Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen [1 ed.] 9783428519330, 9783428119332

Die Frage nach der europäischen Solidarität wird auch angesichts der Osterweiterung zunehmend gestellt. Der Gehalt der S

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Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen [1 ed.]
 9783428519330, 9783428119332

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Schriften zum Europäischen Recht Band 117

Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen Von Peter Gussone

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

PETER GUSSONE

Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 117

Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen

Von Peter Gussone

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Wintersemester 2004 / 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11933-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort An dieser Stelle bitte ich den geneigten Leser, mir seine Solidarität zuteil werden zu lassen und mich bei den folgenden Ausführungen zum Prinzip der Solidarität zu begleiten. Die Arbeit lag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 2004/2005 als Dissertation vor. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Juni 2005 berücksichtigt werden. Auch der Vertrag über eine Verfassung für Europa wird unter dem Aspekt der Solidarität untersucht. Die dort enthaltenen Aussagen zum Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union behalten ihre Gültigkeit, auch wenn ein Erfolg des Vertrages nach der gescheiterten Ratifizierung in Frankreich und den Niederlanden längst nicht mehr gesichert erscheint. Die sich hier abzeichnende konstitutionelle und vor allem politische Krise der Europäischen Union macht es umso mehr erforderlich, einen Blick auf die Grundlagen und das gemeinsame Fundament des Projekts Europa zu werfen. Dank ist notwendig und geschuldet: An erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bernhard Kempen, der – stets zum Gedankenaustausch und zu jeder Form der Unterstützung bereit – die zügige Fertigstellung der Arbeit sehr gefördert hat. Das Zweitgutachten wurde in kurzer Zeit von Herrn Prof. Dr. Burkhard Schöbener erstellt, dem ich dafür zu Dank verpflichtet bin. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Siegfried Magiera und Herrn Prof. Dr. Dr. Detlef Merten für die Aufnahme in die Schriftenreihe „Schriften zum Europäischen Recht“. Das Auswärtige Amt und die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Köln haben die Veröffentlichung der Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss gefördert. Die Solidarität und die Freundschaft einer Vielzahl von Leuten haben zur Fertigstellung der Arbeit wesentlich beigetragen. Stellvertretend und besonders hervorzuheben sind Herr Holger Hofmann, Herr Daniel Jansen und Herr Ass. jur. Tilmann Rönneper, die maßgeblichen Anteil an der Abgabe und Veröffentlichung der Arbeit haben. Dankbar bin ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Hübner und seinem Lehrstuhlteam des Instituts für Versicherungsrecht an der Universität zu Köln für die Möglichkeit, die Promotionszeit durch eine Stelle zu finanzieren. Die am Institut herrschende familiäre Atmosphäre hat für den notwendigen inneren Ausgleich und willkommene geistige Ablenkung gesorgt. Diese Arbeit widme ich meinen Eltern. Die wissenschaftliche Neugier und das Interesse an besonderen Fragestellungen sind früh durch meinen Vater, Dr. phil. Nikolaus C. Gussone, geweckt und gefördert worden. Erst seine kriti-

6

Vorwort

schen, aber stets aufmunternden Anregungen haben oftmals zur vollen Erfassung eines Problemkreises beigetragen. Meiner Mutter, Dr. med. Ilse Gussone, danke ich für ihre Fürsorge und die Gewissheit, zu jeder Zeit ein Zuhause zu haben. Berlin, im September 2005

Peter Gussone

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Etymologische Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Französische Sozialreformer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Brüderlichkeit und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Katholische Soziallehre: Der Solidarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Solidarität als Rechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 21 21 21 22 23 26 28 29

C. Solidarität im Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vom Koexistenz- zum Kooperationsvölkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Modernes Völkerrecht und das Prinzip der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Charter der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Völkergewohnheitsrechtliches Solidaritätsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 34 38 40 42 44

E. Problemstellungen und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ansatz und Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 46 50

F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der Europäischen Gemeinschaften I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 2 EGV als zentrale Zielnorm der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung und Bedeutung von Art. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Funktion des Art. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Adressaten der Solidaritätspflicht aus Art. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . aa) Europäische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 2 EGV als Ausdruck des Solidaritätsprinzips? . . . . . . . . . . . . . . aa) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52 52 53 53 53 54 56 58 58 59 60 62 62 63 64

8

Inhaltsverzeichnis III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Einleitung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Art. 10 EGV als Ausdruck des Prinzips der Gemeinschaftstreue . . . . . 66 3. Der Inhalt des Art. 10 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Pflichten der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Art. 10 EGV als konstitutive Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 bb) EuGH und die konstitutive Bedeutung des Art. 10 EGV . . . . 69 cc) Vertragsakzessorietät des Art. 10 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Pflichten der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Pflichten der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 d) Pflichten der Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 e) Pflichten der Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. Dogmatische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Begründungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Die Rechtsprechung des EuGH zum Solidaritätsprinzip . . . . . . . . . 81 aa) Verbundene Rechtssachen 6 und 11/69, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik . . . 81 bb) Rechtssache 39/72, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 cc) Rechtssache 30/72, Kommission/Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 dd) Rechtssache 128/78, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 ee) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 c) Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Art der Umverteilung in der Europäischen Gemeinschaft . . . . . . . . 90 b) Strukturfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Kohäsionsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 d) Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt als Ausdruck des Solidaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Der gegenseitige Beistand im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Die neue Solidaritätsklausel des Vertrags über eine Verfassung für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5. Der Solidaritätsfond für die Opfer der großen Flut im Jahr 2002 . . . . 98 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 V. Schuman-Plan und Montanunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Schuman-Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Inhaltsverzeichnis 3. EGKS-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Prinzip der Solidarität in den weiteren Regelungen des EGKS-Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft . . . . . . . . . . . . VII. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regierungskonferenzen 1990/91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tindemans Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entwurf des EP zu einem Vertrag über die Europäische Union . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Präambel EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Auslegung europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung der Präambel EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zum rechtlichen Gehalt von Präambeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 1 Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundstruktur der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Solidarität als Aufgabe der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Union als Internationale Organisation . . . . . . . . . . . . . (2) Innere und äußere Rechtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unterscheidung zwischen Aufgabe und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verbandskompetenz der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sachkompetenz der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Umfassendes Konzept des Solidaritätsprinzips in Art. 1 Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kohärenz und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Kohärenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterschiede zum Solidaritätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union . . . . . . . . . a) Einleitung und Entwicklung der GASP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsnatur der GASP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Solidaritätsprinzip im Rahmen der GASP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 103 103 104 106 107 108 110 110 111 111 113 114 116 116 116 118 120 121 122 122 123 123 123 125 126 126 127 128 129 129 131 131 132 132 134 134 134 135 136

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Inhaltsverzeichnis

II.

aa) Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) EVG und Fouchet-Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vom Davignon-Report zum Vertrag von Maastricht . . . . . bb) Das Solidaritätsprinzip, seine Funktion und sein Inhalt . . . . . . (1) Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Inhalt des Solidaritätsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Respektierende Solidarität in der GASP . . . . . . (bb) Leistende Solidarität in der GASP . . . . . . . . . . . (3) Schwäche des Solidaritätsprinzips in der GASP . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Solidaritätsprinzip in den Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsverbindlichkeit der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Konzept von Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Solidaritätsgrundrechte des Kapitels IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Solidaritätsprinzip der Union und soziale Grundrechte der Charta – Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das bundesdeutsche Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Solidaritätsprinzip als Basis des Sozialstaatsprinzips . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136 136 138 140 140 142 143 144 145 147 148 149 149 152 152 153 155 156 156 156 157 158 160 160 162 164 165 167

Solidarität als mitgeschriebenes Verfassungs- und Strukturprinzip der EU I. Solidarität als konkreter Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Solidarität als allgemeiner Grundsatz im Sinne von Art. 6 EUV . . . . . . . . III. Solidarität als allgemeiner Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Solidarität als normativer Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Solidarität als mitgeschriebenes Struktur- und Verfassungsprinzip . . . . . . VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169 170 171 171 172 173 175

J. Grenzen der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt und Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der vermeintliche Konflikt zweier Fundamentalprinzipien . . . . . . . . . .

176 176 177 178 181

I.

Inhaltsverzeichnis

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a) Spannungspotential zwischen Subsidiarität und Solidarität . . . . . . . b) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik und eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wie weit reicht die Pflicht zur finanziellen Solidarität? . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umverteilung durch Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gilt das Prinzip des „juste retour“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erfordert zunehmende Integration einen stärkeren Finanzausgleich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Situation aufgrund der Erweiterung durch die MOES? . . . . . . . . a) Reform des Finanzsystems, Erhöhung der Mittel für die Fonds, direkte Zahlungen als Folge der Erweiterung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klagemöglichkeit auf Förderung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Britische Beitragsermäßigung als Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spannungsfeld Solidaritätsprinzip und vZa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das AETR-Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kooperationen außerhalb der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Regelungen im EUV und EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die allgemeinen Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Austritt aus der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Austritt aus Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der einvernehmliche Austritt aus EU und/oder EG . . . . . . . . . . . . . b) Einseitiger und nicht einvernehmlicher Austritt aus EU und/oder EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Befürworter eines einseitigen Austrittrechts . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gegner eines einseitigen Austrittsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Austrittsrecht nur in Ausnahmefällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zulässigkeit eines Teilaustrittes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausschluss aus der EU/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Austritt als Aufhebung des Solidaritätsprinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Austrittsklausel des Vertrages über eine Verfassung für Europa . . a) Übersicht über das Verfahren des freiwilligen Austritts . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit einer ordentlichen Kündigungsklausel mit dem Solidaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 182 183 186 187 187 188 189 190 191 192 195 197 197 197 199 199 201 202 204 205 205 207 207 208 209 210 211 211 212 212 213 214 214 215 216 217

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Inhaltsverzeichnis VI. Fehlende Homogenität als Grenze der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Homogenitätsgebot in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zielkonflikte und Grenzen aus anderen Zielbestimmungen der Verträge . .

218 218 220 222

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . 1. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuständigkeit des EuGH zur Überprüfung des Solidaritätsprinzips . . . 3. Die konkrete Überprüfbarkeit der Pflichten zur Solidarität nach dem EG-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktiv- und Passivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Solidaritätsprinzip im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Urteile des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Justitiabilität des Solidaritätsgebots im Rahmen des Vertrages über die Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Möglichkeit zur Überprüfung des Solidaritätsgebots im Rahmen der PJZS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das fakultative Vorlageverfahren des Art. 35 Abs. 1 EUV . . . . . . . b) Die Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EUV . . . . . . . . . . . . . . . 2. GASP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) GASP-Rechtsakte mit Verbindungen zum Gemeinschaftsrecht . . . b) Flughafen-Transit-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ansichten der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Justitiabilität einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der GASP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223 224 224 225 226 226 227 227 227 230 231 231 232 233 235 235 236 237 238 239 241 242

L. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. a. F. AöR ARSP AVR B/B/P/S B/E/H BGBl. BIP BSP BT-Drs. CMLRev. DÖV DVBl. EAG EEA EGKS EGKSV EGV EJIL ELRev. EMRK EP EPIL EPZ ER EU EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EVGV

anderer Ansicht Amtsblatt alte Fassung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archiv des Völkerrechts Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil Bieber/Epiney/Haag Bundesgesetzblatt Bruttoinlandsprodukt Bruttosozialprodukt Bundestagsdrucksache Common Market Law Review Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Journal of International Law European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Europäisches Parlament Encyclopedia of Public International Law Europäische Politische Zusammenarbeit Europäischer Rat Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Vertrag über die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft

14 EWG FAZ FN FS GASP GG GR-Charta GS G/T/E HbStR HbVR Hdb.EU-WirtschaftsR HdK Hrsg. ICJ ICJ Rep. IGO i. V. m. i. w. S. JA JCMS Jh. JöR n. F. JURA JuS JZ LIEI MOES m. w. N. NJW NLJ NVwZ OECD

PCIJ PJZS RAE RIW/AWD

Abkürzungsverzeichnis Europäische Wirtschaftsgemeinschaft/Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Festschrift Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Grundgesetz Grundrechtscharta Gedächtnisschrift von der Groeben/Thiesen/Ehlermann Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des EU-Wirtschaftrechts Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union (EUV/EGV) Herausgeber International Court of Justice ICJ, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders International Governmental Organizations in Verbindung mit im weiteren Sinn Juristische Arbeitsblätter Journal of Common Market Studies Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (neue Folge) Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Legal Issues of European Integration Mittel- und osteuropäische Staaten mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift New Law Journal Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Permanent Court of International Justice Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Revue des affaires européennes Recht der Internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters

Abkürzungsverzeichnis RMC RMCUE Rn. Rs. RTDE S. s. Slg. SRÜ SuS verb. Verf. VerfE VerfV vgl. VN VVDStRL vZa WRV

WTO WVRK WWU ZaöRV z. B. ZEuS ZÖR ZPR ZSchwR

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Revue de Marché commun Revue du Marché commun et de l’Union européenne Randnummer Rechtssache Revue trimestrielle du droit européen Seite siehe Sammlung Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 Staatswissenschaft und Staatspraxis verbunden Verfassung Entwurf eines Vertrages über die Verfassung für Europa Vertrag über eine Verfassung für Europa vergleiche Vereinte Nationen Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer verstärkte Zusammenarbeit Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper vom 27. Januar 1967 World Trade Organization Wiener Vertragsrechtskonvention Wirtschafts- und Währungsunion Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht

A. Einleitung Solidarität ist seit Beginn der europäischen Integration ein Schlüsselbegriff des Verbundes souveräner Staaten zu einer neuartigen Gemeinschaft, die vom traditionellen Nationalstaat ebenso weit entfernt ist wie von der klassischen Internationalen Organisation. Nunmehr stellt die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in aller Deutlichkeit fest, dass die Europäische Union1 auf den unteilbaren und universellen Wert der Solidarität gegründet ist: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“

Schon seit ihrer Gründung in Maastricht wird der Union die zentrale Aufgabe zugewiesen, „die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern . . . solidarisch zu gestalten“2. In gleicher Weise ist der Europäischen Gemeinschaft aufgetragen, „die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern“3. Diesem ersten Textbefund steht die Unklarheit darüber gegenüber, was mit Solidarität konkret gemeint ist. So scheint die Parole von der Solidarität nur ein weiteres jener europäischen Schlagwörter zu sein, die hochabstrakt und unverbindlich im typisch hohen Sprachduktus der Verträge wohlklingende Assoziationen wecken wollen, aber doch inhaltsleer bleiben. Ob eine solche Schlussfolgerung voreilig ist, soll im Folgenden untersucht werden. Sie widerspricht zunächst einmal dem immer und überall geäußerten Anspruch der Union, eine Wertegemeinschaft zu sein. Die Europäische Rechtsordnung ist und bleibt auch nach der Annahme des VerfV4 ein „Recht im Werden“5. Ein solches System zeichnet sich durch dynamische und entwicklungsfähige Strukturen aus, die immer wieder neuen Situationen angepasst werden müssen. Auch eine flexible und offene Rechtsordnung 1 Wenn im Folgenden von der Europäischen Union die Rede ist, dann ist stets die EU als Gesamtverbund unter Einschluss der zwei Gemeinschaften gemeint. Damit soll keine Aussage bezüglich des nach wie vor umstrittenen Verhältnisses von Union und Gemeinschaften oder der Rechtsnatur der EU getroffenen werden. Im Text wird kenntlich gemacht, wenn sich die Aussagen nur auf eine Gemeinschaft oder die Union alleine beziehen. Vgl. zur Diskussion Herdegen, Europarecht, § 6 und zur Rechtslage nach dem VerfE Fassbender, AVR 2004, 26 ff. 2 Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV. 3 Art. 2 EGV. 4 ABl. 2004, C 310/1. 5 So in Bezug auf das Europäische Gemeinschaftsrecht Steindorff, JURA 1992, 561.

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A. Einleitung

beruht jedoch auf einem festen gemeinsamen Fundament, wodurch Legitimität und Anerkennung der Rechtsordnung garantiert wird. Das positive Recht allein bewirkt hier wenig, wenn die Bereitschaft der Adressaten, das Recht zu akzeptieren und zu befolgen, fehlt. Das Bemerkenswerte an der Europäischen Union ist nun, dass die gegenseitige Verbindung der Staaten gesichert scheint, die ihrer Bürger jedoch noch im großen Maße fehlt. Das notwendige Fundament kann sich hier nicht, wie im Nationalstaat, auf außer- und vorrechtliche Substrate wie die gemeinsame Geschichte, Kultur und vor allem Sprache stützen, um eine Identifizierung der Bürger zu erreichen. Die Unionsbürger fühlen sich ihrem Staat ungleich stärker verbunden als der Europäischen Union6. In solch einer Situation ist die Idee einer Wertegemeinschaft ein verheißungsvoller Weg, um das notwendige Fundament zu legen und zu verdeutlichen. Werte können sich in positiven Normen widerspiegeln, sie können diesen aber auch als ethisch-moralische Postulate vorausgehen. Schließlich können durch Rechtssetzung und Rechtspraxis erneut Werte herausgebildet werden. Um einen dieser Werte, der eine zentrierende und überragend legitimierende Funktion in der Europäischen Union hat, soll es hier gehen. Die Solidarität ist angesprochen, ein Wert, der von seiner Begriffsgeschichte her neu ist, seinem Inhalt nach aber geistesgeschichtliche und historische Vorläufer hat. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, den Wert der Solidarität für die Europäische Union fassbar zu machen, letztlich der Versuch, einen normativen Kern mit verbindlichen Rechtsfolgen festzulegen. Was aber heißt Solidarität? Steht dahinter ein Rechtsprinzip der EU, dessen Rechtswirkung, Gehalt und integrationspolitische Tragweite nur präzisiert und genutzt werden müssen, oder gehört die Kategorie der Solidarität zur folgenlosen politischen Rhetorik7? Bei der Suche nach dem Begriffskern betritt man ein weites Feld, denn das Wort wird in den unterschiedlichsten Kontexten gebraucht. Man denke nur an den Solidaritätszuschlag für die ostdeutschen Länder und den Solidarpakt, die Solidarnos´c´-Bewegung (polnisch für Solidarität) in Polen ebenso wie die Solidaritätserklärung von acht europäischen Ländern für die Irakpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika8. Besondere Bedeutung erlangt der Begriff im deut6 Vgl. dazu auch die Resultate der Eurobarometer, die eine genaue Analyse der zweimal jährlich erfolgenden Umfrage liefern; abrufbar unter: http://europa.eu.int/ comm/public_opinion/standard_en.htm. Dabei ist zu beachten, dass die generelle Einstellung gegenüber der EU in der Regel stark von aktuellen Ereignissen beeinflusst wird. So herrscht in den zehn neuen Mitgliedstaaten eine sehr EU freundlichen Stimmung, während – das zeigt die Ablehnung des VerfV in Frankreich und den Niederlanden – die Bevölkerung der Gründungsmitglieder die EU zunehmend kritisch betrachtet. 7 Bieber, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und Europäische Integration, S. 42 (43). 8 Brief von Spanien, Portugal, Italien, Großbritannien, Ungarn, Polen, Dänemark, Tschechische Republik vom 30. Januar 2003; FAZ v. 31.01.2003, Nr. 26, S. 4.

A. Einleitung

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schen Sozialrecht: dort finden sich die Solidarität im Arbeitsrecht, der Solidaritätsstreik oder auch das Solidaritätsprinzip in der Sozialversicherung9. Der Brockhaus beschreibt Solidarität als ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Individuen oder Gruppen in einem Sozialgefüge (i. w. S. auch von Staaten in internationalen Bündnissen), das sich in gegenseitiger Hilfe und Unterstützung äußert10. Dabei wird unterschieden zwischen drei Formen der Solidarität: die Gesinnungssolidarität tritt neben die Solidarität des Handelns, womit eine gegenseitige Hilfsbereitschaft gemeint ist, sowie die wohl schwächste Form der Solidarität, die Interessensolidarität. Diese letzte Form der Solidarität sei lediglich durch sachlich begründete Interessengleichheit in einer bestimmten Situation wirksam und ende nach dem Erreichen des gemeinsamen Zieles11. Solidarität scheint also dort ein Kernbegriff zu sein, wo es um eine gegenseitige Verbindung geht, sei es von Staaten in Internationalen Organisationen und Bündnissen, sei es von Bürgern im Nationalstaat oder von Einzelnen mit ihrem sozialen Umfeld. Insofern ist nicht von vornherein ersichtlich, dass die Solidarität auf den Nationalstaat als „das erprobte Gefäß einer Solidarität, die Opfer füreinander erbringt“ beschränkt sein soll12. Auch und gerade in der deutschen Politik wird der Begriff der Solidarität benutzt und zitiert. Die Programme der beiden Volksparteien SPD und CDU bezeichnen die Solidarität gleichermaßen als unverzichtbaren Grundwert und Ziel ihrer Politik13. Besonders in Krisenzeiten und außerordentlichen Situationen wird gerne und ausführlich an die Solidarität der Bürger appelliert. Bei Natur- oder ähnlichen Katastrophen soll dadurch die Spendenbereitschaft geweckt und bei Reformen in den sozialen Sicherungssystemen die damit verbundenen Einbußen legitimiert werden. Kaum eine Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten, in der deshalb der Begriff der Solidarität fehlt, und auch der Generationenvertrag wird schließlich durch die Solidarität der einen mit der anderen Generation erklärt14.

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Vgl. auch die Überschrift zu § 1 SGB V: Solidarität und Eigenverantwortung. Brockhaus, Band 13, Stichwort Solidarität. 11 Brockhaus, Band 13, Stichwort Solidarität. 12 So aber Tomuschat unter Hinweis darauf, dass Solidarität eine echte Lebens- und Erfahrungsgemeinschaft erfordert, eine soziale Einheit, die sich auch als solche empfindet. Diese Gemeinschaft sei aber nur im Nationalstaat und nicht in der Europäischen Gemeinschaft vorhanden. Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (754 f.). 13 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin, geändert auf dem Parteitag in Leipzig am 17. April 1998, S. 3 (12); Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands: „Freiheit in Verantwortung“, 5. Parteitag, 21.–23. Februar 1994, Hamburg, S. 6 (8 f.). 14 Ruland, NJW 2002, 3518 (3519). 10

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A. Einleitung

Durch diesen Überblick wird bereits deutlich, dass Solidarität kein Begriff ist, der für die Rechtswissenschaften reserviert ist. Deshalb muss eine Klärung der geistesgeschichtlichen Grundlagen von Solidarität der juristischen Würdigung und Problemstellung vorausgehen. Es kann daher das Solidaritätsprinzip der Europäischen Union erst nach einer kurzen Begriffsgeschichte und allgemein rechtlichen Einordnung entsprechend analysiert werden.

B. Begriffsgeschichte I. Einleitung Es erstaunt nicht, dass ein offener und unscharfer Begriff wie die Solidarität viele Möglichkeiten der historischen Interpretation und theoretischer Anknüpfungspunkte bietet1. Solidarität hat nicht nur rechtshistorische, sondern auch soziologische, moralisch-philosophische, theologische und politische Wurzeln. Dabei ist das Wort an sich recht neu und taucht erst Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch auf. Der Diskurs über Solidarität verweist aber, jedenfalls in der Theologie, auf weit vor diesem Zeitpunkt liegende Ereignisse. Aus christlicher Sicht ist bereits der Opfertod von Jesus Ausdruck der immerwährenden Solidarität Gottes mit den Menschen2. Vor diesem Hintergrund kann an dieser Stelle keine umfassende Einordnung des Terminus in die unterschiedlichen Traditionen geschehen und die historischphilosophische Exegese muss limitiert bleiben. Nicht verzichtet werden soll auf eine kurze etymologische Rückschau. Ebenso ist es unerlässlich, die wichtigsten theoretischen Ansätze zur Solidarität in der Neuzeit nachzuzeichnen. Es stammen diese aus dem 19. Jahrhundert von den französischen Sozialreformern, der katholischen Soziallehre und der Rechtslehre von Léon Duguit. Dabei soll gezeigt werden, wie sich der Begriff der Solidarität entwickelt hat, wie er unterschiedlich interpretiert und benutzt wurde und wird, je nach politischer Provenienz oder auch vor dem Hintergrund historischer Ereignisse. Eine endgültige, allgemein verbindliche Definition des Begriffes zu geben, kann dabei nicht das Ziel sein. Ob dies überhaupt möglich ist, ist zweifelhaft. Erst durch diese Rückschau kann jedoch der Begriff der Solidarität eingegrenzt und mit Bedeutung gefüllt werden.

II. Historische Annäherung 1. Etymologische Wurzeln Ein lateinisches Pendant für das deutsche Wort Solidarität (englisch: solidarity; französisch: solidarité; italienisch: solidarieta) gibt es nicht. Der Begriff 1 Dazu meint Volkmann, Solidarität, S. 3: „Was Solidarität angeht, so haben wir es offensichtlich mit einem Proteus von Begriff zu tun, der sich so leicht nicht fassen lässt“. 2 Bierhoff/Fetchenhauer, in: dies. (Hrsg.), Solidarität, S. 9.

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B. Begriffsgeschichte

lässt sich aber auf das lateinische Adjektiv „solidus“ mit der Bedeutung „dicht, fest, gediegen, ganz“ oder den Begriff des „in solidum obligari“ zurückführen. Diese Terminologie entstammt dem römischen Recht und bezeichnet die Haftung für das Ganze (in solidum = für das Ganze)3. Den lateinischen Wurzeln nach ist Solidarität deshalb mit dem Institut der privatrechtlichen Gesamtschuldnerschaft, also der Gemeinverpflichtung und Gemeinhaftung mehrerer, verbunden4. Das bedeutet, dass jeder zum Wohle des Ganzen in die Verantwortung genommen werden kann im Sinne eines Einstehens für die Gemeinschaft. Begriffsgeschichtlich ist vor allem auch das französische „solidarité“ relevant. Zunächst findet sich nur das Adjektiv „solidaire“, während dann im 18. Jh. das Substantiv „Solidarité“ oder auch „Solidité“ auftaucht5. Beide Termini sind wie bei der Gesamtschuldnerschaft im Sinne von „tous ensemble et un seul pour tous“ zu verstehen. Der Gläubiger kann die Schuld von jedem einzelnen Schuldner fordern, denn jeder Solidarschuldner steht für die Schuld der anderen ein6. In die deutsche Sprache gelangt der Terminus über die französischen Begriffe erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet sich das Adjektiv „solid, solide“, das sich von dem lateinischen „solidus“ herleitet. Als Bedeutung des Adjektivs nennt das Wörterbuch „fest an zusammenhängender Masse, stark und sicher gegründet, in übertragenem Gebrauch: gründlich, zuverlässig, rechtlich, gesetzt, frei von Leichtsinn, Flüchtigkeit, moralischem Sichgehenlassen“7. 2. Französische Sozialreformer Der Begriff an sich ist somit in seinem ursprünglichen Sinne ein Rechtsbegriff des römischen Privatrechts8. Allerdings weitet sich seine Bedeutung im 19. Jh. ständig aus, so dass das Solidaritätsprinzip zu einem Zentralbegriff für die revolutionären, anti-bürgerlichen Kräfte in Deutschland und Frankreich wird. Gleichzeitig wandelt sich Solidarität von einem römisch-rechtlichem Begriff zu einem moralischen und sozialen Prinzip. Als solches weist die Solidarität Konnotationen von christlicher Nächstenliebe (caritas), Brüderlichkeit, Wohltätigkeit auf der einen Seite und Freiheit und Gleichheit auf der anderen Seite auf 9. 3 Wildt, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort: Solidarität; Rauscher, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Stichwort: Solidarität. 4 Rauscher, Solidarität, S. 23. 5 Vgl. dazu Schmelter, Entwicklungsgeschichte, S. 9. 6 Zürcher, Solidarität, S. 53. 7 Gebrüder Grimm, Deutsches Wörterbuch, S. 1450. 8 Schmelter, Solidarität, S. 8; Wildt, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch, Stichwort: Solidarität.

II. Historische Annäherung

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Ein Konzept der Solidarität wird insbesondere von den französischen Sozialreformern geprägt. Zunächst ersetzt Pierre Leroux den Begriff der caritas, der christlichen Nächstenliebe, durch „solidarité humaine“ und begründet damit ein Naturgesetz der Solidarität, das dem Einzelnen einen Anspruch auf Existenzsicherung nach seinen Bedürfnissen zusichert10. Hippolyte Renaud veröffentlicht 1842 ein Buch unter dem Titel „Solidarité“, in dem die Solidarität als „loi divine“ bezeichnet wird11. Folglich gilt: „La Solidarité est une chose juste et sainte . . . Nous reviendrons sur cette loi de Solidarité; nous aurons à faire comprendre que les intérêts des hommes sont en tous points rigoureusement identiques.“12

Alfred Fouillée systematisiert dann den Begriff der Solidarität13: Der Staat sei eine natürliche Einheit, deren Glieder notwendigerweise voneinander abhängen. Deshalb müsse jeder einen Beitrag zur Erhaltung und Entwicklung der Einheit leisten, abhängig von seiner rechtlichen und sozialen Stellung. Als Philosoph analysiert Fouillée, dass unter Missachtung dieses Grundprinzips eine „dette sociale“ der Unternehmer gegenüber den Arbeitern entstanden sei. Da es sich aber zwischen den Gesellschaftsgliedern um ein Vertragsverhältnis handele, korrespondiere damit auch ein Anspruch der Arbeiter auf gerechte Verteilung. Notfalls müsse der Staat den Ausgleich erzwingen. Fouillée begründet so Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die bezeichnend sind für den Solidaritätsbegriff im 19. Jahrhundert. Die großen sozialen Veränderungen in dieser Zeit, die durch die Industrialisierung und die revolutionäreren Bewegungen in ganz Europa geprägt war, verlangten eine Neubestimmung der Stellung des Individuums in der sich wandelnden Gesellschaft. Während zur Zeit der französischen Revolution die „Brüderlichkeit“ den Prinzipien der liberté und égalité zum Durchbruch verhalf, trat im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend die „Solidarität“ an ihre Stelle. Aufgrund der Verelendung breiter Massen ging es diesen neben der Gleichheit und politischen Freiheit aller Bürger vor allem um die gerechte Verteilung der Güter unter solidarischen Gesichtspunkten. 3. Brüderlichkeit und Solidarität Das moderne Verständnis von Brüderlichkeit wurde während der Französischen Revolution geprägt. Die bekannten Leitideen waren liberté, égalité und 9

Zürcher, Solidarität, S. 54. Schmelter, Solidarität, S. 11 ff. 11 Renaud, Solidarité, S, 52. 12 Renaud, Solidarité, S. 53. 13 Vgl. zum folgenden: Grimm, in: Herzog/Kunst/Schlaich/u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stichwort: Solidarität. 10

24

B. Begriffsgeschichte

fraternité. Brüderlichkeit wurde dadurch zu einem politischen Gesinnungsbegriff am Ende des 18. Jahrhunderts14. Als Kampfbegriff diente er der Ausbreitung der revolutionären Ideen und bezeichnete das politische Programm; Fraternité sollte das Fundament für die Konstituierung und Festschreibung der Revolution im Staate bilden. Brüderlichkeit impliziert ebenso eine politische Gleichheit aller Staatsbürger. Diese Gleichheit war die unabdingbare Voraussetzung für die Republik und die Brüderlichkeit das Bindeglied, welches die im gemeinsamen Ziel verbundenen Revolutionäre zusammenhielt15. Von der Arbeiterbewegung im Deutschland des 19. Jh. wurde der Begriff der Brüderlichkeit als proletarischer Gesinnungsbegriff übernommen16. Er diente nicht nur der Herausbildung eines Klassenbewusstseins der Arbeiter, sondern wurde mit der Hoffnung nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit verbunden. Dies kommt zum Ausdruck im Grundstatut der Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verbrüderung von 1850: „Die Arbeiter-Verbrüderung hat den Zweck, unter den Arbeitern aller Berufsarten eine starke Vereinigung zu begründen, welche, auf Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit gestützt, die Rechte und Willen der einzelnen zu einer Gesamtheit, die Arbeit mit dem Genuss vermitteln soll.“17

Noch deutlicher wird der hier zu Tage tretende Gedanke in einem Beitrag für die Verbandszeitschrift der Arbeiter-Verbrüderung: „Die Grundlage der Verbrüderung ist Gegenseitigkeit, Solidarität. Und nur diese werden uns zu dem gewünschten Ziele führen. Einer für Alle und Alle für einen muss unser Wahlspruch werden“18. Zudem erwähnt das provisorische Reglement der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864 eine „solidarité entre les ouvriers des diverses professions dans chaque pays, et d’une union fraternelle entre des travailleurs des diverses contrées“19. Hier wird ein Prinzip des Füreinandereinstehens und der Gemeinverpflichtung deutlich, das sich aus dem Zugehörigkeitsgefühl zur Arbeiterklasse speist. In dieser Entwicklung fällt auf, dass das Prinzip der Solidarität den politischen Begriff der Brüderlichkeit mehr und mehr ersetzt hat20. Solidarität wurde zum Leitmotiv und Kampfbegriff, als Antwort auf die Krise großer Teile der 14 Schieder, Brüderlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, S. 565. 15 Schieder, Brüderlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S. 568. 16 Schieder, Brüderlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S. 573. 17 Balser, Sozial-Demokratie, Band 2, S. 508. 18 Zitiert bei Balser, Sozial-Demokratie, Band 2, S. 152. 19 Zitiert nach: Wildt, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort: Solidarität; Rauscher, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Stichwort: Solidarität.

