Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union [1 ed.] 9783428515967, 9783428115969

Markus Sichert zeigt Maßstäbe und deren Grenzfunktion für die Änderung, Ergänzung und Neuordnung des geschriebenen und u

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Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union [1 ed.]
 9783428515967, 9783428115969

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M A R K U S SICHERT

Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 115

Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union

Von Markus Sichert

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2003/2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten (p 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11596-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 2003/2004 als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde Ende Juli 2003 abgeschlossen und ist im Frühjahr 2004 in den Kernbereichen aktualisiert worden. Darüber hinaus konnte allein der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa noch Berücksichtigung finden. Herrn Direktor des Max-Planck-Instituts fur ausländisches und internationales Sozialrecht, Prof. Dr. Ulrich Becker, LL.M. (EHI), an dessen ehemaligem Regensburger Lehrstuhl ich wertvolle Erfahrungen sammeln und eine wohlwollende Förderung genießen durfte, gebührt mein besonders herzlicher Dank dafür, daß er die Arbeit angeregt, engagiert betreut und mir wertvolle Hinweise gegeben hat. Für die Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Herrn Prof. Dr. Rainer Arnold ebenfalls herzlich. Herrn Prof. Dr. Siegfried Magiera und Herrn Prof. Dr. Dr. Detlef Merten gilt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Ferner bin ich auch in Anbetracht der Entstehung dieser Arbeit meinem Bruder Carsten Sichert verbunden. Wertvolle und engagierte Hilfestellung bei Fragen der Textverarbeitung wurde mir durch Nils Menninger zuteil. Meine liebe Freundin Anette Weber hat mich in Optimismus und Disziplin bestärkt; ich danke ihr für die Zeit ungebremster gemeinsamer Vorfreunde auf den Abschluß der Arbeit und das Erscheinen des Buches. Herausragende Unterstützung in jeder Hinsicht sowie besonders großes Interesse für das Vorhaben und für den Fortschritt des Projekts habe ich stets durch meine Eltern, Sigrid und Herbert Sichert, erfahren. Ihnen, denen dafür mein größter Dank gebührt, ist diese Arbeit gewidmet. München, im Februar 2005

Markus Sichert

Inhaltsübersicht

Einführung I. Die Problematik der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union II. Grundlegende Problemstellungen und Aufbau der Untersuchung

37 37 48

1. Teil Grundlagen 1. Kapitel Das Primärrecht als Gegenstand der Revision I. Das System primären Unions- und Gemeinschaftsrechts II. Vertragsrecht III. Ungeschriebenes Primärrecht IV. Zusammenfassung 2. Kapitel Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse I. II. III. IV V.

Begriff der Revision supra- und internationalen Rechts Abgrenzung Revisionstatbestände „Grenzen" der Revision: Typologie möglicher Revisionshindernisse Zusammenfassung

52 52 56 84 95

97 97 103 126 154 175

2. Teil Formelle Grenzen der Revision 3. Kapitel Im Primärrecht verankerte formelle Grenzen der Revision I. Anwendungsbereich und Grundsatzfragen betreffend Art. 48 und Art. 49 EUV II. Das Vertragsänderungsverfahren III. Atypische Änderungsverfahren IV. Art. 95 Abs. 3 und 4 EGKSV V. Beitrittsverfahren und Beitrittsvertrag

179 . 179 206 260 272 275

10

Inhaltsübersicht

VI. Interne Folgen und Typologie formell europarechtswidriger Revisionsvorhaben VII. Zusammenfassung 4. Kapitel Die Exklusivität formeller europarechtlicher Grenzen I. Anwendungsbezogene Konkurrenz europa- und völkerrechtlicher Revisionsregeln II. Revisionsregeln und allgemeines völkerrechtliches Änderungsverfahren im Spiegel der Souveränität der Staaten III. Zur Tragfähigkeit des lex specialis-Satzes und der Berufimg auf „Gemeinschaftsrecht als Sonderrecht" IV. Umfang und Reichweite exklusiver Geltung der primärrechtlichen Revisionsbestimmungen vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Unionsund Gemeinschaftsrecht V. Zusammenfassung

287 297

301 304 321 336

427 506

3. Teil Materielle Grenzen der Revision des Primärrechts 5. Kapitel Methodische, erkenntnistheoretische und positiv-rechtliche Grundlagen der Bestimmung materiell änderungsfester Kerne des Primärrechts

511

I. Die Begründung materiellrechtlicher Grenzen der Revision und ihre Verankerung im primären Vertragsrecht 511 II. Methodik der Ermittlung materiell änderungsfester Kerne allgemeiner Rechtsgrundsätze 583 III. Ungeschriebene Grenzen und überpositive Konzeptionen materiell änderungsfester Normgehalte 595 IV. Das integrierte, identitär-rechtsvergleichende Modell änderungsfester Grenzen.. 618 V. Zusammenfassung 659 6. Kapitel Zwingende Rechtsgrundsätze I. II. III. IV.

Das europäische Demokratieprinzip - „acquis communautaire intangible"? Fundamentale Menschenrechte Rechtsstaatlichkeit Einheit der Rechtsordnung - Gleichheit der Staaten, der Staats- und Unionsbürger V. Sonstige Rechtsgrundsätze VI. Zusammenfassung

665 665 742 748 753 760 762

Inhaltsübersicht 4. Teil Justitiabilität 7. Kapitel Die Befugnis des EuGH zur Kontrolle formeller und materieller Grenzen der Revision des Primärrechts I. Die (Un-)Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Primärrecht II. Die Justitiabilität verfahrensrechtlicher Grenzen III. Die Justitiabilität materieller Grenzen IV. Zusammenfassung

765 766 768 813 822

Zusammenfassung in Thesen und Ausblick

826

Literaturverzeichnis

838

Sachwortverzeichnis

900

Inhaltsverzeichnis Einführung I. Die Problematik der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union 1. Änderungsfeste Kerne im System dynamischer Integration? 2. Rechtspolitische Implikationen II. Grundlegende Problemstellungen und Aufbau der Untersuchung

37 37 37 45 48

L Teil Grundlagen 1. Kapitel Das Primärrecht als Gegenstand der Revision I. Das System primären Unions- und Gemeinschaftsrechts

52 52

II. Vertragsrecht 1. Typologie der Verträge und Vertragsbestandteile 2. Protokolle und Abkommen als Vertragsbestandteile qua „Beifügung" a) Maastrichter Protokoll und Abkommen über die Sozialpolitik b) Konstitutionelles Assoziationsrecht 3. Das Beitrittsvertrags werk 4. Verträge auf der Grundlage der Art. 293, 300 und 310 EGV 5. Weitere Quellen? - Zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union III. Ungeschriebenes Primärrecht 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze 2. Gewohnheitsrecht 3. Ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht infolge „impliziter" Änderungen durch das Unionsrecht?

56 56 62 63 69 73 76 80 84 84 87

IV. Zusammenfassung

95

93

2. Kapitel Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse I. Begriff der Revision supra- und internationalen Rechts II. Abgrenzung

97 97 103

14

nsverzeichnis 1. 2. 3. 4. 5. 6.

„Clausula rebus sie stantibus" Suspendierung Verstärkte Zusammenarbeit Kompetenzergänzung gem. Art. 308 EGV „Verfassungswandel" Gebietsveränderungen eines Mitgliedstaates

103 107 112 117 122 125

III. Revisionstatbestände 1. Änderung des Primärrechts 2. Änderung und vertragsändernde Interpretation - Grenzen der Rechtsfortbildung 3. Ergänzung 4. Gewohnheitsrechtliche Vertragsänderung und -ergänzung 5. Anpassungen - Obergangsregelungen

126 126 132 143 150 153

IV. „Grenzen" der Revision: Typologie möglicher Revisionshindernisse 1. Wirkungsweise normativer Grenzen 2. Völkerrechtliche Revisionshindernisse 3. Bedeutung nationaler „Integrationsschranken" 4. Unions-und gemeinschaftsrechtliche Grenzen a) Kompetentielle Grenzen b) Formelle Grenzen c) Materielle Grenzen - „acquis communautaire intangible"

154 155 156 163 164 164 166 167

V. Zusammenfassung

175 2. Teil Formelle Grenzen der Revision

3. Kapitel Im Primärrecht verankerte formelle Grenzen der Revision I. Anwendungsbereich und Grundsatzfragen betreffend Art. 48 und Art. 49 EUV 1. Die Vertragsänderung (Art. 48 EUV) a) Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht b) Sonderfälle: Einvernehmlicher Austritt - Auflösung von Union und Gemeinschaften aa) Einvernehmlicher Austritt bb) Auflösung von Union und Gemeinschaften c) Vertragsergänzung 2. Zur Frage nach dem Ausschluß ungeschriebenen Rechts, insbesondere europarechtlichen Gewohnheitsrechts, durch Art. 48 EUV a) Allgemeines - Gewohnheitsrecht intra legem b) Gewohnheitsrecht praeter legem

179 . 179 180 180 181 182 185 187 189 189 191

nsverzeichnis aa) Grundsätze bb) Materielle Vertragsergänzung infolge der Durchfuhrungsbeschlüsse nach Art. 187 EGV? c) Gewohnheitsrecht contra legem d) Folgerungen im Hinblick auf das Gewohnheitsrecht e) Rechtsfortbildung und „Wandel des Primärrechts" 3. Der Beitritt (Art. 49 EUV) 4. Das Verhältnis der Art. 48 und 49 EUV zueinander a) Durch die Aufnahme erforderlich werdende Anpassungen und „gewöhnliche" Änderungen b) Beitrittsverträge auf der Grundlage des Art. 48 EUV? 5. Das Verhältnis der Art. 48 und 49 EUV zu Art. 311 EGV II. Das Vertragsänderungsverfahren 1. Änderungsinitiative - Entwurf. 2. Anhörungserfordernisse a) Anforderungen de lege lata b) Ansätze zur Aufwertung der Befugnisse des Europäischen Parlaments 3. Stellungnahme des Rates und Einberufung der Regierungskonferenz 4. Regierungskonferenz - Änderungsvereinbarung a) „Vertragsformgebot" - Kein Verbot impliziter Änderungen b) Einstimmigkeit c) Abhängigkeit der Beteiligungsrechte von der sachlichen Nähe zum Änderungsentwurf aa) „Wesentliche Abweichung" vom ursprünglichen Änderungsentwurf.. bb) „Unscharfen" bei den Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik sowie bei der EEA d) Sachliche Bindungen der Mitgliedstaaten 5. Ratifikation 6. Reformbestrebungen jüngerer Zeit a) Differenziertes Verfahren in Abhängigkeit von der betroffenen Normkategorie b) Rezeption bzw. Heranziehung des Konventsverfahrens c) Kombination und detaillierte Ausgestaltung beider Reformansätze im „Beitrag zum Vorentwurf einer Verfassung der Europäischen Union" d) Der „Freiburger Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag" e) Die jüngsten Entwürfe (EVP-ED-Fraktion - Europäischer KonventVertrag über eine Verfassung für Europa 0 Würdigung III. Atypische Änderungsverfahren 1. Halbautonomes Verfahren 2. Autonomes Verfahren

191 194 197 198 198 200 201 201 204 205 206 208 211 211 214 216 218 218 224 228 228 233 238 238 248 248 250 252 254 255 258 260 262 268

nsverzeichnis

16

IV. Art. 95 Abs. 3 und 4 EGKSV 1. Das Verhältnis der „kleinen" zur „großen" Revision 2. Formelle Grenzen der „kleinen Revision" gem. Art. 95 Abs. 4 EGKSV

272 272 274

V. Beitrittsverfahren und Beitrittsvertrag 1. Beitrittsantrag, Vorbereitung und Durchführung der Verhandlungen 2. Entscheidung innerhalb der Europäischen Union 3. Vertragsschluß und Ratifikation 4. Reformüberlegungen

275 276 278 283 284

VI. Interne Folgen und Typologie formell europarechtswidriger Revisionsvorhaben 1. Allgemeine, interne Fehlerfolgen 2. Vom Verfahrensmaßstab abweichende Praxis 3. Zur Unterscheidung zwischen „wesentlichen" und „unbeachtlichen" Verfahrensfehlern 4. Wahl der falschen Verfahrensart 5. Nichtbeachtung des Verfahrens nach Art. 96 EGKSV urspr.F

290 293 294

VII. Zusammenfassung

297

4. Kapitel Die Exklusivität formeller europarechtlicher Grenzen I. Anwendungsbezogene Konkurrenz europa- und völkerrechtlicher Revisionsregeln 1. Unions- und gemeinschaftsinnenrechtliche Beurteilung der Exklusivität a) Anhaltspunkte in der Rechtsprechung des EuGH b) Art. 48 f. EUV als verfahrensrechtliches Durchbrechungsverbot 2. Art. 48 f. EUV als partikulares Völkerrecht bzw. als lex specialis a) Europarechtliche Revisionsbestimmungen als „Sonderregeln" b) Folgerungen aus der »lex specialis-Funktion" der Art. 48 f. EUV c) Änderung der Revisionsklausel und Bindung an das durch sie selbst normierte Verfahren 3. Bestimmungen über das autonome bzw. halbautonome Verfahren

287 287 289

301 304 306 307 314 316 316 319 320 320

II. Revisionsregeln und allgemeines völkerrechtliches Änderungsverfahren im Spiegel der Souveränität der Staaten 321 1. Zum Grundsatz der formlosen Abänderbarkeit völkerrechtlicher Verträge als zwingendes Recht 322 a) Grundlinien der Einordnung des Rechtssatzes von der formlosen Änderbarkeit völkerrechtlicher Verträge als zwingendes Recht 323

nsverzeichnis b) Der Rechtssatz der formlosen Änderbarkeit völkerrechtlicher Verträge als zwingend verbürgter materieller Kerngehalt des völkerrechtlichen Souveränitätsprinzips? 2. Art. 48 f. EUV als ius cogens regionalis bzw. particularis

327 334

III. Zur Tragfähigkeit des lex specialis-Satzes und der Berufung auf „Gemeinschaftsrecht als Sonderrecht" 336 1. Allgemeine Bemerkungen 336 2. Modifikation der völkerrechtlichen Regel von der formlosen Änderbarkeit der Verträge 339 a) Grundsätzliche Erwägungen 339 b) Zur Bedeutung der Verleihung von Rechten an Dritte in einer supranationalen Subordinationsrechtsordnung 342 aa) „Rechte Dritter" als Begrenzung der Vertragsautonomie 342 bb) Die Beteiligung des Europäischen Parlaments 347 cc) Die Beteiligung der anderen Organe 349 c) Souveränität im Zeichen supranationaler „Integrationsgmeinschaften" 351 aa) Das Prinzip der Souveränität „zwischen" Völker-, Staats- und Gemeinschaftsrecht 351 (1) Zum Konzept der etatozentrischen und unteilbaren Souveränität.. 356 (2) Keine Staatlichkeit von Union und Gemeinschaften 362 (a) Staatsgebiet 364 (b) Staatsvolk 369 (c) Staatsgewalt 375 (3) Der „Verfassungscharakter" der Gemeinschaftsverträge und der Vorwurf der Begriffsjurisprudenz 383 (4) Kritik am etatozentrischen Souveränitätsverständnis 392 (5) Inhaltlich-kompetentielles Souveränitätsverständnis und Vordringen des Prinzips der inneren Souveränität im Gemeinschaftsrecht 394 (a) Souveränität und Hoheitsgewalt 394 (b) Entstehung, Geltung und Verlust gemeinschaftsrechtlicher Hoheitsgewalt: Zur Übertragung von Hoheitsrechten 406 bb) Folgerungen: Geteilte Vertragsänderungsgewalt als Ausdruck einer „Konkordanz" zwischen staatlicher Residual- und supranationalgemeinschaftsrechtlicher Attributionshoheit 420 d) Exklusivität der Revisionsbestimmungen im Bereich des Gemeinschaftsrechts bei V ö l k e r - und europarechtlich einheitlichem Maßstab 424 aa) Art. 48 EUV 424 bb) Art. 49 EUV 425 cc) Atypische Änderungsbestimmungen der Primärrechts 426

18

nsverzeichnis

IV. Umfang und Reichweite exklusiver Geltung der primärrechtlichen Revisionsbestimmungen vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht 427 1. Revision gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen 427 2. Revision des Unionsrechts im engeren Sinne 429 a) Charakterisierung des Unionsrechts und das Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht 429 aa) Die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung 432 432 (1) Die „Verschmelzungsthese" (von Bogdandy/Nettesheim) (2) Die „Einheitsthese" von Trüe 438 (3) Die Einheitlichkeit der Rechtsordnung im Modell einer gestuften internationalen Organisation und Ansätze einer „horizontalen Reihung" 440 (a) Das Modell der gestuften internationalen Organisation (iWichard, Dörr) 441 (b) Zur Frage nach der Völkerrechtspersönlichkeit der EU 446 (aa) Grundsätzliche Erwägungen und die Bedeutung der „Mantelbestimmungen" (Art. 1 - 7 und Art. 46 - 53 EUV) 446 (bb) Der Union durch Bestimmungen der GASP und der PJZS im Verhältnis zu Drittvölkerrechtssubjekten verliehene Kompetenzen und das „Konzernmodell" von Busse 455 bb) Homogenität und Heterogenität der Unionsrechtsordnung im Zeichen der Trennung von Union und Gemeinschaften und mangelnder Rechtspersönlichkeit der Union insgesamt 463 ( 1 ) Folgerungen aus der Organisationsstruktur einer „horizontalen Reihung" (v.a. Ress, Streinz) - „gemäßigte Trennungsthesen" 463 (2) „Strikte Trennungsthese" - EU(V) als lediglich materiell466 rechtlicher Verbundrahmen (Pechstein, Koenig) (3) Die Union als Organisations- und Verfassungsverbund der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Mitgliedstaaten 468 b) Folgerungen 471 aa) Das Unionsrecht der „Zweiten" und der „Dritten Säule" 472 bb) Unionsrechtliche Vorschriften mit spezifischer Klammer- bzw. Verbundfiinktion 478 (1) Art. 47 EUV als Argument gegen die Exklusivität der Revision von Unionsprimärrecht 478 (2) Art. 48 und Art. 49 EUV als Sonderfälle institutioneller Verklammerung von EUV und EGV 481 (3) Kriterien revisionsrechtlich relevanter Verklammerung betreffend weitere Vorschriften des EUV 482

nsverzeichnis (a) Die Gemeinsamen Bestimmungen (aa) Der „einheitliche institutionelle Rahmen" i.S.d. Art. 5 (i.V.m. Art. 3 Abs. 1)EUV (bb) Gemeinsame Grundwerte, Art. 6 Abs. 1 und 2 (i.V.m. Art. 7) EUV α) Art. 6 Abs. 2 EUV ß) Art. 6 Abs. 1 EUV (cc) Die Zielbestimmung, Art. 2 EUV, und das Gebot der Kohärenz, Art. 3 EUV α) Art. 2 EUV ß) Art. 3 EUV (dd) Sonstige Gemeinsame Bestimmungen (b) Bestimmungen über die verstärkte Zusammenarbeit, Art. 43 -45 EUV (c) Art. 46 und Art. 47 EUV sowie sonstige Schlußbestimmungen V. Zusammenfassung

484 484 489 489 491 492 492 495 500 502 503 506

3. Teil Materielle Grenzen der Revision des Primärrechts 5. Kapitel Methodische, erkenntnistheoretische und positiv-rechtliche Grundlagen der Bestimmung materiell änderungsfester Kerne des Primärrechts

511

I. Die Begründung materiellrechtlicher Grenzen der Revision und ihre Verankerung im primären Vertragsrecht 511 1. Die Begründung materiellrechtlicher Grenzen 512 a) Positive Bestandssicherung verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Normen 512 aa) Positive Bestimmungen nationaler Verfassungen 514 (1) Regelungsort und -systematik materieller Bestandsgarantien 516 (2) Temporale Revisionsverbote zwischen formel 1-prozeduraler und materieller Grenzfunktion 519 (3) Bestandssicherung der Revisionsverbote selbst 522 bb) Die Begründung materieller Grenzen der Revision mittels Völkervertragsrecht 525 b) In den Wertentscheidungen der Verfassung implizit verankerte Grenzen (grundsätzliche Überlegungen) 533 aa) Negative Grenzen - „Verfassungsimmanenz" und ,,-transzendenz".... 533 bb) Unterscheidung zwischen „Verfassunggebung" und „Verfassungsgesetzgebung" 536

nsverzeichnis cc) Methodologische Spezifika im Hinblick auf das Primärrecht in der Europäischen Union 539 c) Bestandssicherung durch Inhaltsbestimmung jenseits expliziter Revisionsverbotsanordnung 541 d) Grenzen einer Differenzierung bezüglich der Mitgliedschaftsrechte bzw. der Beendigung der Mitgliedschaft 541 aa) Grenzen einer Differenzierung durch beitrittsbedingte Obergangsregelungen 542 bb) Einvernehmliche Entlassung eines Mitglieds und Auflösung von Union und Gemeinschaften 544 (1) Einvernehmliche Entlassung eines Mitglieds 544 (2) Auflösung von Union und Gemeinschaften 545 e) Bestandssicherung und Hierarchisierung 546 aa) Hierarchisierung als Ausdruck, nicht „Rechtsgrund" der Bestandssicherung 546 bb) Hierarchisierungsgrade - „Nutzbarmachung" von Hierarchisierungen.550 cc) Spezifisch überpositiv fundierte „Hierarchisierungskonzeptionen" 553 f) „Schrankenkonkurrenz" 554 g) Völkerrechtliches ius cogens als Grenze der Revision des Primärrechts.... 556 2. Die Verankerung materieller Grenzen im primären Vertragsrecht 557 a) Implikationen der formellen Revisionsvorschriften 558 aa) Zur Ableitung von Grenzen aus dem Begriff der Änderung in Art. 48 EUV 558 bb) Art. Ν Abs. 2 i.V.m. Art. A und Β EUV a.F. - Art. 2, 5. Spiegelstr. EUV 560 b) Zur Bedeutung des „effet utile" bei der Auslegung der Vertragsvorschriften 562 c) Vorschriften betreffend die Permanenz der Verträge und der Mitgliedschaft 563 d) „Unwiderrufliche" Festlegungen in den Verträgen 566 e) Vorschriften betreffend den Integrationsstand und das Integrationsprogramm 567 569 f) Art. 6 und 7 EUV aa) Vertragliche Anerkennung und Absicherung grundlegender (Struktur-)Prinzipien 569 bb) Art. 7 EUV und der einvernehmliche Austritt aus der Union bzw. den Gemeinschaften 571 g) Art. 10 Abs. 2 EGV 573 3. Die Rechtsprechung des EuGH zu materiellen Grenzen der Revision 574 a) Das Gutachten 1/91 (EWR I) 575 aa) Grundaussagen 575

nsverzeichnis bb) Insbesondere: Verbot der Delegation der Änderungsbefiignis bei Fundamentalnormen als „absolute" materielle Grenze der Revision?. 579 b) Das Gutachten 1/92 (EWR II) 581 c) Zwischenergebnis 582 II. Methodik der Ermittlung materiell änderungsfester Kerne allgemeiner Rechtsgrundsätze 583 1. Grundsatzfragen betreffend den „Geltungsgrund" der Bestandfestigkeit allgemeiner Rechtsgrundsätze 584 2. Kriterien für das Auffinden änderungsfester allgemeiner Rechtsgrundsätze... 587 a) Spezifische Probleme betreffend die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH und die Kriterien für das Auffinden änderungsfester allgemeiner Rechtsgrundsätze 587 b) Der Bestandsschutz allgemeiner Rechtsgrundsätze - eine Lücke? 588 c) Grenzen der Befugnis zur Rechtsfortbildung betreffend die Änderungskapazität der Mitgliedstaaten 592 d) Probleme der Konsensbildung 594 III. Ungeschriebene Grenzen und überpositive Konzeptionen materiell änderungsfester Normgehalte 595 1. Prämissen: Der Rekurs auf den materialen Zusammenhang der Integrationsverfassung und die Verwendung eines formellen Verfassungsbegriffs 595 2. Die „Europarechtstauglichkeit" primär am formellen Verfassungsbegriff anknüpfender Theorien der allgemeinen Staatslehre 596 a) Die Unterscheidung zwischen „pouvoir constituant" und „pouvoir constitué" 596 b) Ableitungen aus dem Rechtsbegriff der Verfassung(gebung) 600 c) Weitere überpositive materiale Standards - materiale Verengung des Rechtsbegriffs 603 3. Der „materiale Zusammenhang" und die „Identität" der (Integrations-) Verfassung als Ansatzpunkt 604 a) Aus der Funktion und dem Sinnzusammenhang der Staatsverfassung als Gesamtheit ableitbare bzw. dem Gesamtzusammenhang der Identität der Verfassung zu entnehmende Grenzen der Verfassungsänderung 605 605 aa) Der Ansatz von Ehmke bb) Die Konzeption von Bryde 606 b) Kritik und Stellungnahme 607 aa) Zu Exklusivität und Reichweite positiv-rechtlich normierter Grenzen. 607 bb) Insbesondere: Der prinzipientheoretische Ansatz von Hain und dessen Rahmenkonzeption der Verfassung im Bereich der bestandsgeschützten Prinzipien 611

nsverzeichnis

22

cc) Materielles und identitäres Verfassungsverständnis: Zwischen Anspruch und Überdehnung (der Ableitungsfähigkeit) normativer Bindungen durch den Verfassunggeber 615 IV. Das integrierte, identitär-rechtsvergleichende Modell änderungsfester Grenzen.. 618 1. Antinomie zwischen „nationalen Volkssouveränitäten" und der „Souveränität" eines europäischen Gemeinwesens der Bürger? 618 a) Zur Prä- und Überstaatlichkeit souveräner Verfassunggebung 618 b) Organisation und Ausübbarkeit einer Souveränität der Bürger 624 c) Vertretung der Bürger durch das Europäische Parlament 634 d) Legitimation von Hoheitsgewalt durch die gewaltunterworfenen Bürger als Kerngehalt des Souveränitätsprinzips 637 2. Zur „Systemimmanenz" europarechtlicher Gewährleistung demokratischer Legitimation der Gemeinschaftsgewalt 638 a) Grenzen sowohl der nationalen Verfassungs- als auch der Vertragsänderungsautonomie 640 b) Staatliche und supranationale Gewalt als Legitimationsobjekt der (Volks-)Souveränität 642 3. Der einer verfassungserzeugenden Gewalt der europäischen Völker gemeinsame Konsens über materiale Verfassungsvoraussetzungen als „Wertungshintergrund" im Rahmen der rechtsvergleichenden Ermittlung änderungsfester Grundsätze 646 a) Verfassungskonsens und Identität der Verfassung 647 b) Zum Erfordernis der Homogenität der Bürger als Träger der verfassungserzeugenden Gewalt in einem Prozeß permanenter Verfassunggebung 650 aa) Europäische Identität hinsichtlich fundamentaler Werte 651 bb) Die Bürger als Träger der verfassungserzeugenden Gewalt 654 c) Elemente der Artikulation des Verfassungskonsenses und kommunikationstheoretische Voraussetzungen 656 d) Zwischenergebnis: Der Verfassungskonsens als Grundlage bzw. Wertungshintergrund für die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze.... 658 V. Zusammenfassung

659 6. Kapitel Zwingende Rechtsgrundsätze

I. Das europäische Demokratieprinzip - „acquis communautaire intangible"? 1. Vorbemerkung 2. Die Natur des Demokratieprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz a) Das Demokratieprinzip in den Verträgen, der EEA und dem Direktwahlakt aa) Zur positiv-rechtlichen Garantie

665 665 665 666 669 669

nsverzeichnis bb) Vertragsimmanentes Strukturprinzip 672 b) Das Demokratieprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz 678 c) Inhalt des Demokratieprinzips 684 aa) Demokratie und Legitimation 684 bb) Demokratiemaßstab 686 ( 1 ) Geteilte Vertragsänderungsgewalt und gemeinschaftsunmittelbarer Legitimationszusammenhang 687 (2) Erforderlichkeit und „strukturelle Realisierbarkeit" europäischparlamentarischer Legitimation der Rechtsetzung und der Vertragsrevision 690 (3) Der Stellenwert europäisch-parlamentarischer Legitimation 694 (a) Parlamentarische Legitimation als Wesenszug des allgemeinen Rechtsgrundsatzes „Demokratieprinzip" 695 (b) Die vom Demokratieprinzip geforderte Kompensation der „Entparlamentarisierung" auf nationaler Ebene: Verbandsunmittelbarer Legitimationszusammenhang 703 3. Die Bestandssicherung des Prinzips demokratischer Legitimation 706 a) Positiv-rechtlicher Bestandsschutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten 706 aa) Bundesrepublik Deutschland 706 bb) Griechenland 708 cc) Portugal 709 dd) Tschechische Republik 710 ee) Frankreich, Italien und Österreich 710 b) Bestandssicherung durch Hierarchisierung sowie aufgrund ungeschriebener Grenzen 714 aa) Überblick 714 bb) Italien und Frankreich 716 cc) Das Verhältnis von Demokratie und Parlamentssouveränität im Vereinigten Königreich 717 c) Bestandssicherung durch „passive" Verfassungshomogenität: Grenzen der Hoheitsrechtsübertragung 721 d) Positive, aktive Homogenitätsklauseln 726 e) Art. 3 des 1. ZP. zur EMRK - ius cogens particularism 727 f) Bestandsschutz als konkretes Ergebnis wertender Rechtsvergleichung 729 g) Der änderungsfeste Gehalt des europäischen Demokratieprinzips 733 aa) Prinzipientheoretischer Rahmen 733 bb) Einzelne Ausprägungen 735 (1) Existenz des Europäischen Parlaments 735 (2) Beschränkung der Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments (ohne Art. 48 f. EUV) 735 (3) Einheitliches Verfahren der Wahl zum Europäischen Parlament... 736

nsverzeichnis

24

(4) „Verfassungsentwicklung": Art. 48 f. EUV und der Bestand der Union (a) Art. 48 EUV: Anhörungsrecht des Europäischen Parlaments und Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente (b) Art. 49 EUV: Zustimmungsrecht des Europäischen Parlaments (c) Bestand der Union: Einvernehmliche Auflösung und einvernehmlicher Austritt (5) Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV h) Zwischenergebnis II. Fundamentale Menschenrechte

738 738 739 740 741 742 742

III. Rechtsstaatlichkeit

748

IV. Einheit der Rechtsordnung - Gleichheit der Staaten, der Staats- und Unionsbürger

753

V. Sonstige Rechtsgrundsätze

760

VI. Zusammenfassung

762 4. Teil Justitiabilität

7. Kapitel Die Befugnis des EuGH zur Kontrolle formeller und materieller Grenzen der Revision des Primärrechts I. Die (Un-)Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Primärrecht 1. Grundsätzliche Erwägungen 2. Anhaltspunkte in der Rechtsprechung des Gerichtshofs II. Die Justitiabilität verfahrensrechtlicher Grenzen 1. Art. 46 lit. f EUV 2. Gerichtliche Kontrolle der Verfahrensschritte nach Art. 48 f. EUV 3. Zur Auslegung der verfassungsrechtlichen Ratifikationsbestimmungen der Mitgliedstaaten als inkorporierte Verfahrensvoraussetzungen a) Umfassender Prüflingsmaßstab (Normprogramm) b) Prüfungsintensität c) Exklusivität des unionsrechtlichen Entscheidungsmaßstabes und Justitiabilität d) Konkurrenz zwischen der Auslegung durch den EuGH und nationaler Verfassungsinterpretation 4. Statthaftes Verfahren, Prüfungsmaßstab und Entscheidung

765 766 766 767 768 768 771 773 774 774 776 777 779

nsverzeichnis a) Nichtigkeitsklage aa) Zum Ausschluß einer streitgegenständlichen Überprüfung (1) Grundsatz (2) Sonderkonstellationen (a) „Stellungnahme" des Rates gem. Art. 48 Abs. 2 S. 1 EUV (b) „Ratsbeschluß" und „Entscheidung" des Parlaments nach Art. 49 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 EUV bb) Inzidentkontrolle cc) Entscheidung b) Untätigkeitsklage c) Vertragsverletzungsverfahren aa) Statthaftigkeit einer streitgegenständlichen Überprüfung (1) Die Rüge einer Verletzung genuinen Unionsrechts (2) Der kollektive Vertragsverstoß (3) Justitiabilität des Verhaltens einzelner Mitgliedstaaten bb) Pflicht der Kommission zur Einleitung eines Verfahrens bzw. zur Klageerhebung cc) Inzidentkontrolle dd) Entscheidung d) Vorabentscheidungsverfahren aa) Vorlagegegenstand (1) Art. 234 lit. a EGV (2) Art. 234 lit. b EGV bb) Entscheidung e) Präventive Kontrolle aa) Stellungnahme des Gerichtshofes nach Art. 95 Abs. 4 EGKSV bb) Gutachten nach Art. 300 Abs. 6 EGV 5. Zur Entscheidung über die Gültigkeit und Auslegung form widriger Änderungen außerhalb der Unionsrechtsordnung a) „Zuständigkeitskonkurrenz" zwischen IGH und EuGH? b) Zuständigkeit des IGH zur Entscheidung über Unionsrecht c) Die Zuständigkeit des EuGH aufgrund eines Schiedsvertrages III. Die Justitiabilität materieller Grenzen 1. Verfahrensspezifische materielle Revisionsanforderungen 2. Die Kontrolle der Einhaltung materieller Revisionsgrenzen a) Verfahrenszuständigkeit (Besonderheiten) b) Prüfungsmaßstab c) Zur Legitimation des EuGH zur Ermittlung änderungsfester Kerne als Einschränkung mitgliedstaatlicher „Herrschaft über die Verträge" aa) Der EuGH als „Verfassungsgericht" bb) Der EuGH als „Herrscher" über die Verträge?

780 780 780 781 781 784 787 789 790 791 791 792 793 794 794 797 798 800 800 800 803 803 804 804 805 806 806 807 809 813 813 815 815 817 818 819 820

26

nsverzeichnis

IV. Zusammenfassung

822

Zusammenfassung in Thesen und Ausblick

826

Literaturverzeichnis

838

Sachwortverzeichnis

900

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABGB ABl. ABl.EG ABl.EU abl. Abs. Abschn. A.C. AcP ADD a.E. AETR

a.F. AFDI AIJC AJIL AKP-Staaten AktG Alt. AmMRK AmstV amtl. Anm. AöR ArchVR, AVR Art. Aufl. ausf. BaWüVerf. BayVBl.

andere(r) Ansicht am angegebenen Ort Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (der Republik Österreich) Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Union ablehnend Absatz Abschnitt The Law Reports, Appeal Cases Archiv für die civilistische Praxis Addendum am Ende Accord européen sur les transports routiers (Europäisches Übereinkommen über die Arbeit der im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrzeugbesatzungen) alte(r) Fassung Annuaire français de droit international Annuaire international de justice constitutionnelle American Journal of International Law Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (Mitgliedstaaten der Lomé-Abkommen) Aktiengesetz Alternative Amerikanische Konvention der Menschenrechte i.d.F. des Vertrages von Amsterdam amtlich Anmerkung(en) Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des Völkerrechts Artikel, Articulus Auflage ausführlich Verfassung des Landes Baden-Württemberg Bayerische Verwaltungsblätter

28 BayVerf. Bd. BDGV Bek. BerlVerf. Beschl. Beschw. BGB BGBl. BGH BGHZ BReg. BremVerf. BT-Drucks. Bull.EG Bull.EU BVerfG BVerfGE

Abkürzungsverzeichnis

Verfassung des Freistaates Bayern Band Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bekanntmachung Verfassung von Berlin Beschluß Beschwerde Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesregierung Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Bundestags-Drucksache Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtl. Sammlung) BV-G Bundesverfassungs-Gesetz (der Republik Österreich) BYIL British Yearbook of International Law bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise CRechtssachen der Entscheidungen der Cour de justice (vor dem Gerichtshof) C (AB1.EG/ EU, Nr.) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/ der Europäischen Union, Reihe C (Mitteilungen und Bekanntmachungen, Gerichtshof) CDE Cahiers de droit européen CE Communautés européennes CEE Communauté économique européenne Chap. Chapitre, Kapitel CIG Conférence Intergouveremental, Regierungskonferenz CLJ The Cambridge Law Journal CLR Commonwealth Law Reports CMLR Common Market Law Review COM Commission of the European Community (documents) CONFER Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (Dokumente) cons. „considérant (que)", in Anbetracht dessen, daß (Einleitungsformel für Urteilssätze) CONV The European Convention/ Europäischer Konvent (Dokumente)

Abkürzungsverzeichnis COSAC

CVDT D DC dens. ders. d.h. dies. Diss. doc., Doc./ Dok. DÖV DR DVB1. DWA E EA EA/D EAG EAGV EC ed(s). EEA EEC EEE EG EGKS EGKSV EGV EHI EI Β Einl. EJIL EKMR EL. ELDR ELF

Conférence des Organes spécialisées en Affaires communautaires (Konferenz der auf EU-Angelegenheiten spezialisierten Ausschüsse der Parlamente in den Mitgliedstaaten) Convention de Vienne du 23 mai 1969 sur le droit des traités (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) Dokumente (in: EA) Décisions concernant la conformité à la Constitution denselben derselbe das heißt dieselbe(n) Dissertation document, Dokument Die Öffentliche Verwaltung Décisions et Rapports/ Decisions and Reports der Europäischen Kommission für Menschenrechte Deutsches Verwaltungsblatt Direktwahlakt Entscheidung Europa Archiv Europa Archiv/ Dokumente Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft European Community Edition, edicion; editor(s), edited Einheitliche Europäische Akte; European Economic Area (EWR) European Economic Community Espace économique européen Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäisches Hochschul-Institut (Florenz) Europäische Investitionsbank Einleitung European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte Ergänzungslieferung Europäische Liberale und demokratische Partei The European Legal Forum

30 ELR EMRK endg. EP EPIL EPZ ESZB EU EuG EuGH EuGMR EuGRZ EuGVÜ EuR EUV EuZBBG

EuZBLG EuZW e.V. EVP EVP-ED EWG EWGV EWR EWRV EWS ex. p. EZB f., ff. FAZ Foro it. FS Fußn. FusV GA

Abkürzungsverzeichnis European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention endgültig Europäisches Parlament Encyclopedia of Public International Law Europäische Politische Zusammenarbeit Europäisches System der Zentralbanken Europäische Union Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen Europarecht Vertrag über die Europäische Union Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein Europäische Volkspartei (Fraktion der) Europäische(n) Volkspartei und (der) europäische^) Demokraten Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum EWR-Vertrag Europäisches Währungssystem; Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht ex parte Europäische Zentralbank folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Il Foro Italiano Festschrift Fußnote(n) Fusionsvertrag Generalanwalt

Abkürzungsverzeichnis GASP GATS GATT Gaz. Pal. GELR gem. GeschO, GO GeschO-EP GG ggf. Giur. cost. GmbH GO, GeschO GO-BT GS GVO GYIL h.A. Harvard ILJ Hj. h.M. Hrsg., hrsg. Hs. HStR ibid. ICJ (Reports) ICLQ i.d.F. i.d.S. i.e. i.e.S. IG IGH ILC I.L.M IndJIL insbes. IP IPBPR i.R.d.

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services (Allgemeines Obereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen) General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) Gazette du Palais Gemeinsamer Europäischer Luftverkehrsraum gemäß Geschäftsordnung Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments Grundgesetz gegebenenfalls Giurisprudenza costituzionale Gesellschaft mit beschränkter Haftung Geschäftsordnung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gedächtnisschrift Gruppenfreistellungsverordnung German Yearbook of International Law (vormals JIR) herrschende Ansicht Harvard International Law Journal Halbjahr herrschende Meinung Herausgeber, herausgegeben Halbsatz Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland ibidem; ebenda International Court of Justice (Reports) The International and Comparative Law Quaterly in der Fassung in diesem Sinne im einzelnen im engeren Sinne Industriegewerkschaft Internationaler Gerichtshof International Law Commission International Legal Materials Indian Journal of International Law insbesondere Commission (press information) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Rahmen des, der

32

Abkürzungsverzeichnis

im Sinne (des, der) im Sinne von im übrigen in Verbindung mit im weiteren Sinn Juristische Arbeitsblätter Journal of Common Market Studies Jahrhundert Jahrbuch für Internationales Recht (jetzt GYIL) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (neue Folge) Journal für Rechtspolitik Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kraftfahrzeug Kommanditgesellschaft (auf Aktien) Kommission der Europäischen Gemeinschaft (Dokumente) Kommission der Europäischen Gemeinschaft Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft L (AB1.EG/ EU, Nr.) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/ der Europäischen Union, Reihe L (Rechtsvorschriften) Liber, Buch Lib. lit. litera, Buchstabe LQR The Law Quaterly Review Ls. Leitsatz m.a.W. mit anderen Worten MLR The Modern Law Review MOEmittel- und osteuropäisch m.umfangr.N. mit umfangreichen Nachweisen M-VVerf. Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern m.w.N. mit weiteren Nachweisen m.zahlr.N. mit zahlreichen Nachweisen n°, n., no. numéro, numero NdsVerf. Niedersächsische Verfassung n.F. neuer Fassung NGO Non-governmental Organization NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR NJW Rechtsprechungsreport Zivilrecht NorTIR Nordisk Tidsskrift for International Ret Nr(n). Nummer(n)

i.S.(d.) i.S.v. i.ü. i.V.m. i.w.S. JA JCMS Jh. JIR JöR JöR n.F. JRP JuS JZ Kap. Kfz KG (a.A.) KOM Kom(m). KritV

Abkürzungsverzeichnis NVwZ o.g. ÖJZ ÖzöRV PJZS PL PVS Q.B. RA RabelsZ RdA RdC Rdnr(n). Redakt. REDI Reg. REV RFD adm. RGBl. RhPfVerf. RIW RL RMC RM UE Rs(en). Rspr. RTD eur. s. S. SaarVerf. SächsVerf. SAnhVerf. sc. SchwJIR SDHI S-EIB sent. Ser.

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oben genannt Österreichische Juristenzeitung Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Public Law Politische Vierteljahresschrift Queen's Bench Romanistische Abteilung Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recueil des Cours de l'académie de Droit International Randnummer(n) Redakteur, Redaktor Revista espaftola de derecho internacional Regina Révision, Revision Revue Française de Droit administratif Reichsgesetzblatt Verfassung für Rheinland-Pfalz Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Revue du Marché commun et de l'Union européenne (bis 1990: Revue du Marché commun) Revue du Marché Unique Européen Rechtssache(n) Rechtsprechung Revue Trimestrielle de Droit Européen siehe Satz, Seite Verfassung des Saarlandes Verfassung des Freistaates Sachsen Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt scilicet; nämlich, freilich Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht studia et documenta historiae et iuris Satzung der Europäischen Investitionsbank sentenza (Urteil) Serie, Series

34 S-ESZB/ EZB Slg. sog. Sp. SPE Spiegelstr. StIGH str. st. Rspr. StWiss TThürVerf. TRIPS

tw. u. u.a. UAbs. OLG UN UNO urspr.F. Urt. V.

v.a. Var. VDA VDIK verb. ver. di Verf. VerfO vgl. VN vo Vol. Vorb. VRÜ

Abkürzungsverzeichnis Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (amtl.) Sammlung der Rspr. des EuGH, des EuGMR sogenannte(r, n) Spalte Sozialdemokratische Partei Europas Spiegelstrich Ständiger Internationaler Gerichtshof strittig ständige Rechtsprechung Staatswissenschaften und Staatspraxis Rechtssachen der Entscheidungen des Tribunal de première instance (vor dem Gericht erster Instanz) Verfassung des Freistaats Thüringen Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) teilweise und unter anderem, und andere Unterabsatz Überseeische Länder und Gebiete United Nations (Vereinte Nationen) United Nations Organisation ursprüngliche Fassung, in der Ursprungsfassung Urteil von, vom; versus vor allem Variante Verband der Automobilindustrie Verband der Importeure von Kraftfahrzeugen e.V. verbunden(e) Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verfassung Verfahrensordnung vergleiche Vereinte Nationen Verordnung Volume Vorbemerkung Verfassung und Recht in Übersee

Abkürzungsverzeichnis VVDStRL WB1. WEU WM WRV WTO WVK WVKIO

YBILC Ζ ZaöRV z.B. ZBJI ZDK ZEuP ZEuS ZfParl. ZfRV ZG Ziff. ZÖR ZP ZRG ZRP ZSchwR z.T. zust.

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wirtschaftsrechtliche Blätter Westeuropäische Union Wertpapier-Mitteilungen Weimarer Reichsverfassung World Trade Organisation Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention) Wiener Konvention (Übereinkommen) über das Recht der Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen oder zwischen Internationalen Organisationen Yearbook of the International Law Commission Zeittafel (in: EA) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zentralverband des Kraftfahrzeuggewerbes Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für europäische Studien Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Gesetzgebung Ziffer Zeitschrift für Öffentliches Recht/ Austrian Journal of Public and International Law Zusatzprotokoll Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht zum Teil zustimmend

Einfuhrung I. Die Problematik der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union 1. Änderungsfeste Kerne im System dynamischer Integration? Die europäische Integration ist ein evolutionärer, grundsätzlich offener Prozeß.1 Getragen von der den Präambeln zu EUV 2 und EGV 3 sowie den Zielbestimmungen der Verträge innewohnenden Dynamik 4 begleitet und fördert der 1

Vgl. Delors , in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu „Das Parlament") 1/93, S. 3 (4); daran anknüpfend BVerfGE 89, 155 (189) - Maastricht; siehe ferner Koppen, Verfassungsfunktionen - Vertragsfiinktionen, S. 107 ff. Zu normativen Entwicklungsvorgaben für den Integrationsfortschritt innerhalb des primärrechtlichen Rahmens, speziell den vertraglichen Bindungen für die judizielle Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts, Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 4 EGV Rdnr. 44. 2 Vgl. insbes. den 11. Erwägungsgrund, der die Entschlossenheit zum Ausdruck bringt, eine „immer engere Union der Völker Europas" zu schaffen. Das Prozeßhafte der Integration ist auch im ersten und 12. Erwägungsgrund verankert; eine Vielzahl weiterer, sachbezogener Integrationsbestrebungen zeugt von den Grundlinien der fortschreitenden Gestaltung der Integration. Siehe ferner Art. 1 Abs. 2, 1. Hs. EUV; zu dessen dynamischer Komponente Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 1 EUV Rdnrn. 6 ff. Den Grundstein für eine vertiefte Gemeinschaft unter den „Völkern" legten die Staaten bereits durch den Zusammenschluß zur EGKS, vgl. den fünften Erwägungsgrund der Präambel des EGKSV, dessen Gültigkeit am 23. Juli 2002 endete (Art. 97). Vgl. ferner bereits die „Schumann-Erklärung" vom 9. Mai 1950-(EA 1950, S. 3091): „Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern - die erste Etappe der europäischen Föderation." 3 Der als Leitprinzip den „immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker" (erster Erwägungsgrund) voranstellt und v.a. wirtschaftliche, soziale und politische Integrationsfortschritte zum Ziel erhebt. 4 Wilfried Bernhardt, Verfassungsprinzipien - Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht, S. 70 ff; Koppen, Verfassungsfunktionen - Vertragsfunktionen, S. 107 ff.; vgl. auch BVerfGE 89, 155 (184); ferner Zuleeg, in: von der Groeben/ Schwarze, EUV/EGV, Präambel EU Rdnr. 4. Zur Dynamik als Verfassungsauftrag auch Bungenberg, Art. 235 EGV nach Maastricht, S. 31 f.; ders. EuR 2000, S. 879 ff. Zum Integrationsauftrag der Präambeln als Fundament eines dynamisch-evolutiven Integrationsansatzes und materiell-rechtliche Grundnorm der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 93 f. Zum dynami-

38

Einführung

evolutive Charakter des Europarechts 5 den durch politische, sozio-ökonomische und kulturelle Einflüsse verursachten Wandel.6 Nicht die Bewahrung „außerrechtlicher Substrate", welche staatliche Verfaßtheit klassischer Prägung legitimieren, sondern die dem Wandel als einer Bedingung des Systems dienende Funktion ist in erster Linie Wesensmerkmal des Europarechts. 7 Herausbildung und Anwendung des Europarechts tragen dem Bedürfnis, auf neue Entwicklungen angemessen zu antworten, auf vielfältige Weise Rechnung. Dies geschieht vor allem im Rahmen integrationsorientierter, „kreativer" 8 Vertragsauslegung und Rechtsfortbildung 9, durch Erlaß (rechtsangleichenden) neuen Sekundärrechts aufgrund spezifischer Ermächtigung bzw. in Form sog. gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzlückenschließung10 sowie durch vielfältige Formen diffe-

schen Charakter der Gemeinschaft als entscheidendem Wesenszug der Gemeinschaft bereits Hallstein, in: Oppermann, Walter Hallstein - Europäische Reden, S. 125 (133 f.). 5

Dazu Ress/Bieber, in: dies, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 13 (14 ff). 6 Bieber, ZSchwR 112 (1993), S. 327 ff. Vgl. zum „Verfassungswandel" bzw. „Wandel des Primärrechts" 2. Kap. II. 5.; zur „nachträglichen Kodifikation der Rechtswirklichkeit" als Merkmal der Rechtsetzung in der Europäischen Union Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, S. 100 Ziff. 142 Fußn. 307. 7 Hans Peter Ipsen, EuR 1987, S. 195 (201), der die „dynamische, auf Wandel angelegte Gemeinschaftsordung" als „Wandelverfassung" bezeichnet (Hervorhebungen im Original); Bieber, ZSchwR 112 (1993), S. 327 f. 8

Pescatore , in: Bathurst u.a., Legal Problems of an Enlarged European Community, S. 27 (34); Questiaux, a.a.O., S. 47 (55 ff); Schwarze, die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105 ff. 9

Siehe etwa Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 394 ff. Vgl. näher und zum Verhältnis zwischen (klassischer) Auslegung, Rechtsfortbildung und (unzulässiger) Rechtsschöpfimg 2. Kap. III. 2. Eine Verbindung zwischen dynamischer Auslegung und nachfolgender Praxis der Mitgliedstaaten stellt Trüe, Verleihung von Rechtspersönlichkeit an die Europäische Union und Verschmelzung zu einer einzigen Organisation - deklaratorisch oder konstitutiv?, S. 50 f., her. Vgl. zur Zulässigkeit dieser Auslegungsmethode, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Änderungsrelevanz 2. Kap. III. 2. und 4., 3. Kap. I. 2. a) - e). Ausführlich zum dynamischen Charakter des Gemeinschaftsrechts im Spannungsfeld zwischen Auslegung, Rechtsfortbildung und Rechtsänderung im spezifischen Zusammenhang mit der Staatshaftung Christoph Wolf Die Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik für Verstöße gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht (EGV), S. 80 ff. 10 Häde/Puttler sehen in Art. 308 EGV „nach wie vor die besonders dynamische Komponente der Integration", EuZW 1997, S. 13 (14). Zum Verhältnis des Art. 308 EGV zum Prinzip der begrenzten (Einzel-)Ermächtigung sowie zur Vertragsänderung vgl. Kap. 2 II. 4.

Einführung renzierter Integration 11. Tiefgreifenden Änderungen begegnet das Europarecht mit der Möglichkeit zur Revision in Form der Änderung oder Anpassung des Primärrechts 12 und damit der Neugestaltung des übergeordneten Handlungsrahmens. Die damit verbundene Neuordnung berührt zugleich das Verhältnis zwischen Union bzw. Gemeinschaften und der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten: In seiner Λ/aas/r/c/tf-Entscheidung hat das BVerfG unter Hinweis auf die den europäischen Einrichtungen und Organen begrenzt eingeräumten Hoheitsrechte eine klare Abgrenzung zwischen der Vertragsanwendung einerseits und der Vertragsänderung andererseits angemahnt und die Bedeutung der Zustimmung durch die nationalen Parlamente hervorgehoben. 13 Insbesondere auf europäischer Ebene ist der zumeist durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse inspirierte 14 Entwicklungsprozeß jedoch nicht lediglich Reaktion auf eine der Wirklichkeit zunehmend entrückte Rechtsordnung, sondern kann im Zuge der Neuordnung auch zu einer Vorreiterschaft des Rechts führen. 15 Die Rechtsetzung (europäischer Institutionen) wird ihrerseits zum Motor der Integration, indem sie das Verhalten der Rechtsunterworfenen in Bahnen lenkt, die den Integrationszielen entsprechen bzw. tatsächliches Han-

11

Dazu Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 ff.; ders., EU-Erweiterung und differenzierte Integration, 1999. 12

Zum Begriff der Revision 2. Kap. I. Zur Funktion von Änderungsklauseln „to reconcile the conflicting demands of flexibility and stability" im Zusammenhang mit Art. 108 der UN-Charta Karl/Mützelburg/Witschel, in: Simma, The Charter of the United Nations, Art. 108 Rdnr. 2. 13 BVerfGE 89, 155 (188, 210); krit. dazu Everting [JZ 2000, S. 220 (Fußn. 41)]: die seit jeher diskutierte Abgrenzung sei eine Selbstverständlichkeit und die Forderung nach deren Beachtung „in Zukunft" ahistorisch. Siehe demgegenüber Kirchhof, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 893 (917): Gerade die „klare und ausreichende Aufgaben- und Kompetenzzuweisung" als Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung sei „das wesentliche Anliegen der neu zu schaffenden Europäischen Grundordnung". 14 Vgl. grundlegend Friedmann, Recht und sozialer Wandel, S. 32: „Der allmählich wachsende Druck veränderter Verhältnisse und Normen des Zusammenlebens läßt eine sich vertiefende Kluft zwischen den Lebensfakten und dem Recht entstehen, auf die das letztere schließlich antworten muß." 15 Vgl. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 334. Zu dynamischen Elementen des EGV und solchen im Prozeß der Rechtsetzung Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWGVertrages, S. 35 ff. bzw. 37 ff. Kritisch zu einer von „automatischer" Dynamik bestimmten Vertragsinterpretation Mittmann, Die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 140 ff.

40

Einführung

dein im Lichte dieser Ziele bewertet und fördert; 16 das Recht erfüllt eine „instrumentale Funktion zur Herbeiführung der Integration" 17 . Dieser Prozeß wird in besonderem Maße von der Homogenität mitgliedstaatlicher Rechtssätze geprägt und beeinflußt, welche zwar auch als Entwicklungsmaßstab, vor allem aber als (Erkenntnis-)Quelle des europäischen acquis communautaire fungieren. 18 Im Rahmen wertender Rechtsvergleichung, wie etwa bei der Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze, werden integrationsfördernde rechtliche Gewährleistungen innerhalb einzelner Mitgliedstaaten offenbar und für eine europaspezifische Position mit eigenem Geltungsgrund im Unions- und Gemeinschaftsrecht herangezogen; nach und nach hat der EuGH unter Rückgriff auf die Verfassungsprinzipien der Mitgliedstaaten sowie die EMRK als Erkenntnisquelle einen sich stetig verdichtenden Grundrechtsschutz entwickelt. 19 Die damit wiederum verbundene Dynamik, die sich über die Vertragsauslegung im herkömmlichen Sinne hinaus gerade auch in der Rechtsfortbildung, 20 ferner in der Wahrnehmung der „Kompetenzergänzung" gem. Art. 308 EGV 2 1 widerspiegelt, verleiht der Integration die ihr eigentümliche Stabilität, wie sie Hallstein in dem berühmten Vergleich der europäischen Integration mit einem Fahrrad, dessen Stabilität nach Aufnahme der Fahrt kontinuierlicher Fortbewegung bedarf 22, beschrieben hat.

16

Hallstein, RabelsZ 28 (1964), S. 211 (228 ff.); Green, Political integration by jurisprudence, S. 18 ff.; siehe ferner Ehlermann, in: FS Carstens, S. 81 (83 ff.); vgl. auch Thomas M.J. Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 6 ff. 17 Schwarze, in: FS Pescatore, S. 637 (641). Zur Rechtseinheit durch einheitliche Rechtsdurchsetzung Hatje, EuR, Beiheft 1/1998, S. 7 ff. 18 Vgl. allgemein zum internationalen Kontext bereits Friedmann, Recht und sozialer Wandel, S. 424: „Doch sind die politischen und sozialen Kräfte in der Welt heute dergestalt, daß gerade diese konkurrierenden Ordnungen die Hauptquelle dessen [darstellen], was ... als »kooperatives internationales Recht« bezeichnet" werden kann, „und daß manche von ihnen zuföderalistischen oder gar unitarischen Staaten werden könnten". 19

Vgl. zu Einzelheiten sowie der Differenzierung zwischen Rechts- und Erkenntnisquelle 5. Kap. II. 2. b). 20 Siehe dazu etwa Stein, in: FS der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, 1986, S. 619 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 4 EGV Rdnr. 44; Everting, JZ 2000, S. 217 ff.; im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens Streinz, Europarecht, Rdnr. 496. 21

Siehe Häde/Puttler, (145 ff.). Näher 2. Kap. II. 4. 22

EuZW 1997, S. 13 (14); Lorenz/Pühs,

ZG 1998, S. 142

Zur Rückführung dieser Metapher auf Hallstein Isensee, in: FS Everling, S. 567 (568), und Heintzen, EuR 1997, S. 1 (16); ohne Berufung auf Hallstein das Bild verwendend Bieber, ZSchwR 112 (1993), S. 327 (328).

Einfhrung Vor diesem Hintergrund mag vordergründig der Schluß naheliegen, die Existenz materieller Grenzen der Revision des Primärrechts in Form „änderungsfester Kerne", die angesichts ihrer fundamentalen Gehalte einer Revision entzogen wären, wirke destabilisierend und integrationshemmend. 23 Gleichwohl ist auch die europäische Rechtsordnung von der Idee geprägt, „feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen" 24, welche vornehmlich aus den gemeinsamen „Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit" bestehen.25 Diese fundamentalen Prinzipien prägen den Charakter der Europäischen Union als Wertegemeinschaft und verlangen angesichts dieser tragenden Funktion zugleich nach dem Bestreben ihrer Bewahrung, sollen sie doch „einheitsbildend, legitimationsfördernd und identitätsstiftend" 26 wirken. Der Amsterdamer Vertrag hat diese Ausrichtung der Europäischen Union als Werteordnung bestärkt. Gem. Art. 6 Abs. 1 EUV beruht die Union selbst auf den vorgenannten, allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen. Diese Grundsätze und Grundwerte bilden das Fundament der europäischen Integration und sind zumindest theoretisch - geeignet, sich zur Grundlage konstitutiver Elemente europäischer Staatlichkeit zu verdichten. 27 Wandel und Bewahrung befinden sich daher grundsätzlich nicht in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander, sondern beschreiben ein dialektisches Prinzip. 28 Soll der im Primärrecht grundsätzlich vorgesehene und den Mitgliedstaaten z.T. vertraglich aufgegebene Wandel demnach gleichwohl seinerseits normativ beschränkt werden, so lassen sich Rechts(grund)sätze, die einer Revision primären Europarechts die rechtliche Anerkennung versagen

23

Zu diesem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt eines scheinbaren Widerspruchs zwischen dynamischer Integration und der „versteigenden Funktion von Verfassungen" auf der Grundlage eines funktionalen Verfassungsbegriffs auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 270 ff. Vgl. ferner Meng, in: von der Groeben/ Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 60. 24

Zweiter Erwägungsgrund (2. Hs.) der Präambel zum EUV.

25

Dritter Erwägungsgrund der Präambel zum EUV; ebenso Art. 6 Abs. 1 EUV; siehe ferner Hilf/Pache in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Präambel zum EUV Rdnr. 16. 26

Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, Präambel zum EUV Rdnr. 17; da Cruz Vilaça/Piçarra, CDE 1993, S. 3 (33). 27

Vgl. Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, Präambel zum EUV Rdnr. 17. Bieber, RMC 1993, S. 343; dersZSchwR 112 (1993), S. 327 (335). Die EGVerträge glichen angesichts dessen einem „Lavastrom, in den Verdichtungen eingelagert sind" (S. 329). Siehe auch Wilfried Bernhardt, Verfassungsprinzipien - Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht, S. 70 ff. Vgl. allgemein zum Spannungsfeld zwischen Stabilität und Dynamik als Elementen des Verfassungsrechts etwa Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 19 f. m.w.N. 28

42

Einführung

und jene daher begrenzen könnten, strukturell höchst unterschiedlichen Kategorien zuordnen. Ungeachtet nationaler Integrationsschranken und möglicher völkerrechtlicher Revisionshindernisse kommen europarechtlich nebst kompetentiellen Grenzen sowohl verfahrensrechtliche als auch materielle Schranken 29 in Betracht. Einer Revision primären Rechts sind jedenfalls dadurch „Grenzen" 30 gesetzt, daß jede Änderung grundsätzlich dem dafür konkret vorgesehenen Prozedere unterliegt (vgl. insbes. Art. 48 und 49 EUV). Ist damit bereits eine mutmaßlich zumindest unions- bzw. gemeinschaftsintern wirkende Hürde errichtet, bestimmt sich die eigentliche Grenzfunktion bzw. die Effektivität einer formellen Beschränkung nach Maßgabe ihrer Exklusivität im Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht. In diesem Zusammenhang muß zugleich untersucht werden, inwieweit das unionsrechtlich normierte Änderungsverfahren, dessen Änderung insbesondere mit Blick auf das Konventsverfahren zur Erarbeitung der Charta der Grundrechte und des Vertrages über eine Verfassung für Europa zunehmend diskutiert wird, 31 selbst einer Revision entzogen ist. Rechtssätze können darüber hinaus auch wegen ihres von der Rechtsordnung als unumstößlich bewahrenswert eingestuften materiellen Gewährleistungsgehalts einer Änderung entzogen sein. Während sich einige Verfassungen der Mitgliedstaaten dadurch auszeichnen, daß fundamentale Strukturprinzipien und wesentliche Freiheitsgarantien explizit für unabänderlich erklärt werden 32 , lassen sich weder innerhalb des EUV noch in den Gründungsverträgen der Gemeinschaften Vorschriften ausmachen, deren Wortlaut die Irreversibilität der Normgehalte ausdrücklich anordnet. Wäre angesichts dessen jedoch eine Europäische Union denkbar, die im Zuge einer rückläufigen Selbstbeschränkung auf eine reine Wirtschaftsgemeinschaft hoheitlich handelt, ohne effektiven (Grund-)Rechtsschutz zu gewährleisten? 33 Ließen sich Vorschriften des Sanktionensystems, vgl. Art. 7 EUV und Art. 309 EGV, dahingehend ändern, daß bei einem nachhaltigen Verstoß eines Mitgliedstaates gegen die in Art. 6

29

Die Begriffe Schranken und Grenzen werden vorliegend synonym verwendet, da ihnen - anders als etwa i.R.d. Grundrechte und Grundfreiheiten - funktional keine jeweils eigenständige Bedeutung zukommt. 30 Zur Klassifizierung formeller Anforderungen als Beschränkungen bzw. Grenzen siehe 2. Kap. IV. 4 b). 31

Siehe 3. Kap. II. 6. Vgl. Art. 79 Abs. 3 (i.V.m. Art. 1, 20 GG), Art. 110 der Verfassung Griechenlands, Art. 288 der Verfassung Portugals sowie Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 der Verfassung der Tschechischen Republik. 33 Das Beispiel einer Rückbildung zu einem bloßen Staatenverbund ohne Bürgerrechte diskutiert auch Everling, in: FS Bernhardt, S. 1161 (1173). 32

Einführung Abs. 1 EUV genannten Grundsätze etwa auch die Geltung der Grundfreiheiten in dem Vertragsbrüchigen Mitgliedstaat suspendiert werden dürfte? In diesem Zusammenhang wenden sich einige der die Vertragsänderung betreffenden jüngeren Abhandlungen verstärkt der Problematik der Anerkennung eines änderungsresistenten Charakters primärrechtlicher Fundamentalnormen zu. 34 Ein positiver Befund setzt freilich voraus, daß einer primärrechtlichen Bestimmung nicht nur überragende Bedeutung innerhalb des Normgefüges zuerkannt, sondern darüber hinausgehend der Geltungsgrund für die Irreversibilität in den Vordergrund der Betrachtung gerückt und die normative Gültigkeit der Änderungsfestigkeit als solche herausgestellt wird. Anstoß zur Beschäftigung mit dieser Materie gab das erste Gutachten des EuGH betreffend das Abkommen zwischen der EG und der EFTA über die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) 35 . Zur Vereinbarkeit der im Rahmen dieses Abkommens vorgesehenen Gerichtsbarkeit mit dem EWGV stellte der EuGH fest, Art. 238 EWGV (Art.- 310 EGV) biete für die Errichtung eines Gerichtssystems, das „die Grundlagen der Gemeinschaft selbst" 36 beeinträchtige, keine Grundlage. 37 Die Unvereinbarkeit des Gerichtssystems mit dem EWGV könne auch durch eine Änderung des Art. 238 EWGV nicht beseitigt werden. 38 Unter Berufung auf diese Feststellungen wird das erste EWR- Gutachten verbreitet als Beleg für die Unabänderlichkeit fundamentaler Grundsätze des EGV gewertet, welche trotz oder gerade wegen ihrer Qualifizierung als „valeur(s) supraconstitutionnelle(s)" 39 oder „principes métacommunautaires" 40 eine „neue Etappe" der Herausbildung einer europäischen „Verfassung" verdeutlichten. 41 Ob und wieweit sich eine derartige Betrachtung

34 Siehe z.B. da Cruz Vilaça/Piçarra, CDE 1993, S. 3 ff.; dies., Are there Material Limits to the Revision of The European Union?, 1995; Bieber, RMC 1993, S. 343 ff.; Heintzen, EuR 1994, S. 35 ff.; Herdegen, in: FS Everling, S. 447 ff.; zu dieser Thematik auch Becker, EU-Erweiterung und differenzierte Integration, S. 64 ff.; Folz, Demokratie und Integration, S. 156 ff. Vgl. zur Abschichtung der „Debatte über materielle Grenzen der Vertragsänderung" gegenüber „Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts" von Arnauld, EuR 2003, S. 191 (193 f., 210 ff.). 35

Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991,1-6079. Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991,1-6079 (6111 Rdnr. 71). 37 Als spezielle Ausprägung dieser das Gerichtssystem betreffenden Grundsätze und Prüfungsmaßstab fungierte Art. 164 EWGV a.F. 36

38 39 40 41

Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991,1-6079 (6111 Rdnr. 72). Da Cruz Vilaça/Piçarra, CDE 1993, S. 3 (26 m.w.N.). Huglo, Gaz. Pal. 1992.1, doctrine, S. 205 (208). Da Cruz Vilaça/Piçarra , CDE 1993, S. 3, 20 ff (26).

