und Aachen Rückkehr nach Göttingen. 20 Jahre Chefarzt der geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung am Krankenhaus Neu-Mariahilf. Presbyter der Reformierten Gemeinde Göttingen. Verheiratet, zwei Töchter, vier Enkelkinder. Andrea Ruhstrat, geboren 1944 in Göttingen. 1965 Abitur am Theodor-Heuss-Gymnasium. 1965–1967 Ausbildung zum Industriekaufmann bei Sartorius, 1967–1969 Ausbildungsstatio­ nen in München, Bonn, Köln und Hannover. 1969 Eintritt ins väterliche Unternehmen Adolf Ruhstrat GmbH + Co., ab 1970 Geschäftsführerin in dem 1992 zur Ruhstrat Haus- und Versor-

Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren 283

gungstechnik GmbH umfirmierten Unternehmen. Verbandsund Vorstandstätigkeiten beim ITGB (Industrie­verband Techn. Gebäudeausrüstung Niedersachsen und Bremen e. V., beim BTGA (Bundesindustrieverband Techn. Gebäudeausrüstung e. V.), beim VSW (Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Niedersachsen e. V.), Hochschulrat HAWK Hildesheim und Ostfalia Wolfenbüttel, Vizepräsidentin IHK Hannover. 1996 HermannRietschel-Diplom, 2002 Silberner Kaufmanns­löffel der Kaufmannsgilde Göttingen, 2002 Verdienstkreuz am Bande des Niedersächsischen Verdienstordens. Dietrich Ruprecht, geboren 1929. 1948 Abitur und 1950 buchhändlerische Ausbildung. Studium an den Universitäten Göttingen, Zürich und Freiburg, 1956 Promotion zum Dr. phil. Danach als Verlagsvolontär in Oxford und Berlin. Ab 1958 Mitarbeit, bald als geschäftsführender Gesellschafter im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Seit 2004 im Ruhestand. Verschiedene Ehrenämter im Börsenverein des Deutschen Buchhandels, beim Diakonischen Werk (Christophorushaus) u. a. Michael Schäfer, geboren 1944 in Göttingen. Kindheit und Jugend in Hannover. 1963 zunächst Medizinstudium in Göttingen, später Wechsel zu den Fächern Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte. 1970 erste journalistische Arbeiten für das »Göttinger Tageblatt«. Nach universitären Tätigkeiten 1983 Kulturredakteur am »Göttinger Tageblatt«. 2009 nach 26 Dienstjahren wegen Erreichung der Altersgrenze Ausscheiden aus der GT-Redaktion, aber weiter freier Mitarbeiter für das GT und andere Presseorgane. Daneben pianistische Aktivitäten, vor allem als Kammermusiker. Anfangs Unterricht von Editha von Klöden und Karl Lenzen, einem Schüler Eduard Erdmanns, dann wesentliche Impulse durch langjährigen Unterricht bei der Pianistin Maria Dombrowsky (1897–1986) in Göttingen. Viele Konzerte mit dem Göttinger »Trio non troppo« und seit mehr als zehn Jahren Klavierpartner des Hornisten Felix Klieser. Kurt Schönhammer, geboren 1946 in München. Zwei einjährige Forschungsaufenthalte an der University of California in San

284  Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren Diego und der University of Pennsylvania in Philadelphia. Habilitation an der Technischen Universität München. 1979–1984 Professor an der Universität Hamburg, ab 1984 an der Georgia Augusta in Göttingen und damit nach Richard Becker, Friedrich Hund und Max Kohler der Vierte in der Nachfolge von Max Born. Im Gegensatz zur Gründungszeit unter Max Born gibt es im Institut für Theoretische Physik seit den 1960er Jahren mehrere Professorenstellen. Bis 2011 Professor für Theoretische Physik an der Universität Göttingen. Ab 1995 Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 2­012–2016 Vorsitzender der Mathematisch-Physikalischen Klasse und Vize­präsident der Akademie. Das Arbeitsgebiet ist die Beschreibung elektronischer Eigenschaften von Festkörpern. Eva Schumann, geboren 1967, verheiratet, zwei Kinder. 1­ 986–1992 Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen und an der FU Berlin (Erste juristische Staatsprüfung in Tübingen); 1992–1994 Vorbereitungsdienst am Landgericht Tübingen (Zweite juristische Staatsprüfung in Stuttgart). 1994–2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Hochschulassistentin an der Juristenfakultät Leipzig. 1997 Promotion zum Thema »Die nichteheliche Familie« (ausgezeichnet mit dem Fakultätspreis), 2003 Habilitation (Venia legendi für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Zivilprozessrecht) in Leipzig. Ab 2004 Ordentliche Professorin für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht sowie Direktorin der Abteilung für Deutsche Rechtsgeschichte des Instituts für Rechts­geschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Universität Göttingen. Ab 2007 Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Ab 2013 Beauftragte der Unab­ hängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS -Vergangenheit, ab 2014 Mitglied des Arbeitskreises ›Abstammungsrecht‹ des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Friedrich Smend, geboren 1934. Studium der Experimental­ physik in Göttingen, Heidelberg und Freiburg. 1970 Habilitation für Physik. Bis 2000 Hochschullehrer für Atom-, Kern-

Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren 285

und Elementarteilchenphysik in Göttingen (im vormals Franckschen Institut). Andreas von Tiedemann, geboren 1956 in Não-Me-Toque, Brasilien. 1975–1981 Studium der Agrarwissenschaften in Wien und Göttingen. 1985 Promotion im Fach Phytomedizin am Institut für Pflanzen­pathologie und Pflanzenschutz, Universität Göttingen. 1993 Habilitation. 1994–1996 Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Cornell University, Ithaca, USA . 1996–2001 Professor (C3) für Phytomedizin an der Universität Rostock. Ab 2001 Professor (C4) für Allgemeine Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz, Georg-August-Universität Göttingen. Ab 2001 Herausgabe des »Journal of Phytopathology«. Zahlreiche Auszeichnungen und Mitgliedschaften, u. a. in der Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft. Cordula Tollmien, geboren 1951 in Göttingen. Studium der Mathematik, Physik und Geschichte. Ab 1987 freie Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. 1998 Promotion in Geschichte. Zahl­ reiche Veröffentlichungen zur Göttinger Stadt- und Universitätsgeschichte, zur Geschichte der akademischen Frauenbildung und speziell zu Emmy Noether. Weitere Informationen unter www.tollmien.com. Jürgen Troe, geboren 1940 in Göttingen, wo er auch aufwuchs. Studium der physikalischen Chemie in Freiburg und Göttingen, 1964 Diplom-, 1965 Doktorexamen, 1968 Habilitation. 1971 ordentlicher Professor für physikalische Chemie an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne. 1975 Rückkehr nach Göttingen. Neben seiner Professur an der Universität ab 1990 bis zur Emeritierung auch Direktor am MPI für biophysikalische Chemie. Troes Arbeitsgebiet ist der zeitliche Ablauf chemischer Reaktionen, die Reaktionskinetik, in Experiment und Theorie und in vielen Anwendungsgebieten wie der Verbrennungschemie, der Atmosphären- und Astrochemie, der Photo- und Plasmachemie. Mitwirken in vielen Wissenschaftsorganisationen, z. B. im Wissenschaftsrat sowie im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Leibniz-Gemeinschaft. Mitglied

286  Die Herausgeberin, Autorinnen und Autoren zahlreicher Akademien, Honorarprofessor in Lausanne und Ehrendoktor von Bordeaux, Karlsruhe und Helsinki. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt der Otto-Hahn-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der Stadt Frankfurt. Thedel v. Wallmoden, geboren 1958, ab 2013 Honorarprofessor an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg, ist Verleger des 1986 in Göttingen gegründeten Wallstein Verlags. Der Verlag wurde 1996 mit dem Niedersächsischen Verlagspreis und 2013 mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet. Inge Weber. Ab 1985 Beschäftigung mit Leben und Werk der Psycho­ analytikerin Lou Andreas-Salomé. Mitherausgeberin der Texte zur Psychoanalyse und des Briefwechsels von Lou­ Andreas-Salomé mit Anna Freud. Arbeit als Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Göttingen und Lehranalytikerin des Lou Andreas-Salomé Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie. Axel Wittmann, geboren 1943 in Hannover. 1963–1969 Studium der Physik und Astronomie in Göttingen. 1973 Promotion an der Universität Göttingen. 1967–1972 studentischer Mitarbeiter, 1973–2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der UniversitätsSternwarte Göttingen und deren Nachfolgeinstitut, am Institut für Astrophysik Göttingen. Ab 2008 Ruhestand und ehrenamtliche Tätigkeit in der Historischen Sternwarte. Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und ab Januar 2002 ehrenamtlicher Geschäftsführer der Gauß-Gesellschaft Göttingen e. V. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören u. a. die experimentelle Sonnenphysik, Computermethoden in Astronomie, Astrophysik und Astroarchäologie sowie klassische Astronomie und ­Astrometrie einschließlich deren Geschichte.