II. Historische Annäherung

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Gesellschaft unter den Bedingungen der Industrialisierung. Der solidarische Zusammenschluss war die Reaktion der Arbeiterbewegung auf die liberale Ordnung des Bürgertums, die das Individuum und seine vollkommene Unabhängigkeit in den Vordergrund stellte21. In diesem Sinne beschreibt das Lexikon zur Soziologie Solidarität als „Begriff zur Beschreibung der Vorbedingungen und Resultate gemeinsamer Kampferfahrungen in der Arbeiterbewegung: Das Bewusstsein von der gleichen Interessenund Klassenlage, die Bereitschaft zu kollektiver politischer Durchsetzung und gegenseitiger Unterstützung. Sie sind Ausdruck der gemeinsamen Interessenlage der Arbeiter und gründen in der Gesellschaftlichkeit des Produktionsprozesses.“22

Nach Ansicht des sozialdemokratischen Vordenkers Eduard Bernstein hatte innerhalb der Arbeiterbewegung „kein Prinzip, keine Idee stärkere Kraft . . ., als die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Solidaritätsübung“23. Hofmann ist der Ansicht, dass Solidarität für „die Gleichheit gewisser Interessen und die wechselseitige Abhängigkeit bei deren Befriedigung“ stehe und deshalb „normativ gemeinsames Handeln bei der Überwindung der Defizite von Vereinzelung und sozialen Ungleichheiten und . . . Disziplin“ fordere24. Aufgrund dieser Charakterisierung sind für Glotz zum einen die Gewerkschaften „unmittelbarer organisatorischer Ausdruck“ zum anderen „Solidaritätsbewusstsein und Disziplin in der sozialistischen Partei“ die Ausformungen des Solidaritätsgedankens innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung25. Schließlich kommt Schmelter zu dem Schluss, dass Solidarität „einerseits in der sich entwickelnden Arbeiterbewegung das Lebensgefühl des Arbeiters in der Lebensform Arbeiterbewegung, die als Alternative zur Welt der Unterdrücker . . . durch gegenseitige Hilfeleistung und zuwendungsspezifische interaktionelle Grundeinstellungen“ beschreibt. Andererseits stehe der Begriff auch für „die Bestrebungen nach sozialer Emanzipation der Arbeiter und . . . des Protests gegen soziale Benachteiligungen“26. Die deutsche Arbeiterbewegung stellte jedoch in Form und Ziel keine homogene Gruppe dar27. Der von Marx und Engels repräsentierte kommunistische Flügel unterschied sich nicht nur in der Radikalität seiner Ideen von der sozial20 Schieder, Brüderlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S. 577. 21 Grimm, in: Herzog/Kunst/Schlaich/u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stichwort: Solidarität; zu den liberalen Theorien und der Zeit des klassischen Liberalismus vgl. Volkmann, Solidarität, S. 93 ff. 22 Fuchs/Klima/Lautmann/u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Stichwort: Solidarität. 23 Bernstein, S. 134. 24 Hofmann, Vielfalt und Solidarität, in: Bizer/Koch (Hrsg.), Solidarität, S. 113. 25 Glotz, in: Herzog/Kunst/Schlaich/u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stichwort: Sozialismus. 26 Schmelter, Solidarität, S. 41.

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B. Begriffsgeschichte

demokratischen Mehrheit, sondern auch durch sein Verständnis von Solidarität. Solidarität war nur als revolutionäre Klassensolidarität des Proletariats denkbar28. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ ist demnach der Inhalt von Solidarität mit dem einzigen Ziel einer klassenlosen Gesellschaft und der Beseitigung der Bourgeoisie29. Eine solche Interessensolidarität ist die Voraussetzung für den Kampf der Arbeiterklasse; sie weist einen revolutionären, die alten Formen auflösenden Charakter auf30. Der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie werde mit dem Sieg des Proletariats zu einer Aneignung der Produktionsmittel führen. Damit werde der ausbeuterische, zur Entfremdung der Arbeit führende Kapitalismus vom Kommunismus abgelöst. An die Stelle der Klassengesellschaft trete am Ende eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“31. In früheren Schriften verfolgte Marx noch das Ideal einer vollkommen solidarischen und gerechten Gesellschaft, in welcher der Mensch als Gattungswesen sich befreit im Rahmen solidarischer Verhältnisse verwirklichen kann32. Insgesamt hat Marx den Begriff der Solidarität aber seltener und in einem anderen Sinn verwendet als die anderen prominenten Sprecher der Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht. Mit Solidarität wird dort die gegenseitige Verbundenheit und Unterstützung der Arbeiter bezeichnet, während Marx dafür das Wort der Assoziation verwendet33. Solidarität ist für Marx länderübergreifend ausgerichtet und ist das Grundprinzip der internationalen Vereinigung sämtlicher Arbeiter aller Länder34. 4. Katholische Soziallehre: Der Solidarismus Während der Begriff der Solidarität innerhalb der Arbeiterbewegung zum politischen Gesinnungsappell wurde, der ein Gemeinschaftsgefühl suggerierte und zum Teil auch praktisch ausformte, erhob die katholische Soziallehre das Solidaritätsprinzip zum ontologischen Prinzip. Das Solidaritätsprinzip wird neben dem Prinzip der Personalität und der Subsidiarität zu den grundlegenden Prinzi27 Zu dem unterschiedlichen Verständnis von Solidarität vgl. Zoll, Solidarität, S. 54 ff. 28 Volkmann, Solidarität, S. 141. 29 Marx/Engels, Manifest, S. 17, 35. 30 Weigand, Solidarität, S. 197. 31 Marx/Engels, Manifest, S. 25. 32 Vgl. dazu Schmelter, Solidarität, S. 50 f. 33 Zoll, Solidarität, S. 56. 34 In einer Rede von Marx auf dem Haager Kongress der Internationalen wird dies deutlich: „Bürger, denken wir an jenes Grundprinzip der Internationalen: die Solidarität. Nur wenn wir dieses Lebensspendende Prinzip unter sämtlichen Arbeitern aller Länder auf sichere Grundlagen stellen, werden wir das große Endziel erreichen, das wir uns gesteckt haben. Die Umwälzung muss solidarisch sein . . .“, Werke, S. 161.

II. Historische Annäherung

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pien gesellschaftlichen Lebens gerechnet35. Es sei mehr als ein ethisches Prinzip, nämlich „in erster Linie ein Seinsprinzip, das unmittelbar aus der sozialen Wesensanlage des Menschen hervorgeht“36. Als Sozialprinzip wurde das Solidaritätsprinzip innerhalb des Solidarismus formuliert, wie Heinrich Pesch die katholische Soziallehre bezeichnete37. Der Solidarismus wird zur Alternative neben Kapitalismus und Sozialismus erklärt38. Pesch hat hier das Fundament für das Solidaritätsverständnis der katholischen Soziallehre gelegt, indem er die Solidarität von einer „subjektiven persönlichen Tugend“ zu einem „objektiven, sozialen, dauernden Rechtsgesetz“ erheben wollte39. Demnach beschreibt Solidarität den Zustand der wechselseitigen Bezogenheit der Menschen und der Gemeinschaft auf- und untereinander, woraus die genau entsprechende wechselseitige Verpflichtung des Füreinander-Einstehens (Solidarität) zwingend folgt40. Weil der Mensch sozial sei, könne die Gemeinhaftung und Gemeinverpflichtung nicht von der individuellen Zustimmung abhängen, sondern erweise sich als Anerkennung der gemeinschaftlichen Verbundenheit aller Menschen. Damit werde „der Verstoß gegen die Solidarität“ zum „Verstoß gegen die menschliche Natur, gegen das eigene ,Personsein‘“41. Das Solidaritätsprinzip steht so im Gegensatz zu zwei anderen Gesellschaftslehren, dem Individualismus und Kollektivismus. Der Ansatz des Individualismus betont die Individualität des Einzelnen, so dass die Gemeinschaft nur als bloße Summe individueller Interessen erscheint. Dagegen erschöpft sich die Individualität des Einzelnen beim Kollektivismus in der dienenden Funktion als Glied einer Gemeinschaft, deren Interessen vorrangig sind. Das Solidaritätsprinzip knüpft nunmehr sowohl beim Einzelnen als auch bei der Gemeinschaft an und versucht, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Damit wird es gleichsam zum „Baugesetz der Gesellschaft“42.

35 Kerber, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort: Solidarität; Rauscher, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Stichwort: Solidarismus; Gundlach, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Stichwort: Solidarismus. 36 Rauscher, Solidarität, S. 25. 37 Klüber, in: Klose/Mantl/Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, Stichwort: Solidarismus. 38 Volkmann, Solidarität, S. 147; Gundlach, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Stichwort: Solidarismus. 39 Pesch, Stimmen aus Maria-Laach 1902, 38 f. 40 Kondziela, in: Klose/Mantl/Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, Stichwort: Solidarität. 41 Rauscher, Solidarität, S. 25. 42 Gundlach, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Stichwort: Solidarismus. Der Ausdruck „Baugesetze der Gesellschaft“ ist der Titel des einflussreichen Werkes des katholischen Sozialwissenschaftlers Oswald von Nell-Breuning, der als Mitbruder in der Tradition des Jesuiten Heinrich Pesch steht und sein Buch als Fort-

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B. Begriffsgeschichte

5. Solidarität als Rechtsprinzip Während die bisherige Analyse den Begriff der Solidarität als politischen Kampfbegriff und Gesinnungsausdruck, als moralisches Prinzip und ontologische Bedingung des menschlichen Seins gezeigt hat, fehlt noch ein Blick auf das Rechtsprinzip der Solidarität. Es sei an das Ziel dieser Arbeit erinnert, der Solidarität als Rechtsbegriff in der Europäischen Union nachzugehen. Die EU ist zuallererst, und darin liegt ihre Besonderheit, eine Rechtsgemeinschaft43. Aufgrund der Pluralität der Werte und Kulturen kommt dem positiven Recht eine entscheidende Bedeutung zu. Es ist das einigende und legitimierende Band zwischen der Union und ihren Mitgliedern, aber auch zwischen den Mitgliedern untereinander. Als Prinzip des römischen Rechts ist die Solidarität erstmals juristisch fassbar, sie bleibt aber auf einen begrenzten Bereich der Gesellschaft beschränkt und ist in der Anwendung limitiert. Die Solidarität wurde zum Fundament eines geschlossenen Rechtssystems bei Léon Duguit44. Im Vordergrund steht dabei für Duguit ein Zustand sozialer Interdependenz, d.h. es gibt nur Individuen, die aber in gesellschaftlichen Bindungen miteinander verwoben sind45. Dieser Zustand wird als „solidarité sociale“ zur Grundlage einer objektiven Rechtsordnung erklärt. Damit überträgt Duguit die eben erwähnten Ideen der Sozialphilosophie von Alfred Fouillée in die Rechtslehre, ganz im Einklang mit der Forderung Fouillées, dass die Solidarität verlange, „que la fraternité devienne juridique“46. Solidaritätskonformes Verhalten ist deshalb die Pflicht jedes Einzelnen wie auch der Regierenden. Leitmotiv einer solchen objektiven Rechtsordnung, in der das Recht seinen Geltungsgrund unabhängig vom Willen Einzelner hat, ist Duguits Grundnorm: „Respecter tout acte de volonté individuelle, déterminé par un but de solidarité, ne rien faire pour en empêcher la réalisation, coopérer dans la mesure du possible à sa réalisation.“47

Einer solchen Rechtsordnung sind subjektive Rechte des Einzelnen fremd. Vielmehr bestehen Rechte nur noch, soweit sie zur Erfüllung von solidarischen Pflichten notwendig sind48. Damit errichtet Duguit eine objektive Ordnung, de-

schreibung des von Pesch begründeten Solidarismus versteht. von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, durchgesehene Neuauflage 1990. 43 Zuleeg, NJW 1994, 545 ff. 44 Dazu und zum Folgenden: Grimm, Solidarität; ders. in: Herzog/Kunst/Schlaich/ u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stichwort: Solidarität. 45 Grimm, Solidarität, S. 38. 46 Fouillée, La science sociale, S. 348. 47 Duguit, l’Etat, S. 84. 48 Grimm, in: Herzog/Kunst/Schlaich/u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stichwort: Solidarität.

II. Historische Annäherung

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ren entscheidendes Merkmal die Solidarität ist. Selbst der individuelle Wille hat sich demnach dem „but de solidarité“ unterzuordnen. 6. Ergebnis Was gewinnt man nun aus dieser knappen historisch-etymologischen Rückschau? Kann damit eine verbindliche Definition von dem, was Solidarität bedeutet, gewonnen werden? Die Antwort muss verneinend ausfallen. Im Gegenteil, es hat sich die Heterogenität des Begriffes der Solidarität nur zu deutlich herausgestellt. Dadurch entsteht eine Vielzahl möglicher Interpretationen, bei der es schwer erscheint, auch nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Wie Volkmann es ausdrückt: „Die Parole (von der Solidarität) erweist sich insoweit zwar als konsensfähig – die Inhalte, die sich mit ihr verbinden, sind es dagegen allenfalls zu einem gewissen Teil.“49

Solidarität im 19. Jahrhundert ist primär ein Gegenbegriff als Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft. In der Betonung des Gemeinwohls in dem Sinne, dass alle Schichten der Gesellschaft gleiche Chancen, Rechte und Verpflichtungen haben, liegt der gemeinsame Nenner. Mit der Solidarität wird jetzt vor allem und erstmals die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit verbunden50. Dabei geht es im weitesten Sinne um eine Vergemeinschaftung von Menschen, die sich durch solidarische Bindungen untereinander auszeichnet. Seien diese Bindungen auch ethischer, ontologischer, politischer oder sogar rechtlicher Natur, Solidarität ist das Leitmotiv, das die so begründete Gemeinschaft von anderen abgrenzt. In seiner schwächsten Form erscheint Solidarität als politischer Kampfbegriff, der die Zielgemeinsamkeit verdeutlicht und die Zielerreichung durch Geschlossenheit fördert. Zum grundlegenden Ordnungsmerkmal der ganzen menschlichen Gesellschaft wird die Solidarität im Solidarismus und bei Duguit. Im Vordergrund steht das Gemeinwohl als das Wohl aller Glieder einer Gesellschaft und die soziale Gerechtigkeit. Solidarität, und das ist entscheidend, wird hier aber stets auf den Einzelnen bezogen als spezifische menschliche Verhaltensweise. Eine weitere Verfolgung dieses Ansatzes, unter Einbeziehung neuerer soziologischer und philosophischer Forschungen, kann und soll aufgrund des Ansatzes dieser Arbeit nicht geleistet werden51. Die Europäische Union ist von ihrer Grundkonzeption her eine Gemeinschaft von Nationalstaaten und nicht von In49

Volkmann, Solidarität, S. 151. Volkmann, Solidarität, S. 153. 51 Vgl. etwa Hondricht/Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, 1992; eine umfassende Auswahlbibliographie zum Stichwort Solidarität in diesen Nachbardisziplinen findet sich bei Arndt, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität, S. 495 ff. 50

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B. Begriffsgeschichte

dividuen. Insofern kann ein auf das Individuum und die Gesellschaft konzentrierter Solidaritätsbegriff nur bedingt helfen, den Charakter der Bindungen von Nationalstaaten in der Union zu ermitteln. Wenn man von Solidarität in diesen Beziehungen spricht, kann doch zuerst nur eine Solidarität von Staaten gemeint sein.

C. Solidarität im Nationalstaat Als Rechtsbegriff taucht die Solidarität auch in den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten der Union auf. Im deutschen Recht ist die oberste Rechtsquelle das Grundgesetz. Dort fehlt allerdings ein wörtlicher Hinweis auf die Solidarität. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass im Grundgesetz kein Solidaritätsprinzip enthalten ist1. In anderen europäischen Verfassungen wiederum ist die Solidarität explizit als Verfassungswert etabliert2. Ziel der portugiesischen Republik ist die „Errichtung einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft“, Art. 1 Verf. Portugal. Nach Art. 227 Abs. 2 zielt die Autonomie der Regionen auf „die Verstärkung der nationalen Einheit und der Bande der Solidarität zwischen allen Portugiesen“. Im Nachbarland Spanien taucht der Begriff der Solidarität ebenfalls in Verbindung mit der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Regionen im nationalen Verbund auf3. Auf die „Solidarität aller Spanier“ (Art. 156 Abs. 1 Verf. Spanien) und auf das Prinzip der „effektiven Verwirklichung des Solidaritätsprinzips“ (Art. 158 Abs. 2 Verf. Spanien) gründen sich auch der innerstaatliche Finanzausgleich und der Ausgleichsfonds für Investitionshilfe. Damit erweist sich das Solidaritätsprinzip in der spanischen Verfassung als für alle staatlichen Instanzen verbindendes Element, das die Kompetenz beschränkend und für das Gemeinwohl verpflichtend wirkt4. In der italienischen Verfassung heißt es in Art. 2: „. . . der unabdingbaren Pflichten der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Solidarität“ und in der französischen Verfassungspräambel von 1946 verkündet die Nation „die Solidarität und Gleichheit aller Franzosen hinsichtlich der Lasten, die aus nationalen Notständen erwachsen“. Auch bei anderen europäischen Staaten, die nicht oder gerade erst Mitglieder der EU sind, taucht der Begriff der Solidarität in der Verfassung auf, so z. B. in der neuen Schweizer Bundesverfassung von 20005 und in der Präambel der polnischen Verfassung. Konkretisiert wird der Begriff der Solidarität in vielen europäischen Verfassungen dann häufig 1 Den Nachweis eines Solidaritätsprinzips im deutschen Grundgesetz haben Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 1991 und Uwe Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1998 erbracht. 2 Vgl. den Nachweis der Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten in Beck-Texte im dtv, Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl. 1996. 3 Art. 2 Verf. Spanien: „Die Verfassung gründet sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier; sie anerkennt und gewährleistet das Recht der Autonomie der Nationalitäten und Regionen, aus denen sie sich zusammensetzt, und auf die Solidarität zwischen ihnen“. 4 So Blanke, Föderalismus und Integrationsgewalt, S. 69 f.

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C. Solidarität im Nationalstaat

durch die Sozialrechte6. Grundlage dieser nationalen Solidarität sind dabei die Staatsbürger, die sich eine gemeinsame Ordnung gegeben haben und ihr Zusammenleben im und durch den Staat organisiert und legitimiert haben. Rechtlich gefasst wird diese spezifische Solidarität wiederum durch die Staatsangehörigkeit7. Daneben gibt es ein Solidaritätsprinzip, das sich im föderalen Bundesstaat wieder findet8. Dort stellt die Solidarität ein grundlegendes Strukturprinzip dar, womit das Zusammenleben von staatlichen Einheiten in einem gemeinsamen Bund geregelt wird. An diese Stelle gehört auch der solidarische Finanzausgleich. Im föderalen Verbund richtet sich die Solidarität nicht an die Bürger sondern an staatliche (Unter-)Einheiten, z. B. die autonomen Regionen in Spanien oder die deutschen Bundesländer. Nun ist jedoch ein Vergleich mit der Solidarität im National- oder föderalem Bundesstaat für das Anliegen der Arbeit nicht erforderlich. Das Zusammenleben der Menschen in der homogenen Gesellschaft des Nationalstaates ist nur mittelbar von Interesse, wenn es um das Zusammenleben von Staaten im europäischen Unionsverbund geht. Diese Union und ihr Recht sind in Struktur und Zusammensetzung einzigartig und können nicht mit dem Nationalstaat und seinem innerstaatlichen Recht verglichen werden9. Deshalb ist auch ein Vergleich des Solidaritätsprinzips, wie es in den eben erwähnten nationalen Verfassungen anklingen mag, mit dem Solidaritätsprinzip der Europäischen Verträge wenig sinnvoll. Zu schnell wird dabei der bereits erwähnte wesentliche Unterschied übersehen, dass die Union vorerst auf einen Verbund einzelner souveränen Staaten beschränkt ist. Es geht also um eine Solidarität der Staaten untereinander und nicht ihrer Bürger. Dieser Ansatz entspricht dem gegenwärtigen Zustand der Union, ohne damit auszuschließen, dass ein Zusammenwachsen der europäischen Völker zu einer solidarischen Schicksalsgemeinschaft möglich und beabsichtigt ist10. Dabei mögen durchaus Parallelen zum föderalen Bundesstaat zu 5 Art. 34 Verf. Schweiz: „Bund und Kantone unterstützen einander in der Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie arbeiten zusammen und verhalten sich solidarisch“. 6 So Violini, in: Müller-Graff/Riedel (Hrsg.), Verfassungsrecht der EU, S. 39 FN 40. 7 Isensee, in: ders./Kirchhoff (Hrsg.), HbStR, Band V, S. 411. 8 Vgl. dazu zusammenfassend Hieronymi, Solidarität als Rechtsbegriff, S. 11 f.; s. auch aus rechtsvergleichender Sicht Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000. 9 Einen interessanten Versuch unternimmt Schönberger, der die EU in eine Theorie des Bundes einordnet, die auf der Lehre Carl Schmitts aufbaut, AVR 2004, 81 ff. 10 In diesem Zusammenhang sei nur auf die Präambeln von EUV, EGV und VerfV hingewiesen, die den festen Willen für einen „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ (1. Erwägungsgrund EGV) und die Entschlossenheit bekunden, „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ weiterzuführen (12. Erwägungsgrund EUV). In aller Deutlichkeit stellt der VerfV im 3. Erwägungsgrund heraus: „In der Gewissheit, dass die Völker Europas, stolz auf ihre

C. Solidarität im Nationalstaat

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erkennen sein, womit sich die Frage aufdrängt, ob nicht eine Analyse z. B. des Grundsatzes der Bundestreue oder des spanischen Solidaritätsprinzips notwendig ist. Allerdings ist damit die Gefahr verbunden, ein Ergebnis für die Europäische Union zu präkludieren und leichtfertig Parallelen zwischen Bundesstaat und Union zu ziehen. Deshalb sollen die eben gemachten Hinweise nicht näher verfolgt werden.

nationale Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten.“

D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts Wenn eben die Union nüchtern als Verbund souveräner Staaten bezeichnet wurde, dann wird auf die völkerrechtlichen Wurzeln von Union und Gemeinschaft verwiesen. Bevor dort die speziellen Solidarstrukturen untersucht werden, soll deshalb zunächst der Blick auf das allgemeine Völkerrecht fallen. Der Begriff der Solidarität taucht hier immer häufiger im Zuge eines gewandelten Völkerrechtsverständnisses auf1. Dem klassischen Völkerrechtsverständnis nach steht die vollkommene Souveränität der einzelnen Staaten an vorderster Stelle. Ein Solidaritätsprinzip, das die Staaten auf ein übergeordnetes Gemeinwohl verpflichtet und ihnen rechtliche Bindungen auferlegt, scheint hier schwer vorstellbar. Dennoch finden sich auch hier Hinweise, so dass zunächst ein kurzer Rückblick notwendig ist. Anschließend soll untersucht werden, ob es gerechtfertigt ist, von der „Solidarität unter den Nationen als Grundsatz in der gegenwärtigen internationalen Gemeinschaft“ zu sprechen2.

I. Vom Koexistenz- zum Kooperationsvölkerrecht Als ursprüngliche Aufgabe des klassischen Völkerrechts kann der Schutz staatlicher Hoheitsrechte angesehen werden und damit das ius gentium als Recht der zwischenstaatlichen Beziehungen3. Hauptakteure in dieser Rechtsordnung sind die souveränen Staaten, die in friedlicher Koexistenz nebeneinander bestehen. Oberster Grundsatz ist das von Jean Bodin 1576 aufgestellte Postulat der inneren und äußeren Souveränität der Staaten4. Im Außenverhältnis bedeutet dies die vollkommene Unabhängigkeit eines Staates und die Undurchdringlichkeit (Impermeabilität) des Staatskörpers gegenüber allen fremden Einwirkungen5. Die innere Souveränität gibt dem einzelnen Staat die unbeschränkte Ge1 Die Literatur erwähnt das völkerrechtliche Solidaritätsprinzip meistens im Zusammenhang mit der Diskussion um eine neue Weltwirtschaftsordnung; vgl. zum Prinzip der Solidarität im Völkerrecht: Kimminich, AVR 1982, 13 ff. und die dort zitierte Literatur in FN 24, 30; Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 54 ff.; ders., in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 251 ff.; Tomuschat, ZaöRV 1976, 444 ff.; Schütz, S. 42 ff. 2 Vgl. dazu den Titel des Aufsatzes von Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 251. 3 Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Rn. 5 ff.; Wolf, Internationale Regime, S. 34; Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 1 ff. 4 Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 57; Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 198; dazu auch Kempen, in: Dörr/Fink/Hillgruber (Hrsg.), FS Schiedermair, S. 790 ff.

I. Vom Koexistenz- zum Kooperationsvölkerrecht

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walt über sein Territorium und seine Einwohner, also die Ausschließlichkeit der Staatsgewalt6. Aus der Souveränität aller Staaten folgt dann das Prinzip der Gleichheit aller Staaten, denn wenn alle Staaten dem System der Achtung der Souveränität der anderen Staaten unterworfen sind, kann es auch keine Unterschiede mehr zwischen ihnen geben7. Alle Staaten haben dann die gleichen Rechte und Pflichten. In diesem Sinne wird von einem Koexistenzvölkerrecht8 gesprochen. Das Anerkennen eines Gemeinwohls, ein möglicher Hinweis auf solidarische Pflichten der Staaten untereinander, existiert in diesem System nur aufgrund von bilateralen Verträgen und nicht als gemeinsamer Wert der Staatengemeinschaft9. Mit der Entdeckung der Neuen Welt wurde das durch die mittelalterliche Scholastik herausgebildete Völkerrecht entscheidend weiterentwickelt. Im so genannten „Spanischen Zeitalter“10 herrschte wie im Mittelalter das Bewusstsein einer europäischen, christlichen Völkergemeinschaft. Allerdings erforderten die Kolonisation der neuen Welt und die Missionierung der nicht-christlichen Einwohner ein Umdenken. Im Vordergrund der Theorien insbesondere der spanischen Spätscholastiker stand dabei die Frage nach der Rechtsstellung der Indianer und des anzuwendenden Kriegsrechts. Hier entwickelte der Dominikaner Francisco de Vitoria als Erster grundlegende Argumente. Für ihn bestand eine natürliche Völkergemeinschaft, die in einer göttlichen Weltordnung von Anfang an vorgezeichnet und auf das Ziel eines höheren Gemeinwohls – des bonum comune totius orbis – ausgerichtet ist11. Das derart naturrechtlich begründete Völkerrecht verleiht auch den indianischen Völkern, d.h. Nicht-Christen, eigene Rechte, und es konstituiert sich damit eine universelle Völkerrechtsordnung12. Zur Rechtfertigung der Landnahme auf dem amerikanischen Kontinent durch die europäischen Völker kann man bei Vitoria zwei Gründe finden. Einerseits gibt es nach Vitoria das biblische Gebot der Missionierung. Nicht-christliche Völker hatten die Missionierung zu dulden, die jedoch friedlich sein musste und nur bei Widerstand auch mit Gewalt erzwungen werden durfte13. Anderer5

Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 198. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 198. 7 In diesem Sinne auch Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 57. 8 Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit dem Prinzip der friedlichen Koexistenz. Dies war die Überschrift für die Außenpolitik der Sowjetunion gegenüber den kapitalistischen Staaten und nach sowjetischer Lesart ein allgemeines Prinzip des Völkerrechts. 9 Verdross/Simma, § 52. 10 Damit ist die Zeit von 1500–1648 gemeint, in welcher Spanien die politische und geistige Vormachtsstellung in Europa inne hatte; der Ausdruck wird verwendet von: Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 163; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 143 ff. 11 Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 225. 12 Herdegen, Völkerrecht, § 2 Rn. 3; Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 64. 13 Peglau, Jura 1994, 345. 6

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D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts

seits gibt es eine Verpflichtung der Staaten zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit14. Die Naturschätze der Welt stehen danach allen Staaten gleichermaßen zur Verfügung, so dass ein Recht zur Eroberung gegeben ist, wenn ein Volk nicht die Möglichkeit oder den Willen zum Handel mit diesen Schätzen hat15. Das gleiche sollte gelten, wenn das einheimische Volk einem anderen Volk schon einmal die Ausbeutung der Naturschätze gestattet hatte. Im Falle der Eroberung ist der Eroberer jedoch dem christlichen Gebot der caritas verpflichtet, nach dem er die Rechte und Lebensformen der Einwohner zu achten hat16. Eine von den christlichen Geboten der Nächstenliebe und Barmherzigkeit zu unterscheidende Solidaritätsverpflichtung für die Staaten begründet die Lehre Vitorias aber nicht. Vitoria stellte zwar die indigenen Völker Amerikas unter den Schutz des Völkerrechts und insbesondere die Lehre vom bellum iustum gelangte zur Anwendung17. Negativ bleibt aber festzuhalten, dass seine Lehre auf eine Legalisierung der in der Realität brutalen und grausamen Kolonisation des amerikanischen Kontinents hinauslief 18. Der schon bei Vitoria vorhandene Grundsatz von der Handelsfreiheit unter den Nationen entwickelte sich im europäischen Völkerrecht weiter, wobei Anklänge an ein völkerrechtliches Prinzip der Solidarität vorhanden sind. Diese Idee findet sich bei prominenten Vertretern des naturrechtlichen Völkerrechts. Das Naturrecht ist in diesem Verständnis gekennzeichnet durch den Bezug auf die menschliche Vernunft und deren Erkenntnisfähigkeit im Gegensatz zu einer von Gott vorbestimmten Ordnung und einem religiös begründeten Wahrheitsanspruch19. Christian Wolff betonte, dass „jedes Volk das Recht hat, Güter, die es braucht, von anderen Völkern, die deren nicht bedürfen, zu angemessenem Preis zu erwerben“20. Dabei handele es sich um eine naturrechtliche Verpflichtung zum gegenseitigen Handel unter den Völkern. Wolff geht sogar noch weiter und spricht von der „caritas gentium“, also der Pflicht eines Volkes, das Wohl anderer Nationen zu fördern21. Insbesondere betont Wolff die Verpflichtung der „Gentes doctae et cultae“ gegenüber den „Gentes barbarae et incultae“22. In der Literatur werden diese Aussagen bereits als erste Anzeichen der Entwicklung eines allgemeinen Gedankens der Solidarität unter den Nationen, 14

Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 64. Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 64. 16 Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 260 f. 17 Einen guten Überblick über die Entwicklung dieser Lehre gibt Ziegler, Jura 1997, 449 ff. 18 So Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 242; Ipsen, Völkerrecht, § 2 Rn. 43; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, § 29 IV; a. A. Peglau, Jura 1994, 344. 19 Steiger, ZaöRV 1999, 619. 20 Zitiert nach: Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 263. 21 Schütz, S. 36 FN 65. 22 Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 266. 15

I. Vom Koexistenz- zum Kooperationsvölkerrecht

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insbesondere auch der Hilfe der entwickelten Staaten für die schwächeren Nationen, gedeutet23. Vergleichbare Ideen lassen sich auch beim berühmtesten Schüler von Wolff, dem Schweizer Emer de Vattel, finden. Die menschliche Gemeinschaft der Nationen verpflichte die Länder, gemäß der „l’office de l’Humanité“ die Gemeinschaft zu pflegen und sich gegenseitig zu unterstützen24. Eine solche Hilfe, die die Menschlichkeit gebietet, sei zum Beispiel in der Lieferung von Lebensmitteln im Falle einer Hungersnot erforderlich, wie dies nach dem schweren Erdbeben von Lissabon 1755 der Fall gewesen sei25. Die naturrechtliche Völkerrechtslehre prägt so die Vorstellung, dass die souveränen Staaten in einer von der Natur und nicht mehr von Gott gegebenen Gemeinschaft leben. Die erste allgemeine Pflicht der Nationen untereinander besteht darin, dass eine jede Nation zur Wohlfahrt der anderen Nationen gemäß ihres Vermögens beitragen muss26. Damit, so die Literatur, ist Vattel der erste Völkerrechtler, der ein Prinzip der Solidarität erwähnt und dieses juristisch untermauert27. Diese naturrechtlichen Ansätze dürfen nicht überbewertet werden, denn das sich entwickelnde positive Völkerrecht und die Staatenpraxis nach dem Westfälischen Frieden von 1648 stehen im Widerspruch zu den theoretischen Postulaten der Naturrechtler. Diese argumentierten objektiv aufgrund des Bewusstseins, dass alle Völker in einer natürlichen Gemeinschaft leben. Das Zusammenleben in einer solchen Gemeinschaft kann nicht durch den subjektiven Willen geregelt werden, sondern es bedarf dafür objektiver, grundlegender Prinzipien, welche als allgemein verbindliche Postulate von allen zu befolgen sind. Das Völkerrecht dieser Epoche war jedoch dadurch geprägt, dass es dem subjektiven Recht eines Staates zur größtmöglichen Durchsetzung verhelfen wollte, begrenzt nur durch die anerkannten Grundprinzipien der souveränen Gleichheit, der Nichteinmischung, des Rechts zum Krieg und dem Prinzip des Gleichgewichts der Mächte28. Ein solches Koexistenzvölkerrecht stellt sich damit als Ausfluss des Prinzips der äußeren Souveränität der Staaten dar, als ein „Strukturmodell des gleichen Nebeneinanders souveräner Flächenstaaten“29. Die Idee einer Unterstützung und Förderung fremder, schwächerer Staaten, geleitet von dem Bewusstsein einer universellen, aufeinander angewiesenen Gemeinschaft, wurde in der Praxis nicht beachtet und nicht empfunden. Es fanden sich gewiss parallele 23

Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 264. Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 266. 25 Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 266. 26 Steiger, ZaöRV 1999, 620. 27 Kimminich, AVR 1982, 11. 28 Die Idee des Macht-Gleichgewichts unter den europäischen Staaten wird im Grundsatz im Frieden von Utrecht von 1713 als „iustum potentiae aequilibrium“ ausgedrückt. 29 Bleckmann, AVR 1985, 464 ff. 24

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D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts

Interessen, die manche Staaten zur Zusammenarbeit veranlassten; eine natürliche, moralische Verpflichtung anderen Staaten gegenüber erwies sich aber zu dieser Zeit als Utopie30. Jeder Staat war für sich selbst verantwortlich als Ausdruck unmittelbarer und unbeschränkbarer Souveränität. Das Völkerrecht stellte sich nicht als objektive Rechtsordnung dar, da es vollkommen dem Willen der Staaten unterworfen war31. In der völkerrechtlichen Praxis lässt sich in dieser Zeit einzig eine Form dynastischer Solidarität erkennen32. Gemeint ist damit ein brüderliches Verbundenheitsgefühl, welches die Beziehung zwischen den europäischen Herrscherhäusern kennzeichnet. Bereits im Frühmittelalter lässt sich eine „Familie der Könige“ nachweisen, in der die gegenseitigen Beziehungen aufgrund tatsächlicher oder fiktiver Verwandtschaft geordnet wurden33. Daraus folgten Beistands- und Unterstützungspflichten, die bei Bedarf eingefordert werden durften.

II. Modernes Völkerrecht und das Prinzip der Solidarität Das System des klassischen Völkerrechts überdauerte bis in das 20. Jahrhundert. Zahlreiche Faktoren und Ereignisse führten jedoch dazu, dass die Lehre von der unbeschränkten und unbeschränkbaren Souveränität der Staaten nicht mehr aufrechtzuerhalten war34. Damit verbunden ist ein Wandel der Perspek30

Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 267. Im berühmten Lotus-Fall stellt der IGH 1927 mit Deutlichkeit fest: „International law governs relations between independent States. The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“ PCIJ Ser. A, No. 10, 1927. 32 Diesen Begriff verwendet Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 332 ff. 33 Vgl. dazu Dölger, Byzanz und die Europäische Staatenwelt, S. 34 ff. 34 An erster Stelle zu nennen ist die Erfahrung zweier Weltkriege, die zu der Erkenntnis führte, dass „der souveräne Nationalstaat sich überschlagen“ (Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 218) hat. Die Katastrophe der beiden Kriege hatte gezeigt, dass die nicht organisierte Vielfalt von Nationalstaaten im Weltkrieg mündet. Die Fortschritte in der Rüstungsindustrie und die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen führten zu der Erkenntnis, dass Krieg unbedingt zu verhindern und die Einbindung der Staaten in Systeme kollektiver, aber damit auch kontrollierter Sicherheit notwendig ist. Als Folge entstanden der Völkerbund, die Vereinten Nationen und die NATO sowie der Warschauer Pakt. Mit dem Ende des Kalten Krieges kam es zu internal conflicts und Bürgerkriegen mit ethnischen Säuberungen und gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die mit den Mitteln des klassischen Völkerrechts nicht zu lösen waren. Das vorläufig letzte Glied in dieser Kette bildet der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus als Reaktion auf die Ereignisse nach dem 11. September 2001. Vor allem aber der sich herausbildende universelle Menschenrechtsschutz rechtfertigt es, von einer neuen Entwicklungsstufe im modernen Völkerrecht zu sprechen. Gewisse Menschenrechte gelten erga omnes, d.h. sie verpflichten die internationale Gemeinschaft als Ganzes und ihre Mitglieder in Form objektiver Rechtssätze. Es 31

II. Modernes Völkerrecht und das Prinzip der Solidarität

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tive, die neben dem Wohl des einzelnen Staates das Wohl der Internationalen Gemeinschaft in den Vordergrund rückt35. Das moderne System des Völkerrechts zeichnet sich durch eine Berücksichtigung der zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeiten aus. Es ist die Vorstellung einer Internationalen Gemeinschaft entstanden, in der neben den Staaten auch zunehmend nicht-staatliche Akteure wie Internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen das Geschehen bestimmen. All dies hat nicht zur Folge, dass die staatliche Souveränität verschwunden ist. Jedoch führt die zunehmende Dichte objektiver Regeln, in denen die sich verstärkende Solidarität der Staaten niederschlägt, dazu, dass die Souveränität immer mehr eingebunden wird im Sinne einer Gemeinwohlbindung für die Durchsetzung der Belange der Staatengemeinschaft36. Gleichzeitig ist das Bewusstsein gewachsen, dass bestimmte globale Probleme wie Umweltschutz und Terrorismus nur in Form internationaler Kooperation zu lösen sind37. Es stellt sich so die Frage, ob das moderne Völkerrecht von einem „genossenschaftlichen Willen zur solidarischen Kooperation, die auf der Naturtatsache der wechselseitigen Interdependenzen aller Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft beruht“38 getragen wird. Die Feststellung eines allgemeinen Prinzips der Solidarität ist in der neueren völkerrechtlichen Literatur stets mit der Vorstellung von einer neuen Weltwirtschaftsordnung verbunden worden39. Im Zuge der Dekolonisierung und der Entstehung einer „Dritten Welt“ hat der Ruf dieser Länder nach einer Revision des traditionellen liberalen Wirtschaftsvölkerrechts ein von französischen Völkerrechtlern geprägtes Entwicklungsvölkerrecht hervorgebracht40. In diesem Kontext geht es um internationale soziale Gerechtigkeit, internationale Wohlfahrt, wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Staaten, insbesondere aber der Entwicklungsländer, die eine Vorzugsbehandlung vor dem Hintergrund vergangener und bestehender Benachteiligungen beanspruchen. Ein zentrales Anliegen der Befürworter ist dabei die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung, wie sie in der einstimmig angenommenen Resogibt internationale und regionale Schieds-, Menschenrechts- und Strafgerichte. Dazu kommt das gewohnheitsrechtliche Anerkenntnis von völkerrechtlichen Mindeststandards und der Regeln des humanitären Völkerrechts. 35 Dazu Paulus, Die Internationale Gemeinschaft, 2001. 36 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, S. 222. 37 Bleckmann spricht davon, dass „typisch für das Kooperationsvölkerrecht ist, das sich heute umfassende und wichtige Allgemeininteressen der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft entwickeln . . . Das aber bedeutet, dass die Handlungsfreiheit der Staaten heute nicht erst an den subjektiven Rechten anderer Staaten, sondern im objektiven Völkerrecht ihre Schranken finden.“, AVR 1993, 364. 38 Sauer, Souveränität, S. 118. 39 Kimminich, AVR 1982, 2 ff.; Tomuschat, ZaöRV 1976, 444 ff.; Schütz, S. 43. 40 Zum Entwicklungsvölkerrecht vgl. Benedek, in: LdR/VR, S. 69 ff; insbesondere auch Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, Kapitel II, III.

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D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts

lution der VN Generalversammlung „Declaration and Programme of Action on the Establishment of the New International Economic Order“41 beschrieben ist. Dort geht es um die Umsetzung eines globalen Solidaritätsgedankens durch die einseitige Bevorzugung der Entwicklungsländer und Einräumung materieller Chancengleichheit in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen42. 1. Charter der Vereinten Nationen Während der Völkerbund spätestens durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gescheitert war, sind die Vereinten Nationen zum festen Bestandteil der internationalen Beziehungen geworden. Die Charter der Vereinten Nationen enthält Aussagen, die von einem Teil der Literatur als Grundlage für ein Völkerrechtsprinzip der Solidarität gesehen werden. Nach Art. 1 Abs. 3 setzen sich die VN das Ziel, „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied . . . zu fördern und zu festigen“. Diese Zielvorgabe wird dann im neunten Kapitel über die internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet konkretisiert. Dort statuiert Art. 56 eine Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit, um die in Art. 55 genannten Ziele – die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzung für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg sowie die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art – zu erreichen. Die Zielsetzung des Art. 1 Abs. 3 und die Pflicht der Staaten zur Kooperation aus Art. 56 würden folglich ein internationales Sozialprinzip, das in der Charter der VN wurzelt, begründen43. Art. 55 zeige die Grundauffassung der Schöpfer der Charter, dass neben der Friedenssicherung auch die internationale Solidarität ein Element der Weltordnung ist44. Dahinter stecke die Vorstellung, dass anstelle der reinen Koexistenz sich eine „neue weitergehende Verpflichtung der internationalen Zusammenarbeit entwickelt“45. Die Kooperationspflicht soll folglich sogar „ein Gebot zur Förderung der Wohlfahrt der Entwicklungsländer“ enthalten46. Das oberste Gebot der Friedenssicherung lasse sich in einer interdependenten Weltordnung nicht durch bloße Unterlas41 Declaration on the Establishment of a New Economic Order, GA Res. 3201, UN GAOR, 6th Spec. Sess., Supp. No. 1, UN DOC. A/9559 (1974); Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order, GA Res. 3202, UN GAOR, 6th Spec. Sess., Supp. No. 1, UN DOC. A/9559 (1974). 42 Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, S. 33. 43 Bryde, S. 37. 44 Kimminich, AVR 1982, 15. 45 Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 56. 46 Schütz, S. 45 f.

II. Modernes Völkerrecht und das Prinzip der Solidarität

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sungspflichten sichern, sondern „verlange eine positive Mitverantwortung der Staaten für die internationale Wohlfahrt“47. Dieser Auffassung zufolge wird die Charter der VN zu einer Verfassung für die internationale Gemeinschaft erhoben, die eine rechtliche Verpflichtung der Staaten zur solidarischen Kooperation enthält. Daraus resultiert eine positive Verpflichtung zur Förderung der schwächer entwickelten Länder, die allerdings nicht genauer zu konkretisieren ist. Im Grunde handelt es sich um eine erweiterte Auslegung der Charter, die neben dem leitenden Ziel der Friedenssicherung eine Förderung der internationalen sozialen Gerechtigkeit berücksichtigt. Es lassen sich jedoch zahlreiche Argumente finden, die gegen eine solche Interpretation der Charter sprechen. Die subjektiv-teleologische Auslegung ergibt, dass auf der Gründungskonferenz der VN in San Fransisco 1945 bewusst darauf verzichtet wurde, den VN mehr Kompetenzen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Unterstützung von Entwicklungsländern einzuräumen. Trotz mehrerer Vorschläge, die recht unverbindlichen Formulierungen des Art. 55 zu konkretisieren und den VN Kompetenzen in diesem Bereich zu geben, kam es zu keiner Änderung48. Der Widerstand gegen solche Änderungen war Ausdruck der Befürchtungen einiger Länder, dass somit die VN ein Recht bekommen würden, sich in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzumischen49. Als weiteres systematisches Argument kommt hinzu, dass Art. 1 der Charter lediglich unverbindliche Ziele beinhaltet, wohingegen Art. 2 die relevanten rechtlichen Regeln aufstellt. Dabei wiederholt Art. 2 lediglich die Zielsetzungen der Art. 1 Abs. 1 und 2, so dass das Ziel in Abs. 3 einer internationalen Zusammenarbeit nur als deklaratorisch angesehen werden kann50. Außerdem wurde die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit und soziale Unterstützung lediglich als Mittel zur Verwirklichung des Hauptziels der Charter, der Bewahrung des internationalen Friedens, angesehen51. Die Vereinten Nationen wurden aus der Erkenntnis geboren, dass eine der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg der Zusammenbruch der Weltwirtschaft in der Zwischenkriegszeit war52. Insofern sollte eine funktionierende Weltwirtschaft ein Anliegen aller Staaten sein. Allerdings war dies nur als Mittel zum Zweck und nicht im Sinne eines objektiven Prinzips der Charter gedacht. Der individuelle Beitrag der Staaten dazu ist folglich freiwillig und ermessensabhängig. Zudem steht der Gedanke internationaler sozialer Gerechtigkeit im Widerspruch zur 47

Bryde, S. 35. Wolfrum, in: Simma/Mosler/Randelzhofer/u. a. (Hrsg.), Charter UN, Art. 55 Rn. 3 ff. 49 Goodrich/Hambro/Simons, Art. 55, S. 372 f. 50 Wolfrum, EPIL II, S. 1245. 51 So auch Kemper, Neue Weltwirtschaftsordnung, S. 49. 52 Heinz, in: Wolfrum (Hrsg.), Handwörterbuch VN, Stichwort: Weltwirtschaftsordnung Rn. 2. 48

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D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts

Betonung der souveränen Gleichheit aller Staaten in Art. 2 Abs. 1, wenn man darin eine positive Rechtspflicht erkennen will. Als Maximalverpflichtung lässt sich aus Art. 56 dann nur eine Unterlassungspflicht der Staaten annehmen, die in Art. 55 enthaltenen Ziele zu torpedieren53. 2. Völkergewohnheitsrechtliches Solidaritätsprinzip? Die Charter der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten54 von 1974 ist der Versuch, die in der eben erwähnten Grundsatzerklärung der Generalversammlung zur Neuen Weltwirtschaftsordnung zum Ausdruck kommenden Prinzipien völkerrechtlich zu normieren. Ein Prinzip der internationalen Solidarität wird dort nicht explizit erwähnt. Dennoch meint Kemper, dass mit den Bestimmungen der Charter „erstmalig in dieser Geschlossenheit und mit dem Anspruch auf rechtliche Verbindlichkeit allgemeine Verpflichtungen der Solidarität zwischen den Nationen statuiert werden“55. Auch Tomuschat betont, dass die Charter ein Prinzip weltweiter Solidarität anerkenne, indem sie „den entwickelten Staaten eine allgemeine Verantwortung für die Entwicklungsländer zuspricht“56. Als Resolution der Generalversammlung statuiert die Charter aber gemäß Art. 10 der Charter der VN keine Rechtsverpflichtung der befürwortenden Staaten, sondern hat lediglich empfehlenden Charakter. Dies schließt die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht nicht aus, im Fall der Charter der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten stimmten jedoch wichtige westliche Industrienationen gegen die Resolution oder enthielten sich der Stimme57. Insofern ist die Charter ein politisches Grundsatzdokument, das einseitig die Wünsche der Entwicklungsländer zum Ausdruck bringt. Ein gewohnheitsrechtliches Prinzip der Solidarität wird durch die Charter nicht begründet58. Auch die Tatsache, dass eine Vielzahl von Resolutionen in Internationalen Organisationen eine Verpflichtung der reicheren Länder zur Unterstützung der Entwicklungsländer vorsieht, zeugt nicht von der Entstehung eines völkergewohnheitsrechtlichen Prinzips der Solidarität. Die Entwicklungsländer verfügen in den meisten IGOs über eine breite Abstimmungsmehrheit59. Ein Prinzip der Solidarität wird mit allen diesen Resolutionen gewohnheitsrechtlich nicht verankert. Es fehlt an der allgemeinen, übereinstimmenden Übung, consuetudo, einerseits, als auch an der Überzeugung, opinio juris, andererseits. Das Gros der 53

Kemper, Neue Weltwirtschaftsordnung, S. 52. A/Res/3281 vom 12. Dezember 1974. 55 Kemper, Weltwirtschaftsordnung, S. 61. 56 Tomuschat, ZaöRV 1976, 453. 57 Heinz, in: Wolfrum (Hrsg.), Handwörterbuch VN, Stichwort: Weltwirtschaftsordnung, Rn. 16. 58 Dazu sehr ausführlich Tomuschat, ZaöRV 1976, 465 ff. 59 von Seidl-Hohenfeldern, Economic law, S. 3. 54

II. Modernes Völkerrecht und das Prinzip der Solidarität

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Staaten ist nicht bereit, verbindliche Leistungspflichten, z. B. Zahlung von Entwicklungshilfe in einer bestimmten Höhe des Bruttosozialprodukts, dauerhaft zu übernehmen. Eine vergleichbare Bewertung muss für das von der Generalversammlung 1986 proklamierte Recht auf Entwicklung gelten60. Die zugrunde liegende Vorstellung eines Menschenrechts auf Entwicklung legt den Ländern der so genannten Ersten Welt ebenso wenig eine rechtliche Verpflichtung auf61. De lege lata kann ein solches Recht auf Entwicklung, das zu einer positiven Leistungspflicht wohlhabender Staaten führen würde, nicht nachgewiesen werden. Es handelt sich ebenfalls um eine unverbindliche Resolution der Generalversammlung. Ob sich durch weitere Deklarationen und Resolutionen ein solches Recht de lege ferenda entwickelt, bleibt abzuwarten. In diesem Sinne lassen sich weitere Beispiele anführen, die darauf hinweisen, dass „modern international economic law is characterized by increasing recognition of . . . legal principles of solidarity aimed at preventing national measures with harmful effects and at assisting States in overcoming economic difficulties“62. Insbesondere sind hier zu nennen: die Seerechtskonvention von 198263, die Bevorzugung der Entwicklungsländer im Rahmen der WTO, das Prinzip des gemeinsamen menschlichen Erbes64, der internationale Umweltschutz und das Abkommen über Trade Related Intellectual Property Rights (TRIPS)65. Gemeinsam zeugen diese Dokumente von einem internationalen Wirtschaftsvölkerrecht, das sich anschickt, die „classical principles of freedom and formal equality“ durch „new principles of substantive equality and solidarity“ zu ergänzen66. Insbesondere das „Entwicklungsvölkerrecht“ zählt zu seinem Kernbestand das Prinzip der zwischenstaatlichen Solidarität mit dem Inhalt einer generellen Unterstützungspflicht der stärkeren gegenüber schwächeren Mitgliedern der Staatengemeinschaft67. Auch die so genannte Seoul-Erklärung der International Law Association von 1986 bekennt sich zu einem Grundsatz der Solidarität in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen68. 60 A/Res/41/128 vom 4. Dezember 1986; dazu auch Gussone/Hartmann, The Commission on Human Rights, New York: NCCA 2001, S. 10–16. 61 Heinz, in: Wolfrum (Hrsg.), Handwörterbuch VN, Stichwort: Weltwirtschaftsordnung, Rn. 26. 62 Petersmann, EPIL II, S. 1135. 63 BGBl. 1994 II, 1798. 64 Vgl. Art. 136 SRÜ: „Das Gebiet und seine Ressourcen sind das gemeinsame Erbe der Menschheit“ und Art. 1 WRV, der die Erforschung und Nutzung des Weltraums zur „Sache der gesamten Menschheit“ erklärt. Allerdings ist dieses Prinzip nicht ohne weiteres auf alle Staatengemeinschaftsräume zu übertragen, vgl. Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, Rn. 72. 65 BGBl. 1994 II, 1565, 1730. 66 Petersmann, EPIL II, S. 1136. 67 Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, S. 108 f.

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D. Solidarität als Prinzip des Völkerrechts

Aus diesem kurzen Überblick, der sich an den in der Literatur vorwiegend genannten Quellen orientiert, ergibt sich aber, dass ein Prinzip der Solidarität noch nicht zum Völkergewohnheitsrecht zu zählen ist. Ebenso fehlt eine völkerrechtliche Definition des Terminus Solidarität69, so dass unklar bleibt, wie der Begriff zu verstehen ist. Aber auch, wenn viele dieser Dokumente, die den Gedanken der völkerrechtlichen Solidarität enthalten, dem völkerrechtlichen „soft law“ zuzuordnen sind, muss ihnen nicht jede rechtliche Wirkung aberkannt werden. Die neuere Völkerrechtslehre erkennt an, dass allgemeine Prinzipien und unverbindliche Grundsätze durchaus normative Wirkungen haben können, wobei der Umfang der sich ergebenen Rechte und Pflichten naturgemäß unterschiedlich beurteilt wird. Kaltenborn spricht von Völkerrechtsprinzipien als Optimierungsgebote im Sinne von Alexy, die bestimmen, „dass ein als Zielvorgabe beschriebener Zustand in einem – gemessen an den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten der beteiligten Völkerrechtssubjekte – möglichst hohen Maße realisiert werden soll70. Als normative Bindungen ergeben sich aus einem solchen Verständnis die Verpflichtung der Staaten, in konstruktive Verhandlungen über eine rechtliche Konkretisierung des Prinzips einzutreten sowie die Verpflichtung, sich jeglicher Maßnahme zu enthalten, die die Verwirklichung des Ziels beeinträchtigt71. Schütz erkennt ebenfalls eine Unterlassungspflicht in letzterem Sinne an72. Kimminich zieht aus Art. 55 und 56 der Charter der VN den Schluss auf eine Rechtspflicht der Mitglieder zur Förderung der entsprechenden Fortentwicklung des allgemeinen Völkerrechts73. Scheuner ist dagegen skeptischer und beschreibt das Prinzip der Solidarität lediglich als politisches Prinzip, das noch keine verbindliche rechtliche Festlegung erhalten hat74.

III. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Prinzip der völkerrechtlichen Solidarität nicht erst im 20. Jahrhundert entdeckt worden ist. Schon Vattel hat in seiner naturrechtlichen Lehre ein solches Prinzip mit der Vorstellung einer Gemeinschaft souveräner Staaten verbunden. Mit dem Wandel des Völkerrechts68

Zitiert nach: Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, S. 106. In der EPIL findet sich dann auch nur das Stichwort „Solidarity Rights – Development, Peace, Environment, Humanitarian Assistance“. Damit sind die so genannten Menschenrechte der dritten Generation gemeint, aber nicht das völkerrechtliche Ordnungsprinzip, von welchem vorliegend die Rede ist. 70 Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, S. 122. 71 Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, S. 123 f. 72 Schütz, S. 109 f. 73 Kimminich, AVR 1982, 26; ders., Einführung in das VR, S. 309. 74 Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 274. 69

III. Ergebnis

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verständnisses und der Zunahme wirtschaftlicher und sozialer Probleme auf globaler Ebene wird das Solidaritätsprinzip erneut von den Befürwortern einer Neuen Wirtschaftsordnung und eines Entwicklungsvölkerrechts aufgegriffen. Von diesen wird das Prinzip der Solidarität zum wesentlichen Merkmal des modernen Völkerrechts erhoben. In zunehmender Weise anerkannt wird eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht der Staaten zur Kooperation. Vor dem Hintergrund globaler Probleme, z. B. im Bereich des Umweltschutzes, erscheint eine gemeinsame Problembewältigung unabdingbar. Es bildet sich ein zunehmender Konsens über ein völkerrechtliches Gemeinwohl und das Bestehen einer Internationalen Gemeinschaft heraus. In diesen Bereichen geht das nationale Interesse dem Gemeinwohl nach, so dass der Grundsatz der uneingeschränkten Souveränität Limitierungen unterliegt. Stattdessen sind die Staaten zu Kooperation und Rücksichtnahme bei Themen wie Umweltschutz und Menschenrechtsschutz verpflichtet. Das Prinzip der Solidarität impliziert nun eine Intensivierung und Verdichtung dieser Zusammenarbeitspflicht, indem es nicht nur den Vorrang des Gemeinwohls postuliert, sondern darüber hinaus positive Leistungen, wie Zahlung von Entwicklungshilfe, fordert. Allerdings ist es dem „soft law“ zuzurechnen, womit seine rechtliche Wirkung umstritten ist. Als Bestandteil des weichen Völkerrechts kann dem Prinzip der Solidarität aber die Rolle eines Schrittmachers zufallen. Politischer und moralischer Druck können dazu führen, dass Staaten die Berufungsmöglichkeit auf ihre unbeschränkte Souveränität versagt bleibt75. Außerdem gewinnen solche Rechtsprinzipien Bedeutung bei der Auslegung und Konkretisierung kodifizierten Völkerrechts. In jedem Fall ist das völkerrechtliche Prinzip der Solidarität noch nicht in der Weise kodifiziert, als dass sich Anspruchsinhaber und Anspruchsgläubiger von Leistungspflichten bestimmen ließen. Seine Existenz und rechtliche Qualität lassen sich trotz alledem nicht abstreiten.

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So auch Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht, S. 100.

E. Problemstellungen und Gang der Untersuchung I. Ansatz und Kategorisierung Nach diesem Blick auf benachbarte Ebenen und die Begriffsgeschichte erscheint der Begriff der Solidarität noch recht vage und wenig konkret. Es bleibt zu untersuchen, ob das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union einen größeren normativen Gehalt aufweist und konkrete Rechte und Pflichten statuiert. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass aufgrund der erreichten Integration zwischen den Staaten der EU und der Supranationalität der Europäischen Gemeinschaft dort eine stärkere und verbindlichere Form der Solidarität herrscht, die zugleich ein objektives Grundprinzip einer europäischen Rechtsgemeinschaft darstellen könnte1. Der EuGH hat in diesem Sinne schon 1973 folgende Aussage getroffen: „Der Vertrag erlaubt es den Mitgliedstaaten, die Vorteile der Gemeinschaft für sich zu nutzen, er erlegt ihnen aber die Verpflichtung auf, deren Rechtsvorschriften zu beachten. Stört ein Staat aufgrund der Vorstellung, die er sich von seinen nationalen Interessen macht, einseitig das mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, so stellt dies die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht in Frage . . . Ein solcher Verstoß gegen die Pflicht der Solidarität, welche die Mitgliedstaaten durch ihren Beitritt zur Gemeinschaft übernommen haben, beeinträchtigt die Rechtsordnung der Gemeinschaft in ihren Grundfesten.“2 1 A. A. offenbar Scheuner, in: Delbrück/Ipsen/Rauschning (Hrsg.), FS Menzel, S. 271: Scheuner ist der Meinung, dass an die Stelle des strikten Souveränitätsdenkens des 19. Jh. in letzter Zeit ein Verlangen nach Zusammenarbeit getreten ist. Die Staaten würden heute (1975) von der Vorstellung geleitet, dass sie von einander abhängig sind. Daraus entstehe ein solidarisches Handeln in Bezug auf das wirtschaftliche und soziale Zusammenleben der Völker, das „auch über das solidarische Verhalten einzelner unter sich stärker verbundener Staatengruppen – wie der kommunistischen Staaten und der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft – hinaus“ gehen würde. Dagegen spricht Häberle mit dem Blick auf den europäischen Verfassungsstaat von „Europa als Beispiel einer konstitutionell dichten regionalen Verantwortungs- und Solidargemeinschaft im Rahmen der globalen Verantwortungsgemeinschaft der Menschheit bzw. des Völkerrechts als Menschheitsrecht“. Dabei ist er offensichtlich der Auffassung, dass eine „universale Verantwortungsgemeinschaft der Verfassungsstaaten . . . nur sehr punktuell einlösbar sei“. Vieles deute darauf hin, dass „der Verfassungsstaat auf seiner heutigen Entwicklungsstufe konkreter in regionalen Solidaritätspflichten steht“. Vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 26 ff. Wie hier auch Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 751: „. . . die Verbundenheit innerhalb der Gemeinschaft ist weitaus enger, als sie auf Weltebene jemals auch nur in Betracht gezogen werden könnte“.