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rechtfertigen läßt oder bereits in Anbetracht des zweiten EWR-Gutachtens42, demzufolge die im E(W)G-Vertrag eingeräumten Zuständigkeiten des Gerichtshofs nur im Rahmen des in Art. 236 EWGV (Art. 48 EUV) normierten Änderungsverfahrens änderbar sind, einer tragfähigen Grundlage entbehrt, wird im Verlauf der Untersuchung näher zu beleuchten sein. Erneute Aktualität erlangte das Institut der Vertragsrevision durch das Gutachten des EuGH zur Vereinbarkeit des Beitritts der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK mit dem EGV. 4 3 Nach Ansicht des Gerichtshofs beinhaltet Art. 308 EGV (235 EGV a.F.) keine Zuständigkeit für einen solchen Beitritt. Ein derartiges Abkommen setze vielmehr grundsätzlich eine Vertragsänderung voraus, da es eine mit grundlegenden institutionellen Auswirkungen verbundenen Änderung des Systems zum Schutze der Menschenrechte in der Gemeinschaft „von verfassungsrechtlicher Dimension" zur Folge habe44. Dieser zentrale Begründungsansatz birgt zugleich genuin materiell-inhaltliche Aspekte. Er bietet nicht nur Anlaß, Modelle einer Koordinierung des Grundrechtsschutzes und Konsequenzen für das Rechtsschutzsystem zu diskutieren, sondern darüber hinaus allgemein die Frage nach der Unabänderlichkeit elementarer Grundrechtsgewährleistungen zu stellen. Selbst im Rahmen eines - wenig wahrscheinlichen - Beitritts auf neu geschaffener primärrechtlicher Grundlage und nach insofern notwendiger Änderung bzw. Ergänzung der EMRK 4 5 erlangten die Bestimmungen der EMRK als neuer „integrierender Bestandteil" 46 der Gemeinschaftsrechtsordung keinen primärrechtlichen Rang. 47 Angesichts der Diskussion über die Konstitutionalisierung, speziell im Grundrechtsbereich, 48

42

Gutachten 1/92 v. 10.4.1992 (EWR II), Slg. 1992,1-2821; siehe auch das Gutachten 1/00 v. 18.4.2002 (GELR), Slg. 2002,1-3493. 43 44

Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759. Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1789 Rdnrn. 34 f.).

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Siehe Uerpmann, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339 (358 f. m.w.N.). 46

Vgl. nur EuGH, Urt. v. 30.4.1974, Rs. 181/73 (Haegeman/Belgien), Slg. 1974, 449 (460 Rdnr. 5); Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991, 1-6079 (6105 f. Rdnrn. 37, 39); siehe ferner 1. Kap. II 4. 47 H.A., siehe Vedder, EuR 1996, S. 309 (318); vgl. auch Epiney, EuZW 1999, S. 5 (7). Für einen Primat des Völkerrechts auch gegenüber dem Primärrecht im Zusammenhang mit einer weitreichenden und zugleich jurisdiktionsbeschränkenden Verpflichtung des EuGH zur Wahrung der Einheit der Völkerrechtsordnung Kaddous, CDE 1996, S. 613 (622 ff., 631 f.). 48 Siehe dazu aus der umfangreichen Literatur etwa Schwarze/Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984; Häberle, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; Grimm, JZ 1995, S. 581 ff.; Ernst Ulrich Petersmann, CMLR 32 (1995), S. 1123 ff.; Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnm. 560 ff.; Schwarze, DVB1. 1999, S. 1677 ff.; Christoph

Einführung läßt sich darüber nachdenken, wie etwa die Schaffung eines als abschließend konzipierten Grundrechtskataloges zu beurteilen wäre, der hinter den bisherigen primärrechtlichen oder den (allein) in der EMRK verbürgten Gewährleistungsinhalten zurückbliebe. Wollte man - theoretisch betrachtet - den Grundrechtsschutz insgesamt aus seiner primärrechtlichen Verankerung lösen, wäre dessen Umgestaltung fortan dem unionsrechtlichen Revisionsverfahren entzogen, und „Gemeinschaftsgrundrechte" wären damit auch nicht mehr Prüfungsgegenstand gutachtlicher Beurteilung durch den EuGH im Sinne des Art. 300 Abs. 6 EGV. Ganz grundsätzlich stellt sich demgemäß auch die Frage, ob die Revision des Primärrechts etwa nur unter Beachtung „inkorporierten" Völkerrechts erfolgen kann, obwohl letzteres im Rang nachgeht, oder aber sich generell durchsetzt, ggf. unter Begrenzung durch zwingende, Völker- oder europarechtliche Rechtssätze.

2. Rechtspolitische Implikationen In der Praxis mitgliedstaatlichen Handelns präsentiert sich die Vertragsänderung vornehmlich als politisches Problem. Dies gilt nach bisheriger Erfahrung 49 vor allem für eine Intensivierung der europäischen Einigung, theoretisch jedoch ebenso für eine dem Untersuchungsgegenstand näher liegende, brisante Absenkung des acquis communautaire infolge einer - generell zulässigen50 - Rückbildung der Integration. In beiden Fällen steht allerdings außer Zweifel, daß jede Änderung der Verträge seitens der Mitgliedstaaten grundsätzlich der Bindung an das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht unterliegt. 51 Wie weit diese

Möllers, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 1 [47 ff. (50)]; Kiihling, in: von Bogdandy, a.a.O., S. 583 (592 ff). Zum Projekt der Grundrechtecharta auch Müller-Graff Integration 2000, S. 34 ff.; Schmuck, Integration 2000, S. 48ff.; Weber, NJW 2000, S. 537 ff.; Pernice , DVB1. 2000, S. 847 ff.; Di Fabio , JZ 2000, S. 737 ff.; Piris, EuR 2000, S. 311 ff. Zur Charta selbst etwa Weber, a.a.O.; Grigolli, ELF 2000, S. 2 ff.; Grabenwarter, DVB1. 2001, S. 1 ff; Scholz, in: FS Maurer, S. 993-1004; Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19, S. 447 ff. Aus rechtspolitischer Perspektive Baer, ZRP 2000, S. 361 ff.; Meyer/Engels, ZRP 2000, S. 368 ff.; Ritgen, ZRP 2000, S. 371 ff.; Norbert Reich, ZRP 2000, S. 375 ff. Zum Verfassungsvertrag Cromme, DÖV 2002, S. 593 ff; näher 3. Kap. II. 6. 49

Vgl. zur historischen Chronologie der Vertragsrevision Krück, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 164 EGV Rdnr. 14, ferner im Anhang des Kommentars (S. 1457). 50

Vgl. noch Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, 2. Grundlieferung, Art. 236 EWGV Rdnr. 4; ferner Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 8, beide m.w.N. 51 Zu diesem Zusammenhang auch Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 6. Zur rechtlichen Irrelevanz politisch-praktischer Einwände auch

46

Einführung

Bindung im einzelnen reicht, ist ungeachtet kongruenter Staatenpraxis eine genuin juristische Problemstellung. 52 Auch im vorliegenden Zusammenhang gilt: „Norm und Faktizität, rechtliches Dürfen und tatsächliches Können stehen oft in einem Spannungsverhältnis". 53 Ohne maßgebliche normative Aussagekraft ist es deshalb, wenn zur Stärkung der Gemeinschaftsrechtsordnung auch und gerade gegen die Existenz revisionsfester Kerne des Primärrechts betont rechtspolitisch ins Feld geführt wird, den zur Einhaltung der (ungeschriebenen) Grenzen ggf. nicht willigen Mitgliedstaaten würde anderenfalls Anlaß geboten, die Verträge jenseits des vorgesehenen VertragsänderungsVerfahrens im Wege des allgemeinen Völkerrechts zu revidieren. 54 In Anbetracht des Bedingungszusammenhangs zwischen der Ermittlung änderungsfester Kerngehalte des Primärrechts und der Problemstellung, ob bzw. inwieweit die Mitgliedstaaten der Europäischen Union - rechtlich oder faktisch 55 - (noch) „Herren der Verträge" 56 sind, unterliegen juristische Begründungsmodelle der Gefahr, von integrationspolitischen Vorstellungen nicht nur überlagert, sondern in einer Weise dominiert zu werden, die deren normative Leistungsfähigkeit übersteigt. Das schließt nicht aus, diesen Vorstellungen etwa im Zusammenhang mit den Zielbestimmungen Relevanz beizumessen und Ever ling, in: FS Mosler, S. 173 (184): „Wer so argumentiert, verwechselt Recht und Macht." 52 Vgl. Beutler, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil (Die Europäische Union, 4. Aufl. [1993], S. 78): der Umfang der Position der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge sei, da die Gemeinschaftsverträge infolge detaillierter Regelung der Vertragsänderung den Grundsätzen des Völkerrechts keinen Raum ließen, „letztlich eine politische Frage"; ausschließlich auf die rechtlichen Beschränkungen rekurrierend und die Kennzeichnung als „Herren der Verträge" als „irreführend" einstufend jetzt ders., a.a.O., 5. Aufl., Rdnr. 117. 53

Rudolf Bernhardt, Die „Verfassung" der Gemeinschaft, S. 77 (84); vgl. auch da Cruz Vilaça/Piçarra, CDE 1993, S. 3 (37); siehe ferner bereits v. Simson, in: FS Riese, S. 83 ff. Vgl. zur Bedeutung der normativen Kraft des Faktischen im Zusammenhang mit dem Verfassungswandel schon Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, S. 21 und 71. Zur (historisch) kontroversen Auseinandersetzung mit dieser Verbindung bei Jellinek näher Pauly, in: ders. (Hrsg.), Einführung zu Jellinek, a.a.O., S. VII ff. Siehe überdies zu den Grenzen der „Wirksamkeit" von Ewigkeitsklauseln, die keine „politische Lebensversicherung" darstellten, und zur „Gefahr" der vorschnellen Ausgrenzung verfassungspolitischer Alternativen Häberle, in: FS Haug, S. 81 (103 f.). 54 So zuerst Ehlermann, EuR 1984, S. 113 (123); Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, 2. Grundlieferung, Art. 236 EWGV Rdnr. 4; Trautwein, ZfRV 1992, S. 126 (127); da Cruz Vilaça/Piçarra, CDE 1993, S. 3 (33). 55 56

Siehe Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 140 ff

Vgl. BVerfGE 75, 223 (242); 89, 155 (190); zur Bedeutung im Schrifttum vgl. die umfangreichen Nachweise bei Gotting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 59 ff.

Einführung selbige zugleich als Ausdruck sowie als Auftrag zur Fortentwicklung bereits verankerter gemeinsamer Werte zu begreifen. Sowohl vor dem Hintergrund bisheriger als auch in der Perspektive zukünftiger Integrationsfortschritte wird mit besonderem Interesse verfolgt, ob mittlerweile ein „acquis fondamental matériel" 57 normativ „verewigt" worden ist oder ein erhöhtes Maß an „Konstitutionalität", schließlich gar die völlige Eigenständigkeit der Europäischen Rechtsordnung durch Kappung der „völkerrechtlichen Nabelschnur" 58 konstatiert werden kann. Der angesichts dessen naheliegende, grundsätzliche Vorwurf, die Ermittlung zwingenden Primärrechts fuße auf außerrechtlicher, vornehmlich integrationspolitisch motivierter Argumentation 59 , trägt allerdings nur dann, wenn anstelle der zentralen Frage nach dem Geltungsgrund änderungsfester Prinzipien deren Charakter lediglich anhand einer relativ-vergleichenden Wertigkeitsbestimmung 60 untersucht und die zu ermittelnde Änderungsresistenz vordergründig als juristische Zementierung des sog. „point of no return" 61 der Integration begriffen wird. Der letztgenannte Aspekt deutet in sachlicher Hinsicht jedoch auf spezifische Problemzusammenhänge: So wenig die Existenz eines änderungsfesten Kerns des Primärrechts die Unauflöslichkeit der Union zwingend präjudiziell, so problematisch ist umgekehrt die dem ersten Anschein nach per argumentum a fortiori getroffene Schlußfolgerung von der existentiellen Verfügungsbefugnis der Mitgliedstaaten auf eine gleichfalls bestehende vollumfängliche Verfügungsbefugnis über primärrechtliche Normen innerhalb der Unions- und Ge-

57

Da Cruz Vilaça/Piçarra , CDE 1993, S. 3 (29). Vgl. Herdegen, in: FS Everling, S. 447 (448). 59 Vgl. Heintzen, EuR 1994, S. 35 (45, 48 f.); der Vorwurf einer integrationspolitisch motivierten „Glaubensfrage" wird auch in bezug auf die Problematik einer stillschweigenden Abweichung von dem (unions-)vertraglichen Änderungsverfahren erhoben; siehe Ress, in: ders./Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 49 (69), zu Art. 236 EWGV. 58

60 Dieser Befund negiert nicht jeglichen Zusammenhang zwischen Rangstufung und Normgehalt. 61 Vgl. zu diesem Sprachbild etwa Léotin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 182; Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts, S. 120 f.; Ress, JuS 1992, S. 985 (991); Trautwein, ZfR 1992, S. 126 f.; Schweitzer, VVDStRL 53 (1994), S. 48 (52); Heintzen, EuR 1994, S. 35; Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 90; Folz, Demokratie und Integration, S. 144 ff.; Bunk, Die Verpflichtung zur kohärenten Politikgestaltung im Vertrag über die Europäische Union, S. 54; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 910; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 10 III, S. 78; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdnr. 427.

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48

meinschaftsrechtsordnung. 62 Daß sich eine auf den ersten Blick vermeintlich klare Dichotomie zwischen teilweiser Änderungsfestigkeit des Primärrechts und mitgliedstaatlicher Souveränität keinesfalls zwangsläufig ergibt, folgt bereits aus der Notwendigkeit näherer Bestimmung des Geltungsgrundes änderungsresistenter Prinzipien. Die Ermittlung einer gewissen „Verfassungsverdichtung" als - tragbare, brüchige oder untaugliche - „Plattform" 63 zur Übertragung an Staatlichkeit orientierter Begründungsmodelle der allgemeinen Verfassungslehre muß dabei ggf. anders bewertet werden als Ansätze, welche die Herausbildung eigenständigen „ius' cogens particularis" bzw. „regionalis" oder änderungsfester allgemeiner Rechtsgrundsätze nachzuweisen versuchen. Schließlich wird das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik von einem weiteren Aspekt bestimmt: Die Jurisprudenz stößt ihrerseits an ihre Grenzen, wenn sie die Funktion dessen übernehmen will, was allein als politischer Vorgang denkbar ist, nämlich die Herausbildung eines vom pouvoir constitué verschiedenen europäischen pouvoir constituant bzw. die Begründung des politischen Selbstandes als Substrat eines vorausgesetzten Verfassungsifunktionsiverständnisses. 64

II. Grundlegende Problemstellungen und Aufbau der Untersuchung Wie bereits der Bezug auf das Bild von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge" verdeutlicht, deren Änderungsspielraum durch indisponible Fundamentalnormen beschränkt werden könnte, brächte die Existenz irreversiblen Primärrechts in besonderer Weise die Autonomie des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts, mithin eine weitreichende „Emanzipation" von, ggf. selbst innerhalb der Völkerrechtsordnung zum Ausdruck. Das damit augenscheinlich verbundene Souveränitätsverständnis steht durchaus in interdependenter Relation zu Wandlungen im Bereich der Allgemeinen Staatslehre; verbreitet wird bereits eine Betrachtungsweise angestrebt, die die Position des Einzelstaates in der Staatengemeinschaft umfassend würdigt, wobei eine „Verringerung der Omni-

62

Vgl. Herdegen,, in: FS Everling, S. 447 (457); Bieber, ZSchwR 112 (1993), S. 327 (335). 63

Vgl. Heintzen,, EuR 1994, S. 35 (49). Siehe Heintzen, EuR 1994, S. 35 (45); gemeint ist damit letztlich ein außerrechtlicher politischer Beteiligungsmechanismus der Bürger als Gesamtheit und als Basis der Verfassunggebung wie der politischen Selbstbestimmung überhaupt, vgl. Christoph Möllers, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 1 (31). 64

Einführung potenz des Staates nach aussen ... auch neue Varianten in der Lehre von Staatszweck und Staatsrechtfertigung entstehen" ließe 65 . Dieser Befund verleitet zu dem Schluß, es bedürfe im vorliegenden Zusammenhang grundsätzlicher Auseinandersetzung mit den noch immer höchst umstrittenen Fragen, inwieweit das Unionsrecht und die innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen (noch) allgemeinem Völkerrecht unterliegen bzw. in welchem Maße Union oder Gemeinschaft durch eine „Verfassung" verankert sind oder Staatsqualität aufweisen. Allerdings kann und soll einer dahingehenden Problemstellung im Rahmen dieser Untersuchung jedenfalls nicht in allumfassender Hinsicht nachgegangen werden. Vielmehr kommt es darauf an, die Fragen nach der Verfassungsqualität und der Autonomie des Europarechts insoweit zu betrachten, als diese in Form von Prämissen für (staats-)theoretische Konzepte bzw. für das Rechtsinstitut der Revision funktional von Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch bereits vorzufindende Argumentationsansätze systematisieren, analysieren und ggf. fortentwickeln. Dabei sind gleichzeitig die Wechselbeziehungen zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht auf der einen und den nationalen Verfassungen sowie der Völkerrechtsordnung auf der anderen Seite zu würdigen, sei es in bezug auf die (Erkenntnis-)Quelle zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze bzw. im Hinblick darauf, inwieweit auch das Völkerrecht als Bestandteil der Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts anzusehen ist 66 . Diese Interdependenzen beeinflussen unmittelbar auch eine zentrale methodische Problemstellung, nämlich die normative Verankerung einer Hierarchisierung oder besonderen Bestandssicherung des Primärrechts. 67 In Ergänzung der bereits benannten Schwierigkeit der Übertragbarkeit staatsrechtlicher Konzepte gilt es zu klären, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen nationale und im Hinblick auf ius cogens auch völkerrechtliche Rangstufungen im Rahmen einer „Hochzonung" zum primärrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsatz bestehen bleiben, ferner, ob die national determinierte Änderungsfestigkeit bestimmter Normgehalte im Rechtsvergleich weitgehend einheitlich begründet werden muß oder Grenzen der Revision des Primärrechts etwa auch auf gemischt positivüberpositive Konzeptionen zurückzuführen sein könnten, und schließlich, wie deren Wirkungsweise beschrieben werden kann.

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Vgl. Doehring, Allgemeine Staatslehre, Einführung, Rdnr. 2.

66

EuGH, Urt. v. 16.6.1998, Rs. C-162/96 (Racke/Hauptzollamt Mainz), Slg. 1998, I3655 (3704 Rdnr. 46) zu den Regeln des Völkergewohnheitsrechts (speziell zur „clausula rebus sie stantibus") im Verhältnis zu sekundärem Gemeinschaftsrecht. 67 Siehe zum Verhältnis zwischen Bestandssicherung und Hierarchisierung insbesondere 5. Kap. I. 1. e). Vgl. nunmehr auch vonArnauld, EuR 2003, S. 191 (193 f., 210 ff.).

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Einführung

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Frage der Existenz europarechtlicher, formeller und materieller Grenzen der Revision des Primärrechts und deren Wirkungen. Schwerpunkte bilden die Exklusivität formeller Grenzen unter dem Gesichtspunkt der (gleichzeitigen) Geltung des allgemeinen Völkerrechts sowie die theoretische Fundierung eines Geltungsgrundes änderungsfester Normgehalte und die Problematik einer Inhaltsbestimmung materieller Grenzen. Der erste Teil der Untersuchung behandelt die den formellen und materiellen Grenzen gemeinsamen Grundlagen der Revision. In einem ersten Schritt wird das Institut der (Vertrags-)Revision im Hinblick auf das als Gegenstand einer Änderung in Betracht kommende Primärrecht (1. Kap.) von solchen Mechanismen und Wirkungsweisen abgegrenzt werden, die jenseits eines förmlichen Änderungsverfahrens das primärrechtliche NormengefÜge inhaltlich beeinflussen, ergänzen oder „verändern" (2. Kap.); in diesem Zusammenhang sollen bereits die Natur möglicher Revisionshindernisse untersucht und der Begriff der „Grenze" vorläufig definiert werden. Vor diesem Hintergrund widmet sich der zweite Teil den formellen Grenzen der Revision des Primärrechts im Spannungsfeld zwischen Europa- und Völkerrecht. Dabei sollen zunächst Anwendungsbereich und Voraussetzungen der im primären Vertragsrecht normierten Revisionsverfahren untersucht werden (3. Kap.), bevor anschließend die Exklusivität des europarechtlichen Revisionsverfahrens und deren Reichweite im Hinblick auf die Anwendbarkeit allgemeinen Völkerrechts den Gegenstand der Betrachtung bildet (4. Kap.); davon mit umfaßt ist die Frage nach den formellen Grenzen der Abänderbarkeit der Bestimmungen über das Revisionsverfahren selbst. Von den methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Bestimmung materiell änderungsfester Kerne des Primärrechts in der Europäischen Union handelt der dritte Teil. Eine vergleichende Betrachtung der Struktur der Bestandssicherung von Normen anhand (positiver) verfassungsrechtlicher „Ewigkeitsklauseln", völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen sowie (verfassungsrechtlicher) Ansätze ungeschriebener Grenzen dient als Maßstab normativ-indizieller Aussagen des Primärrechts (5. Kap.); nach einer Würdigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs werden die methodischen Grundprobleme eines Ansatzes änderungsfester allgemeiner Rechtsgrundsätze herausgearbeitet, bevor die Evaluation materialer Konzeptionen, die nicht allein wegen des zugrunde gelegten Verfassungsbegriffs stets kritischer Bewertung bedürfen, zu dem Versuch überleiten, ein primär rechtsvergleichendes Modells änderungsfester Grenzen zu begründen. Im 6. Kap. werden zwingende Rechtsgrundsätze des Primärrechts identifiziert und ihr Gehalt näher bestimmt. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Demokratieprinzip, das sich im supranationalen Zusammenhang, zumal in bestandsgeschützer Form, nur behutsam konkretisieren läßt.

Einführung Das Bild eines acquis communautaire intangible wird mittels der tragenden Argumentationslinien der Identifikation und Konturierung weiterer zentraler Rechtsgrundsätze ergänzt. Eine sowohl den Prüfungsmaßstab und -umfang als auch mögliche Verfahrensarten einschließende Untersuchung der Justitiabilität der ermittelten formellen und materiellen Grenzen (7. Kap.) und ein Ausblick schließen die Arbeit ab.

/. Teil

Grundlagen 1. Kapitel

Das Primärrecht als Gegenstand der Revision I. Das System primären Unions- und Gemeinschaftsrechts Bereits die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Art. 48 und 49 EUV erfordern die Abgrenzung der revisionsgegenständlichen, primärrechtlichen „Verfassung" 1 von Union und Gemeinschaften gegenüber den auf der Grundlage dieses Primärrechts erlassenen sekundären Rechtsregeln. Darüber hinaus kann sich die Zuordnung zum Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht als bedeutsam erweisen, sei es im Hinblick auf die Wirkungen formell fehlerhafter Änderungen, sei es unter dem Gesichtspunkt möglicher ungeschriebener Grenzen für das jeweilige Rechtsregime. Schließlich kann Primärrecht grundsätzlich nur durch Normen geändert bzw. modifiziert werden, die derselben Rangstufe zuzuordnen sind. Der Einteilung in primäres und sekundäres Recht unterliegen sowohl das Unions- als auch das Gemeinschaftsrecht. Auf das auch revisionsrechtlich diffizile Verhältnis von Unions- und Gemeinschaftsrecht wird im Verläufe der Untersuchung noch mehrfach einzugehen sein.2 Das primäre Unionsrecht umfaßt nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis die Art. 1 - 7 sowie 11 52 EUV. Es ist damit ungeachtet der rechtlichen Qualifikation der Europäischen Union und des Verhältnisses zwischen Union und Gemeinschaften nicht auf die operativen Aufgabenfelder GASP (Titel V) und PJZS (Titel VI) im Sinne des „Rechts der zweiten und dritten Säule"3 beschränkt.4 Denn auch die 'Näher 4. Kap. III. 2. c) aa) (3). Siehe nebst II. 1., III. 3., 3. Kap. II. 4. a) bb) vor allem 4. Kap. IV. 3 Vorliegend wird vom sog. „3-Säulen"-Modell ausgegangen, dem zufolge die erste Säule aus den (vormals drei [vgl. Art. 97 EGKSV], nunmehr) zwei Europäischen Gemeinschaften besteht, die beiden weiteren durch die GASP bzw. durch die PJZS gebildet werden; siehe etwa BVerfGE 89, 155 (159); Wichard, EuR, Beiheft 2/1999, S. 171 (176 m.w.N.); Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 99. Nach anderer Einteilung ließe sich sowohl von einem „2-Säulen-Modell" (intergouvernementale und supranationale Säule) als auch von einer aus fünf Säulen bestehenden Konzeption ausgehen (jede der [vormals] drei Gemeinschaften bildet nebst GASP und PJZS eine eigene Säule), vgl. 2

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

53

zumeist als überwölbendes Dach der Union beschriebenen Gemeinsamen Bestimmungen (Titel I) und die im Rahmen dieses „Säulen-" oder „Tempelmodells" den Sockel bildenden Schlußbestimmungen (Titel VIII) teilen angesichts ihrer rechtlichen Verbundfimktion und ihres „Verfassungscharakters" den Rang vertraglichen Primärrechts und unterliegen den gleichen Revisionsmechanismen und -anforderungen. Insofern kommt es nicht darauf an, ob sie in ihrem konkreten Regelungsbereich zugleich die Ableitung eigenständigen Rechts in den intergouvernementalen Beziehungen ermöglichen. Demgegenüber enthalten die (allgemeinen) Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit (Titel VII) als „ leges generates " unionsrechtliche Vorgaben für den Erlaß partikularen Sekundärrechts sowohl im Gemeinschaftsrecht als auch in den Bereichen GASP und PJZS und sind gerade im Hinblick auf diese übergreifende Funktion als primäres Unionsrecht zu qualifizieren. Als unselbständige und in bezug auf ihren Regelungsgehalt in die Gemeinschaftsverträge aufgenommene und aufgegangene Bestimmungen zählen die Titel II - IV (Art. 8 - 1 0 ) EUV nicht zum primären Unionsrecht im Sinne der Untersuchung (vgl. auch Art. 47 EUV). Eine nachfolgende Änderung der Gründungsverträge der Gemeinschaft erfolgt konsequenterweise auch nicht über eine Änderung der Titel II - IV, d.h. der sachlichen Änderungsbestimmungen des EUV, sondern erfaßt die Gemeinschaftsverträge unmittelbar, wie dies etwa durch den Amsterdamer Vertrag geschehen ist.5 Unter „Gemeinschaftsrecht" wird im Rahmen der Un-

Pechstein/Koenig, a.a.O.; das „5-Säulen-Modell" wird vertreten von Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. A EUV Rdnrn. 4 f. (36, 41) m.w.N. zu beiden Modellen; zum Modell der 4 Säulen nach Ablauf des EGKSV Streinz, Europarecht, Rdnr. 121 a. Zu weiteren bildlichen Darstellungen etwa Vedder, EuR, Beiheft 1/1999, S. 7 (11), und Gerteiser, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, S. 72 ff. Vgl. zur Problematik der kontrovers diskutierten Architektur der Europäischen Union für die formellen Grenzen der (Vertrags-)Revision 4. Kap. Kritisch zur Metaphorik des „Tempels", der „Säule" und des „Daches", der keinerlei dogmatischer Erkenntniswert zukomme, von Bogdandy/Nettesheim, EuR 1996, 5. 3 (7f.); ebenfalls kritisch unter dem Gesichtspunkt einer der Dynamik des Gemeinschaftsrechts schlechthin widersprechenden Statik eines Gebäudes Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 150 f. Siehe schließlich Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 37 („Verlegenheitslösung"); ders., in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 373 (378). 4

Gleichwohl wird das Unionsrecht häufig nur auf die operativen Aufgabenfelder der Union bezogen, vgl. Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnrn. 8 f. Nach anderer Lesart umfaßt das Unionsrecht das Recht aller drei Säulen (vgl. Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 20). In diesem Fall spricht man nach herkömmlichem Verständnis vom „Recht der Europäischen Union", vgl. noch Schweitzer, a.a.O. (7. Aufl.), der den Begriff nunmehr (a.a.O., 8. Aufl.) zu Recht auf den „gesamten Tempel" ausweitet. 5

Vgl. Herrnfeld,

in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 47 Rdnrn. 2 f.

1. Teil: Grundlagen

54

tersuchung in einem engeren Sinn das Recht der Europäischen Gemeinschaften - EG, EAG und (vormals) EGKS 6 - verstanden.7 Gewisse Einordnungsschwierigkeiten resultieren daraus, daß sowohl die Gemeinsamen als auch die Schlußbestimmungen des EUV - gemäß ihrer Regelungsintention - Vorschriften beinhalten, die EUV und die Gemeinschafisverträge bzw. Union und Gemeinschaften institutionell, inhaltlich, verfahrenstechnisch und verfahrensrechtlich miteinander verknüpfen. Welcher Art und rechtlicher Natur diese Bindungen sind, für die neben den Schlußbestimmungen insgesamt insbesondere Art. 1 Abs. 3, Art. 2 und Art. 3 sowie Art. 5 - 7 EUV von besonderer Bedeutung sind, wird noch ausführlich zu behandeln sein.8 Angesichts dieser Verknüpfung des EUV mit der Gemeinschaftsrechtsordnung ist nicht nur davon gesprochen worden, daß damit (möglicherweise) verbundene „implizite Änderungen" des Gemeinschaftsrechts zu ergänzenden Normgehalten in Form ungeschriebener Bestandteile des Gemeinschaftsrechts würden, 9 sondern auch „das gegenüber der Gemeinschaftsrechtsordnung selbständig bleibende Unionsrecht als eine spezifische Art des Nebengemeinschaftsrechts" angesehen worden. 10 Die vorstehende Beschreibung kennzeichnet die grund6

Der EGKSV ist am 23.7.2002 ausgelaufen (vgl. vormals Art. 97 EGKSV). Mit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza gilt das „Protokoll über die finanziellen Folgen des Ablaufs des EGKS-Vertrags und über den Forschungsfonds für Kohle und Stahl" (AB1.EG 2001 Nr. C 80, S. 67 f.) Dessen Art. 1 Abs. 1 lautet: „Das gesamte Vermögen und alle Verbindlichkeiten der EGKS zum Stand vom 23. Juli 2002 gehen am 24. Juli 2002 auf die Europäische Gemeinschaft über." Das Protokoll sollte gem. dessen Art. 4 ursprünglich bereits ab dem 24. Juli 2002 Gültigkeit erlangen; der Vertrag von Nizza trat allerdings erst am 1.2.2003 in Kraft. Für die Zwischenzeit bestimmte Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 27.2.2002 (2002/234/EGKS. AB1.EG Nr. L 79, S. 42 f., berichtigt gem. ABl.EG Nr. L 196, S. 64): „Das gesamte Vermögen und alle Verbindlichkeiten der EGKS mit Stand vom 23. Juli 2002 werden am 24. Juli 2002 an im Namen der Mitgliedstaaten von der Kommission verwaltet." Gem. Art. 4 endet der Beschluß „zu dem Zeitpunkt, zu dem die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten der EGKS auf die Europäischen Gemeinschaft übertragen worden sind." Siehe zum Ganzen auch Obwexer, EuZW 2002, S. 517 ff; zur Rechtsnatur uneigentlicher Ratschlüsse 2. Kap. III. 3. 7 Demgegenüber bezeichnet das „Gemeinschaftsrecht" im weiteren Sinne das Recht einer Gesamtheit von Staaten, die sich zu einer internationalen Organisation, einer „Gemeinschaft", zusammengeschlossen haben, vgl. Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rdnr. 1502. 8

Siehe 4. Kap. IV. 2. a) aa) (3) (b) (aa), b) bb) (3) (a).

9

Siehe dazu III. 3. Pache, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. M EUV Rdnr. 16. Vgl. auch bereits Hilf in: Bieber/Ress (Hrsg.), Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 251 ff., der diesen Begriff gleichfalls auf Handeln außerhalb des Gemeinschaftsrechtsrahmens bzw. neben der Gemeinschaft bezieht. Von diesen spezifischen Konnotationen zu unter10

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

55

sätzliche und funktionelle Bedeutung dieser spezifischen Teile des Unionsrechts, das in Ermangelung der gemeinschaftsrechtlichen Charakteristika des Anwendungsvorrangs und der unmittelbaren Anwendung 11 allerdings kein auch kein ergänzendes - Gemeinschaftsrecht darstellt. Gerade im Hinblick auf die Gemeinsamen Bestimmungen vermag die Bezeichnung „Nebengemeinschaftsrecht" die Verbundfunktion des Unionsrechts besonders zu verdeutlichen, auch wenn damit keine hierarchische oder spezifisch anwendungsbezogene Kollisionsregel verbunden ist 12 bzw. mögliche Kollisionen gar nicht erfaßt werden sollen. Die Einteilung des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts in primäre und sekundäre Normen erfolgt ungeachtet dessen, ob allein mit dieser ursprünglich völkerrechtlich determinierten Unterscheidung 13 zwischen den Gründungsverträgen einer Internationalen Organisation einerseits und den aufgrund dieser Verträge erlassenen Rechtsakten der internen Staatengemeinschaft andererseits die Besonderheiten der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Union zutreffend erfaßt werden. Vielfach wird die Differenzierung zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht im Sinne einer Gegenüberstellung der „verfassungsrechtlichen Rolle der Verträge" mit „einer Art einfachen Gesetzesebene" 1 4 ergänzend konkretisiert, um den „staatsnahen Charakter" der Europäischen Gemeinschaft hervorzuheben. Auf der anderen Seite ist die Europäische Union nach h.L. allerdings keine eigenständige Internationale Organisation. 15

scheiden ist das Konzept der „völkerrechtlichen Nebenverfassungen"; siehe dazu Uerpmann, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339 ff. 11

Pache, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. M EUV Rdnrn. 15 f., 22 f.; Vedder, EuR, Beiheft 1/1999, S.7(8). 12 Bunk , Die Verpflichtung zur kohärenten Politikgestaltung im Vertrag über die Europäische Union, S. 50 f. 13

Siehe Seidl-Hohenveldern/Loibl, Rdnrn. 1502 f. 14

Das Recht der Internationalen Organisationen,

Oppermann, Europarecht, Rdnr. 473, unter Berufung auf das Gutachten 1/91 des EuGH vom 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991,1-6079. 15 Die Problematik beruht insbesondere auf der Streitfrage, ob die Union Völkerrechtssubjektivität genießt bzw. ob ihr im Falle der Verneinung derselben gleichwohl der Status einer Internationalen Organisation zukommt. Gegen eine Qualifikation als Internationale Organisation Streinz, ZfRV 1995, S. 1 (4); Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnrn. 62 ff., 85; dafür Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rdnr. 0119 e.; Schroeder, in: Hummer/Schweitzer, Österreich und die Europäische Union, S. 3 ff; ferner Dörr, EuR 1995, S. 334 (337 ff.), sowie Griller, EuR, Beiheft 1/1999, S. 45 ff. (50, 72); ausführlich zur gesamten Problematik Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der Europäischen Union, S. 141 ff, 291 ff. Vgl. zur Architektur der Europäischen Union v.a. auch von Bogdandy/Nettesheim, NJW

56

1. Teil: Grundlagen

Gleichwohl findet sich auch im Unionsrecht das durch die Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Recht vermittelte hierarchische Prinzip. Durch den Amsterdamer Vertrag hat die Normenhierarchie im Bereich der PJZS in Art. 35 i.V.m. Art. 46 lit. b EUV explizit Niederschlag gefunden. Sie gilt darüber hinaus auch im Bereich der GASP. Obwohl das primäre Gemeinschaftsrecht in Rang und Charakter grundsätzlich eine einheitliche Rechtsmasse bildet, entstammt es unterschiedlichen geschriebenen und ungeschriebenen - Rechtsquellen.16 Gleiches gilt grundsätzlich für das Unionsrecht, auch wenn diesbezüglich zumeist das Vertragsrecht im Vordergrund steht. Entsprechend der mittlerweile überwiegenden Klassifizierung sollen die europarechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie das Gewohnheitsrecht nur als „ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht" behandelt werden 17 , ungeachtet der kontrovers diskutierten Frage, ob bzw. inwieweit auch auf sekundärrechtlicher Ebene zu erfassende Gehalte in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze oder im Rahmen von Gewohnheitsrecht verbürgt sind.

II. Vertragsrecht /. Typologie der Verträge und Vertragsbestandteile Das vertragliche Unions- bzw. Gemeinschaftsprimärrecht besteht vornehmlich aus dem EUV sowie den Gründungsverträgen der Gemeinschaften. Gem. Art. 311 EGV sind die dem EGV beigefügten Protokolle Bestandteil des Vertrages. Entsprechende Regelungen finden sich in Art. 207 EAGV und waren vormals in Art. 84 EGKSV 1 8 enthalten. Die den Verträgen beigefügten Proto1995, S. 2325 ff., von Bogdandy, EuR, Beiheft 2/1998, S. 165 ff., einerseits sowie Koenig, EuR, Beiheft 2/1998, S. 139 ff., andererseits. 16 Vgl. dazu EuG, Urt. v. 29.1.1998, Rs. T-113/96 (Dubois et Fils/Rat der EU und Kommission der EG), Slg. 1998,11-125 (140 Rdnr. 41). 17 Der Unterscheidung der Quellen nach primärem und sekundären Recht einerseits sowie „daneben" existierendem ungeschriebenem Gemeinschaftsrecht andererseits (vgl. Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 321), macht wenig Sinn, wenn vor dem Hintergrund des einheitlichen Charakters sowie des einheitlichen Rangs des Primärrechts die allgemeinen Rechtsgrundsätze dem Primärrecht schließlich wieder „zuzuordnen" bzw. diesem gleichzustellen sind (Schweitzer, a.a.O., Rdnr. 397). 18

Anders als Art. 311 EGV und Art. 207 EAG normierte Art. 84 des am 23. Juli 2002 ausgelaufenen EGKSV keinen rechtlichen Verbund mit den „diesem Vertrag ... beigegebenen Protokolle(n)", sondern enthielt - ähnlich wie Art. 2 Nr. 1 lit. a WVK - eine unmittelbar integrierende Begriffsbestimmung des „Vertrages". Das „Protokoll über die finanziellen Folgen des Ablaufs des EGKS-Vertrags und über den Forschungsfonds für

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

57

kolle gehören daher ebenfalls zum primären Vertragsrecht und unterliegen hinsichtlich ihrer Anwendung und Auslegung denselben Regeln wie die Verträge. 19 Gleiches gilt vorbehaltlich der in den jeweiligen Protokollen selbst enthaltenen autonomen Verfahrensbestimmungen auch für die Abänderung der Protokolle. 20 Ausgenommen von der vertraglich verankerten Verknüpfung sind demgegenüber die der Schlußakte beigefügten „Gemeinsamen Erklärungen" und „Absichtserklärungen" sowie die „Erklärungen" einzelner Regierungen. 21 Wird ein Protokoll sowohl dem Vertrag über die Europäische Union als auch den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften beigefügt, so unterfällt es gleichwohl Art. 311 EGV. 2 2 Auf der anderen Seite werden die (ausschließlich) dem Vertrag über die Europäische Union beigegebenen Protokolle von dieser Bestimmung nicht erfaßt, und im EUV findet sich keine entsprechende Verknüpfungsregelung. Läßt sich daher auf allgemeines Völkervertragsrecht zurückgreifen, so ergibt sich der Charakter der dem EUV beigefügten Protokolle als primäres Unions(vertrags)recht unter Rückgriff auf Art. 2 Nr. 1 lit. a der W V K 2 3 , die insoweit als Kodifizierung entsprechender Grundsätze des Völkergewohnheitrechts betrachtet werden kann 24 , aus dem inhaltliKohle und Stahl" (AB1.EG 2001 Nr. C 80, S. 67 f.) wurde ,jum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschlossen und mithin diesem beigegeben, enthält es doch Regelungen zur Integration von Vermögen und Verbindlichkeiten in die EG (Art. 1 Abs. 1 ), institutionelle Befugnisse der Gemeinschaftsorgane (Art. 2) sowie mit Art. 3 eine Bestimmung zum Verhältnis zum EGV und zur Anwendung von dessen Vorschriften. 19

Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 2; Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnrn. 8 ff; zum Problem zunehmender Zersplitterung der Vertragstexte in Vertragsund Nebenurkunde(n) sowie zur damit verbundenen Problematik einer Rangstufung einzelner Protokollbestimmungen jenseits der Einteilung in Primär- und Sekundärrecht vgl. Becker, in: Schwarze, EGV/EUV, Art. 311 EGV Rdnr. 4. 20

Becker, in: Schwarze, EGV/EUV, Art. 311 EGV Rdnrn. 2 f. Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 4; Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EGV/EUV, Art. 239 EGV Rdnr. 6; Geiger, EUV/EGV, Art. 311 EGV Rdnrn. 3 f.; Booß, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 311 EGV Rdnr. 5. 21

22

Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 3. Die Vorschrift definiert den Begriff des Vertrages als „eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten, gleichviel ob sie in einer oder mehreren zusammengehörigen Urkunden enthalten ist und welche besondere Bezeichnung sie hat". 24 Vgl. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, S. 40, 92 ff.; ders., Universelles Völkerrecht, § 672; Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 2 f.; Se idi- H ohe nvelder n/Stein, Völkerrecht, Rdnr. 205; ferner Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 114; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völker23

58

1. Teil: Grundlagen

chen Zusammenhang mit dem Unionsrecht, speziell in bezug auf GASP und ZBJI bzw. PJZS.25 Die nachfolgenden Änderungsvereinbarungen zu EUV und EGV 2 6 sind gleichfalls primärrechtlicher Natur. Zu diesen zählen etwa der Fusionsvertrag von 1965 sowie die Einheitliche Europäische Akte von 1985 als gemeinschaftsrechtliche Verträge, ferner der Vertrag von Maastricht, der neben seiner Eigenschaft als Gründungsvertrag der Union zugleich die Gründungsverträge der Gemeinschaften geändert hat, sowie der Amsterdamer Vertrag und der Vertrag von Nizza, mit denen sowohl der Unionsvertrag als auch die Gemeinschaftsverträge einer Revision unterzogen wurden. Die Systematik der Beitrittsverträge bedarf einer gesonderten Betrachtung. 27 Vertragsänderungen werden auch dann Bestandteil des Primärrechts, wenn sie in formeller Hinsicht sog. atypischen Vertragsänderungsverfahren entspringen, d.h. vornehmlich der Rat bzw. die Organe die Änderungen im halbautonomen 28 oder autonomen29 Verfahren beschließen.30 Da die im halbautonomen recht, Einleitung vor §9 Rdnr. 5, §9 Rdnr. 1; Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 201. 25 Siehe Koenig/Pechstein, Die Europäische Union, Rdnr. 195. 26 Siehe die Auflistung bei Krück, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/ EGV, Art. 164 Rdnr. 14, sowie die Hinweise auf die Texte zur Änderung oder Ergänzung des EUV und EGV im Anhang des Kommentars (S. 1457). 27

Siehe unten 3.

28

Vgl. Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 [str.; a.A. Thym , DVB1. 2000, S. 676 (679 f.)]; Art. 42 EUV; Art. 22 UAbs. 2 EGV; Art. 190 Abs. 4 EGV; Art. 229 a EGV; Art. 269 Abs. 2 EGV. Vgl. zum halbautonomen Verfahren 3. Kap. III. 1. Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 i.d.F. des Vertrages von Nizza beinhaltet im Gegensatz zu Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 und 4 EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam keine Bestimmung zur halbautonomen Änderung mehr: Sah noch der Vertrag von Amsterdam die Möglichkeit zur Integration der WEU, die seit dem Vertrag von Maastricht „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union" gewesen ist (Art. J.4 Abs. 2 S. 1 EUV), in die Europäische Union vor, wird infolge der Änderungen durch den Vertrag von Nizza nicht mehr auf die operativen Kapazitäten der EU zurückgegriffen. Ungeachtet der grundlegenden Restrukturierung der GASP wurde gleichwohl die Revisionsklausel des Art. 17 Abs. 5 EUV in Form des allgemeinen Verweises auf Art. 48 EUV beibehalten. 29 Vgl. Art. 133 Abs. 7 EGV {Abs. 5 i.d.F. des Vertrages von Amsterdam); Art. 187 EGV; Art. 213 Abs. 1 UAbs. 2 EGV; Art. 225 a Abs. 1 EGV (vgl. Art. 222 Abs. 3 i. V.m. Art. 223 Abs. 3 EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam)·, Art. 225 a Abs. 1 (vgl. Art. 225 Abs. 2 EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam)', Art. 245 Abs. 2 EGV (die Amsterdamer Fassung betraf lediglich Titel III der Satzung); Art. 140 b Abs. 1 EAGV (vgl. Art. 140 a Abs. 2 S. 1 EAGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam)', Art. 160 Abs. 2 EAGV; Art. 32 e Abs. 1 EGKSV (vgl. Art. 32 dAbs. 2 S. 1 EGKSV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam)', Art. 95 Abs. 3 und 4 EGKSV (siehe zur letztgenannten Vorschrift 3. Kap. IV.). Der EGKSV ist am 23.7.2002 ausgelaufen (Art. 97 EGKSV).

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

59

Verfahren beschlossenen Änderungen den Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zur Ratifikation zu unterbreiten sind, beruht der eigentliche Geltungsgrund erst auf mitgliedstaatlichem Handeln, welches dem Ratsbeschluß primärrechtliche Qualität vermittelt. 31 Beschließt der Rat demgegenüber ohne mitgliedstaatliche Mitwirkung gemäß den vertraglichen Vorschriften autonom, läßt sich das Handeln gleichwohl nicht auf organschaftliches und damit sekundärrechtliches Tätigwerden reduzieren. 32 Maßgeblich ist auch hier, daß der beschlossene Inhalt seinerseits die Grundlagen für das Organhandeln sowie die Struktur von Union und Gemeinschaften bestimmt und damit zur Verfassung im funktionalen Sinne zu rechnen ist. 33 In der primärrechtlich vereinbarten autonomen Änderungsvorschrift, die ihrerseits mitgliedstaatlich erzeugt und legitimiert worden ist, ist die Legitimation der ausgestaltenden Änderung bereits angelegt, der Inhalt gerade hier in aller Regel bereits vorgezeichnet. Die Überprüfbarkeit jeglichen Organhandelns bleibt in diesem Zusammenhang lediglich ein Postulat, das sowohl dem Grundsatz der HomoAuch Art. 266 Abs. 3 S. 2 EGV sieht nunmehr eine autonome Änderungsbefugnis hinsichtlich spezifischer Bestimmungen der Satzung der Europäischen Investitionsbank durch den Rat vor und reformiert damit seinerseits das bisherige autonome Änderungsverfahren durch Organe der EIB, wie es in der betreffenden Satzung selbst angelegt war (siehe dazu unter 3. Kap. III. 2.). Herrnfeld (in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 12) qualifiziert auch Art. 7 Abs. 3 EUV (Abs. 2 i.d.F. des Vertrages von Amsterdam), Art. 309 Abs. 1 und 2 EGV, Art. 96 EGKSV und Art. 204 EAGV (i.d.F. des Vertrages von Amsterdam) als Vorschriften zur autonomen Änderung der Verträge. Dem steht jedoch entgegen, daß durch die dort geregelten Sanktionsbeschlüsse kein die Gemeinschaftsverfassung selbst prägendes Primärrecht entsteht, siehe dazu 2. Kap. II. 2. Eine wesentliche Änderung durch den Vertrag von Nizza (näher 3. Kap. III. 2.) besteht vor allem in der Streichung autonomer Änderungsvorschriften betreffend die Erhöhung der Zahl der Richter am EuGH: siehe vormals - i.d.F. des Vertrages von Amsterdam Art. 221 Abs. 4 bzw. Abs. 4 i.V.m. Abs. 2, 3 und Art. 223 Abs. 2 EGV; Art. 137 Abs. 4 bzw. Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 und 3 sowie Art. 139 Abs. 2 EAGV; Art. 138 Abs. 3 bzw. Abs. 3 i.V.m. Art. 139 Abs. 3 EAGV; Art. 32 Abs. 4 bzw. Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 und 3 sowie Art. 32 b Abs. 2 EGKSV; Art. 32 a Abs. 3 bzw. Abs. 3 i.V.m. Art. 32 b Abs. 3 EGKSV. Siehe zum autonomen Verfahren insgesamt 3. Kap. III. 2. 30

Siehe Rudolf Bernhardt, in: Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, S. 77 (84); Oppermann,, Europarecht, Rdnr. 507; Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 23; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 12; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 4. 31

Krück, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 164 EGV Rdnr. 16. So allerdings noch Daig, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWGV (4. Aufl. 1991), Art. 164 Rdnr. 11 a; wie hier Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, Art. 48 EUV Rdnr. 23. 32

33

Siehe Krück, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 164 EGV Rdnr. 18; ebenso Oppermann, Europarecht, Rdnr. 506 f., der von der Entscheidung des Rates als „mitgliedstaatsnächste(m)" Gemeinschaftsorgan spricht.

60

1. Teil: Grundlagen

genität des Primärrechts als auch einer inhaltlichen Anknüpfung widerspräche. Entscheidend bei der Anwendung autonomer und halbautonomer Änderungsverfahren ist nicht, daß die Änderung in eher formeller Hinsicht „Vertragsqualität" aufweist; 34 wie eng institutionelles und zwischenstaatliches Handeln gerade in einem Schnittstellenbereich - und einem solchen kommen atypische Änderungsverfahren nahe - beieinander liegen, zeigt etwa die Figur der uneigentlichen bzw. unechten Ratsbeschlüsse.35 Maßgeblich ist, daß die Einigung Änderungsrelevanz entfaltet 36. Läßt das Vertragsrecht in besonderen Verfahren eine Änderung bzw. Ergänzung von Vertragsnormen zu, werden diese primärverfassungsrechtlich relevanten Änderungen durch die Wahrnehmung dieser Änderungskompetenz nicht zu Sekundärrecht herabgestuft. 37 Es liegt in der Konsequenz dieser Betrachtungsweise, daß auch der DirektWahlakt™ der auf der Grundlage des Art. 138 Abs. 3 EWGV (vgl. nunmehr Art. 190 Abs. 4 EGV) ergangen ist, nicht als sekundäres,39 sondern als primäres und vertragsergänzendes Recht qualifiziert werden muß, 40 ohne daß ein auch ausweislich der Präambel des Direktwahlaktes nicht zutreffender 41 „Rückgriff auf Art. 236 EGV 4 2 als „wahre Rechtsgrundlage" in Betracht käme. 43 Der Akt läßt sich auf Art. 138 Abs. 3 EWGV (Art. 190 Abs. 4 EGV) zurückführen, auch wenn das Vertragsziel nicht vollständig verwirklicht wurde. 44 Die Frage der 34

Vgl. aber Christofer Lenz, Ein einheitliches Verfahren fur die Wahl des Europäischen Parlaments, S. 105, siehe auch S. 96 f. 35 Siehe Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnrn. 102 ff.; 2. Kap. III. 3. 36 37 38

Dazu 2. Kap. III. Siehe auch Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 12. AB1.EG 1976 Nr. L 278, S. 1 ff.

39

So Huber, StWiss 1992, S. 349 (362). Ebenso Hovehne, Ein demokratisches Verfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament, S. 128. 40 Siehe Rudolf Bernhardt, in: Dreißig Jahre Gemeinschaftsrechts, S. 77 (80); Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 28; im Ergebnis ebenso MüllerGraff Die Direktwahl des Europäischen Parlaments, S. 28, der von einer Vertragsänderung nach Art. 236 EWGV ausgeht. 41

AB1.EG 1976 Nr. L 278, S. 1 (3. Erwägungsgrund); siehe Christofer Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, S. 96 f. 42 So Müller-Grqff, Die Direktwahl des Europäischen Parlaments, S. 27 f. 43 Siehe Oppermann, Europarecht, Rdnr. 507. 44

Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 190 EGV Rdnr. 5. Keine Beanstandung erfolgt im Beschl. des EuGH v. 10.6.1993, Rs. C-41/92 (The Liberal Democrats/Europäisches Parlament), Slg. 1993, 1-3151 (3175 Rdnrn. 2 ff.); näheren Aufschluß über die Rechtsnatur des Direktwahlaktes bietet der Beschluß, mit dem eine Untätigkeitsklage [mittels derer eine Vertragsverletzung durch pflichtwidriges Unterlassen festgestellt

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

61

„Vereinbarkeit" mit Art. 190 Abs. 4 EGV stellt sich hier unter dem Gesichtspunkt der Anwendbarkeit dieser halbautonomen Bestimmung, ihrer Tauglichkeit als Verfahrensgrundlage; nicht aber wird insofern ein Rang des Direktwahlaktes unterhalb des Primärrechts präjudiziell Wegen der Gemeinschaftsrechtsrelevanz und der Anwendbarkeit eines gemeinschaftsrechtlichen halbautonomen Verfahrens trifft die oftmals vorgenommene Qualifikation des Direktwahlaktes als Zwitterform zwischen echtem Gemeinschaftsrechtsakt und völkerrechtlicher Vereinbarung, 45 die gleichwohl nach Gemeinschaftsrechtsgrundsätzen zu beurteilen sei, 46 oder gar als rein völkerrechtliche Vereinbarung 47 nicht zu. 48 Es handelt sich gleichwohl auch nicht um Recht, das Christofer Lenz zufolge normhierarchisch zwischen Primär- und Sekundärrecht anzusiedeln sei. 49 Erheblich ist nicht die „Vertragsqualität" im engeren, formellen Sinne, sondern die gestaltende und primärrechtmäßige Änderung des Primärrechts selbst. Demgemäß handelt sich bei den halbautonomen Änderungen um Regelungen, die den - förmlichen vertraglichen - Änderungen vergleichbar sind, 50 vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG, die Verträge aber ebenfalls ändern. 51 Gerade darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu der von Christofer

wird (Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 232 EGV Rdnr. 1)], für erledigt erklärt wurde, allerdings nicht. 45 Haag/Bieber, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 138 EGV Rdnr. 6 m.w.N. 46

Haag/Bieber, a.a.O.; Dietmar O. Reich, Rechte des Europäischen Parlaments in Gegenwart und Zukunft, S. 26. 47 Tomuschat CMLRev. 1990, S. 415 (427): Der Akt habe „by virtue of ratification by all Member States ... the legal nature of an international agreement between these States." Das Urteil des EuGMR in der Sache Matthews/Vereinigtes Königreich [Urt. v. 18.2.1999 (Beschw.Nr. 24833/94), Slg. 1999-1, 251 (266 Ziff. 33) bzw. 305 (320)] kann jedenfalls nicht so verstanden werden, daß der DWA als völkerrechtliches Instrument kein Primärrecht darstellt, da auch der Vertrag von Maastricht seitens des EuGMR völkerrechtlich qualifiziert und zusammen mit dem DWA gegenüber gewöhnlichen Gesetzgebungsakten abgegrenzt und als nicht der Jurisdiktion des EuGH unterliegend herausgestellt wird. 48 Christofer ments, S. 101. 49

Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parla-

So aber Christofer Lenz, a.a.O., S. 99 ff. (107). Classen , in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 2, Art. 23 Rdnr. 20. 51 Vgl. Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 79; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 11; Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 22. Daher spricht auch der Einwand, es handle sich nur um die „Zustimmung" zu einem Organakt, nicht gegen die uneingeschränkt primärrechtliche Qualität der Änderung; siehe aber Christofer Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, S. 103, der sich auch auf 50

62

1. Teil: Grundlagen

Lenz gezogenen Parallele 52 zu Abkommen nach Art. 293 und Art. 300 EGV 5 3 (vgl. auch Art. 300 Abs. 5 und 6). 54 Der Direktwahlakt ist weniger „abgeleitet" als vielmehr auf der Grundlage einer speziellen gemeinschaftsrechtlichen Änderungsvorschrift ergangen, die nicht in völkerrechtliche und gemeinschaftsrechtliche Elemente aufgespaltet werden kann, 55 um daraus unter Vergleich zu Art. 48 EUV eigenständige Schlußfolgerungen zu ziehen. Auch nationale Verfassungen enthalten Vorschriften zu ihrer eigenen Änderung und stufen diesbezüglich die Verfahrensanforderungen vielfach ab. 56 Die Diskussion um die Rechtsnatur des Direktwahlaktes darf sich zudem nicht vorschnell „ergebnisbezogen" davon leiten lassen, daß der Akt am vertraglichen Primärrecht gemessen werden müsse. Dabei mag der Direktwahlakt zwar die Frage nach der Änderungsfestigkeit des Art. 190 Abs. 4 EGV bzw. allgemeiner des (Kernbereichs des) Demokratieprinzips aufwerfen. 57 Wird aber allgemein die Problematik änderungsfester Grenzen erörtert und ein erhöhter Bestandsschutz bestimmter Kerne kurzum abgelehnt,58 ist damit weder bereits etwas über die Möglichkeit einer Rangstufung zwischen primärem und sekundärem Recht noch über die Zugehörigkeit des Direktwahlaktes zum Primärrecht ausgesagt.

2. Protokolle und Abkommen als Vertragsbestandteile

qua „Beifügung"

Darüber hinaus wirft die Zugehörigkeit besonderer Abkommen und Protokolle zum Vertragsrecht spezifische Probleme auf. Diese resultieren einerseits daraus, daß die Einbeziehung der genannten Rechtsakte in das vertragliche Primärrecht mit einer weniger stringenten Rechtsetzungstechnik verfolgt wird, als dies bei den durch Art. 311 EGV unmittelbar inkorporierten Protokollen der Fall ist. Dabei sind die Zuordnung der Rechtsakte und das Maß ihrer Verknüp-

BVerfGE 51, 222 (223) beruft (a.a.O., Fußn. 317), wenngleich die Entscheidung insofern nicht zur Qualifikation der Rechtsnatur beiträgt. 52 Christofer Lenz, a.a.O., S. 105 ff. 53

Siehe nachfolgend 4. Siehe auch Hovehne, Ein demokratisches Verfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament, S. 125 f. 54

55 56

So aber Hovehne, a.a.O., S. 127.

Siehe 5. Kap. I. l.a)aa). Christofer Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, S. 61 ff. 58 So Hovehne, Ein demokratisches Verfahren fìlr die Wahlen zum Europäischen Parlament, S. 122. 57

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

63

fling mit dem vertraglichen Primärrecht für die Problematik einer vertragskonformen, ggf. gar autonomen Vertragsänderung bzw. -ergänzung von grundlegender Bedeutung, so daß die folgenden Ausführungen auch für zukünftige, andere Rechtsetzungsakte dieser Art gelten, denen dieselbe Technik der Einbeziehung zugrunde liegt. Innerhalb des Primärrechts kommt allein ihres Protokollcharakters wegen eine formale Nachrangigkeit der Protokolle jedenfalls nicht in Frage. 59

a) Maastrichter Protokoll und Abkommen über die Sozialpolitik Herausragende Beispiele für diese Zusammenhänge sind das Maastrichter Protokoll (Nr. 14) 60 und das Maastrichter Abkommen über die Sozialpolitik 51. Das Protokoll wurde ausweislich seiner Ziff. 3 von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten dem EGV ausdrücklich beigefugt und infolge dessen gem. Art. 311 (Art. 239 a.F.) EGV (analog) zum integralen Bestandteil des Vertrages. 62 Die Vorschrift wird nach einhelliger Auffassung auf Vertragsänderungen (zumindest entsprechend) erstreckt, wenn sämtliche Mitgliedstaaten (im Zuge einer Vertragsänderung) vereinbaren, daß das Protokoll dem Vertrag beigefügt werden soll. 63 In diesem Zusammenhang hat das Verhältnis des Protokollinhaltes zu den bereits bestehenden Normen des EGV Anlaß dazu gegeben, die Relation der gem. Art. 311 in den EGV einbezogenen Protokolle zur förmlichen Vertragsrevision nach Art. 48 EUV zu untersuchen. Dabei ist zwischen mehreren Einzelaspekten zu differenzieren, die z.T. unzulässigerweise miteinander vermengt werden. Zunächst einmal muß geklärt werden, ob die Bestimmungen des Protokolls eine relevante Änderung oder Ergänzung des EGV enthalten, die

59

Siehe von Arnauld, EuR 2003, S. 191 [195 ff. (199 f.)], der die Protokolle als ergänzende Primärrechtsakte allerdings zum Anlaß für allgemeine „verfassungstheoretische" Ausführungen nimmt. 60 ABl.EG 1992 Nr. C 191, S. 90; geändert durch die Beitrittsakte 1994, ABl. Nr. C 241, S. 24 (Art. 15 Abs. 4 der Anpassungen). 61

ABl.EG 1992 Nr. C 191, S. 91 ff.

62

Siehe etwa Docksey/Séché, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, nach Art. 122/ Protokoll (Nr. 14) Rdnr. 19; Fröhling, Die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, S. 58 ff. m.w.N. 63 Vgl. etwa Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 3; Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 311 Rdnr. 6. Nicht zutreffend offenbar von einer Alternativität zwischen Art. 311 EGV und der formellen Vertragsänderung nach Art. 48 EUV ausgehend Wank,, RdA 1995, S. 10 (15); siehe dazu 3. Kap. 1. 5; gegen eine solche Annahme auch Fröhling, Die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, S. 59 f.

64

1. Teil: Grundlagen

grundsätzlich zur Anwendung des Art. 48 EUV fuhren. 64 Sind dessen Voraussetzungen eingehalten, was im Hinblick auf das Protokoll uneinheitlicher Beurteilung unterliegt, 65 kommt es auf die grundsätzlich weiterhin bedeutsame Frage, ob Art. 311 als lex specialis von den förmlichen Anforderungen des Art. 48 EUV entbinden kann 66 , nicht mehr an. Im speziellen Anwendungsfalle entspricht es freilich methodischer Präzision, umgekehrt zunächst das Verhältnis der Normen zueinander und anschließend die Voraussetzungen der anzuwendenden Regelung zu bestimmen. Auf die vorgenannten Fragen wird noch näher einzugehen sein; 67 vorliegend ist allein entscheidend, die grundlegenden Zusammenhänge hervorzuheben und den Primärrechtscharakter des Protokolls zu konstatieren. Folgender unscharfer Argumentation soll allerdings frühzeitig vorgebeugt werden: Vereinzelt wird behauptet, weil und soweit es sich um eine Vertragsänderung handle, führe dies zu einer (isoliert zu betrachtenden) Qualifikation der den Vertrag abändernden Bestimmungen als Völkerrecht, 68 ohne daß diese Folge jedenfalls als (strittige) Konsequenz der Nichteinhaltung des Vertragsänderungsverfahrens zugeschrieben wird. Doch ebenso wie die Gründungsverträge völkerrechtlichen Ursprungs, zugleich aber zu primärem Gemeinschaftsrecht geworden sind, gilt dies auch für ÄnderungsVerträge; sie werden zu neuem Gemeinschaftsrecht. 69 Selbst wenn man die Auffassung vertritt, Art. 311 EGV betreffe lediglich die historisch ersten Protokolle, und eine Erweiterung dieser Bestimmung setze entweder die förmliche Änderung der Norm oder die (betreffend das Protokoll tatsächlich) einvernehmlich bekundete Absicht voraus, das neue Protokoll solle Bestandteil des Vertrages werden, 70 läßt der Wortlaut der Vorschrift („die ... Protokolle") eine Differenzierung nach dem Inhalt der Protokollvorschriften überdies nicht zu. 71 Damit ist das gesamte Protokoll Bestandteil des EGV.

64

Kliemann, Die Europäische Sozial integration nach Maastricht, S. 147 ff. (149 f.).

65

Kliemann, a.a.O., S. 150 f.

66

So Kampmeyer, Protokoll und Abkommen über die Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 157. Siehe dagegen 3. Kap. I. 5. 67 Vgl. insbes. 3. Kap. I. 1. a), 5.; II. 4. c) bb). 68

Schuster, EuZW 1992, S. 178 (182). Eine davon zu unterscheidende Frage ist wiederum, ob bei Mißachtung der maßgeblichen Form Vorschriften paralleles Völkerrecht entstehen kann. 69 Léotin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 539; Schwartz , in: FS Grewe, S. 551 (582); Kliemann, Die Europäische Sozial integration nach Maastricht, S. 147. 70

Vgl. Hilf, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 3; siehe auch Fröhling, Die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, S. 59 f. 71 Siehe Kliemann, Die Europäische Sozial integration nach Maastricht, S. 147.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

65

Auf der Grundlage des Protokolls über die Sozialpolitik wurde von ursprünglich 11 Mitgliedstaaten das Maastrichter Abkommen über die Sozialpolitik vereinbart. Unter dem Gesichtspunkt der Vertragsrevision war streng genommen zu unterscheiden, ob es sich bei dem Abkommen um einen Bestandteil des EGV, um partielles Gemeinschaftsrecht außerhalb des Vertrages oder vergleichbar den Schengener Verträgen um (wirksame) völkerrechtliche Vereinbarungen handelte. Im Hinblick auf die grundsätzlich notwendige Konturierung des Anwendungsbereiches der Vertragsrevision ist vorliegend unbeachtlich, daß sich die Frage nach der Rechtsnatur des Abkommens aufgrund der Einbeziehung in den EGV durch den Amsterdamer Vertrag (vgl. insbes. Art. 138 EGV) in der Praxis erübrigt hat. Nach überwiegender Auffassung bildet auch das Abkommen über die Sozialpolitik primäres Gemeinschaftsrecht in Form eines Bestandteils des EGV. Grund hierfür sei die Verknüpfung des Abkommens mit dem Protokoll in der Präambel 72, der zufolge das „Abkommen diesem Protokoll beigefügt ist", so daß Art. 239 EGV a.F. auch für das Abkommen Geltung entfalten konnte. 73 Nach anderer Ansicht ist diese Verknüpfung nicht ausreichend. Voraussetzung sei vielmehr, daß das Abkommen selbst „im gegenseitigen Einvernehmen der Mitgliedstaaten" und nicht nur von elf dieser Staaten geschlossen,74 sondern insgesamt eine einheitliche Geltung herbeigeführt worden wäre. 75 Zudem erkläre das Protokoll das Abkommen nicht ausdrücklich zu seinem Bestandteil.76 Damit wäre das Abkommen - unter primär formalen Gesichtspunkten und bei Verneinung einer Exklusivität der (allgemeinen) Vertragsänderungsvorschriften - grundsätzlich dem Völkerrecht zuzuordnen. 77 Unter Zugrundelegung einer 72

Siehe etwa Jansen, in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, nach Art. 122 EGV Rdnr. 4; Schulte, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Vorb. zu den Art. 117 bis 127 und 129 EGV Rdnr. 87; Becker, in: Schwarze, EGV/EUV, Art. 311 EGV Rdnr. 5. 73 Junghanns, in: Lenz, EGV, 1. Aufl. (1994), Protokoll Sozialpolitik Anm. 6; Schulz, Maastricht und die Grundlagen einer Europäischen Sozialpolitik, S. 94; Kahil, Europäisches Sozialrecht und Subsidiarität, S. 290. 74

Vgl. Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 3; Hilf, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 3. 75 Demgegenüber betont Eichenhofer [in: Rengeling, Europäisierung des Rechts, S. 151 (158 f.)], das für die Qualifizierung als Gemeinschaftsrecht grundsätzlich maßgebende Postulat der Einheitlichkeit stehe einer einvernehmlichen, auf den Sozialschutz begrenzten differenzierten Ausgestaltung des Rechtsetzungsmechanismus dann nicht entgegen, wenn diese wie hier keine für die Grundfreiheiten relevante Wettbewerbsverfölschung hervorrufe und den institutionellen Rahmen der Gemeinschaft nicht berühre. 76 77

Coen, EuZW 1995, S. 50 (51). Vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 178 (181); Coen, a.a.O.

66

1. Teil: Grundlagen

daran anknüpfenden materiellen Betrachtungsweise soll die vermeintlich mangelnde Verknüpfung mit dem EGV allerdings nicht dazu fuhren, daß der Primärrechtscharakter (als solcher) grundsätzlich verneint werden müsse. Vielmehr handle es sich wegen der in Art. 1 des Abkommens verankerten gemeinsamen Zielsetzung von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten sowie wegen der umfassenden Organleihe um Recht „im Rang von primärem Gemeinschaftsrecht, gleichwohl außerhalb des EG-Vertrages" 78; dem Protokoll komme insofern die Funktion eines „institutionellen Adapters" zwischen dem Sozialabkommen und dem EGV 7 9 zu. Es darf nicht übersehen werden, daß damit eine im Grundsatz autonome Sozialrechtsordnung 80 errichtet würde; insofern aber bestünde deren Primärrechtscharakter weniger in der Verknüpfung mit der durch alle Mitgliedstaaten gebildeten Gemeinschaft als vielmehr darin, daß das Abkommen - wenngleich unter Zuhilfenahme der „geliehenen" Organe - den Rahmen ftir den Erlaß abgeleiteten Rechts zur Verfügung stellt. Die Beantwortung der Frage, ob das Abkommen bereits formell in den EGV einbezogen worden ist, hängt entscheidend davon ab, ob die Verknüpfung mit dem Protokoll in Form der „Beifügung" zur Folge hatte, daß das Abkommen selbst Bestandteil des Protokolls wird; erst dann ist es möglich, das Abkommen seinerseits Art. 311 EGV zu unterstellen. 81 Rechtsetzungstechnisch reicht eine Mehrzahl von Verbindungen bzw. Berührungspunkten allein hierfür nicht aus. Eine protokollrechtliche „»Erlaubnis« für die Weiterführung der Sozialpolitik im Rahmen des Abkommens" 82 bringt allein die grundsätzliche Übereinstimmung mit diesem Vorgehen zum Ausdruck, und auch an anderer Stelle im EGV wird die „Erlaubnis" zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge durch Mitgliedstaaten erteilt (vgl. Art. 293 EGV). Entscheidend ist vielmehr die Übereinstimmung, den Inhalt des Abkommens zum Bestandteil des Protokolls zu machen. Formal gegen einen solchen Willen spricht zunächst, daß die Vertragsparteien den möglichen Weg eines völkervertragsrechtlichen Vorbehaltes 83 nicht gewählt haben. Andererseits liegt Art. 311 EGV die Vorstellung zugrunde, daß die systematische Trennung der Nebenurkunden vom Vertrag dann, wenngleich nur dann unbeachtlich sein soll, wenn der Wille zum Ausdruck kommt, daß die Nebenurkunde gleichwohl Vertragsbestandteil werden soll. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Protokoll und Abkommen, denn weder Wortlaut noch

78

Koenig, EuR 1994, S. 175 (184).

79

Koenig, EuR 1994, S. 175 (185).

80

Vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 178 (181); Koenig, EuR 1994, S. 175 (182). Siehe auch Fröhling, Die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, S. 64. KahiU Europäisches Sozialrecht und Subsidiarität, S. 290.

81 82 83

Vgl. dazu Koenig, EuR 1994, S. 175 (182).

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

67

Sinn und Zweck der Vorschrift 84 sprechen zwingend dafür, den Bestand des Primärrechts entgegen der Intention der Vertragsparteien exklusiv zu begrenzen und damit negativ eine die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts einengende umfassende lex specialis zu schaffen. Insofern ist sowohl unter Rückgriff auf das universelle Völkerrecht als auch mittels einer teleologisch extensiven Auslegung 85 bzw. analogen Anwendung 86 des Art. 311 EGV der Wille nach inhaltlicher und dabei zugleich formaler Verknüpfung maßgebend. Die rechtstechnische Ausgliederung des Protokolls ermöglicht eine Entlastung des eigentlichen Vertragstextes; die weitere Ausgliederung des Abkommens im Hinblick auf den reduzierten Kreis der Mitgliedstaaten ist vor allem auf den Umstand zurückzuführen, daß ein völkerrechtlicher Vorbehalt, der allen Vertragsparteien theoretisch ebenso offen gestanden hätte, politisch nicht durchsetzbar gewesen ist. Insofern besteht allerdings eine Vergleichbarkeit der Sachverhalte; zwischen den übrigen Mitgliedstaaten sollte - bestätigt durch Rat und Kommission - unter Rückgriff auf die institutionellen Bestimmungen des Vertrages Gemeinschaftsrecht geschaffen werden, und ohne primärrechtliche Zuordnung bestünde die plan- und systemwidrige Notwendigkeit nationaler Ratifizierung zur Inkraftsetzung der aufgrund des Abkommens erlassenen Vorschriften. Daß die Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich erklärt haben, das Abkommen sei „integraler Bestandteil" (des Protokolls), ist dabei unschädlich. Denn auch im Hinblick auf das Protokoll besteht die Verknüpfung nur in der Beifügung desselben zum Vertrag. Für die formale Verknüpfung kommt es überdies nicht darauf an, daß alle Mitgliedstaaten das Abkommen abgeschlossen haben; entscheidend ist vielmehr, daß sie sämtlich und einvernehmlich überein gekommen sind, das Abkommen dem Protokoll beizufügen. Dies ist ausweislich der Präambel des Protokolls (S. 3) geschehen. Das Abkommen teilt damit den Charakter des Protokolls, mittels dessen es ebenfalls zu einem integralen Bestandteil des EGV wird. Anderenfalls würde der in der Völkerrechtspraxis uneinheitlich verwendete Begriff „Protokoll" unter Durchbrechung der durch die Parteien ange-

84

Vgl. zur Einheitlichkeit der Geltung des Primärrechts bereits Eichenhofer, in: Rengeling, Europäisierung des Rechts, S. 151 (158 f.). 85 Wenn die Verbindung zwischen Protokoll und Abkommen für die Frage maßgeblich sein soll, ob das Abkommen das Schicksal des Protokolls teilt, erscheint es wenig einsichtig, daß die Bezeichnung „Protokolle" im Sinne eines konkreten Typs von Nebenurkunden zwingend als Wortlautgrenze fungiert; so aber Fröhling, Die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, S. 69, die im übrigen teleologische Erwägungen nicht auch im Hinblick auf Art. 311 EGV, sondern nur daraufhin anstellt, ob sich eine analoge Anwendung des Art. 311 EGV an der ratio des Protokolls positiv messen läßt. Für eine unmittelbare Anwendung des Art. 311 EGV Kahil, Europäisches Sozialrecht und Subsidiarität, S. 290. 86

Siehe Fröhling, a.a.O., S. 69 f.

68

1. Teil: Grundlagen

strebten engen Verbindung von Vertrag, Protokoll und Abkommen europarechtlich formal überbetont. Den primärrechtlichen Charakter des Abkommens unterstützen ungeachtet einer vornehmlich formellen Betrachtungsweise auch die mannigfachen inhaltlichen Beziehungen, etwa die in Art. 1 des Abkommens verankerte Zielsetzung sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Gemeinschaft sowie das Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane 87 als maßgebliche Kennzeichen einer grundsätzlich bezweckten materiellen Verknüpfung mit bestehendem Gemeinschaftsrecht. Diese äußert sich nebst der intensiven institutionellen Verflechtung vornehmlich darin, daß die Anwendung des Abkommens der Bindung an den EGV unterliegt, insbesondere das Subsidiaritätsprinzip Anwendung findet, ferner in der Pflicht zur Gemeinschaftstreue sowie der Bindung an den Grundrechtsschutz88. Diese Verknüpfung wird ebenso wie die vorstehend erläuterte Systematik der primärrechtlichen Einbeziehung des Abkommens verkannt, wenn letzteres lediglich als „materielles Gemeinschaftsrecht" bezeichnet wird, das formell außerhalb des Vertrages stehe89. Insofern allerdings stellt sich die Frage, ob das Primärrecht die Errichtung einer dergestalt „autonomen Sozialrechtsordnung" überhaupt zuließe.90 Dabei müßte wiederum zwischen folgenden Aspekten unterschieden werden: Findet Art. 48 EUV (vormals Art. Ν EUV bzw. Art. 236 EWGV) überhaupt Anwendung, ist insbesondere Art. 311 EGV in diesem Zusammenhang lex specialis? Könnte im Erlaß der Ermächtigung zum Abschluß des Abkommens zugleich eine Vorschrift zur autonomen, formlosen Vertragsänderung erblickt werden, und wie wäre ggf. deren Verhältnis zu Art. 311 zu beurteilen? Sind die Anforderungen des Art. 48 EUV im Hinblick auf das Abkommen noch erfüllt, und ließe sich schließlich im Anwendungsbereich des Art. 48 EUV überhaupt (noch) diesem widersprechendes Völkerrecht setzten? Diese Fragen sind wiederum grundsätzlicher Natur und werden dem Gang der Darstellung folgend noch ausführlich behandelt werden. 91

87 Zutreffend gegen den Begriff der „Organleihe", der eine völkerrechtliche Beurteilung des Abkommens über die Sozialpolitik voraussetzte, Kliemann, Die Europäische Sozialintegration nach Maastricht, S. 168; siehe auch Fröhling, die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, S. 73 f., 77. 88 Siehe dazu etwa Hailbronner, in: GS Grabitz, S. 125 (129 f.). 89

So Schuster, EuZW 1993, S. 178 (181), sowie Koenig, EuR 1994, S. 175 (184). An der gleichwohl fehlenden Einbeziehung in den EGV änderte auch dies allerdings nichts. 90

91

Siehe dazu insbes. das 3. und 4. Kap.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

69

b) Konstitutionelles Assoziationsrecht Ein weiteres wichtiges Beispiel für die z.T. diffizile Bestimmung des vertraglichen Primärrechts und die daraus abzuleitenden Zusammenhänge mit der Vertragsrevision entstammt dem konstitutionellen Assoziationsrecht (Art. 131 136 a EGV a.F.). Entgegen z.T. anders formulierter Erwartung sind die im Zuge des Amsterdamer Vertrages neu gefaßten Art. 182 bis 188 EGV nicht Ausdruck einer Totalrevision 92 dieses Systems, sondern das Ergebnis eher geringfügiger Anpassungen und Ergänzungen (vgl. Art. 6 Ziff. I. lit. 62 - 64 des Amsterdamer Vertrages). 92 Ungeachtet der allgemeinen dogmatischen Bedeutung einer Qualifizierung der im Rahmen dieser Assoziierung maßgeblichen Rechtsakte sind die nachfolgenden Aspekte hinsichtlich der Durchführungsbeschlüsse i.S.d. Art. 187 EGV daher nach wie vor aktuell. Kontroverser Beurteilung unterlag zunächst der Primärrechtscharakter derjenigen Protokolle (insbesondere des Bananenprotokolls) 94, die dem nach Art. 136 EWGV erlassenen Durchführungsabkommen vom 25.3.1957 über die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete (ÜLG) 9 5 beigefügt worden waren. Das Durchführungsabkommen besaß lediglich bis zum 31.12.1962 Gültigkeit 96 und wurde im Rahmen der konstitutionellen Assoziierung anschließend durch nachfolgende Ratsbeschlüsse auf der Grundlage des Art. 136 Abs. 2 EGV a.F. (nun Art. 187 EGV) ersetzt. 97 Die jeweils gültigen Beschlüsse wurden durch die von der EWG einerseits und den Mitgliedstaaten und souveränen Staaten (bzw. souverän gewordenen ehemaligen ÜLG) andererseits im Wege der (konventionellen) Entwicklungsassoziation geschlossenen

92 Vgl. Tietje, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art. 131 EGV Rdnr. 13; siehe auch Martenczuk/Zimmermann, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 182 EGV Rdnrn. 1 ff. (4). 93 Gem. ihrer Erklärung Nr. 36 zum Amsterdamer Vertrag forderte die Konferenz der Vertreter der Mitgliedstaaten den Rat jedoch auf, das Assoziierungssystem nach Art. 136 EGV a.F. bis zum Februar 2000 unter Berücksichtigung konkret beschriebener Zielvorgaben zu überprüfen (ABl. 1997 Nr. C 340, S. 138). 94 Siehe das Protokoll über das Zollkontingent für die Einfuhr von Bananen, BGBl. 1957 II, S. 1008, sowie das Protokoll über das Zollkontingent für die Einfuhr von ungebranntem Kaffe, BGBl. 1957 II, S. 1010. 95 BGBl. 1957 II, S. 766(998). 96 Vgl. Art. 17 des Abkommens, BGBl. 1957 II, S. 1010. 97

Der gegenwärtige „Übersee-Assoziationsratsbeschluß" (2001/822/EG) datiert vom 27.11.2001 (AB1.EG Nr. L 314, S. 1 ff.); dazu ergangen sind ergänzende Entscheidungen betreffend Ausnahmen und Abweichungen, etwa die Entscheidungen 2001/936/EG v. 28.12.2001 (ABl. Nr. L 345, S. 91) sowie 2002/644/EG v. 29.7. 2002 (ABl. Nr. L 211, S. 16). Ausweislich seines Art. 63 S. 2 gilt der Beschluß bis zum 31.12.2011.

1. Teil: Grundlagen

70

Abkommen von Youandé (I und II), 9 8 Lomé (I - I V ) 9 9 und nunmehr auch Cotonou]0° flankiert. Der EuGH hat das Bananenprotokoll, das mittlerweile seinerseits aufgehoben worden ist, 101 als Bestandteil des EGV qualifiziert 102 , auch wenn das Durchführungsabkommen vom 25.3.1957 bereits keine Gültigkeit mehr besaß. Dieser Punkt der Entscheidung hat Zustimmung, aber auch Kritik erfahren. 103 So wird bereits die primärrechtliche Qualität des Durchführungsabkommens von 1957 bestritten. Dessen Vorläufigkeit und damit die mangelnde „Verfassungsqualität" der Regelungen sprächen ebenso wie die „Beifügung als Anhang" zum Vertrag gegen eine primärrechtliche Qualifizierung des Abkommens und damit auch der Protokolle. 104 Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Zum einen steht die beschränkte Geltungsdauer einer Ein98

Vom 20.7.1963; ABl. 1964, S. 1429 ff. (Yaoundé I); ABl. 1970 Nr. L 282, S. 83 ff. (Yaoundé II vom 29.7.1969). Ob als Rechtsgrundlage dieser Abkommen Art. 136 EGV a.F. (vgl. Art. 187) oder Art. 238 EGV a.F. (Art. 310) heranzuziehen war, blieb weitgehend ungeklärt, vgl. Ernst-Ulrich Petersmann,, in: ZaöRV 33 (1973), S. 266 (286); Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 238 EGV Rdnr. 45. 99

Vom 28.2.1975, ABl. 1976 Nr. L 25, S. 2 ff. (Lomé I); vom 30.10.1979, ABl. 1980 Nr. L 347, S. 3 ff. (Lomé II); vom 8.12.1984, ABl. 1986 Nr. L 86, S. 3 ff. (Lomé III) sowie vom 15.12.1989, ABl. 1991 Nr. L 229, S. 3 ff. (Lomé IV). Es handelt sich dabei um auf der Grundlage des Art. 238 EGV a.F. (Art. 310 ) geschlossene gemischte Abkommen. Das Lomé IV - Abkommen ist für einen Zeitraum von 10 Jahren seit dem 1.3.1990 geschlossen worden (vgl. Art. 366 Abs. 1). Siehe zur Entwicklungsassoziierung Rainer Arnold, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Band 2, Κ. I Rdnrn. 123 ff. 100 Am 23.6.2000 ist in Cotonou (Benin) ein neues AKP-EG-Partnerschaftsabkommen (2000/483/EG; ABl. Nr. L 317, S. 3-353) unterzeichnet worden; das Abkommen wird für einen Zeitraum von zwanzig Jahren geschlossen, der am 1. März 2000 begonnen hat (Art. 95 Abs. 1 des Abkommens); vgl. zum Inkrafttreten Art. 93 Abs. 3). Um die Übergangszeit seit dem Außerkrafttreten des Lomé- IV - Abkommens und dem Inkrafttreten des neuen Abkommens zu überbrücken, sind sowohl Übergangsmaßnahmen getroffen worden (Beschluß Nr. 1/2000 des AKP-Botschafterausschusses v. 28.2.2000, AB1.EG Nr. L 56/47) als auch einzelne Bestimmungen des neuen Abkommens für vorläufig anwendbar erklärt worden (Beschluß des Rates v. 16.6.2000, ABl.EG Nr. L 151, S. 16 f.). 101 Durch Art. 21 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 404/93, ABl. 1993 Nr. L 47, S. 1; vgl. EuGH, Urt. v. 5.10.1994, Rs. 289/93 (Deutschland/Rat der Europäischen Union), Slg. 1994,1-4973. 102

Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994, 1-4973 (5074 Rdnr. 114). 103

Zustimmend noch Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 1. Aufl. (1999) Art. 311 EGV Rdnr. 4; Becker, in: Schwarze, EGV/EUV, Art. 311 EGV Rdnr. 6; ablehnend Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, Art. 239 EGV Rdnr. 3; Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 5. 104

Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 4.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

71

beziehung - auch durch Art. 311 EGV - nicht zwingend entgegen; sie dient vielmehr der Übersichtlichkeit des EGV 1 0 5 , und auch im Hinblick auf Protokolle zu Beitrittsverträgen ist der primärrechtliche Charakter von Übergangsregelungen unzweifelhaft. Zum anderen folgte bereits aus Art. 136 Abs. 1 EGV a.F., daß (jedenfalls) die Bestimmungen des Abkommens in ihrer Gesamtheit entsprechend einvernehmlicher Entscheidung Teil des E(W)GV werden, daß sie in einem „dem Vertrag beigefugten" Abkommen enthalten sein sollten. Darüber hinaus schließt der Wortlaut des Art. 311 EGV eine Einbeziehung nicht aus. Die Funktion des Abkommens als Maßstab für sekundäre Rechtsakte beinhaltet mit Blick auf die Zwischenstellung völkerrechtlicher Verträge schließlich zwar kein hinreichendes, jedoch ein plausibles Argument zugunsten der Primärrechtseigenschaft. 106 In diesem Zusammenhang herrschen z.T. terminologische Ungereimtheiten vor, wenn unter Verweis auf Art. 136 EGV a.F. allgemein von „Durchführungsabkommen" 107 statt - richtigerweise 108 - von Durchführungsbeschlüssen die Rede ist. Insofern muß zwischen Art. 136 Abs. 1 und 2 EGV a.F. differenziert werden. War das Durchführungsabkommen damit Bestandteil des Vertrages, kommt es schließlich wiederum darauf an, ob die Verbindung zwischen Abkommen und Protokoll hinreichend eng ist, so daß damit eine Einbeziehung in das vertragliche Primärrecht verbunden ist. In diesem Zusammenhang wird vorgetragen, es genüge nicht, daß die Protokolle dem Durchführungsabkommen beigefügt seien; der Wortlaut des Art. 311 setzte vielmehr voraus, daß sie dem EGV selbst beigefügt werden. 109 Hier gilt jedoch gleiches, wie vorstehend im Hinblick auf das Abkommen zur Sozialpolitik dargelegt; nach den gleichen Grundsätzen genügt eine eindeutig feststellbare Einbeziehung des Protokolle in das Abkommen, zumal alle damaligen Vertragsstaaten sowohl das Durchführungsabkommen als auch die Protokolle unterzeichnet haben. Die Beifügung wurde sowohl in der Präambel der Protokolle 110 als auch in Art. 15 Abs. 1 des Durch-

105 Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 2. Zum Kriterium der Übersichtlichkeit im Hinblick auf das Sozialprotokoll Kampmeyer, Protokoll und Abkommen über die Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 156. 106 Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 3. 107 Vgl. Eckart Klein, a.a.O.; der Verweis auf Hilf (in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 4) ist jedenfalls ungenau. 108

Vgl. Gilsdorf/Zimmermann, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 136 EGV Rdnr. 5; Tietje, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 136 Rdnr. 1. 109 Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 239 EGV Rdnr. 5. 110 BGBl. 1957 II, S. 1008 (Bananen) und 1010 (ungebrannter Kaffee).

72

1. Teil: Grundlagen

fuhrungsübereinkommens 111 zum Ausdruck gebracht. Die letztgenannte Vorschrift nimmt zugleich mehrfach inhaltlich Bezug auf die (Sonderregelungen in Form der) Protokolle und bewirkt dadurch eine materielle Verzahnung dieser Zollkontingentsystemkomponenten. Auch das Bananenprotokoll war demgemäß als primäres Gemeinschaftsrecht zu qualifizieren; dessen Änderung bzw. die Aufhebung durch die Bananenmarktordnung stellte nach Auffassung des EuGH allerdings keinen Verstoß gegen Art. 236 EWGV dar, da Abs. 4 UAbs. 3 des Protokolls (als autonome) Vertragsänderung eine Ausnahme vom Einstimmigkeitsprinzip normierte, und auch den Einwand der Bundesrepublik Deutschland, die Abschaffung des Protokolls sei davon nicht erfaßt, hat der EuGH nicht gelten lassen112, zumal nach Aufhebung des (besonderen) Zollkontingents der einzige Regelungsgegenstand des Protokolls hinfällig geworden ist. Auch hinsichtlich der späteren Durchfuhrungsbeschlüsse auf der Grundlage des Art. 136 Abs. 2 EGV a.F. (Art. 187 EGV) hat der EuGH entschieden, daß diese einen Prüfungsmaßstab für sekundäres Recht bilden 113 . Sie stehen nach Auffassung des Gerichtshofs gleichwohl formell unterhalb des primären Gemeinschaftsrechts. 114 Eine Einbeziehung in den Vertrag hat weder über Art. 136 Abs. 2 a.F. EGV stattgefunden, noch sind die Beschlüsse dem EGV beigefügt. Gleichwohl werden die konstitutionellen Regeln infolge der Durchfuhrungsbeschlüsse sowohl konkretisiert als auch ergänzt: der Inhalt der Assoziierung entspricht immer weniger der ursprünglich vor allem auf Integration und enge wechselseitige Wirtschaftsbeziehungen angelegten Zielsetzung, sondern verfolgt zuvorderst entwicklungspolitische Intentionen. 115 Angesichts dessen wird von den Durchführungsbeschlüssen meist als einer (materiellen) „autonomen Vertragsergänzung" gesprochen 116; dies gilt auch unter dem Gesichtspunkt der

111

BGBl. 1957 II, S. 998(1004). EuGH, Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994,1-4973 (5075 Rdnr. 117). 1,2

113

Vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.1974, Rs. 48/74 (Charmasson/Minister für Wirtschaft und Finanzen), Slg. 1974, 1383, 1393. 114 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994, 1-4973 (5075 Rdnr. 117); Tietje, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 136 Rdnr. 10. 115 Siehe Gilsdorf/Zimmermann, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/ EGV, Vorb. zu den Art. 131 bis 136 a EGV Rdnr. 5. 116 Ever ling, ZaöRV 24 (1964), S. 472 (565); Hans Peter Ipsen, Europäisches Gein: von der Groeben/Thiesing/Ehlermeinschaftsrecht, S. 170; Gilsdorf/Zimmermann, mann, EUV/EGV, Art. 136 EGV Rdnr. 5; Tietje, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 136 in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 187 EGV Rdnr. 4. Rdnr. 10; Martenczuck/Zimmermann, Diese erfolgt entgegen Geiger (EUV/EGV, Art. 187 EGV Rdnr. 2) nicht „materiell" als Verordnung, sondern in Beschlußform, siehe Tietje, a.a.O., und Martenczuck/Zimmermann, die jeweils von einen Beschluß „sui generis" ausgehen.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

73

„Ersetzung" des ursprünglichen primärrechtlichen Durchführungsabkommens. 117 Eine solche autonome Vertragsergänzung wird - innerhalb des Assoziationsrahmens - häufig mit einer „autonomen Vertragsergänzung" verglichen, wie sie auch Art. 308 EGV vorsehe 118, dies allerdings zu Unrecht, da Art. 308 EGV die primärrechtlichen Grundlagen unberührt läßt. 119 Bei inhaltlicher Anknüpfung kommt nach dem vorstehend Gesagten entgegen der Auffassung des Gerichtshofes auch hinsichtlich der Durchführungsbeschlüsse wie bei anderen autonomen Änderungsbeschlüssen eine Qualifikation als Primärrecht in Betracht. Art. 187 EGV (Art. 136 Abs. 2 EGV a.F.) ist eine entsprechende Änderungsbefugnis allerdings nicht zu entnehmen.120 Daher stellt sich auch hier wiederum die Frage, ob derartige Ergänzungen in den Anwendungsbereich des offenkundig nicht eingehaltenen Vertragsänderungsverfahrens fallen. Ist das der Fall, muß in bezug auf dieses Beispiel erneut nach der Exklusivität des Art. 48 EUV gefragt, ferner untersucht werden, ob ggf. gar eine gewohnheitsrechtliche Derogation jenseits dieses Verfahrens in Betracht kommt. 121 Auch dazu wird im Verlauf der Untersuchung Stellung bezogen werden. 122

3. Das Beitrittsvertragswerk Ungeachtet der besonderen verfahrensrechtlichen Anforderungen sind sowohl die eigentlichen Beitrittsverträge bzw. Beitrittsabkommen als auch die Beitrittsakten einschließlich ihrer Anhänge und Protokolle primärrechtlicher Natur. 123 Trotz dieser formalen Zweiteilung sind die Bestimmungen der Beitrittsakten Bestandteil des Beitrittsvertrages. 124 Der primärrechtliche Rang des

117

Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 90; Vedder/ Folz, in Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 23. 118

Vgl. Ernst-Ulrich Petersmann, in: ZaöRV 33 (1973), S. 266 (298). Vgl. unten 2. Kap. II. 4. 120 Der Rat kann die Bestimmungen letztlich nur „aufgrund der Bestimmungen dieses Vertrages" festlegen. 119

121 So etwa Gilsdorf/Zimmermann, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/ EGV, Vorb. zu den Art. 131 bis 136 a EGV Rdnr. 5; ebenso Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1821. 122

Siehe 3. Kap. I. 2. Allgemein zur Struktur des Beitrittsvertragswerkes Meng, in: von der Groeben/ Schwarze, Art. 49 EU Rdnrn. 113 ff. Siehe auch Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 373, sowie Becker, EU-Erweiterung und differenzierte Integration, S. 24 f. 123

124

Vgl. Art. 1 Abs. 2 S. 2 des Vertrages über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens (und ursprünglich auch Norwegens) zur Europäischen Union, ABl. 1994

74

1. Teil: Grundlagen

eigentlichen Beitrittsabkommens ist unangefochten, enthält es doch „lediglich" Bestimmungen über den Beitritt als solchen, 125 regelt das Inkrafttreten des Vertrages, 126 bestimmt die Vertragssprachen 127 und sieht Anpassungsregelungen des Beitrittsvertrages selbst bzw. der Beitrittsakte für den Fall vor, daß ein Vertragspartner den Vertrag nicht bzw. nicht rechtzeitig ratifiziert. 128 Die Beitrittsakte enthält demgegenüber die Beitrittsbedingungen 129 und Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht. 130 Soweit auch sekundärrechtliche Bestimmungen durch Vorschriften der Beitrittsakte, konkretisiert im jeweiligen Anhang I, geändert oder aufgehoben werden, stellt sich dabei die Frage, ob die (nicht nur vorübergehend) modifizierenden bzw. aufhebenden Bestimmungen des Beitrittsvertragswerkes lediglich sekundären oder gleichwohl primären Rang einnehmen.131 Die Beitrittsakten selbst lassen keinen Raum für die letztgenannte Variante: Die in Rede stehenNr. C 241, S. 9 (13); zur Einbeziehung der Anhänge und Protokolle als Bestandteil der Beitrittsakte siehe deren Art. 174, a.a.O., S. 21 (51). Siehe nunmehr auch Art. 1 Abs. 2 S. 2 des Beitrittsvertrages mit den MOE-Staaten sowie Zypern und Malta, Dok. AA2003/TR/de, S. 13; das Dokument ist auf den Internetseiten der Organe unter dem Sach- bzw. Tätigkeitsbereich „Erweiterung" abrufbar. 125

Vgl. Art. 1 Abs. 1 des Beitrittsvertrages, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 9 (13), sowie Art. 1 Abs. 1 des Beitrittsvertrages 2003, Dok. AA2003/TR/de, S. 12. 126

Vgl. Art. 2 Abs. 2 des Beitrittsvertrages, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 9 (13), sowie Art. 2 Abs. 2 des Beitrittsvertrages 2003, Dok. AA2003/TR/de, S. 13 f. 127 Vgl. Art. 3 des Beitrittsvertrages, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 9 (14). Demgegenüber ließe sich im Hinblick auf die Sprachfassungen des gesamten vertraglichen Primärrechts, vgl. Art. 53 EUV, von einer Anpassung sprechen, vgl. Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV; Art. 49 EUV Rdnr. 12. Siehe auch 3. Kap. II. 4. a). Siehe auch Art. 3 des Beitrittsvertrages 2003, Dok. AA2003/TR/de, S. 15. 128

Vgl. Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 des Beitrittsvertrages, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 9 (13 f.); dazu auch ABl. 1995 Nr. C 1, S. 1 (Änderung der Regeln über die Beschlußfassung). Es handelt sich insoweit um eine autonome Primärrechtsänderung durch den Rat der Europäischen Union; dazu ausführlich unten 3. Kap. III. 2. Siehe auch Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 des Beitrittsvertrages 2003, Dok. AA2003/TR/de, S. 14. 129 Vgl. zur Übernahme des acquis communautaire etwa Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 49 Rdnr. 11 ; zu Übergangsregelungen ausführlich Becker, EUErweiterung und differenzierte Integration: Siehe zum acquis ferner Fußn. 177; zu „Anpassungen" ausführlich 3. Kap. I 5. 130

Vgl. die Beitrittsakte 1994, ABl. Nr. C 241, S. 21 ff., sowie die Beitrittsakte 2003, Dok. AA2003/ACT/de, S. 1 ff. 131

Davon zu trennen ist der Aspekt, daß die Vorgaben der Beitrittsakte nur im Wege des Vertragsänderungsverfahrens umgestaltet werden können (gem. Art. 7 der Beitrittsakte 1994 sowie nunmehr auch Art. 7 der Beitrittsakte 2003 (Dok. AA2003/ACT/ de, S. 12) bzw. Art. 6 früherer Beitrittsakten), siehe Becker, EU-Erweiterung und differenzierte Integration, S. 24 f. (Fußn. 73).

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

75

den Vorschriften „haben denselben Rechtscharakter wie die durch sie aufgehobenen oder geänderten Bestimmungen und unterliegen denselben Regeln wie diese". 132 Umgekehrt werden die durch Übergangsbestimmungen in Bezug genommenen sekundärrechtlichen Rechtsakte ihrerseits nicht in den Rang primären Rechts erhoben, vgl. Art. 8 der Beitrittsakte 1994 bzw. die jeweiligen Art. 7 der früheren Beitrittsakten. Ungeachtet dessen mißt der EuGH 133 dem durch die Beitrittsakten geänderten ursprünglichen Sekundärrecht primären Rang zu. 1 3 4 Diese Betrachtungsweise rückt die formale Einbeziehung der Änderungen in das seiner Natur nach grundsätzlich primäre Vertragsrecht in den Vordergrund, läßt jedoch die vorgenannten Regelungen der Beitrittsakten außer Betracht. Der Gerichtshof tritt diesem Vorwurf entgegen, indem er die jeweiligen Art. 7 und 8 früherer Beitrittsakten, die Art. 8 und 9 der Beitrittsakte 1995 entsprechen, lediglich als vereinfachte Änderungsvorschriften 135 qualifiziert. Die Position des EuGH wird zu Recht kritisiert. Sie führt einerseits zur nachträglichen, im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip nicht zu rechtfertigenden Verkürzung des Rechtsschutzes, da die geänderten Rechtsakte nicht mehr mit der Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 EGV angegriffen werden können. 136 Zugleich wird der Grundsatz der Homogenität des primären Rechts jenseits einer inhaltlichen Zuordnung des Regelungsgehaltes allein aus formalen Gründen durchbrochen, werden sekundärrechtliche Handlungsformen mit primärrechtlichen Bestimmungen durchzogen. 137 Eine einschränkende Interpretation der Position des EuGH dahingehend, nicht den sekundärrechtlichen Rang der in Frage stehenden Bestimmungen zu verneinen, sondern lediglich die gerichtliche Anfechtbarkeit auszuschließen, findet in den Ausführungen des Gerichtshofes keinen Anhaltspunkt und wäre auch nicht systemkonform.

132

Art. 9 der Beitrittsakte 1994, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21; des gleichen Art. 9 der Beitrittsakte 2003 (Dok. AA2003/ACT/de, S. 13); ebenso die jeweiligen Art. 8 früherer Beitrittsakten. 133 Urt. v. 28.4.1988, Rs.31 und 35/86 (LAISA), Slg. 1988, 2285 (2317 Rdnrn. 12 ff.). 134 Für weiterhin sekundären Rang demgegenüber G A Carl Otto Lenz, Slg. 1988, 2305 (2307 Ziff. 16). 135

Urt. v. 28.4.1988, Rs. 31 und 35/86 (LAISA), Slg. 1988, 2285 (2318 Rdnr. 14). Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 49 EU Rdnr. 117. 137 Krück, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 164 EGV Rdnrn. 20 f.; vgl. auch Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 49 EUV Rdnr. 11; Pechstein, in: Streinz: EUV/EGV, Art. 49 EUV Rdnr. 12. 136

76

1. Teil: Grundlagen 4. Verträge auf der Grundlage der Art. 293, 300 und 310 EGV

Vornehmlich Verträge auf der Grundlage des Art. 293 EGV haben Anlaß dazu gegeben, daß die weit gefaßte, bereits im „Dunstkreis" der Zielsetzungen verankerbare „Gemeinschaftsbezogenheit" vereinzelt als Kriterium fur den Begriff des Gemeinschaftsrechts in das Zentrum der Betrachtung gerückt worden ist. 138 Die damit verbundene Problematik betrifft auch die Qualifizierung anderer Handlungsformen, wie z.B. der Beschlüsse der im Rat vereinigten Regierungsvertreter. Grundsätzlich aber kann ein derart weit gesteckter, kaum überprüfbarer Zusammenhang - im Gegensatz zur Zugehörigkeit zum acquis communautaire - 1 3 9 nicht über die Zuordnung zum primären Vertragsrecht entscheiden, weil und soweit damit zugleich weitreichende rechtliche Folgen, wie etwa der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, der Grundsatz der unmittelbarer Wirkung sowie die Anwendbarkeit der Revisionsvorschriften verbunden sind. Ein tieferer inhaltlicher Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht besteht dann, wenn Regeln normiert werden, die allgemein über die abgeleitete Rechtsetzung der Gemeinschaft bestimmen bzw. diesbezüglich ihr Organisationsgefüge betreffen. Dann aber wird in aller Regel bereits eine Integration in die Gemeinschaftsverträge erfolgen. Zwar kommt es gemäß der Revisionsvorschriften nicht zwingend darauf an, daß Ergänzungen oder Änderungen im selben Vertrags werk verankert werden, jedoch gibt der Anwendungsbereich der internen Revisionsregeln, die selbst Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht sind und das gesamte primäre Gemeinschaftsrecht betreffen, aus der maßgeblichen internen Warte Aufschluß über die Zugehörigkeit einer Norm zu diesem Regime. 140 Im übrigen kann für die Zuordnung auch die (Einwirkung auf die) in den Gründungsverträgen geregelte Jurisdiktionsgewalt des EuGH nicht unberücksichtigt bleiben. Vor diesem Hintergrund gehören Übereinkommen der Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Art. 293 EGV unabhängig von der Vereinbarung der Zuständigkeit des EuGH nach überwiegender Auffassung 141 weder zum primären 138

Vgl. die Zusammenschau bei Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, S. 62 ff. m.w.N. 139

Vgl. Art. 4 Abs. 2 der Beitrittsakte von 1994, ABl.EG Nr. C 241 S. 21, sowie Art. 5 Abs. 2 der Beitrittsakte 2003 (Dok. AA2003/ACT/de, S. 7); Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 49 EUV Rdnr. 11. Zu den Bestandteilen des acquis insgesamt Fußn. 177. 140 Siehe 3. Kap. VI. 1. 141 Schwartz , in: FS Grewe, S. 551, unter ausführlicher Darstellung der insbesondere früher vertretenen Gegenauffassungen (S. 558 ff); ders., in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann, Art. 220 EGV Rdnr. 12 m.w.N.; Rudolf Bernhardt, in: Dreißig Jahre Gemei η schaftsrecht, S. 77 (85); Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, Die Europäische

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

77

noch zum sekundären Gemeinschaftsrecht. 142 Es handelt sich vielmehr um völkerrechtliche Verträge. Das gilt auch für das EuGVÜ 1 4 3 : Einer Übertragung der Auslegungskompetenz144 auf den EuGH im Wege der Organleihe durch Art. 1 des Auslegungsprotokolls von 1971 145 hätte es anderenfalls nicht bedurft, und auch eine Änderung oder eine die Ziele der Gemeinschaft einschränkend tangierende Ergänzung der Gründungsverträge war damit nicht verbunden. 146 Vor allem ist das EuGVÜ nicht Teil des verfassungsfunktionalen Handlungsrahmens der Organe zur Schaffung abgeleiteten Rechts. Völkerrechtliche Verträge sind ferner die von der Gemeinschaft auf der (Verfahrens- 147)Grundlage des Art. 300 EGV 1 4 8 geschlossenen Abkommen sowie AssoziierungsabkomUnion, Rdnrn. 371, 408; Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 220 EGV Rdnm. 1, 2, 7; Hatje, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 293 EGV Rdnr. 13. 142 Demgegenüber nimmt Wuermeling (Kooperatives Gemeinschaftsrecht, S. 67 ff., 90 f., 92) auf der Grundlage eines „offenen" Begriffs des Gemeinschaftsrechts die Einordnung unter eben dieses Regime vor, welches selbst den Geltungsgrund enthalte (S. I I I , 268). Gleichwohl gehen seiner Auffassung zufolge sowohl das primäre als auch - in aller Regel - das sekundäre Gemeinschaftsrecht im Range vor; gerade auf dieser Grundlage solle eine das Änderungsverfahren unterlaufende Vertragsrevision, eine „révision froide", vermieden werden (S. 130 ff.). Für einen originär gemeinschaftsrechtlichen Ursprung der auf Art. 293 EGV beruhenden Übereinkommen auch Strycken, RdC 1992 I, S. 257 (299): „La convention [de Bruxelles] ne relève pas de l'ordre du droit international public". 143 Vom 27.9.1968, AB1.EG Nr. L 299, S. 32. Das Abkommen wird weitestgehend ersetzt durch die - nach Art. 61 lit. c EGV und Art. 67 Abs. 1 EGV erlassene - VO (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl.EG 2001, Nr. L 12, S. 1), vgl. deren Art. 68 Abs. 1 (a.a.O., S. 14). Siehe auch die VO (EG) Nr. 1347/2000 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstrekkung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten. 144 Diese wird etwa von Schlosser [NJW 1975, 2132 (2133)] zur Begründung der Primärrechtsqualität in den Vordergrund gerückt. 145 ABl. 1975 Nr. L 204, S. 28; zur Vorabentscheidung vgl. Art. 2 IT. 146 Siehe Föhlisch, Der gemeineuropäische ordre public, S. 24. 147

Art. 300 EGV regelt nur das Verfahren bzw. die Organkompetenz, siehe etwa EuGH, Urt. v. 9.8.1994, Rs. C-327/91 (Frankreich/Kommission), Slg. 1994, 1-3641 (3675 Rdnr. 28); Müller-lbold, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 300 EGV Rdnr. 1; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 300 Rdnr. 1; Geiger, EUV/EGV, Art. 300 Rdnr. 1; Krück., in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 300 EGV Rdnr. 3. 148 Siehe Rudolf Bernhardt, in: Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, S. 77 (86); Hailbronner, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 228 EGV Rdnrn. 38 ff.; Tomuschat, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 228 EGV Rdnm. 57 ff.

1. Teil: Grundlagen

78

men im Sinne des Art. 310 EGV. 1 4 9 Die Qualifizierung der von der Gemeinschaft abgeschlossenen Verträge als „(integrierende) Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsordnung" 150 durch den EuGH ist dabei nicht im Sinne einer Transformation in Gemeinschaftsrecht zu verstehen. 151 Soweit Assoziierungsabkommen im Hinblick auf bereits bestehendes Primärrecht allerdings (vertrags-)ändernder Charakter zukäme, wären auch diese dem primären Gemeinschaftsrecht zuzuordnen; 152 sie unterliegen insoweit den Anforderungen des Art. 48 EUV (vgl. Art. 300 Abs. 5 EGV), 1 5 3 was eine vorherige Vertragsände149

Vgl. Hailbronner, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 238 EGV Rdnr. 1; Lukes , in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Band 1, Β II. Rdnr. 35; Weber, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 238 EGV Rdnrn. 11, 41; Schmalenbach, in: CalliesslRuïïcri, EUV/EGV, Art. 310 EGV Rdnr. 1; Herrnfeld., in: Schwarze, EUV/EGV, Art. EGV 310 Rdnr. 16. 150

Grundlegend v.a. EuGH, Urt. v. 30.4.1974, Rs. 181/73 (Haegeman/Belgien), Slg. 1974, 449 (460 Rdnr. 5); Urt. v. 26.10.1982, Rs. 104/81 (Hauptzollamt Mainz/ Kupferberg & Cie KG a.A.), Slg. 1982, 3641 (3662 Rdnr. 13); Urt. v. 30.9.1987, Rs. 12/87 (Demirel/Stadt Schwäbisch Gmünd), Slg. 1987, 3719 (3750 Rdnr. 7); Urt. v. 20.9.1990, Rs. C-192/89 (Sevince/Staatssecretaris van Justitie), Slg. 1990, 1-3461 (3500 Rdnr. 8); Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1-6079 (6105 f. Rdnrn. 37, 39). Für eine Korrektur dieser Formel dahingehend, daß die Abkommen als „integrierte" Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsordnung anzusehen seien, vormals Streinz, Europarecht [4. Aufl., Rdnr. 431 (aufgegeben in der 5. Aufl., a.a.O.)]; dies birgt jedoch die Gefahr der Vereinnahmung für eine dualistische Konzeption. 151

Tomuschat, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 228 EGV Rdnr. 58; Epiney, EuZW 1999, S. 5 (6), Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1719; siehe auch Krück, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 281 Rdnr. 25. Innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung gehen internationale Abkommen angesichts Art. 300 Abs. 5 EGV bzw. Art. 300 Abs. 6 EGV dem primären Gemeinschaftsrecht im Rang nach, dem Sekundärrecht hingegen vor, siehe EuGH, Urt. v. 20.9.1990, Rs. 192/89 (Sevince/Staatssecretaris van Justitie), Slg. 1990, 1-3497 (3501 Rdnrn. 9 ff); Gutachten 3/94 v. 13.12.1995 (GATT-WTO-Rahmenabkommen über Bananen), Slg. 1995, 1-4577 (4595 f. Rdnr. 17); Gutachten 2/94 v. 28.3.1996 (EMRK), Slg. 1996, 1-1759 (L783 Rdnr. 4); Urt. v. 10.9.1996, Rs. C-61/94 (Kommission/Deutschland), Slg. 1996, 1-3989 (4020 f. Rdnr. 52); ferner Hailbronner, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 228 EGV Rdnr. 51; Tomuschat, a.a.O., Art. 228 EGV Rdnr. 73; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 300 EGV Rdnr. 77 mit dem Verweis auf Art. 300 Abs. 3 UAbs. 2 Alt. 4 EGV in bezug auf das Sekundärrecht; Geiger, EUV/EGV, Art. 300 EGV Rdnr. 25; Krück, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 281 EGV Rdnr. 30, Art. 300 EGV Rdnr. 51; speziell zu Assoziierungsabkommen nach Art. 310 EGV Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 310 EGV Rdnr. 18 m.w.N. 152

Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 525. Der Wegfall des Art. 238 Abs. 3 EGV a.F. (dazu und zum Verhältnis zur Vertragsänderung Vedder, Die auswärtige Gewalt des Europa der Neun, S. 209 ff.) bleibt daher im Ergebnis ohne Auswirkung, vgl. Weber, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 238 EGV Rdnr. 31; davon zu unterscheiden ist das Zustim153

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

79

rung voraussetzt. 154 Eine solche „verfassungsrechtliche" Qualität wird jedoch angesichts der praktischen Ausgestaltung der Assoziierungsabkommen in Form gemischter Abkommen 155 , die zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten sowie den Vertragspartnern geschlossen werden und die die (insofern zumeist geteilte) Zuständigkeit der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten wahren, in der Praxis zumeist nicht erreicht werden. 156 Im übrigen führte der Abschluß gemischter Abkommen mangels (zugleich fortwirkender) Kompetenzerweiterung auch nicht zu einer Revision des EGV. Dessen ungeachtet hinge die Annahme einer (vermeintlich) punktuell vertragsändernden Wirkung von der kontrovers diskutierten Fragestellung ab, ob Art. 310 EGV eine „umfassende originäre Außenkompetenz" 157 entnommen werden kann oder aber die Abschlußkompetenz der Gemeinschaft grundsätzlich nur im Rahmen der (innergemeinschaftlich) kompetentiell zugewiesenen Materien erfolgen kann. 158 Die praktische Auswirkung dieser Fragestellung wird allerdings durch die AETRRechtsprechung des EuGH relativiert, der zufolge der EGV als Kehrseite der Binnenkompetenzen implizite Vertragsschließungskompetenzen enthält; 159 gleichwohl hat der Gerichtshof mittlerweile die Erforderlichkeit der vorherigen Ausübung der Binnenkompetenz hervorgehoben, sofern sich die vertraglichen Ziele nicht ausschließlich durch völkerrechtliche Verträge verwirklichen las-

mungserfordernis nach Art. 300 Abs. 3 UAbs. 2 EGV. Oppermann (Europarecht, Rdnr. 1887) verweist hinsichtlich notwendiger Anpassungen bei der Beitrittsassoziation auf Art. 49 EUV. 154

Siehe unten 3. Kap. II. 1. Siehe dazu etwa Rainer Arnold, ArchVR 19 (1981), S. 419 ff; ders., in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Κ. I Rdnrn. 77 ff. 156 Vgl. Weber, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 238 EGV Rdnrn. 22,31. 155

157

Weber, a.a.O., Rdnr. 22; vgl. auch Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 310 EGV Rdnrn. 12 ff.; ausführlich zur Einstufung des Art. 310 EGV als einer eigenständigen Kompetenzgrundlage Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 310 EGV Rdnm. 4 f. m.w.N. 158

So Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1883. Urt. v. 31.3.1971, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, 263 (275 Rdnr. 17 f.). 160 Gutachten 1/94 v. 15.11.1994 (WTO), Slg. 1994,1-5267 (5411 Rdnr. 77); Gutachten 2/92 v. 24.3.1995 (OECD), Slg. 1995, 1-521 [559 f. Rdnm. 32 ff. (36)]; dazu etwa Oppermann, Europarecht, Rdnrn. 1703 f. 159

80

1. Teil: Grundlagen

5. Weitere Quellen? - Zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union Die im Dezember 2000 in Nizza unterzeichnete Charta der Grundrechte wirft sowohl hinsichtlich ihrer Qualifikation als primäres Recht bzw. Verlagsrecht als auch hinsichtlich der Zuordnung zum Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht Fragen auf. 161 Kein Hindernis stellt dabei zunächst die Tatsache dar, daß zu den bestehen primärrechtlichen Vertragsdokumenten ein weiteres hinzukommen könnte und dieses ggf. auch bestehendes primäres Vertragsrecht ändert. Dies war etwa bereits im Hinblick auf den Fusionsvertrag im Verhältnis zu den Gemeinschafts Verträgen der Fall, der allerdings den Voraussetzungen des Art. 236 EWGV entsprach und infolge dessen auch gegenüber bestehendem Vertragsrecht Änderungswirkung entfalten konnte. 162 Die Revisionsvorschriften verlangen nicht, daß Änderungen in denselben Vertrag integriert werden, 163 der geändert wird; schwieriger zu beurteilen ist hingegen die Problematik, inwiefern Änderungen des Gemeinschaftsrechts zwar unter Wahrung der durch Art. 48 EUV normierten Voraussetzungen, aber nicht im Gemeinschafts-, sondern etwa im Unionsrecht verankert werden können (vgl. auch Art. 47 EUV). Dessen ungeachtet gilt die Charta ausweislich Art. 51 Abs. 1 für die „Organe und Einrichtungen der Union". Die Charta, welche bereits nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 des (Vor-)Entwurfs des Verfassungsvertrages durch den Konvent „integraler Bestandteil der Verfassung werden soll", 1 6 4 ist derzeit noch nicht verbindlich. Sie wurde nicht im Revisionsverfahren durch die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vereinbart, sondern von den Organen Parlament, Rat und Kommission als politische Erklärung proklamiert. 165 Auch die Mitgliedstaaten erteilen keine förmliche Zustimmung zur „Ratifizierung"; gemäß den Schlußfolgerungen des Rates von Köln soll die Frage einer Integration in die Verträge geprüft werden. 166 Der jeweilige Teil II des Entwurfs der Verfassung des Europäischen Konvents so-

161

Herdegen (Europarecht, Rdnm. 174 a f.) nimmt - jedenfalls systematisch und diesbezüglich ohne besondere Erläuterung - eine Einordnung unter das primäre Gemeinschaftsrecht vor. 162 Siehe zunächst ABl.EG 1967 Nr. 152, S. 2; vgl. auch Art. 38 des FusV, a.a.O., S. 12; Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 9. 163 Vgl. unten 3. Kap. II. 4. a). 164 Dokument vom 6.2.2003, abgedruckt in EuGRZ 2003, S. 79 (80). 165 Siehe auch Pernice/Franz C Mayer (in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV Rdnr. 24) mit dem Hinweis auf die Veröffentlichung der Charta im ABl. Teil C (364, S. 1). 166

Siehe Hilf, 2001, S. 1 (11).

Beilage zu NJW u.a., 2000, Einführung, S. 6; Grabenwarter,

DVB1.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

81

wie des Vertrages über eine Verfassung für Europa 167 sieht diese Integration nunmehr ausdrücklich vor. Gleichwohl stellt die Charta bis dato - obwohl sie gerade auf die Verleihung subjektiver Rechte angelegt ist - als solche kein Recht im eigentlichen Sinne dar; ihr kommt auch noch keine objektive Ordnungsfunktion zu. 1 6 8 Ein - vertraglich bzw. im Vertragsentwurf ausdrücklich dokumentierter - aktueller Rechtsbindungswille169 existiert nicht. Jedenfalls aus diesem Grund bleibt ohne Belang, inwieweit das Konventsverfahren, in dem die Charta vereinbart worden ist, mit der allgemeinen Revisionsbestimmung (Art. 48 EUV) korrespondiert. 170 Die Erklärung bzw. Proklamation kann bestenfalls zu einer Selbstbindung der Organe führen. Die Qualifikation als interinstitutionelle Vereinbarung erscheint zweifelhaft, da diese in der Regel einen spezifischen Sachbereich (insbesondere das Haushaltsrecht) betreffen, formal-verfahrenstechnischen Charakter haben und sich Dritte überdies nicht auf diese Vereinbarungen berufen können. 171 Dessen ungeachtet wird erwartet, daß die Charta jedenfalls zu einer Erkenntnisquelle bzw. „subsidiär als nachgeordnete Orientierungshilfe" 172 für den EuGH und das EuG 1 ^avanciert, 174 vor allem bei der Konkretisierung allge-

167

Siehe zum Entwurf des Konvents Art. I M bis 11-57, CONV 850/03, S. 47-60, sowie S. 59 ff. der amtl. Textausgabe; siehe ferner Art. 11-61 bis 11-114 (AB1.EU 2004 Nr. C 310, S. 41 - 54) des Vertrages über eine Verfassung für Europa. 168 Im Gegensatz zum privatrechtlichen Vertrag erzeugt die völkerrechtliche Vereinbarung - und Gleiches gilt für das primäre Vertragsrecht der Union bzw. der Gemeinschaften - auch Recht im objektiven Sinne, ist in diesem Sinne zugleich Rechtsquelle und rechtsetzendes Handeln; siehe dazu etwa Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 173. 169 Zur Qualität der Charta als „soft law" und Auslegungshilfe Schmitz, JZ 2001, S. 833 (836). Zu völkerrechtlichem „soft-law" Herdegen, Völkerrecht, § 20 Rdnr. 4. Zu „soft-law"- Charakteristika innerhalb völkerrechtlicher Verträge Verdross/Simma, Völkerrecht, § 756. Zur ungeachtet der Bezeichnung der Vereinbarung konstitutiven Bedeutung des Rechtsbindungswillens bzw. der (intendierten) Verbindlichkeit Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 114; Kimminich/Hobe, a.a.O., S. 202. Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 lit. a WVK 170 Siehe zum Konventsverfahren und seiner Vorbildfunktion für eine Revision des allgemeinen Vertragsänderungsverfahrens selbst 3. Kap. II. 6. 171 Pernice/Franz C Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV Rdnr. 24. 172

Schmitz, JZ 2001, S. 833 (835). Siehe zur Bedeutung der Charta als Argumentationshilfe für die Generalanwälte die von Pernice/Franz C. Mayer (in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV Rdnr. 25) dokumentierten Fälle. 173 Das EuG hat sich bis dato in zwei Urteilen und einem Beschluß insgesamt zwei Mal auf Art. 41 Abs. 1 der Charta (betreffend das Gebot der Unparteilichkeit bzw. das Verbot der Ungleichbehandlung im Rahmen des Rechts auf eine gute Verwaltung) und zwei Mal auf Art. 47 der Charta (betreffend das Recht auf wirksamen Rechtsschutz)

82

1. Teil: Grundlagen

meiner Rechtsgrundsätze, 175 daß sie ggf. „schrittweise mittelbar geltendes Primärrecht" bzw. die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 EUV gewonnenen Ergebnisse „bekräftigen" wird. 1 7 6 Sie gehört ungeachtet dessen auch zum acquis communautaire }ΊΊ Wollte man die Charta bereits jetzt als „europäisches gestützt. Es hat dabei die „Bestätigung" bzw. „Bekräftigung" eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes durch die Charta hervorgehoben bzw. zu möglichen gemeinschaftsrechtlichen Rechtspositionen „im Lichte" der Charta Stellung bezogen. Siehe Urt. v. 30.1.2002, Rs. T-54/99 (max.mobil Telekommunikation Service GmbH/Kommission), Slg. 2002, 11-313 [314 Ls. 1 sowie 333 Rdnr. 48 (zu Art. 41 Abs. 1 der Charta), 337 Rdnr. 57 (zu Art. 47 der Charta)]; v. 3.5.2002, Rs.T-177/01 (Jégo-Qéré et Cie SA/Kommission), Slg. 2002, 11-2365 [2366 Ls. 1 sowie 2382 Rdnr. 47 (zu Art. 47 der Charta)]; Beschl. v. 4.4.2002, Rs. T-198/01 R (Technische Glaswerke Ilmenau GmbH/ Kommission), Slg. 2002, 11-2153 [2155 f. Ls. 1 sowie 2184 f. Rdnr. 85 (zu Art. 41 Abs. 1 der Charta)]. 174

Hilf Beilage zu NJW u.a., 2000, Einführung, S. 6; Grabenwarter, DVB1. 2001, S. 1 (11); Meinhard Schröder, JZ 2002, S. 849 (850), der die Charta auch als „Interpretationsinstrument zur Präzisierung grundrechtlicher Positionen" einstuft. Näher zur Funktion der Charta in der Rechtsprechung von EuG und EuGH Iber, ZEuS 2002, S. 483 (489 ff.). An dieser Stelle offenbart sich allerdings ein Unterschied zu den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen" im Hinblick auf die Legitimierung der als Erkenntnisquellen in Bezug genommenen und verglichenen Normen. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind ihrerseits in allen respektive einem Großteil der Mitgliedstaaten verbindlich verankert, so daß - sofern hier auch von Gewohnheitsrecht gesprochen wird vor allem eine rechtsquellenspezifische Absicherung bzw. Verankerung dieser (auch methodischen) Grundsätze im Primärrecht in Frage steht, während im Hinblick auf die Charta ungeachtet der Selbstbindung der Organe eher eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes im Vordergrund stünde. M.a.W. können EuGH und EuG unter Legitimationsgesichtspunkten hier nicht unbedarft „aus dem Vollen" schöpfen. Zur „quasi-authentischen" Interpretation mittels Bezugnahme durch die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), S. 290 (343); insgesamt eher restriktiv Schmitz, JZ 2001, S. 833 (835 f.). Siehe schließlich Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19 Rdnm. 27 ff. 175

Pernice/Franz C. Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV Rdnr. 27. Siehe Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), S. 290 (323, 325); Steiner, in: FS Maurer, S. 1005 (1013), unter Hinweis auf „die Brücke der Art. 6 Abs. 2 und 46 EUV i.V.m. Art. 220 EGV". Siehe auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 37. 176

177 Grundlegend zum acquis communautaire Pescatore , RTDE 17 (1981), S. 617 ff.; Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rdnm. 27 f. Zu seinen Bestandteilen, insbesondere nach der für den Beitritt zur Europäischen Union maßgeblichen Definition [dazu Gialdino, CMLR 32 (1995), S. 1089 (1094 ff.)] Becker, EUErweiterung und differenzierte Integration, S. 21 (Fußn. 61); Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 426; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 49 EUV Rdnr. 6. Vgl. im Sinne einer umfassenden Zusammenstellung der den acquis bildenden Handlungsformen insbesondere die Art. 2 - 5 der Beitrittsakte 1994, ABl. Nr. C 241, S. 21 f. (dazu Herrnfeld, a.a.O., Rdnr. 11), sowie Art. 2 - 6 der Beitrittsakte 2003 (Dok.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

83

soft-law" begreifen, 178 so könnte dies aus den vorgenannten Gründen die an das Primärrecht gestellten Anforderungen nicht erfüllen. Auch völkerrechtliches „soft law" gehört nicht zu den Rechtsquellen des Völkerrechts, ist kein Recht, auch wenn es - insofern der Charta allerdings nur bedingt vergleichbar - ex post die Entstehung von Normen v.a. des Gewohnheitsrechts erklärt, 179 wobei an eine Weiterentwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte i.S.d. allgemeinen Rechtsgrundsätze zu denken wäre. 180 Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, daß sich gerade wegen der mangelnden Rechtsverbindlichkeit ein Konsens der

AA2003/ACT/de, S. 3 ff.), ebenso die Definition der Kommission, ABl. 1972 Nr. L 73, S. 3; ABl. 1979 Nr. L 291, S. 3. Neben der legislativen und der die Anwendung des Rechts betreffenden hat der Besitzstand auch eine politische Dimension (.Pescatore , a.a.O.; Streinz, Europarecht, Rdnr. 80; Ott, EuZW 2000, S. 298), d.h. er umfaßt auch die nicht rechtsverbindlichen Zielsetzungen und Erklärungen sowie die zentralen wirtschaftlichen und politischen Beitrittsvoraussetzungen (insbesondere im Sinne der Kriterien des Europäischen Rates von Kopenhagen 1993), die sich letztlich auch auf eine normative Verankerung der Ziele und Grundsätze zurückführen lassen; zur Zugehörigkeit der Luxemburger Vereinbarung zum acquis siehe Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung, S. 45 ff. Primär- und Sekundärrecht werden grundsätzlich in der vom EuGH vorgenommenen Auslegung erfaßt, ebenso wie die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof (vgl. insbesondere Ott, a.a.O., S. 293 ff, auch zur Unterscheidung zwischen Beitritts- und EWR- acquis). Rechtsakte und Beschlüsse im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit gehören zwar nicht zum acquis (siehe nunmehr ausdrücklich Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza), der einem differenzierenden Vorgehen überdies Schranken zieht (vgl. Art. 43 Abs. 1 lit. c EUV). Die im Zuge integrationsfördernder Zusammenarbeit (vgl. Art. 43 Abs. 1 lit. a EUV) erzielten Ergebnisse können sich jedoch zu ggf. später allseits vergemeinschaftungsfähigen Inhalten verdichten. Im Gegensatz zur verstärkten Zusammenarbeit sind Rechtsakte, an denen ein hinsichtlich seiner Stimmrechte im Rat suspendiertes Mitglied nicht hat mitwirken dürfen, für dieses gleichwohl verbindlich und gehören daher zum acquis. Das ergibt sich aus dem System der Sanktionen, insbesondere aus Art. 7 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 UAbs. 2 EUV, sowie den jeweiligen Abs. 2 S. 2 und Abs. 4 UAbs. 2 der Art. 309 EGV und 204 EAGV sowie vormals des Art. 96 EGKSV. Zu den komplexen Problemen im Hinblick auf die Abstimmungsverhältnisse im Rat, insbesondere betreffend Art. 205 Abs. 2 EGV, siehe Klaushofer, JRP 2000, S. 297, 303 ff. 178

Siehe Fußn. 169.