I. Ansatz und Kategorisierung

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Deutlich treten hier wichtige Aspekte eines unionsrechtlichen Solidaritätsprinzips zu Tage. Die Mitgliedstaaten haben durch ihren Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft automatisch eine Pflicht zur Solidarität übernommen. Diese Pflicht beinhaltet die Befolgung der gemeinsamen Regelungen, auch wenn sie kurzfristig den nationalen Interessen zuwiderlaufen. Impliziert wird also der Vorrang der gemeinsamen Interessen, wie sie z. B. in den Vertragszielen niedergelegt sind, vor den nationalen Interessen. Nur so bleibt das Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft gewahrt. Offenbar kann also sowohl ein Übergewicht der Gemeinschaftsinteressen als auch ein Übergewicht der jeweiligen nationalen Interessen dieses Gleichgewicht empfindlich stören. Der Aspekt der gemeinsamen Zielbezogenheit und Verpflichtung auf das Gemeinwohl hat sich als ein Merkmal des Solidaritätsprinzips bereits im Rahmen der Begriffsgeschichte herausgestellt. Daneben konnte noch eine andere Seite des Solidaritätsprinzips beobachtet werden. Solidarität hat immer auch etwas mit Unterstützung und Hilfeleistung für die Nächsten zu tun. Sie wird typischerweise in Krisensituationen aktiviert oder im Rahmen enger familiärer und gesellschaftlicher Verbundenheit z. B. durch die Gewährung von Unterhalt. Im modernen Völkerrecht werden aus dem Solidaritätsprinzip Forderungen auf Leistung von Entwicklungshilfe oder gerechterer Verteilung der natürlichen Ressourcen erhoben. Dieser zweite Gesichtspunkt des Solidaritätsprinzips steht also für bestimmte materielle Leistungen, die die Not eines Anderen lindern sollen, der sich nicht selber helfen kann. Dazu kommen Aspekte der Gerechtigkeit und Gleichheit. So lassen sich zwei wesentliche Seiten feststellen, die allem Anschein nach zusammen das Solidaritätsprinzip konstituieren. Aus diesem Grund wird eine Kategorisierung für den weiteren Gang der Untersuchung vorgeschlagen, ohne damit eine Begriffsdefinition vorwegnehmen zu wollen. Zum einen gibt es offenbar eine respektierende Solidarität, die eine gewisse Art der Einstellung und die Grundbereitschaft zur Regelbefolgung und Förderung des Gemeinwohls von den Gliedern einer Gemeinschaft fordert. Zum anderen lässt sich ein leistendes Solidaritätsprinzip feststellen. Diese Seite verpflichtet in gewissem Umfang zur Hilfeleistung und Unterstützung von denjenigen, mit denen man in einer Gemeinschaft verbunden ist. Mit der grundsätzlichen Einordnung in respektierende und leistende Solidarität soll ein Werkzeug, ein Maßstab, eine technische Auslegungshilfe geschaffen werden, damit der hoch abstrakte und unbestimmte Rechtsbegriff der Solidarität fassbarer gemacht werden kann. Ziel der Untersuchung ist es, ein Koordinatensystem der Solidarität zu entwerfen, indem Umfang, Wirkungsweise und Funktion dieses Prinzips in der Europäischen Union bestimmt werden. Allerdings ist, und das ist ein Paradoxon, „Solidarität im System des Rechts über ein Mauerblümchendasein“ nicht hi2

EuGH, Rs. 39/1973, Kommission/Italien, Slg. 1973, 101 Rn. 24.

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E. Problemstellungen und Gang der Untersuchung

nausgekommen3. Ein Begriff, der derart alltäglich erscheint und zugleich offensichtlich eine zentrale Rolle in der Europäischen Union spielt, ist in seiner rechtlichen Bedeutung noch kaum erschlossen und analysiert worden4. Dabei wird dem Solidaritätsprinzip in der Literatur oft eine bedeutende Stellung zu geschrieben. Nach von Bogdandy zählt Solidarität zu den „klassischen Strukturprinzipien der europäischen Moderne“5. Für Tomuschat, dem das Verdienst gebührt, sich als erster ausführlicher mit dem Thema der Solidarität in der EG auseinandergesetzt zu haben, hat das Prinzip der Solidarität „von Anfang an in der europäischen Integrationsbewegung als Leitzielbestimmung“ gewirkt“6. In diesem Sinne auch Pernice, der die Solidarität als „founding principle“ bezeichnet7. Für andere Autoren ist die Europäische Union eine „Verantwortungs- und Solidargemeinschaft“8. Das Prinzip der gegenseitigen solidarischen Sicherung durchziehe die Verträge von Anfang an. „Die Strukturprinzipien der Europäischen Union für das 21. Jahrhundert sind Subsidiarität, Solidarität und Kohärenz“9. Schließlich hat vor allem Bieber versucht, die Solidarität als spezifischen Teil eines den europäischen Völkern gemeinsamen Wertesystems zu etablieren10. Häufig bringen diese Ausführungen jedoch mehr Verwirrung als Klarheit, denn es fehlt an einem einheitlichen Konzept und dogmatischer Schärfe. Insbesondere die Abgrenzung zum scheinbar verwandten Prinzip der Gemeinschaftstreue wird von den meisten Autoren nicht vollzogen. So gelangt Zuleeg zu dem Schluss, dass damit keine unterschiedlichen Prinzipien bezeichnet werden11 und Kahl bezeichnet Loyalität und Solidarität als „adjektivisch-modalen Zusatz ohne eigenständigen Prinzipiengehalt“12. Auch in der fremdsprachlichen Literatur fehlt es zuweilen an einer hinreichenden Abgrenzung. Dort wird ebenfalls das Prinzip der „Community loyalty“, das dogmatisch an Art. 10 EGV angebunden wird, mit dem „Principle of solidarity“ gleichgesetzt13. Dieser Gleichsetzung steht jedoch bereits der Wortlaut des EUV entgegen, wo zwischen Loyalität und 3

Volkmann, Solidarität, S. 1. Monographische Darstellungen finden sich bei Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999 und Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2003. 5 von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 182. 6 Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (730). 7 Pernice, Columbia Journal of European Law 1996, 403 (407). 8 Schmitz, Integration, S. 350 (412 ff.). 9 Martenczuk, EuR 2000, 351 (364). 10 Bieber, Solidarität und Loyalität durch Recht, FES, 1997. 11 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 10 EGV Rn. 1. 12 Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 9. 13 Vgl. Kapteyn/VerLoren van Thermaat, Law of the EC, S. 148 ff.; Ellis/Tridimas, Public Law of the EC, S. 71 ff.; Lasok, NLJ 1992, Nr. 6567, S. 1229. 4

I. Ansatz und Kategorisierung

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Solidarität unterschieden wird14. Insofern ist im Folgenden ein Hauptaugenmerk auf die dogmatische Klärung des Verhältnisses dieser beiden Fundamentalprinzipien der Europäischen Union gerichtet. Ein Nachdenken über den Gehalt europäischer Solidarität ist sowohl aus historischer als auch aus aktueller Perspektive her angebracht. In der Schuman-Erklärung gab der französische Außenminister die Parole aus, dass zunächst mittels wirtschaftlicher Integration eine „solidarité de fait“ geschaffen werden müsse, um langfristig eine solidarische Föderation der europäischen Völker errichten zu können. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Prognose Schumans zutrifft, dass durch fortschreitende Integration eine wirkliche Solidarität der europäischen Bürger erreicht werden kann15. Hinzu kommen aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Integration, die es notwendig machen, das Solidaritätsprinzip in der EU zu präzisieren und fassbar zu machen. Die Union hat am 1. Mai 2004 ihre bisher größte Erweiterung um zehn neue Mitglieder erfahren. Ein solcher Prozess, dass ist die allgemeine Überzeugung, kann nur bewältigt werden, wenn Strukturen und Institutionen grundlegend reformiert werden. Dabei ist es unerlässlich, dass man sich über die Grundlagen der Europäischen Integration klar wird, um den unabdingbaren Reformen einen Rahmen zu geben. Es ist deshalb zu fragen, ob nicht das Solidaritätsprinzip eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Grundlage der Europäischen Union bildet16. Außerdem muss geklärt werden, ob und in welchem Umfang die Solidarität eine finanzielle Unterstützung der neuen Mitglieder verlangt. Insofern hat das Solidaritätsprinzip eine sehr praxisrelevante Bedeutung. Im Zuge der Erweiterung und des Reformprozesses hat die Union inzwischen eine Verfassung bekommen17. Der VerfV muss jedoch noch durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden und ist in Frankreich und den Niederlanden bereits deutlich abgelehnt worden18. Auch dieser neueste Text des Primärrechts nimmt den Gedanken der Solidarität auf und gibt ihm eine spezifische Prägung. Es ist folglich an der Zeit, der europäischen Solidarität ein dogmatisches und inhaltliches Gerüst zu geben.

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Art. 11 Abs. 2 EUV. Vgl. dazu unten Kapitel F. V. 16 In diesem Sinne Böckenförde, FAZ v. 20.06.2003, Nr. 140, S. 8. 17 Ob es sich dabei um eine wahre Verfassung im formal juristischen Sinne handelt oder um einen bloßen völkerrechtlichen Vertrag soll hier nicht entschieden werden. Vgl. dazu Günther, ZParl. 2002, 347 ff. und zu einer bemerkenswerten eigenen Konzeption Cromme, DÖV 2002, 593 ff. 18 Der Stand der Ratifizierung kann unter http://europa.eu.int/constitution/referen dum_de.htm abgerufen werden. 15

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E. Problemstellungen und Gang der Untersuchung

II. Gang der Untersuchung Die folgende Untersuchung wird auf zweierlei Weise beschränkt. Zum einen geht es um die innere Solidarität, also die Beziehungen innerhalb der Europäischen Union. Der Aspekt einer äußeren Solidarität im Sinne eines solidarischen Auftretens der Union als Ganzes in ihren Beziehungen zu Drittstaaten wird außer Acht gelassen19. Zum anderen wird ausschließlich der Pfad des Primärrechts betreten. Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass sowohl für die EU als auch für die EG die Gründungsverträge der oberste Maßstab sind und damit in einer Normenhierarchie den obersten Platz einnehmen. Während im Völkerrecht keine strenge Hierarchisierung der Rechtsquellen vorgenommen wird, hat sich für die Europäische Union eine solche ausgebildet20. Es gilt der generelle Vorrang des Primärrechts vor dem Sekundärrecht. Deshalb werden EGV, EGKSV, EAGV, EUV und die GR-Charta in dieser Reihenfolge auf Hinweise nach dem Solidaritätsprinzip untersucht werden. Im Rahmen ihrer Auslegung kann dann eine Annäherung an den Begriff der Solidarität erfolgen. Der Schwerpunkt soll darauf liegen, die Struktur- und Anwendungsfelder eines möglichen Prinzips der Solidarität in der EU aufzuzeigen. Dafür ist es unverzichtbar, die Rechtsprechung des EuGH zu untersuchen, die sich mit dem Solidaritätsprinzip beschäftigt. Nachdem so ein normativer Begriffsinhalt gewonnen worden ist, stellt sich die Frage nach den Grenzen eines solchen Solidaritätsprinzips. Wieweit reichen beispielsweise die finanziellen Solidaritätspflichten der Mitgliedstaaten? Abschließend soll dann untersucht werden, welche Rolle das Solidaritätsprinzip in der Rechtspraxis spielen kann, d.h. inwieweit die unionsrechtliche Solidarität justitiabel ist. Es gilt fortan, ein Rechtsprinzip der Solidarität in den europäischen Verträgen nachzuweisen. Die Regelungen sollen daraufhin untersucht werden, ob und inwieweit sich dort die respektierende und leistende Seite des Solidaritätsprinzips nachweisen lässt. Dabei wird die Auslegung von folgenden Fragestellungen geleitet:

19 Im VerfV wird dieser Teil des Solidaritätsprinzips nun stärker betont, vgl. 2. Erwägungsgrund, Art. I-3 Abs. 4 und Art. III-292: „Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, welche für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.“; vgl. auch Europäische Kommission, Europäische Solidarität mit den Opfern humanitärer Krisen, 2002 für einen Überblick und aktuelle Zahlen. 20 Vgl. dazu von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (442).

II. Gang der Untersuchung

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• Wie wird der Gedanke der Solidarität in den einzelnen Vorschriften konkretisiert? • Wer ist der Adressat der Norm? Wie viele Beziehungsdimensionen werden deutlich? • Werden Kompetenzen, Rechte oder Pflichten begründet? • Welche Funktion erfüllt das Solidaritätsprinzip in den jeweiligen Bereichen?

F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der Europäischen Gemeinschaften I. Überblick Die Präambel des EGV enthält im Gegensatz zum Unionsvertrag1 keinen expliziten Hinweis auf ein Solidaritätsprinzip. Ein solcher folgt jedoch an prominenter Stelle in Art. 2 EGV. Dort findet sich unter den zehn grundlegenden Zielen der Gemeinschaft auch die Aufgabe, „die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern“. Damit erschöpft sich allerdings bereits der Überblick für den Bereich des EGV. Weitere Normen, die ausdrücklich die Solidarität erwähnen, finden sich nicht. Wichtig ist insofern der Verweis auf Art. 2 EGV im Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, das mit dem Vertrag von Maastricht dem EGV beigefügt worden ist2. Im zweiten Erwägungsgrund heißt es: „Unter Hinweis darauf, dass in Artikel 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auch die Aufgabe der Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten erwähnt ist und dass die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zu den in Artikel 3 dieses Vertrags aufgeführten Tätigkeiten der Gemeinschaft gehört.“

Das Protokoll steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den Vorschriften über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt im Titel XVII Art. 158–162 EGV. Gemäß der Vorschrift des Art. 311 EGV sind die „im gegenseitigen Einvernehmen der Mitgliedstaaten beigefügten Protokolle“ Bestandteil des Vertrags. Sie sind deshalb wie die übrigen Vertragsbestimmungen anzuwenden und zählen zum Primärrecht3. Das Protokoll und die Kohäsionsvorschriften könnten also wesentliche Hinweise darauf geben, wie die Vertragsparteien das Konzept der Solidarität in der EG verstanden haben. Offensichtlich berühren sich das Konzept des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und das Solidaritätsprinzip. Darauf wird später noch einzugehen sein4. 1

Vgl. dazu Kapitel G. I. 2. Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EG-Kommentar, Art. 158 EGV Rn. 7 geht fälschlicherweise davon aus, dass das Protokoll dem EUV beigefügt worden ist. Insofern aber der eindeutige Wortlaut des Protokolls im letzten Absatz: „Die Hohen Vertragsparteien kommen überein . . . dieses Protokoll dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beizufügen“. 3 Booß, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EG-Kommentar, Art. 311 EGV Rn. 1 f. 4 Kapitel F. IV. 2. 2

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV

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Auch im EGKSV findet sich die Solidarität an vorderster Stelle wieder, allerdings nur im französischen Original. In der Präambel heißt es dort im dritten Erwägungsgrund: „Conscients que l’Europe ne se construira que par des réalisations concrètes créant d’abord une solidarité de fait et par l’établissement de bases communes de développement économique.“

Die deutsche Übersetzung lautet: „In dem Bewusstsein, dass Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann.“

Zwar bestehen die Europäischen Gemeinschaften nur noch aus EGV und EAGV, denn der nach dem Zweiten Weltkrieg als erster geschlossene Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist Mitte 2002 nach fünfzigjähriger Laufzeit ausgelaufen5. Trotzdem kann dieser Vertrag in vielen Bereichen wertvolle Hinweise auf das Verständnis der Gemeinschaft als supranationaler Verband geben. Der EGKSV war sehr fortschrittlich konzipiert und enthält für den Nachweis eines Solidaritätsprinzips wertvolle Hinweise. Der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft enthält keinen wörtlichen Verweis auf das Solidaritätsprinzip. Allerdings findet sich dort der Aspekt der Gemeinschaftstreue in Art. 192 EAGV. Dazu bestehen strukturelle Vergleichbarkeiten zwischen der EAG und den anderen Gemeinschaften, so dass auch die Regelungen des EAG-Vertrages kurz auf die Geltung des Solidaritätsprinzips hin untersucht werden sollen.

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV 1. Art. 2 EGV als zentrale Zielnorm der Gemeinschaft a) Auslegung und Bedeutung von Art. 2 EGV Art. 2 EGV wird als „Grundnorm des Integrationsprogramms“ bezeichnet6. An vorderster Stelle finden sich dort die Aufgaben der Gemeinschaft in vergleichbarer Weise, wie dies Art. 2 EUV für die Europäische Union normiert. Im Zusammenspiel mit Art. 3 EGV wird die Vorschrift zum „Dreh- und Angelpunkt“ der gemeinschaftlichen Aktivitäten7. Auch für den EuGH steht Art. 2 EGV „an der Spitze der vertragsprägenden allgemeinen Grundsätze“8. Die 5

Art. 97 EGKSV. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 1; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 4. 7 Basedow, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Everling, Band I, S. 49. 8 EuGH, Rs. 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359 (369 f.). 6

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Vorschrift des Art. 2 EGV ist also von grundsätzlicher Bedeutung für die Gemeinschaft und wird so hoch eingeschätzt, dass sie sogar zum „revisionsfesten Minimum“ der Verträge „in einer . . . dem Mechanismus des Art. 79 III GG vergleichbaren Weise“ gezählt wird9. Dabei folgen die Art. 2 und 3 EGV einem bestimmten Aufbau, woraus sich Hinweise für die Interpretation ergeben. Ein Verweis auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten an solch zentraler Stelle erfordert es, die Vorschrift genau auszulegen und ihre Funktion zu bestimmen. Darüber hinaus ist Art. 2 EGV die einzige Vorschrift des Gemeinschaftsvertrages, die den Begriff der Solidarität verwendet. Insofern ist es auf der Suche nach einem eigenständigen Solidaritätsprinzip unerlässlich, die Norm dem oben festgelegten Prüfungsraster zu unterwerfen. aa) Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft Art. 2 EGV spricht im Singular von der „Aufgabe der Gemeinschaft“. An anderen Stellen im Vertrag, z. B. Art. 5, 10 Abs. 2 und 308 EGV wird dagegen der Begriff der „Ziele dieses Vertrages“ verwendet. Es ist deshalb dem Wortlaut nach nicht ersichtlich, ob zwischen den Zielen und den Aufgaben der Gemeinschaft ein sachlicher Unterschied besteht. Virulent wird dieser Streit bei der Auslegung und Anwendung der Generalermächtigungsnorm des Art. 308 EGV. Dort wird der Gemeinschaft eine Handlungskompetenz für den Fall verliehen, dass die dafür erforderliche Befugnis im EG-Vertrag fehlt. Voraussetzung ist, dass ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich ist, „um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen“. Es kommt jetzt darauf an, dass man den Begriff der „Ziele“ in dieser Vorschrift weit auslegt, damit auch die allgemeinen Aufgaben des Art. 2 EGV darunter fallen. Eine solch weite Auslegung wird von Teilen des Schrifttums abgelehnt mit der Begründung, dass man zwischen Zielen als Erwartung und Zielen als Aufgabe unterscheiden müsse10. Demnach seien nur die in Art. 2 EGV genannten Aufgaben der Gemeinschaft „Errichtung eines Gemeinsamen Marktes“ und „einer Wirtschafts- und Währungsunion“ Ziele im Sinne des Art. 235 EWG (308 EGV). Alle anderen Bestimmungen der Norm seien zu abstrakt und bringen nur politische, ökologische, sozial- und entwicklungspolitische Erwartungen zum Ausdruck. Darunter falle auch das Solidaritätsprinzip, das nach dieser Auffassung als Erwartung und nicht als Aufgabe in Art. 2 EGV formuliert ist. Die 9 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 28 Rn. 23. Richtig bemerkt Müller-Graff dazu, dass aber eine Vertragsänderung auf Grundlage des Art. 48 EUV auch Art. 2 EGV umfassen kann; vgl. Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 116 FN 449. 10 Grabitz, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. 235 EGV Rn. 12 ff.

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV

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Folge wäre eine normative Unverbindlichkeit, eine gewisse Beliebigkeit in Bezug auf die Solidarität. Die überwiegende Literatur subsumiert jedoch alle Bestimmungen des Art. 2 EGV unter die Ermächtigungsnorm des Art. 308 EGV11. Für eine Differenzierung im Sinne der Mindermeinung fände sich weder im Wortlaut noch im Sinn der Vorschrift eine ausreichende Stütze12. Außerdem spreche auch der Vergleich mit der vergleichbaren Vorschrift des Art. 95 EGKSV für eine weite Auslegung13. Dort sind auch die allgemeinen Ziele des Art. 2 EGKSV mit erfasst. Für die überwiegende Auffassung in der Literatur spricht auch die Rechtsprechung des EuGH. Die Ziele des Art. 2 EGV sind danach „Gebot des Vertrages und Aufgabe der Gemeinschaft“14. Für die Bestimmung der von Art. 308 EGV umfassten Ziele verweist das Gericht insbesondere auf diejenigen, „die die Aufgaben und Tätigkeiten der Gemeinschaft festlegen“15. Die Formulierung scheint also, da der EuGH nicht zwischen den unterschiedlichen Bestimmungen des Art. 2 EGV weiter differenziert, eine weite Auslegung des Art. 308 EGV zu stützen. Unabhängig davon, wie man das Verhältnis der einzelnen Bestimmungen zueinander in Art. 2 EGV bewertet oder sogar eine Hierarchisierung vornimmt, ist es nicht angebracht, den Begriffen „Aufgabe“ und „Ziele“ der Gemeinschaft unterschiedliche normative Qualität beizumessen. Der EuGH jedenfalls nimmt keine Differenzierung vor, sondern sagt von den Aufgaben der „Errichtung des Gemeinsamen Marktes“ und „der fortschreitenden Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten“16, dass sie „ebenfalls Ziele sind, deren Erreichung den wesentlichen Gegenstand des Vertrages bildet“17. Dafür spricht eine logische Überlegung. Wortlaut und Systematik des Art. 2 EGV machen eine Zweck-Mittel-Relation deutlich18. In Art. 2 EGV lassen sich elf19 verschiedene Ziele von der harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung des 11 Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 308 EGV Rn. 18; Schreiber, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 308 EGV Rn. 10; Bleckmann, Europarecht, Rn. 794; Oppermann, Europarecht, Rn. 525. 12 Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 308 EGV Rn. 18. 13 Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. 235 EGV Rn. 2. 14 EuGH, Rs. 6/72, Contintental Can, Slg. 1973, 215 Rn. 24; Rs. C-30/90, Patentzwangslizenz, Slg. 1992, I-829 Rn. 30. 15 EuGH, Gutachten 2/94, EMRK-Beitritt, Slg. 1996, I-1759 Rn. 30. 16 So lautete die Formulierung der Nahziele vor Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht. 17 EuGH, Rs. 126/86, Giménez Zaera/Instituto Nacional de la Seguridad Social und Tresoria de la Segurdidad Social, Slg. 1987, I-3697 Rn. 10. 18 Vgl. die gute Übersicht bei Fischer, Europarecht, S. 32. 19 Wenn man der Auffassung folgt, dass das Solidaritätsprinzip und der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt ein Ziel bilden, sind es zehn Ziele; vgl. von Bog-

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Wirtschaftslebens bis zur Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten identifizieren. An erster Stelle werden jedoch die Mittel genannt, die der Vertrag zur Erreichung dieser Ziele vorsieht. Diese sind neben den in Art. 3 und 4 EGV genannten Tätigkeiten insbesondere die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion. Hier ist eine weitere Unterscheidung in die Kategorien „Vertragsziel“ und „Verwirklichungsmittel“ juristisch nicht notwendig. Wenn die Errichtung eines Binnenmarktes als primäres Mittel zur Zielerreichung bestimmt wird, muss das erste Ziel lauten: Errichte einen Binnenmarkt. So kann allenfalls eine Unterscheidung in Nah- und Fernziele eine zeitliche Dimension darstellen ohne dabei eine Hierarchie der Ziele aufstellen zu wollen20. Die Nahziele sind dann durch eine Doppelnatur gekennzeichnet. Zum einen sind sie eigenständige Ziele und zum anderen sind sie Mittel zur Erreichung der Fernziele21. Es wird deshalb im Weiteren von Vertragszielen gesprochen werden gemäß der üblichen Verwendung im juristischen Schrifttum22. Ziele und Aufgaben sind damit einer Normkategorie der Vertragsziele zuzuordnen. bb) Funktion des Art. 2 EGV Die EG ist aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages geschlossen worden. Wenn man die so geschaffene Gemeinschaft zu den Internationalen Organisationen rechnet, ist es nur folgerichtig, ihre Zweckbestimmung aus dem Gründungsvertrag zu entnehmen23. Eine besondere Bedeutung erlangen dabei die Vertragsziele. Gemäß Art. 31 Abs. 1 WVRK ist ein Vertrag nach Treu und Glauben und „im Lichte seines Zieles und Zweckes“ auszulegen. Obwohl die Wiener Vertragsrechtskonvention für den EUV und den EGV nicht direkt anwendbar ist, weil ihr nicht alle 15 Mitgliedstaaten beigetreten sind24, kommt sie als kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht dennoch zur Geltung25. Dadurch gewinnt Art. 2 dandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 32; elf Ziele identifiziert Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 116. 20 Die Mittel werden zum Ziel bei: Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 10 f.; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 3; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 13; Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 140; die Unterscheidung in „Fernziele“ und „Nahziele“ stammt von Basedow, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Everling, Band I, S. 49 (57). 21 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 26. 22 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 2; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 1; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 1; Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 102 und 116 „normgefasste Zielbestimmungen“. 23 So Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 1 EGV Rn. 4 und Art. 2 EGV Rn. 2.

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV

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EGV die schon erwähnte herausragende Bedeutung, weil er die wesentlichen Ziele der Gemeinschaft normiert und damit ihren Handlungsspielraum absteckt. Die Ziele begrenzen und leiten insbesondere das Ermessen der EG-Organe. Nach dem EuGH haben diese von ihrem Entscheidungsspielraum stets „nach Maßgabe der Gemeinschaftsziele Gebrauch zu machen“26. Der im deutschen Verwaltungsrecht anerkannte Grundsatz, dass der Schluss von einer „Aufgabe“ eines Hoheitsträgers auf seine „Befugnis“ aus Gründen der Eindämmung der staatlichen Gewalt unzulässig ist, gilt auch im Europarecht27. Daraus folgt, dass die Aufgabenbeschreibung des Art. 2 EGV nicht als Legitimierung dienen kann, dem Einzelnen gegenüber belastende Maßnahmen zu ergreifen. Die Norm ist keine originäre Kompetenznorm28. Umgekehrt lassen sich auf Art. 2 EGV alleine auch keine subjektiven Ansprüche gründen. In diesem Sinne hat der EuGH für das Ziel der „Hebung des Lebensstandards“ geurteilt, dass es aufgrund seiner Allgemeinheit und seines systematischen Zusammenhangs mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes keine verbindlichen Rechte oder Pflichten der Mitgliedstaaten oder Einzelner begründen könne29. Es bedarf also immer einer Zusammenschau von einem in Art. 2 EGV normierten Ziel und einer konkreten Regelung, um aus dem Ziel auch bestimmte Rechtsfolgen herleiten zu können. Die grundlegende Funktion der Vertragsziele des Art. 2 EGV zeigt sich darin, dass es sich um eine Normkategorie handelt, die eine rechtsverbindlich steuernde Wirkung hat30. Auch wenn sie aufgrund ihrer Allgemeinheit und abstrakten Formulierung keine unmittelbaren Rechtsfolgen enthalten, so kommen den Vertragszielen doch bedeutende Funktionen zu. In der Literatur ist eine Verpflichtungswirkung, eine Beschränkungswirkung und Entscheidungsbindung, die Auslegungswirkung und Rechtsfortbildungswirkung, sowie die Ermächtigungskonkretisierung und die Prinzipienbildung herausgearbeitet worden31. Ihre Wirkung entfalten die Ziele damit hauptsächlich als Aufgaben- und Maßstabsnormen. Als Aufgabennormen konstituieren sie Handlungsaufträge an die Gemeinschaft, dieselbe in eine bestimmte Richtung hin weiterzuentwickeln. Solche 24

Frankreich, Luxemburg, Irland, Portugal haben bislang die WVRK nicht ratifi-

ziert. 25 Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. A EUV Rn. 5; ICJ Rep. 1994, 6/21 – Libya/Chad. 26 EuGH, Rs. 1/69, Italien/Kommission, Slg. 1969, 277 Rn. 4 f. 27 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 5. 28 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 7. 29 EuGH, Rs. 126/86, Giménez Zaera/Instituto Nacional de la Seguridad Social, Slg. 1987, 3712 Rn. 11. 30 Hoffmann-Becking, S. 65. 31 Vgl. dazu Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 176 ff.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Tätigkeiten der Gemeinschaftsorgane können dann wiederum anhand der Ziele des Art. 2 EGV überprüft werden. In diesem Sinne kann auch davon gesprochen werden, dass Art. 2 EGV die Verbandskompetenz der Gemeinschaft eröffnet32. Der dort aufgezählte Katalog an Vertragszielen zählt die Politikbereiche auf, in denen die Gemeinschaft überhaupt tätig werden darf. b) Adressaten der Solidaritätspflicht aus Art. 2 EGV aa) Europäische Gemeinschaft Entsprechend dieser Funktion beschränkt sich Art. 2 EGV darauf, den Handlungsrahmen der Gemeinschaft mittels Zielvorgaben abzustecken und einzugrenzen. Solche Zielvorgaben wären aber weitgehend folgenlos, wenn damit nicht eine Pflicht zur aktiven Förderung verbunden ist. Eine Zielsetzung macht nur Sinn, wenn ihre Verwirklichung angestrebt wird und jemand benannt werden kann, der dazu verpflichtet wird. Es besteht deswegen Einigkeit, dass aus Art. 2 EGV eine Verpflichtung für die Gemeinschaft besteht, die Ziele in die Tat umzusetzen33. Insofern ist es den Organen der Gemeinschaft aufgetragen, über eine bloße Überwachung durch Verbote und beschränkende Maßnahmen hinaus aktive Maßnahmen zur Zielerreichung zu ergreifen34. Wichtig aber ist, hier erneut in Erinnerung zu rufen, dass damit Art. 2 EGV nicht zu einer Kompetenznorm wird. Daraus folgt, dass, wenn die EG Maßnahmen zur Förderung der Solidarität ergreifen möchte, sie diese nicht auf Art. 2 EGV stützen kann. Vielmehr bedarf es einer zusätzlichen konkreten Ermächtigung durch den Vertrag, die dann in Verbindung mit Art. 2 EGV eine Kompetenz begründen kann. Der Weg über die Generalermächtigung des Art. 308 EGV steht nach der hier vertretenen Auffassung offen. Allerdings werden in diesem Fall strenge Anforderungen an das Kriterium der Erforderlichkeit zu stellen sein. Ob ein Tätigwerden der Gemeinschaft für das Erreichen des Ziels der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich ist, steht damit einerseits im Ermessen des Rates und ist andererseits durch den EuGH voll überprüfbar35.

32 Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 3; dies., Aufgabe und Befugnis, S. 112 ff. 33 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 5; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 29; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 10; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 51 ff.; Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 177; EuGH Rs. 6/72, Europemballage, Slg. 1973, 215 Rn. 24. 34 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 8. 35 Schreiber, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 308 EGV Rn. 16; Häde/ Puttler, EuZW 1997, 13 (15).

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV

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bb) Die Mitgliedstaaten Art. 2 EGV normiert somit eine Verbandskompetenz der Gemeinschaft, die als Normadressat zu einer Förderung der Vertragsziele, also auch der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, verpflichtet ist. Damit stellt sich die Frage, ob sich die Vertragsziele ausschließlich an die Gemeinschaft richten. Indem Art. 2 EGV das Solidaritätsgebot zum grundlegenden Ziel der Gemeinschaft erklärt, muss geklärt werden, in welcher Beziehung die Mitgliedstaaten zu den Zielen der Gemeinschaft stehen. Werden auch sie zu einer aktiven Förderung der gemeinschaftsrechtlichen Ziele verpflichtet? Der Wortlaut scheint eindeutig gegen diese Auslegung zu sprechen, indem er von der „Aufgabe der Gemeinschaft“ spricht. Weil die EG aufgrund von Art. 282 EGV die volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten besitzt und sie anerkanntermaßen eine supranationale Organisation sui generis bildet, kann die Gemeinschaft selbst und nicht nur die Summe der in ihr vertretenen Mitglieder Träger von Pflichten sein. In diesem Sinn hat der EuGH entschieden, dass die Norm keine rechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten zu begründen vermag36. Er begründet dies mit der Allgemeinheit der Norm und ihrer systematischen Stellung, welche eine Begründung von mitgliedstaatlichen Rechten und Pflichten durch Art. 2 EGV nicht zulasse. In der Literatur ist daraus der Schluss gezogen worden, dass die Pflichten der Mitgliedstaaten in Art. 2 EGV nicht genügend verdichtet sind, um bestimmte Rechtsfolgen daraus abzuleiten37. Es herrscht Einigkeit, dass Art. 2 EGV für sich alleine keine Form unmittelbar geltenden Primärrechts darstellt, weil die Norm insoweit keine konkreten Pflichten für die Mitgliedstaaten begründen kann38. Damit steht fest, dass die Mitgliedstaaten jedenfalls nicht durch Art. 2 EGV direkt verpflichtet werden. Als Folge verpflichtet das Solidaritätsprinzip, wie es in dieser Norm konkretisiert ist, auch nur die Gemeinschaft als eigenständige Rechtspersönlichkeit. Das heißt aber noch nicht, dass das Ziel der Solidarität im Gemeinschaftsvertrag eindimensional ist und einseitig die EG und ihre Organe verpflichtet. Insbesondere die Vorschrift des Art. 10 EGV könnte zu einer erweiterten Auslegung des Solidaritätsprinzips in Art. 2 EGV zwingen. Darauf soll im anschließenden Kapitel eingegangen werden. 36 EuGH Rs. 126/86, Gíminez Zaera/Instituto Nacional de la Seguridad, Slg. 1987, 3697 Rn. 11; Rs. C-339/89, Alsthom Atlantique, Slg. 1997, I-107 Rn. 9. 37 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 7; unter Verwendung der gleichen Formulierung auch Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUKommentar, Art. 2 EGV Rn. 29. 38 Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 177; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 53; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 29; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 5; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 1 EGV Rn. 7.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

cc) Unionsbürger Es wurde eben festgestellt, dass die Bestimmung des Art. 2 EGV nicht unmittelbar anwendbar ist. Aufgrund ihrer allgemeinen und offenen Formulierung lassen sich keine unmittelbaren Rechtsfolgen daraus ableiten. Deshalb sind die Unionsbürger auch keine Adressaten der Zielbestimmungen in Art. 2 EGV39. Sie können folglich auch keine Rechte aus Art. 2 EGV ableiten, etwa einen Anspruch auf Hebung des Lebensstandards40. Eine Klage, die sich unmittelbar und ausschließlich auf Art. 2 EGV stützt, ist damit unzulässig. Das schließt nicht aus, dass der Einzelne sich mittelbar auf Art. 2 EGV berufen kann. Die Hauptfunktion der Norm ist die Auslegungs- und Maßstabswirkung. So wurde z. B. mit den Vertragszielen die unmittelbare Drittwirkung von Verbotsnormen durch den EuGH begründet41. Es bleibt aber dabei, dass aus Art. 2 EGV unmittelbar nur die Europäische Gemeinschaft verpflichtet wird. Die Entwicklung seit Maastricht zeigt jedoch, dass Art. 2 EGV erweitert ausgelegt werden muss. Mit der politischen Union und insbesondere durch die Einführung der Unionsbürgerschaft wird deutlich, dass Europa immer mehr das Zusammenleben seiner Bürger in den Vordergrund stellt. Die Unionsbürgerschaft verdeutlicht den Anspruch der Gemeinschaft, eine Solidar- und politische Schicksalsgemeinschaft zu sein42. Mit der Einführung des Art. 17 EGV sind die ersten Voraussetzungen geschaffen worden, damit auf europäischer Ebene eine Solidargemeinschaft der Bürger entstehen kann, die sich bisher auf den nationalen Raum beschränkte. Sie soll die politische Teilhabe der Bürger erweitern, ihre Rechte besser schützen und, in Bezug auf eine europäische Solidarität vielleicht der wichtigste Aspekt, eine europäische Identität fördern43. Allerdings kann nicht von einem gleichartigen Charakter von Unions- und Staatsbürgerschaft gesprochen werden. Aufgrund ihres partikulären Charakters ist die Unionsbürgerschaft auf wenige Bereiche beschränkt, in denen die Union die Kompetenz besitzt. Vor allem können aufgrund der Unionsbürgerschaft keine vergleichbaren Solidarpflichten eingefordert werden, wie dies im nationalen Rahmen möglich ist, z. B. in der Krankenversicherung44. Dem deutschen Sozial39

Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 6; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 54. 40 EuGH Rs. 126/86, Gíminez Zaera/Instituto Nacional de la Seguridad, Slg. 1987, 3697 Rn. 11. 41 EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, 1405 Rn. 18 f.; Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 83 f. 42 Isensee, in: ders./Kirchhoff (Hrsg.), HbStR, Band V, § 115 Rn. 107; Augustin, S. 355 ff. 43 Zweiter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft, KOM (97) 230 endg., 2. 44 Im Ansatz so auch Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 17 EGV Rn. 5.

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV

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versicherungssystem liegt das Solidaritätsprinzip zugrunde, d.h. die Höhe der Beiträge richtet sich nicht nach der jeweiligen Gefahrtragung sondern nach der individuellen Leistungsfähigkeit des Versicherten. Die Beiträge werden dann vom Versicherungsträger umverteilt, worin die wechselseitige Verbundenheit und Verantwortlichkeit der Versicherten zum Ausdruck kommt45. Solche Leistungen können sicherlich nicht von den Unionsbürgern gefordert werden. Diese These wird untermauert durch den Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGV, wonach die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt, sie aber nicht ersetzt. Außerdem zeigt dies auch der systematische Zusammenhang. Im zweiten Teil des EGV über die Unionsbürgerschaft werden ausschließlich Rechte aufgezählt, die an die Unionsbürgerschaft geknüpft sind46. Es ist offensichtlich, dass mit der Einführung dieses Instruments zwar die Voraussetzungen für eine europäische Solidargemeinschaft der Bürger geschaffen werden soll, den Bürgern selber aber keine entsprechenden Pflichten auferlegt werden können. Insofern verwundert es ein wenig, dass in Art. 2 EGV weiterhin nur von der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten die Rede ist, während in Art. 1 Abs. 3 EUV klar die Völker miteinbezogen worden sind47. Die Unionsbürger sind inzwischen vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft48. Das Voranschreiten der Integration der Staaten ist ohne ein vermehrtes und tieferes Zusammenwachsen der nationalen Völker nicht denkbar. Damit wäre eine Förderung der Solidarität, die sich nur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen und so höchstens mittelbar auf die Bürger konzentriert, nicht vereinbar. Deshalb ist es notwendig, die Vorschrift des Art. 2 EGV erweitert im Einklang mit Art. 1 Abs. 3 EUV auszulegen, so dass auch die Unionsbürger in die Zielbestimmung der Solidarität mit aufgenommen werden können. Die Gemeinschaft ist also in gleichem Maß gehalten, die Solidarität zwischen ihren Bürgern und den europäischen Völkern zu fördern.

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von Fürstenwerth/Weiß, Stichwort: Solidaritätsprinzip. So auch Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 17 EGV Rn. 9: „Hingegen sind Pflichten nicht vorgesehen“. 47 Offenbar aufgrund eines falschen Textes kommt von Bogdandy zu dem Ergebnis, dass nunmehr auch die Bürger in die Ziele des Art. 2 EGV aufgenommen worden sind. Dabei bezieht er sich auf eine angebliche Textänderung, wonach der Begriff der „Mitgliedstaaten“ durch „Mitglieder“ ersetzt worden sei. So lautet der Vertragstext auch in den Beck-Texten Europarecht im dtv, 16. Aufl. 2000. Allerdings enthält weder der Vertrag von Amsterdam, ABl. 1997, C 340/1, noch der Vertrag von Nizza, ABl. 2001, C 80/1 eine solche Änderung. Vgl. von Bogdandy in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 54. 48 Oppermann, Europarecht, Rn. 210 und 1551; Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 17 EGV Rn. 4; Fischer, in: Haller/Kopetzki/Novak/u. a. (Hrsg.), FS Winkler, S. 237 ff. 46

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

c) Art. 2 EGV als Ausdruck des Solidaritätsprinzips? aa) Literatur Die Dominanz der Ziele im Vertrag der Europäischen Gemeinschaften erweist sich für den Nachweis eines Solidaritätsprinzips von Vorteil. Wenn das Solidaritätsprinzip in Art. 2 EGV verankert ist, dann steht das Solidaritätsprinzip neben den anderen Zielen im Zentrum des Gemeinschaftshandelns. Dafür ist allerdings der Beweis notwendig, dass das Solidaritätsprinzips wirklich anhand dieser Vorschrift im EG-Vertrag verankert worden ist. In der Literatur sind die Bewertungen unterschiedlich. Zuleeg entnimmt der Bestimmung des Art. 2 EGV unmittelbar nur die Erkenntnis, dass die Gemeinschaft eine Politik zum Wohle des Einzelnen zu betreiben hat49. Die EG könne sich dabei nicht mit dem Erreichten begnügen, sondern müsse eine Verbesserung anstreben und auch auf Interessen achten, die über keine starke Lobby verfügten. Ebenso betont Hatje die sachliche Nähe einer Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität zum Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten50. Hier klingt vorwiegend die leistende Seite des Solidaritätsprinzips an. Dagegen identifiziert Ukrow neben dem Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts ein eigenes Ziel der Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten51. Dieses Ziel der Solidarität habe zwei Implikationen. Zum einen greife es das Ziel eines immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker auf52, zum anderen werde durch die Erwähnung in Art. 2 EGV das Solidaritätsprinzip als Strukturprinzip des Gemeinschaftsrechts etabliert. Für Ukrow wird das Solidaritätsprinzip vor dem Hintergrund der anstehenden Osterweiterung der Union besonders wichtig53. Durch die Änderung des Vertragstextes in Maastricht mit der Erweiterung der Aufgaben auf die „ganze Gemeinschaft“ habe das Solidaritätsprinzip eine Stärkung erhalten54. Indem die „Aufgabe der Gemeinschaft“ nun explizit eine Förderungspflicht bezüglich der „ganzen Gemeinschaft“ auferlege, sei das Ziel der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gestärkt worden. Auch von Bogdandy erkennt eine Stärkung des Solidaritätsprinzips mit der Einführung der derzeitigen Formulierung durch den Vertrag von Maastricht55. Aufgrund eines Vergleichs der Formulierungen steht für von Bogdandy fest, dass der Ansatz einer ursprünglich rein wirt49 50 51 52 53 54 55

Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 11. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 21. Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 24. Vgl. Präambel EGV, 1. Erwägungsgrund. Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 24. Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 12. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 32.

II. Die Vertragsziele des Art. 2 EGV

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schaftspolitisch ausgerichteten Gemeinschaft in der Zwischenzeit um „Elemente europäischer Sozialstaatlichkeit“ erweitert worden ist56. Solidarität zeigt damit die Form der Verbundenheit auf, die in der Gemeinschaft vorherrscht und die auf eine gegenseitige Unterstützungspflicht hinausläuft. bb) Eigener Ansatz Die Verankerung der Solidarität in Art. 2 EGV geht auf die Forderungen der wirtschaftlich schwächeren Mitgliedsländer zurück, einen angemessenen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Gemeinschaft zu erreichen57. Deshalb kommen auch die meisten Autoren zu dem Schluss, dass sich das in Art. 2 EGV verankerte Solidaritätsgebot darin erschöpfe, in den Worten des Art. 158 Abs. 1 EGV „eine harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern“58. Insbesondere wird also die leistende Komponente der Solidarität angesprochen. Nach dieser Auslegung geht es in der Hauptsache um den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, wie er seinen Niederschlag im Titel XVII EGV gefunden hat. Dadurch verleiht das Solidaritätsprinzip dem EGV eine soziale Dimension, indem es die Verbesserung der individuellen Lebenssituation bezweckt. Ein weiteres Argument dafür, dass sich das Solidaritätsprinzip in Art. 2 EGV ausschließlich auf die Kohäsionsvorschriften innerhalb der Gemeinschaft bezieht, kann die systematische Stellung sein. Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und die „Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ stehen unmittelbar nebeneinander in vergleichbarer Weise wie z. B. der Umweltschutz und die „Verbesserung der Umweltqualität“, die ebenfalls aufgrund der sachlichen Nähe ein gemeinsames Ziel bilden. Insofern erscheint eine Gleichsetzung von Solidarität und Kohäsion aufgrund der sachlichen Nähe erwägenswert. Diese Inhaltsbestimmung dessen, was nach dem EGV Solidarität bedeutet, greift aber zu kurz und übersieht einen wesentlichen Unterschied beider Konzepte. Die einzige Gemeinsamkeit kann darin gesehen werden, dass Art. 2 EGV sowohl den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt als auch die Solidarität der Mitglieder zur Zielvorgabe macht. Die Verbindung zwischen beiden entspricht aber einem Wenn-dann-Schema. Wie Kapteyn/VerLoren van Thermaat 56 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 2 EGV Rn. 33; allerdings wird an anderer Stelle zu zeigen sein, dass der Begriff der europäischen Sozialstaatlichkeit und das Solidaritätsprinzip verschieden sind, s. Kapitel H. zur Charta der Grundrechte. 57 So Lenz, in: ders. (Hrsg.), EG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 2 EGV Rn. 1. 58 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 21; Lenz, in: ders. (Hrsg.), EG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 2 EGV Rn. 1; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 2 EGV Rn. 9; wohl auch Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 24: „das damit verknüpfte Ziel“.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

es richtig ausdrücken: „The final objective (die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen im Sinne von Art. 158 Abs. 2 EGV zu verringern) rightly makes explicit the necessity for solidarity among the Member States“59. Solidarität ist also die Voraussetzung für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Mitgliedstaaten. Erst wenn die Mitgliedstaaten sich solidarisch verhalten, dann kann ein wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, in welcher Form auch immer, entstehen. Dieser ist dann Ausdruck eines leistenden Solidaritätsprinzips. Zudem wäre die Nennung der Solidarität in Art. 2 EGV überflüssig, wenn dieses Prinzip mit dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt gleichgesetzt wird. Für eine solche Auslegung sprechen weitere Gründe. Der Begriff der Solidarität hat explizit erst mit dem Unionsvertrag von Maastricht auch im EGV Eingang gefunden. Der Vergleich mit Art. 1 Abs. 3 EUV zeigt, dass in Bezug auf das Solidaritätsprinzip von einer Zielgemeinsamkeit gesprochen werden kann60. Mit der Errichtung des gemeinsamen Marktes und der WWU sind die Nahziele des Art. 2 EGV inzwischen erreicht worden. Damit rücken nun die weiteren Zielsetzungen des Art. 2 EGV in den Vordergrund. Im Zuge einer vertieften Integration über den wirtschaftlichen Bereich hinaus ist für die Gemeinschaft eine verstärkte Solidarität ihrer Mitglieder erforderlich, um die weitere Vergemeinschaftung zu legitimieren. Insofern bestand die Notwendigkeit, nach Errichtung der Politischen Union in Maastricht, das Solidaritätsprinzip auch für den EGV besonders herauszustellen. Das schließt nicht aus, dass nicht bereits vorher ein solches Prinzip in der Europäischen Gemeinschaft vorhanden war. Allerdings ist mit der Einführung des Begriffes in Art. 2 EGV das Solidaritätsprinzip nachhaltig gestärkt worden. 2. Ergebnis Art. 2 EGV ist folglich der Ankerpunkt des Solidaritätsprinzips in der EG. Inhalt und Konturen lassen sich jedoch aufgrund dieser Vorschrift nicht abschließend bestimmen. Die Auslegung hat ergeben, dass dort der Aspekt der leistenden Solidarität besonders betont ist. Zugleich ist dies aber nur ein Teil des Solidaritätsprinzips. Außerdem erscheint Solidarität im Sinne von Art. 2 EGV auf die horizontale Ebene der Mitgliedstaaten untereinander beschränkt. Allerdings ist hier eine erweiterte Auslegung notwendig, so dass die Gemeinschaft auch die Solidarität unter den Unionsbürgern fördern muss. Unmittelbar aus Art. 2 EGV verpflichtet wird ausschließlich die Gemeinschaft. Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Solidarität ist zwar dadurch nicht ausgeschlossen, ergibt sich aber nicht aus Art. 2 EGV. In dieser Hinsicht ist die Vor59 60

Kapteyn/VerLoren van Thermaat, Law of the European Communities, S. 113. Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 119.

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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schrift des Art. 10 EGV von großer Bedeutung, die im Folgenden in Beziehung zum gemeinschaftsrechtlichen Solidaritätsprinzip gesetzt werden soll.

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue 1. Einleitung und Methode Die Norm des Art. 10 EGV wird vielfach als Konkretisierung oder Ausdruck eines weiterreichenden, allgemeinen Rechtsgedankens der Gemeinschaftstreue angesehen61. Die Begriffe Gemeinschaftstreue bzw. Loyalitätsgebot sollen auch hier verwendet werden ohne näher auf die dogmatische Problematik aufgrund der inhaltlichen und terminologischen Anlehnung an den Grundsatz der Bundestreue einzugehen62. Die konzeptionellen Unterschiede zwischen Solidaritätsund Loyalitätsprinzip werden aber ganz unterschiedlich beurteilt. Wie bereits erwähnt unterscheiden Teile der Literatur überhaupt nicht zwischen einem Solidaritäts- und einem Gemeinschaftstreueprinzip63. Nach Ansicht dieser Autoren gibt es keine qualitativen Unterschiede zwischen beiden Rechtsgrundsätzen64 oder ein Solidaritätsprinzip der EG wird als solches überhaupt nicht gesehen65. Dies gilt in vergleichbarer Weise für das ausländische Schrifttum66. Bislang hat auch der EuGH nicht zu einer Klärung der Streitfragen beigetragen, da er anstelle einer grundlegenden dogmatischen Durchdringung auf eine am Einzelfall orientierte Kasuistik setzt. Deshalb gibt es keine klare Trennung eines allgemei61 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 10 EGV Rn. 1; Bleckmann, DVBl. 1976, 483 (486); von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 8; Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 6; Lenz, in: ders. (Hrsg.), EG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 10 EGV Rn. 7. 62 Zur Kritik vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 22; befürwortend Bleckmann, Europarecht, Rn. 697 ff.; zusammenfassend auch: Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 4. 63 Vgl. Kapitel E. I. 64 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 10 EGV Rn. 1; Bleckmann, RIW/AWD 1981, 653; wohl auch Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 9. 65 So fehlen jegliche Ausführungen oder Vergleiche zum Solidaritätsprinzip bei: Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. 5 EGV; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV; Geiger, EUV/EGV, Art. 10 EGV; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV; Streinz, Europarecht, Rn. 138 ff.; Bleckmann, DVBl. 1976, 483–487; Unruh, EuR 2002, 41–66; Lück, Gemeinschaftstreue; so überhaupt noch die überwiegende europarechtliche Literatur zu Art. 10 EGV, die ein eigenständiges Solidaritätsprinzip bisher nicht er- und anerkannt hat. 66 Vgl. Kapteyn/VerLoren van Thermaat, Law of the EC, S. 148 ff.; Ellis/Tridimas, Public Law of the EC, S. 71 ff.; Lasok, NLJ 1992, Nr. 6567, S. 1229; Temple Lang, CMLR 1990, 645–681; lediglich Blanquet, L’Article 5 C.E.E., S. 223 ff. und Marias, LIEI 1994, 85 (94 ff.) unterscheiden ein eigenständiges Solidaritätsprinzip. Allerdings sehen beide Autoren die Grundlage dieses Prinzips in Art. 10 EGV.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

nen Solidaritätsprinzips von Art. 10 EGV. Im neueren Schrifttum wird dagegen zunehmend die Existenz eines eigenständigen Solidaritätsprinzips bejaht und von Art. 10 EGV unterschieden67. Gemäß dem Anliegen dieser Arbeit, die Existenz eines Solidaritätsprinzips für die gesamte Union normativ zu untermauern und seine Anwendungsbedingungen als Rechtsprinzip genauer zu bestimmen, muss hier eine Abgrenzung zu Art. 10 EGV vorgenommen werden. Im Vordergrund sollen die dogmatische Ableitung des Loyalitätsgebotes und die Frage nach seinem Geltungsgrund stehen. Außer Acht gelassen werden können die konkreten Pflichten und Rechtsinstitute, die der EuGH aus Art. 10 EGV abgeleitet hat. Diese sind an anderer Stelle entsprechend analysiert und bearbeitet worden68. Es geht vielmehr um die Frage, ob Art. 10 EGV nicht Ausdruck und Voraussetzung zugleich für das Integrationskonzept der Gemeinschaft ist und damit neben dem Solidaritätsprinzip zu einer notwendigen Bedingung der Rechtsgemeinschaft wird. Außerdem muss geklärt werden, auf welchen Beziehungsebenen der Grundsatz der Gemeinschaftstreue zum Tragen kommt. So kann schließlich entschieden werden, ob ein Unterschied zum Solidaritätsprinzip besteht und worin dieser dann liegt. 2. Art. 10 EGV als Ausdruck des Prinzips der Gemeinschaftstreue Art. 10 EGV wendet sich seinem Wortlaut nach zunächst einmal nur an die Mitgliedstaaten und trifft eine Grundaussage für das Verhältnis von Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft. Die Treuepflichten scheinen damit einseitig eindimensional zwischen Mitgliedstaaten und EG zu gelten. Weitgehend anerkannt ist aber inzwischen, dass eine Beschränkung des Loyalitätsgebotes auf die vertikale Ebene im Verhältnis Mitgliedstaaten zu Gemeinschaft jedenfalls nicht von Art. 10 EGV gefordert ist69. Der Wortlaut der Norm ist, wie generell im Gemeinschaftsrecht, für die Auslegung einer bestimmten Vorschrift nicht unbedingt ausschlaggebend70. Deshalb kann Art. 10 EGV als Ausprägung eines all67 Hatje, Loyalität, S. 16 f.; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 167 ff.; Bieber, Solidarität und Loyalität, S. 15 ff.; Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 ff.; Volkmann, Solidarität, S. 407 ff.; B/E/H, § 3 Rn. 49 ff.; Xuereb, ELRev. 27 (2002), S. 643 ff.; Marias, LIEI 1994, S. 85 ff.; Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2003. 68 Söllner, Art. 5 EWG in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, 1985; Due, Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue in der Europäischen Gemeinschaft nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs, 1992; Temple Lang, CMLRev. 1990, 645. 69 Vgl. die Nachweise bei Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 50. 70 Mit überzeugenden Argumenten gegen die eindimensionale Beschränkung der Gemeinschaftstreue Epiney, EuR 1994, 302 (310 ff.).

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

67

gemeinen, ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes angesehen werden, als Pars pro Toto-Regelung eines Prinzips der Gemeinschaftstreue71. In diesem Sinne versteht auch der EuGH Art. 10 EGV als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, nach dem „den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit obliegen“72. Dabei argumentiert das Gericht mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie der „namentlich dem Artikel 5 EWG-Vertrag zugrunde liegt“73. Der EuGH geht also offenbar davon aus, dass sich der Grundsatz nicht in der Konkretisierung durch Art. 10 EGV erschöpft, sondern umgekehrt die Norm Ausdruck eines umfassenderen allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Gemeinschaftsrechts ist. Deutlich wird dies in seinem Urteil in der Rechtssache Hurd, in dem er in Bezug auf Art. 10 EGV feststellt, dass „diese Bestimmung Ausdruck der allgemeinen Regel, dass den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit und Unterstützung obliegen“ ist74. Hier klingt an, dass dieses Konzept mehrdimensional ist und nicht, wie es der Wortlaut suggeriert, auf das Verhältnis von EG zu den Mitgliedstaaten beschränkt ist. Es lässt sich festhalten, dass Art. 10 EGV lediglich eine Teilpositivierung des allgemeinen Gedankens der Gemeinschaftstreue enthält. Diese ist entgegen dem Wortlaut der Vorschrift auch nicht auf die eindimensionale und einseitige Beziehung von Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft beschränkt. Das wird im Folgenden noch weiter belegt werden. Es lassen sich an dieser Stelle noch keine Aussagen bezüglich der Treuepflichten und ihrer Legitimation ableiten. Dies soll zunächst geschehen, um Rückschlüsse für das Verhältnis des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Gemeinschaftstreue zum Solidaritätsprinzip zu erhalten. 3. Der Inhalt des Art. 10 EGV Die dem Art. 10 EGV beigemessene Bedeutung zeigt nicht zuletzt die umfangreiche Literatur und die Rechtsprechung des EuGH zu dieser Norm, der zahlreiche fundamentale Aussagen auf der Grundlage von Art. 10 EGV getroffen hat. So wurde der heute anerkannte Vorrang des Gemeinschaftsrechts u. a. 71 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 1 und 4; ders., Loyalität, S. 105; Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 6; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 10 EGV Rn. 1; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 2; Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. 5 EGV Rn. 1 ff.; Lück, S. 162; Bleckmann, DVBl. 1976, 483 (486 f.); ders., Europarecht, Rn. 704; Wuermeling, EuR 1987, 237 (242); a. A. B/P/P/S, Rn. 134; Söllner, S. 28; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 22. 72 EuGH, Rs. 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255 Rn. 37. 73 EuGH, Rs. 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255 Rn. 37. 74 EuGH, Rs. 44/84, Hurd/Jones, Slg. 1986, 47 Rn. 38.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

mit Art. 10 EGV begründet75 sowie die unmittelbare Wirksamkeit von Richtlinien76 oder auch die Staatshaftung bei fehlerhafter Umsetzung von Gemeinschaftsrecht auf Art. 10 EGV gestützt77. Dabei übernimmt der EuGH in der Regel nicht die in den zwei Absätzen des Art. 10 EGV angelegte Unterscheidung in Handlungs- und Unterlassungspflichten, sondern zieht Art. 10 EGV insgesamt heran oder argumentiert mit der gegenseitigen Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit78. Art. 10 EGV Absatz 1 erlegt in seinen Sätzen 1 und 2 den Mitgliedstaaten aktive Handlungspflichten auf. Anstelle einer ausführlichen Analyse der darauf gestützten einzelnen Pflichten, soll hier die generelle Ausrichtung dieser Norm aufgezeigt werden. Wenn den Mitgliedstaaten vorgeschrieben wird, „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zur Erfüllung der [ihrer] Verpflichtungen“ zu ergreifen, dann ergibt sich eine solche generelle Verpflichtung bereits aus dem völkerrechtlichen Grundsatz pacta sunt servanda79. Der Formulierung eines Art. 10 EGV hätte es insofern nicht bedurft. Was zeichnet diese Vorschrift also aus? Um zu einer Antwort zu gelangen, ist eine Positionsbestimmung unerlässlich. Dafür müssen die Hauptmerkmale des Art. 10 EGV identifiziert werden. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die unübersichtliche Rechtsprechung eingehend zu analysieren und zu ordnen80. Dies ist auch nicht Erfolg versprechend, zeichnet sich doch die Rechtsprechung zu Art. 10 EGV durch eine eher sparsame Erläuterung der Maßstäbe aus, welche die Normbildung geprägt haben81. Stattdessen sollen anhand einer Auslegung der Norm und ausgewählter Rechtsprechung die anerkannten Loyalitätspflichten auf den unterschiedlichen Beziehungsebenen kursorisch dargestellt werden. Danach stellt sich die Frage, woraus sich diese Pflichten legitimieren. Es ist dies die Suche nach dem Geltungsgrund der unterschiedlichen Pflichten in den unterschiedlichen Beziehungsebenen. Fraglich ist, ob Art. 10 EGV eine taugliche Grundlage dafür bildet, diese Verpflichtungen zu legitimieren, also das „ob“ dieser Pflichten regelt.

75

EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 (1269 f.). EuGH, Rs. 190/87, Moorman, Slg. 1988, 4689 Rn. 24. 77 EuGH, Rs. C-6 u. 9/90, Francovich u. Bonifaci, Slg. 1991, I-5357 Rn. 31 ff.; Rs. C-334/92, Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rn. 22; verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 Rn. 20 ff. 78 EuGH, Rs. C-326/88, Hansen, Slg. 1990, I-2911 Rn. 17; EuGH, verb. Rs. C-6/ 90 und C-9/90, Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 3. 79 So auch Bleckmann, DVBl. 1976, 483.; ders., Europarecht, Rn. 678. 80 Vgl. dazu Marias, LIEI 1994, 85; Temple Lang, CMLRev. 1990, 645; ders., ELRev. 2001, 84; Lück, Gemeinschaftstreue, 1992; Söllner, Gemeinschaftstreue, 1985; Due, Art. 10, 1992; Blanquet, Art. 5 CEE, 1994. 81 So Hatje, Loyalität, S. 41 f. 76

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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a) Pflichten der Mitgliedstaaten Schon seinem Wortlaut nach verpflichtet Art. 10 EGV die Mitgliedstaaten in dreierlei Weise. Es sollen die Mitgliedstaaten zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag oder durch Handlungen der Gemeinschaftsorgane angehalten werden, sie sollen der Gemeinschaft die Aufgabenerfüllung erleichtern. Weiter sieht Absatz 2 eine allgemeine Unterlassungspflicht vor. Damit erfolgt also durch die Generalklausel des Art. 10 EGV eine generelle Umschreibung des Verhältnisses der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft. Es bleibt die Frage, ob die Norm die konstitutive Legitimationsgrundlage für alle mitgliedstaatlichen Pflichten darstellt. aa) Art. 10 EGV als konstitutive Norm In der Literatur finden sich viele Stimmen, die Art. 10 EGV eine solche konstitutive Bedeutung beimessen82. Gestützt wird diese Argumentation vor allem auf die Funktion der Norm zur richterlichen Rechtsfortbildung. Anhand von Art. 10 EGV können so zusätzlich zu den im Primär- und Sekundärrecht bestehenden Regelungen weitere Pflichten der Mitgliedstaaten entwickelt werden83. Diese Auffassung stützt sich dabei auf zahlreiche Urteile des EuGH, in denen das Gericht der Vorschrift des Art. 10 EGV eigenständige, nicht im Vertrag explizit angelegte Handlungspflichten entnommen hat. Die wichtigsten Entscheidungen müssen deshalb kurz analysiert werden. bb) EuGH und die konstitutive Bedeutung des Art. 10 EGV Bei der Untersuchung geht es um die Frage, ob der EuGH im vertikalen Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft Art. 10 EGV dazu benutzt, zusätzliche Pflichten der Mitglieder zu begründen. In der folgenreichen Entscheidung Costa/ENEL entwickelte der EuGH den generellen Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht84. Das Urteil stützt sich dabei aber nicht so sehr auf Art. 10 EGV oder das Loyalitätsprinzip als vielmehr auf die Eigenständigkeit der durch die Verträge geschaffenen Rechtsordnung und die Notwendigkeit, diese gegenüber der mitgliedstaatlichen Souveränität zu behaupten. Das Gericht führt aus, dass es 82 Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 15; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 2; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 6, 14; Klein, in: Hailbronner/ Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. 5 EGV Rn. 2; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 10 EGV Rn. 11 f.; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 10 EGV Rn. 4; Epiney, EuR 1994, 301 (310). 83 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 2. 84 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253 (1269 f.).