179

Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 654 ff.; Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnrn. 14, 68, 152; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 19 Einführung in das Völkerrecht, S. 192 ff.; SeidlRdnr. 22; Kimminich/Hobe, Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdnrn. 174 a., 495 f. 180

Vgl. zum Gewohnheitsrecht unten III. 2. sowie in bezug auf das Verhältnis zwischen Art. 48 f. EUV und europäischem Gewohnheitsrecht 3. Kap. I. 2.

84

1. Teil: Grundlagen

Beteiligten leichter erzielen läßt, 181 der zunächst jedenfalls eine Absicht dokumentiert.

III. Ungeschriebenes Primärrecht /. Allgemeine Rechtsgrundsätze Als Quelle ungeschriebenen primären Gemeinschaftsrechts fungieren die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen sowie die „der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst inhärenten" 182 allgemeinen Rechtsgrundsätze 183. Diese werden unbeschadet ihres Geltungsgrundes 184 vielfach ausschließlich dem primären Gemeinschaftsrecht zugeordnet 185, während anderer Auffassung zufolge in Abhängigkeit der ihnen zugrundeliegenden Gehalte auch sekundärrechtliche bzw. „sekundärrechtlich konkretisierte" 186 sowie zwischen primärem und sekundärem Recht anzusiedelnde187 allgemeine Rechtsgrundsätze existieren. Die Anerkennung der allgemeinen Rechtsgrundsätze wird von Art. 288 Abs. 2 EGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV über den von diesen Bestimmungen erfaßten Bereich der außervertraglichen Haftung von EG und EAG hinaus

181

Völkerrecht, Diesbezüglich zum völkerrechtlichen „soft law" Verdross/Simma, §§654 ff.; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 19 Rdnr. 21; Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 192 ff.; Herdegen, Völkerrecht, §20 Rdnr. 4. 182

Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 15, sowie Schweitzer, Rdnr. 398, unter Anführung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung.

Staatsrecht III,

183

Vgl. bereits Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze; ferner Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band I, S. 62 - 73. Zur Frage paralleler gewohnheitsrechtlicher Verfestigung der allgemeinen Rechtsgrundsätze Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 216 ff. 184

Dazu Schwarze, a.a.O., S. 64 ff., sowie unten 5. Kap. II. 1., 2. b).

185

Vgl. Meessen, JIR 17 (1975), S. 283 (294), sowie Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnrn. 397 ff.; ausweislich der exklusiven systematischen Einordnung ferner Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 15; Oppermann, Europarecht, Rdnrn. 482 und 488. 186 Siehe Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 412; vgl. auch Streinz, Europarecht, Rdnr. 354; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 607; vgl. ferner Koenig/Haratsch, Europarecht, Rdnr. 262 a.E. Differenzierend zum Rang allgemeiner Rechtsgrundsätze auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band I, S. 66 ff. (68 ff.); siehe ferner von Arnauld, EuR 2003, S. 191 (208). 187

Vgl. Bleckmann, a.a.O. Zur Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze „neben dem Primär- und dem Sekundärrecht" auch Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 220 EGV Rdnr. 14 (eigene Hervorhebung).

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

85

ebenso verdeutlicht 188 wie durch Art. 6 Abs. 2 EUV für die primärrechtliche Verankerung der Grundrechte. 189 Ungeachtet der Problematik, ob der Europäischen Union eigene Rechtspersönlichkeit zukommt und diese daher in ihrer Gesamtheit Zurechnungssubjekt von Organhandeln sein kann, unterliegt auch der Europäische Rat (vgl. Art. 4 EUV) der Grundrechtsbindung. 190 Die im Rahmen der zweiten und dritten Säule intergouvernemental gemeinsam agierenden Mitgliedstaaten sind gleichfalls dem Grundrechtsschutz verpflichtet, der inhaltlich und strukturell dem gemeinschaftlichen Gewährleistungsumfang entspricht. 191 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, zumindest in Gestalt der Grundrechte, sind daher zugleich primäres Unionsrecht. 192 Weitere allgemeine Rechtsgrundsätze bilden etwa derjenige der Verhältnismäßigkeit, der Rechtsstaatlichkeit, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Rechtssicherheit, z.T. in spezifischen Einzelausprägungen, 193 sowie der Demokratie. 194

188

Dazu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 482. Vgl. demgegenüber allerdings den vormaligen Art. 34 EGKSV. 189 Der Vorschrift wird im Hinblick auf den Geltungsgrund z.T. lediglich deklaratorische Funktion zuerkannt, vgl. Hummer, in: ders., Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam, S. 71 (83). Pauly [EuR 1998, 242 (249 ff.)] mißt der Bestimmung sowohl konstitutionelle als auch konstitutive Bedeutung dergestalt zu, daß mit ihr der bisher entwickelte Grundrechtsbestand gesichert und eine an den besonderen Legitimationsbedingungen der Union orientierte konzeptionelle Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes gefordert werde. Zur Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV für die Grundrechte „durch normative Verankerung ihrer Erkenntnisquellen" bzw. in Form der Umsetzung „der zuvor erfolgten ... prätorischen Konkretisierung" Kingreen, in: Cal//WRuffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnm. 16 ff. (17), der zugleich auf die Konstitutionalisierungs-, Integrations- und Legitimationsflinktion der Vorschrift hinweist (a.a.O., Rdnr. 18); von der „durch Art. 6 Abs. 2 positivierte(n) Grundlage der GemeinschaftsGrundrechtsdogmatik" spricht Stumpf, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 19. Zur „Doppelabstützung der Grundrechte sowohl auf Art. 6 Abs. 2 EU als auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze" Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (589). Näher zu Art. 6 Abs. 2 EUV als autonomer Verweisung, die „eine Rezeption völkerrechtlicher Maßstäbe [ermöglicht], ohne exteme Bindungen zu begründen", Uerpmann, in: von Bogdandy, a.a.O., S. 339 (365 f.). 190

Hummer, a.a.O., S. 71 (83 f.); vgl. auch Kühling, a.a.O., S. 588. Vgl. zur Jurisdiktionsgewalt des EuGH allerdings Art. 46 lit. d EUV; vgl. auch Stumpf, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 16. 191 Hummer, a.a.O.; siehe auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 55. 192

Siehe auch Pechstein/Koenig,

193

Die Europäische Union, Rdnr. 205.

Siehe etwa Oppermann, Europarecht, Rdnm. 485 ff.; Schwarze, in: ders., EUV/ EGV, Art. 220 EGV Rdnr. 16; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV Rdnm. 32 ff. 194

Dazu 6. Kap. I.

1. Teil: Grundlagen

86

Soweit die Gemeinschaftsrechtsordnung die interne Geltung des allgemeinen Völkerrechts 195 , d.h. die zwischen allen Völkerrechtssubjekten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie das universell verbindliche Völkergewohnheitsrecht als „integrierende Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsordnung" überhaupt zuläßt 196 , handelt es sich bei diesen Rechtssätzen nicht um primäres Gemeinschaftsrecht. Eine Transformation des allgemeinen Völkerrechts in Gemeinschaftsrecht findet in Ermangelung dahingehender Vorschriften der Gemeinschaftsverträge nicht statt. 197 Rein theoretisch bleibt demgemäß die Frage, ob sich eine „Revision" der in das Gemeinschaftsrecht transformierten Rechtsregeln (allein) nach Völkerrecht oder den für die Vorschriften der Gemeinschaftsverträge geltenden Vorschriften richtete. 198 Auch ein aus dem Recht der Mitgliedstaaten abgeleiteter allgemeiner Rechtsgrundsatz des Inhalts, allgemeines Völkerrecht werde (automatisch) transformiert, ist nicht auszumachen. Grund ist der unterschiedliche - und teilweise auch ungeklärte 199 - Status, den die nationalen Verfassungen den allgemeinen Regeln des Völkerrechts einräumen. 200 Mangels eines zusätzlichen, eigenständigen Geltungsgrundes scheidet das allgemeine Völkerrecht daher insoweit als (besonderer) Gegenstand der Revision aus, als es nicht (zugleich) zum primären Gemeinschaftsrecht zählt. Vor dem Hintergrund dieser im Grunde monistischen Konzeption bleibt der Rang des allgemeinen Völkerrechts als „integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsordnung" ohne weitergehende Bedeutung.201

195

Zum Begriff „allgemeines Völkerrecht" Graf Vitzthum, 1. Abschn. Rdnr. 13.

in ders., Völkerrecht,

196

Dazu Rainer Arnold, in: FS Küchenhoff, S. 165 ff; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 627. 197 198

Rainer Arnold, a.a.O.

Diesbezüglich zur sog. „gemäßigten Transformationstheorie" Schweitzer, recht III, Rdnrn. 432 ff.

Staats-

199

Vgl. nur die Diskussion zum (innerstaatlichen) Geltungsgrund des allgemeinen Völkerrechts zwischen Vollzugs- bzw. Anwendungsbefehl sowie Transformations- bzw. Absorptions- oder Inkorporationslehre; siehe dazu mit rechtsvergleichenden Hinweisen etwa Dahm/Delbriick/Wolfrum, Völkerrecht, Band 1/1, S. 104 ff.; vgl. auch Pernice , in: Dreier (Hrsg.), GG, Band 2, Art. 25 Rdnm. 11 ff. 200

Rainer Arnold, in: FS Küchenhoff, S. 165 (181 f.); Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 657. 201

Für einen Vorrang des Primärrechts unter entsprechender Heranziehung des Art. 300 Abs. 6 EGV Hoffmeister, EWS 1998, S. 365 (367 f.); Epiney, EuZW 1999, S. 5 (7 f.); eine „(weitgehende) Gleichordnung mit dem Primärrecht" befürwortet Rainer Arnold [in: FS Küchenhoff, S. 165 (183)]; für Gleichrangigkeit auch Oppermann, Europarecht, Rdnr. 488.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

87

2. Gewohnheitsrecht Auch die zur gemeinsamen Rechtsüberzeugung (opinio iuris) führende anhaltende Übung (usus) 202 kann primäres Recht erzeugen. 203 Neben der Abgrenzung zu lediglich politischen Absprachen 204 muß dabei zwar grundsätzlich zwischen der Praxis der Organe und derjenigen der Mitgliedstaaten differenziert werden, allerdings wird eine strikte Trennung oft nicht möglich sein. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Träger bzw. Beteiligten an der zur Rechtsüberzeugung führenden Bewußtseinsbildung. Vielfach wird davon ausgegangen, daß das (ausschließlich) organschaftliche Handeln grundsätzlich nicht den Rang des Primärrechts einzunehmen vermag, da es seinerseits auf den Verträgen basiere und daher (abgesehen von vertraglich normierten atypischen Vertragsrevisionen durch den Rat) nicht zu einer Änderung des Primärrechts führen könne 205 . Gleichwohl ist auch den Verträgen inhaltlich nicht widersprechendes, diese im Detail jedoch ergänzendes und die abgeleitete Rechtsetzung mitbestimmendes Organisationsrecht vorstellbar, das etwa durch die Organpraxis geprägt und von den Organen sowie zugleich - und notwendigerweise von den Mitgliedstaaten konsentiert wird. Jedenfalls in bezug auf ergänzendes Organisationsgewohnheitsrecht dürfte dabei eine Zustimmung seitens der nationalen Regierungen genügen; deren gleichzeitiges Auftreten im Rat ist unschädlich, sofern dabei der einheitliche Wille des jeweiligen Exekutivorgans zum Ausdruck gebracht wird. Bei entsprechendem „Verfassungscharakter" des Gewohnheitsrechts läßt sich daher durchaus eine Zuordnung zum Primärrecht vornehmen, 206 denn die Rangfrage des Gewohnheitsrechts bestimmt sich grundsätzlich in Abhängigkeit zu der durch die jeweilige Praxis geformten Materie. 207 Allein die Feststellung des grundlegenden Charakters der Organisationsvorschriften mag mit Schwierigkeiten verbunden bleiben. Daß primäres 202

Zum Streit hinsichtlich der konstitutiven Bedeutung der Übung im Rahmen des Völkergewohnheitsrechts siehe Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, l.Abschn. Rdnr. 132 m.w.N.; vgl. ferner Kimminich/Hobe, Einfuhrung in das Völkerrecht, S. 180 f. 203 Siehe v.a. Bleckmann, EuR 1981, S. 101 ff.; Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, 1996. 204 Vgl. etwa Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnm. 392 f. zu - allerdings nicht primärrechtlichen - Interorganabsprachen; zum „soft law" femer Oppermann, Europarecht, Rdnr. 481. Zur vom Gewohnheitsrecht zu unterscheidenden Praxis als Auslegungsmittel Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 561, femer Haag, in: Beutler/Bieber/ Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 383. 205

Vgl. in dieser Hinsicht Hilf EuR 1984, S. 9 (23 f.); Pipkorn, a.a.O.; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rdnr. 77; vgl. auch Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 8. 206

Siehe Oppermann, Europarecht, Rdnr. 480.

207

Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 569.

88

1. Teil: Grundlagen

Gemeinschaftsgewohnheitsrecht allein durch die Mitgliedstaaten gebildet werden könne, läßt sich indes nicht allein darauf stützen, daß das Organhandeln seinen Geltungsgrund einzig aus den Verträgen erfährt. 208 Entscheidend ist vielmehr der Geltungsgrund für das Gewohnheitsrecht selbst. Wird dieser nicht aus dem gesetzten Gemeinschaftsrecht oder dessen leitenden Grundprinzipien abgeleitet, sondern ungeachtet der jeweiligen Grundidee in letzter Begründung infolge allgemeiner, überpositiv fundierter Grundsätze bzw. aufgrund konsensual rechtserzeugender Konzeptionen anerkannt, 209 kann auch das mitgliedstaatlich konsentierte Organhandeln zur Erzeugung von Gewohnheitsrecht führen, das - vergleichbar den autonomen Vertragsänderungen - den Rang des Primärrechts teilt. Den unter der Prämisse ihrer Rechtsverbindlichkeit 210 häufig dem Gewohnheitsrecht 211 zugeordneten sogenannten Interorganvereinbarungen wird demgegenüber nur der Rang sekundären Rechts 212 bzw. eine zwischen dem primären und dem sekundären Recht rangierende Position zuerkannt 213 . Davon abgesehen mißt die Literatur den Vereinbarungen vielfach lediglich politische Ver208 So aber Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 383; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rdnr. 77. 209 So Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 160 ff. (167). 210

Dafür Timmermann, EuR 1989, S. 13 (28 f.), hinsichtlich der interinstitutionellen Haushaltsvereinbarung zwischen Rat, Parlament und Kommission vom 30.6.1982 (ABl. 1982 Nr. C 194, S. 1 ff.); Bleckmann, in: ders, Europarecht, Rdnr. 475; Müller-Graff in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 199 EGV Rdnr. 7; vgl. ferner Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnrn. 392 f.; sowie Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnrn. 18, 939 ff Zur Problematik des Innenrechtscharakters und der Qualifikationsproblematik als „Verfassungskonventionalregeln", „gentlemen's agreement" oder „interinstitutionelles soft law" Läufer, Die Organe der EG, S. 267 ff (279 ff.). Vgl. zur Begründung der ΒindungsWirkung durch die Pflicht der Organe zur loyalen Zusammenarbeit bzw. durch stillschweigende Ermächtigungen in vertraglichen Verfahrensregeln zusammenfassend Calliess, in: ders./Ruffert, EU V/EU V, Art. 7 EGV Rdnr. 21. 211

Vgl. Bleckmann, a.a.O.; Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 114. Als besonders problematisch erweist sich dabei die Feststellung der opinio iuris in Form des Rechtsgeltungswillens, zu dessen Ermittlung objektive Kriterien wie Wortlaut und Entstehungsgeschichte nur bedingt beitragen können; insgesamt wird man unter besonderer Berücksichtigung des Konsensualmoments und der Dauer der Übung, deren Bestimmung etwa bei kürzerer Praxis (instant custom) ihrerseits mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist, zu differenzieren haben, vgl. dazu insgesamt Läufer, integration 1979, S. 19 (27). Schwarze [EuR, Beiheft 2/1995, S. 49 (53)], sieht den Geltungsgrund in einem „organübergreifenden Selbstorganisationsrecht". 212

Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 18. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 475; Pechstein/Koenig, Union, Rdnr. 422. 213

Die Europäische

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

89

bindlichkeit bei, 2 1 4 und auch die Organe selbst gehen diesbezüglich häufig von schlichten politischen Absprachen aus. 215 Um Primärrecht müßte es sich demgegenüber handeln, träfe die Auffassung zu, der zufolge im intergouvernementalen Bereich wie etwa bei der Finanzierung der GASP anläßlich der Beteiligung des Rates zugleich ein (formwidrig) vertragsänderndes völkervertragliches Verwaltungsabkommen seitens der im Unionsrat vertretenen Staaten geschlossen werden würde. 216 Ungeachtet der Formwidrigkeit einer derartigen Vertragsänderung bleibt ein solches Abkommen jedoch Fiktion, denn erstens läßt allein die Tatsache, daß im Rat eine vertragliche Umsetzung erfolgen könnte, nicht zwingend auf einen dahingehenden allseitigen Rechtsbindungswillen schließen, zweitens ist die Vereinbarung über Vorschriften zur Finanzierung der GASP gerade zwischen den Organen, nämlich Parlament, Rat und Kommission erzeugt worden. 217 Auch die durch den Luxemburger Kompromiß 218 bestimmte Praxis, bei Beschlüssen, die wichtige nationale Interessen berühren, erst bei allseitig erzieltem Einvernehmen und konsequenterweise nur einstimmig zu entscheiden, hat sich gewohnheitsrechtlich nicht verfestigt. 219 Bereits der ursprünglichen Vereinbarung wird überwiegender Auffassung zufolge kein Rechts-, sondern lediglich politischer Charakter beigemessen.220 Dem steht eine Qualifikation der 214 Läufer, Die Organe der EG, S. 267 ff. (285); 285 ff. (289 f.); Feger, JA 1985, S. 437 (439 f.), beide auch mit Blick auf die kontrovers diskutierte Gemeinsame Erklärung vom 4.3.1974 zum „Konzertierungsverfahren zwischen Europäischem Parlament und dem Rat unter aktiver Mitwirkung der Kommission zur Erweiterung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments" (ABl. 1975 Nr. C 89, S. 1 f.); femer Gauweiler, Die rechtliche Qualifikation interorganschaftlicher Absprachen im Europarecht, 1988, S. 52 ff. (133). 215 Vgl. die Stellungnahmen des Rates (ABl. 1979 Nr. C 259, S. 4 f.) und der Kommission (ABl. 1977 Nr. C 180, S. 18). 216 217

So Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnm. 394 f. Siehe ABl. 1997 Nr. C 286, S. 80.

218

Bull.EWG 1966, Nr. 3, S. 9 f. Auch eine gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK relevante verbindliche Auslegung der Verträge im Rahmen nachträglicher Praxis ist nicht entstanden, vgl. Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung, S. 52 ff, 93. Siehe auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 472; problematisch aber ist die Aussage, es handle sich (schon) „in Ermangelung einer formellen Vertragsänderung nicht um Primärrecht" (a.a.O.). Vgl. zum Problem der Relevanz „späterer Praxis" für die Auslegung im Europarecht unten 2. Kap. III. 2. 2,9

220 Streinz, a.a.O., S. 36 ff., insbes. unter Hinweis auf Art. 46 i.V.m. Art. 69 WVK, Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG; Schweitzer/ Hummer, Europarecht, Rdnr. 174; Jacqué, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 148 EGV Rdnr. 22; Breier, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 9; a.A. Dagtoglou, in: FS Forsthoff, S. 77 (99 m.w.N.).

90

1. Teil: Grundlagen

Luxemburger Beschlüsse als uneigentliche Ratsbeschlüsse, die in vielfältigster Form ergehen können, nicht entgegen;221 damit ist überwiegender Auffassung zufolge eine Zuordnung zum Völkerrecht verbunden. 222 Dessen ungeachtet ergibt sich aus Ziff. III und IV i.V.m. I I der Vereinbarung ein Dissens hinsichtlich der Möglichkeit, gegen das auf wichtige nationale Interessen gestützte Votum eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gemäß den vertraglich vorgesehenen Beschlußregeln auch mehrheitlich zu entscheiden. Dieser Dissens spricht zunächst gegen eine ursprüngliche opinio iuris 223 zugunsten eines gewohnheitsrechtlichen, durch ein „Vetorecht" geprägten Einstimmigkeitsprinzips, hindert deren spätere Herausbildung parallel zum konsequenten Bemühen um einstimmiges Handeln allerdings nicht. 224 Gleichwohl kann nicht allein von der Praxis der Mitgliedstaaten, welche in einem Fall trotz der Berufung eines Mitgliedsstaates auf wichtige nationale Interessen einstimmig entschieden haben, 225 auf eine Rechtsüberzeugung im Sinne eines Vetorechts geschlossen werden, und auch darüber hinaus konnte eine entsprechende Überzeugung nicht nachgewiesen werden, 226 zumal die Bereitschaft zu Mehrheitsentscheidungen einschließlich dahingehender weiterer Reformbestrebungen zunimmt. 227 Auch die Qualifikation als „materiell verfassungsrelevante" Verfassungskonvention führt nicht zur Einordnung als Primärrecht, ist die Konvention doch „selbst kein Recht", wenngleich „bedeutender Faktor der Rechtsentwicklung". 228 Dennoch hat auch der Luxemburger Kompromiß in besonderer Weise zu der Fragestellung Anlaß gegeben, inwiefern die Verträge außerhalb des dafür vorgesehenen Verfahrens völkerrechtlichen Änderungen unterliegen können. 229 221

Vgl. Streinz, a.a.O.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 173; siehe auch Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rdnr. 1115. Mangels eines Vertauenstatbestandes gehöre seine Handhabung auch nicht zum „acquis communautaire", so Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 18 Fußn. 25. 222

Dazu ausführlich unten 2. Kap. III. 3. Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 173; Wichard, in: Calliess/Ruffert, EUV/ EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 9; dieser Gedanke gilt zugleich für eine Auslegung gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK. 223

224

Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung, S. 77; vgl. auch Schweitzer, in: Grabitz/ Hilf, EUV/EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 18. 225 Dazu ausführlich Streinz, a.a.O., S. 68 ff. 226 Streinz, Rdnr. 9. 227

a.a.O., S. 73 ff.; ebenso Breier,

in: Lenz, EUV/EGV, Art. 205 EGV

Vgl. Götz, in: FS Everling, S. 339 (342 ff.). Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 472 f. 229 Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 7; vgl. in diesem Zusammenhang auch Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 105; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, S. 163 f.; Steinberger 228

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

91

Eine „bereichsbezogene" positiv-rechtliche Verfestigung in Form der Beschlußregeln für die verstärkte Zusammenarbeit (vgl. Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 EUV und Art. 11 Abs. 2 UAbs. 2 EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam) 220 hat sich mittlerweile - mit einer Ausnahme in diesem Bereich - wieder zugunsten des Mehrheitsprinzips zurückgebildet. 231 Gewohnheitsrechtlicher Verbindlichkeit entbehrt 232 ferner der Kompromiß von loannincr 233, auch wenn es sich um einen echten Kompromiß als Ausdruck allseitiger Einigkeit handelt. 234 Mit ihm wurde eine auf die Herbeiführung eines Mehrheitsbeschlusses von mindestens 65 [angepaßt: 68] Stimmen im Rat gerichtete Neuverhandlungspflicht für den Fall vereinbart, daß sich Mitglieder, die in Anlehnung an die Sperrminorität vor dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens gemeinsam über 23 - 26 [23 - 25] Stimmen verfugen (die Minorität beträgt nach 27 bzw. 26 und 37 nunmehr 90 Stimmen, vgl. Art. 205 Abs. 2 EGV), dem (knappen) Mehrheitsvotum widersetzen. Durch die in der Geschäftsordnung des Rates vorgesehene Berechtigung der Mehrheit der dem Rat angehörenden Mitglieder, eine Abstimmung zu verlangen (Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2), ist die Gefahr einer dauerhaften Blockade jedoch gebannt. Der Kompromiß von Ioannia wird überwiegend als rechtlich unverbindliches „gentlemen agreement" angesehen.235 Im übrigen läßt die Einigung über praktische Verfahrensabläufe noch nicht auf eine gemeinsame Rechtsüberzeugung schließen. (VVDStRL 50 [1991], S. 18 Fußn. 25) weist auf einen Verstoß gegen die Vertragsänderungsbestimmungen hin, sollte eine Rechtsverbindlichkeit beabsichtigt gewesen sein. 230 Dazu Böse, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 40 EUV Rdnr. 3, bzw. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 1. Aufl. (1999), Art. 11 EUV Rdnr. 9; Brechmann,, a.a.O., Art. 40 EUV Rdnr. 4. 231 Mit Art. 40 a Abs. 1 und 2 EUV sowie Art. 11 Abs. 1 und 2 EGV i.d.F. des Vertrages von Nizza wurde die Möglichkeit eines Vetos aufgehoben; vgl. dazu in vorliegendem Zusammenhang Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 11 EUV Rdnr. 4; Brechmann, a.a.O., Art. 40, 40 a, 40 b EUV Rdnr. 6. Siehe aber für den Bereich der GASP Art. 27 c S. 4 i.V.m. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza. Siehe zur Verstärkten Zusammenarbeit 2. Kap. II. 3. 232

Breier, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 10; ebenfalls unter Hinweis auf eine fehlende opinio iuris. 233

ABl. 1994 Nr. C 105, S. 1, angepaßt zum 1.1.1995, ABl. Nr. C 1, S. 1, mit Geltung bis zum Beitritt der MOE-Staaten (Erklärung Nr. 50 zum Amsterdamer Vertrag); zum Obsoletwerden Hummer/Obwexer in: Streinz, EUV/EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 15. 234

Dies allein jedoch beinhaltet noch keine gemeinsame Rechtsüberzeugung. Meng, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 48 EU Rdnr. 109; Breier, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 10; siehe auch Poensgen, in: FS Everling, S. 1133 (1137). Für „Geschäftsordnungsqualität" Geiger, Art. 205 Rdnr. 18, sowie Wichard, in: Calliess!Ruffert, EUV/EGV Art. 205 EGV Rdnr. 6; Koenig/Haratsch (Europarecht, Rdnr. 162) sprechen demgegenüber von einem sekundärrechtlichen Ratsbeschluß. 235

92

1. Teil: Grundlagen

Prominentestes und im vorliegenden Zusammenhang zugleich bedeutsamstes Beispiel primären Gewohnheitsrechts ist die (jedenfalls ursprüngliche) Möglichkeit der Entsendung von Staatssekretären in den Rat der Europäischen Union 2 3 6 , soweit diese im Widerspruch zu dem ihnen innerstaatlich verliehenen Rechtsstatus (vgl. Art. 62 GG) nicht Mitglieder der bzw. einer Regierung 237 auf Ministerebene sind. 238 Angesichts des Widerspruchs zu Art. 203 EGV (vgl. Art. 146 EGV i.d.F. des Vertrages von Maastricht sowie zuvor Art. 2 FusV) handelt es sich dabei um - europäisches - Gewohnheitsrecht contra legem; ursprüngliche Gemeinschaftsbezogenheit wird überwiegend abgelehnt.239 Im Umfang ihrer generellen Anerkennung als europäisches Gewohnheitsrecht bilden dergestalt durch Übung und Rechtsüberzeugung entstandene Normen in jedem Falle einen tauglichen Revisionsgegenstand. An anderer Stelle bleibt zu klären, ob angesichts der Bestimmungen über das Vertragsänderungsverfahren Gewohnheitsrecht aus formellen Gründen überhaupt vertragsändernde oder auch nur -ergänzende Wirkung entfalten kann. 240

236

Siehe etwa Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 338; Breier, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 204 EGV Rdnr. 4; Geiger, EUV/EGV, Art. 203 EGV Rdnr. 2. Hix, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 203 EGV Rdnr. 7; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rdnr. 250. Weitgehend unumstritten ist dies jedoch nur für die Zeit vor dem Vertrag von Maastricht, da mit der Neufassung des Art. 146 EGV a.F. nicht mehr nur von Regierungsmitgliedern, sondern von Vertretern des Mitgliedstaates auf Ministerebene die Rede ist; insofern könnte man darin „auch die gewollte Abschaffung dieser Praxis sehen" (Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 203 EGV Rdnr. 5). Zweifelnd auch Pechstein/Cirkel, DÖV 1997, S. 365 (366 Fußn. 4), und im Hinblick auf eine Evaluierung der Praxis nach Maastricht noch abwartend Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 213. 237

Vgl. auch Art. 23 Abs. 6 GG. A.A. Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkom/Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 383, nach dessen Auffassung eine authentische Auslegung (gemeint ist offenbar Art. 146 EWGV in der Ursprungsfassung) in Form einer Konkretisierung durch Geschäftsordnungsgebung im Jahre 1958 vorliegt. Diese Ansicht begegnet jedoch im Hinblick auf die Art. 2 FusV, 146 EGV a.F. sowie Art. 203 EGV n.F. als leges posteriores Bedenken. 239 Bzw. auf ein darüber hinausgehendes Bewußtsein rechtlicher Verbindlichkeit verwiesen; siehe Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 215; Streinz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 203 EGV Rdnr. 5. Zurückhaltender Hix, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 203 EGV Rdnr. 7, betreffend die „Praxis, die sich mit dem Wortlaut des Art. 203 (und des ehemaligen Art. 2 Abs. 1 FusV) nur schwer vereinbaren läßt". 238

240

Siehe dazu unten 3. Kap. I. 2.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

93

3. Ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht infolge „ impliziter " Änderungen durch das Unionsrecht? Vereinzelt wird davon ausgegangen, „implizite" Änderungen des Gemeinschaftsrechts in Form verfahrensrechtskonformer, aber nicht textuell dokumentierter Änderungen 241 bzw. in Form außervertraglicher Änderungen 242 führten zu „ungeschriebenen Bestandteilen des primären Gemeinschaftsrechts". 243 In diese Richtung zielt auch der Ansatz, den Unionsvertrag als Erkenntnisquelle für (allerdings sekundärrechtliche) „allgemeine Rechtsgrundsätze" zu betrachten, soweit sich dessen Normen auch an die Gemeinschaft richten. 244 In der Sache geht es dabei um die durch das Unionsrecht bzw. durch die zugrunde liegenden, auch völkerrechtlichen Änderungsverträge von EUV und EGV bedingten rechtlichen Auswirkungen auf das Gemeinschaftsrecht. Genannt werden dabei insbesondere das Kohärenzgebot (Art. 1 Abs. 3 S. 2 und Art. 3 EUV) sowie die Zielbestimmungen des Art. 2 EUV. Auch implizite Änderungen seien als Änderungsbestimmungen i.S.d. Art. 47 EUV zu verstehen, so daß diese Norm nicht entgegen stehe.245 Hier ist zunächst nicht näher darauf einzugehen, ob und auf welche Weise textuell nicht dokumentierte oder außervertragliche Änderungen zulässig sind und mit Art. 47 EUV in Einklang gebracht werden können. 246 Selbst wenn sich aber aus dem Unionsrecht auch für die Gemeinschaften rechtliche Bindungswirkungen ergeben sollten, jedenfalls eine rechtlich dokumentierte inhaltliche, institutionelle und verfahrensrechtliche Verknüpfung existiert, entsteht dadurch entgegen der vorgenannten Auffassung kein primäres Gemeinschaftsrecht. 247 Das folgt zum einen daraus, daß die in 241

Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnm. 115, 134, 514. Bunk , Die Verpflichtung zur kohärenten Politikgestaltung im Vertrag über die Europäische Union, S. 55, 86 f. Vgl. zur Kritik 3. Kap. II. 4. a). Inwiefern Bunk aber (wie Pechstein/Koenig [Die Europäische Union, Rdnm. 134 Fußn. 106, Rdnr. 514 Fußn. 10] meinen) tatsächlich von einem ungeschriebenen Gemeinschaftsrechtlichen Gehalt ausgeht, bleibt verborgen, wenn etwa von dem „im Wege impliziter Vertragsänderung ins primärrechtliche Gemeinschaftsrecht übemommene(n) Kohärenzgebot" (S. 88) die Rede ist bzw. - davon zu trennen - eine ausnahmsweise vorzunehmende Einbeziehung der „völkerrechtlichen, also unionsrechtlichen Kohärenzpflicht" (S. 89) in den Anwendungsbereich des Art. 10 EGV diskutiert wird. 242

243

Pechstein/Koenig,

Die Europäische Union, Rdnr. 115.

244

So in bezug auf das Kohärenzgebot Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, S. 104 f. Vgl. zur Kritik 4. Kap. IV. 2. b) bb) (3) (cc) (ß). 245 246 247

Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnrn. 112 ff. Siehe dazu 3. Kap. II. 4. a).

Zutreffend Pache, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. M EUV Rdnm. 16, 23: Die Bedeutung der von Art. 47 EUV nicht als Ausnahmebestimmungen erfaßten Bestim-

94

1. Teil: Grundlagen

Rede stehenden Bindungen der Gemeinschaften, soweit solche existieren, rechtstechnisch dem geschriebenen Unionsrecht entspringen. Die insofern relevanten Bindungen sind gerade Ausdruck der „Verbundfunktion" des Unionsrechts im Sinne der „Gemeinsamen Bestimmungen", damit unionsrechtliche Materie, geschriebenes primäres Unionsrecht. Angesichts dieser Verbundfunktion „ändert" sich zwar die Beziehung, Geltung und Einbindung des Gemeinschaftsrechts und dadurch erhält das geschriebene Gemeinschaftsrecht eine neue, unionsrechtlich mitbestimmte Prägung sowie eine gegenüber dem Gemeinschaftsrecht eigenständige Verpflichtung. Die betreffenden Regelungen teilen aber nicht die typischen Merkmale des Gemeinschaftsrechts in Form des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit. 248 Gerade insofern führt Art. 47 EUV nicht zu einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung. 249 Art. Ν EUV - nunmehr Art. 48 EUV - hat zwar Art. 236 EWGV ersetzt und gilt auch für das Gemeinschaftsrecht. Die Revision des Primärrechts richtet sich allerdings insgesamt nach der unionsrechtlichen Verfahrensnorm, und nicht etwa - dogmatisch zweigeteilt - nach Art. 48 EUV in „unmittelbare" Funktion zur Regelung der Revision des Unionsrechts, ergänzt um eine ungeschriebene Revisionsregel des Gemeinschaftsrechts. Außervertragliche Änderungen werden infolge ihrer Unionsrechtswidrigkeit nicht Bestandteil des Primärrechts, können daher nicht automatisch zum „ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht" avancieren. Das gilt auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Inkorporation völkerrechtlicher Verträge, an denen die Gemeinschaften als Vertragspartner gar nicht beteiligt sind und die kein Primärrecht darstellen. Einer Einbeziehung des Unionsvertrags als Quelle allgemeiner Rechtsgrundsätze steht entgegen, daß dann alle im Prinzip auch für das Gemeinschaftsrecht geltenden Regeln, d.h. sämtliche Gemeinsamen und Schlußbestimmungen zu - an sich justitiablen - allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft würden. Im übrigen stellten diesem Ansatz zufolge die dergestalt ermittelten allgemeinen Rechtsgrundsätze - da die zugrundeliegenden unions- bzw. völkerrechtlichen Normen nicht vergemeinschaftet würden - vor allem wegen Art. 47 EUV letztlich kein Primärrecht dar, sondern blieben im Rang unter diesem. 250

mungen des EUV bestehe „darin, daß sie eigenständige vertragliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaften begründen. Diese vertraglichen Verpflichtungen bestehen außerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung und zusätzlich zu dieser." (Rdnr. 23). 248

Vgl. Pache, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. M EUV Rdnrn. 15, 23; zur unmittelbaren Wirkung des Kohärenzgebots Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, S. 87. 249 Vgl. Müller-Grajf, EuR, Beiheft 2/1995, S. 67 (77). 250 Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, S. 91 f., 108.

1. Kap.: Das Primärrecht als Gegenstand der Revision

95

IV. Zusammenfassung 1. Das Primärrecht in der Europäischen Union kann grundsätzlich nur durch Normen derselben Rangordnung geändert werden. Es erlangt als Revisionsgegenstand ebenso wie als derogierende Rechtsetzung Bedeutung. Primäres Unionsvertragsrecht besteht vorbehaltlich der Änderungsbestimmungen zum EGV aus dem gesamten EUV einschließlich der Gemeinsamen- und der Schlußbestimmungen; das geschriebene primäre Gemeinschaftsrecht setzt sich aus EGV und EAGV (sowie vormals dem EGKSV). Änderungen werden ihrerseits Bestandteil der Verträge, selbst dann, wenn sie - wie der Direktwahlakt - halbautonom oder im autonomen Verfahren formal durch Organe erzeugt werden. Bestandteil sind ferner die den Verträgen ursprünglich oder auch im Zusammenhang mit einer Vertragsänderung beigefügten Protokolle. Dies galt auch für das Protokoll über die Sozialpolitik und angesichts formeller, konsensualer und materieller Verknüpfungspunkte ebenso für das Abkommen über die Sozialpolitik, welches ein breites Spektrum an Problemen im Zusammenhang mit formellen Anforderungen an die Vertragsrevision offenbart. Im Rahmen des konstitutionellen Assoziationsrechts waren sowohl das Durchführungsabkommen nach Art. 136 Abs. 1 E(W)GV als auch die diesem beigefügten Protokolle Bestandteil vertraglichen Primärrechts; Durchführungsbeschlüsse auf der Grundlage des Art. 187 EGV (Art. 136 Abs. 2 EGV a.F.) zählen jedoch nicht dazu, auch wenn ihnen z.T. primärrechtskonkretisierender oder gar -derogierender Einfluß zugeschrieben wird. Primärrechtlicher Natur sind ferner sowohl die eigentlichen Beitrittsverträge als auch die Beitrittsakten einschließlich ihrer Anhänge und Protokolle. Soweit sekundärrechtliche Bestimmungen durch Vorschriften der Beitrittsakte geändert oder aufgehoben werden, sind diese entgegen der Rspr. der EuGH nicht dem Primärrecht zuzuordnen. Kein Gemeinschafits-, sondern Völkerrecht sind die von den Mitgliedstaaten nach Art. 293 EGV sowie die von der Gemeinschaft als „integrale Bestandteile" ihrer Rechtsordnung geschlossenen Verträge auf der Grundlage der Art. 300 und 310 EGV. 2. Soweit diese vertraglich verankert oder ihrem Inhalt nach entsprechend einzustufen sind, bilden in erster Linie die allgemeinen Rechtsgrundsätze die Quelle ungeschriebenen Primärrechts. Im Rahmen der Europäischen Union, insbesondere im Gemeinschaftsrecht, ist überdies die Entstehung von Gewohnheitsrecht grundsätzlich denkbar, die allerdings im Zusammenhang mit den formellen Anforderungen an eine Vertragsänderung bzw. -ergänzung zu würdigen ist. Eine relevante anhaltende Übung kann auch der Organpraxis entspringen, muß allerdings von den Mitgliedstaaten konsentiert werden, wobei die Zustimmung der Exekutivvertreter ausreichend ist. Interorganvereinbarungen bedürfen hinsichtlich ihres Rechtsstatus jeweils gesonderter Evaluierung. Sie sind zumeist rechtlich unverbindlich und überdies mangels (auch) mitglied-

96

1. Teil: Grundlagen

staatlicher Konservierung jedenfalls unterhalb des Primärrechts anzusiedeln. Gewohnheitsrechtlicher Verbindlichkeit entbehren der Luxemburger Kompromiß sowie der Kompromiß von Ioannia. Textuell nicht dokumentierte, aber (i.ü.) unter Einhaltung der Revisionsverfahren zustande gekommene mögliche „implizite Änderungen" des Gemeinschaftsrechts durch Unionsrecht werden ebensowenig zu ungeschriebenem Gemeinschaftsrecht wie informelle, außervertragliche Änderungen.

2. Kapitel Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse Vor dem Hintergrund des im allgemeinen Völkerrecht geltenden Grundsatzes der Formfreiheit von (Vertrags-)Revisionen und angesichts der demgegenüber in EUV und EGV normierten, zwischen verschiedenen Arten einer Änderung oder Ergänzung des Primärrechts differenzierenden Verfahrensanforderungen bietet sich zunächst eine übergreifende Perspektive an, um den Begriff der Revision zu erhellen und deren mögliche Erscheinungsformen zu konturieren. Auf diese Weise können rechtlich und methodisch prinzipiell denkbare Arten der Revision später unter die europarechtlich verankerten Voraussetzungen subsumiert, kann der Anwendungsbereich der in diesem Zusammenhang maßgebenden Vorschriften im Hinblick auf verschiedene Revisionstatbestände konkretisiert und können letztere voneinander abgegrenzt werden. Hiernach tatbestandlich möglicherweise nicht erfaßte sowie formwidrige Änderungsvorhaben bilden im weiteren Verlauf der Untersuchung Anlaß, der Exklusivität der Änderungsverfahren bzw. der europa- und/oder völkerrechtlichen Anerkennung entsprechender „Änderungen" nachzugehen. Weder diese übergeordnete Betrachtungsweise noch die Einordnung formeller Anforderungen als Grenzen der Revision präjudizieren in irgendeiner Weise einen Ansatz, der das Unionsbzw. Gemeinschaftsrecht „schlicht" als besonderes Völkerrecht erfassen würde.

I. Begriff der Revision supra- und internationalen Rechts „Die Bezeichnung ,Revision4 ist schillernd". 1 In Übereinstimmung mit dem herkömmlichen Sprachgebrauch und dem Wortursprung 2 sowie in Anlehnung 1 Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 18. Das gilt auch für die hier nicht näher zu untersuchende Begrifftichkeit in bezug auf die Änderung nationaler Verfassungen; vgl. diesbezüglich etwa nur die Art. 167 und 168 der spanischen Verfassung, die - verfahrensrechtlich - zwischen der einfachen Verfassungsänderung (Art. 167) und der partiellen Revision spezifischer Verfassungsgehalte bzw. der Totalrevisionen (Art. 168) unterscheiden, siehe Torres del Moral, Principios de Derecho Constitucional Espaflol, S. 191 ff; de Vega, in: Lopez Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, S. 91 (99 ff.); von Kuhlberg, Änderung und Revision der spanischen Verfassung vom 29. Dezember 1978, S. 57 ff. m.w.N. Vgl. ferner bereits Haug, Die Schranken der Verfassungsrevision, S. 149 ff., 155 ff. 2

Lat. revisio = Umkehren, Umkehr, Umwenden.

98

1. Teil: Grundlagen

an Art. 109 UN-Charta 3 wird darunter im Völkerrecht zumeist das Ergebnis einer Überprüfung des gesamten Vertrages mit dem Ziel bzw. der Erwartung umfassender, nicht nur punktueller Änderungen verstanden. Diese Erwartung muß sich nicht im Ergebnis der Neugestaltung des Vertrages niederschlagen; gleichwohl spricht man im Völkerrecht von Revision zumeist nur bei einer tatsächlich umfassenden Änderung des gesamten Vertrages. 4 Die Revision diente ferner verbreitet als Bezeichnung fur die Wiederherstellung des vertraglichen Gleichgewichts speziell für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. 5 Vor dem Hintergrund dieser Begriffsvielfalt scheint die Bezeichnung „Änderung" bzw. „Modifikation" 6 vordergründig zunächst eher geeignet, als Obergriff für die gänzliche bzw. teilweise Abänderung des Primärrechts zu fungie3 Zu Art. 109 Abs. 2 UN Charta als Regelung „einer grundlegenden Revision" Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, S. 309 ff., zugleich zur Änderung der Charta nach Art. 108 und Art. 109 insgesamt (m.w.N.); siehe ferner Frowein, in: FS Seidl-Hohenveldem, S. 201 (206 ff.); Karl/MützeIburg/Witschei, in: Simma, The Charter of the United Nations, Art. 108 Rdnr. 3, Art. 109 Rdnr. 1. Art. 109 UN Charta betrifft die Einberufung bzw. die Voraussetzungen für eine „General Conference of the members of the United Nations for the purpose of reviewing" bzw. „aux fins d'une révision de la présente Charte" (zu den authentischen Textfassungen Art. I l l der Charta). Chapter XIII, das Art. 108 und Art. 109 der Charta umfaßt, ist allgemein mit „amendments" überschrieben, vgl. auch Frowein, a.a.O., S. 206. Art. 109 Abs. 2 der Charta wiederum spricht nur von „alteration", diefranzösische Fassung von „modification". Zu Art. 108 f. der Charta in vorliegendem Zusammenhang eingehend Dehaussy, in: Cot/Pellet, La Charte des Nations Unis, Art. 108 f. (S. 1417 ff.); femer Bentwich/Martin, A Commentary of the Charter of the United Nations, S. 187 - 189, und Conforti , The Law an Practice of the United Nations, S. 16 - 18. 4

Vgl. Nguyen Quoc/Daillier/Peilet, Droit International Public, S. 290 f. (No. 186); Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 125; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 13 Rdnr. 1; Delbrück in: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band 1/3, S. 662. Auf Art. 109 der UN-Charta allein läßt sich dies kaum stützten; dort in Abs. 2 - ist ebenfalls nur von „any alteration" die Rede, wenngleich diese von der Revisionskonferenz („for the purpose of reviewing") vorgeschlagen wird. 5 Dixit , IndJIL 10 (1970), S. 38; Grewe, in: Bernhardt, EPIL, Vol. IV, S. 980 (981); Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 18. 6 Nach traditioneller (französischer) Terminologie fungierte „modification" als Oberbegriff für „révision" und „amendement", vgl. Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, Droit International Public, S. 291 (No. 186). Im Zuge der WVK (vgl. Art. 41) stellt die (inter se-) Modifikation eine anhand der Zahl der betroffenen Vertragsbeziehungen zu charakterisiemde Art der Vertragsänderung dar; demgegenüber wird die eigentliche Vertragsänderung terminologisch auf die Abwandlung des Vertrages durch alle Parteien beschränkt und so der Modifikation gegenübergestellt, vgl. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 106 f.; Nguyen Quoc/Daillier/ Ρeilet, a.a.O., Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 13 Rdnr. 2 f. Vgl. zur inter ^-Modifikation Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, S. 190 f.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

99

ren. Andererseits bietet der Begriff Revision spezifische Vorteile. Er ist grundsätzlich auf die Vertrags- bzw. Rechtsbeziehungen aller Parteien gerichtet und daher von der Modifikation, soweit sie als eine Unterart der Vertragsänderung betrachtet wird, die nur zwischen einzelnen Parteien (inter se) stattfindet, leichter abzugrenzen.7 Rechtstechnisch gesehen stellt die Revision, selbst wenn mit ihr allein umfassende Umgestaltungen verbunden werden, in gleicher Weise eine Änderung des Vertrages dar wie geringfügige Vertragsänderungen, 8 so daß ILC und Wiener Konferenz bewußt gegen eine entsprechende Differenzierung votiert haben.9 Weder begrifflich noch historisch ist der Terminus Revision auf die inhaltliche Reichweite der angestrebten Änderungen festgelegt, sondern offen. 10 Soweit von Revisionen oder Revisionskonferenzen gesprochen wird, ist in den entsprechenden Bestimmungen nur die Erwartung, nicht aber das Ergebnis umfassender Änderungen vorausgesetzt (vgl. Art. 109 Abs. 1 und 2 UN-Charta). Angesichts dessen wird verbreitet zwischen Teil- und Totalrevision unterschieden. 11 Überdies werden besondere Bestimmungen über die Änderung primärrechtlicher Verträge Internationaler Organisationen zumeist als „Revisionsklauseln" bezeichnet, und zwar selbst dann, wenn nur geringfügige Änderung anvisiert werden. 12 Deren Bedeutung wird auch dann verstärkt diskutiert, wenn die Zulässigkeit von Vertragsänderungen durch automatische, nicht nur gewillkürte Derogation in Frage steht. Bereits dieser Befund legt nahe, einheitlich von einem - allerdings weit gefaßten - Begriff der Revision auszugehen. Auch im europarechtlichen Kontext ist die Terminologie uneinheitlich. Art. 48 EUV deutscher Fassung spricht grundsätzlich nur von Änderungen, während die Bezeichnung „Revision" gem. Art. Ν Abs. 2 EUV a.F. 13 aus7

Vgl. Fußn. 6.

8

Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, Droit International Public, S. 291 (No. 186). Umgekehrt kann auch die Änderung „so wichtige Einzelvorschriften umgestalten, daß die Änderung den Gesamtcharakter bzw. die Grundrichtung des Vertrages verändert", siehe Delbrück, in: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band 1/3, S. 662, der die Unterscheidung aus praktischen Gründen beibehält, obwohl sie „aus rechtsdogmatischer Sicht" nicht zu überzeugen vermöge (a.a.O.). 9 Vgl. ILC-Yearbook 1966 II, S. 231 (232), zudem habe der Begriff eine politische Nuance erhalten; siehe auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 799. 10 Siehe Leca, Les techniques de révision des conventions internationales, S. 33 ff. 11 Kopp, Die Revision der Verträge zur Gründung des EGKS, der EWG und der EAG nach den Vertragsvorschriften, S. 12 f. 12 Karl, in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 81 (93); Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 14 Rdnr. 7. 13 Die Vorschrift lautete: „Im Jahr 1996 wird eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten einberufen, um die Bestimmungen dieses Vertrags, für die

100

1. Teil: Grundlagen

drücklich allein im Zusammenhang mit der in Turin eröffneten Regierungskonferenz verwendet wurde; 14 Art. J.10 EUV i.d.F. des Vertrages von Maastricht betraf die „Revision der Sicherheitspolitischen Bestimmungen nach Art. J.4". Auf der anderen Seite sind auch die von Art. 49 UAbs. 2 EUV erfaßten beitrittsbedingten „Anpassungen" 15 der Verträge ungeachtet des Verhältnisses zu Art. 48 EUV ihrer Natur nach „Änderungen" 16 , so daß sich zur Wahrung der Eigenständigkeit des Begriffs der „Änderung" der Terminus Revision als Oberbegriff eignet. 17 Wenngleich zuvorderst durch formelle Anforderungen gekennzeichnet, werden und wurden die Änderungsvorschriften zu EUV und EGV zumeist als „Revisionsklauseln" bezeichnet.18 Die Verwendung des Oberbegriffs „Revision" 19 für Vertragsänderungen unterschiedlichen Umfangs, unter-

eine Revision vorgesehen ist, in Übereinstimmung mit den Zielen der Artikel A und Β zu prüfen." Die französische Fassung enthielt demgegenüber einheitlich den Terminus „révision"; siehe aber auch Fußn. 24. 14 Vgl. Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. Ν EUV Rdnr. 19. 15 Vgl. bereits zur sog. „kleinen Revision" des EGKSV Art. 95 des Vertrages, dessen Abs. 3 bei einer unter näher beschriebenen Voraussetzungen erforderlichen Anpassung einzelner Vorschriften Abänderungen erlaubt; die - organisationsinterne - verfahrensrechtliche Behandlung „dieser Änderungen" regelte Art. 95 Abs. 4 EGKSV. 16 Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnrn. 94 f.; Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 49 EUV Rdnr. 41. Art. 49 EUV erfaßt mindestens die hinsichtlich der Organzusammensetzung und des Geltungsbereichs des Unionsrechts notwendigen bzw. zwingenden Änderungen. 17

Ebenso Waltemathe, Austritt aus der EU, S. 45: „Wie Art. 48 EUV ist auch Art. 49 EUV eine Revisionsvorschrift"; auch Busse (Die völkerrechtliche Einordnung der Europäischen Union, S. 280) spricht von der „Vertragsrevision nach Art. Ν und Ο EUV" (Art. 48 und 49 EUV). 18

Vgl. Karl, in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 81 (93 ff.); auch im Hinblick auf die französische Terminologie wird Art. 48 EUV als „clause de révision unique" betrachtet, siehe Petit, in: Constantinesco/Kovar/Simon, Traité sur l'Union Européenne, Art. Ν Anm. 1; die „Vertragsrevision nach Art. 236 EWGV" benennt G A Carl Otto Lenz, in: Schlußantrag zu EuGH, Urt. v. 28.4.1988, Rs. 31 und 35/86 (LAISA), Slg. 1988, 2285, 2305 (2307 Ziff. 16); Schwarze (in: ders., EUV/EGV, Art. 1 EGV Rdnr. 9) spricht im Hinblick auf Art. 48 EUV von der „großen Vertragsrevision" [ebenso wie bereits im Hinblick auf Art. Ν EUV Huber, in: FS Carl Heymanns Verlag 1995, S. 349 (352)] und stellt dieser den Begriff einer „kleinen Vertragsrevision" im Hinblick auf ein autonomes Verfahren gegenüber (Art. 222 Abs. 3 EGV; siehe nunmehr Art. 222 Abs. 1 S. 2 i.d.F. des Vertrages von Nizza). 19 Siehe zur „Revision dieser [sc.: der ursprünglichen] Verträge" Art. 7 der Beitrittsakte 2003, Dok. AA2003/ACT/de, S. 12. Vgl. auch Nickel, in: GS Sasse, S. 565 ff.; Kopp, Die Revision der Verträge zur Gründung der EGKS, der EWG und der EAG nach den Vertragsvorschriften, 1964; vgl. im Hinblick auf verfahrensrechtliche Differenzie-

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

101

schiedlicher Art sowie aus verschiedenen Anlässen bzw. in verschiedenen Verfahrensvarianten stützt sich ferner auf die vormalige Differenzierung zwischen „kleiner Revision" 20 bzw. „großer Revision" des EGKSV gem. Art. 95 Abs. 3 und 4 respektive Art. 96 EGKSV (urspr.F.). 21 Für diese Bezeichnung spricht ferner eine systematische Gesamtschau: Die jeweiligen Art. 7 der Beitrittsakte 1994 sowie der Beitrittsakte 2003 binden ebenso wie der jeweilige Art. 6 früherer Beitrittsakten die Änderung und Aufhebung der Bestimmungen der Akte an die „in den ursprünglichen Verträgen vorgesehenen Verfahren, die eine Revision dieser Verträge ermöglichen" 22 . Dieses Ergebnis läßt sich auch auf den gem. Art. 53 EUV gleichberechtigten - Wortlaut des französischen Vertragstextes in Art. 48 Abs. 1 UAbs. 1 EUV stützen: die Bestimmung verwendet den Terminus révision , obwohl im Zuge der WVK Änderungen grundsätzlich als amendement bzw. amendment und traditionell als modification bezeichnet, überdies mit amendment förmliche und mit modification formlose Änderungen verbunden werden. 23 Soweit in Art. 48 Abs. 1 UAbs. 3 EUV für Details zugleich von amendements die Rede ist, geht es erkennbar vornehmlich um tech-

rungen vor allem Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 18 ff.; zur Terminologie femer Charles Rousseau, Droit International Public, S. 232. 20 Zu diesem Terminus Carstens, ZaöRV 21 (1961), S. 1 ff.; siehe femer Kopp, Die Revision der Verträge zur Gründung der EGKS, der EWG und der EAG nach den Vertragsvorschriften, S. 120; Rainer Arnold, Das Rangverhältnis zwischen dem Recht der europäischen Gemeinschaften und dem innerdeutschen Recht, S. 130 ff.; Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 1; Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 1; Schwarze (in: ders., EUV/EGV, Art. 1 EGV Rdnr. 9) bezeichnet mit der „kleinen Vertragsrevision" allgemein den Fall einer autonomen Änderungsbestimmung (Art. 222 Abs. 3 EGV; siehe nunmehr Art. 222 Abs. 1 S. 2 i.d.F. des Vertrages von Nizza); auch Art. 95 Abs. 3 und 4 EGKSV beinhalteten insofern einen (spezifischen Fall einer) kleinen, autonomen Vertragsrevision. Zum (halbautonomen) Verfahren nach Art. 42 EUV als ,,kleine[r] Vertragsrevision" Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 69 EUV Rdnr. 9. Zu „Revisionsverfahren auf Grund von Artikel 95 Absätze 3 und 4 des EGKS-Vertrages" EuGH, Stellungnahme vom 4.3.1960, Slg. 1958/ 59, 95 ff. (109 ff.); Stellungnahme vom 17.12.1959, Slg. 1960, 553 (571 ff.). 21

Die Vorschrift, die Einvernehmen aller Mitgliedstaaten im Vertragswege für die „Änderungen dieses Vertrages" verlangte, wurde mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages durch Art. Ν EUV ersetzt. 22 Siehe ABl. 1994 Nr. C 241, S. 22, bzw. Dok. AA2003/ACT/de, S. 12 (eigene Hervorhebung); mit den „ursprünglichen Verträgen" sind EGKSV, EGV, EAGV und EUV gemeint, vgl. Art. 1, 1. Spiegelstr. der Akte, a.a.O.; vgl. auch bereits Dagtoglou, in: FS Forsthoff, S. 77 (88): „Sämtliche europäischen Verträge sehen Revisionsvorschriften vor" (Hervorhebung im Original). 23

Siehe ILC-Yearbook 1966 II, S. 231 (232); Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 19. Siehe zur (gem. Art. 85 WVK authentischen) französischen und englischen Sprachfassung der WVK BGBl. 1985, II 926 (941 f.).

102

1. Teil: Grundlagen

nische Differenzierungen, während die Vorschrift insgesamt die Revision als solche im Auge hat. 24 Vor diesem Hintergrund wird die Bezeichnung „Revision" hier in einem weiteren Sinne verstanden. Sie umfaßt sowohl Änderungen als auch Ergänzungen des Geltungsbereichs primärrechtlicher Regelungen ohne Rücksicht auf den Grund der Änderung bzw. Ergänzung sowie ungeachtet ihrer Art und ihres Umfangs. Diese Definitionsmerkmale bedürfen im Hinblick auf Wirkungsweise und Rechtsnatur der das Primärrecht abändernden (Rechts-)Akte ihrerseits noch näherer Bestimmung. Die damit verbundene Kategorisierung der Revisionsvarianten offenbart zugleich die Anknüpfungspunkte der je nach Art und Ausmaß der Revision durch Art. 48 und 49 EUV normierten formellen Voraussetzungen. Ob ein auf eine Revision gerichtetes, rechtlich erhebliches, jedoch formell europarechtswidriges Verhalten der Mitgliedstaaten im Ergebnis ebenfalls eine Änderung des Primärrechts herbeiführt, hängt dann davon ab, wie das Verhältnis zwischen den formellen Bestimmungen des EUV und allgemeinem Völkerrecht zu beurteilen ist. Verhindert Art. 48 EUV im Einzelfall die Erzeugung neuen Primärrechts, so kann bei exklusiver Geltung des Verfahrens im Rahmen der beabsichtigten oder automatischen Rechtserzeugung auch weder kollidierendes noch gar im engeren Sinne derogierendes, d.h. solches Völkerrecht entstehen, welches primäre Unions- oder Gemeinschaftsrechtsnormen aufhebt oder ändert. Wird die Entstehung wirksamen, konkurrierenden oder gar kollidierenden Völkerrechts demgegenüber nicht verhindert, bleibt zu beantworten, ob und inwiefern dieses im Hinblick auf die Unions- und Gemeinschaftsrechtsordnung auch als lex posterior anzusehen ist oder aber das Europarecht in seinem aktuellen Geltungsbereich unberührt läßt. Für die begriffliche Abgrenzung allerdings darf nicht bereits die formelle Legalität der Revision maßgeblich sein. Wenn die Vertragsrevision nach Art. 48 EUV gerade im Hinblick auf dessen Formanforderungen zumeist von der „nichtförmlichen Vertragsänderung nach allgemeinem Völkerrecht" abgegrenzt wird, ist diese Unterscheidung nicht an die sachliche Anknüpfung im Hinblick auf die zu ändernde Rechtslage bezogen, sondern bereits an unterschiedlichen formellen Anforderungen bzw. deren Einhaltung orientiert. Es besteht die Möglichkeit rechtswidriger Vertragsänderungen, unabhängig davon, ob darin zugleich eine wirksame Revision nach allgemeinem Völkerrecht liegt.

24

Siehe Petit, Art. Ν Anm. 1 ff.

in: Constantinesco/Kovar/Simon, Traité sur l'Union Européenne,

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

103

II. Abgrenzung Zahlreiche Formen sowohl mitgliedstaatlichen als auch organschaftlichen Handelns sowie der gesellschaftliche und der Bedeutungswandel tangieren das Verfassungsgefuge von Union und Gemeinschaften, ohne daß dies im Rechtssinne (zwingend) zu einer Revision des Primärrechts führt. Eine angesichts dessen notwendige Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsinstituten schärft auch im Rahmen einer übergeordneten Betrachtungsweise einerseits die Konturen des Begriffs der Revision, rückt andererseits Verbindungspunkte in das Blickfeld. Zugleich wird damit der Anwendungsbereich der in formeller Hinsicht für die Revision maßgeblichen Art. 48 und 49 EUV vorläufig bestimmt, bevor Einzelaspekte der Revision in Form der Unterscheidung zwischen Änderung, Ergänzung oder beitrittsbedingte Anpassung diesen Ansatz weiter verfolgen. In methodischer Hinsicht bleibt es zunächst bei dieser vorläufigen Abgrenzung; die im Zusammenhang mit den folgenden Ausführungen relevanten Aspekte der Anwendbarkeit des Völkerrechts in den (inner-)gemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen sind ungeachtet vereinzelter Hervorhebungen einer gesonderten Darstellung vorbehalten.