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

„eine Gefahr für die Verwirklichung der in Artikel 5 Absatz 2 (Art. 10 EGV) aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten [würde] . . ., wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte.“85

Ähnliches gilt für die vom EuGH entwickelten Grundsätze der Staatshaftung bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht. Das Gericht begründet die Notwendigkeit einer Haftung „aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung“ und folgert, „die Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allem dann unerlässlich, wenn die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wie im vorliegenden Fall davon abhängt, dass der Staat tätig wird.“86

Erst danach nennt er als zusätzliches Argument, dass „die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Ersatz dieser Schäden . . . auch in Art. 5 EWG-Vertrag eine Stütze“ findet87. Ausdrücklich auf Art. 10 EGV verweist der Gerichtshof in der Rechtssache Hansen88. Nach ständiger Rechtsprechung sind „die Mitgliedstaaten, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift enthält, die für den Fall eines Verstoßes gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder wenn sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften verweist, nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, dass Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss.“89

In diesem Sinne lassen sich zahlreiche weitere Urteile finden, in denen der EuGH konkrete Pflichten aus Art. 10 EGV herleitet90. Es lässt sich feststellen, dass, je näher an Art. 10 EGV die Argumentation verläuft, desto konkreter die genannte Pflicht wird. So besteht z. B. nicht nur eine generelle Sanktionspflicht beim Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, sondern die Sanktion muss auch der Sanktion des nationalen Rechts bei einem vergleichbaren Sachverhalt hinsichtlich der Voraussetzungen und Rechtsfolgen 85

EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253 (1270). EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 3. 87 EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 3. 88 EuGH, Rs. C-326/88, Hansen, Slg. 1990, I-2911. 89 EuGH, Rs. C-326/88, Hansen, Slg. 1990, I-2911 Rn. 17. 90 EuGH, Rs. C-326/88, Hansen, Slg. 1990, I-2911 ff.; Rs. C-213/89, Factortame u. a., Slg. 1990, S. I-2433 ff. und verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357 ff. sowie Rs. C-374/89, Kommission/Belgien, Slg. 1991, I-367 ff. 86

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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entsprechen. Wenn es jedoch um die generellen Wertungen des Verhältnisses von Mitgliedstaaten und EG geht, dient Art. 10 EGV dem Gerichtshof lediglich als unterstützendes Argument. Dabei trifft der EuGH in diesen Urteilen keine allgemeine Aussage über den Geltungsgrund dieser Pflichten. In den Urteilen Costa/ ENEL und Francovich und Bonifaci wird lediglich die Notwendigkeit solcher Pflichten betont, damit die Europäische Gemeinschaft funktionieren kann. cc) Vertragsakzessorietät des Art. 10 EGV Entgegen der zum Teil unklaren Aussagen in der Literatur kommt deshalb Art. 10 EGV keine konstitutive Bedeutung in dem Sinne zu, dass er als alleinige Grundlage für die Begründung neuer Pflichten der Mitgliedstaaten dienen kann. Es kann insofern keine originären Treuepflichten geben91. Vielmehr ist Art. 10 EGV eine akzessorische Norm und die dahinter stehende Gemeinschaftstreue ein akzessorisches Prinzip. Daraus folgt, dass jede auf Art. 10 EGV gestützte Verpflichtung stets akzessorisch zu einer Gemeinschaftskompetenz oder einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung sein muss92. Alle aus der Gemeinschaftstreue abgeleiteten Pflichten sind in diesem Sinne dann nur Nebenpflichten zu einer Hauptpflicht, die an anderer Stelle begründet worden ist. Art. 10 EGV stellt damit den Maßstab dar, um das Verhalten der Mitgliedstaaten beurteilen zu können. Die Pflicht zu einem bestimmten Verhalten folgt daraus aber nicht. In diesem Sinne hat der EuGH in der Rs. 229/86 Brother Industries/Kommission entschieden. In dem Verfahren ging es um die Aufhebung eines Kommissionsbeschlusses zur Einstellung eines Antidumpingverfahrens die Einfuhren von elektronischen Schreibmaschinen aus Taiwan betreffend. Im zweiten Leitsatz heißt es dazu: „In einem Bereich, in dem weder besondere Bestimmungen des Vertrages noch verbindliche Handlungen der Organe den Mitgliedstaaten Verpflichtungen auferlegen, kann eine in Form eines Vermerks an diese Staaten gerichtete Aufforderung der Kommission keine Verpflichtung dieser Mitgliedstaaten zum Erlass bestimmter Maßnahmen begründen. In einem solchen Zusammenhang kann nicht auf die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Artikel 5 EWG-Vertrag, der Gemeinschaft die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern, verwiesen werden.“93

Der Verweis auf Art. 10 EGV legitimiert also keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, solange diese nicht aus dem Vertrag oder einer vertragsmäßigen Handlung der Organe resultiert. Die Norm kann nicht dazu dienen, neue vertrags91

Vgl. Hatje, Loyalität, S. 60.; Temple Lang, ELRev. 2001, 85 (91). So auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 15. 93 EuGH, Rs. 229/86, Brother Industries/Kommission, Slg. 1987, 3757 (3758). 92

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

unabhängige Pflichten zu schaffen. Insofern sind der Rechtsfortbildung Grenzen gesetzt. Als Argument kann, auch wenn die grammatische Auslegung im Europarecht nur geringe Bedeutung hat, dazu der Wortlaut dienen. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV spricht von den „Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben“. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten beruht also nicht unmittelbar auf Art. 10 EGV. Es muss erst eine solche Verpflichtung bestehen, damit Art. 10 EGV zur Anwendung kommt. Hinzu kommt ein teleologisches Argument. Der Sinn der Generalklausel des Art. 10 EGV liegt darin, die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft in einem Verbund mit mehreren Hoheitsträgern zu sichern. Eine zusätzliche deklaratorische Bestimmung der allgemeinen Verpflichtung zur Mitwirkung und Zusammenarbeit in Art. 10 EGV wäre völlig überflüssig. Schließlich ist der EGV ein völkerrechtlicher Vertrag und mit der Unterschrift und Ratifikation sind die Mitgliedstaaten bereits nach völkerrechtlichen Regeln an den Vertrag gebunden. Es gilt insofern der Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts pacta sunt servanda94. Der Sinn und Zweck der Vorschrift besteht vielmehr darin, über die völkerrechtliche Regel hinaus eine besondere Art und Weise der Vertragserfüllung vorzuschreiben95. Es wurde bereits bei den Ausführungen zu Art. 2 EGV festgestellt, dass der EGV sich durch eine besondere Zielbezogenheit auszeichnet. Die Rechtsordnung der EG ist auch deshalb eine dynamische, weil sie ihre Handlungen ausschließlich an diesen Zielen ausrichten darf. Der Vertrag ist also auf die Erreichung dieser Ziele angelegt und zugleich sind die Ziele der Gemeinschaft die Legitimation für ihr Handeln. Art. 10 EGV stellt nun zweierlei klar. Zum einen wiederholt und unterstreicht er, dass diese Zielorientierung in gleichem Maße auch für die Mitgliedstaaten gilt. Mit den „Verpflichtungen aus diesem Vertrag“ sind gerade auch die Ziele des EGV gemeint, wie sie sich in der Präambel und in den Art. 2, 3 und 4 EGV wieder finden96. In dieser Hinsicht kann die Vorschrift als rein deklaratorisch angesehen werden, denn die Vertragserfüllungspflicht folgt aus dem 94

Nach diesem fundamentalen Grundsatz sind alle gültigen Vertragsbestimmungen für die Parteien bindend und von diesen nach Treu und Glauben zu erfüllen. Vgl. Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 103; Stein/Buttlar, § 1 3 b). 95 Dies wird besonders deutlich bei Bleckmann, DVBl. 1976, 483: „Nach allgemeinem Völkerrecht bestehen nur Rechtspflichten zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses, nicht Pflichten hinsichtlich der Art und Weise, wie diese Verpflichtungen zu erfüllen sind . . . Anders ist es nach Art. 5 Abs. 1 s. 1 im europäischen Gemeinschaftsrecht . . . Auch mit dieser Formulierung wird den Mitgliedstaaten allerdings ein gewisser Ermessensspielraum belassen. Sie sind aber verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu ergreifen; die Wahl ungeeigneter Maßnahmen ist also vertragswidrig. Auch kann der Ermessensspielraum der Staaten schrumpfen, so dass schließlich nur ein geeignetes Mittel übrig bleibt.“ 96 So auch Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 13.

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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Grundsatz pacta sunt servanda. Zum anderen kann Art. 10 EGV aber kein neues Ziel begründen, denn die Aufzählung der Vertragsziele ist abschließend. Seine Funktion liegt darin, eine Generalklausel zu schaffen, die es ermöglicht, den Widerspruch zwischen dieser exklusiven Zielbezogenheit des EGV und dem Nebeneinander von verschiedenen souveränen Hoheitsträgern zu glätten. Mit anderen Worten soll die Regelung des Art. 10 EGV es ermöglichen, die Konflikte zu regeln, die entstehen, wenn sich das gemeinschaftsrechtliche Ziel und das mitgliedstaatliche nicht decken. Da dies eine unvorhersehbare Fülle von Einzelfällen betrifft, ist nur die Form der Generalklausel geeignet, in diesem Verhältnis eine allgemeine Regelung zu treffen97. Die Konkretisierung der offenen Norm des Art. 10 EGV ist somit dem Rechtsanwender und dem EuGH überlassen. Die dabei zu beachtenden Grenzen ergeben sich aus dem Vertrag und anderen allgemeinen Rechtsgrundsätzen. dd) Ergebnis Damit steht fest, dass mit Hilfe des Art. 10 EGV ein Instrument geschaffen worden ist, welches die Art und Weise der Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft regelt. Die Entscheidung über das „ob“ der Beziehungen wird dort nicht getroffen. In dieser Hinsicht ist die Vorschrift nicht konstitutiv, d.h. Pflichten begründend. Art. 10 EGV aktiviert und konkretisiert ausschließlich Pflichten, die bereits an anderer Stelle begründet worden sind. Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH. In Bezug auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze äußert sich der Gerichtshof nicht immer eindeutig und setzt diese als geltendes Recht voraus oder stellt ohne nähere Begründung fest, dass sie als Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu beachten seien98. Diese Aussage gilt in gleicher Weise für das Gebot der loyalen Zusammenarbeit und seine Teilpositivierung in Art. 10 EGV. Eine dogmatische Fundierung desselben fehlt bislang, so dass die Rechtsprechung bezüglich des Geltungsgrundes keine Aufschlüsse gibt. Bevor jedoch diese Frage weiterverfolgt wird, muss zunächst geklärt werden, ob das Prinzip der Gemeinschaftstreue umfassend in dem Sinne gilt, dass es sowohl gegenseitig ist als auch auf der horizontalen Ebene zur Anwendung gelangt. b) Pflichten der Gemeinschaft Das von Art. 10 EGV erfasste vertikale Verhältnis ist nach überwiegender Meinung reziprok, d.h. auch für die Gemeinschaft gelten umfassende Loyali97 Ähnlich auch von Bogdandy, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 17 (24). 98 Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 94.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

tätspflichten99. Dies hat der EuGH in zahlreichen Urteilen bestätigt100. Im Vertrag von Nizza deutet die 3. Erklärung im Anhang darauf hin, dass die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit nicht nur auf Gegenseitigkeit beruht, sondern auch von den Mitgliedstaaten allgemein anerkannt wird101. Die reziproke Ausgestaltung des Prinzips der Gemeinschaftstreue belegen ebenfalls zahlreiche Vorschriften des Primärrechts. Art. 6 Abs. 3 EUV ist eine Ausprägung dieses Prinzips, indem er die Union auf die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten verpflichtet102. Vor allem auch das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EGV macht deutlich, dass die Gemeinschaft bei ihren Handlungen den Mitgliedstaaten gegenüber in der Pflicht steht103. Das Loyalitätsprinzip richtet sich in diesem Sinne an alle Organe, die für den jeweiligen Hoheitsträger, Gemeinschaft oder Mitgliedstaat, aufgrund der speziellen Verpflichtung tätig werden104. c) Pflichten der Mitgliedstaaten Die Loyalitätspflicht ist schließlich auch im horizontalen Verhältnis anerkannt, und wird damit zu einem zweidimensionalen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hat dies in ständiger Rechtsprechung anerkannt105. Danach sind nicht nur die Organe der Gemeinschaft sondern auch die der Mitgliedstaaten „nach Artikel 5 EWG-Vertrag zur loyalen Zusammenarbeit mit den Trägern der anderen Mitgliedstaaten verpflichtet“106. Dabei fällt auf, dass im Vergleich zur vertikalen Ebene die Judikatur für dieses Verhältnis nicht so zahlreich und ausgeprägt ist. Auch sind die hier entwickelten Pflichten recht 99 Vgl. insbesondere Epiney, EuR 1994, 301 (310 ff.) mit überzeugender Argumentation für eine gegenseitige Pflicht im vertikalen Verhältnis; a. A. noch Söllner, Gemeinschaftstreue, S. 27. 100 EuGH, Rs. C-230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255 Rn. 38; Rs. C-52/ 84, Kommission/Belgien, Slg. 1986, 89 Rn. 16; verb. Rs. C-358/85 und 51/86, Frankreich/Parlament, Slg. 1988, 4821 Rn. 34; Rs. C-2/88, Zwartveld, Slg. 1990, I-3365 Rn. 17 ff.; vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 50 ff. m. w. N. 101 So auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 79. 102 von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 202. 103 Zum Subsidiaritätsprinzip vgl.: Calliess, Solidaritätsprinzip, 1999; Pieper, Subsidiarität, 1994; von Borries, EuR 1994, 263. 104 So auch Hatje, Loyalität, S. 61; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 79 ff.; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 10 EGV Rn. 11. 105 EuGH, Rs. 32/79, Kommission/Vereinigtes Königsreich, Slg. 1980, 2403 Rn. 45 f.; Rs. C-251/89, Athanasopoulus/Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 1991, I-2797 Rn. 57; Rs. 42/82, Kommission/Frankreich, Slg. 1983, 1013 Rn. 36. 106 EuGH, Rs. C-251/89, Athanasopoulus/Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 1991, I2797 Rn. 57.

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allgemein und beschränken sich auf formelle Kooperations- und Rücksichtnahmepflichten. Nach dem EuGH leitet sich die Treueverpflichtung im horizontalen Verhältnis aus dem Gemeinschaftssystem ab107. Unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV stellt das Gericht fest, dass bei der Anwendung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift „jeder Mitgliedstaat verpflichtet [ist], die Anwendung dieser Vorschrift zu erleichtern und zu diesem Zweck jeden anderen Mitgliedstaat, dem eine Verpflichtung aus dem Gemeinschaftsrecht obliegt, zu unterstützen“108. In diesem Fall ging es um die Gewährung eines Stipendiums aufgrund eines bilateralen Kulturabkommens zwischen der BRD und Belgien an eine italienische Staatsbürgerin. Dies hatten die belgischen Behörden mit dem Hinweis abgelehnt, dass das fragliche Abkommen nur Stipendien für belgische bzw. deutsche Staatsangehörige für eine Fortbildung im jeweils fremden Land vorsehe. Darin sah der EuGH aber einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit, denn die Italienerin hatte nicht nur in Belgien gelebt und studiert, sondern ging dort auch einer Arbeitnehmertätigkeit im Sinne des EGV nach. Deshalb musste Belgien der Italienerin die gleichen Rechten und Chancen gewähren, wie den eigenen staatsangehörigen Arbeitnehmern. Aus Art. 10 EGV fließt nun die Pflicht für die BRD, eine Entscheidung nach diesen Kriterien zu unterstützen. Für die horizontalen Beziehungen der Mitgliedstaaten untereinander benutzen einige Autoren den Terminus der Solidarität109. Offenbar kennzeichnet nach Ansicht dieser Autoren der Begriff der Solidarität die Verhältnisse auf der horizontalen Ebene, während „Loyalität“ für die vertikale Ebene stehen soll. Es erfolgt dann keine begriffliche oder qualitative Abgrenzung zwischen dem Gebot der Loyalität und dem Solidaritätsprinzip, so dass es sich nur um eine Einteilung nach formalen Ordnungsmerkmalen handelt. Nach der hier vertretenen Auffassung sind aber beide Prinzipien qualitativ zu unterscheiden. Unabhängig davon in welcher Beziehung der Sachverhalt spielt, kann das Loyalitätsgebot doch nur die Art und Weise, also das „wie“, ausgestalten. Die Beziehung selber wird dadurch nicht legitimiert oder begründet. Diese Unterscheidung gilt auf 107

EuGH, Rs. 42/82, Kommission/Frankreich, Slg. 1983, 1013 Rn. 36. EuGH, Rs. 235/87, Matteucci/Communauté Française de Belgique, Slg. 1988, I5589 Rn. 19. 109 Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 53: „Die Mitgliedstaaten sind gegenseitig zur Solidarität verpflichtet“. Temple Lang, CMLRev. 1990, 645 (671): „Article 5 imposes a duty of solidarity on Member States“. B/B/P/S, Rn. 135 ff: Bieber grenzt die Begriffe von „Loyalität“, „Solidarität“ und „Kooperation“ danach ab, auf welchen Beziehungsebenen, bzw. in welchem Verhältnis sie wirken. Danach betrifft das Loyalitätsgebot vor allem das Verhältnis von Union–Mitgliedstaaten, das Solidaritätsprinzip primär das Verhältnis von Mitgliedstaaten–Mitgliedstaaten, und das Kooperationsgebot betrifft beide Bereiche. Bleckmann, RIW/AWD, 1981, 653 (655): „Dabei sind die im konkreten Gemeinschaftsrecht enthaltenen Mitwirkungspflichten aber im Sinne der Solidarität des Art. 5 so auszulegen, dass die angestrebte Effektivität der Zusammenarbeit verwirklicht wird“. 108

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

allen möglichen Beziehungsebenen in der Europäischen Gemeinschaft, so dass die Reservierung des Begriffes der Solidarität für die horizontale Ebene abzulehnen ist. d) Pflichten der Organe Eine interessante Frage betrifft auf der horizontalen Ebene die Beziehungen der Organe der Europäischen Gemeinschaft untereinander. Eine Analyse des Loyalitätsprinzips in der Gemeinschaft muss ergründen, ob dieses Prinzip auch zwischen ihren Organen Anwendung findet, mithin, ob sich eine Interorganpflicht zu loyalem Verhalten aus diesem Rechtsprinzip ableiten lässt. Es geht hier nicht um eine Intraorganpflicht zur loyalen Zusammenarbeit, also z. B. die Koordinierung des Verhaltens der einzelnen Vertreter der Mitgliedsländer als Mitglieder des Rates der Europäischen Union. Dazu findet sich keine Entscheidung des EuGH, welche die Mitgliedstaaten als Ratsmitglieder verpflichtet, im Rat zu kooperieren, Kompromisse zu schließen oder die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung zu nutzen, wenn eine Minderheit, die zahlenmäßig überstimmt werden kann, sich einem Rechtsetzungsprojekt widersetzt110. Deutlich hat der EuGH festgestellt, dass es dem Begriff der Gemeinschaft entspricht, wenn die Mitgliedstaaten im Rahmen der Institutionen „ihre Interessen geltend machen“111. Vielmehr muss die Frage beantwortet werden, ob auch zwischen dem Rat der Europäischen Union und der Kommission oder auch zwischen EuGH und Europäischem Parlament eine Loyalitätsstruktur herrscht, die der in den anderen vertikalen und horizontalen Beziehungsebenen vergleichbar ist. Fraglich ist also, welche Treuepflichten sich für das Verhältnis der Organe untereinander feststellen lassen. Ausgangspunkt für die folgenden Betrachtungen ist Art. 7 EGV, der die Organe der Gemeinschaft abschließend aufzählt. Dabei handelt jedes Organ „nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse“. Auch Art. 10 EGV gehört damit zu den Normen, auf die in Art. 7 EGV Bezug genommen wird. In einer Erklärung zu Art. 10 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wird im Nizza-Vertrag daran erinnert, dass die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit, die sich aus Art. 10 EGV ergibt, auch für die Beziehungen zwischen den Gemeinschaftsorganen selbst gilt112. Auf der glei110 111

von Bogdandy, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 17 (27). EuGH, Rs. 57/72, Westzucker/Einfuhr- und Vorratsstelle Zucker, Slg. 1973, 321

(341). 112 Der Wortlaut der von der Regierungskonferenz in Nizza angenommenen Erklärung lautet: „Die Konferenz erinnert daran, dass die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit, die sich aus Artikel 10 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ergibt und den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen zugrunde liegt, auch für die Beziehungen zwischen den

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chen Linie hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass für den Dialog der Organe „die gleichen gegenseitigen Pflichten zu redlicher [loyaler] Zusammenarbeit [gelten], wie sie die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen prägen“113. Auch wenn diese Interpretation zumindest vom Wortlaut des Art. 10 EGV her zunächst nicht zwingend erscheint114, zeigt sich hier doch eine „Selbstverständlichkeit, mit der der Rechtsgedanke einer wechselseitigen Loyalitäts- und Kooperationsverpflichtung zwischen den obersten Unions- bzw. Gemeinschaftsorganen auch in der europäischen Vertragsordnung als fundamentales Prinzip betrachtet wird“115. Dieser Gedanke einer loyalen Kooperationspflicht zwischen den Gemeinschaftsorganen analog Art. 10 EGV ist auch in der Literatur anerkannt116. Damit ist geklärt, dass das Loyalitätsprinzip genauso für das Verhältnis der Organe untereinander gilt, also insbesondere der Hauptorgane Rat, Kommission, Parlament und Gerichtshof117. Sie alle trifft folglich der gleiche Pflichtenkreis wie die Mitgliedstaaten bei Gestaltung der gegenseitigen Beziehungen. Das Gebot der Loyalität fordert hier, das die Organe ihre Funktionen in einer Weise ausüben, die von gegenseitiger Rücksichtnahme, Konsultation und Abstimmung geprägt ist. Die Organe der Union haben dazu ihr gesamtes Handeln an den Zielen der Verträge auszurichten. Interessanterweise hat der EuGH bei der Frage des Interorganrespekts nicht Art. 10 EGV, sondern das Solidaritätsprinzip herangezogen. Im AETR-Urteil ging es unter anderem darum, ob durch einen Beschluss des Rates die Interessen und Kompetenzen der Kommission entsprechend gewahrt worden sind118. Der Rat hatte beschlossen, die MitgliedGemeinschaftsorganen selbst gilt. Was die Beziehungen zwischen den Organen anbelangt, so können das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission interinstitutionelle Vereinbarungen schließen, wenn es sich im Rahmen dieser Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit als notwendig erweist, die Anwendung der Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zu erleichtern. Diese Vereinbarungen dürfen die Vertragsbestimmungen weder ändern noch ergänzen und dürfen nur mit Zustimmung dieser drei Organe geschlossen werden.“, ABl. 2001, C 80/77. Dagegen wendet Hatje, Loyalität, S. 62 FN 256 ein, dass diese Erklärung mit ihrer Ableitung eines Loyalitätsgebots aus Art. 10 EGV für die Organe juristisch nicht haltbar sei. 113 EuGH, Rs. C-65/93, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-660 Rn. 23. 114 Gemäß Art. 10 Abs. 1 EGV treffen die „Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen“; sie sind also die dem Wortlaut nach Verpflichteten des Loyalitätsgebots. 115 Lorz, S. 75. 116 Kapteyn/VerLoren van Thermaat, EC Law, S. 158 f.; a.A: Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. 5 EGV Rn. 40; Hatje Loyalität, S. 62. 117 A. A. Hatje, Loyalität, S. 62: Hatje beschränkt das Loyalitätsprinzip auf das Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Damit unterscheide es sich von dem Prinzip der Organtreue, welches sich auf die Rechtsverhältnisse zwischen den Organen der EU beziehe. Allerdings treffe die Organe der Mitgliedstaaten gleichwohl eine Loyalitätsverpflichtung.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

staaten außerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zum Abschluss eines Europäischen Übereinkommens über die Arbeit der im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrzeugbesatzungen (AETR) zu ermächtigen. Bei diesem Vorgehen waren die Mitgliedstaaten im Zusammenschluss des Rates der Europäischen Gemeinschaft nach Ansicht des EuGH gehalten, „zur Wahrnehmung der Gemeinschaftsinteressen solidarisch vorzugehen“119. Dazu war eine vorherige Abstimmung und Benachrichtigung der Kommission erforderlich. Im Ergebnis befand das Gericht, dass der Beschluss des Rates die erforderliche Solidarität gewahrt hatte. Ungeklärt bleibt damit nur noch, woraus sich diese Verpflichtung der Organe ergibt. Der Wortlaut der 3. Erklärung zum Vertrag von Nizza ist hier unpräzise, wenn er davon spricht, dass sich die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 10 EGV ergebe. Wie gezeigt regelt das Loyalitätsgebot, das in Art. 10 EGV eine besondere Ausprägung erhalten hat, nur die Art und Weise, also das „wie“, der Verpflichtungen. Solche Verpflichtungen für die Organe kann nur das Solidaritätsprinzip begründen. Insofern ist den Ausführungen des EuGH im AETR-Urteil beizupflichten. e) Pflichten der Unionsbürger Im horizontalen Verhältnis der Bürger zueinander, ebenso wie im vertikalen Verhältnis der Bürger zum Staat und zu der Union, ist an dieser Stelle das zu wiederholen, was bereits im Rahmen des Art. 2 EGV für das Solidaritätsprinzip festgestellt worden ist. Der Unionsbürger ist nicht Adressat von Loyalitätspflichten aus dem Primärrecht. Der Loyalitätsgrundsatz ist von seiner Struktur und seiner Funktion her dazu gedacht, das Zusammenspiel verschiedener Hoheitsträger zu koordinieren und zu organisieren120. Er fungiert als Ordnungsprinzip und Gestaltungsmaßstab für das gegenseitige Verhältnis von Gemeinschaft, Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen. Die Unionsbürger sind nicht zum Adressatenkreis zu zählen, wodurch nicht ausgeschlossen ist, dass im Einzelfall Art. 10 EGV für die Begründung von Individualrechten herangezogen werden kann121.

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EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263. EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263 (281). 120 Hatje, Loyalität, S. 61. 121 EuGH, Rs. 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595 Rn. 14; Rs. 309/85, Barra/ Belgien, Slg. 1988, 355 Rn. 17 ff.; Rs. C-340/89, Vlassopoulou/Ministerium für Justiz, Bundes- und Europangelegenheiten Baden-Württemberg, Slg. 1991, I-2357 Rn. 14. 119

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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4. Dogmatische Herleitung Es zeigt sich also, dass die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit in der Gemeinschaft zweidimensional und gegenseitig ist und beide Seiten sowohl auf der vertikalen als auch auf der horizontalen Ebene trifft. Art. 10 EGV ist die zentrale Norm des EGV für die Bestimmung des Verhältnisses von Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft. Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue geht allerdings darüber hinaus, indem mit seiner Hilfe die Pflichten auch auf die anderen Ebenen übertragen werden können. Es handelt sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, der im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ausgestaltet wird. Insofern ist er auch ein ungeschriebener Grundsatz. Dabei haben Auslegung und die Analyse der Rechtsprechung ergeben, dass das Loyalitätsgebot akzessorisch ist. Es regelt die Frage nach dem „wie“ der Beziehungen. Damit bleibt die Frage nach seinem Geltungsgrund, also dem „ob“, weiterhin unbeantwortet. a) Begründungen in der Literatur Die zahlreichen hierzu vertretenen Ansichten lassen sich grob in zwei Begründungsmuster unterteilen. Zum einen wird der Vergleich mit der Bundestreue in föderal gegliederten Staaten herangezogen122. Die Gemeinschaftstreue sei ein mit der Bundestreue vergleichbares Rechtsinstrument123. Sie ergebe sich daher zwingend aus der Natur des Zusammenschlusses, durch den die gemeinschaftliche Rechtsordnung ins Leben gerufen wurde. Das Prinzip sei damit Ausdruck einer Sachgesetzlichkeit, die dem Wesen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung entspringt, mithin also ein allgemeiner, in dieser Rechtsordnung verwurzelter Rechtsgrundsatz124. Der Vergleich mit der Bundestreue beruht also auf der, nach dieser Meinung vorhandenen, strukturellen Ähnlichkeit von Gemeinschaft und föderalem Bundesstaat. In beiden Gebilden herrsche ein ständiges Konfliktpotential aufgrund des Nebeneinanders von verschiedenen Hoheitsträgern125. Deshalb müsse ein umfassendes Treueprinzip dafür Sorge tragen, dass trotz der unterschiedlichen Hoheitsträger die Wahrung und Förderung des gemeinsamen Interesses gewährleistet ist126. Begründet wird die Notwendigkeit eines solchen Gebots der Treue vor allem mit der Funktionsfähigkeit der Union als Rechtsgemeinschaft. Da die Union über keine eigene Zwangsgewalt gegen122 Insbesondere Lück; auch Unruh, EuR 2002, 41; wohl auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 3, der „vorsichtige Analogien zu bundesstaatlichen Gemeinwesen“ zulässt. 123 Lück, S. 130. 124 Lück, S. 159. 125 Unruh, EuR 2002, 41 (58). 126 Unruh, EuR 2002, 41 (59).

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

über den Mitgliedstaaten verfügt, ist sie auf die Einheit und Wirksamkeit der Rechtsanwendung angewiesen. Deshalb müsse die Rechtsgleichheit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gesichert sein127. Zudem müsse die Handlungsfähigkeit der Organe und die Möglichkeit zur Kompetenzausübung gewährleistet sein. Schließlich erfordere das Zusammenleben in einem politischen Mehrebenensystem ein Grundmaß an gegenseitigem Vertrauen und den Schutz von Vertrauenspositionen. Aus diesen Gründen ist das Prinzip der Gemeinschaftstreue fundamental für die Gemeinschaft. Die aus dem Loyalitätsprinzip fließenden Treuepflichten sichern somit die Existenz und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, indem sie allen Seiten gegenseitige Rücksichtnahmeund Kooperationspflichten auferlegen. Zum anderen wird das Loyalitätsprinzip auf allgemeine völkerrechtliche Fundamentalnormen gestützt128. Weitere Autoren leiten das Prinzip der Gemeinschaftstreue aus einer deduktiven Abstraktion der Einzelnormen ab129 oder sehen es als Ausprägung des zentralen Prinzips von Treu und Glauben an130. Die Gemeinschaftstreue betrifft die Ausübung von Rechten und Pflichten im Mehrebenensystem und erscheint somit als Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben131. Diese Ausprägungen richten sich nach den Eigenarten der jeweiligen Rechtsordnung. Das Loyalitätsgebot erweist sich folglich als „Zwischenformel“ auf dem Weg zu einer anwendungsfähigen Konkretisierung des Grundsatzes von Treu und Glauben132. Dabei wird allerdings leicht übersehen, dass der völkerrechtliche Grundsatz pacta sunt servanda Einschränkungen unterliegt, die dann ebenfalls für das Loyalitätsgebot gelten würden. Namentlich die clausula rebus sic stantibus oder auch der tu-quoque Einwurf mit einem Rücktrittsrecht zeigen die Grenzen des Grundsatzes von Treu und Glauben. Das widerspricht der Konzeption des Loyalitätsgebotes als besonders enges Band zwischen Mitgliedstaaten und Union133.