/. „ Clausula rebus sie stantibus " Besonderer Betrachtung bedarf zunächst das Verhältnis der Revision des Primärrechts 25 in Form der Vertragsänderung zur clausula rebus sie stantibus. 26 Ungeachtet der konkreten Voraussetzungen 27 sowie der im einzelnen umstrittenen Rechtsnatur und der dogmatischen Grundlage dieses Rechtsgrundsatzes28 sowie der Frage, ob sich ein Mitgliedstaat vor dem Hintergrund der Art. 48, 51 EUV, 312 EGV und 208 EAGV auf die clausula rebus sie stantibus berufen darf, 29 sind für die Beurteilung des Zusammenhangs mit der Vertragsrevision 25

Zum Verhältnis sekundären Gemeinschaftsrechts und der clausula rebus sie stantibus als bindender Regel des Völkergewohnheitsrechts und zugleich „Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft" siehe EuGH, Urt. v. 16.6.1998, Rs. C-162/96 (Rakke/Hauptzollamt Mainz), Slg. 1998,1-3655 (3704 Rdnr. 46). 26

Zu den Unterschieden bereits de Cavides, RdC 118 (1966 II), S. 109 (197 ff.), der jedoch auch auf Gemeinsamkeiten in bezug auf die Funktion beider Institute hinweist, „puisque toutes les deux servent le dynamisme juridique et le rajustement équitable de situations légales". 27

Vgl. Art. 62 WVK sowie Art. 62 WVKIO. Siehe dazu insbesondere Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rdnm. 98 ff. 29 Zustimmend noch Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 312 Rdnr. 3; a.A. Schwarze, EuR 1983, S. 17 f., Ehlermann, EuR 1984, S. 124; Zimmerling,, in: Lenz, 28

104

1. Teil: Grundlagen

die Rechtsfolgen maßgebend, welche an die Geltendmachung fundamental veränderter Umstände geknüpft werden. Art. 62 Abs. 1 und 2 WVK sehen jeweils die „Beendigung" des Vertrages bzw. den „Rücktritt" vom Vertrag vor; Abs. 3 spricht von der „Suspendierung" des Vertrages. Während die Beendigung zum Erlöschen der vertraglichen Pflichten gegenüber bzw. zwischen allen Parteien führt, 30 erfaßt der Rücktritt im Hinblick auf die Gründungsverträge einer Internationale Organisation zunächst nur das einseitige Ausscheiden eines Mitgliedstaates in Form des Austritts. 31 Bei einer Beendigung des gesamten Vertrages wird jedoch zumeist nicht von Revision bzw. Änderung gesprochen, 32 jedenfalls nicht im Sinne herkömmlicher Terminologie. Die ebenso schlichte wie fundamental ersatzlose Beseitigung der Geltung des Vertragswerkes ex nunc führt weder zu einer auf Fortentwicklung angelegten noch zu einer restriktiv orientierten (Ver-)Änderung bzw. Modifikation oder Ergänzung des Vertrages und entbehrt damit jenes dynamischen und auf vergleichende Betrachtung ausgerichteten Charakters, der für die Revision prägend ist. Das gilt vornehmlich dann, wenn die Beendigung des Vertrages nicht mit der gleichzeitigen Ersetzung der alten durch eine neue Vereinbarung einher geht. 33 Zudem ist die Situation der clausula rebus sie stantibus von der gewillkürten Beendigung zu unterscheiden, auch wenn die Beendigung infolge einer grundlegenden Änderung der Umstände ausweislich des in Art. 65 - 67 WVK normierten Verfahrens mit konsensualen Elementen verbunden wird und damit, soweit von der WVK erfaßt, nicht ipso iure eintritt. Lassen sich Vertragsänderung und Vertragsbeendigung in funktioneller Hinsicht auch unterscheiden, denn im ersten Fall wird der Vertrag als normative Grundlage erhalten, während diese im zweiten Falle untergeht, 34 so kann die EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 6; Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 2. Letztlich offengelassen und jedenfalls von einer Einschränkung der „clausula" ausgehend, Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, S. 182 f. 30 Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 53 f. Vgl. aber auch Art. 60 Abs. 2 lit. a i) WVK. 31 Zur inhomogenen Begrifflichkeit und dem Mangel einheitlicher Unterscheidungskriterien für die Erlöschensgründe Rücktritt, Kündigung und Beendigung Graf Vitzthum, in ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 127; vgl. auch Köhler, Die „clausula rebus sie stantibus" als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 247. 32

Siehe Gotting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 65 f. m.w.N. 33

Vgl. zum Verhältnis Beendigung und Revision Grewe, in: Bernhardt, EPIL, Vol. IV, S. 980 (982), der die logischen Sekunde hervorhebt, in der jeder gegenständlich noch so kleinen Revision eine Beendigung des ursprünglichen Vertrages vorausgeht. 34

Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 9 (11 f.).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

105

vorstehend angeführte Auffassung, der zufolge der tatbestandlich verankerte Begriff der Änderung eine Auflösung des Vertrages nicht erfaßt, gleichwohl keine alleinige Gültigkeit beanspruchen. Wer etwa eine Entscheidung „revidiert", kann diese nach allgemeinem Verständnis auch zurücknehmen bzw. wieder aufheben. Der Begriff der Änderung ist zwar enger gefaßt, doch eine extensive Wortlautinterpretation läßt auch hier die Deutung zu, eine Änderung der „Rechtslage" trete auch im Falle der Auflösung ein. 35 Im Falle der Auflösung eines Vertragswerkes allerdings ist eine Vergleichskomponente in qualitativer und quantitativer Hinsicht nicht mehr existent; das reduziert den Gegenstand vergleichender Betrachtung auf die (Rechts-),,Verhältnisse" 36 insgesamt. Für einen solchen „Sonderfall der Vertragsänderung" 37 wäre zu unterscheiden, ob Art. 48 EUV diesen Fall erfaßt, mithin eine formelle Grenze zieht, 38 bzw. welche anderweitigen Verfahrensanforderungen für den Fall bestünden, daß eine Auflösung europa- bzw. völkerrechtlich überhaupt zulässig ist. 39 Jedenfalls kann die Berufung auf eine grundlegende Änderung der Umstände (vgl. zur Notifizierungspflicht Art. 65 Abs. 1 WVK) den Vertragsparteien zumindest Anlaß bieten, sich nach einem fristgerechten Einspruch eines Vertragspartners (Art. 65 Abs. 3 WVK) auf eine Revision des Vertrages zu verständigen. Die Vertragspartner können insbesondere eine Anpassung des Vertrages vereinbaren. 40 Wie bereits angedeutet, sieht die W V K allerdings eine Anpassung ipso iure 41 ebenso wenig vor wie die Pflicht des notifizierenden Vertragspartners, sich auf konkrete Anpassungsverhandlungen einzulassen, 35 Heintzen, AöR 1994, S. 564 (578); Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 61; Gotting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 65; abl. Hilf, in: Schwarze/Bieber, Eine Verfassung für Europa, S. 253 (257); Pernice, EuR 1984, S. 126 (135). 36 Siehe Gotting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 65. 37

Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 61. In diesem Sinne Everling, in: FS Mosler, S. 173 (190); Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 11; dagegen Zuleeg, in: GS Sasse, S. 55 (59); Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 2. 38

39 Gotting Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 67 ff. (93 ff., 106)] votiert für eine analoge Anwendung des Art. 49 EUV. 40 Zu den praktischen Bedürfhissen und möglichen Rechtsfolgen unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten der ILC zusammenfassend Haraszti, RdC 146 (1975 III), S. 1 (75 ff.) m.w.N., unter Flexibilitätsgesichtspunkten vor allem mit Hinweis auf „partial termination" (S. 75), und „appropriate modification" bzw. „demand for revision" (S. 76). Siehe aber auch Akehurst [in Bernhardt, EPIL, Vol. VI, S. 987 (989)], der unter Verweis auf die Anwendbarkeit der clausula „only in extreme cases" hervorhebt, „its effect is not to alter a treaty but to terminate it". 41

Vgl. zu einer solchen Folge im Staatsvertragsrecht BVerfGE 34, 216 (232 f.).

106

1. Teil: Grundlagen

oder das Recht der übrigen Beteiligten, solche zu verlangen. Andererseits schließt die W V K die Anpassung des Vertrages nicht aus. Soweit darüber hinaus die Auffassung vertreten wird, die (Berufung auf die) grundlegende Veränderung der Umstände habe die Anpassung des Vertrages zur Folge, 42 erlangt die Frage einer zuständigen Entscheidungsinstanz besondere Bedeutung.43 Damit verbindet sich sowohl ein Erkenntnisproblem als auch die Frage, ob und durch wen die Anpassung ex bona fide rechtsgestaltend erfolgt oder lediglich als ein von den Parteien durch deren „implizit" vereinbartes Grundgefüge inhaltlich bereits vorgegebenes Ergebnis „vollzogen" wird. Schwieriger wird die Beurteilung dann, wenn eines der Mitglieder der Internationalen Organisation ungeachtet der rechtlichen Zulässigkeit aus der Organisation austritt, wodurch sich auch die Rechtsbeziehungen der übrigen Mitgliedstaaten wandeln. 44 Hier kann der Austritt seinerseits grundsätzlich dazu führen, daß sich die Umstände für die zunächst verbleibenden Vertragsparteien wesentlich ändern. Gerade in diesem Zusammenhang kommt eine (einvernehmliche) Anpassung der Vertragsbeziehungen durch die verbliebenen Mitglieder in Betracht. Wenn diesbezüglich eine Berufung auf die clausula rebus sie stantibus auch für den Fall abgelehnt wird, daß eine einvernehmliche Anpassung scheitert, 45 so markiert auch diese Auffassung nur einen besonderen Ausschnitt der grundlegend geführten Diskussion, ob der Integrationscharakter und das Konzept der unbegrenzter Dauer der Verträge für die Anwendung der clausula rebus sie stantibus überhaupt noch Raum lassen.46 Dies bedarf hier keiner Entscheidung. Wesentliche Aspekte der Diskussion erlangen im Zusammenhang mit den vertraglichen Vorgaben für die formellen aber auch in bezug auf materielle Grenzen der Revision Bedeutung. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, daß eine grundlegende Veränderung der Umstände ungeachtet der Möglichkeit der Berufung auf die clausula rebus sie stantibus im Rahmen der

42 Siehe - vor Inkrafttreten der WVK - Dahm, Völkerrecht, Band. 3, S. 152; vgl. auch Wengler, Völkerrecht Band 1, S. 375 f.; eine dahingehende (frühere) völkergewohnheitsrechtliche Staatenpraxis dürfte jedoch kaum auszumachen sein, vgl. Schwarzenberger, in: Bernhardt, EPIL, Vol. I, S. 611 (612 ff.); selbst in Ermangelung einer ausdrücklichen Erwähnung in Art. 62 WVK erachtet Böckstiegel [JuS 1973, S. 759, (763)], die Anpassung „de lege lata als primäre Rechtsfolge". Zur Vertragsrevision als Ersatz für die „ clausula " Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, S. 185 ff. 43

Zu diesem Problem Köbler, Die „clausula rebus sie stantibus" als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 252 f. 44 Siehe Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 240 EGV Rdnr. 13. 45

Hilf a.a.O.

46

Siehe Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 8.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

107

Verträge Anlaß zu deren Revision bieten kann, wenngleich eine automatische Anpassung - auch völkerrechtlich - ausscheidet.

2. Suspendierung Dem gleichen Verfahren wie dem in der W V K für die Beendigung des Vertrages und den Rücktritt vom Vertrag vorgesehenen unterliegt die Suspendierung, d.h. die zeitliche Aussetzung des Vertrages oder einzelner vertraglicher Rechte und Pflichten (vgl. etwa Art. 65 Abs. 1 WVK). Struktur, Zustandekommen und Wirkung diese Instituts bedürfen deswegen näherer Betrachtung, damit sich auch Rechtsnatur, Wirkungen und Grenzen eines Sanktionsbeschlusses des Rates nach Art. 7 Abs. 3 E U V 4 7 im Zusammenhang mit der Revision primären Rechts beurteilen lassen. Allerdings ist hervorzuheben, daß Art. 7 Abs. 3 EUV und die korrespondierenden Vorschriften der Gemeinschaften nur die Suspendierung (1) einzelner Rechte (2) desjenigen Staates zulassen, der die in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Grundsätze verletzt, die Pflichten aber ebenso unberührt läßt wie (3) die Geltung des (gesamten) Vertrages im übrigen; 48 es handelt sich daher um eine in dreifacher Hinsicht spezifische Suspension von Vertragsbeziehungen. Dennoch werden Art. 7 Abs. 3 EUV und die korrespondierenden Vorschriften der Gemeinschaftsverträge vereinzelt als autonome Änderungsvorschriften klassifiziert. 49

47 Siehe ferner Art. 309 EGV, Art. 204 EAGV sowie vormals Art. 96 EGKSV. Durch den Vertrag von Nizza wird Art. 7 EUV um einen neuen Abs. 1 in Form einer VerfÜgungsformel ergänzt, die präventiv Verstößen gegen die Menschenrechte vorbeugen soll. Die Einfügung des Präventivverfahrens orientiert sich offensichtlich maßgeblich an den Empfehlungen im Bericht der „Drei Weisen", vgl. den Bericht von Ahtisaari/Frowein/Orjeja, angenommen am 8.9.2000 in Paris, abgedruckt auch in EuGRZ 2000, S. 404 (415, Ziff. 117-119). Mit dem Vertrag von Nizza (vgl. Art. 46 lit. e EUV) werden nunmehr auch „die reinen Verfahrensbestimmungen des Artikels 7" justitiabel; näher Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, S. 99 ff. Zum Ende der EU-Sanktionen gegen Österreich, der präjudiziellen Wirkung des Berichts und der Empfehlungen der „Drei Weisen" sowie einzelner Vorschläge zur Novellierung des Verfahrens im Vorfeld des Vertrages von Nizza Hummer, ELF 2000, S. 77 (insbes. 81 ff); eingehend nunmehr Schorkopf a.a.O., S. 15 ff 48 Die in vielfacher Hinsicht möglichen Auswirkungen auf Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen sind dabei besonders zu berücksichtigen, vgl. Art. 7 Abs. 3 S. 2 EUV, Art. 309 Abs. 2 S. 2 EGV, Art. 204 Abs. 2 S. 2 EAGV sowie vormals Art. 96 Abs. 2 S. 2 EGKSV. 49 So Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 12 (zu Art. 7 Abs. 2 EUV bzw. den korrespondieren Vorschriften der Gemeinschaftsverträge i.d.F. des Vertrages von Amsterdam); dazu sogleich sowie unter 3. Kap. III. 2.

108

1. Teil: Grundlagen

Die Suspendierung ist in systematischer und gegenständlicher Hinsicht von der Revision im herkömmlichen Sinne zu unterscheiden. Durch die Aussetzung der von den Vertragsbeziehungen ausgehenden Wirkungen wird die Revision häufig erst ermöglicht; sie geht dieser oft voraus. 50 Zwar ist die Suspendierung auf die Aufrechterhaltung der Vertragsbeziehungen bzw. der entsprechenden Rechte und Pflichten gerichtet, sie kommt der Beendigung allerdings jedenfalls insofern nahe, als Verträge bzw. deren maßgebliche Regelungen (zeitweilig) außer Kraft gesetzt werden 51 und damit deren Geltung modifiziert wird. Anderseits bleibt die Gültigkeit des den Rechten und Pflichten zugrundeliegenden Vertrages in seiner Gesamtheit unberührt. 52 Die aufgrund der WVK als Rechtsfolge in Betracht kommende Suspendierung tritt nicht ipso facto ein. Sie ist zumeist als bestehender Anspruch ausgestaltet (Art. 65 Abs. 1 WVK) und erlaubt etwa im Falle des Art. 60 Abs. 1 WVK dem berechtigten Staat, souverän zu entscheiden, welche Rechtsfolgen eintreten sollen.53 Von einer Vertragsänderung läßt sich angesichts dessen nicht sprechen. Wichtig sind Art und Anlaß der Suspendierung. Wird eine Suspendierung zwischen sämtlichen Vertragsparteien einvernehmlich, etwa im Zuge bestimmter Schwierigkeiten, vereinbart, führt dies jedenfalls zu einer Vertragsrevision im Sinne einer Modifikation des Geltungsumfanges. Auch die Suspendierung eines mehrseitigen Vertrages aufgrund einer Übereinkunft zwischen einzelnen Vertragsparteien, eine sog. inter se-Suspendierung (vgl. Art. 58 WVK), stellt - der inter ^^-Modifikation strukturell vergleichbar 54 - zwar keine Aufhebung, Abänderung oder Ergänzung einer Vertragsnorm als solcher dar; gleichwohl werden dadurch die Wirkungen des Vertrages bzw. diejenigen einzelner Normen zeitweise beseitigt. Insofern ließe sich prinzipiell auch von einer Revision inter se sprechen. Dabei wird nicht verkannt, daß der Begriff der Revision im herkömmlichen Sinne eine Änderung bzw. Erweiterung im Bestand der Norm zur Folge hat.

50

Siehe Köhler, Die „clausula rebus sie stantibus" als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 265 f. 51

Vgl. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 57 f; Gomaa, Suspension or Termination of Treaties on Grounds of Breach, S. 135. 52

Die englische Fassung der Art. 58 und 72 WVK spricht von einem „agreement to suspend" bzw. der „suspension" „of the operation of the treaty"; vgl. auch Jennigs/ Watts , in: Oppenheim's International Law I, § 645: „suspension of the operation of the treaty ... does not terminate its binding force: it remains a valid treaty, but without executory obligations"; Gomaa, a.a.O. 53

Siehe Graf Vitzthum, in ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 129.

54

Vgl. Karl , Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 85.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

109

Mit der Suspendierung wird insbesondere die sanktionsrechtliche Reaktion der anderen Parteien auf Vertragsverstöße einer Partei oder mehrerer Parteien verbunden. Eine vertragliche Vereinbarung über das zeitweilige Außerkraftsetzen der Gültigkeit des Vertrages regelt Art. 60 Abs. 2 (i.V.m. Abs. 3) W V K . 5 5 Abs. 2 lit. a) 56 spricht von der einvernehmlichen Suspendierung im Hinblick auf die rechtlichen Beziehungen (partiell oder in toto) entweder zum Vertragsbrüchigen Staat oder erga omnes, wohingegen lit. b) und c) den nicht Vertragsbrüchigen Staaten zunächst nur das Recht verleihen, die Vertragsverletzung als Grund für eine Suspendierung geltend zu machen (vgl. Art. 65 ff. WVK), sofern eine besondere Betroffenheit gegeben ist bzw. eine grundlegende Änderung der Lage hinsichtlich der Erfüllung der Vertragspflichten vorliegt. Besonders deutlich unterscheidet die englische Fassung zwischen der Berechtigung „by unanimous agreement to suspend the operation of the treaty" und dem Recht „to invoke the breach as a ground for suspendig the operation". Die gewillkürte Änderung des zeitlichen Geltungsumfanges des (primären) Vertragsrechts ist damit vom Revisionsbegriff umfaßt. 57 Europarechtlich wäre die eine solche „Änderung" bewirkende Rechtsquelle prinzipiell derselben Rangstufe zuzuordnen wie das in Bezug genommene Recht. Überdies müßte, wäre der in Art. 7 Abs. 3 EUV vorgesehene Sanktionsbeschluß primärrechtlicher Natur, die Abänderung dieses Beschlusses (vgl. Art. 7 Abs. 4 EUV) ihrerseits als Revision im weiteren Sinne begriffen werden, ungeachtet der dafür geltenden besonderen formellen und materiellen Voraussetzungen. Der auf Unionsebene per abschließender Regelung58 eingeführte Sanktionsmechanismus setzt die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden 55 56

Vgl. auch Art. 57 WVK. Dazu Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 280 ff.

57 Vgl. zur „Verfassungssuspension" als Erscheinungsform der Vertragsänderung (im Zusammenhang mit der WRV) bereits Loewenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung, S. 157 ff. Eine Verfassungssuspension fiele gleichwohl nicht unter Art. 79 GG, siehe Maurer, Staatsrecht I, § 22 Rdnr. 7. 58 Vgl. Bergmann, in: ders./Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1. Kap. Rdnr. 21; Streinz, Europarecht, Rdnr. 93; Vedder/Simma, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 281 EUV Rdnr. 37; für Spezialität femer Stumpf, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 17; für einen Rückgriff auf Regeln des allgemeinen Völkerrechts zugunsten eines Ausschlusses aus der EU im Falle erfolgloser Wiederherstellung der Vertragstreue nach Art. 7 EUV Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 464; Pernthaler/Hilpold, integration 2000, S. 105 (109); Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, S. 185 ff. Mindestens jenseits einer möglichen ultima ratio durch Ausschluß und unter dem Vorbehalt materieller Grenzen besteht der abschließende Charakter sowohl intern als auch im Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht, jedenfalls soweit, wie Gemeinschafts- und nach hier vertretener Auffassung auch das Unionsrecht reichen; zur Ausschließlichkeit

110

1. Teil: Grundlagen

Verletzung von in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätzen seitens eines Mitgliedstaates durch den Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs - nicht den Europäischen Rat 59 - voraus, Art. 7 Abs. 2 EUV. Liegt diese vor, kann der Rat (der EU) 6 0 gem. Abs. 3 die Aussetzung unter Berücksichtigung der S. 2 und 3 bestimmte (Stimm-)Rechte aussetzen. Das gilt vor allem für die dem betroffenen Mitgliedstaat im Rahmen der GASP sowie der PJZS eingeräumten Rechte. Ohnehin als ultima ratio ausgestaltet, ist grundsätzlich durchaus denkbar, daß dieses Instrument ggf. auch die Mitwirkung im

des Art. 7 EUV Schorkopf, Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, S. 68 ff. Vgl. zur Problematik der Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen grundlegend Schwarze, EuR 1983, S. 1 (4 f., dort auch speziell zu Retorsion und Repressalie als Problemfall); Rainer Arnold, in: GS Küchenhoff, S. 165 (167 ff), und restriktiv im Hinblick auf das völkerrechtliche Interventionsverbot als Maßstab Hillgruber, JRP 2000, S. 288 ff. Speziell zur Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Sanktionen auf bilateraler Ebene Pernthaler/Hilpold, a.a.O., sowie Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, S. 185 ff.; ferner Schmahl, EuR 2000, S. 819 (832 ff). Zur Möglichkeit eines Ausschlusses ohne Rückgriff auf das allgemeine Völkerrecht Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 2; für eine Ausschlußmöglichkeit nach allgemeinem Völkerrecht als ultima ratio trotz Art. 7 EUV noch Schmahl, a.a.O., S. 829 f., und Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 359 Fußn. 39. Mit der Einführung des Art. 7 Abs. 1 i.d.F. des Vertrages von Nizza ist die Möglichkeit völkerrechtlichen Handelns - mindestens aus Sicht des Unionsrechts - erst recht weiter eingeschränkt worden; vgl. ferner Art. 46 lit. e EUV. 59 So allerdings Bergmann, in: ders./Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1. Kap. Rdnr. 24; ferner Bitterlich,, in Lenz, EUV/EGV, Art. 309 EGV Rdnrn. 3 und 5. Im Gegensatz zum Europäischen Rat (Art. 4 EUV) wirkt der Kommissionspräsident an der Beschlußfassung nicht mit. Vgl. insoweit auch den Unterschied in der Besetzung des Rates zwischen Art. 202 f. EGV und Art. 121 Abs. 2 bis 4 EGV. Siehe auch Wichard, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 4 EUV Rdnr. 1; Geiger, EUV/EGV, Art. 4 EUV Rdnr. 4; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rdnr. 908. 60

Wortlaut, Umkehrschluß zu Abs. 1, Zweistufigkeit des Beschlußmechanismus und die Eigenständigkeit der Zusammensetzung des Rates in Form der Staats- und Regierungschefs sprechen eindeutig für einen Sanktionsbeschluß durch den Rat der EU; siehe auch Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, S. 161 f. (Ziff. 265): es liege allerdings im Ermessen des Rates und sei vom Wortlaut gedeckt, „wenn der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs auf ein- und derselben Sitzung sowohl den Feststellungs- als auch den Sanktionsbeschluß fasse; ferner Schmahl, EuR 2000, S. 819 (824). Vgl. ferner Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 24; Geiger, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 7; Stumpf in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 12. Jedenfalls unrichtig („Europäischer Rat") Bergmann, a.a.O. Der Unionsvertrag unterscheidet grundsätzlich zwischen dem Rat (der EU) und dem Europäischen Rat, vgl. etwa Art. 4, 5, 13 EUV sowie nunmehr auch Art. 40 a Abs. 2 UAbs. 2 EUV, Art. 11 Abs. 2 UAbs. 2 EGV in der Fassung des Vertrages von Nizza.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

111

Rahmen der Vertragsänderung erfaßt; der Gerichtshof könnte in diesem Falle incidenter die Aussetzung der Stimmrechte mit überprüfen. 61 Eine sekundärrechtliche Klassifizierung der Suspendierung primärrechtlich eingeräumter Rechte stößt zunächst auf ähnliche Bedenken wie im Bereich des autonomen Vertragsänderungsverfahrens 62. Zwar handelt der Rat als Organ, jedoch wird - wenn nicht der Bestand, so doch - der zeitliche Geltungsumfang des Primärrechts geändert. Hinzu kommt das gestaltende Ermessen des Rates bei der Auswahl der zu suspendierenden Rechte. Andererseits läßt sich der temporären Aussetzung als solcher kein im Hinblick auf die Gemeinschafisverfassung grundlegender, eigenständiger Regelungsgehalt beimessen. Anders als bei der autonomen Vertragsänderung wird eine Suspendierung nicht „Bestandteil" der Gemeinschaftsverfassung. Hinzu tritt der Befund, daß die Ausgestaltung der Suspendierung nicht durch die Verträge bereits detailliert vorgezeichnet ist, sondern auch materiell organschaftlich begründet wird. Die Einhaltung der dem Rat für Sanktionsbeschlüsse innerhalb des EGV durch die Rechte natürlicher und juristischer Personen gezogenen Ermessensgrenzen 63 (vgl. Art. 309 Abs. 2 S. 2) erfordert zudem eine - durch den Vertrag von Nizza (Art. 46 lit. e) hinsichtlich der „reinen Verfahrensbestimmungen" nunmehr unmittelbar mögliche - gerichtliche Kontrolle gem. Art. 230 EGV; 6 4 dabei 61

Siehe Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 546. Dazu 1. Kap. II. 1. Zur entsprechenden Einordnung der Art. 7 Abs. 3 EUV, Art. 309 Abs. 1 und 2 (auch Abs. 3 wäre dazu zu zählen) EGV sowie Art. 204 EAGV und vormals Art. 96 EGKSV Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 12. 62

63

Der Umfang einer Ermessensbindung ist bisher kaum geklärt; Bitterlich (in: Lenz, EUV/EGV, Art. 309 EGV Rdnr. 6) sieht darin ein Gebot der Wahrung der Verhältnismäßigkeit, nicht aber ein Verbot, überhaupt in subjektive Rechte einzugreifen. 64 Hinsichtlich der Rechtslage vor dem Vertrag von Nizza wie selbstverständlich von einer solchen Kontrollmöglichkeit ausgehend Hummer, in: ders., Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam, S. 72 (94); Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 309 EGV Rdnr. 7. Obwohl die Klagebefugnis im Gemeinschaftsverfahren als ultima ratio ihrerseits suspendiert sein kann (Hummer, a.a.O.; Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 493; Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, S. 179 (Ziff. 304)], dürfte im Hinblick auf die Überprüfung des Sanktionsbeschlusses als unmittelbarem Klagegegenstand dann von einer teleologischen Reduktion der Ermächtigung oder von einer Fiktion der Klagebefugnis auszugehen sein; in diesem Sinne auch Roland Winkler [JRP 2000, S. 308 (311)], der den Bestand des Sanktionsbeschlusses insofern als „Vorfrage" qualifiziert; Bitterlich (in: Lenz, EUV/EGV, Art. 309 EGV Rdnr. 6) sieht ohne nähere Differenzierung in einer „Sistierung des Klagerechts" einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Ebenso und unter Verweis auf eine analoge Anwendbarkeit des Art. 230 EGV Stumpf, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 16. Von der direkten Überprüfung des Sanktionsbeschlusses zu unterscheiden ist die mittelbare Kontrolle im Wege der Überprüfung derjenigen Beschlüsse, die im Zuge der Suspendie-

112

1. Teil: Grundlagen

handelt es sich nicht lediglich um ein rechtspolitisches Postulat, sondern eine wesentliche Ausprägung des Rechtsstaats- und auch des Demokratieprinzips. Vor diesem Hintergrund sind die Beschlüsse des Rates zur Suspendierung mitgliedstaatlicher Rechte bereits nicht als Primärrecht zu qualifizieren. Insofern unterscheiden sich autonome Vertragsänderung und „autonome" Suspendierung von Vertragsrechten. Auch wenn der sekundärrechtlichen Suspendierung des Primärrechts ein gewisser Systembruch innewohnt, ist die Rangordnung nicht Selbstzweck, sondern unterscheidet die dauerhaft etablierten verfassungsrechtlichen Vorgaben von dem darauf basierenden abgeleiteten Recht. Zudem ist die Inkongruenz der Rangstufe von Suspendierungsbeschluß und suspendiertem Recht von nur geringer Tragweite: zum einen mangels Änderungskompetenz hinsichtlich des Normbestandes und zweitens wegen der vorausgehenden Einschaltung des Rates in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, dem „mitgliedstaatsnächsten"65 „Organ" 66 zur Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EUV. Schließlich stellt spätestens das Erfordernis der Ratifikation einer Vertragsänderung durch alle Staaten, einschließlich des suspendierten Mitglieds, seinerseits eine Grenze für den Entzug des Stimmrechts über Vertragsänderungen dar. 67

3. Verstärkte

Zusammenarbeit

Das durch den Amsterdamer Vertrag als Mittel differenzierter Integration eingeführte Instrument der verstärkten Zusammenarbeit (vormals Art. 40, 43 rung nach den „modifizierten" Beschlußregeln zustande kommen (vgl. Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 EUV Rdnr. 27). Diese scheidet für den Mitgliedstaat jedoch aus, wenn dessen Klagebefugnis suspendiert worden ist. 65 Vgl. zu dieser Bezeichnung im Hinblick auf autonome Änderungen durch den Rat der EU Oppermann, Europarecht, Rdnr. 506. 66 Bereits die Organqualität des Europäischen Rates wird kontrovers diskutiert; eine Entscheidung hängt wesentlich davon ab, ob man der EU eigene Rechtspersönlichkeit beimißt, vgl. zusammenfassend Wichard, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 4 EUV Rdnr. 9; näher 4. Kap. IV. 2. a) aa) (3). Jedenfalls hier könnte auch der Auffassung, es handle sich um ein „Vertragsorgan der Mitgliedstaaten" [Hilf in: Hommelhoff/Kirchhof, Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 75 (77)] in bezug auf die Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs nicht entgegengehalten werden kann, sie könne die (insofern nicht gegebene) Teilnahme des Kommissionspräsidenten nicht erklären. 67 Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 467. Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, S. 166 ff. (169 Ziff. 279), erwähnt nur das Recht, Vorschläge für die Änderung der Verträge nach Art. 48 Abs. 1 EUV zu machen.

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

113

45 EUV; Art. 11 EGV) 6 8 unterscheidet sich grundlegend von einer Revision des primärrechtlichen acquis? 9 Im Rahmen der - intern differenzierenden 70 verstärkten Zusammenarbeit 71, die nach dem Vertrag von Nizza nunmehr bereits von mindestens acht Mitgliedstaaten begründet werden kann, 72 wird von den daran beteiligten Mitgliedstaaten unter Rückgriff auf die institutionellen Bestimmungen der Verträge lediglich partikulares 73 bzw. partielles 74 sekundäres 75 , abgeleitetes Recht geschaffen, dessen räumlicher Geltungsbereich entsprechend eingeschränkt ist. 76 Im Rahmen der zweiten bzw. dritten Säulen entsteht partikulares Unionssekundärrecht. 77 Rechtsakte und Beschlüsse zur Durchführung der verstärkten Zusammenarbeit sind nicht Bestandteile des 68

Die Vorschriften sind durch den Vertrag von Nizza in Form der neuen Art. 27 a 27 e, Art. 40, 40 a, 40 b, 43, 43 a, 43 b, 44 und 45 EUV sowie Art. 11 und 11 a EGV maßgeblich geändert worden. Vgl. bereits die von der Kommission in ihrer Stellungnahme der Kommission gem. Art. 48 EUV am 26.1.2000 zur Einberufung einer Regierungskonferenz (Dok. Kom. [2000] 34, S. 36 ff.) geäußerten Reformbestrebungen betreffend die Streichung von Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 EUV, Art. 11 Abs. 2 UAbs. 2 EGV, die Absenkung der Mitgliederzahl auf ein Drittel und die Möglichkeit einer begrenzten verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des GASP. 69

Zu den Bestandteilen des acquis communautaire 1. Kap. II. 5. Fußn. 177. Zur Unterscheidung zwischen externer und interner Differenzierung Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29, 34 ff; ders., EU-Erweiterung und differenzierte Integration, S. 47 ff. 70

71

Dazu insgesamt Grieser, Flexible Integration in der Europäischen Union: Flexible Integration oder Gefährdung der Rechtseinheit?, 2003. 72 Siehe Art. 43 lit. g EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza gegenüber Art. 43 Abs. 1 lit. d EUV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam (Mehrheit der Mitgliedstaaten). 73 Siehe bereits Becker, EuR Beiheft 1/1998, S. 29 (53); ferner Bender, ZaöRV 61 (2001), S. 729 ff. (738); und Blanke, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 44 EUV Rdnr. 6. 74 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 532. Wegen Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ist der Begriff des partikularen Rechts allerdings eindeutig vorzugswürdig, vgl. auch Fußn. 78. 75 Siehe Fußn. 74 und 75; angesichts der Charakterisierung als abgeleitetes Recht läßt sich entgegen Christoph Möllers (in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 1 (40 f.)] in Zweifel ziehen, ob mit Blick auf eine konstitutionelle Lesart die Verurkundlich ung der Europäischen Verträge „durch spezifische Formen differenzierter intergouvernementaler Integration, etwa durch die »Verstärkte Zusammenarbeit«" „ihre weitestgehende Relativierung erfährt". Die partikulare Sekundärrechtsetzung führt freilich zur Intransparenz, siehe Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 (53). 76 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 43 EUV Rdnr. 22; ebenso Beutler, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 150. Zur Zugehörigkeit des Sekundärrechts zum acquis communautaire 1. Kap. II. 5. Fußn. 177. 77

Blanke (in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 44 EUV Rdnr. 6) spricht von „sekundärem" Recht nur mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht, bezüglich der zweiten und dritten Säule von völkerrechtlichen Vereinbarungen.

114

1. Teil: Grundlagen

acquis communautaire , vgl. Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. 7 8 Ebenso wenig wie das von allen gesetzte Sekundärrecht geändert oder dessen Anwendungsbefehl modifiziert werden kann, 79 wird durch die verstärkte Zusammenarbeit auch der Primärrechtsbestand berührt. Ein neuer, primärrechtlicher inter se-Vertrag wird insofern gerade nicht geschlossen.80 Allerdings ergibt sich im Hinblick auf ein externe, völkerrechtliche Kooperation 81 ebenso wie für völkerrechtlich informelle Vertragsänderungen die Problematik, ob und inwieweit die mittels der Vorschriften über die verstärkte Zusammenarbeit primärrechtlich verankerte flexible Integration überhaupt noch differenzierende (völkerrechtliche) Handlungsformen zuläßt, mithin eine Grenze für völkerrechtlich-parallele, das Primärrecht sachlich berührende (aber diesem nicht widersprechende) Ergänzungen etabliert. 82 Auch hier spielen die hinter dem Bild von den „Herren der Ver-

78

Hier von einem „Teil-Acquis" zu sprechen (so Blanke, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 44 EUV Rdnm. 6 f.), verschleiert diese klare Abgrenzung. Es handelt sich bei den Rechtsakten und Beschlüssen vielmehr um die Bestandteile eines „acquis" allein des partikularen Rechts. 79 Siehe Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 (53), mit dem Hinweis auf die Unanwendbarkeit sowohl der lex posterior- als auch der lex specialis- Regel; femer Blanke, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 44 EUV Rdnr. 7. 80

Vgl. demgegenüber Art. 41 WVK. Zu diesem Ansatz Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 (34 ff.); ders., Erweiterung und differenzierte Integration, S. 47 ff. 81

EU-

82 Daß „integrationswilligen" Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit offensteht, mittels völkerrechtlichen Vertrages inter se Regelungen zu treffen (Oppermann, Europarecht, Rdnr. 534) bedarf einer differenzierenden Betrachtung. So ist den Regelungen über die verstärkte Zusammenarbeit keine Exklusivität dahingehend zu entnehmen, externe Kooperationen seien generell unzulässig (dazu Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 [34 ff.], ders., in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 43 EU Rdnm. 27 ff.; eingehend Kellerbauer, Von Maastricht bis Nizza, S. 253 ff., und Grieser, Flexible Integration in der Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, S. 170 ff.; siehe ferner Hatje, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 11 EGV Rdnr. 28, von Buttlar, ZEuS 2001, S. 649 [659 ff.], Blanke, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, vor Art. 43 - 45 EUV Rdnm. 15 f., jeweils m.w.N.). Dafür dürften auch Art. 17 Abs. 4 EUV sowie die positiven Vorwirkungen externer Kooperation für eine spätere „Vergemeinschaftung" oder „Intergouvernementalisierung" der betreffenden Politiken sprechen. Fraglich hingegen ist die grundsätzliche Bedeutung der Vorschriften über die verstärkte Zusammenarbeit sowie des Unions- und Gemeinschaftsrechts für die (mindestens unions- und gemeinschaftsrechtlich definierten) Grenzen einer solchen externen Kooperation. Hier wird folgendes zu gelten haben: Allgemein kommt den spezifischen Voraussetzungen, die an die Organisationsstruktur von Union und Gemeinschaften zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit anknüpfen, in bezug auf eine exteme Kooperation keine Grenzfunktion zu. Anderes gilt in Ansehung der materiellen Grenzen der kooperativen Differenzierung und der damit verbundenen grundlegenden Vertragsund Strukturprinzipien des Unions- und Gemeinschaftsrechts sowie der Einheit des

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

115

träge" stehenden Erwägungen zum Geltungsgrund des Unionsrechts eine Rolle. 83 Von der verstärkten Zusammenarbeit grundsätzlich zu unterscheiden ist eine abgestufte Integration in Form primärrechtlicher Differenzierungen in den (Protokollen von) Änderungs- und Beitrittsverträgen; beitrittsbezogene Differenzierungen unterliegen zahlreichen Besonderheiten und sind „auf der Schnittstelle zwischen externer und interner Differenzierung angesiedelt".84 Seit dem Vertrag von Nizza findet die verstärkte Zusammenarbeit unabhängig von der Säulenstruktur der Union ihre Grenze auch und vor allem in den Kompetenzen der Mitgliedstaaten sowie den Gemeinschaftskompetenzen (vgl. vor allem Art. 43 Abs. 1 lit. d, h EUV). 8 5 Angesichts dessen bildet auch die Vertragsänderung i.S.d. Art. 48 EUV eine Grenze der verstärkten Zusammenarbeit. 86 Ebenfalls aufgrund des Vertrages von Nizza besteht nun auch im Rahmen des GASP die Möglichkeit zur „verstärkten" Zusammenarbeit. 87 Im Rahmen der ersten Säulen wachsen den beteiligten Staaten auch keine parallelen Außenkompetenzen zu; anderenfalls könnte es zu einer Beschränkung der Kompetenzen der Gemeinschaften nicht beteiligten Mitgliedstaaten kommen. 88 Soweit die verstärkte Zusammenarbeit zu ihrer Gründung einer Ermächtigung durch den Rat

acquis communautaire. Entfaltet eine externe, verstärkte Kooperation im Hinblick auf die Union oder die Gemeinschaften differenzierende Wirkung, muß sich diese an den Voraussetzungen bzw. Grenzen für die verstärkte Zusammenarbeit messen lassen [siehe Becker, a.a.O., S. 29 (35 f.)], die sich als Ausnahmeregelung zur einheitlichen und gleichzeitigen Integration erweisen (vgl. Hatje, a.a.O., Art. 11 EGV Rdnr. 12). Im Bereich der konkurrierenden Kompetenzen der Gemeinschaft erscheint eine verstärkte Zusammenarbeit ohnehin nur exklusiv unter Wahrung der Voraussetzungen der Art. 43 45 sowie Art. 11 EGV und Art. 11 a EGV möglich; vgl. allerdings auch von Buttlar, a.a.O., S. 662 f. 83

Vgl. in diese Richtung, Rainer Hofmann, EuR 1999, S. 713 (727 f.). Becker, EU-Erweiterung und differenzierte Integration, S. 50. 85 Vgl. demgegenüber noch die Art. 43 Abs. 1 lit. fEUV i.dF. des Vertrages von Amsterdam ergänzende bereichsspezifische Grenzziehung hinsichtlich der Zuständigkeiten der Gemeinschaft gem. (Art. 43 Abs. 1 lit. h i. V.m.) Art. 40 Abs. 1 lit. a EUV und Art. 11 Abs. 1 lit. a und d EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam. 84

86

Vgl. Hatje, in: Schwarze, EGV/EUV, Art. 11 EGV Rdnr. 10. Siehe Art. 27 a - 27 e EUV in der Fassung des Vertrages von Nizza. Gem. Art. 27 S. 2 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza kann die verstärkte Zusammenarbeit (zur Durchführung einer gemeinsamen Aktion oder zur Umsetzung eines gemeinsamen Standpunkts) allerdings keine Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen betreffen. Vgl. zur „Zulässigkeit" einer „engeren Zusammenarbeit" der Mitgliedstaaten im Bereich des GASP bis zum Vertrag von Nizza Art. 17 Abs. 4 EUV (lediglich redaktionell verändert). 87

88

Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 (53 f. m.w.N.).

116

1. Teil: Grundlagen

bedarf 89 (Art. 27 c Abs. 2 S. 3 EUV, Art. 40 a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 EUV sowie Art. 11 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 EGV) 9 0 , ist diese Organhandlung, durch die die Verträge weder punktuell geändert noch ergänzt werden, ihrerseits dem Sekundärrecht zuzuordnen; 91 gleiches gilt fur den - vertraglich allerdings nicht normierten - Beschluß über die Aufhebung des Gründungsaktes. 92 Es handelt sich insofern um eine unstrittig verbindliche, hingegen nicht näher kategorisierte „ungekennzeichnete Rechtshandlung"93 bzw. einen „unbenannten Beschluß" 94 . Davon zu unterscheiden ist die Fragestellung, ob angesichts der Einheit des Primärrechts bzw. der souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten mit den Rahmenbestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit etwa „primärrechtswidriges Primärrecht" geschaffen wurde; in diesem Zusammenhang wären die 89

Entsprechend der Rechtslage nach dem Amsterdamer Vertrag kam ein Tätigwerden ohne besondere Ermächtigung damit nur im Bereich des GASP in Betracht, wobei die Anwendung der Art. 43 ff. EUV im Rahmen der GASP allerdings sehr kontrovers beurteilt wurde; befürwortend Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 304, vor allem unter Berufung auf Art. 17 Abs. 4 EUV, m.N. zur Gegenansicht; nicht ganz eindeutig i.S. einer Beschränkung auf die Fälle der Art. 17, 23 und 24 EUV Geiger, EUV/EGV, Art. 43 EUV Rdnm. 2 f.; Ruffert (in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 1. Aufl. (1999), Art. 43 EUV Rdnr. 8) erwähnt noch die den vorgenannten Vorschriften entspringenden „punktuelle(n) Diiferenzierungsmöglichkeiten"; für eine verstärkte Zusammenarbeit auch im Bereich der GASP, Rainer Hofmann,, EuR 1999, S. 731 (727 ff.); vgl. auch Fußn. 82. Richtigerweise sind die Regeln über die verstärkte Zusammenarbeit mindestens auch dann maßgeblich, wenn - wie im Bereich des GASP entsprechend der Rechtslage nach dem Vertrag von Amsterdam - (schon) keine spezifische Handlungsermächtigung existiert, gleichwohl sogar intern und unter Inanspruchnahme der Organe differenziert werden soll. 90

Mit Art. 40 a Abs. 1 und 2 EUV sowie Art. 11 Abs. 1 und 2 EGV i.d.F. des Vertrages von Nizza wurde die Möglichkeit eines Vetos aufgehoben; vgl. aber für den Bereich der GASP Art. 27 c S. 4 i.V.m. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza. Betreffend den EGV bedarf es in Bereichen, für die das Mitentscheidungsverfahren gilt (Art. 251 EGV), der Zustimmung des Europäischen Parlaments, siehe Art. 11 Abs. 2 S. 2 EGV i.d.F. des Vertrages von Nizza. 91 Siehe auch Geiger, EUV/EGV, Art. 43 EUV Rdnr. 4. 92 Zur Beendigung der verstärkten Zusammenarbeit sowie der Problematik dauerhafter Heterogenität Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 (55); ders., in: von der Groeben/ Schwarze, EUV/EGV, Art. 43 EU Rdnr. 55; Grieser, Flexible Integration in der Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, S. 155 f., die davon ausgeht, sofern keine erneute Verabschiedung der Maßnahmen für alle Mitgliedstaaten erfolge, sei die Aufhebung des Partikularrechts Voraussetzung der Aufhebung der verstärkten Zusammenarbeit durch Beschluß. Siehe femer Hatje, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 1 EGV Rdnr. 34. 93

Vgl. dazu Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 462 f.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 412. 94

Dazu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 580.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

117

vorgenannten Grundsätze freilich im Hinblick auf ihre materiellrechtliche Grenzfunktion von differenzierenden Vertragsänderungen hin zu untersuchen.

4. Kompetenzergänzung gem. Art. 308 EGV Daß die Rechtsetzung auf der Grundlage des Art. 308 EGV in früheren Jahren als Entsprechung der „kleinen Revision des Art. 95 EGKSV" angesehen wurde, 95 verdeutlicht bereits das Bedürfnis einer Unterscheidung von der Vertragsänderung. Die Abgrenzung orientiert sich zunächst maßgeblich an der Funktion und der Charakterisierung des Art. 308 EGV, wenngleich die theoretische Fundierung angesichts der strikten Tatbestandsvoraussetzungen (Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft, Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt, 96 Erforderlichkeit des Tätigwerdens, Subsidiaritätsklausel, mangelnde verfassungsrechtliche Dimension des Rechtsetzungsvorhabens) nur geringfügige Bedeutung entfaltet. Die Norm fungiert als Kompetenzvorschrift und bildet selbst die Rechtsgrundlage für den Erlaß der erforderlichen Rechtsakte.97 Sie beinhaltet h.A. zufolge ebenso wenig wie Art. 6 Abs. 4 EUV eine KompetenzKompetenz.98 Soweit von einer „nach Art. 308 zulässige(n) Vertragsergänzung" 99 gesprochen wird, soll dies zum Ausdruck bringen, daß Art. 308 EGV 95

Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 474.

96

Ob es sich hierbei um ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal handelt und welcher Regelungsgehalt ihm in diesem Falle zukommt, ist umstritten, vgl. etwa Léotin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 275; ferner Rossi , in Calliess/Ruffert, EUV/EUV, Art. 308 Rdnrn. 21 ff., sowie Geiger, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 8, beide m.w.N.; vgl. auch Schreiber, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 15; z.T. wird der Passus „im Rahmen des Gemeinsamen Marktes" als tatbestandsimmanente Einschränkung der Ziel Verwirklichung verstanden, vgl. Bitterlich, in Lenz, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 9, nicht zu verwechseln mit der als immanentes negatives Tatbestandsmerkmal eingestuften mangelnden verfassungsrechtlichen Dimension des Rechtsetzungsvorhabens, vgl. Rossi , a.a.O., Rdnr. 53. 97

Vedder, Die auswärtige Gewalt des Europa der Neun, S. 109 f.; Schwartz , in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 235 EGV Rdnr. 3, 29; Schreiber, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnrn. 4. 98

H.M. vgl. Vedder, a.a.O., S. 110; Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/ Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 235 EGV Rdnr. 3; Häde/Puttler, EuZW 1997, S. 13 (14); Lorenz/Pühs, ZG 1998, S. 142 (143); Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 14; Trüe, Das System der Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, S. 79; siehe jedoch im Hinblick auf eine materielle Vertragsänderung Folz, Demokratie und Integration, S. 323. 99

Rossi , in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 54; vgl. auch Häde/ Puttler, EuZW 1997, S. 13 (14) sowie S. 16: „Vertragsmodifikation nach Art. 235 EGV"; Folz, Demokratie und Integration, S. 323; Pechstein/Koenig, Die Europäische

118

1. Teil: Grundlagen

im Gegensatz zu den implied powers , die unter Anknüpfung an ausdrückliche Befugnisse zu den im Vertrag vorgesehenen Befugnissen zu zählen sind, 100 konstruktiv die (auf den Einzelfall beschränkte) „Schaffung und Ausübung neuer", vertraglich nicht vorgesehener Befugnisse vorsieht. 101 Damit wird offenkundig, jedoch fälschlicherweise, erst an das organschaftliche Handeln angeknüpft. Art. 308 EGV selbst rundet die Befugnisse ab bzw. ergänzt und erweitert diese; die Organe können insofern nur die erweiterte Kompetenz ausüben und damit den Vertrag anwenden.102 Nicht die primärrechliche Kompetenzordnung, sondern das sekundäre Gemeinschaftsrecht bildet den Gegenstand der Fortentwicklung. 103 Da Art. 308 EGV seinerseits Bestandteil des Kompetenz· bzw. des Vertragsgefüges ist, 104 besteht das dynamische Element der Ergänzung allein in der Ausschöpfung des Kompetenzreservoirs 105 in Form der durch die Vorschrift zur Überwindung der aktuellen Diskrepanz zwischen Vertragsziel und Befugnis aufgefüllten bzw. eigens begründeten Kompetenz. Zwar läßt sich Art. 308 EGV nicht als Konglomerat spezifischer, ungeschriebener bzw. impliziter Befugnisse verstehen 106 und muß von den implied powers unterschieden werden. Doch stellt die Vorschrift selbst den - wenngleich rahmenartig umschriebenen - Kompetenztitel dar, der diesseits einer befugnisbezogenen Vertragsergänzung liegt. Die Bedeutung des Art. 308 EGV liegt mithin nicht darin, daß durch dessen Wahrnehmung der Vertrag ergänzt wird. 1 0 7 Vielmehr muß die Vorschrift als Bestandteil der Kompetenzordnung ihrerseits als Kompetenzergänzungsvorschrift 108, besser als eine die vorgesehenen BefugnisUnion, Rdnr. 111. Siehe gleichwohl Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 7. 100

Siehe dazu und zur Abgrenzungsproblematik Vedder, Die auswärtige Gewalt des Europa der Neun, S. 108 ff. 101

Häde/Puttler,

EuZW 1997, S. 13 (14).

102

So zutreffend Schwartz , in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 235 EGV Rdnm. 2, 29. 103

Schwartz , in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 235 EGV Rdnr. 32. 104

EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1788 Rdnr. 30). Vgl. auch Bungenberg, Art. 235 EGV nach Maastricht, S. 123. Siehe femer KOM (2002) 247 (endg.), S. 20. 105

106 107

EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1788 Rdnm. 28 f.).

Vgl. EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1788 Rdnr. 30). 108 Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 235 EGV Rdnr. 3; Geiger, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 1; das BVerfG geht von einer „Kompetenzerweiterungsvorschrift" aus, BVerfGE 89, 155 (196); Karl [in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 81 (95)] ordnet die Vorschrift in den Zusammenhang einer - im übrigen nicht vorgesehenen - authentischen Auslegung ein.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

119

se ergänzende Kompetenzvorschrift qualifiziert werden; z.T. wird von Art. 308 EGV „als einer Art Annexkompetenz" gesprochen. 109 Sie bewirkt infolge dessen keine formale Durchbrechung des Prinzips der begrenzten (Einzel-)Ermächtigung. 110 Daran hat sich auch mit dessen primärrechtlicher Verankerung durch Einfuhrung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 1 EGV) mit dem Vertrag von Maastricht nichts geändert. 111 Nicht das Organhandeln schließt die Lücke zwischen den vertraglich vorgesehenen und den „fehlenden", d.h. im einzelnen nicht konkretisierten Befugnissen durch Schaffung neuer, ungeschriebener Kompetenzen, sondern die Organe können den Erlaß von sekundärrechtlichen Rechtsakten zur Zielverwirklichung auf Art. 308 EGV stützten, der im konkreten Fall die Lücke zwischen der vertraglichen Zielvorgabe und den den Organen zur Verwirklichung dieses Ziels zustehenden geschriebenen Befugnissen ausfüllt. 112 Es läuft auf einen kaum aufzulösenden

109

Grams , Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, S. 209.

110

So letztlich jedoch Vedder, Die Auswärtige Gewalt des Europa der Neun, 1980, S. 110: „Korrektur des Prinzips der competence d'attribution"; zur gleichwohl umfassenderen Bedeutung der französischen Terminologie, a.a.O., S. 107 f.; Rodriguez Iglesias , in: EuGRZ 1996, S. 125 (126); von einer Modifikation ausgehend auch Folz, Demokratie und Integration, S. 304 ff.; a.A. vor allem Schwartz , in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 235 EGV Rdnr. 9 ff, der allgemein - wie der Gerichtshof (vgl. das Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996, 1-1759 (1787 Rdnrn. 24, 30)] - vom Prinzip der „begrenzten Ermächtigung" ausgeht; ablehnend auch Bitterlich, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 2; Bungenberg, Art. 235 EGV nach Maastricht, S. 121 ff; Schreiber, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 3; Trüe, Das System der Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, S. 80. 111

Dazu und zu den dadurch bedingten - geringfügigen - Änderungen hinsichtlich der Anwendungspraxis der Norm Bungenberg, Art. 235 EGV nach Maastricht, S. 121 ff. 112 Schwartz , in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 235 EGV Rdnr. 3. Vgl. auch die Aufzeichnung des Vorsitzes der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 2.2.2000, Dok. CONFER 4711/00, betreffend die „Prüfling bestimmter Bereiche, die bereits in die gemeinschaftliche Zuständigkeit fallen und bei denen die Ausübung dieser Zuständigkeit bisher in Ermangelung eines spezifischen Verfahrens zu einer häufigen Inanspruchnahme des Verfahrens nach Art. 308 EGV geführt hat", in der es unter Berufung auf das Gutachten 2/94 des EuGH v. 28.3.1996, Slg. 1996, 1-1759 (1788 Rdnr. 30) heißt: „Artikel 308 des EG-Vertrages wird für die Annahme recht vieler Rechtsakte und Maßnahmen in bestimmten Bereichen herangezogen, die derzeit in die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft fallen. Da spezifische Bestimmungen für die Ausübung dieser Zuständigkeiten im Vertrag fehlen, hat sich der Rat bei der Annahme derartiger Rechtsakte und Maßnahmen auf Artikel 308 gestützt". Zu der in diesem Zusammenhang ggf. maßgeblichen authentischen Interpretation bzw. späteren Praxis und deren Relevanz im Gemeinschaftsrecht vgl. III. 2. Zur möglichen Streichung von Art. 308 EGV im Hinblick auf die Erarbeitung eines Kompetenzkataloges Bungenberg, EuR 2000, S. 879 (892 ff). Siehe zur Erhaltung der durch

120

1. Teil: Grundlagen

Widerspruch hinaus, einerseits in Art. 308 EGV ein „Instrument zur vertragsimmanenten Fortentwicklung des (offenkundig primären) Gemeinschaftsrechts unterhalb der Schwelle des förmlichen Vertragsänderungsverfahrens" zu erblicken, andererseits zugleich davon auszugehen, Art. 308 EGV „bewirkt(e) immer materiell eine Vertragsänderung, da er die Verbandskompetenz der Gemeinschaft erweitert". 113 Eine solche vertragsimmanente Erweiterung der Verbandskompetenz ließe sich auch kaum darauf stützen, Art. 308 EGV quasi als Vorschrift für ein „autonomes Vertragsänderungsverfahren" zu verstehen. Denn ein systematischer Vergleich zeigt, daß solchermaßen geartete Vorschriften grundsätzlich die - häufig in Form von Anpassungen zu vollziehenden - Änderungen bereits positiv und inhaltlich-konkret vorbestimmen. 114 Im übrigen wäre eine solche Kompetenz von einer Kompetenz-Kompetenz kaum mehr abzugrenzen und zöge die demokratische Legitimation der Gemeinschaft grundlegend in Zweifel. Für diesen Fall wäre auch eine Abgrenzung zwischen Art. 308 EGV und der förmlichen Vertragsrevision kaum zu treffen. In diesem Sinne hat auch der EuGH in seinem Gutachten zur Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für einen Beitritt zur E M R K 1 1 5 nicht verschiedene Arten der Vertragsrevision voneinander abgeschichtet, sondern gerade die Einhaltung des förmlichen Revisionsverfahrens für den Fall eingefordert, daß ein Vorhaben in Inhalt und Tragweite einer Vertragsänderung gleichkommt, mithin als solche anzusehen und zu behandeln ist, auch wenn lediglich eine organschaftliche Wahrnehmung der Lückenschließungskompetenz beabsichtigt war. Der Gerichtshof hat dazu ein verbreitet als immanentes negatives Tatbestandsmerkmal 116 klassifiziertes Abgrenzungskriterium herausgestellt. Art. 308 EGV könne Jedenfalls nicht als Rechtsgrundlage für den Erlaß von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf eine Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür vom Vertrag vorgesehenen Verfahrens hinausliefen". 117 Eine derartige „Änderung ... von verfassungsrechtlicher Art. 308 EGV vermittelten Flexibilität, wenngleich auf der Grundlage einer vorausgehenden Überprüfung der einzelnen Ziele, die Stellungnahme der Kommission KOM (2002) 247 (endg.), S. 23. 1,3 Folz, Demokratie und Integration, S. 305 f., 323. 114 Vgl. dazu oben 1. Kap. II. 1, Fußn. 28 und 29; femer unten 3. Kap. III. 2. 1.5 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759. 1.6

Vedder, EuR 1996, S. 309 (318); Rossi, in Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rdnr. 55; Zu dessen Bedeutung als „Vorrang der politischen vor der richterlichen Entscheidungsfindung" Sebastian Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 130 (Hervorhebungen im Original). 117 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1788 Rdnr. 30). Vgl. auch Art. 5 Abs. 2 S. 1 des (Vor-)Entwurfs des Verfassungsvertrages durch den Konvent der Europäischen Union vom 6.2.2003, abgedruckt in EuGRZ 2003, S. 79 (80): „Die Union

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

121

Dimension", die durch „grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten" gekennzeichnet sei, markiere daher eine Grenze der Heranziehung der Kompetenzergänzungsvorschrift und könne nur im Wege einer Vertragsänderung vorgenommen werden. 1 1 8 Konkret „hätte der Beitritt zur Konvention", ein Vertragsvorhaben unterhalb der Primärrechtsebene, „eine wesentliche Änderung des gegenwärtigen Gemeinschaftssystems des Schutzes der Menschenrechte zur Folge, da er die Einbindung der Gemeinschaft in ein völkerrechtliches, andersartiges institutionelles System und die Übernahme sämtlicher Bestimmungen der Konvention in die Gemeinschaftsrechtsordnung mit sich brächte." 119 Trotz normhierarchischer Ansiedlung des Völkervertragsrechts der Europäischen Gemeinschaften unterhalb des Primärrechts und ungeachtet der Frage nach den Grenzen der Vertragsänderung selbst setzt das im Ergebnis auf eine Änderung von verfassungsrechtlicher Dimension zielende Vorhaben demgemäß eine Vertragsänderung voraus. Zieht man die Grenze unter Wahrung der durch Art. 48 EUV angelegten Sicherung der Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union bzw. Gemeinschaften entsprechend weit, bedeutet dies genau genommen nichts anderes, als daß jede Änderung des Primärrechts im Rahmen des dafür vorgesehenen formellen Verfahrens zu erfolgen hat. Die darüber hinausgehende Bedeutung des Gutachtens zum Beitritt zur EMRK liegt darin, Aufschluß über die Operationalität des Vertragsänderungsverfahrens zu geben: Diese verbietet die Vertragsdurchbrechung durch den Abschluß völkerrechtlicher Verträge der EG und statuiert ein Verbot „sekundärrechtlicher Vertragsdurchbrechungen". 120 Sie erfaßt ungeachtet definitorischer Unscharfen mithin auch - theoretisch mögliche - implizite Änderungen 121 bzw. einen mit dem Vorhaben verbundenen „Systemwandel" des Verfassungsgefüges. Bei diesem geht es nicht darum, daß einzelne Bestimmungen des Primärrechts durch Anwendung und Auslegung eine neue bzw. modifizierte Sinngebung im Sinne eines „Verfassungswandels" erfahren, sondern daß infolge der Einbindung in ein anderes Menschenrechts- und Rechtsschutzsystem Inhalt, Kontrolle und Durchsetzung bisheriger Rechtsbeziehungen zum Teil neu bestimmt werden. Die letztgenannten kann der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beitreten". Art. 1-7 Abs. 2 des Entwurfs des Vertrages über eine Verfassung für Europa (CONV 850/03, S. 8 bzw. S. 13 der amtl. Textausgabe) bestimmt: „Die Union strebt den Beitritt zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten an.". Gem. Art. 1-9 Abs. 2 S. 1 des Vertrages über eine Verfassung für Europa tritt „die Union [...] der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei", vgl. AB1.EU 2004 Nr. C 310, S. 13. 1,8 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1788 Rdnr. 35). 119 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.3.1996, Slg. 1996,1-1759 (1788 Rdnr. 34). 120 121

Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 9. Siehe dazu unten unter III. 1.

122

1. Teil: Grundlagen

Aspekte betreffen etwa (Probleme der) Auslegungs- und Entscheidungskonkurrenz zwischen EuGH und EuGMR 122 oder das Verhältnis von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Primärrechts und der EMRK. Abschließend bleibt darauf hinzuweisen, daß der EuGH den Anwendungsbereich des Art. 308 EGV zunehmend zugunsten benannter (Einzel-)Ermächtigungen beschränkt hat. 123 Die seit Anfang der siebziger Jahre extensive 124 , mit dem Inkrafttreten der EE A zunehmend moderate Organpraxis läßt sich insbesondere seit Inkraffireten des EUV ebenfalls als restriktiv 125 bezeichnen.

5. „ Verfassungswandel

"

Nicht das Ergebnis einer formell „verfassungsrechtlich dimensionierten" Revision des Primärrechts, sondern Ausdruck einer Sinnänderung bzw. -ergänzung bestehender Rechtssätze, eines Bedeutungswandels aufgrund der sich ihrerseits ändernden auslegungsrelevanten Rechtswirklichkeit oder tatsächlicher Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union ist der dem Verfassungswandel 126 vergleichbare „Wandel" des Primärrechts. Er läßt sich als wirklich-

122

Vgl. dazu Rujfert, JZ 1996, S. 642 (626 f.). Siehe v.a. Lorenz/Pühs, ZG 1998, S. 142 (148 f.); ferner Folz, Demokratie und Integration, S. 309 ff; zur gesamten Entwicklung umfassend Bungenberg, Art. 235 EGV nach Maastricht, S. 44 ff. 123

124

Oppermann [Europarecht, Rdnrn. 523 ff. (527)] spricht in diesem Zusammenhang vom „Usus modernus" der Abrundungskompetenzen. Siehe auch Trite, Das System der Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, S. 77. 125

Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Lorenz/Pühs, ZG 1998, S. 142 (145 ff.; 150 ff.). Vgl. zur Einschränkung der Anwendung des Verfahrens nach Art. 308 EGV zugunsten einer Neuschaffung spezifischer Rechtsgrundlagen und damit verbundener Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit im Zuge der Regierungskonferenz 2000 sowie zur jüngeren Statistik der Inanspruchnahme des Art. 308 EGV die Aufzeichnungen des Vorsitzes der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 22.2.2000, Dok. CONFER 4711/00. 126

Siehe im deutschen Staatsrecht grundlegend Laband, Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, 1875; Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906; Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 187 ff.; Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 17 ff; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254 ff; ferner Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, § 5 III 2, S. 160 ff. Der Begriff des Verfassungswandels wird nicht einheitlich verwendet. Einigkeit besteht weitgehend darüber, daß die Konstante im Fortbestand des Verfassungstextes, das dynamische Element in der Änderung des der Bestimmung ursprünglich beigegebenen Sinns liegt. Davon abgesehen reicht das Bedeutungsverständnis von der übergeordnet phänomenologischen Beschreibung dynamischer „Entwicklungsvorgänge" bis zur Ein-

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

123

keitsnachzeichnende und zugleich das Recht fortbildende Interpretation in grundlegenden Bereichen deuten, durch die neue Prinzipien herausgebildet, modifiziert oder erweitert und in bestehenden, textuell gleichbleibenden Normen verankert werden. Typologisch betrachtet manifestiert sich der Verfassungswandel in Form von tatsächlichen Wandlungen im Regelungsbereich und Wandlungen von Wertungen. 127 Dieses Phänomen ergibt sich in gleicher Weise im primären Europarecht, 128 das insoweit jedenfalls funktional als Verfassung bezeichnet werden kann 129 . Wenn dieser Wandel interpretatorisch nachvollzogen bzw. das Primärrecht konkretisiert wird, macht dies zugleich eine inhärente Verbindung zur richterlichen Rechtsfortbildung deutlich. 130 Trägt die Rechtsprechung dem Wandel Rechnung, läßt sich auch von vertragsändernder Interpretation im weitesten Sinne sprechen. 131 Andererseits präsentiert sich nicht jeder Vorgang der Rechtsfortbildung als Konsequenz eines Verfassungswandels; Lückenschließung ist vielfach auch nicht durch Wandel bedingt, nicht bettung in die Kategorie der Verfassungsinterpretation, vgl. zusammenfassend Hesse, in: FS Scheuner, S. 123 (126 f.); Bryde, a.a.O., S. 20 f.; Pauly, in: ders. (Hrsg.), Einführung zu Jellinek, a.a.O., S. VII ff.; zum Bedeutungswandel einer Verfassungsbestimmung dadurch, daß neue Tatbestände auftauchen bzw. bekannte eine neue Bedeutung bzw. Einordnung erfahren BVerfGE 2, 380 (401); 3, 407 (422); 45, 1 (33). Die Terminologie läßt sich letztlich nur mutatis mutandis auf den europarechtlichen Zusammenhang übertragen. 127

Siehe Bryde, a.a.O., S. 283; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 171 f., 413. 128

Siehe etwa Hilf, EuR 1984, S. 9 (15); Vogenauer, a.a.O., S. 413 m.w.N.; Badura, EuR, Beiheft 2/2000, S. 45 (46); femer Trüe, Verleihung von Rechtspersönlichkeit an die Europäische Union und Verschmelzung zu einer einzigen Organisation - deklaratorisch oder konstitutiv?, S. 51, die zugleich einen Zusammenhang zur nachfolgenden Praxis der Vertragspartner herstellt (s. dazu in bezug auf die revisionsrechtliche Problematik auch III. 2. und 4. sowie 3. Kap. I. 2. a) - e); speziell zur Frage der „Begrenzung" des Verfassungswandels durch das Vertragsänderungsverfahren 3. Kap. I. 2. e). Zum Phänomen des Verfassungswandels, speziell im Ausland, zur Ausprägung als dynamische Auslegung durch den EuGMR sowie zu dem durch internationales Recht (speziell die EMRK) bedingten Wandel der nationalen Verfassung Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, S. 121 ff., 125 f. Zum Bedeutungswandel der Charta der Vereinten Nationen Rudolf Bernhardt, in: Simma, The Charter of the United Nations, Art. 103 Rdnr. 13. 129

Vgl. zur Verfassungsdiskussion im Zusammenhang mit der Frage der Exklusivität der primärrechtlichen Revisionsbestimmungen 4. Kap. III. 2. c) aa) (2) und (3). 130 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, § 5 III 2, S. 163; in diese Richtung auch Pauly, in: ders. (Hrsg.), Einführung zu Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. VIII, zugleich mit kritischen Hinweisen zur unterschiedlichen Betonung der Charakteristika des Verfassungswandels in bezug auf die Prozeßhaftigkeit bzw. die bereits angelegt Normprägung. 131 Dazu unter III. 2.

124

1. Teil: Grundlagen

jede Art der Rechtsfortbildung daher Nachzeichnung einer quasi „automatischen Derogation". Ob der Wandel, vor allem der Wertewandel, methodologisch überhaupt ein zur Rechtsfortbildung (im Sinne der überwiegenden Betrachtungsweise der deutschen Methodenlehre) 132 führendes „Lückenproblem" darstellt, hängt vor allem auch davon ab, inwiefern die Auslegung einer Wertungsjurisprudenz verhaftet ist. 133 Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß das für den gesellschaftlichen Wandel maßgebende Verhalten der Individuen, aber auch der Organe und der Mitgliedstaaten 134 unter dem Gesichtspunkt einer für das Gewohnheitsrecht relevanten Übung Bedeutung erlangt, so daß sich auch in dieser Hinsicht jedenfalls nicht immer eine scharfe Trennlinie zur Rechtsfortbildung durch Gewohnheitsrecht ziehen läßt. 135 Daß der Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen des Primärrechts nicht verändert wird, 1 3 6 jedenfalls formell unangetastet bleibt, begründet in aller Regel den wesentlichen Unterschied des „Verfassungswandels" zur Revisi-

132

Ausführlich zur Rechtsfortbildung unter III. 2.

133

Siehe dazu Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rdnrn. 462 f.

134

Vgl. Dagtoglou, in: FS Forsthoff, S. 77 (95). Vgl. auch 3. Kap. I. 2. b) bb). 136 Siehe zu Abweichungen von der allgemeinen Eindeutigkeitsregel des Wortlautes durch den Bedeutungswandel von Normen Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 159 ff. (171 f.). Als Beispiel dient vor allem die Rspr. des EuGH im Zusammenhang mit den interpretatorischen Folgen aus der Beachtung des Grundsatzes des „institutionellen Gleichgewichts" vor dem Hintergrund der im Verlaufe der Integration gestärkten Kompetenzen des Europäischen Parlaments, das sich in der gerichtlichen Kontrolle von Zuständigkeitskonflikten [siehe GA van Gerven, Schlußantrag zum Urt. des EuGH v. 17.5.1990, Rs. C-158/89 („Dietz Matti"/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1990,1-2013, (2054 Ziff. 3)] und der Aktiv- bzw. Passivlegitimation des Parlaments [EuGH, a.a.O., 2071 ff. (Rdnrn. 12 ff.)] widerspiegelt. Der EuGH spricht zwar von der „Anwendung" der Vertragsbestimmungen über das institutionelle Gleichgewicht; der Wandel im Anwendungsbereich wird jedoch durch die zunehmende Kompetenzausstattung deutlich, siehe GA van Gerven, a.a.O.: „Hätte das Parlament von Anfang an bindende Befugnisse gehabt, so wäre ihm aller Wahrscheinlichkeit nach im Rechtsschutzsystem ... eine ebenso ausgeprägte Rolle zugewiesen worden. Ein Anhaltspunkt dafür ist, daß in dem Maße, wie das Parlament doch Befugnisse hatte oder später erlangte, die rechtliche Wirkungen für Dritte entfalten, die damit verbundenen Zuständigkeitskonflikte der Kontrolle durch den Gerichtshof unterworfen wurden". Siehe zur diesbezüglich ,,evolutive[n] Rechtsanwendung" auch Herdgen, in: FS Everling, S. 447 (449); vgl. ferner bereits Wilfried Bernhardt, Verfassungsprinzipien - Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, S. 131, sowie die Nachweise bei Vogenauer, a.a.O., S. 413. Zum „institutionellen Gleichgewicht", zu dessen Verankerung und normativem Gehalt Wilfried Bernhardt, a.a.O., S. 86 ff. 135

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

125

on. 1 3 7 Im übrigen kommt es nicht zu einer änderungsspezifischen „Kollision" nachträglich erzeugter mit ursprünglichen Norminhalten; eine Derogation in diesem Sinne findet nicht statt. 138 Der EuGH muß einem Bedeutungswandel bei der (Wortlaut-)Auslegung Rechnung tragen; gleichzeitig vermag seine fachbezogene Rechtsanwendung ihrerseits das Verständnis der im Vertragstext enthaltenen Worte zu beeinflussen. 139 Letztlich ist zuzugestehen, daß bei einem unauffälligem Bedeutungswandel vertraglicher Normen die Grenzen zur Vertragsänderung im weitesten Sinne fließend sind, sich insofern auch von einer automatisch eintretenden Änderung sprechen ließe. 140 Prinzipiell aber handelt es sich um ein die förmliche Vertragsänderung ergänzendes „Korrelat", 141 das ebenso wie jene eine Form der Verfassungsentwicklung darstellt. 142

6. Gebietsveränderungen

eines Mitgliedstaates

Änderungen im Bestand der Hoheitsgebiete der Vertragsstaaten lassen deren Mitgliedschaft unberührt. Die völkerrechtliche Identität des Vertragsstaates bleibt trotz Änderung des Staatsgebietes gewahrt. Nach dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen, vgl. Art. 29 WVK, gilt die Vertragspartnerschaft für den Mitgliedstaat in seinem jeweiligen Hoheitsgebiet.143 Dieser ist der Sache nach auch in den Gemeinschaftsverträgen enthalten, vgl. Art. 299 EGV, 198 EAGV und (vormals) Art. 79 EGKSV. Eines Rückgriffs auf das allgemeine Völkerrecht bedarf es insofern nicht. 144 Änderungen des Hoheitsgebietes führen demgemäß zu einer automatischen Erweiterung bzw. Reduzierung des Geltungsbereichs, 145 die keiner eigenständigen Untersuchung bedarf. Dessen 137

Vgl. zum Verfassungsrecht bereits Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 3; Hesse, in: FS Scheuner, S. 123 (128); weitere Nachweise bei Pauly, Einleitung zu Jellinek, a.a.O., S. VII (XX, Fußn. 1). 138 Vgl. hierzu im staatsrechtlichen Zusammenhang etwa Hufeid, Die Verfassungsdurchbrechung, S. 30 f. 139

Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 4 EGV Rdnr. 48; Badura, EuR Beiheft 1/2000, S. 45 (46). 140

Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 21. Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 473 ff. (477). 142 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 20 f., 254 ff.; Anne Peters, a.a.O. 143 Siehe Streinz, Europarecht, Rdnr. 84. Zum völkerrechtlichen Grundsatz der Diskontinuität in bezug auf untergegangene Staaten bzw. den aufnehmenden Staat Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 106. 141

144 145

Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 299 EGV Rdnr. 5.

Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdnm. 1395, 1398; vgl. auch Kimminich/ Hobe, a.a.O.; Schmalenbach (in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 299 EGV Rdnr. 4)

126

1. Teil: Grundlagen

ungeachtet können weitergehende gewillkürte (inhaltliche) Anpassungen zugleich im Rahmen des Verfahrens nach Art. 48 EUV erfolgen. Sie unterliegen insofern den allgemeinen Regeln. Zu einer Vertragsänderung führte das Ausscheiden Grönlands aus der EG (vgl. Art. 188 EGV) deswegen, weil dieses beim Staatsgebiet Dänemarks verblieb. 146 Zugleich wurde ihm der Status eines überseeischen Hoheitsgebiets eingeräumt. 147 Der Ausschluß von Teilen des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates aus dem Geltungsbereich der Unionsverträge setzt daher eine reguläre Vertragsänderung voraus. 148 Gleiches gilt umgekehrt für den Fall einer „hoheitsinternen Erweiterung", kurzum für jede neu angestrebte Differenzierung bzw. Änderung im Hinblick auf Teile des Hoheitsbereiches eines Mitgliedstaates.

I I I . Revisionstatbestände 7. Änderung des Primärrechts Zu einer Änderung im weiteren Sinne führt jede für die Zukunft verbindliche, isolierte oder mit einer Ersetzung verbundene Beseitigung einzelner oder mehrerer Bestandteile des Änderungsgegenstandes sowie deren schlichte Ergänzung. Damit sind sowohl der „schlichte" Wortlaut der betroffenen Rechtsquelle als auch die die Rechtslage konstituierende, primärrechtliche Norm als solche in Bezug genommen. Bereits der für die Zukunft neu festgelegte, vertraglich dokumentierte Wortlaut ist signifikanter Ausdruck der Änderung einer Rechtsnorm. Er kann in Teilen beseitigt, zugleich um- oder abgeändert oder auch schlicht ergänzt werden; auch letzteres führt zu einer Abweichung von der bisherigen Fassung. Wird die Neufestsetzung des Wortlauts von einer inhaltlichen Änderung begleitet, erfolgt dies zumeist in Form einer „Streichung, Umspricht von einem „antizipierten Konsens der Mitgliedstaaten hinsichtlich der automatischen Anpassungen des EGV". Zur Gebietsveränderung als Änderung des Primärrechts „außerhalb des Art. 48 EUV" auch Pechstein, in: Streinz, EU/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 6. 146 Siehe den Vertrag zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönland vom 13.3.1984, ABl. 1985 Nr. L 29 S. 1, auf der Grundlage der Art. 96 EGKSV (urspr.F.), Art. 204 EAGV (urspr.F.) und Art. 236 EWGV. 147 Vgl. den Anhang 1 zum Beschluß (91/482/EWG) des Rates vom 25.7.1991, ABl. Nr. L 26, S. 66 Ziff. 1; Art. 299 Abs. 3 EGV kommt insofern nicht zum Tragen, vgl. Meinhard Schröder, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 227 EGV Rdnr. 24. 148 Ehlermann,, EuR 1984, S. 113 (123); Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 299 EGV Rdnr. 5; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 3.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

127

änderung oder Hinzufügung von materiellen Regeln oder Verfahrensregeln" 149. Gleichwohl muß textuellen Änderungen nicht notwendig auch eine inhaltliche Abänderung der Rechtslage entsprechen. Neben den Fällen bloßer Berichtigung redaktioneller Fehler des Vertragstextes dient vor allem die förmliche Festschreibung einer bereits bestehenden Rechtslage als Beispiel, sei es als Reaktion auf eine bereits zuvor erfolgte formlose Änderung oder die Übernahme der bisher in ungeschriebenen Rechtsquellen verbürgten Inhalte in das Vertragsrecht. 150 Im letztgenannten Fall kann die Änderung insbesondere darin bestehen, einen neuen Geltungsgrund zu etablieren. Die Änderung des Wortlauts wird allerdings zumeist, wenngleich keinesfalls zwingend, von einer Änderung der primärrechtlichen Rechtslage, d.h. der an die geschriebene oder ungeschriebene Norm selbst anknüpfenden Änderung flankiert. 151 Von einer Änderung der Norm ist dann auszugehen, wenn ihr Inhalt jenseits des aktuell zu beurteilenden Anwendungsfalls für zukünftige Sachverhalte allgemein verbindlich neu festgelegt oder der Normbestand quantitativ und damit zugleich die Rechtslage verändert wird. Die Beseitigung bisheriger Normen oder Normbestandteile sowie deren Ersetzung folgen dabei unter denselben Parteien und innerhalb derselben Rechtsordnung - der Regel lex posterior derogat legi anteriori, 152 die Wahrung der an die lex posterior gestellten Gültigkeitsanforderungen vorausgesetzt. Derogation bedeutet danach zumindest teilweise Aufhebung bzw. Änderung einer früheren Norm, mithin Derogation im engeren Sinn. 153 Der Geltungsgrund einer von den Vertragsparteien beabsichtigten, „gewillkürten Derogation" 154 liegt bereits in dem Willensentschluß der Parteien, die später derogierte Norm ganz oder teilweise zu beseitigen und gegebenenfalls gleichzeitig zu ersetzen. Ziel ist es dabei, neues Primärrecht zu schaffen.

149

Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 40. Art. F Abs. 2 EUV a.F. (Art. 6 Abs. 2 EUV) läßt sich als Beispiel allerdings nicht anführen. Zwar kommt der Bestimmung in weitem Umfang lediglich deklaratorische Bedeutung zu; mindestens aber weitet sie den Grundrechtsschutz jedoch auf den Bereich des Unionsrechts aus, vgl. Hummer, in: ders., Die Union nach dem Vertrag von Amsterdam, S. 71 (83 f). 150

151 152

Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 10. Siehe Rudolf Bernhardt, in: Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, S. 77 (80).

153

Im Gegensatz zur „Derogation" einer Norm durch den Anwendungsvorrang einer anderen. Zu dieser Differenzierung sowie zum Wortursprung der Derogation Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 58 f., insbes. Fußn. 264. 154

S. 15.

Karl, a.a.O., S. 60; ihm folgend Wilting,

Vertragskonkurrenz im Völkerrecht,

128

1. Teil: Grundlagen

Als in mehrfacher Hinsicht problematisch erweist sich demgegenüber eine mögliche „automatische Derogation", d.h. die der Rechtsordnung selbst entspringende Derogationswirkung einer späteren Norm. 1 5 5 In diesem Zusammenhang sind zunächst Existenz und Geltung der Regel zu untersuchen, der zufolge eine automatische Derogationswirkung eintreten könnte, insbesondere der lex posterior-Grundsatz und die Bedeutung (nachfolgenden) höherrangigen Rechts. Die völkerrechlich 156 und europarechtlich 157 grundsätzlich anerkannte lex posterior-Regel unterliegt im europarechtlichen Zusammenhang u.a. den formellen „Einschränkungen" des Vertragsänderungsverfahrens. 158 Diese schließen eine automatische Derogation von Verträgen durch europarechtlich verfahrenswidrig zustande gekommene Verträge aus, sofern man im Anschluß an Art. 30 Abs. 3 W V K bei nachfolgenden Verträgen, die früheren Vereinbarungen widersprechen, überhaupt eine automatische Derogation für möglich hält und hier nicht im Grundsatz von einer - rechtswidrigen - stillschweigenden (materiellen), gewillkürten Derogation ausgeht. Im Unterschied zur rein materiellen (stillschweigenden) automatischen Derogation kann die gewillkürte prinzipiell sowohl ausdrücklich (formell) als auch stillschweigend (materiell) erfolgen. 159 Zudem erweist sich die Derogation von Vertragsrecht durch andere als vertragliche Rechtsquellen als problematisch. Ungeachtet der Zulässigkeit einer Derogation von Vertrags- durch Gewohnheitsrecht 160 läßt sich bei vertragsabänderndem Gewohnheitsrecht (insbesondere contra legem) zwischen-

155 Karl, a.a.O.; Wilting , a.a.O. Zu dem besonderen Fall der „Brechung", der automatischen Außerkraftsetzung der nachrangigen Norm im Verhältnis zweier Rechtsordnungen zueinander Rainer Arnold, Das Rangverhältnis zwischen dem Recht der europäischen Gemeinschaften und dem innerdeutschen Recht, S. 34. 156 Vgl. Art. 30 Abs. 3 WVK: „Sind alle Vertragsparteien eines früheren Vertrags zugleich Vertragsparteien eines späteren, ... findet der frühere Vertrag nur insoweit Anwendung, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar ist." Siehe Akehurst, BYIL 1974/75, S. 173; ferner Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 786; Graf Vitzthum, in: ders. Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 125. Zur Beendigung eines Vertrags durch Abschluß eines späteren Vertrages siehe Art. 59 WVK. Diese Regel wird allerdings durch Art. 103 UN-Charta [vgl. bereits Art. 30 Abs. 1 WVK (i.V.m. Art. 103 UN-Charta)] ebenso wie etwa durch Art. 47 EUV [vgl. 3. Kap. II. 4. a); 4. Kap. IV. 2. b) bb) (1)] ausgeschlossen; siehe dazu etwa Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, S. 308 f., und 5. Kap. I. 1. a) bb). 157

Siehe Potacs, Die Auslegung im öffentlichen Recht, S. 218 m.w.N. Vgl. darüber hinaus auch Art. 47 EUV für das Verhältnis des EUV zu EGV, EAGV sowie (vormals) EGKSV. Siehe dazu auch 3. Kap. II. 4. a). 159 Zu diesen dem staatlichen Recht entnommenen Kategorien Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 60. 158

160

Siehe dazu 3. Kap. I. 2. Zum Verhältnis von Derogationsverboten und Bestandsschutz 5. Kap. I. 1. a) bb).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

129

zeitlich ein rechtswidriger, weiterhin legitimationsbedürftiger Zustand feststellen; zudem besteht ggf. das Problem, inwieweit ein Konsens hinsichtlich der ausnahmsweisen Abweichung von dem Vertragsänderungsverfahren bestehen könnte. Der „Rechtsgrund" stellt zuvorderst ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Anlässen bzw. Arten der Revision dar. In Anknüpfung an den die Änderung vollziehenden Rechtsquellentypus ist dabei auch zu fragen, ob primäre Normen einer bestimmten Rechtsquelle nur durch Normen desselben Quellentypus geändert werden können oder bei mangelnder Übereinstimmung von einer „Grenze" der Revision des Primärrechts gesprochen werden kann. Die verbreitet vorzufindende Feststellung, daß der Unionsvertrag und die Gemeinschaftsverträge durch nachfolgendes (primäres) Gewohnheitsrecht nicht geändert werden können, 161 mahnt allerdings, zwei Aspekte zu unterscheiden: Der erste, hier zu behandelnde, betrifft die Frage, ob mangels Identität von änderungsgegenständlicher und der die Änderung bewirkenden Rechtsquelle bereits aus rechtstheoretischen Gründen keine abändernde Wirkung erzeugt werden kann. 162 Zweitens kann die rechtliche Anerkennung einer Revision des Primärrechts durch Revisionsklauseln an ein bestimmtes Verfahren zur Erzeugung einer konkreten Rechtsquelle, d.h. insbesondere an einen vertraglichen Rechtsgrund geknüpft und damit formell begrenzt werden. Die jeweilige Einordnung der Problemkreise ist nicht theoretischer Natur, da die Wirksamkeit einer - wenn auch unionsrechtswidrigen - Änderung wiederum von der Exklusivität des Europarechts im Verhältnis zum Völkerrecht abhängt. Zur Problematik eines untauglichen Revisionsvorhabens mangels Identität von modifizierender und änderungsgegenständlicher Rechtsquelle hat Bieber 163 die Auffassung vertreten, der normative Gehalt gemeinsamer Rechtsgrundsätze könnte bereits aus Gründen der Logik nicht im Vertragswege geändert werden. 164 Diese Aussage geht offensichtlich weiter als die noch zu behandelnde165 Betrachtungsweise, wegen der teils Völker- und teils verfassungsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten seien allgemeine Rechtsgrundsätze, soweit

161 Vgl. Meng, in von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 111; ähnlich Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 8. 162 Insofern ließe sich auch von methodologischen Voraussetzungen bzw. Hindernissen einer Revision sprechen; demgegenüber soll hier unter Grenze die Illegalität des prinzipiell Derogationswirkung entfaltenden Revisionsvorgangs verstanden werden. 163 RMC 1993, S. 343 (348). 164 Nicht ganz deutlich wird hierbei, ob damit auch eine Änderung bzw. Ergänzung der Rechtslage insgesamt ausgeschlossen sein soll. 165 Vgl. auch 5. Kap. II.

130

1. Teil: Grundlagen

sie in dieser Form verbürgt werden, „systemimmanent änderungsfest" 166. Dahinter steht möglicherweise die Erwägung, die gewachsene Verfassungshomogenität lasse sich nicht im Wege zeitgebunden gesetzten Rechts „abändern". Damit würden allerdings die mitgliedstaatlichen bzw. „externen" Verfassungsgrundsätze als alleiniger Geltungsgrund für die in den (allgemeinen) Rechtsgrundsätzen enthaltenen Normen verabsolutiert und zugleich die Gefahr einer generellen „Versteinerung" heraufbeschworen, ohne daß Rang oder konkrete materielle Gehalte des betreffenden Rechtssatzes eine Rolle spielten. Angesichts dessen käme beispielsweise eine positiv-rechtliche Intensivierung des Grundrechtsschutzes (etwa durch einen Grundrechtskatalog) allenfalls in Form kumulativ erlassener Vertragsvorschrifien als partielle leges speciales in Frage. Allerdings führte auch diese Vorgehensweise zu einer Ergänzung der im allgemeinem Rechtsgrundsatz verankerten Norm durch eine Norm einer anderen Rechtsquelle und damit zu einer Änderung der primärrechtlichen Rechtslage insgesamt.167 Im umgekehrten Falle, der Absenkung des Schutzniveaus, wäre die aus der gleichzeitigen 168 Geltung 169 verschiedener Rechtsquellen unterschiedlicher Gewährleistungsgehalte erwachsende Normenkollision 170 kaum lösbar 171 , zumal - Bieber folgend - auf die lex posterior-Rcgd gerade nicht zurückgegriffen werden dürfte. Der Forderung nach einer Identität der Rechtsquellentypen widerspricht insgesamt, daß sich der mitgliedstaatlich erzeugte Wille zur Änderung der Rechtslage auf Unions - und Gemeinschaftsebene grundsätzlich in jeder zur Verfügung stehenden Rechtsquelle manifestieren kann. Die rechtliche Anerkennung bleibt ihm lediglich bei Höherrangigkeit bzw. normativ verankerter besonderer Bestandssicherung der änderungsgegenständlichen Norm versagt. 172 Das Primärrecht bildet in Rang und Charakter 166

Vgl. Vedder, EuR, Beiheft 1/1999, S. 7 (38). Daß sich das „Derogationsverbot" Biebers auch auf diese Konstellation erstreckt, darf bezweifelt werden. 167

168 Die Nichtigkeit eines solchen Vertrags aus Gründen der Logik erscheint nicht schlüssig. 169 Damit ist die aktuelle Rechtsverbindlichkeit beider Normen im Sinne eines eigentlichen Normkonflikts gemeint. Vgl. auch Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 61 Fußn. 277. 170

Vgl. Wilting, Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, S. 7 ff. Die Gesetze der Logik vermögen weder die Existenz von Normenkonflikten zu verhindern noch diese zu lösen, so insbesondere Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 166 ff. (168 f.); siehe zur supranationalen bzw. internationalen Rechtsordnung Wengler, Völkerrecht, Band 1, S. 404 f.; ferner Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 62 f., Wilting, a.a.O., S. 7 ff., jeweils m.w.N. 171

172

Aus diesem Grund gegen Bieber auch Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 66 Fußn. 125. Siehe auch von Arnauld, EuR 2003, S. 191 (207).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

131

eine einheitliche Rechtsmasse.173 Dem Völkerrecht ist die Forderung einer rechtsquellenspezifische Gleichartigkeit der modifizierenden Norm mit dem geänderten Rechtssatz als Grundvoraussetzung einer Revision ohnehin fremd. 174 Der Unions vertrag, der ebenfalls völkerrechtlichen Ursprungs ist, normiert in seinem Anwendungsbereich keine rechtslogischen, sondern lediglich Verfahrensvoraussetzungen. Ein Formverstoß und die (völker-)rechtliche Wirksamkeit einer derartigen Änderung sind gesondert zu würdigen. Demzufolge stehen einer Revision des Vertrages durch Gewohnheitsrecht keine rechtstheoretischen Bedenken, sondern „lediglich" die formellen Anforderungen der Art. 48 und 49 EUV entgegen.175 Insgesamt muß zwischen der Änderung als solcher und ihrer verfahrensrechtlichen Anerkennung systematisch unterschieden werden. 176 Änderungen des (zumeist vertraglichen) Primärrechts sind rechtslogisch grundsätzlich auch ohne ausdrückliche Änderung des Normtextes, als implizite Änderungen denkbar; eine Änderung der Rechtslage muß nicht mit einer textuellen Änderung der modifizierten einher gehen. Die Gefahr derartiger „Vertragsdurchbrechungen" resultiert insbesondere aus ergänzenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bzw. der Gemeinschaften, sei es, daß sich „ein neuer Koordinationsrahmen" unmittelbar auf die Funktionsfähigkeit der Union oder der Gemeinschaft auswirkt, 177 sei es, daß die in den Gemeinsamen Bestimmungen des EUV (Titel I) verankerten Vorgaben für das Organhandeln trotz Art. 47 EUV, dessen Bedeutung diesbezüglich kontrovers diskutiert wird, auch auf die Gemeinschaftsorgane bezogen werden, also eine Ände-

173

Vgl. nur Krück in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 164 EGV Rdnr. 21 ; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 474. 174 Carstens, ZaöRV 21 (1961), S. 1; siehe femer zur Abänderung von Gewohnheitsrecht durch Vertragsrecht Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdnm. 497 f., 524, sowie zur Abänderung von Vertrags- durch Gewohnheitsrecht dens., a.a.O., Rdnm. 529 ff.; femer Graf Vitzthum, in ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rdnr. 154; zu beiden Konstellationen bereits Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 44.; siehe auch Uerpmann, JZ 2001, S. 565 (571). Zur Diskussion um „Hierarchies of Sources of International Law", unter Einschluß der Entstehungsgeschichte des Art. 38 IGH-Statut, Akekurst, BYIL 1974/75, S. 372 (274 ff.). 175 Ohne nähere Berücksichtigung dieser Problematik Oppermann, Europarecht, Rdnr. 480: „Vertragsänderndes Gewohnheitsrecht ist zwar theoretisch möglich, doch dürfte ein entsprechender Konsensus der Mitgliedstaaten nur schwer nachweisbar sein." 176 Dem steht eine entsprechende Einteilung in förmliche - d.h. formgerechte - und formlose Änderungen nicht entgegen. Allerdings kommt dem Verfahren weitergehend Grenzfunktion zu, siehe dazu 3. und 4. Kap. 177

Siehe Meng in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnm. 41 f.

1. Teil: Grundlagen

132

rung der Gemeinschafts Verträge durch den EUV in Rede steht. 178 Im Rahmen der Grenzfunktion des Änderungsverfahrens gem. Art. 48 EUV bzw. im Zusammenhang mit Art. 47 EUV wird näher darauf einzugehen sein, inwiefern implizite Änderungen konkret zulässig sind.

2. Änderung und vertragsändernde Interpretation Grenzen der Rechtsfortbildung

-

Ob und inwieweit auch Rechtsfortbildung, dynamische Vertragsinterpretationen und damit zusammenhängend die völkerrechtlich sogenannte „spätere Praxis" der Mitgliedstaaten eine Vertragsänderung zur Folge haben können, läßt sich an dieser Stelle weder allgemeingültig noch umfassend beantworten, sondern nur grobmaschig in den vorliegenden Zusammenhang einordnen. Die Abgrenzung zum „Verfassungswandel" 179 als „Grund" rechtsfortbildender Interpretation ist dabei in aller Regel fließend. Auch der Verfassungswandel führt letztlich zur Rechtsfortbildung, wobei allerdings das zuständige Judikativorgan mit seiner Entscheidung die Rechts Wirklichkeit und den Bedeutungswandel der auszulegenden Tatbestandsmerkmale lediglich interpretatorisch „nachvollzieht". Bei der vertragsändernden Interpretation besteht allerdings nicht zwingend eine aktuell „auszugleichende" „Diskrepanz" zwischen dem ursprünglichen, wortlautorientierten - Verständnis einer Norm und den „Wertungen", die sich insbesondere im Zusammenspiel mit anderen, ggf. neu geschaffenen Normen bzw. dem Normgefüge insgesamt ergeben oder die durch tatsächliche Änderungen der Verhältnisse bedingt sind, welche in die Interpretation bisher keinen Eingang gefunden haben und die ihrerseits den Verfassungswandel bestimmen können. Der mit der späteren Praxis (auch) verbundene Bedeutungswandel als Auslegungsfaktor betrifft ausschließlich den maßgeblichen Einfluß der Vertragspartner - ggf. auch der Organe internationaler Organisationen - selbst. 180 Insbesondere soweit die ursprüngliche Praxis der Ermittlung des aktuellen Vertragsverständnisses und nicht der ursprünglichen Intention dient, 181 wird sie allerdings zumeist ihrerseits vom Wandel der wirt-

178

Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (196); Pechstein/Koenig, Rdnrn. 109 ff. 179

Die Europäische Union,

Vgl. näher oben II. 5.

180

Siehe Rudolf Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 126 ff., 168 ff; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 115. 181

Zu dieser Unterscheidung Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 143 ff.; Anweiler, a.a.O., S. 112 ff.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

133

schaftlichen und gesellschaftspolitischen Umstände beeinflußt sein. 182 Unterschiede bestehen daher nur in Nuancen: Eine vertragsändernde Interpretation, das Verhalten der Vertragsparteien, kann den Verfassungswandel seinerseits mitbestimmen 183 und zugleich eine für das Gewohnheitsrecht relevante consuetudo begründen. 184 Auf dem Gebiet des Völkerrechts hat insbesondere Karl der Problematik vertragsändernder Interpretation intensive Aufmerksamkeit gewidmet. 185 Bereits bei der gewöhnlichen Auslegung folge aus der Unsicherheit des Erkenntnisvorgangs eine Änderung eines als gegeben vorgestellten Norminhaltes, indem der Interpret in seine Entscheidung subjektive Momente und die Wertung neuartiger Zusammenhänge einfließen lasse. Insofern handelt es sich allerdings um ein allgemeines, erkenntnistheoretisches Problem, das mangels wesentlicher Besonderheiten jedenfalls hier vernachlässigt werden kann. Führt die von den (klassischen) Auslegungsregeln geleitete Rechtserkenntnis demgegenüber zu keinem Ergebnis, liegt etwa konkret keine Regelung vor oder hängt die Anwendung einer Norm von einer Ergänzung oder einer den Wortlaut sprengenden Erweiterung ab, besteht eine Lücke, die der Ausfüllung bedarf. 186 Keine Lücke im Rechtssinne existiert allerdings dann, wenn in der vorgenannten Konstellation ein „beredtes", „plangemäßes" Schweigen der Vertragspartner zum Ausdruck kommt; dessen Mißachtung durch Ausfüllung der vermeintlichen Lücke bedeutet unzulässige Rechtsänderung. 187 Im übrigen kann die Lükkenfüllung - etwa im Wege der Analogie oder unter Berücksichtigung anderer Rechtsquellen - zumeist noch den Regeln der Rechtserkenntnis unterstellt werden. 188 Verläßt sie hingegen den Bereich der Rechtserkenntnis, liegt eine, wenngleich zumeist nicht offen zu Tage tretende Rechtsänderung vor. Dann muß untersucht werden, ob es insoweit eine Lückenfüllungskompetenz des

182

Vgl Auweiler, a.a.O., S. 117. Zum deutschen Staatsrecht Stern, das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, § 5 III 2, S. 161. 183

184 Siehe zum Verhältnis zwischen Verfassungswandel und gewohnheitsrechtlicher Vertragsfortbildung auch 3. Kap. I. 2. b) bb). 185 Karl, in: Schreuer, Autorität und internationale Ordnung, S. 9 ff.; ders., Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht; ders., in: Ress/Bieber (Hrsg.), Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 81 ff. 186 Karl, in: Schreuer, Autorität und internationale Ordnung, S. 9 (18 ff.). 187 188

Vgl. Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 40 ff. (43 f.).

Karl, a.a.O.; siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 305 f.

134

1. Teil: Grundlagen

(zumeist gerichtlichen) Interpreten gibt, 1 8 9 denn in diesem Falle handelte es sich ungeachtet damit verknüpfter Aspekte der Verbandkompetenz supranationaler Gemeinschaften und internationaler Organisationen um eine (ausnahmsweise) legale Rechtsschöpfungskompetenz. Auch die sogenannte förmliche authentische Auslegung durch die Vertragsparteien in Form einer nachfolgenden Vereinbarung über die Auslegung eines Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen, vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK, läßt sich von der Vertragsänderung kaum abgrenzen. 190 Da und soweit mit der eigentlichen authentischen Auslegung durch die Vertragsparteien „bisher offene Möglichkeiten der Sinngebung ausgeschlossen werden", vollzieht sich auch in ihr zumeist eine Vertragsänderung, eine Änderung des Inhaltes der Verträge. 191 Eine Unterscheidungsmöglichkeit besteht jedoch darin, daß der Rahmen möglicher Vertragsinhalte nicht gesprengt bzw. die Vertragsänderung zusätzlich auch durch Vertragsziele und Vertragswortlaut nicht begrenzt ist. 192 Speziell im Hinblick auf die spätere Praxis muß in diesem Zusammenhang193 grundlegend zwischen ihrer Funktion als Auslegungsfaktor 194 und ihrer Wirkung als Vertragsgestaltungsgrund unterschieden werden. 195 Die

189

Karl, a.a.O., S. 21 f.; vgl. zur dogmatischen Einordnung des Art. 308 EGV bereits oben II. 4. 190 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 775; Ress, in: ders./Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1987, S. 49 (64 f.). 191 Karl, in: Schreuer, Autorität und internationale Ordnung, S. 9 (18 ff). 192 Ress, in: ders./Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 49 (65). 193 Zur authentischen Auslegung durch spätere Praxis Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 206 ff. 194 Siehe bereits Rudolf Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 126 ff., speziell zu internationalen Organisationen S. 168 ff. Im Rahmen der Auslegung läßt sich dabei erneut differenzieren. Ein subjektiver Aspekt, der Karl (a.a.O., S. 141 ff.) zufolge seinerseits zwei verschiedene Komponenten enthält, vermittelt indiziell den Willen der Vertragsparteien bei Vertragsschluß, vor allem aber im Lichte eines dynamischen Vertragsverständnisses auch die aktuelle Auffassung der Parteien; eine allzu historisierende Deutung wird insofern abgelehnt (Karl, a.a.O., S. 139 ff, 143 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 115, 117 f.). Darüber hinaus entfaltet die spätere Praxis auch als objektive Größe Bedeutung für die Auslegung. Als Ausdruck der Vertragswirklichkeit kann die spätere Praxis dabei zu einem Bedeutungswandel führen (Bernhardt, a.a.O., S. 169; Karl, a.a.O., S. 165 ff.; Anweiler, a.a.O., S. 115), Präzedenzwirkung entfalten und schließlich die Gleichförmigkeit der Vertragsanwendung gewährleisten (Karl, a.a.O., S. 170 ff, 177 ff.). 195

Zu Ansätzen bereits Rudolf Bernhardt, S. 122 ff., 195 ff., 353 ff.

a.a.O., S. 131 f.; ferner Karl, a.a.O.,

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

135

W V K spricht von der späteren Praxis grundsätzlich im Zusammenhang mit der Auslegung, vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. b; sie schließt aber nicht aus, daß die spätere Praxis auch eine Vertragsänderung bewirken kann, wie sich u.a. per argumentum a fortiori bereits aus der Möglichkeit ein vernehmliche Vertragsbeendigung nach Art. 54 lit. b W V K ergibt. 196 Vor allem bei „offener Vertragswidrigkeit" kann sich die ggf. zu einer Vertragsänderung führende spätere Praxis dogmatisch in Form eines stillschweigenden Auslegungs - bzw. Änderungsvertrages oder in Form (partikularen und) derogierenden Gewohnheitsrechts manifestie197

ren. Ob diese letztgenannte Art der Vertragsänderung auch angesichts primärer europarechtlicher Revisionsklauseln noch völkerrechtlich zulässig ist, bildet einen wesentlichen Punkt der Betrachtung im Zusammenhang mit der Behandlung der Art. 48 und 49 EUV. 1 9 8 Der EuGH hat in der Entscheidung Defrenne I I ] " die Berufung auf einvernehmliches Handeln der Mitgliedstaaten zu Vollzug und Durchführung des Art. 119 EGV a.F. nicht einmal unter Auslegungsgesichtspunkten herangezogen bzw. für zulässig erachtet; das vertragliche Revisionsverfahren dürfe insofern nicht umgangen werden. Damit wird der späteren Praxis unions- und gemeinschaftsintern im Grundsatz keine Auslegungsund vor allem keine Änderungsrelevanz beigemessen.200 Änderungen sind nur in dem dafür vertraglich vorgesehenen Verfahren zulässig. 201 Im Hinblick auf die Auslegungsrelevanz wird überdies kaum bestritten, daß sich die gemeinschaftsrechtlich-autonomen Interpretationsmethoden gegenüber den Auslegungsregeln des (allgemeinen) Völkerrechts weitgehend durchsetzen. 202 Während das Völkerrecht im Rahmen der Vertragsauslegung vornehmlich auf den Parteiwillen ausgerichtet ist und entsprechend seiner konsensualen Prägung auch die Zusammenhänge im Hinblick auf die Äußerung der Intention und Praxis der Vertragsstaaten umfassend einbezieht, steht im Rahmen der Ausle-

196 Karl, a.a.O., S. 357, 368 f., 373 f.; in diese Richtung auch Ress, in: ders./Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 49 (65). 197 Karl, a.a.O., S. 248 ff., 268 ff; ders., in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 81 (92 f.). 198

Siehe 3. Kap. I. 2. a) - e).

199

EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 (475 Rdnr. 34; 478 Rdnrn. 56 ff.). 200 Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 8. 201 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 119 (120). 202

Vgl. etwa Sorensen, in: FS Kutscher, S. 415 (432).

136

1. Teil: Grundlagen

gung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH verstärkt der systematische, vor allem aber der teleologische Ansatz im Vordergrund. 203 Die Rechtsprechung des EuGH zur Berücksichtigung der späteren Praxis insgesamt präsentiert sich dennoch uneinheitlich. 204 Es läßt sich feststellen, daß der Gerichtshof den möglichen Einfluß der späteren Praxis sowohl der Organe 2 0 5 als auch der Mitgliedstaaten 206 im Rahmen der Auslegung durchaus in Erwägung gezogen 207 hat. Andererseits wurde im Falle einer als relevant erachteten Praxis das bereits durch andere Auslegungsmethoden vorgezeichnete Ergebnis untermauert, 208 der späteren Praxis hingegen in keinem Fall Beach-

203

Siehe etwa Léotin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 818 f.; Stein, in: FS der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 619 (625). 204

Siehe auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 119. Vgl. EuGH, Urt. v. 11.12.1970, Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 (1170 Rdnr. 6); zur Notwendigkeit der Kongruenz von Organpraxis und der Praxis der Mitgliedstaaten siehe EuGH, Urt. v. 10.2.1983, Rs. 230/81 (Luxemburg/Parlament), Slg. 1983, 255 (288 f. Rdnm. 43 ff.). Siehe femer EuGH, Urt. v. 23.2.1988, Rs. 68/86 (Vereinigtes Königreich/Rat), Slg. 1988, 855 (898 Rdnr. 24); Gutachten 1/94 v. 15.11.1994 (GATT: GATS und TRIPS), Slg. 1994, 1-5267 (5403 Rdnr. 52), jeweils zur Praxis des Rates; sowie Urt. v. 9.8.1994, Rs. C-327/91 (Französische Republik/Kommission), Slg. 1994, 1-3641 (3677 Rdnr. 36) zur (möglichen) Praxis der Kommission. 205

206 Siehe EuGH, Urt. v. 16.12.1960, Rs. 6/60 (Humblet/Belgischer Staat), Slg. 1960, 1162 (1193 f.); Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 (473 Rdnm. 14/ 15 ff.). 207 Demgegenüber wird im Rahmen der von Ukrow (Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 120) positiv beispielhaft aufgeführten Urteile des Gerichtshofs [v. 23.4.1986, Rs. 294/83 (Les Verts/Europäisches Parlament), Slg. 1986, 1339 (1365 Rdnm. 23 ff.); v. 22.5.1990, Rs. C-70/88 (Europäisches Parlament/Rat), Slg. 1990, I2041 (vgl. S. 2071 ff. Rdnm. 12 ff., 26 f.)] nicht deutlich, inwiefern die „Anreicherung des Kompetenzkataloges des Europäischen Parlaments" bzw. die „Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts zugunsten des Europäischen Parlaments" konkret Ausdruck einer nachträglichen Praxis ist und nicht etwa Beklagtenfähigkeit bzw. Entwicklung der Aktivlegitimation allein die „Schließung einer Rechtslücke" darstellt bzw. ob nicht erst aufgrund der zunehmend durch Vertragsänderung verliehenen Befugnisse erst ein zu überwindender Wertungswiderspruch entstanden sei. 208 EuGH, Urt. v. 11.12.1970, Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 (1170 Rdnr. 6); EuGH, Urt. v. 16.12.1960, Rs. 6/60 (Humblet/Belgischer Staat), Slg. 1960, 1162 (1193 f.); siehe auch Stein, in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 113 (127 ff.).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

137

tung geschenkt, die zu einem Rückschritt der Integration geführt hätte, 209 und diese Praxis als Änderungs- bzw. Gestaltungsgrund verworfen, denn letztere berührte den Anwendungsbereich der Art. 48 EUV vorbehaltenen formellen Vertragsänderung und wäre damit unions- bzw. gemeinschaftsrechtlich unwirksam. 210 Das zuletzt genannte Argument entspricht dem Haupteinwand einer restriktiven Auffassung in der Literatur, der zufolge der späteren Praxis überhaupt keine Bedeutung zukommt, 211 wenngleich sich der Einwand unter der vom Gerichtshof enger gezogenen Auslegungsrelevanz entkräften und betreffend die Änderungsrelevanz jedenfalls eine - vom Anwendungsbereich des Art. 48 EUV bestimmte - Grenze ausmachen läßt. Auch in diesem Zusammenhang wird aber an den Grundfesten der Union gerüttelt, indem erneut die formlose Änderbarkeit der Verträge zur Diskussion steht. Im Hinblick auf eine Erklärung in der Schlußakte des Unionsvertrages von Maastricht 212 wird vereinzelt von einer authentischen Vertragsauslegung bei Vertragsschluß (vgl. Art. 31 Abs. 2 lit. a WVK) gesprochen, soweit dort auf die „Grundsätze ... in der AETR-Rechtssache" verwiesen wird. 2 1 3 Allerdings erscheint fraglich, ob die Anerkennung dieser Grundsätze bereits deren exklusive Festschreibung bedeutet. Im übrigen liegt der „Geltungsgrund" der autoritativen Bindung an diesen Vertragsinhalt zuvorderst in der Rechtsfortbildung durch den EuGH. Ferner erlangte die Konsentierung selbst als gemeinsame Erklärung keinen primärrechtlichen Rang. Im Hinblick auf die von der Jurisdiktionsgewalt des EuGH nicht erfaßten Teile des EUV, vgl. Art. 46 EUV, können die Regeln zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge jedenfalls eher Bedeutung entfalten.

209

Stein, in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 113 (131 f.); Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 276 f. 210 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 (478 Rdnr. 56/58); vgl. auch Rudolf Bernhardt, in: FS Kutscher, S. 17 (21). 211 Siehe Rudolf Bernhardt, in: FS Kutscher, S. 17 (21), Slynn, in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 137 ff. (145), unter Hinweis auf differierende Auswirkungen bei Verträgen mit Drittstaaten; dazu Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 272 f.; unter Auslegungsgesichtspunkten Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (104); für eine stärkere Berücksichtigung der Organpraxis Bleckmann, S. 239 (242); zustimmend im Hinblick auf eine Berücksichtigung der Praxis der Vertragsstaaten, nicht aber staatenunabhängiger Organe Mittmann, Die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 120 ff. (213 f.). 2.2 2.3

Erklärung Nr. 10 zu Art. 109, 130 rund 130 y EGV a.F., BGBl. 1992 II, S. 1320. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1703.

138

1. Teil: Grundlagen

Doch auch in bezug auf die (lückenfüllende) Auslegung durch den EuGH erweist sich die Abgrenzung zwischen zulässiger Rechtsfortbildung und (unzulässiger) Rechtsschöpfung als problematisch. Dabei ist notwendigerweise vorauszuschicken, daß die in der deutschen Methodenlehre auf der Grundlage einer objektiven Auslegungstheorie überwiegend getroffene Unterscheidung zwischen Auslegung einerseits und Rechtsfortbildung 214 bzw. Lückenfüllung andererseits, als deren Kriterium vielfach der „mögliche Wortsinn" angegeben wird 2 1 5 und die sich ihrerseits in Begriffswahl, methodischer Kategorisierung und Folgendiskussion überaus mannigfaltig präsentiert, 216 kein europäisches 217 Gemeingut ist. 218 Vornehmlich die französische Doktrin faßt unter Interpretation überwiegend sowohl die Auslegung im Sinne der herrschenden Betrachtungsweise der deutschen Methodenlehre als auch die Rechtsfortbildung (vor allem im Wege der Analogie). 219 Grenzziehungen sind in der Tat schwierig, 214

Siehe Hoffmann-Becking , Normaufbau und Methode, S. 150 ff. Lorenz zufolge (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 366 ff.) sind Gesetzesauslegung und richterliche Rechtsfortbildung zwar nicht wesensverschieden, allerdings „voneinander verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens". Siehe ferner Friedrich Müller, in: FS der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 65 (68 ff.). 215

Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 23; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 141 ff. m.w.N. Vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 83 ff. 216

Vogenauer, a.a.O., S. 141 ff.

217

Auf der Ebene des Europarechts selbst käme zudem noch die Problematik der Verbindlichkeit der Verträge in mehreren Sprachen hinzu (vgl. Art. 53 EUV, Art. 314 EGV, Art. 225 EAGV), siehe dazu Hoffmann-Becking , Normaufbau und Methode, S. 297 ff.; Vogenauer, a.a.O., S. 391 f. Der EGKSV war allein in französischer Sprache verbindlich, vgl. Art. 100. 218

Siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 33. Trotz des dynamischen und evolutiven Charakters des Europarechts darf allerdings bezweifelt werden, daß Rechtsfortbildung in Form der Lückenschließung den „Normalfall" im Gemeinschaftsrecht bildet (so jedoch Anweiler, a.a.O., S. 35 ff.) Lückenfüllung kann sich jedenfalls nur im Rahmen der aktuell bestehenden Verbandskompetenz abspielen, wodurch die Bedeutung des rudimentären Charakters der „europäischen Planverfassung" durchaus relativiert wird. Vgl. zu Frankreich bzw. England Vogenauer, a.a.O., Band 1, S. 189 ff., bzw. Band 2, S. 736 ff., 869 ff. und 1134. 2,9

Siehe zu dieser Sichtweise, die durchaus Gegenstand einer kontroversen Diskussion ist, welche das begriffliche (Vor-)Verständnis der „interprétation" und in Abhängigkeit davon die Zuordnung als „méthode d'interprétation" umfaßt, Marty/Raynaud, Droit Civil, Nrn. 75 f., 130 bis; Malaurie/Aynès , Droit Civil, Nm. 974 ff., 983, 986 ff. Um eine systematische Abschichtung bemüht und gleichzeitig bedeutsame, die Kontroverse mit auslösende Autorität ist Gény , Méthode d'interprétation et sources en droit privé positif, Band 1, S. 304, 313 f.; Band 2, S. 125 f., 131. Siehe femer Léotin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 807 f.; Dänzer-Vanotti,

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

139

teilweise kaum möglich. 220 Speziell das Verfahren der Analogie zur Lückenschließung verdeutlicht die methodologischen Abgrenzungsschwierigkeiten, zumal im schmalen Bereich zwischen teleologischer Extension 221 und der Analogie sowie in Abhängigkeit davon, ob sich die Analogie auf ein eher fomal-„begriffsjuristisches" Modell oder ein solches der Interessen- oder Wertungsjurisprudenz stützt. 222 Schließlich müßte als weitere Determinante bedacht werden, wie und welche Lücken zu ermitteln sind, 223 ob sie etwa die Anwendbarkeit einer in sich unvollständigen Norm (Normlücke) 224 betrifft oder als eine dem „Plan des Gesetzgebers" widersprechende Regelungs- oder schließlich als eine zumeist aus Wertungs- oder Prinzipienwidersprüchen 225 bzw. mit Blick auf das ungeschriebene Recht erwachsende Rechtslücke besteht. 226 Der EuGH läßt eine Differenzierung häufig nicht erkennen. 227 Vor allem die Lückenschließung durch Analogie wird zwar nicht ausdrücklich, jedoch den Europarecht, Rdnr. 451; Vogenauer, RIW 1992, S. 733 (734); Schweitzer/Hummer, a.a.O., S. 289 ff. m.w.N. Im österreichischen Zivilrecht die Analogie unter Rückgriff auf § 7 ABGB und den Gleichheitssatz als zulässige Rechtsanwendung identifizierend Rüffler, JRP 2002, S. 60 (72). 220

Siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 366 ff; Vogenauer, a.a.O., S. 141 ff. 221 Zu einschränkender Auslegung, teleologischer Reduktion und Extension als Mittel der Rechtsfortbildung Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rdnr. 486. 222 Siehe Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rdnrn. 458, 476 ff. Vgl. zur Illustration vor allem Rdnr. 463, wo davon die Rede ist, wann „eine rechtsfortbildende Anwendung des Gesetzes (mit Hilfe von Analogie oder ausdehnender Auslegung)" erforderlich sein kann (Hervorhebung im Original). 223

Grundlegend Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 55 ff. bzw.

129 ff. 224

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 365.

225

Siehe Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rdnm. 472 ff.

226

Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 176 ff. 227 Offenbar wird die Abgrenzungsproblematik jedenfalls in „Grenzfällen" (noch zulässiger Rechtsfortbildung), siehe etwa EuGH, Urt. v. 31.3.1971, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, 263; siehe EuGH, Urt. v. 28.2.1984, Rs. 294/82 (Einberger/Hauptzollamt Freising), Slg. 1984, 1177 (1186 Rdnrn. 11 ff), Urt. v. 21.2.1991, verb. Rsen. C-143/88 und C-93/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG/Hauptzollamt Itzehoe; Zuckerfabrik Soest GmbH/Hauptzollamt Paderborn), Slg. 1991, 1-415 (542 Rdnrn. 26 ff.); Urt. v. 19.11.1991, verb. Rsen. C-6/90 und 9/90 (Francovich u.a./Italienische Republik), Slg. 1991, 1-5357 (5413 Rdnrn. 31 ff); zu den letztgenannten Beispielen DänzerVanotti, RIW 1992, S. 733 (738 ff.). Siehe ferner zum Primärrecht EuGH, Urt. v. 11.12.1973, Rs. 120/73 (Lorenz GmbH/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1973, 1471 (1481 f. Rdnrn. 4, 6); Urt. v. 23.4.1986, Rs. 294/83 („Les Verts"/Parlament), Slg. 1986, 1339 (1365 f. Rdnm. 24 f.); zum Sekundärrecht Urt. v. 20.2.1975, Rs. 64/74 (Reich/Hauptzollamt Landau), Slg. 1975, 261 (268 Rdnrn. 2 ff.), und Urt. v. 12.12.1985,

140

1. Teil: Grundlagen

Umständen entnehmbar ohne weiteres als Auslegungsmdhoàz betrachtet. 228 Im Hinblick auf die Problematik der Vertragsrevision bedarf es insofern jedoch keiner „internen" Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung, die zudem - quasi „wesensgleich" - „bruchlos" ineinander übergehen. 229 Jedenfalls bedeutet etwa „Auslegung" i.S.d. Art. 234 lit. c EGV auch Lückenschließung. 230 Primärrechtliche Beispiele für eine lückenschließende Rechtsfortbildung 231 bilden die allgemeinen Rechtsgrundsätze, vor allem in Form der Gemeinschaftsgrundrechte, der außervertraglichen Haftung oder auch des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts. 232 Für die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung wird zum Teil auch danach unterschieden, ob das vertragliche Primärrecht selbst als „Gesetz" bzw. „Plan" oder aber als übergeordnete Gesamtrechtsordnung anzusehen sei, die durch „Pläne" bzw. „Gesetze" in Form weniger unmittelbar anwendbarer Vorschriften des Primärrechts sowie durch das ausfüllende Sekundärrecht konkretisiert werde; in diesem Fall sei ggf. Rechtsfortbildung contra legem, aber intra ius möglich. 233 Die als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Prinzipien vom Vorrang bzw. Vorbehalt des Gesetzes prägten dabei die Lückenfeststellung dahingehend, daß „rechtspolitische Feh-

Rs. 165/84 (Krohn/Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1985, 3997 (4019 Rdnm. 23 ff.). 228 Zuleeg, EuR 1969, S. 98 (105); Bleckmann,, NJW 1982, S. 1177 (1181); zum Analogieschluß in der Rspr. des EuGH ausführlich Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 123 ff. m.w.N.; femer Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 164 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 366, 394 f. 229

Siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 366 ff. m.w.N.; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 267; Potacs, a.a.O., S. 41 f.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 32 f. m.w.N. 230 Dazu Krück, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 177 EGV Rdnr. 38; Anweiler, a.a.O., S. 40 f.; kritisch Mittmann, Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 232 ff. 231

Eingehend zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung praeter und auch contra legem Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 395 ff. 232 Siehe Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 195; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 277 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 333 ff.; siehe femer, insbes. zur Methode der Lückenfüllung, Hatje, in: Hommelhoff/Helms, Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, S. 247 (249 ff., 254 ff.). 233 Stein, in: FS der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 619 (628 ff.).

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

141

1er" klar ausschieden und die Lücke positiv spezifischer Feststellung bedürfe, die sich am konkreten Integrationsstand orientiere. 234 Noch unberücksichtigt blieben bisher allerdings die grundsätzliche Befugnis zur bzw. die Rechtfertigung der Rechtsfortbildung sowie der Grenzen 235 , mit denen die Schwelle zur „rechtsetzenden", unzulässigen Rechtsänderung bzw. zur Revision des Primärrechts etabliert wird. Anknüpfungspunkt im Gemeinschaftsrecht bilden insofern die diesem zugrunde liegende Kompetenzordnung sowie (demokratie-)theoretische Legitimationserwägungen. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung leitet sich grundsätzlich aus dem in Art. 220 Abs. 1 EGV verbürgten Auftrag zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und - entsprechend der eigenständigen Erwähnung im Wortlaut - der Anwendung des Vertrages ab. 236 Sie wird durch die institutionelle, quasi-verfassungsrechtliche Einrichtung des EuGH in Verbindung mit der auf der gemeinsamen Tradition der Mitgliedstaaten basierenden Entscheidungsfindung verbürgt. 237 Die Befugnis des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung ist grundsätzlich auch vom BVerfG und insgesamt in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Mitgliedstaaten 238 anerkannt worden. 239 Insofern kommt es bei einem entsprechend weiten Begriff der Auslegung ausschließlich auf die Grenzen der Rechtsfortbildung an, ohne daß die Unterscheidung zwischen Aufgabe und Kompetenz zur Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung schlechthin führen könnte; 240 denn es geht nicht um eine 234

Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 103 f.

235

Dazu insgesamt, Ukrow, a.a.O., S. 152 ff; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 398 ff. 236 Vgl. in diesem Zusammenhang als explizite Kompetenznorm für die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Bereich der außervertraglichen Haftung der EG Art. 288 Abs. 2 EGV; siehe ferner Art. 6 Abs. 2 EUV. Zu Art. 220 EGV als Kompetenzgrundlage etwa Schockweiler, EuR 1995, S. 191 (194 ff.); Ukrow, a.a.O., S. 90 ff.; Christoph Wolf Die Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik für Verstöße gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht (EGV), S. 77. Siehe darüber hinaus bereits das Urt. des EuGH v. 12.7.1957, verb. Rsen. 7/56 und 3/ 57 - 7/57 (Algera u.a./gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, 83 (118), der zufolge der Gerichtshof zur Entscheidung verpflichtet sei, „um sich nicht dem Vorwurf einer Rechtsverweigerung auszusetzen". Dezidiert kritisch in Richtung einer Überschreitung der Zuständigkeit zur Wahrung und Auslegung des Rechts im Urteil Francovich [v. 19.11.1991, verb. Rsen. C-6/90 und 9/90, Slg. 1991, 1-5357 (5413 Rdnrn. 31 ff.)] Ossenbühl, DVB1. 1992, S. 993 (995 ff.: „Rechtsfortbildung in ihrer reinsten Form"). 237 238

Siehe Everling, JZ 2000, S. 217 (221 f.).

Siehe Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 96 ff. BVerfGE 89, 155(209). 240 In diese Richtung Mittmann, Die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 239

142

1. Teil: Grundlagen

im Einzelfall zu gestattende Eingriffsermächtigung durch ein Organ, sondern ein auf die Rechtsfortbildung als Auslegungsmethode zur Lückenfüllung gerichtetes Tätigwerden zur Gewährung von Rechtsschutz, insbesondere also eine funktionelle Rechtfertigung. 241 Dabei kommt vor allem der Wahrung der Organkompetenzen horizontal Grenzfunktion zu. 2 4 2 Konkretisierend wird hierbei in erster Linie das Verbot gesetzeskorrigierenden Richterrechts und der Ausfüllung politischer Lücken genannt; 243 vermeintlich paradox liegen Grenzen und prinzipielle Rechtfertigungsansätze im - sehr strittigen - Fall einer Rechtsverweigerung 244 und der Notfallsituation für gesetzesvertretendes Richterrecht 245 eng beieinander. Darüber hinaus muß „vertikal" auch die „Verbandskompetenz" 246 gewahrt bleiben: Abgesehen von der Beschränkung auf die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts muß insofern nicht nur über die Einhaltung des Prinzips der begrenzten (Einzel-)Ermächtigung unter dem Gesichtspunkt eines sachbereichsbezogenen Handelns des Gemeinschaftsgesetzgebers judiziert werden. Die ausnahmsweise zulässige Rechtsfortbildung findet ihrerseits in den der Gemeinschaft im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten gewiesenen Kompetenzen ihre Grenzen. Selbst wenn danach der zulässigen judiziellen Rechtsfortbildung angesichts ihrer faktischen, für die Zukunft fortwirkenden und autoritativen Bindung eine gewisse ändernde, besser ergänzende 247 Wirkung in bezug auf den Vertragsin241

Siehe bereits Hoffmann-Becking , Normaufbau und Methode, S. 344 ff.

242

Siehe Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 198 ff.; vgl. auch Christoph Wolf, Die Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik tür Verstöße gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht (EGV), S. 78. 243 Zur begrenzten Eignung, Rechtfertigung und Handhabbarkeit einer gemeinschaftseigenen „political question"- Doktrin im Hinblick auf eine Restriktion der Rechtsfortbildung allerdings Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 205 ff. 244

EuGH, Urt. v. 12.7.1957, verb. Rsen. 7/56 und 3/57 - 7/57 (Algera u.a./gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, 83 (118); H offmann- Becking, Normaufbau und Methode, S. 342 ff. 245 Dazu Dänzer-Vanotti, RIW 1992, S. 733 (736 ff.), ders. in: FS Everling, S. 205 (216 ff.); siehe auch Stein, in: FS der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 619 (626 ff.). 246

Dazu Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 216 ff.; vgl. auch Christoph Wolf, Die Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik für Verstöße gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht (EGV), S. 78; Everling, JZ 2000, S. 217 (225 ff.). 247 Léotin-Jean Constantinesco (Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 190 f.) ordnet die „rechtsschöpferische und ergänzende Auslegung der Verträge" explizit unter dem Gesichtspunkt der Vertragsrevision ein, fälschlicherweise allerdings

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

143

halt nicht abgesprochen werden kann, so sind die Grenzen damit hinreichend skizziert. Der richterlichen Rechtsfortbildung durch den EuGH, die sich durchaus als Sonderfall auslegungsorientierter, 248 Vertrags- bzw. gesetzes-immanter Revision verstehen ließe, soll nur im Fortgang nur gelegentlich beleuchtet werden. 249

3. Ergänzung Wie unter 1. angedeutet, bildet auch die Ergänzung des Primärrechts einen Unterfall der Revision. Auch diesbezüglich ist jedoch zwischen verschiedenen Varianten zu unterscheiden, denn nicht jede läßt sich als eine Revision des Primärrechts begreifen. Einer entsprechenden Qualifikation steht allerdings nicht bereits entgegen, daß der die Ergänzung hervorrufende Vertrag ebenso völkerrechtlichen Ursprungs ist wie das vertragliche Primärrecht selbst. In jedem Falle einen Revisionstatbestand begründet auch die textuelle Erweiterung des Wortlauts ohne in der Folge erzeugte Normwidersprüche. Durch sie wird die zugrundeliegende Bestimmung mindestens unter formalen Gesichtspunkten ge- bzw. verändert. Dies wird in aller Regel mit einer inhaltlichen Erweiterung der Norm um neue Gehalte einher gehen. Insgesamt bedarf die Ergänzung des primärrechtlichen Normenbestands um neue Regelungen einer differenzierenden Betrachtung. Wird das bestehende Vertragsrecht formell um neue Rechtssätze erweitert, läßt sich ohne weiteres von einer Revision des Primärrechts im weiteren Sinne sprechen. Erzeugen die Mitgliedstaaten der EU hingegen bewußt außerhalb des Unions- und Gemeinschaftsrechts begleitende oder parallele völkerrechtliche Rechtssätze, so ist jedenfalls im Hinblick auf das Primärrecht und vorbehaltlich formeller Legalität - grundsätzlich von zwei verschiedenen Rechtsbereichen auszugehen. Häufig dienen völkerrechtliche Vereinbarungen einer vorbereitenden Vertiefung der Integration (vgl. im Hinblick auf das Unionsrecht die Entwicklung der EPZ als Vorläufer der GASP). 250 Vielfach handelt es sich dabei auch um Abkommen, die lediglich innerhalb einer Gruppe von Mitgliedstaaten als „externe", ebenso die Anwendung der implied powers Theorie (nach der die - wenngleich ungeschriebenen - Kompetenzen bereits Vertragsinhalt sind) und das Vorgehen nach Art. 308 EGV; zu letzterem siehe oben II. 4. 248

Die Feststellung einer planwidrigen Lücke muß unzweifelhaft das Ergebnis einer Auslegung sein. 249

Vgl. 3. Kap. I. 2. e). Die EPZ wurde 1973 vereinbart und auch bei Aufnahme in die EEA 1986 zunächst noch rein völkerrechtlich festgeschrieben; dazu Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 1807. 250

144

1. Teil: Grundlagen

„kooperative Differenzierungen" 251 getroffen worden sind. Die „Ergänzung" primären Unions- und Gemeinschaftsrechts durch parallele, völkerrechtliche Regelungen führt jedenfalls bei Widerspruchsfreiheit 252 mangels Gefahr einer Derogation durch die nachfolgenden Bestimmungen nicht zu einer Revision des Primärrechts in der EU. Ein wichtiges Beispiel ergänzenden Völkerrechts bildete - vor seiner Einbindung in den institutionellen und rechtlichen Rahmen der Europäischen Union - der sog. Schengen-Besitzstand, also insbesondere das Schengener Übereinkommen und das Durchführungsübereinkommen einschließlich der dazu jeweils vereinbarten Beitrittsprotokolle und -übereinkommen mit den dazugehörenden Schlußakten und Erklärungen. 253 Mit der Einbeziehung in den Rahmen 254 der Union durch den Amsterdamer Vertrag wurde allerdings „eine primärrechtlich zugelassene Form der engeren Zusammenarbeit bestimmter Mitgliedstaaten" 255 geschaffen; die Bestimmungen finden auf Irland und das Vereinigte Königreich keine Anwendung. 256 Insbesondere völkerrechtliche Verträge auf der Grundlage des Art. 293 EGV, die ihrerseits nicht dem primären Vertragsrecht zuzuordnen sind, 257 flankieren zwar das Primärrecht im Hinblick auf die Ziele von Union und Gemeinschaften, lassen jedoch den Normbestand des Unions- oder Gemeinschaftsrechts unberührt und führen in aller Regel nicht zu einer Normenkonkurrenz. Die Ergänzung besteht dann in der sachlichen, am Regelungsgegenstand orientierten Erweiterung des die supranationale Rechtslage prägenden Normbestands um parallele, völkerrechtliche Bestimmungen. Es läßt sich insofern von Ver-

251

Becker, EuR, Beiheft 1/1998, S. 29 (35).