127

von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 10 EGV Rn. 7. Vgl. dazu die Ausführungen bei Lück, S. 80 ff. 129 Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EGV Rn. 10. 130 Hatje, Loyalitätsprinzip, S. 37 f.; dagegen Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 22: „Die Mitwirkungspflicht der Mitgliedstaaten als Glieder der Gemeinschaft muss nicht aus allgemeinen ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen abgeleitet werden, da sie in Art. 10 EGV positiviert ist. Deshalb bedarf es auch keinen Hinweis auf das völkerrechtliche Gebot von Treu und Glauben oder den Grundsatz von pacta sunt servanda. Die originär gemeinschaftsrechtliche Mitwirkungspflicht ist weiter als das unpräzise Gebot der Bundestreue.“ 131 Hatje, Loyalitätsprinzip, S. 38. 132 Hatje, Loyalitätsprinzip, S. 38. 133 Zu diesem Ergebnis kommt auch Lecheler in Bezug auf die föderale Bundestreue; vgl. Lecheler, S. 134 f. 128

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

81

b) Die Rechtsprechung des EuGH zum Solidaritätsprinzip Es wurde oben festgestellt, dass Ausführungen des EuGH zum Geltungsgrund des Loyalitätsgebots eigentlich nicht vorhanden sind. Der Verweis auf Art. 10 EGV alleine verfängt nicht, und so argumentiert das Gericht aus dem Wesen der Gemeinschaft und den Besonderheiten der Rechtsordnung heraus oder verweist auf die mit der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft übernommenen allgemeinen Verpflichtungen. Möglicherweise lassen sich jedoch weitere Schlüsse aus vier frühen Urteilen des EuGH ziehen, in denen das Gericht explizit auf eine Pflicht zur Solidarität hinweist. Daraus können Anhaltspunkte für das Verhältnis von Loyalitäts- und Solidaritätsprinzip gewonnen werden.

aa) Verbundene Rechtssachen 6 und 11/69, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik In der Rechtssache 6/69 geht es um die Nichtbefolgung einer Entscheidung der Kommission auf Grundlage von Art. 108 Abs. 3 EWG a. F., mit der die Vorzugsbehandlung durch einen niedrigeren Rediskontsatz für Forderungen aus Ausfuhrgeschäften der französischen Exporteure geregelt wurde. Die Französische Republik berief sich auf die schwere soziale Krise und die Währungskrise im Jahr 1968, die eine großzügigere Vorzugsbehandlung erforderte, als der in der Entscheidung der Kommission vorgesehene maximal um 1,5% Punkte niedrigere Rediskontsatz für Ausfuhrkredite. Frankreich beantragte mit der Rechtssache 11/69 festzustellen, dass es sich bei dem gewähren größeren Vorteil für die französischen Exporteure um eine währungspolitische Maßnahme handelte und damit die Kommission in diesem Bereich keine Zuständigkeit für eine Entscheidung besaß. Ohne auf die genaueren Umstände des Verfahrens eingehen zu müssen, lässt sich zusammenfassend sagen, dass Frankreich auf seine ausschließliche Zuständigkeit für die Währungspolitik verweist, während die Kommission in der Vorzugsbehandlung eine spezielle Beihilfe für die von der Krise besonders getroffene französische Stahlindustrie sieht. Zu der oben aufgeworfenen Frage nach dem Geltungsgrund des Loyalitätsprinzips macht der EuGH folgende Ausführungen: „Außerdem wird die Solidarität, die gemäß der in Artikel 5 des Vertrages eingegangenen Verpflichtung diesen Verpflichtungen wie dem gesamten Gemeinschaftssystem zugrunde liegt, zu Gunsten der Staaten noch ausgedehnten in dem Verfahren gegenseitigen Beistands, das in Artikel 108 für den Fall vorgesehen ist, dass ein Mitgliedstaat hinsichtlich seiner Zahlungsbilanz von Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist. Daher ist es nicht zulässig, in Ausübung der den Staaten vorbehaltenen Zuständigkeit einseitig Maßnahmen zu ergreifen, die der Vertrag verbietet.“

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Nach Meinung des EuGH ist es also das Solidaritätsprinzip, welches allen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem gesamten Gemeinschaftssystem zugrunde liegt. Normativer Anknüpfungspunkt dieser Pflicht ist Art. 10 EGV, der die eingegangene Verpflichtung der Mitgliedstaaten statuiert. Die Vorschrift des Art. 108 EWG a. F. (Art. 109 EGV) betrachtet er als besondere Ausprägung dieses Grundsatzes. Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. bb) Rechtssache 39/72, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik Mit dem Verfahren nach Art. 226 EGV beabsichtige die Kommission feststellen zu lassen, dass Italien durch die verzögerte bzw. durch die Nichtdurchführung zweier Verordnungen über Prämienzahlungen für die Schlachtung von Kühen und die Nichtvermarktung von Milch und Milcherzeugnissen gegen seine Vertragsverpflichtungen verstoßen hat. Ohne Art. 10 EGV zu erwähnen nimmt der Gerichtshof Stellung zum Solidaritätsprinzip. Die grundsätzlichen Ausführungen rechtfertigen die Wiedergabe des vollen Wortlauts: „Der Vertrag erlaubt es den Mitgliedsstaaten, die Vorteile der Gemeinschaft für sich zu nutzen, er erlegt ihnen aber die Verpflichtung auf, deren Rechtsvorschriften zu beachten. Stört ein Staat aufgrund der Vorstellung, die er sich von seinen nationalen Interessen macht, einseitig das mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, so stellt dies die Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht in Frage . . . Ein solcher Verstoß gegen die Pflicht der Solidarität, welche die Mitgliedsstaaten durch ihren Beitritt zur Gemeinschaft übernommen haben, beeinträchtigt die Rechtsordnung der Gemeinschaft in ihren Grundfesten. Sonach hat die Italienische Republik mit ihrer vorsätzlichen Weigerung, die eine der beiden in den Verordnungen . . . vorgesehenen Regelungen auf ihrem Hoheitsgebiet zu vollziehen, eindeutig gegen die Verpflichtung verstoßen, die sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingegangen ist.“134

Dieses Urteil ist für den hier interessierenden Kontext auf zweierlei Weise von grundsätzlicher Bedeutung. Auf den ersten Blick fällt auf, dass der EuGH Art. 10 EGV überhaupt nicht erwähnt. Offenbar gibt das Gericht einer grundsätzlichen dogmatischen Argumentation den Vorzug, denn im Schlussantrag von Generalstaatsanwalt Mayras verweist dieser noch schlicht auf die aus Art, 5 EWG resultierenden Pflichten135. Stattdessen führen die Richter die Pflicht zur Solidarität auf den Beitritt der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft zurück. Daraus lässt sich schließen, dass der Gemeinschaft eine Pflicht zur Solidarität immanent ist. Diese Pflicht trifft die Mitgliedstaaten nicht aufgrund von Art. 10 EGV, sondern es reicht die bloße Tatsache der Zugehörigkeit zur EG. Dadurch 134 135

EuGH, RS. 39/72, Kommission/Italien, Slg. 1973, 101 (115). EuGH, RS. 39/72, Kommission/Italien, Slg. 1973, 101 (123).

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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schält sich ein allgemeines Prinzip der Solidarität heraus, welches hinter dem gesamten Gemeinschaftssystem steht. Folglich beruht auch Art. 10 EGV auf diesem Prinzip136. Das Solidaritätsprinzip hängt dabei nach Auffassung des Gerichts untrennbar mit der Gleichheit aller Mitgliedstaaten und dem Gleichgewicht der Lasten und Vorteile zusammen. cc) Rechtssache 30/72, Kommission/Italien In einem ähnlich gelagerten Fall, wieder geht es um die fehlerhafte Durchführung einer Verordnung durch Italien aufgrund von nationalen Schwierigkeiten, kehrt der EuGH dann wieder zu Art. 10 EGV zurück: „Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen und Übungen des innerstaatlichen Rechts berufen, um damit die Nichtbeachtung von Verpflichtungen und Fristen des Gemeinschaftsrechts zu rechtfertigen. Er hat vielmehr aufgrund der den Mitgliedstaaten nach Artikel 5 des Vertrages auferlegten allgemeinen Pflichten in seinem innerstaatlichen Recht die Konsequenzen aus seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zu ziehen und erforderlichenfalls sein Haushaltsvoranschlagsverfahren so auszugestalten, das es für den fristgemäßen Vollzug der ihm im Rahmen des Vertrages obliegenden Verpflichtungen kein Hindernis bildet.“137

Dennoch ist dieses Urteil kein Beleg dafür, dass Art. 10 EGV der Geltungsgrund für die durch ihn auferlegten allgemeinen Pflichten ist. Der EuGH stellt fest, dass die durch Art. 10 EGV auferlegten allgemeinen Pflichten es erforderlich machen können, die nationale Gesetzgebung entsprechend anzupassen. Aus der Norm können also Vorschriften bezüglich der Art und Weise der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts entnommen werden. Für die Begründung einer Pflicht, überhaupt tätig zu werden, verweist der EuGH erneut auf die „Konsequenzen aus seiner [des Mitgliedstaates] Zugehörigkeit zur Gemeinschaft“. Es ist also mit anderen Worten das durch die Mitgliedschaft begründete Rechtsverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, welches die auferlegten Pflichten rechtfertigt. Der Verweis auf Art. 5 EWG in diesem Urteil ändert damit nichts an der Grundaussage, wie sie in der Rs. 39/72 angedeutet worden ist. Dafür spricht auch die Parallelität der Sachverhalte und die zeitliche Nähe des Urteils, welches nur einen Tag später als das in der Rs. 39/72 erging138.

136 Unter Heranziehung der gleichen Urteile kommt Hieronymi zu dem Urteil, dass der Gerichtshof stillschweigend die Pflicht zur Solidarität aus Art. 10 EGV abgeleitet hat, vgl. Hieronymi, S 40 f. Nach der hier vertretenen Ansicht geht die Pflicht zur Solidarität der Pflicht aus Art. 10 EGV vor, in dem sie ihr zu Grunde liegt. Folglich leitet sie sich nicht aus Art. 10 EGV ab, sondern Art. 10 EGV gestaltet diese Pflicht lediglich aus. 137 EuGH, Rs. 30/72, Kommission/Italien, Slg. 1973, 161 (171 f.). 138 Auch Hieronymi spricht von einer engen Verknüpfung beider Urteile aus diesem Grund, S. 41.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

dd) Rechtssache 128/78, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland In diesem Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien wegen der unterlassenen Einführung eines Fahrtenschreibers für bestimmte Fahrzeugtypen wiederholt der Gerichtshof seine Aussagen aus der Rs. 39/72139. Die oben zitierte Passage wird im vollen Wortlaut wiedergegeben. Darüber hinaus findet sich ein Hinweis auf die „Gemeinschaftssolidarität“ und die Klarstellung, dass auch Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht keine Rechtfertigung für die Nichtumsetzung seien, weil „das institutionelle System der Gemeinschaft dem betroffenen Mitgliedstaat die nötigen Mittel an die Hand [gibt], um zu erreichen, dass seinen Schwierigkeiten . . . in angemessener Weise Rechnung getragen wird“140. Solidarität bedeutet also offenbar, dass die eigenen Interessen nur in Abwägung mit „den berechtigten Interessen der übrigen Mitgliedstaaten“ und im Rahmen der durch die Verträge vorgegebenen Rechtsordnung verfolgt werden dürfen. Für die hier zu verfolgende Frage nach dem Geltungsgrund ist dieses Urteil allerdings nur eine Bestätigung dessen, was in der Rs. 39/72 bereits sechs Jahre vorher festgestellt worden ist. ee) Ergebnis Es ist deutlich geworden, dass der Gerichtshof die Pflicht zur Solidarität jedenfalls nicht auf Art. 10 EGV stützt141. Allerdings ergibt sich bei Umkehrung dieser Gleichung ein interessantes Ergebnis. Wenn der EuGH davon ausgeht, dass die Pflicht zur Solidarität dem gesamten Gemeinschaftssystem zu Grunde liegt, so dass ein Verstoß gegen diese gleichsam an den „Grundfesten“ der Gemeinschaft rührt, dann gründet sich auch die Verpflichtung aus Art. 10 EGV auf das Solidaritätsprinzip. Ob damit das Solidaritätsprinzip der Geltungsgrund der Gemeinschaftstreue ist, beantwortet der Gerichtshof zumindest nicht explizit. Vielmehr stellt er auf das allgemeine Rechtsverhältnis der Mitgliedschaft ab, um zu begründen, warum die Mitgliedstaaten spezielle Pflichten treffen142. c) Eigener Ansatz Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue entspringt einer Notwendigkeit, die die Struktur der Europäischen Gemeinschaft mit sich bringt. Ausgangspunkt ist 139

EuGH, Rs. 128/78, Kommission/Großbritannien, Slg. 1979, 419 Rn. 9. EuGH, Rs. 128/78, Kommission/Großbritannien, Slg. 1979, 419 Rn. 10. 141 So aber Hieronymi unter Hinweis auf die Rs. 39/72 und 128/78, S. 40 f. 142 Insofern ist auf Hatje, Loyalität, S. 60 hinzuweisen, der das akzessorische Loyalitätsprinzip auf das allgemeine Rechtsverhältnis der Mitgliedschaft als dogmatische Grundeinheit zurückführt. 140

III. Solidaritätsprinzip und Gemeinschaftstreue

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die Tatsache, dass innerhalb der Gemeinschaft die Wahrung des Gemeinwohls verschiedenen Hoheitsträgern zugewiesen ist. Das Gemeinwohl ist dabei mehr als die Summe der Einzelinteressen143. Es stellt das gemeinschaftliche Interesse dar, wie es sich aus den Zielen und Präambeln der Verträge ergibt und durch die Rechtshandlungen der verschiedenen Organe konkretisiert wird. Die grundsätzliche Legitimation für die Ausübung von Hoheitsgewalt liegt in der Verfolgung des Gemeinwohls144. Nur ein Handeln im Interesse aller kann damit einen hoheitlichen Eingriff in die geschützte Sphäre anderer rechtfertigen. Wenn nun aber verschiedene Hoheitsträger ermächtigt sind, das Gemeinwohl zu fördern, dann entstehen unvermeidlich Konflikte. Zudem ist die Legitimation der EG als Hoheitsträger grundsätzlich fragiler als das für die Mitgliedstaaten der Fall ist. Während dort gemäß demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze eine unmittelbare Legitimation durch das Volk gegeben ist, beruht die Hoheitsgewalt der EG auf einem völkerrechtlichen Vertrag und den einzelstaatlichen Ermächtigungsnormen. Mit der Anerkennung der Gemeinschaft als eigene Rechtspersönlichkeit von supranationalem Gehalt ist aber das Funktionieren eines solchen Verbandes noch nicht gewährleistet. Auch die Einführung eines klaren Kompetenzkataloges, wie es im Verfassungsentwurf des Konvents vorgesehen war (Art. 11–13)145 und mit den Art. I-13 f. VerfV übernommen worden ist, kann die im System angelegten Konflikte nicht abschließend regeln, wie der Vergleich mit föderalen Staaten zeigt146. Ein solcher Katalog ist zu starr und unflexibel, um die vielfältigen Berührungspunkte zufrieden stellend zu lösen. Deshalb eignet sich ein allgemeines Rechtsprinzip wegen seiner prinzipiellen Offenheit und Flexibilität besser. An dieser Stelle greift nun das Prinzip der Gemeinschaftstreue ein. Als offenes und allgemeines Rechtsprinzip der Gemeinschaft ist es am besten geeignet, das Zusammenspiel von verschiedenen Hoheitsträgern in einer Rechtsgemeinschaft zu gestalten. Art. 10 EGV ist eine Teilpositivierung dieses Prinzips und dient als Baustein für die Rechtsfortbildung. Im Übrigen gilt der Loyalitätsgrundsatz umfassend im zweidimensionalen Gemeinschaftssystem. Anhand der Formel von der Gemeinschaftstreue lassen sich konkrete Pflichten entwickeln, die allerdings immer akzessorisch sind. Sie sind gleichsam Nebenpflichten zu einer Hauptpflicht und können sich nur aus dem Vertrag selber oder durch Handlungen der Organe ergeben. Damit ist das Loyalitätsgebot Ausdruck der 143

So auch Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, S. 156. von Arnim, Gemeinwohl, S. 5. 145 Ausführlich dazu Schröder, JZ 2004, 8 ff.; Götz, 43 ff.; Görlitz, DÖV 2004, 374 ff. 146 Ein solcher Katalog findet sich auch in den Art. 72 ff. GG. Trotzdem wurde vom BVerfG der Grundsatz der Bundestreue dogmatisch weiterentwickelt, um ein Prinzip für die typischen Konfliktlagen in einem föderalen System zur Verfügung zu haben: BVerfGE 1, 299 (315). 144

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Notwendigkeit, dass das Verhältnis der Glieder zu der Gemeinschaft einer Regelung bedarf, wenn der Gemeinschaft die Sorge für das Gemeinwohl, dem Wohle aller, in Teilen übertragen worden ist. Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit sichert nun die Aufgabenerfüllung der Gemeinschaft. Sie erschließt konkrete Rechtspflichten, die die notwendige Kooperation bestimmen und Konfliktfälle moderieren können. Dadurch regelt sie aber nur das „wie“ der Beziehung von Mitgliedstaaten und Gemeinschaft. Das „ob“, also die grundsätzliche Legitimation einer solchen Pflicht, begründet das Loyalitätsgebot nicht. Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit entsteht erst, wenn gesichert ist, dass das Gemeinwohl neben den mitgliedstaatlichen Interessen entsprechend berücksichtigt wird. Erst dadurch entsteht eine konkrete Rechtsbeziehung, aus welcher loyale Pflichten entstehen können. Die fehlende Legitimation, die Frage nach dem „ob“, führt zum Solidaritätsprinzip. Es ist offensichtlich, dass alle Pflichten der Mitgliedstaaten sich in letzter Konsequenz auf die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gründen. Dies gilt bereits nach dem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz pacta sunt servanda147. Die Besonderheit der Mitgliedschaft in der EG liegt darin, dass mit dem Beitritt eine generelle Solidaritätspflicht gegenüber der Gemeinschaft und gegenüber den anderen Mitgliedstaaten entsteht. Das ist der Kern des Solidaritätsprinzips. Dieses gilt ebenfalls umfassend auf allen Beziehungsebenen in der EG. Das Loyalitätsprinzip dient insoweit der Operationalisierung des Solidaritätsprinzips, indem es vorhandenen Beziehungen ausgestaltet. Die Hauptpflicht ist jedoch die Pflicht zur Solidarität. Insofern steht nicht so sehr der Beitritt zur Gemeinschaft im Vordergrund, um das Gebot der Gemeinschaftstreue zu legitimieren, sondern das Solidaritätsprinzip. Erst die Pflicht zur Solidarität ist die Grundlage dafür, dass das europäische Gemeinwohl und die berechtigten Interessen der anderen Staaten zum Ausgleich gebracht werden. Diese Pflicht wird durch den Beitritt eines Staates zur Gemeinschaft auf allen Ebenen aktiviert.

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips 1. Einleitung und Problemstellung Bei der Auslegung des elementaren Art. 2 EGV wurde deutlich, dass die leistende Solidarität in der EG deutlich hervortritt. Viele Stimmen in der Literatur sehen denn auch in den Vorschriften des Kapitel XVII eine besondere Konkretisierung des Solidaritätsprinzips148 oder beschränken das gemeinschaftsrechtliche Solidaritätsprinzip auf die leistende Seite149. Nach Tomuschat hätte man an147 So unterstreicht Langeheine in Bezug auf Art. 10 EGV: „Diese Bestimmung des Vertrages ist keine überflüssige Wiederholung des Grundsatzes ,pacta sunt servanda‘“; vgl. Langeheine, Abgestufte Integration, S. 90.

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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stelle des Titels „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ des Kapitels XVII die Verwendung des Begriffs „Solidarität“ erwarten können, denn darum gehe es dort in der Sache150. Im Folgenden sollen deshalb die so genannten Kohäsionsvorschriften kurz erläutert werden. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit diese Regelungen tatsächlich als Ausdruck des Solidaritätsprinzips verstanden werden können. In bewährter Manier muss festgestellt werden, ob sich die finanzielle Solidarität auf der vertikalen oder der horizontalen Ebenen abspielt. Aus dem föderalen Bundesstaat ist als Ausdruck der gemeinsamen Solidarität der Finanzausgleich zwischen reichen und armen Gliedstaaten bekannt. Demnach muss bei der Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen im Bundesstaat ein gerechter Ausgleich erzielt werden. Das erfordert eventuell eine zusätzliche Umverteilung, sei es durch direkte horizontale Transferleistungen oder Ausgleichselemente im vertikalen Bereich mit horizontaler Wirkung, damit die schwächeren Staaten ihre Aufgaben vollständig erfüllen können. Ohne die Europäische Union in die Nähe eines föderalen Bundesstaates rücken zu wollen, ist jedoch unter Solidaritätsaspekten interessant zu sehen, ob im System der Verträge solche Elemente des Finanzausgleichs oder der Umverteilung enthalten sind. Daneben können auch die Beistandsnormen der Art. 100, 119, 120 EGV als eine Art finanzielle Solidarität betrachtet werden. Zudem liegt mit den Fluthilfen der Europäischen Gemeinschaft und der Einrichtung eines Solidaritätsfonds zugunsten der hochwassergeschädigten Bürger nach den großen Überschwemmungen der Elbe im Jahre 2002 ein praktisches Beispiel vor. Ebenso enthält der VerfV eine neu eingeführte Solidaritätsklausel in Art. I-43 VerfV. Diese Ereignisse zeigen, welche praktische und rechtliche Bedeutung der leistende Aspekt der Solidarität in der Europäischen Gemeinschaft hat. 2. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt Der Erfolg der Europäischen Union als Ganzes hängt nicht zuletzt auch von der Verringerung des Wohlstandsgefälles innerhalb der Union ab. Wenn die nationalen und regionalen Unterschiede zu groß sind oder werden, kann dies erhebliche Rückwirkungen auf den gesamten Integrationsprozess haben. Dies ent148 Lenz, ZRP 1988, 449 ff.; Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (732 ff.); Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 192; Marias, LIEI 1994, 85 (105 f.); Volkmann, SuS 1998, 17 (23). 149 Am deutlichsten wird dies bei Glaesner, S. 16: „Das gemeinschaftsrechtliche Solidaritätsprinzip, das Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein soll, betrifft dagegen die Frage, inwiefern die Europäische Gemeinschaft Verantwortung trägt in Hinblick auf Entwicklungsunterschiede in den verschiedenen Regionen“. 150 Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (733).

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

spricht nicht nur der Sicht der wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten, die sich durch ihren Beitritt gewiss finanzielle Vorteile erhofft haben, sondern deckt sich auch mit den Bestimmungen des Vertrages. Im fünften Erwägungsgrund des EGV bekunden die Vertragsparteien ihren Willen, „ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonischen Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern“. In Art. 2 und 3k) EGV findet sich das Ziel, „den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ zu fördern und zu stärken. Dieses Ziel wird dann in Art. 158 EGV wieder aufgegriffen. Die erklärte Absicht ist es, durch den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Gemeinschaft eine harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern. Dabei sind sich die Mitgliedstaaten bewusst, dass dafür insbesondere „die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete oder Inseln einschließlich der ländlichen Gebiete“ zu verringern sind151. Die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und der Grundfreiheiten weist also einen untrennbaren Zusammenhang mit einer gemeinschaftlichen Unterstützung für die ärmeren Gebiete auf. Da sich die Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten finanziert, deren Beiträge sich zum Teil wiederum an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren, erfolgt in diesem Bereich ein solidarischer Ausgleich zwischen reichen und armen Ländern der EG. Dabei ist dieser Gedanke nicht neu, wird allerdings erst durch die Einheitlich Europäische Akte und den darauf folgenden Vertrag von Maastricht zur eigenen Zielbestimmung und in den Rang einer eigenen kohärenten Politik im Titel XVII des EGV erhoben152. Die Notwendigkeit einer strukturierten Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaft hatte sich in dieser Form zu Beginn der Europäischen Integration nicht gestellt. Es herrschte die Auffassung, dass mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes auch die regionalen Wohlfahrtsdifferenzen automatisch beseitigt würden153. Außerdem waren die sechs Gründerstaaten der EWG 1957 in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung weitgehend homogen mit Ausnahme nur einiger Gebiete Süditaliens154. Dies änderte sich mit den folgenden Erweiterungen der Gemeinschaft. Dabei standen die finanziellen Interessen der neuen und alten Mitglieder im Vordergrund. Insbesondere Großbritannien knüpfte seinen Beitritt an die Bedingung, einen Ausgleichsfond der Gemeinschaft zu schaffen. Aufgrund des geringeren britischen Anspruchs auf Agrarsubventionen wäre anderenfalls das Vereinigte Königsreich zum größten Nettozahler neben Deutsch151

Art. 158 Abs. 2 EGV. Zur Entwicklung der Regionalpolitik der EG: B/P/P/S, Rn. 1110 ff.; Glaesner, S. 29 ff.; Puttler, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 158 EGV Rn. 1 ff.; Mussler, Die Wirtschaftsverfassung, S. 159 ff.; Schäfers, Kohäsionspolitik, 1993. 153 B/P/P/S, Rn. 1111; Glaesner, S. 17. 154 Glaesner, S. 17. 152

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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land geworden155. Der Beitritt der ärmeren Südländer Spanien, Portugal und Griechenland führte dann zu einer starken Zunahme des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles in der Gemeinschaft156. Außerdem wurde die Erkenntnis bestärkt, dass mit der Schaffung des Gemeinsamen Marktes regionale Probleme nicht automatisch gelöst würden. Im Gegenteil, die wohlhabenderen Regionen profitierten sogar mehr von der wirtschaftlichen Öffnung, so dass die regionalen Unterschiede nicht abgebaut, sondern verstärkt wurden157. Schließlich stellte sich das Problem, dass es durch unterschiedliche nationale Politiken, strukturschwache Regionen zu unterstützen, zu einer Verzerrung des freien Wettbewerbes im Gemeinsamen Markt kam158. Mit der anvisierten Verwirklichung des Binnenmarktes bis 1992 wuchs die Sorge der strukturschwachen Regionen der Gemeinschaft, „sie könnten eine uneingeschränkte Öffnung der Binnengrenzen ohne solidarische Unterstützung durch die ,reichen‘ Regionen mit dem Ziel einer Zusammenführung des Entwicklungsstandes aller Regionen nicht verkraften“159. Zusammen genommen waren es diese Gründe, die schließlich zur Einführung einer Politik zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts durch die Einheitliche Europäische Akte in Art. 23 EEA führten. Im Unionsvertrag von Maastricht wurde die Bedeutung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhangs für die Gemeinschaft noch unterstrichen. Das dort angenommene Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt bekräftigt, „dass die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts für die umfassende Entwicklung und den dauerhaften Erfolg der Gemeinschaft wesentlich ist“ und unterstreicht die Bedeutung, „die der Aufnahme des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in die Artikel 2 und 3 dieses Vertrages zukommt“. Die wichtigsten Mittel dieser Politik sind die Strukturfonds gemäß Art. 159 Abs. 1 EGV und der Kohäsionsfond nach Art. 161 Abs. 2 EGV160. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhang wird auch in Zukunft eine Priorität der Gemeinschaft bleiben. Das zähe Ringen um die Agenda 2000, die eine grundlegende Reform in diesem Bereich mit sich bringt, hat gezeigt, dass die Politik der Union in diesem Bereich stark von nationalen Eigeninteressen und dem Streben nach finanziellen Vorteilen geprägt ist. Ein Hauptstreitpunkt ist dabei 155 156

Mussler, S. 160. Franzmeyer/Seidel, in: Biehl/Pfennig (Hrsg.), EG-Finanzverfassung, S. 189

(192). 157

Glaesner, S. 18. B/P/P/S, Rn. 1112. 159 Priebe, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 551 (552). 160 Diese werden auf den Internetseiten der Europäischen Kommission als „Instrumente der Solidarität“ bezeichnet, abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/regional_ policy/index_de.htm; dort finden sich auch die aktuellsten Informationen und Statistiken für diese Fonds und die Regionalpolitik der EG. 158

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

die Agrarpolitik. Mit der vollzogenen Erweiterung der Union um zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa werden die Anforderungen an den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Union steigen. Insofern ist es von aktueller Relevanz aufzuzeigen, inwiefern das Solidaritätsprinzip in diesem Bereich wirkt und finanzielle Anforderungen an die Union und die Mitgliedstaaten stellt. a) Art der Umverteilung in der Europäischen Gemeinschaft Es bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine Umverteilung nach gewissen Kriterien zugunsten von Mitgliedstaaten vorzunehmen. Eine vertikale Umverteilung wirkt von der Gemeinschaft zu den einzelnen Mitgliedstaaten hin und kann zum Beispiel ungebundene Zuweisungen oder direkte Zahlungen beinhalten. Bei der horizontalen Umverteilung handelt es sich um direkte Transferzahlungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ohne den Umweg über die Gemeinschaft zu nehmen161. Gemäß dem Solidaritätsgedanken geht es dabei stets um einen Ausgleich der unterschiedlichen Finanz- und Wirtschaftskraft der Länder, so dass in der Regel die ärmeren Länder von solchen Umverteilungen profitieren. Im Primärrecht ist allerdings weder ein direkter horizontaler Finanzausgleich vorgesehen, noch gibt es die Möglichkeit direkter Zuweisungen durch die Gemeinschaft zum Ausgleich unterschiedlicher Finanzkraft162. Allerdings enthält der EGV zahlreiche Instrumente, die direkt oder indirekt auf einen Ausgleich der Wirtschafts- und Finanzkraft der Mitgliedstaaten und somit auf eine Umverteilung gerichtet sind. Magiera kommt aus diesem Grund zu dem Schluss, dass „eine Umverteilung von den wohlhabenderen auf die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten und Regionen“ vertraglich vorausgesetzt und durch das erwähnte Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt ausdrücklich bekräftigt wird163. Eine solche Umverteilung wiederum ist auf der Einnahmen- oder der Ausgabenseite denkbar. Die Gemeinschaft finanziert sich nach Art. 269 Abs. 1 EGV nahezu vollständig aus Eigenmittel. Dazu zählen neben den Agrarabschöpfungen und den Zöllen, Einnahmen aus einem prozentualen Anteil am Mehrwertsteueraufkommen der Mitgliedsländer sowie ein sich am jeweiligen BSP orientierender zusätzlicher Beitrag164. Auf der Einnahmenseite ist mit der Einführung der am BSP orientierten Eigenmittel sowie der Kappung der Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage eine Entwicklung in Richtung Beitragsgerechtigkeit zu verzeichnen165. Dabei wird 161

Bieber, EuR 1982, 115 (122). Häde, Finanzausgleich, S. 481. 163 Magiera, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 409 (420). 164 Dazu Griese, EuR 1998, 462; Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 269 EGV Rn. 1 ff. 162

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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der jeweilige Beitrag eines Landes mehr und mehr an der individuellen Leistungsfähigkeit, wie sie sich klassisch im BSP pro Kopf der Bevölkerung ausdrückt, orientiert. Allerdings stehen hier weniger der Solidaritätsgedanke als das Gleichbehandlungsgebot und der Gerechtigkeitsgedanke im Vordergrund166. Eine bewusste Umverteilung zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Staaten findet über die Einnahmenseite nicht statt167. Damit bleibt also nur noch die Möglichkeit einer solidarischen Umverteilung auf der Ausgabenseite. Hier spielen die Strukturfonds und der Kohäsionsfond eine herausragende Rolle. b) Strukturfonds Art. 159 Abs. 1 EGV macht deutlich, dass für die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts gleichermaßen die Mitgliedstaaten wie die Gemeinschaft zuständig sind. Vorrangiges Mittel zur Erreichung eines solchen Zusammenhalts sind die drei Strukturfonds168. Nach der Verordnung 1260/1999 auf Grundlage des Art. 161 Abs. 1 EGV werden die förderungswürdigen Regionen drei Zielkategorien zugeordnet169. Dabei stehen für den Zeitraum 2000– 2006 195 Milliarden Euro zur Verfügung, wobei fast 70 Prozent auf die Förderungen der Regionen mit Entwicklungsrückstand entfällt170. So stellen die Mittel für die Strukturfonds im Haushalt der Gemeinschaft regelmäßig den zweitgrößten Posten hinter den Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik dar171. 165