252

Diese beurteilt sich insbesondere auch danach, ob die Mitgliedstaaten unter Inanspruchnahme ihnen noch verbliebener Kompetenzen handeln. 253 Siehe dazu das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union, ABl. 1997, Nr. C 340, S. 90; zur Einbeziehung als solcher vgl. Art. 1; vgl. zur Definition des Schengen-Besitzstandes, der neben den oben genannten Rechtsakten auch die Beschlüsse und Erklärungen des durch das Durchführungsübereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses sowie organschaftliche Rechtsakte aufgrund der dem Exekutivausschuß übertragenen Entscheidungsbefugnisse zur Durchführung des Übereinkommens umfaßt, den Anhang zum Protokoll. 254

Bis der Rat die zur Durchführung der Anwendbarkeit erforderlichen Maßnahmen beschlossen, d.h. die Rechtsgrundlage für jede Bestimmung und jeden Beschluß des Schengen-Besitzstandes festgelegt hat, gelten die vorgenannten Rechtsakte als Teil der im Rahmen der PJZS erlassenen Rechtsakte, Art. 2 Abs. 1 UAbs. 2 und 4 des Protokolls. 255 Hilf/Pache, NJW 1998, S. 705 (708). 256 Vgl. die Präambel, Art. 1 und 4 des Protokolls. Vgl. für Dänemark Art. 5 des Protokolls (Nr. 5) über die Position Dänemarks, ABl. 1997 Nr. C 340, S. 101 (102). 257

Vgl. oben 1. Kap. II. 4.

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

145

einbarungen praeter constitutionem sprechen. 258 Doch auch eine derartige sachliche Ergänzung wäre dann als Vertragsänderung den Regeln der Revision des Primärrechts zu unterstellen, wenn man davon ausgeht, der Anwendungsbereich des Art. 48 EUV sei auch ohne Widerspruch zu den vertraglichen Grundlagen des Unions- und Gemeinschaftsrechts eröffnet, 259 etwa immer dann, wenn sich die geplante Regelung im Bereich der Vertragsziele befindet. Die Entstehung von (ergänzendem) Völkerrecht sei daher bereits bei sachlichem Zusammenhang nur bzw. zugleich eine Folge der mangelnden Beachtung des Änderungsverfahrens. 260 Das ist zunächst allerdings nur dann richtig, wenn Art. 48 EUV unter Einschluß der völkerrechtlichen Perspektive keine exklusive Geltung beigemessen wird, denn anderenfalls könnte kein „ergänzendes" Völkerrecht mehr entstehen. Darüber hinaus müßte im Kern jedoch überhaupt eine Erweiterung des Primärrechts vorliegen, d.h. das (vertragliche) Primärrecht den Revisionsgegenstand bilden. Bestand und Inhalt der Rechtsnorm einer Rechtsordnung bleiben als solche jedoch auch dann unverändert, wenn sie im Rahmen einer anderen Rechtsordnung durch parallele Normen mit Blick auf einen gemeinsamen Sachbereich der Regelungen ergänzt werden und damit eine Komplettierung der international geformten Rechtslage insgesamt einher geht, eine Normenkonkurrenz 261 gleichwohl nicht gegeben ist. Das bedeutet zugleich, daß das Primärrecht Raum für völkerrechtliche Regelungen läßt, soweit sie das Primärrecht und insbesondere das von ihm geregelte Institutionengefüge nicht beeinträchtigen. 262 Hier muß auch nach europarechtlichen Vorgaben nicht 258

Zu den uneigentlichen Ratsbeschlüssen contra und praeter conventionem LéotinJean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 547, sowie im folgenden. 259

Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 7. Damit ist offenbar nicht nur der echte Normwiderspruch im Sinne einer Antinomie der Rechtsfolgen, sondern bereits die Situation einer Normenkonkurrenz gemeint (siehe dazu auch Fußn. 261). Überdies bestehen keine gesicherten Regeln zur Auflösung konkurrierender europa- und völkerrechtlichen Normen als Scheinkonflikte im Wege einer Abgrenzung der jeweiligen aktuellen Geltungsbereiche. Die derogationsspezifische Anwendung des (völkerrechtlichen) lex posterior- Grundsatzes führte bereits zu einer Änderung des Primärrechts. 260

Vedder/Folz, a.a.O. Zum Begriff der Normenkonkurrenz Wilting , Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, S. 3 ff.: sie ist dadurch gekennzeichnet, daß mindestens zwei Rechtssätze bei mindestens teilweiser Überschneidung ihrer Anwendungsbereiche infolge jeweils einschlägiger Interpretation sowie bei gleichzeitiger Identität der Rechtsverhältnisse denselben Lebenssachverhalt als Entscheidungsnormen erfassen. 261

262 Vgl. EuGH, Gutachten 1/92 v.10.4.1992 (EWR II), Slg. 1992, I 2821 (2843 Rdnr. 32); auch „kann ein von der Gemeinschaft geschlossenes internationales Abkommen ihm [dem Gerichtshof] neue Zuständigkeiten zuweisen, sofern dadurch nicht die Aufgabe des Gerichtshofes, wie sie im EWG-Vertrag ausgestaltet ist, verfälscht wird."

1. Teil: Grundlagen

146

zwingend primäres Unions- oder Gemeinschaftsrecht entstehen.263 Entschiede man anders, mtißte etwa der Erlaß des Gemeinschaftspatentübereinkommens 264 wegen Nichtbeachtung des Art. 236 EWGV als Tatbestand einer Vertragsverletzung gewürdigt werden. Eine in der Sache dem Europarecht nicht widersprechende, völkerrechtliche Ergänzung führt infolge dessen nicht zu einer Revision des Primärrechts. Anderer Beurteilung unterliegt demgegenüber eine völkerrechtliche „Ergänzung" durch die Mitgliedstaaten, welche zu einem Normwiderspruch führte, weil sie einer primärrechtlichen Norm entgegensteht oder ein Sachkomplex primärrechtlich bereits erkennbar abschließend geregelt bzw. in die gemeinschaftsrechtliche Verbandskompetenz überführt worden ist. Aus europarechtlicher Perspektive bleibt dann weder Raum für Veränderungen der primärrechtlichen Rechtslage noch für ein „Ausweichen" in das Völkerrecht, durch das eine primärrechtliche Norm als abgeändert oder aufgehoben angesehen oder ihr Geltungsbereich in Frage gestellt oder im Wege einer Abgrenzung beider Geltungsbereiche auch nur eingeschränkt würde. Mit solchen völkerrechtlichen Ergänzungen wird letztlich eine Derogation des Primärrechts verfolgt. Wenn das Europarecht jedoch einer entsprechenden Normerzeugung die Anerkennung versagt, könnten in der Sache „ergänzende" Normen in Abhängigkeit von der Reichweite und der Exklusivität 265 europarechtlicher Revisionsregeln allenfalls im Rahmen der Völkerrechtsordnung wirksam entstehen. Gleichwohl bliebe das Revisionsvorhaben der Mitgliedstaaten inhaltlich und jenseits einer bewußten Umgehung gemäß ihrer Intention nach wie vor auf eine Änderung des Primärrechts gerichtet, der allerdings die verfahrensrechtliche Anerkennung versagt bliebe und die lediglich angesichts dieser Formwidrigkeit im Ergebnis zur „Ergänzung" primären Europarechts durch Völkerrecht führte, ungeachtet der Frage, ob und inwieweit darüber hinaus kompetentielle Grenzen bzw. die mangelnde Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts einer Revision ohnehin Schranken ziehen. In Fällen derartiger „Ergänzungen" contra constitutionem bildet das Primärrecht jedenfalls inhaltlich den Gegenstand der Revision, so daß diese Konstellationen einen theoretisch bedeutsamen Ausschnitt der Revisionsproblematik markieren. Gleiches gilt insbesondere für Parallelabkommen im Rahmen einer noch nicht ausgeübten Gemeinschaftskompetenz

Siehe auch EuGH, Gutachten 1/00 v.18.4.2001 (GELR), Slg. 2002, 1-3493 (3519 Rdnrn. 6 ff.) zur Wahrung der „Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung". 263 Vgl. Meng,, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 99. 264 ABl. 1976 Nr. L 17, S. 1 ff., als Beispiel einer völkerrechtlichen Ergänzung des Gemeinschaftsrechts ohne Widerspruch zu den vertraglichen Grundlagen bei Vedder/ Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 7. 265

Vgl. dazu 4. Kap.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

147

nach Art. 308 EGV. 2 6 6 Entstünde dadurch eine Normenkonkurrenz, ohne daß eine Auflösung zugunsten des Gemeinschaftsrechts seitens beider Regime akzeptiert würde, führte dies zur Änderung des Primärrechts in seinem Geltungsanspruch, von der lediglich dann nicht gesprochen werden kann, wenn der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bereits durch das parallele Vertragswerk zum Ausdruck gebracht würde. 267 Zu einer Ergänzung des Unions- und Gemeinschaftsrechts können grundsätzlich auch die zum acquis communautaire zu rechnenden 268 Beschlüsse der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen (sogenannte uneigentliche oder unechte 269 Ratsbeschlüsse) führen. Diese beruhen nicht auf organschaftlichem Handeln des Rates, sondern sind das Produkt einer in ihrer Zusammensetzung mit dem Rat identischen Staatenkonferenz der Vertreter der Mitgliedstaaten. 270 Soweit derartige Beschlüsse bereits in den Verträgen vorgesehen sind 271 , bestehen an der Gemeinschafts- oder Unionsrechtskonformität keine Zweifel; eine Änderung des Primärrechts ist mit solchen uneigentlichen Ratsbeschlüssen nicht verbunden. Die vertraglich verankerten Beschlüsse der Vertreter der Mitgliedstaaten erzeugen darüber hinaus auch kein ergänzendes primäres Gemeinschaftsrecht, wenngleich über die Rechtsnatur derartiger Beschlüsse keine Einigkeit besteht. Mit der Zuordnung zum Handlungsinstrumentarium des Gemeinschaftsrechts bzw. der Ansiedlung im Grenzbereich zwischen Völkerund Europarecht 272 ist für die Problematik der Revision des Primärrechts aller266 Die damit verbundene Problematik wird allerdings in besonderer Weise durch das Normverständnis des Art. 308 EGV bestimmt; siehe dazu näher unter II. 4. 267

Vgl. Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnm. 99 ff.

268

Vgl. Art. 4 Abs. 1 S. 1 der Beitrittsakte 1995, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21, Art. 5 Abs. 1 S. 1 der Beitrittsakte 2003 (Dok. AA2003/ACT/de, S. 6). 269

So Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnm. 102 ff. Von einer gewohnheitsrechtlichen Verfestigung dieses „Gemeinschaftsorgan(s) besonderer Art" spricht Kaiser, in: FS Ophüls, S. 107 (125); vgl. femer Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 472. 271 Siehe insbesondere Art. 223 UAbs. 1 EGV zur Ernennung der Richter sowie vormals Art. 214 Abs. 2 UAbs. 3 S. 2 EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam (Ernennung der Mitglieder der Kommission; diese erfolgt nun durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit). Auch Art. 48 Abs. 2 EUV zur Staatenkonferenz im Rahmen des Vertragsänderungsverfahrens wird überwiegend als Beispiel angeführt. Der (unechte Rats-)Beschluß zur Festlegung der Sitze der Organe (ABl. 1992 Nr. C 341, S.l), vgl. Art. 289 EGV, wurde mittlerweile durch das Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaften sowie des Sitzes von Europol in der Schlußakte des Vertrages von Amsterdam bestätigt und erweitert, siehe BGBl. 1998 II, S. 437. 270

272

Sichtbarer Ausdruck dieser Schnittstelle sind die in der Praxis gleichzeitig vom Rat und der Staatenkonferenz nach der „gemischten Former4 gefaßten Beschlüsse zur Ver-

148

1. Teil: Grundlagen

dings noch nichts gewonnen. Soweit die Beschlußfassungen durch die im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten im primären Vertragsrecht wurzeln, werden sie überwiegend als völkerrechtliche (Verwaltungs-)Abkommen qualifiziert, 273 während ein eher sachlich-funktional orientierter Ansatz die Zuordnung dieser Beschlüsse zum Gemeinschaftsrecht vornimmt. 274 Der Ursprung und das Rechtsregime für das Zustandekommen derartiger Beschlußfassungen sprechen hingegen für die völkerrechtliche Einordnung. Eine Zuordnung zum Gemeinschaftsrecht folgt nicht schon durch die Erklärung der Verbindlichkeit für die Beitrittskandidaten in den Beitrittsakten 275 oder der Zugehörigkeit zum acquis communautaire .276 Auch im Rahmen vertraglich vorgesehener Beschlüsse richtet sich deren Zustandekommen allein nach dem völkerrechtlichen Einstimmigkeitsprinzip und nicht nach den für den Rat vorgeschriebenen Regeln. 277 Eine Zuordnung zum Unions- und Gemeinschaftsrecht scheidet damit aus. Im übrigen wäre mit einer Qualifikation als Gemeinschaftsrecht angesichts der Qualität der dort vorgesehenen uneigentlichen Ratsbeschlüsse, mit denen keine Regelung der grundlegenden Rechtsbeziehungen sowie des Handlungsrahmens innerhalb der Gemeinschaft verbunden ist, noch keine Rangstufung als Primärrecht verbunden. Infolgedessen wird der primärrechtliche Normenbestand durch vertraglich vorgesehene uneigentliche Ratsbeschlüsse nicht ergänzt.

meidung der Unzuständigkeit als Nichtigkeitsgrund i.S.d. Art. 230 Abs. 2 EGV, vgl. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 205 EGV Rdnr. 19. 273 Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 183; Streinz, Europarecht, Rdnr. 275; Geiger, Art. 202 Rdnr. 3; Breier, in: Lenz, EGV, 2. Aufl. (1999), Vorb. zu Art. 202 210 Rdnr. 2; Obwexer, EuZW 2002, S. 517 (520). 274 Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 472. 275 Siehe etwa Art. 4 Abs. 1 S. 1 der Akte über die Bedingungen des Beitritts Österreichs, Finnlands und Schwedens (und zunächst auch Norwegens), ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21 f. 276

Vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 285. Zur inhaltlichen Bandbreite des Begriffs acquis communautaire zwischen Gemeinschafts- und Völkerrecht, Erklärungen und Prinzipien vgl. EG-Kommission, Die Erweiterung Europas: eine neue Herausforderung, Bull.EG, Beilage 3/92, S. 12, Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 49 EU Rdnrn. 79 ff.; Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 40 EUV Rdnr. 43. Siehe ferner 1. Kap. II. 5. Fußn. 177. Daß „das gesamte Primärrecht und Sekundärrecht sowie der acquis communautaire" allerdings begrifflich als eigenständige Kategorie verwendet werden ( Vedder, a.a.O.; Hervorhebung nicht im Original), erscheint zumindest mißverständlich; vgl. Oppermann, a.a.O., Rdnr. 1582; Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 2 EUV Rdnm. 14 f. 277

Siehe dazu, wenngleich allein auf außervertragliche uneigentliche Beschlüsse beschränkt, Léotin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 546 f.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

149

Gleiches gilt per argumentum a fortiori für die außerhalb der Verträge gefaßten uneigentlichen Ratsbeschlüsse. Auch diese sind ihrer Herkunft und Legitimation nach zu urteilen einerseits Übereinkommen völkerrechtlichen Ursprungs, andererseits häufig auf die Verwirklichung der Ziele der Verträge ausgerichtet und bezwecken gewissermaßen eine „über-vertragliche Beschleunigung von Integrationsschritten" 278 bzw. die Anbahnung von späteren Primärrechtsänderungen. Mangels vertraglicher Grundlage ist der Bezug zum Gemeinschaftsrecht hier allein anhand des Inhalts der Beschlüsse feststellbar. Die vorherrschende Ansicht stuft richtiger Weise auch außervertragliche uneigentliche Ratsbeschlüsse unter Betonung der Völkerrechtssubjektivität der Mitgliedstaaten wiederum als völkerrechtliche Handlungsformen ein. 2 7 9 Die Beantwortung der strittigen Frage nach der Justitiabilität uneigentlicher Ratsbeschlüsse ergibt sich letztlich erst als Konsequenz der rechtlichen Zuordnung. Bereits mangels Zuordnung zum Gemeinschaftsrecht kommt eine Ungültigkeitserklärung durch den EuGH nicht in Betracht. In einer unions- bzw. gemeinschaftsrechtswidrigen, insbesondere formwidrigen völkerrechtlichen Vertragsänderung könnte allenfalls eine Vertragsverletzung im Sinne der Art. 226 bzw. 227 begründet liegen 280 , nicht 281 aber bzw. nur unter besonderen Bedingungen spielte die Nichtigkeitsklage eine Rolle. 282 Angesichts der Qualifikation uneigentlicher Ratsbeschlüsse als völkerrechtliche Handlungsformen stellt sich die Situation nicht anders dar als bei den bereits genannten Ergänzungen völkerrechtlicher Natur: Dem Unions- und Gemeinschaftsrecht nicht widersprechende, dieses gleichwohl in gegenständlicher Hinsicht flankierende, völkerrechtliche Rechtssätze, die nicht auf die Erzeu278

Vgl. Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 469. Kaiser, in: FS Ophüls, S. 107 (121 ff.); Wagner, Grundbegriffe des Beschlußrechts der Europäischen Gemeinschaften, S. 237 ff.); Oppermann, Europarecht, Rdnr. 285. Ein Kuriosum stellt die Überbrückung der Zeit zwischen dem Ende des EGKSV und dem (verspäteten) Inkrafttreten des in Nizza vereinbarten „Protokoll(s) über die finanziellen Folgen des Ablaufs des EGKS-Vertrags und über den Forschungsfonds für Kohle und Stahl" durch den Beschluß (2002/234/EGKS; AB1.EG Nr. L 79, S. 42, berichtigt gem. ABl.EG Nr. L 196, S. 64) der im Rat vereinigten Regierungen der Mitgliedstaaten dar. Nach Ablauf des EGKSV und vor Inkrafttreten des Protokolls konnte sich der Rat nicht auf eine gemeinschaftsrechtliche Grundlage stützen; siehe auch Obwexer, EuZW 2002, S. 517 (519 f.). 279

280

Siehe noch Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV (8. EL.), Art. 146 EGV Rdnr. 17; vgl. aber nunmehr dens., a.a.O., Art. 203 Rdnr. 18. 281

Siehe EuGH, Urt. v. 30.6.1993, verb. Rs. C-181/91 und C-248 /91 (Europäisches Parlament/Rat und Kommission der Gemeinschaften), Slg. 1993, 1-3685 (3717 Rdnm. 9 ff.) mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer inhaltlichen Evaluierung und der Unmaßgeblichkeit allein der Bezeichnung. 282

Siehe 7. Kap. II. 4. a).

150

1. Teil: Grundlagen

gung neuen Primärrechts gerichtet sind, lassen sich nicht als Ergänzung im Sinne der Revisionsproblematik ansehen. Zielen uneigentliche Beschlüsse hingegen inhaltlich auf eine Änderung des primären Unions- oder Gemeinschaftsrechts, entscheiden dessen Normen über die interne Anerkennung: dabei müssen die möglichen völkerrechtlichen Wirkungen in Rechnung gestellt werden, um ein derartiges Revisionsvorhaben beurteilen zu können.

4. Gewohnheitsrechtliche

Vertragsänderung

und -ergänzung

Die Bestimmung des vertragsändernden bzw. -ergänzenden Charakters von Gewohnheitsrecht ist eng mit den theoretischen Grenzen der Auslegung verbunden. Im Völkerrecht bildet die „spätere Übung" der Vertragsparteien i.S.d. Art. 31 Abs. 3 lit. b W V K nicht nur einen Auslegungsfaktor 283, sondern kann zugleich die objektive Voraussetzung 284 für die Bildung von Gewohnheitsrecht markieren. Ein relativ statisches, an der ursprünglichen Vertragsabsicht orientiertes Auslegungskonzept erfährt letztlich durch das im Wortlaut angelegte Entwicklungspotential ein Grenzziehung. 285 Dessen Überschreitung im Wege konzeptionsfremder, wenngleich integrationsorientierter Staatenpraxis kann bei entsprechender Häufigkeit und bei Herausbildung einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung theoretisch zur Bildung vertragsändernden Gewohnheitsrechts führen. Das gilt im Recht der internationalen Organisationen auch für partikulares Völkergewohnheitsrecht. 286 Der EuGH verfolgt allerdings stets die dynamische Ausrichtung der europäischen Rechtsordnung. Neben der zuweilen wenig ergiebigen grammatikalischen und historischen Interpretation des Europarechts orientiert sich der Gerichtshof im Zuge der teleologischen Auslegung verstärkt an den Zielen der Verträge. 287 Er greift dabei insbesondere auf den effet utile zurück. Es wurde bereits erwähnt, daß der Gerichtshof die Praxis der Mitgliedstaaten bei der Auslegung weitestgehend unberücksichtigt läßt, 288 ferner, daß

283

Dazu Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 139 ff., 184 ff. Zum konstitutiven Charakter der Übung für die Bildung von Völkergewohnheitsrecht siehe oben 1. Kap. III. 2. Fußn. 127. 285 Siehe Karl, in: Ress/Bieber, Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 81 (82 f.). 286 Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, Rdnr. 1513. 284

287

Vgl. dazu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 685; Wegener , in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV Rdnm. 14 ff. 288

EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 (475 Rdnr. 34; 478 Rdnrn. 56 ff.); siehe auch Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 8.

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

151

zur „Auslegung" gemäß europarechtlicher Perspektive grundsätzlich auch die zulässige, dem EuGH unter bestimmten Voraussetzungen kompetentiell gestattete Rechtsfortbildung im oben beschriebenen Umfang zählt. 289 Doch setzt auch eine mögliche gewohnheitsrechtliche Rechtsergänzung durch die Organe bzw. die Mitgliedstaaten bereits unmittelbar jenseits der klassischen Auslegungsregeln an. Innerhalb des zulässigen, engeren Auslegungsrahmens existiert damit lediglich vertragsauslegendes Gewohnheitsrecht, wenn etwa eine Auslegungmöglichkeit als die „richtige" fixiert wird und der Auslegungsrahmen neben dem Wortlaut (wenn auch nicht über die Wortlautgrenze hinaus) vor allem auch die Ausrichtung an den Zielen des Vertrages umfaßt. 290 Derartiges vertragsauslegendes Gewohnheitsrecht intra legem 291 ist damit weder exklusiv noch an sich notwendig. 292 Eine Ergänzung oder Änderung des Primärrechts ist damit dem ersten Anschein zufolge noch nicht verbunden. Andererseits wird damit dessen „Bestandskraft" erhöht: Die Rechtsprechung darf mit der Anwendung und „Übernahme" der neuen „Auslegung" diese nicht einfach richterlich weiter fortbilden. 293 Die erneute Verschiebung der Grenze zur Revision durch Gewohnheitsrecht intra legem ist im weiteren Sinne ihrerseits als Revision anzusehen, da sie den normativen Geltungsumfang der betreffenden Bestimmungen verändert. Im Hinblick auf das vertragsauslegende Gewohnheitsrecht ließe sich demnach auch von einer vertragsändernden Interpretation intra legem sprechen. 294 Dem vertragsauslegenden Gewohnheitsrecht wird das über die Manifestation möglicher Auslegungsvarianten hinausgehende, mittelbar vertragsändernde Gewohnheitsrecht contra legem sowie vertragsergänzendes Gewohnheitsrecht extra legem 295 gegenübergestellt. 296 Bleckmann bestimmt die Grenze zwischen

289

Siehe III. 2. Bleckmann, EuR 1981, S. 101 (106 f.). 291 Zu dieser Kategorisierung (auch) im europäischen Gewohnheitsrecht - soweit erkennbar - erstmals näher Bleckmann, a.a.O. 290

292 Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 153 ff, der zugleich auf das häufige Fehlen gewohnheitsrechtsbegründenden Bewußtseins bei Gewohnheitsrecht intra legem hinweist, so daß eine „doppelte Legitimation" nicht bestehe (S. 157 f., 165), und der angesichts dessen den Hauptanwendungsbereich bei der extensiven teleologischen Auslegung ansiedelt (S. 154, 165). 293 Vgl. im nationalen Zusammenhang Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 447 f. 294

Vgl. auch 3. Kap. I. 2. b) bb). Hier läßt sich auch von Gewohnheitsrecht „praeter legem " sprechen, vgl. Ostertun, Gewohnheitsrecht in der Europäischen Union, S. 153 f. 295

152

1. Teil: Grundlagen

Gewohnheitsrecht intra legem auf der einen Seite und solchem extra legem andererseits mit Hilfe des Kriteriums der „Sachlichkeit" 297 , demzufolge der Erfolg „irgendeine(r) Auslegungsmethode"298 sowie „sachliche Erwägungen aus dem positiven Recht" 299 die Schwelle zum Gewohnheitsrecht extra legem begründen. Dabei läßt sich die Legitimation teleologischer Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH angesichts des dynamischen Charakters des Europarechts, in dessen positiv-rechtlich normierten Zielen und Erwägungsgründen eine sinn- und zweckorientierte Anwendung der Verträge bereits angelegt ist, nicht grundlegend in Zweifel ziehen. Jenseits dieser durch die Auslegung gezogenen Grenze ist das Gewohnheitsrecht extra (oder praeter) und contra legem anzusiedeln. Bei beiden Erscheinungsformen handelt es sich allerdings nicht um richterliche Rechtsfortbildung, wenngleich die Grenzen auch diesbezüglich fließend sind; 300 insofern präsentiert sich das Gewohnheitsrecht extra legem als mitgliedstaatlich bzw. organschaftlich determinierte Rechtsfortbildung, die ihrerseits die Ergebnisse der Rechtsfortbildung durch den EuGH zusätzlich zu „legitimieren" vermag. Bereits mit der Herausbildung gewohnheitsrechtlicher Rechtssätze, die dem Vertragsrecht (sowie den allgemeinen Rechtsgrundsätzen) nicht entgegenstehen, also durch Gewohnheitsrecht extra bzw. praeter legem, wird der bisherige Bestand primärer Normen des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts jedoch ergänzt. Diese neuerliche Erweiterung und Ausgestaltung des Europarechts stellt daher ungeachtet formeller Grenzen 301 eine Revision des Primärrechts dar. 302 296

Diese Terminologie ist mittlerweile weithin gebräuchlich, wird jedoch uneinheitlich verwendet, vgl. Ostertun, a.a.O., S. 153 ff. (Fußn. 287). Bleckmann bezeichnet an anderer Stelle (in: ders., Europarecht, Rdnr. 562) das das Vertragsrecht durchbrechende Gewohnheitsrecht als solches extra (nicht contra) legem. 297 EuR 1981, S. 101 (116). 298

Das müßte ein dynamisches bzw. teleologisch orientiertes Auslegungskonzept ähnlich der Auslegung durch den Gerichtshof mit einschließen. 299 Inwiefern dieser Konkretisierung über die klassischen Auslegungsmethoden hinaus eigenständige Bedeutung zukommt, wird dabei nicht klar erkennbar. 300

Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 249 EGV Rdnr. 4. Vgl. dazu Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rdnr. 382. Davon zu unterscheiden ist die Möglichkeit der Bildung vertragswidrigen, völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts. Beide Bereiche werden häufig allerdings nicht erkennbar auseinandergehalten, vgl. etwa Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rdnr. 562. 301

302 Im Hinblick auf die ratio des Art. 48 EUV wird sich dabei das Problem stellen, ob insofern ggf. zwischen vertragsänderndem und vertragsergänzendem Gewohnheitsrecht differenziert werden muß. Oppermann (Europarecht, Rdnr. 480) zufolge liegt der Schwerpunkt des primären Gewohnheitsrechts im vertragsergänzenden Bereich; bei entsprechendem Konsensus sei allerdings auch vertragsänderndes Gewohnheitsrecht denkbar.

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

153

Gleiches gilt a fortiori für das auf eine Abänderung primärer Rechtsnormen gerichtete Gewohnheitsrecht contra legem. Wird europarechtlichem Gewohnheitsrecht jedoch nicht lediglich die Funktion beigemessen, die Auslegung von Vertragsbestimmungen normativ abzusichern, und wird die Existenz europarechtlichen - auch primären - Gewohnheitsrechts weitgehend bejaht 303 , muß bereits die Entstehung primären Gewohnheitsrechts mindestens zu einer Ergänzung, gemäß dem bekanntesten Beispiel, der Zulassung von Staatssekretären als Vertretern der Ratsmitglieder, auch zu einer Vertragsänderung führen können. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist damit von Natur aus mit der Frage nach einer möglichen Sperrwirkung des Vertragsänderungsverfahrens verbunden. 304

5. Anpassungen - Übergangsregelungen Die in der Beitrittsakte geregelten Anpassungen der Verträge, auf denen die Union beruht, d.h. Anpassungen i.S.d. Art. 49 EUV, sind zunächst einmal Änderungen der Verträge bzw. des primären Rechts selbst. Darüber hinaus enthalten die Beitrittsakten i.V.m. den im Anhang I näher festgelegten Gegenständen Bestimmungen über die Anpassungen der Rechtsakte der Organe, mithin des Sekundärrechts. Nach hier vertretener Auffassung kommt den Anpassungen nur insoweit der Rang primären Rechts zu, als auch primäres Recht (insbesondere in institutioneller Hinsicht), nicht aber soweit sekundäres Recht geändert wird. 3 0 5 Entsprechend den obigen Ausführungen zum Revisionsbegriff sind Anpassungen mit Revisionswirkung ungeachtet des spezifischen Anwendungsbereiches des Art. 49 EUV auch in Form textueller Erweiterungen des Primärrechts sowie solcher völkerrechtlich parallelen Ergänzungen möglich, die inhaltlich auf eine Änderung des Primärrechts gerichtet sind. Anpassungen sind danach zunächst ganz allgemein gewillkürte Revisionen im Kontext eines Beitritts. Inwiefern derartige Anpassungen durch eine Aufnahme erforderlich werden, mithin von den „regulären" Änderungen abzugrenzen sind, ist lediglich für das Verhältnis der Art. 48 und 49 EUV zueinander bedeutsam. Die diese Problematik begleitenden Kausalitätserwägungen strahlen zwar auf die begriffliche Konkretisierung einer Anpassung i.S.d. Art. 49 EUV aus; von einer Revision des Primärrechts ist hingegen im einen wie in dem anderen Fall auszugehen.306

303

Vgl. nur Schweitzer/Hummer, Rdnm. 480 ff. 304 Siehe 3. Kap. I. 2. 305 Vgl. oben 1. Kap. II. 3. 306 Siehe zur Abgrenzung 3. Kap. I. 4.

Europarecht, Rdnr. 17; Oppermann, Europarecht,

154

1. Teil: Grundlagen

Im Gegensatz zu den Anpassungen kommt den Übergangsregelungen als Hauptbestandteil der „Aufnahmebedingungen" i.S.d. Art. 49 EUV prinzipiell vorübergehender Charakter zu. Abweichungen von der Anwendung des primären Gemeinschaftsrecht sind bis dato im Kern stets als Befristungen ausgestaltet wurden sind. Übergangsregelungen führen insofern als leges posteriores zu einer Revision (auch) des Primärrechts, wenn vertraglich bestimmt wird, daß bzw. inwieweit und wie lange von den bisherigen Vorschriften abgewichen und damit deren Geltung in dem beschriebenen Umfang außer Kraft gesetzt werden soll. Bereits die Vereinbarung derartiger herkömmlicher Ausnahmeregelungen wirft die Frage nach einer eigenständigen Rechtfertigung, den Grenzen beitrittsbezogener Vertragsrevisionen auf; im Hinblick auf prinzipiell denkbare alternative Formen differenzierter Integration - Art. 49 EUV enthält diesbezüglich keine zwingende Handlungsvorgabe in Form der Festschreibung (völker-)vertraglicher Befristungen - stellt sich darüber hinausgehend die Frage nach deren Vereinbarkeit mit eventuell höherrangigem oder besonders bestandsgeschützem Europarecht. 307

IV. „Grenzen" der Revision: Typologie möglicher Revisionshindernisse Im Zusammenhang mit der Verfassungsrevision werden die Begriffe „Grenze" bzw. „Schranke" in aller Regel parallel verwendet. 308 Der Begriff „Schranken" ist zudem im spezifischen Zusammenhang mit den nationalverfassungsrechtlichen „Schranken" der Integration, den souveränitätsbezogenen Hindernissen der vertragsschließenden Gewalt bzw. der „verfassungsändernden" Übertragung von Hoheitsrechten gebräuchlich. 309 Vor diesem Hintergrund und wegen seiner Offenheit für formelle und materielle „Begrenzungen" bzw. „erschwerende Hemmnisse" der Revision erscheint der Begriff der Grenzen vorzugswürdig, der i.ü. erst durch die Wirkungsweise der in unterschiedlicher Gestalt vorfindbaren Grenzen näher beschrieben werden kann.

307

Zu beiden Aspekten grundlegend Becker, EU-Erweiterung und differenzierte Integration, insbes. S. 15 ff. und 45 ff. 308

Siehe Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, der z.T. ebenso von „Schranken" spricht (S. 3 ff.); Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung; Siegenthaler, Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision als Problem des positiven Rechts. 309 Siehe etwa Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, S. 174 ff.; Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 464: „Die Grenzen der Verfassungsänderung" [sc.: der Verfassung der Supranationalen Union, siehe S. 361 ff., 455 ff., 462] „dürfen nicht als Schranken der vertragsschließenden Gewalt der Mitgliedstaaten mißverstanden werden" (Hervorhebungen im Original). Siehe zur Bedeutung nationaler Integrationsschranken unten 3.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse 7. Wirkungsweise

155

normativer Grenzen

Die Konturierung denkbarer Revisionstatbestände erwies sich als notwendig, um den Bezug zur zentralen Problemstellung der rechtlichen Anerkennung eines Revisionsvorhabens durch die maßgebliche Rechtsordnung bzw. durch die entscheidungsrelevanten Normen herzustellen. „Grenzen" oder auch „Schranken" der Revision im weiteren Sinne sind rechtliche Hindernisse, die der derogierenden Wirkung, welche der betreffenden Änderung oder Ergänzung prinzipiell entspringt, die Anerkennung bzw. Gültigkeit versagen. 310 Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Europa- und allgemeinem Völkerrecht sollte dabei zugleich differenziert werden: Zum einen wäre denkbar, daß im Zuge des Revisionsvorhabens eine jedenfalls völkerrechtlich wirksame Norm entsteht, die mit existierendem Primärrecht kollidiert und ggf. zurücktritt. Zugleich aber steht die Legalität des Revisionsvorhabens selbst unter allen in Betracht kommenden Maßstäben im Vordergrund, wenn etwa der Änderungsvertrag als Rechtsgrund der Revision aus formellen Gründen oder wegen Verstoßes gegen materielles Recht rechtsfehlerhaft und ggf. nichtig ist. Daß eine Revision allerdings überhaupt keine Rechtswirkungen entfaltet, setzt voraus, daß das Regime, das über die Fehlerhaftigkeit befindet und - prinzipiell - die Nichtigkeit anordnet, absolute Geltung beansprucht. Ist dies nicht der Fall und kann die Gültigkeit nicht ausschließlich am Maßstab einer Rechtsordnung, etwa des Europarechts, gemessen werden, so kann diese - durch ein nach allgemeinem Völkerrecht zu beurteilendes Änderungsvorhaben herausgefordert - theoretisch bestimmen, daß die Wirkungen der (beabsichtigten) Revision intern nicht anzuerkennen seien. Diese „Kollisionslösung" kann prinzipiell sowohl Inhalt einer expliziten Kollisionsregel sein als auch das Resultat einer Auslegung solcher Bestimmung(en) kennzeichnen, die bei rein interner Beurteilung und universeller Akzeptanz zur Unwirksamkeit des (Revisions-) Vorhabens insgesamt geführt hätten. Umgekehrt können einer Revision auch „heteronome" 311 , d.h. solche Grenzen gesetzt sein, die Normen einer anderen

3,0 311

Vgl. etwa Art. 53 S. 1 und Art. 64 WVK.

Zu dieser Begrifflichkeit im Zusammenhang mit der staatsrechtlichen Verfassungsrevision etwa Siegenthaler, Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision als Problem des positiven Rechts, S. 4; vgl. auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 341. Wie hier Rigaux, La théorie des limites matérielles à l'exercice de la fonction constituante, S. 96, 204 ff; femer Beaud, La Puissance de l'État, S. 336. Von der ,,»defensiv-stabilisierenden« Wirkung" nationaler Struktursicherungsklauseln als „exogenen materiellen Schranken" spricht Koppen, Verfassungsfunktionen - Vertragsfunktionen, S. 128 ff (Hervorhebung im Original).

156

1. Teil: Grundlagen

Rechtsordnung 312 entspringen, wenn die Revision des internen Rechts zugleich den Geltungsanspruch der konkurrierenden Rechtsordnung unterminiert. Von heteronomen Grenzen soll hier allerdings nur dann gesprochen werden, wenn die in der externen Rechtsordnung verankerten Normen, denen insoweit Grenzfunktion zukommt, auch in der bzw. für die Gemeinschafts- bzw. Unionsrechtsordnung Geltung erlangen; diese Geltung muß durch das Recht der Europäischen Union mitbestimmt werden. Der staatsrechtlich determinierte Begriff der heteronomen Bindung, der auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué basiert, 313 eignet sich mangels unmittelbarer Übertragbarkeit der Kategorien von Verfassunggebung und Verfassungsgesetzgebung314 zu erläuternden Verwendung nur äußerst begrenzt; 315 die Herausforderungen liegen zudem vor allem im Zusammenspiel der Rechtsordnungen. Bei der Problematik, ob die Mitgliedstaaten nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts frei über den Bestand der Gemeinschaften verfügen können bzw. die Gemeinschaftsverträge aufgelöst werden können oder kündbar sind, handelt es sich vielfach um Einzelfragen der Anwendbarkeit (v.a. des allgemeinen) Völkerrechts in den innergemeinschaftlichen bzw. unionsinternen Rechtsbeziehungen.316

2. Völkerrechtliche

Revisionshindernisse

Damit ist bereits angedeutet, daß sich Schranken der Revision grundsätzlich nicht nur aus dem Europarecht, sondern auch aus dem Völkerrecht ergeben könnten. Widersprechen Verträge (und nach h.L. auch einseitige Akte) 3 1 7 zwin-

312

Keinen maßgeblichen Einfluß auf diese terminologische Qualifikation hat die Diskussion um Monismus und Dualismus sowie über den Vollzug des internationalen Rechts. Auch der Monismus vereint zwei Rechtssphären, zumal die Frage beantwortet werden soll, welches Recht sich durchsetzt, vgl. Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnm. 23 ff. Voraussetzung ist allerdings, das Gemeinschaftsrecht nicht allein als spezielles Völkerrecht, sondern als autonome Rechtsordnung zu begreifen. Näher dazu 4. Kap. I. 1., 2. 313 Siehe Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 3, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 31 m.w.N. in Fußn. 40; vgl. femer Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, S. 4 ff. 3,4 Näher 4. Kap. III. 2. c) aa) (2) (c); 5. Kap. I. 1. b) aa); III. 2. a). 315 Heterogen können insofern auch sonstige prä- oder „suprakonstitutionelle" Bindungen sein. 316 Siehe Schwarze, EuR 1983, S. 1 (4). 317 Meron, AJIL 80 (1986), S. 1 (19); Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 335 f.; Fassbender EuGRZ 2003, S. 1 (6).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

157

gendem Völkerrecht (ius cogens), sind sie nichtig. 318 Dieses Konzept, auf das noch mehrfach zurückzukommen sein wird, ist ungeachtet prinzipieller Streitfragen in bezug auf das theoretische bzw. dogmatische Fundament, den Inhalt und die Rechtsquellen des ius cogens grundsätzlich anerkannt. 319 Auch die Bindungswirkung des universell zwingenden Völkerrechts für die vertragsändernden Mitgliedstaaten wird im Ergebnis nicht bestritten. Seitens einer „traditionalistischen" 320 Auffassung der zufolge Gemeinschaftsrecht (und a fortiori intergouvernementales Unionsrecht) völkerrechtlich einzuordnen ist, bedarf diese Bindung keiner besonderen Erklärung. Wenngleich eine entsprechende Klassifizierung des Gemeinschaftsrechts nicht automatisch Rechtsfolgen präjudiziell, so wird das Grundverhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten doch völkerrechtlich bestimmt und werden die Gründungsverträge nach völkerrechtlichen Grundsätzen interpretiert. 321 Doch auch die von der Rspr. des EuGH 322 getragene h.M., der zufolge das Gemeinschaftsrecht eine gegenüber dem Völkerrecht eigenständige Rechtsordnung darstellt, erkennt eine (innergemeinschaftliche) Bindung durch das ius cogens an. 323 Für die (Änderung der) Gemeinschaftsrechtsordnung läßt sich die Bindung an (zwingende) Normen des allgemeinen Völkerrechts etwa dadurch erklären, daß das allgemeine Völkerrecht in den Rechtsbereich der Europäischen Gemeinschaften) übernommen, d.h. rezipiert 324 oder gar transformiert wird. Doch auch wenn das allgemeine Völkerrecht einen „integrierenden Bestandteil" der Ge-

3,8

Siehe Art. 53 S. 1 und Art. 64 WVK. Dazu der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, Entscheidung vom 10.12.1998 (Prosecutor/Furundzija), 38 I.L.M. (1998), 317 (349 Ziff. 155). Zu den Rechtsfolgen zwingender Normen Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 324 ff. Siehe auch Meinhard Schröder, in: Bernhardt, EPIL, Vol. IV, S. 992 ff., zur Gültigkeit der Verträge. Zur Nichtigkeit der gegen das ius cogens verstoßenden Rechtsakte im Gegensatz zur (bloßen) Völkerrechtswidrigkeit der von erga omnes- Pflichten (und nicht zugleich vom ius cogens) abweichenden Rechtsakte Uerpmann, JZ 2001, S. 565 (571 f.). Speziell zum Verhältnis zwischen „Derogationsverboten" und Bestandssicherung 5. Kap. I. 1. a) bb). 319 Siehe Hannikainen, Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law (1988); Kadelbach, a.a.O.; Uerpmann, a.a.O. 320 321

Dazu Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 74. Siehe Streinz, Europarecht, Rdnr. 114.

322

Urt. v. 15.7.1964, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251 (1269). Vgl. etwa Oppermann, Europarecht, Rdnm. 598 f.; Pernice , in: Dreier, GG, Band 2, Art. 25 Rdnr. 10. Siehe zum ius cogens auch unten 4. c) sowie 4. Kap. II. 1. a); 5. Kap. I. 1. a) bb), g). 323

324

Rainer Arnold, in: GS Küchenhoff, S. 165, speziell zum gegenüber dem Primärrecht höheren Rang allgemeiner Regeln des Völkerrechts, „die einen herausragenden rechtsethischen Charakter aufweisen", S. 179 f.

158

1. Teil: Grundlagen

meinschaftsrechtsordnung bildet, 325 ist damit noch keine Aussage über die Rangstufung verbunden, 326 auch nicht im Hinblick auf die Berücksichtigung der Höherrangigkeit, der ius cogens überwiegender Auffassung 327 zufolge im Völkerrecht beigemessen wird. In Ermangelung einer primärrechtlichen Rezeptionsnorm bzw. sonstigen „Verfassungsbestimmung", die über die Einordnung in die Normenhierarchie Aufschluß geben könnte, ist die Begründung insoweit meist defizitär. Der auch im Gemeinschaftsrecht zwingende Charakter der übernommenen universell zwingenden Völkerrechtsnormen wird insofern etwa auf den grundsätzlichen Primat des Völkerrechts 328 gestützt. Darüber hinaus gerät der „Doppelnatur" des Gemeinschaftsrechts, mithin neben dem verfassungsrechtlichen Charakter zugleich der völkervertragliche Charakter der Gemeinschaftsverträge in den Blickpunkt. Dieser komme jedenfalls in Grenzsituationen wie der Problematik der Auflösung bzw. des Austritts aus der Europäischen Gemeinschaft zum Tragen, da die Gemeinschaft in diesen Fällen noch am „völkerrechtlichen Lebensfaden" hänge. 329 Schließlich wird der Versuch unternommen, eine Vorrangregel als allgemeinen Rechtsgrundsatz in statu nascendi den nationalen europäischen Verfassungen zu entnehmen, soweit diese innerstaatlich vom Vorrang zwingenden Völkerrechts vor der Verfassung ausgehen.330 Das setzt allerdings voraus, daß ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Europarechts jenseits materieller Regeln allein in einem Rangord325

EuGH, Urt. v. 16.6.1998, Rs. C-162/96 (Racke/Hauptzollamt Mainz), Slg. 1998,13655 (3794 Rdnr. 46). 326

Vgl. zur Parallele zum innerstaatlichen Vollzug des Völkerrechts auf der Grundlage der Adoptionstheorie Schweitzer, Staatsrecht III, Rdnr. 422. 327 Siehe Doehring, Völkerrecht, Rdnr. 282; Meron, AJIL 80 (1986), S. 1 (13 ff.), wenngleich restriktiv im Hinblick auf die Identifikation von ius cogens. Auf der Grundlage eines weiten Hierarchiebegriffs AkehursU BYIL 1974/75, S. 273 (281 ff.), und Sztucki, Jus Cogens and the Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 97. Deutlich der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, Entscheidung vom 10.12.1998 (Prosecutor/Furundzija), 38 I.L.M. (1998), 317 (349 Ziff. 153), zu Jus cogens, that is, a norm that enjoys higher rank in the international hierarchy than treaty law and even »ordinary« customary rules." (Hervorhebung im Original). A.A. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 45. Insofern werden Parallelen zur dogmatischen Einordnung der innerstaatlich von Art. 79 Abs. 3 GG erfaßten Grundsätze (sowie des Art. 79 Abs. 3 GG selbst) zwischen (ausschließlich) verfestigter Geltungskraft und hierarchischer Höherrangigkeit offenbar [vgl. etwa Herzog, EuGRZ 1990, S. 483 (485)], wobei nicht verkannt werden darf, daß der innerstaatlichen Rechtsordnung eine Normenhierarchie (speziell im Hinblick auf den Vorrang der Verfassung) in aller Regel bekannt ist. 328

Oppermann, Europarecht, Rdnr. 600.

329

Oppermann, a.a.O., Rdnr. 599; ebenso Ruffert, Art. 249 EGV Rdnr. 5. 330

Hoffmeister,

EWS 1998, S. 365 (368).

in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV,

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

159

nungsprinzip bestehen kann, das noch dazu - soweit es dort überhaupt existiert - zunächst eine konkrete nationale Verfassungsordnung, deren Bestandteil es ist, in Bezug nimmt. Der letztgenannte Einwand ließe sich seinerseits allerdings wiederum dadurch entkräften, daß der Souveränitätsbezug auf europäischer Ebene weithin aufgelöst wird; dies steht im Einklang mit dem universellen Charakter der völkerrechtlichen Normen. Die Tragfähigkeit dieser Begründungsansätze erweist sich erst im Rahmen einer näheren Untersuchung des Verhältnisses zwischen Union und Gemeinschaften bzw. der Unions- und der Gemeinschaftsrechtsordnung einerseits und dem Völkerrecht sowie staatsrechtlichen Verfassungselementen anderseits. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, daß die Bindungswirkung zwingenden Völkerrechts im innergemeinschaftlichen Bereich grundsätzlich anerkannt wird. Heteronome Grenzen der Revision ließen sich strukturell auch aus (vertraglichem) regionalem ius cogens ableiten, soweit letzteres prinzipiell anerkannt wird. 3 3 1 Läßt man zu, daß regionales zwingendes Recht in Verträgen verankert sein kann, 332 so kämen als „heteronome" Grenzen über die Bindungen der Mitgliedstaaten zwingende Normen bspw. der EMRK in Betracht. Diese bestünden unbeschadet der Bedeutung der „europarechtlichen" Qualifikation der EMRK streng genommen als operable heteronome Grenzen aber nur dann, wenn auch das unions- und gemeinschaftsrechtliche Regime der Vertragsänderung nach wie vor am „völkerrechtlichen Lebensfaden" 333 hängt oder aber eine unmittelbare Bindung an die Konvention bestünde. Ungeachtet der Inkoporierung einzelner Gehalte als allgemeine Rechtsgrundsätze in das innergemeinschaftliche Primärrecht wird eine Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die EMRK mangels Vertragspartnerschaft der Gemeinschaft 334 jedoch überwiegend abgelehnt. 335 Einzelne Autoren wollen demgegenüber bereits eine (rein) materielle

331

Dazu 4. Kap. II. 2.

332

Näher 4. Kap. I L I . a); 5. Kap. I. 1. a) bb). Dazu 4. Kap. 334 Siehe Art. 5 Abs. 2 S. 1 des (Vor-)Entwurfs des Verfassungsvertrages durch den Europäischen Konvent [Dokument vom 6.2.2003, abgedruckt in EuGRZ 2003, S. 79 (80)], Art. 1-7 Abs. 2 des Entwurfs (CONV 850/03, S. 8 bzw. S. 13 der amtl. Textausgabe) sowie nunmehr Art. 1-9 Abs. 2 S. 1 des Vertrages über eine Verfassung für Europa (ABl.EU 2004 Nr. C 310, S. 13); vgl. Fußn. 117. Der Beitritt setzt freilich eine Änderung auch der EMRK voraus, vgl. Art. 59; siehe auch Hans Christian Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, S. 92 (101 ff.). Ein Beitritt der Union setzte zudem - wie in Art. 4 des Entwurfs des Verfassungsvertrages (a.a.O.) vorgesehen - Rechtspersönlichkeit der Union voraus. 333

335 Sofern inhaltlich eine Bindung an die EMRK bestehe, beruhe dies ausschließlich auf der gemeinschaftsrechtlichen Geltung in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze, vgl. Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 234 EGV Rdnr. 12; Eckart Klein, in: Hail-

160

1. Teil: Grundlagen

Bindung de lege lata ausmachen, was angesichts der Übertragung von Hoheitsbefugnissen der Mitgliedstaaten auf die Europäische Gemeinschaft mit einer inhaltlich an die GATT-Rspr. angelehnten „staatensukzessionsähnliche(n) Substitutionswirkung" 336 , der Akzessorietät der nur durch einen Träger der Souveränität ausgeübten Hoheitsgewalt mit den ihr auferlegten völkerrechtlichen Bindungen 337 bzw. Art. 6 Abs. 2 E U V 3 3 8 begründet wird. Abgesehen von zwingenden Gehalten der Konvention wäre damit allerdings über den Rang der EMRK noch nichts ausgesagt. Isoliert betrachtet käme einem Beitritt ebenso wie sonstigen Abkommen der Gemeinschaft nach h.M. lediglich ein Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht zu. 3 3 9 Das hätte ggf. eine normhierarchische Diskrepanz zwischen den qua Bindung der Europäischen Gemeinschaft geltenden und den in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen verbürgte Grundrechtsgewährleistungen zur Folge. Die Schnittstelle zwischen autonomen und heteronomen Grenzen berührt die Frage, inwieweit die primärrechtlich als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Inhalte der EMRK materielle Schranken der Revision errichten, soweit sie regionalem ius cogens zuzurechnen wären. Vornehmlich das Beispiel der EMRK wirft die Frage auf, inwiefern sich Grenzen der Revision gerade aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ergeben können. In einer häufig mit dem Solange-IIBeschluß 340 des BVerfG verglichenen 341 Entscheidung hat sich die Europäische Kommission für Menschenrechte mit der Möglichkeit einer Verletzung der Konvention durch einen Vertragsstaat befaßt, die dadurch bedingt ist, daß sich dieser (in Ausführung gemeinschaftsrechtlich determinierter Vollzugsakte) kon vent ions widrige Akte der Gemeinschaft zurechnen lassen muß, weil das bronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, Art. 234 EGV Rdnr. 7; Kingreen,, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnm. 38 f. m.w.N., 91. 336 Siehe Pecatore, in: FS Wiarda, S. 441 (453 f.); Sorensen (EuGRZ 1978, S. 33 (34)] spricht von der quasi hypothekarischen Belastung im Zusammenhang mit der Kompetenzübertragung durch die Mitgliedstaaten; gegen einen sukzessionsähnlichen Übergang etwa Rodriguez Iglesias , in: FS Bernhardt, S. 1269 (1274). Näher Uerpmann, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339 [361 (362 f.)]. Zur „Hypothekentheorie" im Zusammenhang mit der Übertragung nationaler Hoheitsrechte im Rahmen der europäischen Integration 4. Kap. III. 2. c) aa) (5). 337 Vgl. Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 79 ff. 338 Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193 (1206 f.). Siehe dazu femer Uerpmann,, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339 (365 ff.). 339 340 341

Siehe 1. Kap. II. 4. BVerfGE 73, 339 ff.

Siehe Giegerich, ZaöRV 50 (1990), S. 836 (860); Langenfeld/Andreas Zimmermann, ZaöRV 52 (1992), S. 259 (306 f.); Hilf in: FS Bernhardt, S. 1193 (1198); Uerpmann, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339 (361 f.).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

161

Tätigwerden der Gemeinschaft erst aufgrund einer Übertragung von Hoheitsbefugnissen ermöglicht wurde. 342 Nach Auffassung der Europäischen Kommission für Menschenrechte ist die Verantwortlichkeit des Staates für konventionswidrige Akte der Gemeinschaft jedenfalls dann nicht gegeben, wenn die Menschenrechte innerhalb der Gemeinschaft in einem der EMRK äquivalenten Schutzumfang gewährleistet sind; dies sei jedoch generell der Fall. 343 Gesetzt den Fall, die Mitgliedstaaten etablierten im Wege der Vertragsänderung eine primärrechtliche, als abschließend konzipierte Neuordnung des Grundsrechtsschutzes, die hinter dem durch die EMRK vermittelten Schutzniveau generell zurückbliebe, wäre damit ggf. lediglich eine Verletzung der Konvention verbunden. 344 Die Wirksamkeit des Änderungsvertrages zum EUV/EGV bliebe davon vorbehaltlich weiterer „Schranken", v.a. solcher mit ius coge/w-Qualität, prinzipiell unberührt und der einzelne Mitgliedstaat weiterhin nach der Kon-

342

Entscheidung vom 9.2.1990, Nr. 13258/87 (M & Co./Deutschland), DR 64 (1993), 138 (144 ff.; 151 ff.). Steht hier noch die „Gewährleistungsverantwortung" (Uerpmann, a.a.O., S. 361) im Vordergrund, hat der EuGMR mit Urteil v. 18.2.1999 (Beschw. Nr. 24833/94 [Matthews/Vereinigtes Königreich], Slg. 1999-1, 251 bzw. 305 = EuGRZ 1999, S. 200 ff.) betreffend die Versagung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament für Gibraltar einem unmittelbaren „Durchgriff auf die Mitgliedstaaten" (Uerpmann, a.a.O., S. 363) für Gemeinschaftshandeln eine Absage erteilt. In der Entscheidung wird hingegen eine Verletzung von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK durch völkerrechtliches Handeln festgestellt, „denn die Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs folgt daraus, daß es nach Eintritt der Anwendbarkeit des Artikels 3 des 1. ZP. der EMRK in Gibraltar eine völkerrechtliche Verpflichtung, nämlich den Vertrag von Maastricht in Verbindung mit den Verpflichtungen aus dem Ratsbeschluß und dem Akt von 1976 eingegangen ist" (a.a.O., Ziff. 34.). Letztgenannter beschränkte in Anhang II den Akt zur Einführung von Direktwahlen mit entsprechenden Änderungen im E(W)GV auf das Vereinigte Königreich, dessen Bestandteil Gibraltar trotz Zugehörigkeit zur britischen Krone nicht ist. Speziell zur Anwendbarkeit des Art. 3 des 1. ZP. der EMRK auf das Europäische Parlament und zu dessen Charakter als „gesetzgebender Körperschaft" a.a.O., Ziff. 36 ff. Siehe zu diesem auch Urteil Sebastian Winkler, EuGRZ 2001, S. 18 ff., und Sebastian Wolf ZEuS 2003, S. 379 ff. Zur Bedeutung Gibraltars im Hinblick auf das „Staatsgebiet" der Union bzw. der Europäischen Gemeinschaft 4. Kap. III. 2.c) aa) (2) (a). 343

Entscheidung vom 9.2.1990, Nr. 13258/87, DR 64 (1993), 138 (145, 152 f.). Entsprechend dem 11. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 11.5.1994 (BGBl. 1995 II, 578) ist seit dem 1.11.1998 ein neuer Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte an die Stelle des bisherigen Gerichtshofs und der Kommission getreten. Dieser ständige Gerichtshof ist nunmehr das einzige Judikativorgan, vgl. Art. 19 EMRK. Dazu Ress, in: FS SeidlHohenveldem, S. 541 ff. Zur jüngeren Rspr. des EuGMR und der Bindung der EUMitgliedstaaten an die EMRK Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 91. 344

Vedder/Folz,

in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 18.

162

1. Teil: Grundlagen

vention verpflichtet. Die Nichtigkeit oder „rechtliche Unmöglichkeit" 345 solch eines Änderungsvertrages bzw. einer (anschließenden) Übertragung weiterer Hoheitsrechte ist damit nicht verbunden. 346 Ein solcher Hinderungsgrund für das wirksame Zustandekommen von Vertragspflichten ist dem Völkerrecht abgesehen von Art. 53 WVK fremd. 347 Die Revision des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts würde insofern nicht beschränkt. Vielmehr würde nach einer entsprechenden Vertragsänderung die Nichterfüllung bzw. die Unmöglichkeit der Erfüllung bereits bestehender Konventionspflichten drohen. Es entstünde dann im Hinblick auf den nationalen Vollzug gemeinschaftsrechtlich determinierter konventionswidriger Akte möglicherweise ein Kollisionsproblem. Ungeachtet der Tatsache, daß primäres Unions- und Gemeinschaftsrecht Vorrang auch vor den mitgliedstaatlichen Verfassungen beansprucht und die EMRK in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nur ausnahmsweise Verfassungsrang, 348 wenngleich häufig „Übergesetzesrang" einnimmt, 349 kollidierten zwei völkerrechtliche Pflichten miteinander, sofern man das Unions- und Gemeinschaftsrecht in diesem konkurrenzbezogenen Kontext noch den Regeln des Völkerrechts unterstellen will. 3 5 0 Unter Rückgriff auf Art. 307 Abs. 1 EGV 3 5 1 345 Siehe Giegerich, ZaöRV 50 (1990), S. 836 (861); siehe auch Uerpmann,, JZ 2001, S. 565 (572). 346 Vielmehr käme eine Verantwortlichkeit des Staates dafür in Betracht, daß er die Erfüllung bestehender Konventionsverpflichtungen durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Internationale Organisation mit defizitärem bzw. ohne Grundrechtsschutz unmöglich gemacht hat. 347

Vgl. Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdnr. 395. Zu Österreich Morscher, EuGRZ 1990, S. 454 (455, 465); Berka,, Die Grundrechte, Rdnr. 66; Schäffer, Österreichischer Landesbericht, in: Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, S. 339 (369 f.). 348

349

Siehe dazu etwa Ros, Die unmittelbare Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 88 f., 106, 117 f., 126; Sebastian Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 119 ff. m.w.N. 350

Vgl. Giegerich,, ZaöRV 50 (1990), S. 836 (852 f.), der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß auch Art. 30 WVK mangels Rückwirkung des Übereinkommens (Art. 4) keine Bedeutung erlangt. Siehe dazu auch 4. Kap. I. 2. a) und speziell im Hinblick auf den Geltungsgrund von ius cogens und Art. 53 und 64 WVK 4. Kap. II. 1. a). 351

Bis avi Frankreich, für das die EMRK am 3.5.1974 in Kraft trat (siehe BGBl. 1975 II, 1346 f.), hatten alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bereits vor ihrem Beitritt zur EWG die Konvention ratifiziert; kurz nach dem Beitritt Frankreichs erwähnte der EuGH erstmals die EMRK als Erkenntnisquelle zur rechtsvergleichenden Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze, siehe EuGH, Urt. v. 14.5.1974, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491 (507 Rdnr. 13); dazu insgesamt Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193 (1194 f.). Eingehend zur Bedeutung des Art. 307 Abs. 1 und 2 EUV Sebastian Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskon-

163

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

bzw. mit dem Hinweis auf die Inkorporierung der Menschenrechtsgrundsätze der EMRK in das Primärrecht wird der Vorrang der EMRK auch im Hinblick auf mögliche Kollisionen mit primärrechtlichen Verträgen allerdings anerkannt. 352 Vor diesem Hingrund stellt sich die Frage, ob auch einer Revision primärrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen insofern Grenzen gesetzt353 und speziell dadurch Schranken gezogen sind, daß auch ein besonderer „Bestandsschutz" spezifischer (inkorporierter) Gehalte der EMRK (vgl. Art. 15 Abs. 2 EMRK) als materielle Revisionsgrenze „durchgreift".

3. Bedeutung nationaler „ Integrationsschranken

"

Auf den ersten Blick außerhalb des Untersuchungsgegenstandes liegen die in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankerten sog. nationalen Integrationsschranken 354. Zu bedenken ist allerdings, daß möglicherweise (systemimmanent) änderungsfeste materielle Gehalte nicht nur primärrechtlich oder völkerrechtlich, sondern zugleich national-verfassungsrechtlich gerade auch mit Wirkung für den Integrationsverband wechselseitig „abgesichert" werden. 355 Nationale Schranken fungieren im übrigen lediglich als heteronome und zugleich externe „Schranken" der Revision, da und soweit sie nicht innerhalb des Rechts der Europäischen Union gelten. Eine Sonderstellung kommt allerdings der Beachtung der verfassungsrechtlichen Ratifikationsvorschriften der Verfassungen der Mitgliedstaaten im Rahmen des Vertragsänderungsverfahrens zu, vgl. Art. 48 Abs. 3, Art. 49 Abs. 2 Satz 2 EUV. Bei diesen handelt es sich um eine unions- bzw. gemeinschaftsinnenrechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung der Vertragsänderung. 356

vention, S. 137 ff.; femer Uerpmann, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339 (364 f.). 352

Siehe Giegerich, ZaöRV 50 (1990), S. 836 (852 ff.); Langenfeld/Andreas Zimmermann,, ZaöRV 52 (1992), S. 259 (305 f.). Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193 (1198); vgl. auch Sebastian Winkler, a.a.O. 353 Siehe Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 18. 354

Siehe dazu Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, und König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses - Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000, 5. und 6. Kap. 355 Siehe Vedder,, EuR, Beiheft 1/1999, S. 7 (38); ders./Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 19; Koppen, Verfassungsfunktionen - Vertragsfunktionen, S. 128 ff., der den Begriff „exogene materielle Schranken" wählt. 356 Koenig/Pechstein, EuR 1998, S. 130 (147 f.); vgl. näher 3. Kap. II. 5; V. 3.

164

1. Teil: Grundlagen

Soweit nationale Verfassungen - wie etwa Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3, Art. 1 und 20 GG - im Hinblick auf integrationsbedingte Verfassungsänderungen oder -ergänzungen unantastbare Verfassungskerne festschreiben, kann die damit verbundene Rangstufung oder Bestandssicherung im Riickschluß u.U. auch liber den Rang bzw. die Bestandsfestigkeit der inhaltsgleich als allgemeine Rechtsgrundsätze verbürgten materiellen Normen des Primärrechts Auskunft geben. Das setzt allerdings voraus, daß der betreffende allgemeine Rechtsgrundsatz im Wege wertender Verfassungsvergleichung ermittelt werden kann und sich darüber hinaus die Rangstufung bzw. Bestandssicherung in bezug auf alle Quellen des Primärrechts in der Europäischen Union durchsetzt. Entfalten die nationalen verfassungsrechtlichen Rat ifikat ions Vorschriften zugleich als heteronome Schranken der Revision Bedeutung, handelte es sich bei höherrangigen bzw. bei allgemeinen Rechtsgrundsätzen mit besonders verfestigter Geltungssicherung um Grenzen, die auch im Recht der Europäischen Union selbst verankert sein müßten.

4. Unions- und gemeinschaftsrechtliche

Grenzen

a) Kompetentielle Grenzen Des gleichen einem Zusammenspiel von nationaler sowie supra- und internationaler Rechtsordnung verhaftet ist die Problematik kompetentieller Grenzen der Revision. Der Umfang der den Gemeinschaften übertragenen Kompetenzen entscheidet darüber, ob und inwieweit eine Vertragsänderung erforderlich wird bzw. inwieweit ein Vorhaben dem innergemeinschaftlichen Bereich zugeordnet werden muß. Diese Einordnung ist ihrerseits für die Frage nach dem zugrundeliegenden Rechtsregime und den für die Änderung maßgeblichen formellen Anforderungen von Bedeutung. Bleibt den Mitgliedstaaten dabei die Kompetenz-Kompetenz in Form der endgültigen Verfügungsgewalt über die bereits übertragenen Kompetenzen erhalten bzw. wird die mitgliedstaatliche Souveränität für schlechthin unteilbar erachtet, so ist damit möglicherweise noch immer die völkerrechtliche Befugnis zur formlosen Vertragsänderung verbunden; 357 an der Unions- und Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Nichteinhaltung der vorgesehenen Verfahren änderte dies hingegen nichts. Sollen schließlich kompetentiell mitgliedstaatliche Befugnisse in den Bereich der Union oder der Gemeinschaften überführt und dort verankert werden, so steht dem ungeachtet nationaler Integrationsschranken das Unions- und Gemeinschaftsrecht nur insofern entgegen, als wiederum dessen Verfahren einzuhalten ist. Unions- bzw. ge357

Vgl. nur Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, Rdnrn. 1726 f.

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

165

meinschafitsinnenrechtlich kommt schließlich der Abgrenzung der Revisionsverfahren gegenüber der Vertragsschlußkompetenz der EG bzw. gegenüber Art. 308 EGV (vgl. oben II. 4.) Bedeutung zu. Die meisten der vorgenannten Aspekte sind zugleich Ausdruck spezifischer Fragestellungen, die im Zusammenhang mit den formellen Grenzen der Revision und deren Exklusivität (3. und 4. Kap.) vertieft werden. Anders geartet ist das Problem, ob die primärrechtlich verankerte Kompetenzordnung ihrerseits (teilweise) einer Änderung entzogen sein soll. Ein dahingehendes Verbot stellte eine materielle Wertentscheidung dar, mit der demgemäß eine materiell-rechtliche Schranke der Revision des Primärrechts verbunden wäre. Besondere Herausforderungen birgt darüber hinaus die Konstellation revisionsrechtlicher Auswirkungen auf die Binnenrechts- und Kompetenzordnung, in der etwa durch eine Änderung des Primärrechts sekundärrechtliche Bestimmungen mit dem neu geschaffenen Vertragsrecht in Widerspruch geraten. 358 In Ermangelung einer besonderen Bestimmung über die Gültigkeit des früheren, nicht ausdrücklich aufgehobenen Sekundärrechts ließe sich diskutieren, ob insofern nicht von negativen Revisionsschranken in Form des Gebots einer gleichzeitig ausdrücklichen Änderung auch des Sekundärrechts 359 auszugehen sein müßte, als anderenfalls das Kompetenzgefuge und der hierarchisch gestützte „Vorrang des Primärrechts" nachhaltig in Frage gestellt würden. Denn im Rahmen einer „prozessualen Lösung", etwa der Nichtigkeitsklage, stellt die (überdies prinzipiell nicht rechtswidrige) Vertragsänderung keine einem Gemeinschaftsorgan zurechenbare Handlung dar. 360 Zugleich kann die rechtsetzende Handlung der Organe an sich nicht angegriffen werden, weil „die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Akts ... an dem Sachverhalt und der Rechtslage zu messen ist, die zur Zeit des Erlasses des Akts bestanden".361 Diese Erwägungen dürften sich jedoch für die Einschränkung der Änderungskapazität kaum als tragend erweisen. Bei der Änderung „allein" innerhalb des binnenrechtlichen, primärrechtlichen Kompetenzrahmens ist daran zu denken, die Fortgeltung des alten Rechts zu dulden. 362 Im übrigen bliebe, um den Vorrang des Primärrechts zu sichern, etwa die Möglichkeit, eine Nichtigkeitsklage 358

Vgl. zur Revision der Schweizer Bundesverfassung Siegenthaler, Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision als Problem des positiven Rechts, S. 217 f. 359 Zur Abänderung von Sekundärrecht durch die Mitgliedstaaten im Rahmen der Beitrittsakten 1. Kap. II. 3. 360

Näher zur Justitiabilität der Revision 7. Kap.

361

EuGH, Urt. v. 7.2.1979, verb. Rsen. 15 und 16/76 (Frankreich/Kommission), Slg. 1979, S. 321 (336 Rdnm. 7 f.); Rengeling/Middeke/Geilermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rdnr. 183. 362

Vgl. für die Bundesrepublik unter dem Gesichtspunkt von Kompetenzverschiebungen imföderalen System Art. 125 a GG.

166

1. Teil: Grundlagen

gegen den Sekundärrechtsakt dennoch zuzulassen - zumal die Rspr. zum maßstabsrelevanten Zeitpunkt im Kontext einer nachträglichen Korrektur des Sekundärrechts ergangen ist 3 6 3 bzw. der Nichtigkeitsklage je nach Antragsteller auch objektive Kontrollfunktion zukommt - und die grundsätzlich ex tunc eintretenden Urteilswirkungen gem. Art. 231 Abs. 2 EGV (und im Vorabentscheidungsverfahren in analoger Anwendung) zu begrenzen. 364

b) Formelle Grenzen Die vorstehend in Bezug genommenen verfahrensrechtlichen Anforderungen, insbesondere der Art. 48 und Art. 49 EUV sowie der maßgeblichen autonomen oder halbautonomen Verfahren, lassen sich prinzipiell als formelle Grenzen der Revision klassifizieren. Im Zusammenhang mit der Revision nationaler Verfassungen hat der Begriff der formellen Grenzen bzw. Schranken allerdings Kritik erfahren. Auch eine Schranke des Verfahrens stelle selbst eine eigentliche Verfahrensnorm dar; es sei „praktisch kaum möglich, auseinanderzuhalten, welche das Verfahren ordnenden Normen als Schranke des Verfahrens und welche als bloße Verfahrensnormen zu gelten hätten." 365 Angesichts dieser Doppelfunktion und mangels entsprechender Differenzierbarkeit sei das Problem der Schranken der (Verfassungs-)Revision insofern ein materielles, als es um die „Beschränkung der der Willensentscheidung der ... verfassungsändernden Instanz unterstellten materialen Wertenscheide" 366 gehe.

363

Vgl. Fußn. 361.

364

Siehe dazu ausdrücklich EuGH, Urt. v. 29.6.1979, Rs. 145/79 (Roquette Frères/ Frankreich), Slg. 1980, 2917 (2946 Rdnr. 53); vgl. femer das Urt. v. 15.1.1986, Rs. 41/ 84 (Pinna/Caisses d'allcoations familiales de la Savoie), Slg. 1986, 1 (26 Rdnr. 29). 365

Siegenthaler, Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision als Problem des positiven Rechts, S. 5. Von „formellen Schranken" der Vertragsänderung spricht Koppen, Verfassungsfunktionen - Vertragsfunktionen, S. 123 ff. 366

Siegenthaler, a.a.O., unter Berufung auf Giachometti/ F leiner, Bundesstaatsrecht, S. 705, die sich allerdings mit den schweizerischen Spezifika zwischen Partial- und Totalrevision auseinandersetzen und zugleich für die Unabänderlichkeit von Normen betreffend die Einsetzung der notwendigen Organe der Verfassungsänderung votieren. Einen Überblick über die Diskussion zur Unabänderlich von Verfassungsnormen in der Schweiz (vor Inkraffctreten der Bundesverfassung 2000) vermitteln Häfelin/Halter, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Rdnm. 25, 928. Siehe zum zwingenden Völkerrecht als inhaltlicher Grenze jeder Verfassungsrevision nunmehr Art. 139 Abs. 3 (Volksinitiative), Art. 193 Abs. 4 (Totalrevision) und Art. 194 Abs. 2 (Teilrevision) der neuen Bundesverfassung. Näher zum „Ius cogens als materielle(r) Schranke der Verfassungsrevision" Pascal Arnold, in: Fleiner u.a., Die neue Schweizerische Bundesverfassung, S. 53 ff., sowie zur „Einheit der Form und Einheit der Materie als formelle(n) Schranken

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

167

Dennoch ist an der Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Grenzen der Revision festzuhalten: Zum einen wirken die vertraglichen Verfahrensvorschriften jedenfalls unions- und gemeinschaftsinnenrechtlich als (exklusive) Abgrenzung gegenüber dem ebenfalls denkbaren formlosen völkerrechtlichen Änderungsverfahren. Darüber hinaus läßt sich zwischen den verschiedenen Verfahren selbst unterscheiden: Das autonome Verfahren etwa reduziert zumeist den Kreis der Beteiligten sowie die weiteren formellen Anforderungen erheblich und räumt den Organen zugleich eine gewisse echte Entscheidungsbefugnis ein. Schließlich folgt aus einer Konkretisierung des Anwendungsbereiches der Verfahrensvorschriften eine genuin formelle Einschränkung der Revision gegenüber den insofern ggf. nicht erfaßten Revisionsarten bzw. -gründen. Bei alledem wird nicht verkannt, daß es im Einzelfall bei der praktischen Anwendung der jeweiligen Verfahrensnorm einer gesonderten Hervorhebung ihrer Grenzfunktion in bezug auf die vorgenannten Anknüpfungspunkte nicht bedarf.

c) Materielle Grenzen - „acquis communautaire intangible" Materielle Grenzen der Revision in einem weiteren Sinne sind bereits die von Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV (i.V.m. Art. 6 Abs. 1) E U V 3 6 7 an den Betritt gestellten und waren die vormals von Art. 95 Abs. 3 Hs. 2 i.V.m. Art. 2 - 4 EGKSV 3 6 8 an die „Kompetenzanpassung" geknüpften inhaltlichen Anforderungen. Diese Anforderungen stellen verfahrensspezifische materielle Grenzen der Revision dar. Ihre eigentliche bzw. weitergehende Grenzfunktion folgt indes erst daraus, daß diese Anforderungen ihrerseits nicht im Wege des allgemeinen Vertragsänderungsverfahrens abgeändert werden könnten. Auf diese spezifische Grenzfunktion wird sich die Untersuchung beschränken. Daß das Europarecht in diesem Sinne selbst materielle Grundsätze einer Änderung entzieht, ist grundsätzlich ebenso denkbar wie dies zum Teil im (zwingenden) Völkerrecht sowie im nationalen Verfassungsrecht der Fall ist. Zwar lassen sich dem positiven Primärrecht jedenfalls keine eindeutigen Regelungen der Verfassungsrevision" (Art. 139 Abs. 2, 3; Art. 194 Abs. 2 der Bundesverfassung), S. 56 f. 367 Siehe dazu sowie zu der Frage, ob das Kriterium „europäischer Staat" als antragsspezifische „formale Verfahrensvoraussetzung" einzustufen ist [so Sarcevic, EuR 2002, S. 461 (467)], 3. Kap. V. 1. und 2. Zur Einhaltung der in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze als materiellen Kriterien Zeh, Recht auf Beitritt?, S. 15 ff., 26; zur Rechtsverbindlichkeit der Beitrittsvoraussetzungen dies., a.a.O., S. 26 ff. 368

Carstens [ZaöRV 21 (1961), S. 1 (15)] entnimmt diesem Normgefüge nach eigener systematischer Einordnung „drei kumulative materielle Schranken".

168

1. Teil: Grundlagen

entnehmen.369 Gleiches gilt jedoch in weitem Umfang für das universelle Völkerrecht. Mit der Anerkennung des ius cogens-Prinzips 370 in Art. 53 und 64 WVK wurde zwar ein überwiegend positivistischer ius cogens-Begriff verankert; 371 allerdings treffen die Normen über den Inhalt zwingenden Rechts keine Aussage. Überdies gilt die WVK lediglich inter partes, mit der Folge, daß unmittelbar aus Art. 53 WVK selbst nicht die universelle Geltung des ius cogens-Prinzips abgeleitet werden kann, wenngleich dieses Prinzip über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus gilt, und sich die Kriterien universell zwingender Normen aus dem identischen Kern der Anerkennungsregeln ergeben. 372 Auch in der Doktrin des nationalen Verfassungsrechts in Europa folgt die ungeschriebene materielle Illegalität der Revision einzelner fundamentaler Grundsätze zum Teil aus der in der allgemeinen Staatslehre häufig anzutreffenden Unterscheidung zwischen dem Verfassunggeber, dem pouvoir constituant , und dem Verfassungsgesetzgeber {pouvoir constitué ),373 ungeachtet der Schwierigkeit, vor diesem Hintergrund einzelne, einer Änderung entzogene Positionen näher zu bestimmen. Angesichts dessen liegt nahe, den Einfluß von „Rezeptionsvorgängen" bei der Übernahme höchstrangiger Rechtspositionen in das Recht der EU zu untersuchen bzw. Ansätze einer Rangordnung zu betrachten, deren methodische Parallelen auch in der Anerkennung völkerrechtlichen ius cogens liegen könnten, sofern man darin nicht eine besondere Bestandssicherung, sondern den Ausnahmefall höherrangigen Rechts erblickt. Ein änderungsfester Kern kann sich inhaltlich naturgemäß nur aus den für die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, der internationalen Staatengemeinschaft oder der europäischen Union und Gemeinschaften unabdingbaren fundamentalen Grundsätze zusammensetzen. Sollen diese für das Primärrecht als Kategorie eigenständig begrifflich umschrieben werden, liegt zunächst nahe, von den mit einem änderungsfesten Kern zum Ausdruck gebrachten fundamentalen Grundsätzen als einem ordre public européen im engeren Sinne sprechen. Grob skizziert haben das Institut des ordre public und zwingendes Völkerrecht hinsichtlich ihrer Rechtsfolge jedenfalls gemein, daß den gegen die Fundamentalnor-

369

Siehe aber unten 5. Kap. I. 2.

370

Kadelbach (Zwingendes Völkerrecht, insbes. S. 163 ff) unterscheidet zwischen dem ius cogens- Prinzip als „sekundärer Norm", welche die grundsätzliche Anerkennung, Voraussetzungen und Rechtsfolgen zwingenden Rechts betrifft, sowie den materiellen Normen zwingenden Rechts als „Primärnormen" und qualifiziert beide Kategorien als Bedingungen einer diskurstheoretisch zu ermittelnden Theorie des ius cogens. 371

Heintschel von Heinegg, in Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 42.

372

Vgl. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 128, 166, 177. Siehe dazu und auch zu den Rechtsquellen des ius cogens näher 4. Kap. II. 1. a).; femer 5. Kap. I. 1. a) bb). 373

Schmitt, Verfassungslehre, S. 22 f., 98; dazu 4. Kap. III. 2. c) aa) (2) (c).

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

169

men verstoßenden Rechtsakten die rechtliche Anerkennung versagt bleibt. 374 Zugleich ließe sich ein materieller Kern des Europarechts auch begrifflich von dem speziell einem völkerrechtlichen Geltungsgrund verhafteten ius cogens abschichten. Die Reduzierung auf ein regionales bzw. partikulares zwingendes Völkerrecht würde weder der Autonomie der Europäischen Rechtsordnung noch der Vielschichtigkeit und Problematik eigenständiger und inkoporierter Hierarchisierungskonzepte gerecht. Allerdings werden der Bezeichnung ordre public - soweit es sich nicht um die lediglich intern zwingenden Normen handelt - bereits mannigfache Bedeutungen zugeschrieben; diese sind im Hinblick auf den Anwendungsbereich, den Geltungsgrund, die Wirkungsweise sowie den zu ermittelnden Gehalt überaus vielfältig. Dabei muß sowohl für den „internationalen" als auch den „europäischen" ordre public zunächst zwischen der kollisionsrechtlichen Funktion im internationalen Privatrecht sowie seiner Ausprägung betreffend die Anerkennung ausländischer Hoheitsakte einerseits und den Grundsätzen für die supranationalen und internationalen, insbesondere völkerrechtlich determinierten Rechtsbeziehungen andererseits unterschieden werden. Bereits im Rahmen des - hier naturgemäß nicht maßgeblichen - Internationalen Privatrechts wird diskutiert, ob der internationale ordre public 375 nur einen gemeinsamen, inhaltlich identischen Ausschnitt der jeweiligen nationalen Fundamentalnormen bzw. die völkerrechtliche Prägung des nationalen ordre public umschreibt oder aber als selbständiger, in seiner Geltung im Völkerrecht verankerter Ausschlußgrund fungiert. 376 Soweit im kollisionsrechtlichen Zusammenhang von einem (ge-

374

Siehe Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 30 f. Davon zu unterscheiden ist der französische, international-privatrechtliche Begriff des „ordre public international", der sich vom internen ordre public lediglich durch seine kollisionsrechtliche, nach außen gerichtete Wirkung unterscheidet; auch der „ordre public international" ist in der Sache ein nationaler Vorbehalt, der aus innerstaatlich „zwingenden" Rechtssätzen besteht; siehe Jaenicke, BDGV 7 (1967), S. 77 (80); Schütz, Der internationale ordre public, S. 8 f. m.w.N. Nach wiederum abweichendem Verständnis wird der Anwendungsbereich des „ordre public international" gerade durch diejenige fremde Rechtsordnung bestimmt, deren Norm anzuwenden wäre, die angesichts ihres in besonderer Weise allein dem Ursprungsstaat verhafteten Anliegens allerdings nicht zur Anwendung gelangen soll, so Stöcker, RabelsZ 38 (1974), S. 79 (88). 375

376

Siehe Jaenicke, BDGV 7 (1967), S. 77 (81); vgl. auch Martiny, in: von Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, S. 211 (221); im Falle der Anwendung des Völkerrechts durch die nationalen Gerichte stellt sich dann jenseits monistischer Konzeptionen zugleich die Frage nach einem Transformationserfordernis, vgl. dazu Jaenicke, a.a.O., S. 81 ff.; Schütz, a.a.O., S. 13. Siehe im Hinblick auf weitere Spielarten und Nuancierungen Völker, Zur Dogmatik des ordre public, S. 275 ff. m.umfangr.N.

170

1. Teil: Grundlagen

mein-)europäischen ordre public 377 gesprochen wird, sind damit unterschiedliche Konzeptionen zur Effektuierung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der nationalen Vorbehaltsklauseln verbunden. 378 So wird z.T. inhaltsorientiert davon ausgegangen, die nationale öffentliche Ordnung schließe mittlerweile diejenige der Gemeinschaft mit ein, 3 7 9 z.T. eine rechtsvergleichende Bestimmung vorgenommen 380 bzw. eine an den gemeinsamen Rechtsprinzipien der europäischen Staaten orientierte Prägung des nationalen ordre public erkannt. 381 Zudem müsse, gestützt auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts 382, der nationale ordre public im Hinblick auf das Recht anderer Mitgliedstaaten bzw. deren Entscheidungen restriktiver als gegenüber einem Drittstaat angewendet werden, wenn und soweit dies den Zielen und der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts entspricht. 383 Demgegenüber ist der öffentlich-rechtliche ordre public im Rahmen supraund internationaler Rechtsbeziehungen vornehmlich auf die Einschränkung der Handlungsfreiheit der Staaten bzw. auf die Etablierung einer Hierarchie 384 der für die Staatengemeinschaft geltenden Regeln gerichtet. Der internationale ordre public „völkerrechtlicher Provenienz" 385 bringt zum Ausdruck, daß in der Völkerrechtsordnung Prinzipien und Normen internationalen Rechts verankert sind, die die Grundlage des internationalen Rechtssystems bilden, gleichsam die übergeordneten Interessen der Völkerrechtsordnung als Rechtsgemeinschaft 377

Spickhoff, Der ordre public im Internationalen Privatrecht, S. 89 ff.; Föhlisch, Der gemeineuropäische ordre public, S. 27 f.; Völker, a.a.O., S. 286 ff. 378

Vgl. Baumert, Europäischer ordre public und Sonderanknüpfung zur Durchsetzung von EG-Recht, S. 46 ff.; Föhlisch, a.a.O., S. 27. 379

Siehe Lagarde, in: Giuliano/Lagarde, Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, BT-Drucks. 10/503, S. 33 ff. (70). 380

Vgl. ansatzweise BGHZ 50, 370 (376); siehe femer Spickhoff, Der ordre public im internationalen Privatrecht, S. 91; femer Jayme, Methoden der Konkretisierung des ordre public, S. 44 ff. 381 Jaenicke, BDGV 7 (1967), S. 77 (125); Reichelt, ZfRV 1974, S. 217 (225); zum internationalen ordre public Wiethölter, BDGV 7 (1967), S. 133 (172). 382 Vgl. speziell zum Anwendungsvorrang des EuGVÜ trotz mangelnden Primärrechtscharakters EuGH, Urt. v. 13.11.1979, Rs. 25/79 (Sanicentral/Collin), Slg. 1979, 3423 (3429 Rdnr. 5); Urt. v. 15.11.1983, Rs. 288/82 (Duijnstee/Goderbauer), Slg. 1983, 3663 (3674 f. Rdnm. 13 ff.); vgl. auch oben 1. Kap. II. 4. 383 Siehe dazu Steindorff, EuR 1981, S. 426 (439 f.); Föhlisch, Der gemeineuropäische ordre public, S. 27 f.; vgl. auch Völker, Zur Dogmatik des ordre public, S. 287. 384 Siehe Streinz, ArchVR 15 (1971/1972), S. 197 (217 ff.); gegen die Höherrangigkeit selbst des ius cogens Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 45. 385

Jaenicke, BDGV 7 (1967), S. 77 (80).

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

171

verkörpern. 386 Während ordre public und ius cogens früher häufig synonym verwendet wurden, 387 wird heute überwiegend die Ansicht vertreten, beide Normbereiche seien nicht identisch; das ius cogens bilde lediglich einen Unterfall, 3 8 8 wenngleich das „Herzstück" 389 des internationalen ordre public? 90 Von ius cogens und ordre public ist zumeist mit Blick auf den Bestand konkreter Normen die Rede, die ihrerseits mit dem Konzept der erga omnes-Pflichten in Verbindung gebracht werden. Es handelt sich dabei um konkrete Verpflichtungen, die gegenüber allen Vertragspartnern (etwa im Hinblick auf die Gewährung individueller Konventionsrechte) oder auch gegenüber allen Staaten der internationalen Gemeinschaft bestehen, wobei der Ursprung dieser Verpflichtungen Normen des zwingenden Rechts zuzuordnen sein kann. 391 Ausgehend von der vorgenannten völkerrechtlichen Konzeption ist sogleich auch von einem europäischen ordre public gesprochen worden; gerade im Hinblick auf europäische Staatengruppen sei eine Homogenität grundlegender normativer Wertvorstellungen in verstärktem Maße angelegt. 392 In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, daß insbesondere die wesentlichen Gewährleistungsinhalte der EMRK Bestandteil eines „ordre public européen"

386

Jaenicke, BDGV 7 (1967), S. 77 (85).

387

Vgl. dazu etwa Mosler, SchwJIR 25 (1968), S. 9 f.

388

Jaenicke, BDGV 7 (1967), S. 77 (96); Mosler, REDI 21 (1968), S. 522 (532); Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 31; Wilting , Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, S. 50. 389

Jaenicke , in: Bernhardt, EPIL, Vol. II, S. 1348: „principles and rules which qualify as jus cogens certainly form the core of the international public order" (Hervorhebung im Original). 390 Zur (entstehungsgeschichtlichen) Verbindung zwischen ius cogens und der Qualifizierung der entsprechenden Werte als ordre public auch Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, S. 339 ff. 359 ff. 391 Vgl. zunächst IGH, Urt. v. 5.2.1970, „Case concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limite" (Barcelona Traction), I.C.J. Reports, S. 3, 33 (Ziff. 33 f.) zu erga omnes- Pflichten. Siehe zur Verbindung zwischen ius cogens und dem Konzept der Pflichten erga omnes Paulus, a.a.O., S. 358 f. und 379 f. m.w.N., auch zur Rechtsprechung seit 1970 (S. 372 ff.). Zum ius cogens und dem Konzept der erga omnes- Pflichten im Hinblick die Existenz internationalen (formellen) Verfassungsrechts Uerpmann, JZ 2001, S. 565 (571 f.). Eingehend zum erga omnes- Konzept und zum Verhältnis von erga omnes- Pflichten und Friedensbedrohung auch Gading, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates - das Ende staatlicher Souveränität?, S. 130 ff. 392

Vgl. dazu Mosler, ZaöRV 28 (1968), S. 481 (495 ff.); ders., REDI 21 (1968), S. 522.

172

1. Teil: Grundlagen

geworden seien 393 bzw. die EMRK - „Dokument europäischen Verfassungsrechts" und Ausdruck der „menschenrechtlichen Konstitutionalisierungstendenzen" 394 - einen „ordre public de l'Europe" etabliere. 395 Da und soweit sich eine Bindung von Union und Gemeinschaften an diese Inhalte (zumindest) über die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze oder durch Gewohnheitsrecht, gem. Art. 6 Abs. 2 EUV sowie einem wertenden Vergleich nationaler Verfassungsgrundsätze ergibt, 396 ließe sich in Anlehnung an Jaenicke von einem ordre public europäischer bzw. europarechtlicher „Provenienz" sprechen. Von einer dergestalt konturierten europäischen öffentlichen Ordnung ist wiederum der im EGV, insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten verankerte ordre public- Vorbehalt 397 zu unterscheiden. Es handelt sich dabei vor allem um Rechtfertigungsgründe, derentwegen eine nationale Beschränkung entgegen dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ausnahmsweise nicht zurücktreten muß, mithin gemeinschaftsrechtlich zulässig ist. Mit den in diesem Zusammenhang maßgebenden Tatbestandsmerkmalen „öffentliche Ordnung" und „öffentliche Sicherheit" sind grundsätzlich nationale Interessen in Bezug genommen, so daß in erster Linie die jeweiligen Maßstäbe der Mitgliedstaaten anzulegen sind. Diesen verbleibt bei der Ausfüllung der autonomen gemeinschaftsrechtlichen Begriffe 398 der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit ein Beurteilungsspielraum. 399 Grenzen der vom EuGH überwachten 393

Siehe Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 32. 394 Uerpmann,, JZ 2001, S. 565 (570). 395 Giegerich, ZaöRV 50 (1990), S. 836 (853, 863); vgl. auch Langenfeld/Andreas Zimmermann,, ZaöRV (52) 1992, S. 259 (311). Zur EMRK als „ordre public commun" der europäischen Demokratien bzw. als „ordre constitutionnel européen" Sebastian Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 140 (Hervorhebungen im Original). 396

Vgl. Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 32, 111 ff. 397 Siehe Art. 30, Art. 39 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1, Art. 55 (i.V.m. Art. 46 Abs. 1), Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV. Vgl. darüber hinaus im Hinblick auf die den Mitgliedstaaten zum Schutz der öffentlichen Ordnung im Rahmen der PJZS sowie in den Bereichen Visa, Asyl und Einwanderung verbleibenden Zuständigkeiten Art. 33 EUV bzw. Art. 64 Abs. 1 EGV. 398

Vgl. EuGH, Urt. v. 4.12.1974, Rs. 41/74 (van Duyn), Slg. 1974, 1337 (1350 Rdnr. 18), Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EGV Rdnr. 3; vgl. auch Epiney, a.a.O., Art. 30 EGV Rdnr. 31, und Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 30 EGV Rdnm. 9 f. 399 Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Urt. v. 4.12.1974, Rs. 41/74 (van Duyn), Slg. 1974, 1337 (1350 Rdnr. 19); Urt. v. 27.10.1977, Rs. 30/77 (Bouchereau), Slg. 1977, 1999 (2013 Rdnm. 34 f.); Urt. v. 18.5.1989, Rs. 249/84 (Kommission/Deutschland),

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

173

Ausübung dieses Spielraumes ergeben sich jedoch aus der Beachtung des fundamentalen Grundsatzes der jeweiligen Grundfreiheit selbst, 400 dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, dem Verbot willkürlicher Diskriminierung, 401 dem Gebot der Verhältnismäßigkeit der nationalen Beschränkung und auch dem Sekundärrecht. 402 Nicht zuletzt deswegen ist der Bereich der ordre /?wW/c-Schutzklauseln vielfach Gegenstand der Rechtsangleichung,403 wenngleich die Berufung auf nationale Interessen im Sinne des Art. 30 EGV im übrigen die Beibehaltung einzelstaatlicher Bestimmungen zu Lasten einer Harmonisierung rechtfertigt (vgl. etwa Art. 95 Abs. 4 EGV). Vor dem Hintergrund dieser Begriffsvielfalt kann die Rubrizierung materiell änderungsfester Normen bzw. Norminhalte unter der Bezeichnung ordre public européen keinen sinnvollen Beitrag leisten, um die Bedeutung materieller Grenzen terminologisch hinreichend zu erfassen. Auch wenn der ordre public européen eine europaspezifische objektive Wertordnung zum Ausdruck bringt, ist damit über die Disponibilität und die Veränderlichkeit der in Bezug genommenen Grundwerte wenig ausgesagt. In dieser Hinsicht besteht eine Parallele zum Verhältnis des völkerrechtlichen internationalen ordre public zum zwingenden Völkerrecht. Mit dem Konzept des ordre public wird in erster Linie nicht die Nichtigkeit des widersprechenden Aktes, sondern dessen Unanwendbarkeit verbunden, sofern keine Identität mit zwingendem Völkerrecht besteht. Zielt die Revision des Primärrechts auf eine Derogation einer bereits bestehenden Norm, bleibt außer Betracht, eine Normenkonkurrenz hinzunehmen, gleichzeitig aber den Normen des ordre public stets den Anwendungsvorrang einzuräumen. Zudem rückt das Konzept des ordre public nicht das gemeinschaftliche Handeln der von dieser Ordnung geleiteten Staaten in den Vordergrund. Abgesehen vom Anwendungsvorrang der aus dem ordre public abzuleitenden Verpflichtungen geht es vor allem um die Achtung und Anerkennung von Rechtshandlungen und objektiven Regimen dritter Staaten sowie das legitime Interesse eines jeden Staates, einer Nichtbeachtung der aus dem ordre Slg. 1989, 1263 (1292 Rdnr. 19), dazu Becker, EU-Erweiterung und differenzierte Integration, S. 33 ff.; zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Urt. v. 28.10.1975, Rs. 36 Π5 (Rutili), Slg. 1975, 1219(1231 Rdnm. 26-28). 400

Zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Urt. v. 26.2.1974, Rs. 67/74 (Bonsignore), Slg. 1975, 297(307 Rdnr. 6). 401

Vgl. Martiny, in: von Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, S. 211 (212). 402

Siehe EuGH, Urt. v. 19.1.1999, Rs. C-348/96 (Strafverfahren gegen Donatella Calfa), Slg. 1999, 1-11 (30 Rdnm. 24 ff.); vgl. dazu die Anmerkung von Becker, EuR 1999, S. 517 ff. (speziell zum Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in bezug auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht aus Art. 18 EGV S. 529). 403

Vgl. Art. 46 Abs. 2 EGV.

174

1. Teil: Grundlagen

public fließenden Regeln und Prinzipien zugunsten der gesamten Staatengemeinschaft angemessen zu entgegnen.404 Gleichwohl ist zuzugeben, daß auch ein Konzept zwingenden Rechts, wie das Beispiel völkerrechtlichen ius cogens zeigt, in erster Linie den Normenverstoß einzelner (vertraglich) abweichender Staaten oder einer Staatengruppe sowie einseitige Verstöße (etwa in Form eines international crime) sanktionieren w i l l ; 4 0 5 schon hinsichtlich des Geltungsgrundes ist insoweit aber problematisch, inwiefern etwa in Anbetracht einer persistent objection die Entstehung von ius cogens möglich ist. 4 0 6 Andererseits liegt es in der Natur zwingenden Rechts, daß dieses im Grunde auch die Gesamtheit der diesem Recht unterworfenen Staaten bindet. 407 Zugleich bleibt problematisch, daß durch gegenläufiges Handeln aller Staaten zugleich der Wille bzw. die Überzeugung zum Ausdruck kommt, den zwingenden Charakter der Norm, meist verbunden mit einer Änderung des Norminhaltes selbst, für alle folgenden Anwendungsfälle zu derogieren. Im Hinblick auf universell zwingendes Völkerrecht verwundert es nicht, daß der Fall eines Verstoßes durch allseitigen Vertrag aller Rechtsunterworfenen - soweit ersichtlich - kaum diskutiert wird. Anders ist dies in bezug auf die - theoretische - Änderung zwingenden Rechts im Wege multilateraler Verträge, die gerade den Charakter der Norm als zwingend mit umfassen muß. 408 Unterläge demgegenüber eine Gemeinschaft von Staaten eigenem, „partikular" zwingenden Recht, kommt einerseits wegen der in dieser Gemeinschaft vorherrschenden Homogenität eine einvernehmliche Änderung eher in Betracht, andererseits gilt es zu untersuchen, ob und wann etwa primärrechtliche Verträge unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten jenseits einer Änderung zwingenden Rechts gegen dieses verstoßen.

404

Jaenicke, in: Bernhardt, EPIL, Vol. II, S. 1348 (1351); vgl. auch Kadelbach,, Zwingendes Völkerrecht, S. 31. 405

Zugespitzt mündet dies in die Überlegung, ob (neben regionalem) auch bilaterales ius cogens zulässig bzw. überhaupt sinnvoll ist; vgl. dazu Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 204, der als Verstoß gegen regionales ius cogens allein „bilaterale Abweichungen zwischen einzelnen Beteiligten" anführt. 406 Siehe Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, S. 345 ff. Das ist dann keine contradictio in adiecto, wenn man für das Gewohnheitsrecht davon ausgeht, daß nur eine vorhandene universelle Norm zu zwingendem Recht erstarken kann. 407 Bei überpositivem Geltungsgrund gilt dies uneingeschränkt. 408

Vgl. etwa Rozakis, The Concept of Jus Cogens in the Law of Treaties, S. 72, 91; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 206 ff. Für eine Änderbarkeit ohne differenzierte Anforderungen offensichtlich Bleckmann (Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 28), der davon ausgeht, daß, „wenn der gesamte Inhalt der EMRK zwingendes Völkerrecht darstellte," er im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten der EG „von allen Mitgliedstaaten des Europarats ... geändert werden" könnte.

2. Kap. : Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

175

Angesichts dessen bilden europarechtliche, materielle Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, soweit diese feststellbar sind, eine vom „ordre public européen " herkömmlichen Verständnisses weiter abzuschichtende, eigenständige Kategorie. Sie können inhaltlich zwar mit zwingendem Völkerrecht identisch sein, aber mit Blick auf die genuin europarechtlichen Quellen des Primärrechts sowie die „Verfassungshomogenität" der Fundamentalnormen der Mitgliedstaaten theoretisch auch darüber hinausgehen. Auch wenn sie einem öffentlich-rechtlichen, europäischen ordre public zugeordnet werden können, sind sie im Hinblick auf ihre Grenzfunktion für das gemeinschaftliche Handeln sämtlicher Mitgliedstaaten gleichwohl enger gefaßt. Da die insofern in Betracht kommenden Fundamentalnormen sämtlich jedenfalls dem - (primär-)rechtlichen - acquis communautaire 409 zuzuordnen wären, läßt sich bei materiellen, europarechtlichen Grenzen der Revision am ehesten von einem änderungsfesten Kern im Bestand des Gemeinschaftsrechts, einem acquis communautaire intangible 410 (oder auch indisponible) 411 sprechen. Auch der Terminus acquis fondamentalf 412 (matériel) 413Grscheint grundsätzlich geeignet; doch gilt es zu bedenken, daß Fundamentalnormen nicht bereits aus sich selbst heraus Bestandsschutz zukommt. Daß der gesamte acquis communautaire in dem Sinne änderungsfest sei, daß eine vertragsändernde Absenkung überhaupt ausscheidet, läßt sich nicht begründen, und auch Art. 48 EUV steht dem bereits entgegen.414

V. Zusammenfassung 1. Der Grundsatz der Formfreiheit der Vertragsänderung im allgemeinen Völkerrecht und die Vielzahl rechtstheoretisch möglicher, unterschiedlich

409

Insofern ist hier lediglich ein Teilausschnit des acquis ' betroffen; vgl. 1. Kap. II. 5. Fußn. 177. 4.0 Zur ,,1'intangibilité de la constitution" im Sinne einer „limitation matérielle de la révision constitutionnelle" (entgegen der französischen „doctrine dominante") Beaud, La Puissance, de l'État, S. 471 bzw. 490, siehe auch S. 482, sowie bereits dens., RFD adm. 1993, S. 1045 (1061, 1063). Zum Verständnis des Art. 89 Abs. 5ter französischen Verfassung näher 6. Kap. I. 3. a) ee). 4.1 Zu fundamentalen Bestandteilen des acquis in diesem Zusammenhang ansatzweise Pescatore , RTDE 17 (1981), S. 617 (620 ff.); Gialdino, CMLR 35 (1995), S. 1089 (1109 ff.). 4.2

Pescatore , RTDE 17 (1981), S. 616 (620).

4.3

Da Cruz Vilaça/Piçarra

4.4

, CDE 1993, S. 3 (29).

Vgl. Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. Β EUV Rdnr. 29; Blanke, in. Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 2 EUV Rdnr. 15.

176

1. Teil: Grundlagen

formgebundener Erscheinungsformen von Änderungen oder Ergänzungen des Primärrechts in der EU sprechen dafür, sich dem Begriff der Revision und denkbaren Tatbeständen von einer übergeordneten Perspektive aus zu nähern. Im Unterschied zu der in der W V K verwendeten, aber im Einklang mit der europarechtlichen und jedenfalls ohne Widerspruch zur traditionellen völkerrechtlichen Terminologie ist die Bezeichnung Revision am besten als Oberbegriff geeignet, um Primärrechtsänderungen bzw. -ergänzungen unterschiedlichen Umfangs, unterschiedlicher Art sowie aus verschiedenen Anlässen zu erfassen, ohne mit der europarechtlich bestimmten Unterscheidung zwischen Änderung und Anpassung zu konkurrieren. 2. Zahlreiche Formen mitgliedstaatlichen oder organschaftlichen Handelns tangieren das VerfassungsgefÜge von Union und Gemeinschaften, ohne daß dies zwingend zu einer Revision des Primärrechts führt bzw. führen muß. Soweit eine Berufung auf die clausula rebus sie stantibus überhaupt zulässig ist und als Rechtsfolge (auch) die Vertragsbeendigung in Betracht kommt, läßt sich diese funktionell von einer Vertragsänderung unterscheiden, selbst wenn eine „Änderung der Rechtslage" durch Beseitigung des Vertrages auch in diesem Falle eintritt. Nach den Regeln der WVK erfolgt weder eine Beendigung des Vertrages noch eine mögliche Anpassung ipso iure; die Parteien können die grundlegende Änderung der Umstände zum Anlaß nehmen, den Vertrag unter Erhaltung seiner Gültigkeit zu modifizieren. Wäre ein Austritt bzw. Rücktritt zulässig, führte dieser auch zu einer Änderung der Rechtsbeziehungen zwischen den übrig gebliebenen Mitgliedern und böte darüber hinaus ebenfalls Anlaß, (weitere) Änderungen oder Anpassungen des Vertrages zu vereinbaren. Die völkerrechtliche (Vertrags-)Suspendierung ist zwar keine Revision im herkömmlichen Sinne, modifiziert jedoch unter Aufrechterhaltung der Vertragsbeziehungen den zeitlichen Geltungsumfang. Geschieht dies durch allseitigen Vertrag, läßt sich von einer Vertragsänderung sprechen. Demgegenüber ist in EUV und EGV bereits ein Sanktionensystem errichtet, daß - theoretisch selbst die Mitwirkung an der Vertragsänderung aussetzen könnte. Doch weder die Feststellung einer Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze noch die Verhängung von Sanktionen durch den Rat sind als primäre Rechtsakte zu qualifizieren. Die verstärkte Zusammenarbeit errichtet keinen neuen primärrechtlichen Koordinationsrahmen, sondern ist im Gegenteil ihrerseits durch die bereits bestehenden Kompetenzen begrenzt. Der Beschluß zur Gründung der verstärkten Zusammenarbeit und dessen Aufhebung sind sekundärrechtlicher Natur. Auch die Kompetenzergänzung durch Art. 308 EGV führt nicht zu einer, sei es auch „nur" materiellen oder autonomen, Vertragsänderung. Es handelt sich bei dieser Vorschrift weder um eine KompetenzKompentenz noch erfährt das Prinzip der begrenzten Ermächtigung eine Durchbrechung. Negatives immanentes Tatbestandsmerkmal zur Abgrenzung gegenüber der Vertragsrevision sind Änderungsvorhaben von „verfassungs-

2. Kap.: Begriffe - Revisionstatbestände und -hindernisse

177

rechtlicher Dimension"; Vertragsdurchbrechungen, auch in Form impliziter Änderungen, sind unzulässig. Das Primärrecht modifizierende Aspekte eines „Verfassungswandels" sowie Gebietsveränderungen eines Mitgliedstaates bleiben schließlich für die Revisionsproblematik weitgehend außer Betracht. 3. Die Revision umfaßt in erster Linie die Änderung einer Rechtsregel in Form einer zukünftig verbindlichen Ersetzung oder Beseitigung einer Norm oder aber auch deren schlichte Ergänzung sowie bloße Klarstellungen. Aufhebung und - ex- oder implizite - Änderung bewirken eine Derogation im engeren Sinn und folgen innerhalb derselben Rechtsordnung vor allem dem lex posterior-Prinzip; sie können gewillkürt oder auch automatisch bedingt sein. Sind der von der Änderung betroffene und der die Änderung vollziehende Rechtsquellentypus nicht identisch, ist dies kein Revisionshindernis rechtstheoretischer Art. Keine Revision im herkömmlichen Sinne stellt die - zulässige Interpretation dar. Während Rechtsfortbildung in Form vertragserweiternder im Völkerrecht die spätere Praxis der (Mitglied-)Staaten sowohl als Auslegungs- als auch als Faktor der Vertragsgestaltung Bedeutung entfaltet, verneint der EuGH im Grundsatz eine Änderungsrelevanz; die Praxis ist allerdings ggf. für die Bildung von Gewohnheitsrecht relevant. Der Gerichtshof hingegen ist seinerseits zur Lückenfüllung befugt, und unter Berücksichtigung der durch Verbands- und Organkompetenz gezogenen Grenzen kann die insofern zulässige Rechtsfortbildung intra legem von der Revision abgeschichtet werden. Die Flankierung primären Unions- und Gemeinschaftsrechts durch parallele, völkerrechtliche Regelungen aufgrund von den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenzen führt jedenfalls bei Widerspruchsfreiheit der Bestimmungen mangels Derogationsgerichtetheit nicht zu einer Revision des Primärrechts. Besteht demgegenüber die Gefahr eines Normenkonflikts bzw. einer Kollision, liegt, wenn die Mitgliedstaaten nicht schon kompetentiell unzuständig sind, ein verdecktes Änderungsvorhaben vor, nicht eine nur wegen formeller Europarechtswidrigkeit möglicherweise in das Völkerrecht verwiesene „Ergänzung". Auch soweit die Verträge Beschlüsse der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungsstaaten vorsehen, führen diese mangels Zuordnung zum Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht und damit ungeachtet ihres etwaigen Ranges ebensowenig zu einer Ergänzung des Primärrechts wie dies a maiore ad minus in bezug auf die außerhalb der Verträge gefaßten Beschlüsse der Fall ist. Jenseits der einer insbesondere teleologischen - Auslegung gezogenen Grenzen kann prinzipiell allerdings Gewohnheitsrecht extra bzw. praeter legem das Primärrecht ergänzen, Gewohnheitsrecht contra legem jenes ggf. gar ändern. Beitrittsbedingte Anpassungen sind rechtstechnisch ebenso Änderungen oder Ergänzungen des Primärrechts, wie Übergangsregelungen Änderungswirkung entfalten. 4. Grenzen der Revision sind rechtliche Hindernisse, die der Derogationswirkung entgegenstehen, insbesondere markiert durch die Nichtigkeit des Revisi-

178

1. Teil: Grundlagen

onsvorhabens wegen Verstoßes gegen formelles oder materielles Recht. Entsprechende normative Anforderungen können entweder derselben Rechtsordnung wie der Änderungsgegenstand entspringen, also autonome Grenzen des Europarechts darstellen, oder aber sie lassen sich als heteronome Grenzen aus Revisionshindernis anderen Rechtsordnungen ableiten. Als völkerrechtliches kommt in erster Linie völkerrechtliches ius cogens in Betracht, dessen bindender Vorrang grundsätzlich auch gegenüber primärem Gemeinschaftsrecht anerkannt wird. Die EMRK enthält möglicherweise regionales ius cogens, dessen Bindung nach verbreiteter Auffassung materiell völkerrechtlich (heteronom) bzw. in From allgemeiner Rechtsgrundsätze autonom europarechtlich vermittelt wird. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat anläßlich gemeinschaftsrechtlich determinierten Handelns der Mitgliedstaaten eine Schutzäquivalenz im Hinblick auf den Grundrechtsschutz gefordert, die auch im Zuge einer Revision nicht unterschritten werden dürfte. Nationale Jntegrationsschranken" entfalten insoweit Bedeutung, als verfassungsrechtliche Bestandssicherungen möglicherweise auch im Rahmen allgemeiner Rechtsgrundsätze des Primärrechts Wirkungen zeitigen. 5. Autonome europarechtliche Grenzen sind kompetentieller und zugleich materieller Art, wenn die Kompetenzordnung selbst änderungsfest wäre. Die mitgliedstaatlich heteronome Kompetenz-Kompetenz ist demgegenüber verbreitet zentrale Begründung dafür, daß formelle europarechtliche Anforderungen in ihrer Wirkung ihrerseits auf das Europarecht beschränkt bleiben. Daß eine Vertragsrevision bereits existentes Sekundärrecht nachträglich zu dem neu geschaffenen Vertragsrecht in Widerspruch setzt, bildet keine kompetentielle Schranke der Revision. Da und soweit durch formelle Anforderungen (völkerrechtlich) mögliche Revisionsvorhaben begrenzt werden, kann von diesen als formellen Grenzen gesprochen werden. Sofern änderungsfeste Kerne des Primärrechts existieren und daher als autonome materielle Grenzen der Revision fungieren, können diese inhaltlich zwar mit Normen eines ordre public européen übereinstimmen, jedoch ist dies keinesfalls zwingend. Dies liegt vor dem Hintergrund der Bedeutungsvielfalt im international-privatrechtlichen, (regional-)völkerrechtlichen und selbst im europarechtlichen Bereich vor allem an Bezug und Rechtsfolge des ordre public, dessen Wirkungsweise primär in der Verweigerung der Anerkennung von Rechtsakten Dritter (Staaten) sowie in der Unanwendbarkeit als Rechtsfolge besteht. Autonome materielle Grenzen der Revision bringen demgegenüber zum Ausdruck, welche Norminhalte einer Änderung entzogen sind, lassen sich mithin als primärrechtlicher acquis communautaire intangible bezeichnen.

2. Teil

Formelle Grenzen der Revision 3. Kapitel

Im Primärrecht verankerte formelle Grenzen der Revision Als primärrechtlicher Maßstab eines Revisionsvorhabens gilt in erster Linie das geschriebene Vertragsrecht. Theoretisch könnte auch „Verfahrensgewohnheitsrecht" als Prüfungsmaßstab fungieren. Dieses enthielte doppelte Brisanz: In Ansehung der vertraglichen Revisionsverfahren müßte die Entstehung von Gewohnheitsrecht erstens überhaupt zulässig sein; dies gilt für formelles wie materielles Gewohnheitsrecht. Für gewohnheitsrechtliche Verfahrensregeln müßte ferner untersucht werden, inwieweit diese nur ergänzenden oder gar den alleinigen Maßstab für alle nachgeordneten Revisionen bilden. Vornehmlich im Zusammenhang mit der Reichweite des Art. 48 EUV soll daher auch auf die Problematik des Gewohnheitsrechts eingegangen werden; den Schwerpunkt der Betrachtung bilden die Elemente, ferner Abgrenzungsfragen der vertraglichen Revisionsverfahren sowie mögliche Fehlerfolgen. Fragen der Zurechnung des Organhandelns werden vor allem im 4. Kap. behandelt.

I. Anwendungsbereich und Grundsatzfragen betreffend Art. 48 und Art. 49 EUV Zentrale Formvorschriften und in diesem Sinne formelle Grenzen der Revision des Primärrechts sind Art. 48 und 49 EUV. Das Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV enthält in weitaus höherem Maße differenzierte Anforderungen als Art. 49 EUV, der das Beitrittsverfahren nur rudimentär regelt und die einzelnen Verfahrensschritte weitgehend der Ausgestaltung durch die Beitrittspraxis überläßt. 1 Leges speciales zum allgemeinen Änderungsverfahren

1

Die - geschriebenen und ggf ungeschriebenen - Beitrittsvoraussetzungen werden hier nicht weiter verfolgt. Sie sind keine formellen Grenzen der Revision, auch nicht in bezug auf das Merkmal „europäischer Staat" (näher dazu unter V. 1.). Vielmehr beinhalten sie materielle Vorgaben, sind nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis hingegen keine materiellen Grenzen im Sinne der Untersuchung, soweit sie sich nicht mit unabänderlichen Normen decken und aus diesem Grunde zu behandeln sind; vgl. auch 2. Kap. IV. 4. c).

180

2. Teil: Formelle Grenzen der Revision

nach Art. 48 EUV sind die das sog. halbautonome Verfahren kennzeichnenden Evolutivklauseln sowie die autonomen Änderungsbestimmungen.

L Die Vertragsänderung

(Art 48 EUV)

a) Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht Art. 48 Abs. 1 EUV normiert verfahrensrechtliche Voraussetzungen für die Änderung „der Verträge, auf denen die Union beruht", vgl. auch Art. 1 Abs. 3 EUV. Manifestiert sich ein Revisionsvorhaben textlich im EUV oder in den Gemeinschaftsverträgen, ist der Anwendungsbereich eröffnet; auf die ursprüngliche Zugehörigkeit der geänderten Norm zum primären Vertragsrecht kommt es nicht an (2. Kap. III. 1.). In Ermangelung eines neuen pouvoir constituant sind die (Mindest-)Anforderungen des Art. 48 EUV auch für die Vereinbarung des Vertrages über eine Verfassung für Europa (unbeschadet des Art. IV-447) maßgeblich;2 im übrigen stellt sich allein die in Kap. 4 nach allgemeinen Grundsätzen zu beantwortende Frage nach der Exklusivität des Verfahrens im Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht. Die Änderung der Verträge kann ferner eine Änderung des Gewohnheitsrechts oder allgemeiner Rechtsgrundsätze beinhalten, und von einer Änderung nach Art. 48 EUV ist auch bei einer „schlicht" positiven Verankerung ungeschriebenen Rechts durch Verankerung in neuem Geltungsgrund auszugehen. Weder der Wortlaut des Art. 48 EUV noch der Grundsatz der Einheitlichkeit des Primärrechts lassen jeweils eine abweichende Deutung zu. Aus diesem Grunde und aus systematischen Erwägungen sind auch die „Verträge" nicht streng formal auf die eigentlichen Vertragstexte des EUV und der Gründungsverträge zu beschränken. Die beigefügten Protokolle sind damit ebenso (bereits als Vertragsbestandteil) erfaßt wie vormalige Vertragsänderungen, beispielsweise der Fusions vertrag oder das frühere Durchführungsabkommen im Rahmen der Entwicklungsassoziation, kurzum alle primärrechtlich klassifizierten Vertragsbestandteile. 3 In bezug auf den räumlichen Geltungsbereich führt eine neu angestrebte Differenzierung im Hinblick auf die Geltung der Unionsverträge für Teile des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates zur Anwendung des Vertragsänderungsverfahrens. 4

2 3 4

ABl.EU 2004 Nr. C, S. 1; zu dessen Revisionsvorschriften unten II. 6. Siehe 1. Kap. II. 1. Dazu 2. Kap. II. 6.

3. Kap.: Im Primärrecht verankerte formelle Grenzen der Revision

181

Der Terminus „Änderung" 5 impliziert vielfältige Formen der „Streichung, Umänderung oder Hinzufügung von materiellen Regeln oder Verfahrensregeln" 6 . Er erfaßt auch die normativ klarstellende Berichtigung von Redaktionsversehen. Die Regelungswirkung einer Änderung muß überdies nicht auf die ausdrücklich geänderte Norm beschränkt bleiben. Nebst einer Inbezugnahme durch Verweisung und vorbehaltlich des Art. 47 EUV sowie anderer Konkurrenzregeln in den Gründungsverträgen ist denkbar, das eine ausdrücklich und verfahrenskonform revidierte Norm implizit Änderungswirkung für andere primärrechtliche Vertragsinstrumente entfaltet [vgl. näher unter II. 4. a)]. Sachliche und verfahrensspezifische Änderungen - auch das Änderungsverfahren selbst betreffend - können schließlich ebenso mitgliedstaatlich praktizierten oder organerzeugten, gewohnheitsrechtsrelevanten Verhaltensweisen entspringen. Sind dabei vormals vertraglich normierte Gehalte Gegenstand einer „schleichenden" Derogation, ist der Prozeß auf eine Änderung der „Verträge, auf denen die Union beruht", gerichtet und unterliegt Art. 48 EUV. 7 Unter Mißachtung dieser Anforderungen verfestigte „Änderungen" wären damit formwidrig, müßten unwirksam sein. Insofern stellt sich die Frage, ob Art. 48 EUV in Abhängigkeit von Inhalt und Tragweite der Änderung gewohnheitsrechtliche Änderungen oder Ergänzungen zuläßt. Die Problematik berührt die Geltung des Gewohnheitsrechts; ihr soll unter 2. nachgegangen werden.

b) Sonderfälle: Einvernehmlicher Austritt Auflösung von Union und Gemeinschaften Die Anwendbarkeit des Vertragsänderungsverfahrens auf den einvernehmlichen Austritt aus der EU und auf die Auflösung von Union und Gemeinschaften wird kontrovers beurteilt. Dabei sind mehrere, häufig miteinander vermengte Problemkreise auseinanderzuhalten. Zum einen muß danach gefragt werden, ob einvernehmlicher Austritt und Auflösung begrifflich von Art. 48 EUV erfaßt werden. Fällt das dergestalt anhand des Wortlautes ermittelte Er5 Dazu ausführlich 2. Kap. III. 1. Vgl. zur Abgrenzung gegenüber der vertragsändernden Interpretation und der Rechtsfortbildung bereits 2. Kap. III. 2.; ist die Schwelle zur Revision des Primärrechts überschritten, richtet sich das Vorhaben nach Art. 48 EUV. 6 Meng, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EU Rdnr. 40. 7

Vorstellbar wäre auch eine gewohnheitsrechtliche Änderung allgemeiner Rechtsgrundsätze oder bereits existenten und möglicherweise zulässigen [dazu unten 2. b)] vertragsergänzenden Gewohnheitsrechts. Rein formal handelte es sich dabei nicht um eine Änderung „der Verträge". Auch in diesem Zusammenhang bleibt allerdings die nachfolgend aufgeworfene Frage bestehen, inwiefern Art. 48 EUV die Geltung von Gewohnheitsrecht überhaupt ausschließt.

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2. Teil: Formelle Grenzen der Revision

gebnis nicht eindeutig aus, sind teleologische, vor allem aber systematische Gesichtspunkte maßgebend, welche - zunächst aus europarechtlicher Sicht Aufschluß darüber liefern, ob die Mitgliedstaaten eine entsprechende materielle Änderungs- bzw. Auflösungskompetenz besitzen. Letzteres unterstellt, sind Austritt und Auflösung den „gewöhnlichen" Vertragsänderungen gegenüberzustellen und nach Sinn- und Zweck der Art. 48 f. EUV ggf. einer dieser Vorschriften zu unterstellen. Da zudem aus der Sicht des Völkerrechts im Grundsatz von der freien Verfügungsbefugnis der Mitgliedstaaten auszugehen ist, bleibe dann die Frage nach der „formellen" Änderungssouveränität, d.h. der Zulässigkeit formfreier Änderungen bzw. der Exklusivität der Art. 48 f. EUV zu beantworten. Geht man aber davon aus, das Primärrecht stehe einem einvernehmlichen Austritt oder einem Aufhebungsvertrag entgegen, so liegt darin eine immanente Beschränkung des Art. 48 EUV. 8 Für diesen Fall wäre zu untersuchen, ob die Souveränität der Mitgliedstaaten insofern begrenzt wurde, als auch nach allgemeinem Völkerrecht ein einvernehmlicher Austritt respektive eine Auflösung nicht mehr in Betracht kommt.

aa) Einvernehmlicher Austritt Nach überwiegender Auffassung stellt auch der im Vertragswege jedenfalls theoretisch mögliche, einvernehmliche Austritt begrifflich eine Vertragsänderung dar, so daß Art. 48 EUV 9 , anderer Ansicht zufolge Art. 49 EUV analog10

8

Vgl. Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rdnr. 14. Denkbar wäre auch eine weite Definition des Tatbestandes, die eine einvemehmliche Änderung und eine Auflösung einschließt, deren Anwendung in diesen konkreten Fälle aber entsprechende materielle Schranken gezogen wären. Weil eine Änderung damit aber nicht in Betracht käme, spräche eine systematische Interpretation bereits für ein Begrenzung des Anwendungsbereich des Vertragsänderungsverfahrens, da und soweit der Wortlaut der Vorschrift ihre Anwendung nicht zwingend gebietet. 9

Siehe Zuleeg, in: GS Sasse, S. 55 (60); Ehlermann, EuR 1984, S. 113 (124 f.); Ekkart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. Ο EUV Rdnr. 32; Everling, DVB1. 1993, S. 936 (942); Hilf, in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann, EUV/EGV, Art. 240 EGV Rdnr. 8; vgl. auch Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rdnr. 458; ferner Folz, Demokratie und Integration, S. 141; Gotting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 145 m.w.N.; Waltemathe, Austritt aus der EU, S. 44; Schmahl, EuR 2000, S. 819 (830 f.); Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 8; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 51 EUV Rdnr. 2.; Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und 7 EUV, S. 188 Ziff. 322; vgl. demgegenüber noch Vedder, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 236 EWGV Rdnr. 4, der betont, der Austritt sei bereits begrifflich keine Vertragsänderung.

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Anwendung findet. Der Wortlaut „Änderung" schließt eine einvernehmliche Vereinbarung über den Austritt eines Staates oder mehrerer Mitglieder mit ein. Im Gegensatz zur Vertragsaufhebung bestehen die Verträge fort und bilden daher weiterhin den zur ursprünglichen Lage in Beziehung zu setzenden existenten Vergleichsgegenstand. Der Austritt manifestiert sich im neuen Vertragswerk, er betrifft dessen Geltungsumfang. 11 Der jedenfalls als lex generalis seinem Wortlaut nach anwendbare Art. 48 EUV erfährt dabei auch durch Art. 51 EUV und Art. 312 EGV 1 2 keine immanente Beschränkung. Beide Vorschriften entfalten für die Problematik des einvernehmlichen Austritts nur in begrenztem Umfang Bedeutung;13 das gilt vor allem für die Frage nach formellen Grenzen. Die auf unbegrenzte Zeit angelegte Vertragsdauer besagt als solche nichts über eine Veränderung im Mitgliederbestand. Im Hinblick auf einen Beitritt gemäß Art. 49 EUV entfalten Art. 51 EUV und Art. 312 EGV dahingehend Wirkung, daß (nunmehr) der revidierte, um neue Mitgliedstaaten erweiterte Vertrag auf unbegrenzte Zeit gilt; 1 4 im übrigen sind die Vorschriften grundsätzlich selbst revisibel. 15 Umgekehrt liegt auch im einvernehmlichen Ausscheiden eines Mitgliedstaates kein Verstoß gegen Art. 51 EUV und Art. 312 EGV. 1 6 Sofern vertreten wird, auch ein einvernehmlich vereinbarter Austritt sei „im Hinblick auf die engen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen ...

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Siehe bereits Meier, NJW 1974, S. 391 (394), der allerdings zwischen Beteiligung (Art. 236 EWGV) und Verfahrensgang (Art. 237 EWGV) zu differenzieren sucht; unentschieden Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 4. Aufl. (1993) S. 80, während nach Beutler, a.a.O. (5. Aufl., Rdnr. 66) Art. 48 EUV Anwendung finden soll. Auch unter der Prämisse der Anwendbarkeit des Europarechts offen gelassen von Dörr, JuS 1994, S. 500 (503); für die analoge Anwendung des Art. 49 EUV Gotting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, S. 145 f. 11

Vgl. auch Waltemathe, Austritt aus der EU, S. 44. Siehe auch Art. 208 EAGV. 13 Siehe Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 8; Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, S. 267; vgl. femer bereits Dagtoglou, in: FS Forsthoff, S. 77 (78). 12

14

Meier, NJW 1974, S. 391 (394), spricht vom Grundsatz der „offenen Mitgliedschaft". 15

Vgl. BVerfGE 89, 155 (190); Eckart Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/MüllerGraff, EUV/EGV, Art. 140 EGV Rdnr. 2; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/ EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 2. 16

Siehe Hilf in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 240 EGV Rdnr. 8.

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ausgeschlossen"17, beschreibt diese Auffassung zugleich eine noch zu behandelnde, mögliche materielle Schranke der Revision. 18 Der Einwand gewinnt um so mehr an Gewicht, je mehr Staaten aus ihrer Mitgliedschaft „entlassen" würden. Daß die Verträge durch eine Vielzahl von - grundsätzlich revisiblen Regelungsvorbehalten und Schutzklauseln die Mitgliedstaaten notfalls entlasten, spricht gegen ein einseitiges Austrittsrecht 19, nicht aber gegen die Möglichkeit eines einvernehmlichen Ausscheidens. Ob ein Austritt gemäß den Zielen und Inhalten der Verträge insgesamt zulässig wäre, ist ein Problem materieller Grenzen. Eine bereits tatbestandliche Reduktion infolge der Zielsetzung der Verträge kommt nicht in Betracht, da sich in Art. 48 EUV weder wortlautnoch zweckorientiert eine Bestimmung zur konkreten Kompetenzabgrenzung erblicken läßt. 20 Damit allerdings ist lediglich vorläufig festgestellt, daß sich das vertragliche Primärrecht der Regelung einer Vertragsänderung in Form des einvernehmlichen Ausscheidens jedenfalls aus formellen Gesichtspunkten nicht verweigert. Auch innerhalb des durch Art. 48 und 49 EUV gezogenen Verfahrensrahmens kommen demnach materielle Gesichtspunkte zum Tragen. So wird angesichts der „Spiegelbildlichkeit" 21 zum Beitritt erwogen, Art. 49 EUV entsprechend anzuwenden, das einvernehmliche Ausscheiden also einer Zustimmung durch das Europäische Parlament zu unterstellen. 22 Das setzte allerdings eine Regelungslücke voraus. Diese bestünde nur, wenn Art. 48 EUV teleologischrestriktiv dahingehend interpretiert werden könnte, die Norm selbst könne die Verringerung im Bestand der Mitgliedstaaten durch einvernehmliche Änderung insofern nicht erfassen, als der Aspekt einer (dem Demokratieprinzip) adäquaten Beteiligung des Parlaments nicht berücksichtigt worden sei. Art. 49 EUV mag dafür ein Indiz sein. Der entscheidende Aspekt unter dem Gesichtspunkt der Regelungslücke liegt allerdings nicht im Vergleich mit der potentiell entsprechend anzuwendenden Norm, 23 sondern ist unter dem Gesichtspunkt des

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Breier, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 6. Vgl. Becker, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rdnr. 8. 19 Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 1022; Eckart Klein, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Abschn. Rdnr. 80. 20 Siehe Waltemathe, Austritt aus der EU, S. 192. 21 Dazu Ehlermann, EuR 1994, S. 113 (124). Neben der in einer Veränderung des Mitgliederbestands begründeten sachlichen Nähe muß allerdings auch berücksichtigt werden, daß der ein vernehmliche Austritt als Umkehrung eines Beitrittsfalles streng genommen die Wortlautgrenze überschreitet und dies nach jedenfalls methodologischem Postulat den Ausschluß der Analogie zur Folge hätte. 18

22

Siehe Fußn. 10.

23

In diese Richtung jedoch Waltemathe, Austritt aus der EU, S. 193 f.

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Demokratieprinzips zu ermitteln. In Anbetracht des prinzipiell und im Einklang mit seinem Wortlaut anwendbaren Art. 48 EUV ist daher zunächst von der Anwendung des allgemeinen Vertragsänderungsverfahrens auszugehen, welches durch das Demokratieprinzip, das im Rahmen materieller Grenzen noch zu würdigen ist, ggf. Korrekturen erfahren könnte. Anschließend wäre zu beurteilen, wie sich das gegebenenfalls um das Zustimmungserfordernis des Parlaments ergänzte unionsrechtliche Verfahren zum allgemeinen Völkerrecht verhält. 24

bb) Auflösung von Union und Gemeinschaften Im Gegensatz zum einvernehmlichen Austritt eines Mitglieds oder mehrerer Mitgliedstaaten schließt der Begriff „Änderung" verbreiteter Auffassung zufolge die „Auflösung" nicht mit ein. 25 Wie bereits bei der Eingrenzung des Begriffs der Revision im Zusammenhang mit der clausula rebus sie stantibus erläutert, ist der Wortlaut insofern allerdings nicht eindeutig. Einerseits beinhaltet die Aufhebung die radikalste aller Änderungen bis zu dem Punkt, an dem nichts mehr übrig bleibt. Gerade aus diesem Grunde aber bestehen andererseits in nahezu allen Vertragssprachen terminologische Differenzierungen im innerstaatlichen und im Völkerrecht, die zwischen Änderung (