Dazu Häde, Finanzausgleich, S. 482 ff. Schoo, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 269 EGV Rn. 2: „Die Finanzierung der EU bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Solidarität: zum einen hat die Gemeinschaft für eine gleichwertige Belastung und Beteiligung der Mitgliedstaaten zu sorgen, zum anderen ist die Gemeinschaft nach den Art. 2 und Art. 158 dem Solidaritätsziel verpflichtet und hat für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu sorgen und die harmonische Entwicklung der Gemeinschaft zu fördern. Dieser Zielkonflikt wird durch Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten sowie durch einen Finanzausgleich bei den Haushaltsausgaben gelöst“. 167 Jochimsen, SuS 1993, 118 (128). 168 Art. 159 Abs. 1 S. 3 EGV: Die Gemeinschaft unterstützt auch diese Bemühungen durch die Politik, die sie mit Hilfe der Strukturfonds (Europäischer Ausrichtungsund Garantiefonds für die Landwirtschaft – Abteilung Ausrichtung, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzierungsinstrumente führt. 169 VO 1260/1999, ABl. 1999, L/1: Ziel 1: Förderung der Entwicklung und der strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand; Ziel 2: Anpassung der Gebiete in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, die von strukturellen Schwierigkeiten (wirtschaftlicher Art) betroffen sind; Ziel 3: Förderung der Anpassung und Modernisierung der Bildungs-, Ausbildungs- und der Beschäftigungspolitik. 170 Art. 7 VO 1260/1999. 171 Für den Haushalt 2004 sind 42408 Mio. Euro für Agrarausgaben und 31541 Mio. Euro für die Strukturfonds vorgesehen. Vgl. die Zahlen abrufbar unter: http:// www.europa.eu.int/comm/budget/pdf/budget/syntchif2004/de.pdf. 166

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Die Zahlen für die drei Strukturfonds machen deutlich, dass in diesem Bereich eine wirkliche Umverteilung zugunsten der ärmeren Länder und Regionen stattfindet. Beinah 70% der Strukturfondsmittel müssen für Regionen verwendet werden, die dem genannten Ziel 1 Kriterien der Verordnung entsprechen. Darunter fallen solche Gebiete, in denen das Pro-Kopf-BIP unter 75% des Gemeinschaftsdurchschnitts liegt172. Regionen mit Entwicklungsrückstand sind allerdings nicht ausschließlich in den ärmeren Mitgliedsländern zu finden, denn auch die ostdeutschen Länder zählen zu den so genannten Ziel 1 Regionen173. c) Kohäsionsfonds Eine zusätzliche Unterstützung für strukturschwache, ärmere Mitgliedsländer hat der durch Art. 161 Abs. 2 EGV eingeführte Kohäsionsfonds gebracht. Mit der Verordnung 1164/94 hat der Rat von seiner Ermächtigung Gebrauch gemacht und einen solchen Fonds geschaffen174. Dadurch sollen diese Mitgliedsländer in die Lage versetzt werden, die für die WWU geforderten Konvergenzkriterien zu erreichen175. Aus den Mitteln des Kohäsionsfonds werden Beiträge der Gemeinschaft für Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropäische Verkehrsinfrastrukturnetze in Mitgliedstaaten mit einem Pro-Kopf-BSP von weniger als 90% des Gemeinschaftsdurchschnitts geleistet. Dafür sind bis 2006 insgesamt 18 Milliarden Euro vorgesehen, die neben die Ausgaben für die Strukturfonds treten176. Der Kohäsionsfonds ist ebenfalls mit bedeutenden Mitteln ausgestattet, die derzeit ausschließlich Griechenland, Spanien, Portugal und Irland zu Gute kommen. Das gesamte Staatsgebiet von Griechenland, Irland und Portugal sowie Spanien mit Ausnahme des Nordostens fällt zudem unter die Ziel 1 Kategorie177. So findet auch durch den Kohäsionsfonds eine starke Umverteilung zugunsten der finanzschwächeren Mitgliedstaaten statt. Dabei stehen im Unterschied zu den Strukturfonds, die auf eine Förderung der Regionen zielen, die Mitgliedstaaten bei der Kohäsionspolitik im Mittelpunkt. Das Förderkriterium bei den Strukturfonds richtet sich nach der regionalen und das des Kohäsionsfonds nach der nationalen Ebene178. Insgesamt gesehen findet eine Umvertei172

Puttler, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 161 EGV Rn. 8. Strukturfondsverordnung 1260/1999, ABl. 1999, L 161/1. 174 VO 1164/94, ABl. 1994, L 130/1. 175 Der Fonds fördert bis 2006 nur Projekte in Griechenland, Irland, Spanien und Portugal. Allerdings fand eine Überprüfung der Förderungswürdigkeit Ende 2003 statt, Art. 2 Abs. 4 VO 1164/94 in der durch VO Nr. 1264/99 geänderten Fassung; Häde, Finanzausgleich, S. 499. 176 Art. 4 Abs. 3 und 5 VO Nr. 1164/94 in der durch VO Nr. 1264/99 geänderten Fassung. 177 Priebe, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 551 (562). 173

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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lung also über die Ausgaben der Gemeinschaft statt179. Wirtschaftlich schwächere Regionen und Mitgliedsländer profitieren am meisten von der Strukturund Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaft. d) Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt als Ausdruck des Solidaritätsprinzips Die Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts fördert und unterstützt die Regionen und Mitgliedstaaten, die aufgrund eines unter dem Gemeinschaftsdurchschnitt liegenden Pro-Kopf-BSP wirtschaftlich schwächer sind. Dahinter steckt der Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe. Es soll keine wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit entstehen, sondern diese Gebiete sollen auf den Weg gebracht werden, damit sie in gleicher Weise vom Binnenmarkt profitieren können und die Kriterien der WWU erfüllen. Deshalb gelten in diesem Bereich die Grundsätze der Zusätzlichkeit der Mittel und der Kofinanzierung180. Die Mittel dazu kommen aus dem Gemeinschaftshaushalt, also zum großen Teil mittelbar von den Mitgliedstaaten. Indem ärmere Mitgliedstaaten durch die Orientierung an der Leistungsfähigkeit weniger Beiträge zahlen, sie aber zugleich im Verhältnis mehr Unterstützung aus den Strukturfonds und der Kohäsionspolitik erhalten, findet eine Umverteilung auf der Ausgabenseite statt. Diese trägt zwar nicht die Züge eines bundesstaatlichen Finanzausgleichs, da unter anderem die Mittel nur zweckgebunden vergeben werden, kommt aber durch ihren solidarischen Charakter diesem nahe181. Das Solidaritätsprinzip beinhaltet zunächst die Beachtung und Förderung des Gemeinwohls ebenso wie der Interessen der anderen Mitgliedstaaten. Insofern wäre es mit einem so verstandenen Gebot der Rücksichtnahme nicht vereinbar, wenn die Errichtung des Binnenmarktes ohne Rücksicht auf die wirtschaftlich schwächeren Gebiete erfolgen würde. Das würde auf Dauer auch den Zusammenhalt in der Union gefährden. Darin erschöpft sich das Solidaritätsprinzip jedoch nicht, sondern es fordert vielmehr gewisse Leistungen von der Gemein178

Walthes, S. 76. So auch Niermann, S. 151: „Der Schwerpunkt der Umverteilungsaktivitäten liegt mit dem Kohäsionsfonds derzeit klar auf der Ausgabenseite“. 180 Diese Grundsätze sollen dafür sorgen, dass die Gemeinschaftsmittel ausschließlich für die Verwirklichung der Kohäsionsziele verwendet werden. Deshalb sollen die Empfängerländer gewährleisten, dass neben den EG-Mitteln auch eigene Haushaltsmittel für die Kohäsionsziele zur Verfügung stehen und Strukturinvestitionen möglichst gesteigert werden. Nach dem Grundsatz der Kofinanzierung wird ein Projekt niemals zu 100 Prozent von EG-Mitteln getragen, sondern ein bestimmter Restanteil muss durch das entsprechende Mitgliedsland aufgebracht werden. Vgl. Priebe, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 161 EGV Rn. 15, 36. Artikel 11, 29 Strukturfonds-VO. 181 Prate, Commentaire, 815 (817): „création de ce fonds de cohésion Communauté des systèmes fédéraux dans lesquels des mécanismes de transfers sont organisés au niveau central, comme le ,Finanzausgleich‘ allemand“. 179

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

schaft zu Gunsten dieser Regionen. Nach Priebe folgt aus dem „Prinzip der Gemeinschaftssolidarität“ ein „wirtschaftspolitisches Gebot der Rücksichtnahme gegenüber den rückständigen Regionen der Gemeinschaft und anderen Kohäsionsproblemen“182. Es hat sich gezeigt, dass der Titel XVII EGV über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt von einer solchen Solidaritätsstruktur geprägt ist. Dort findet eine positive Umverteilung zugunsten der schwächeren Mitglieder statt, die „man per se als solidarisch“ qualifizieren kann183. Die Grenzen dieser leistenden Solidarität sind an späterer Stelle zu bestimmen184. Hier soll gezeigt werden, dass die Vorschriften über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt als Ausdruck des Solidaritätsprinzips zu verstehen sind. Dabei kommt dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhang der Rang eines Strukturprinzips der Gemeinschaft, Art. 2, 3k EGV, und der Union, Art. 2 EUV, zu185. Als gemeinsame Zielbestimmung verpflichtet es Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gleichermaßen. Indem aber das Solidaritätsprinzip Voraussetzung für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhang ist, erfährt das Solidaritätsprinzip wiederum eine Konkretisierung durch die Vorschriften des Titel XVII EGV. Gegen eine solche Auslegung spricht nicht, dass in der Rechtspraxis die positive Umverteilung aus politischen und nicht aus solidarischen Motiven erfolgt. Allgemein wird zum Beispiel die Errichtung des Kohäsionsfonds als „Preis“ bezeichnet, den die reicheren Länder für die Zustimmung der ärmeren Mitgliedstaaten zur Währungsunion zu zahlen haben186. Das Solidaritätsprinzip zeichnet sich nicht durch hehre Ziele aus, sondern dadurch, dass es eine gewisse Grundunterstützung der ärmeren Mitgliedstaaten normativ fordert. Solange diese Unterstützung dann gewährleistet wird, ist die Motivation für die finanzielle Unterstützung unerheblich. Dabei erfolgt die Unterstützung nur mittelbar durch die Mitgliedstaaten. Art. 269 Abs. 1 EGV bestimmt, dass der Haushalt der Gemeinschaft vollständig aus Eigenmittel zu finanzieren ist. Die Finanzierung durch Eigenmittel setzt dabei ein gewisses Maß an Finanzhoheit voraus, anderenfalls handelt es sich um Beiträge. So wird die Umverteilung durch die Gemeinschaft mit eigenen Mitteln vorgenommen. Im Schrifttum wird dabei überwiegend Art. 10 EGV herangezogen, um zu begründen, dass die Mitgliedstaaten zu einer ausreichenden Finanzierung der Gemeinschaften verpflichtet sind187. Die grundsätzliche Pflicht

182

Priebe, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 159 EGV Rn. 1. Volkmann, SuS 1993, 17 (23). 184 s. dazu unten Kapitel J. 185 Glaesner, S. 178 f. 186 Häde, Finanzausgleich, S. 548; Sinn, SuS 1994, 155 (169). 187 Meermagen, Beitrags- und Eigenmittelsystem, S. 223; Magiera, EuR 1985, 286; Ohler, Die fiskalische Integration der EG, S. 363. 183

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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zur finanziellen Umverteilung ergibt sich dagegen aus dem Solidaritätsprinzip. Wie die Mittel dafür aufgebracht werden, ist in letzter Konsequenz eine Sache der Mitgliedstaaten. Solange die EG kein Bundesstaat ist und damit über keine originäre und vollkommene Finanzautonomie verfügt, bleibt es auch den Mitgliedstaaten überlassen, die Art und Weise der allgemeinen Finanzierung zu bestimmen. Insofern macht das Solidaritätsprinzip hier keine Vorgaben. Eine vollständige Verweigerung der Finanzierung durch einen oder mehrere Mitgliedstaaten muss aber als Verstoß gewertet werden. Dadurch wird auch die respektierende Seite des Solidaritätsprinzips grundsätzlich missachtet, nämlich die Förderung des Gemeinwohls. Ohne eine finanzielle Grundausstattung ist die Gemeinschaft nicht in der Lage, das Gemeinwohl und die ihr übertragenen Vertragsziele zu verfolgen, was einer Negierung jeglicher Solidarität gleichkommt. 3. Der gegenseitige Beistand im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion In den Vorschriften über die Wirtschafts- und Währungsunion im siebten Titel des EG-Vertrages finden sich zwei weitere Vorschriften, die unter dem Aspekt des gemeinschaftsrechtlichen Solidaritätsprinzips Interesse erwecken. Nach Art. 100 Abs. 2 EGV kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit einen finanziellen Beistand der Gemeinschaft zugunsten eines Mitgliedstaates gewähren, der „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht“ ist. Im Art. 119 EGV ist ein Verfahren des gegenseitigen Beistands vorgesehen, das unter anderem vorsieht, Mitgliedstaaten bei ernsthaften Zahlungsbilanzschwierigkeiten durch Bereitstellung von Krediten in begrenzter Höhe seitens anderer Mitgliedstaaten zu unterstützen. Bis zum Beginn der dritten Stufe der WWU am 1.1.1999 galt ausschließlich Art. 119 EGV. Inzwischen gilt diese Vorschrift nach Abs. 4 nur noch für die Mitgliedstaaten, die sich an dieser Stufe der WWU bisher nicht beteiligt haben188. Für die anderen Staaten ist die Vorschrift überflüssig geworden, denn mangels eigener Währung haben sie keine gesonderten Zahlungsbilanzen mehr, so dass es keine Schwierigkeiten geben kann189. Im Gegensatz zu den Struktur- und Kohäsionsmaßnahmen geht es bei Art. 100 EGV um Hilfe in außergewöhnlichen Fällen. Das zeigt schon der Verweis auf Naturkatastrophen als eine Voraussetzung für die Gewährung von finanzieller Unterstützung. Die Vorschrift lässt die Art der finanziellen Hilfen offen und bestimmt lediglich, dass diese durch die Gemeinschaft im vertikalen 188

Das sind derzeit Schweden, Dänemark und Großbritannien. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 100 EGV Rn. 3; Krämer/Badilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. 109h EGV Rn. 1. 189

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Verhältnis zu leisten sind und nicht durch Hilfsmaßnahmen anderer Mitgliedstaaten. Zu beachten ist jedoch das Verhältnis zu Art. 103 EGV, der so genannten „no bail out-Klausel“ des Vertrages. Danach besteht ein umfassender Haftungsausschluss für die Gemeinschaft und die anderen Mitgliedstaaten bezüglich Schulden anderer Mitgliedstaaten. Der finanzielle Beistand nach Art. 100 Abs. 2 EGV darf nicht zu einer Umgehung dieser bewusst getroffenen Regelung führen190. Auch wenn die Vorschrift dem Rat grundsätzlich einen Ermessensspielraum einräumt, kann sie als Ausdruck einer Solidaritätspflicht gesehen werden191. In extremen Fällen würde es das Solidaritätsprinzip gebieten, einen finanziellen Beistand zu gewähren, also eine Art Ermessensreduzierung bewirken192. In diesen Vorschriften zeigt sich nun der Solidaritätsgedanke, wie er üblicherweise verstanden wird. Es geht um die Hilfe in Notzeiten, in denen die eigenen Kräfte nicht mehr ausreichen, um die Krise zu meistern. In solchen Fällen vertraut man auf die Unterstützung derjenigen, mit denen man sich auf eine gewisse Weise verbunden fühlt. Gegenseitiges Vertrauen auf solch eine Unterstützung und gegenseitiges Verantwortungsgefühl sind naturgemäß dort stärker ausgeprägt, wo diese Verbindungen vielfältig und eng sind, d.h. also vor allem im Nationalstaat und in der Familie. Das schließt aber nicht aus, dass auch die Union eine Verantwortungs- und Solidargemeinschaft ist. Dass sie das sein kann, zeigen vielmehr die Vorschriften der Art. 100 und 119 EGV. Es besteht also ein System der gegenseitigen solidarischen Sicherung in der EG, das Ausdruck des der Gemeinschaft immanenten Solidaritätsprinzips ist. 4. Die neue Solidaritätsklausel des Vertrags über eine Verfassung für Europa Dieses System hat mit der Einführung einer ausdrücklich so bezeichneten Solidaritätsklausel in Art. I-43 VerfV eine normative Verstärkung erfahren. Darin heißt es: „Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen Ursprungs betroffen ist.“ 190

Häde, Finanzausgleich, S. 546. So auch Marias allerdings in Bezug auf Art. 119, 120 EGV „Mutual assistance as an expression of Community solidarity“, LIEI 1994, 85 (105). 192 Schmitz identifiziert als grundlegende Pflicht der Staaten in der supranationalen Union: „Die Pflicht zur Solidarität mit der Union und den anderen Mitgliedstaaten, insbesondere zur Hilfeleistung in Notlagen“. Damit wird aus einer Ermessensentscheidung eine Pflicht; vgl. Schmitz, Integration, S. 235 f. Deutlich auch auf S. 349: „Ein Staat, der jede finanzielle Umverteilung auch in Zukunft kategorisch ausschließen will, ist nicht reif für die Integration und als Mitglied einer Supranationalen Union ungeeignet“; Molzahn, S. 228. 191

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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Offenbar aufgrund der weltpolitischen Entwicklungen nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 in den Vereinigten Staaten wurde die Notwendigkeit gesehen, im Falle einer terroristischen Bedrohung die gegenseitige Solidarität zu unterstreichen. Dabei verwundert die erneute Aufführung von Naturkatastrophen insoweit, als solch ein Fall doch bereits durch Art. 100 Abs. 2 EGV geregelt wird193. Eine erneute Nennung wäre deshalb überflüssig, wenn auch in Art. I-43 VerfV der Schwerpunkt auf dem finanziellen Beistand durch die Gemeinschaft liegt. Die Solidaritätsklausel des VerfV geht jedoch in eine andere Richtung. Zum einen liegt der Schwerpunkt auf der Unterstützung im Falle eines Terroranschlags. Dies unterstreicht auch Art. III-329 VerfV, der die Anwendung der Solidaritätsklausel regelt. In Absatz 3 heißt es: „Damit die Union auf effiziente Weise tätig werden kann, nimmt der Europäische Rat regelmäßig eine Einschätzung der Bedrohungen vor, denen die Union ausgesetzt ist.“

Zum anderen wird allgemein von Unterstützung durch die Union und die Mitgliedstaaten gesprochen, ohne dass diese in Art und Weise näher bestimmt ist. Die Klausel macht dann Sinn, wenn vorwiegend die in diesem Bereich relevantere Hilfe durch technische Mittel, Kapazitäten und Experten gemeint ist. Dann kommt es auch zu keiner Überschneidung mit Art. 100 Abs. 2 EGV, der weiterhin die Ermächtigungsgrundlage für den finanziellen Beistand durch die Gemeinschaft bleibt. Eine solche Auslegung kann sich auf die Entstehungsgeschichte im Konvent stützen. Die Solidaritätsklausel fand auf Vorschlag der Arbeitsgruppe Verteidigung Eingang in den Entwurf. Innerhalb dieser Gruppe hatte Einigkeit darüber bestanden, dass sich die Bedrohung, denen die Europäische Union ausgesetzt ist, im Laufe der Zeit gewandelt hat. Im Vordergrund ständen nun die Gefahr des Terrorismus und des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen durch terroristische Vereinigungen194. Deshalb sei mehr Solidarität als Antwort auf die neuen Bedrohungen erforderlich. Uneinigkeit herrschte allerdings über die Weite und Ausgestaltung einer solchen Klausel. Während einige Mitglieder des Ausschusses die Klausel zusammen mit einem Konzept der gemeinsamen Sicherheit oder sogar einer Vorschrift über kollektive Verteidigung verbinden wollten, stieß dies bei anderen Mitgliedern auf heftigen Widerstand195. Ein überwiegender Konsens fand sich dann auch nur für eine Klausel, die den Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten weiter ausführt ohne eine kollektive Verteidigungsklausel zu normieren. Dabei sollte das gesamte 193

Diese Vorschrift übernimmt der VerfV fast unverändert in Art. III-180 VerfV. Schlussbericht der Gruppe VIII „Verteidigung“, CONV 461/02 vom 16. Dezember 2002. 195 Schlussbericht der Gruppe VIII „Verteidigung“, CONV 461/02 vom 16. Dezember 2002. 194

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Instrumentarium der Union im Falle terroristischer Anschläge nutzbar gemacht werden, d.h. insbesondere die militärischen Mittel als auch die Strukturen der PJZS. Diese Klausel sollte nicht zum militärischen Beistand verpflichten. Die Unterstützung ist nur für Bedrohungen durch nichtstaatliche Einheiten auf Ersuchen der Zivilbehörden des betroffenen Landes vorgesehen. Mit Art. 42 VerfE wurde den Bedenken der Arbeitsgruppe Rechnung getragen und die konsensfähige Variante der Solidaritätsklausel vorgeschlagen. Im Vordergrund steht dabei die technische und nicht finanzielle Unterstützung im Falle eines Terroranschlags oder bei Naturkatastrophen. Mit der Einführung dieser Bestimmungen ist ein weiterer Schritt getan worden, um das Solidaritätsprinzip zu konkretisieren und seinen Umfang in der Union deutlich zu machen. Nach der hier gewonnenen Ansicht ist eine solche Klausel aber deklaratorischer Art, denn die Unterstützung in Notsituationen ist eine wesentliche Pflicht des allgemeinen Solidaritätsprinzips. Allerdings bringt sie eine wünschenswerte normative Klarheit mit sich. 5. Der Solidaritätsfond für die Opfer der großen Flut im Jahr 2002 Ein aktuelles Beispiel mag als weiterer Beleg dafür dienen, dass das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union vor allem mit finanzieller Hilfe identifiziert wird. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel, dass die EU als Werte- und Solidargemeinschaft begriffen wird, die ihren Mitgliedern in Krisensituationen mit finanzieller Hilfe zur Seite steht. Die Rede ist von den katastrophalen Überschwemmungen in Deutschland, Tschechien, Österreich und Frankreich im Sommer 2002, die enorme Schäden in den betroffenen Gebieten verursacht haben. Die Reaktion der Union kam schnell und effektiv. Die Kommission stellte in einer Reaktion am 28. August 2002 eine Initiative „im Geiste der Solidarität“ vor196. Darin äußert sie ihre Überzeugung, dass bei einer größeren Katastrophe die Geschädigten auch Hilfe der EU „im Zeichen einer Werte- und Solidargemeinschaft“ erwarten können197. Unter der Überschrift „Solidarität“ wird ein Selbstverständnis deutlich, dass für eine Solidargemeinschaft erforderlich ist: „Wir sind eine Gemeinschaft von Völkern auf dem Weg zu größerer Einheit. Es ist ein natürliches Bedürfnis, aus dem heraus Bürger, Mitgliedstaaten und Gemein196 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Die Antwort der Europäischen Gemeinschaft auf die Hochwasserkatastrophe in Österreich, Deutschland und mehreren Beitrittsländern – Eine Initiative im Geiste der Solidarität, KOM/2002/0481 endg. 197 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Die Antwort der Europäischen Gemeinschaft auf die Hochwasserkatastrophe in Österreich, Deutschland und mehreren Beitrittsländern – Eine Initiative im Geiste der Solidarität, KOM/2002/0481 endg.

IV. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips

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schaftsinstitutionen spontan den Opfern des Hochwassers ihr Mitgefühl bekunden, vor allem auch durch praktische Gesten finanzieller Solidarität.“

Damit wird die ganze Spannbreite des Solidaritätsprinzips umrissen, auch wenn sich eine finanzielle Solidarität der Unionsbürger untereinander nicht feststellen lässt. Der wichtigste Teil der Kommissionsmitteilung betrifft die Einrichtung eines Solidaritätsfonds, um bei Naturkatastrophen von gravierendem Ausmaß schnell, wirksam und flexibel helfen zu können. Dieser Solidaritätsfonds ist in einem schnellen Verfahren durch die Verordnung Nr. 201/2002 des Rates vom 11. November 2002 eingerichtet worden198. Danach soll sich die Gemeinschaft bei Katastrophen größeren Ausmaßes mit der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten solidarisch zeigen, indem sie finanzielle Hilfen gewährt199. Darunter fallen einmalige globale Finanzhilfen, die anders als die Mittel aus den Struktur- und Kohäsionsfonds keiner Kofinanzierung bedürfen, aber zweckgebunden sind200. Der Fonds wird mit einer Obergrenze von einer Milliarde Euro jährlich ausgestattet201. Nach Art. 12 der VO 201/2002 legt die Kommission dem Rat zum 1. Juli einen jährlichen Bericht über die Tätigkeiten des Fonds vor. Die Solidarität zwischen Union und ihren Mitgliedern ist also auch in der Praxis vorhanden und nicht nur ein wirkungsloses normatives Prinzip. Die schnelle Errichtung des Solidaritätsfonds ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Indem solche direkten Hilfen in Notsituationen für die Betroffenen von der Union kommen, wird der Anspruch eingelöst, eine Union der Völker und Bürger zu sein. Solche Maßnahmen im Zeichen der gegenseitigen Solidarität sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer vertieften und bürgernahen europäischen Integration. 6. Ergebnis Im wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum wird die Frage eines europäischen Finanzausgleichs ausführlich diskutiert202. Dabei wird das Solidaritäts198 VO Nr. 2012/2002 des Rates vom 11. November 2002 zur Errichtung des Solidaritätsfonds der Europäischen Union, ABl. 2002, L 311/3. 199 1. Erwägungsgrund VO Nr. 201/2002. 200 Art. 3 VO Nr. 201/2002. 201 Interinstitutionelle Vereinbarung vom 7. November 2002 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Finanzierung des Solidaritätsfonds der Europäischen Union zur Ergänzung der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 6. Mai 1999 über die Haushaltsdisziplin und die Verbesserung des Haushaltsverfahrens, ABl. 2002, C 283/1. 202 Aus der jüngeren Literatur: Prokop, Finanzausgleich und europäische Integration, 1999; Kohl/Bergmann, Europäischer Finanzausgleich, 1998; Kraff, Finanzausgleich, 2000; Niermann, Welchen Finanzausgleich braucht Europa? 2002.

100

F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

prinzip als tragendes Element sowohl des bestehenden Systems als auch für einen zu schaffenden echten Finanzausgleich gesehen. Für die hier behandelte leistende Seite des Solidaritätsprinzips wird eine weitere Einteilung in eine Versicherungs- und eine Umverteilungssolidarität vorgeschlagen203. Die Versicherungssolidarität macht es erforderlich, dass bei außergewöhnlichen Ereignissen, die ein oder mehrere Mitgliedsländer in ihren Möglichkeiten überfordern, eine Unterstützung gewährleistet ist und auch gewährt wird204. Dies entspricht dem Solidaritätsprinzip und ist ein Ergebnis der wirtschaftlichen Verflechtung und Abhängigkeit untereinander. Wirtschaftliche und politische Integration bedeutet eben auch gegenseitige Hilfe in der Not. In den bestehenden Verträgen ist eine solche Versicherungssolidarität gewährleistet, indem Art. 100 Abs. 2 EGV finanziellen Beistand vorsieht und auch der VerfV sieht mit der Solidaritätsklausel eine noch weitergehende Unterstützungspflicht vor. Die zügige Hilfe nach den katastrophalen Überschwemmungen im Jahr 2002 durch die Gemeinschaft ist ein realer Beleg dafür, dass die Versicherungssolidarität funktioniert. Die Frage der Umverteilungssolidarität ist eng mit der Frage nach einem Finanzausgleich verknüpft. In einer allgemeinen Definition bedeutet Umverteilung eine nachträgliche Korrektur der primären Einnahmenverteilung der am Finanzausgleich beteiligten Körperschaften zugunsten eines Teils dieser Körperschaften205. Wie ausgeführt findet nach dem derzeitigen System eine solche Umverteilung fast ausschließlich auf der Ausgabenseite statt. Dabei profitieren die wirtschaftlich schwächsten Länder der Union. Es ist also mit den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds eine Umverteilungssolidarität vorhanden. Die Frage nach dem notwendigen Ausmaß der Umverteilung stellt sich an dieser Stelle noch nicht. Die Untersuchung hat gezeigt, dass das leistende Solidaritätsprinzip an mehreren Stellen im EG-Vertrag konkretisiert ist, insbesondere in den Kohäsionsvorschriften. Allerdings besteht kein bundesstaatlicher Finanzausgleich, also direkte finanzielle Zuwendungen an die ärmeren Mitgliedstaaten ohne Zweckbestimmung. Durch die verschiedenen Fonds tritt ein Umverteilungseffekt auf der Ausgabenseite zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Regionen und Gebiete ein. Im VerfV wird das Solidaritätsprinzip weiterentwickelt und konkretisiert, und auch die politische Praxis in der Gemeinschaft ist durch den Solidaritätsgedanken beeinflusst.

203

Niermann, S. 64 ff. Solche Ereignisse werden in der wirtschaftswissenschaftlichen Terminologie als „Schocks“ bezeichnet; vgl. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 100 EGV Rn. 5. 205 Niermann, S. 66. 204

V. Schuman-Plan und Montanunion

101

V. Schuman-Plan und Montanunion 1. Einleitung Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist fünfzig Jahre nach seinem In-Kraft-Treten ausgelaufen, und der Besitzstand wurde auf die übrig gebliebenen zwei Gemeinschaften verteilt. Dennoch kann auf eine Darstellung im Rahmen dieser Arbeit nicht verzichtet werden, da auch im EGKSV Hinweise auf ein Solidaritätsprinzip enthalten sind206. In vielen Bereichen kommt dem EGKSV eine zeitliche und konzeptionelle Vorreiterrolle zu, so dass es wichtig ist, dem Verständnis von Solidarität im EGKSV in gebotener Kürze nachzugehen. Der Vertrag über die Montanunion wurde am 18. April 1951 von Frankreich, Deutschland, Italien und den drei Beneluxstaaten unterzeichnet und ist damit der erste Versuch einer wirtschaftlichen Teilintegration der europäischen Volkswirtschaften. Bei der Auslegung des Vertrages muss die besondere historische Situation keine sechs Jahre nach dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs berücksichtigt werden207. Außerdem lassen sich strukturelle Unterschiede zwischen EGKSV und EGV feststellen208. Es soll zunächst die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950 in den Blickpunkt gerückt werden. Mit dem so genannten Schuman-Plan begann die europäische Einigung und die Erklärung enthält wichtige Gedanken, die unverändert Eingang in den EGKSV gefunden haben. Im Anschluss muss der Text des EGKSV unter dem Gesichtspunkt der Solidarität analysiert werden unter Berücksichtigung eines grundlegenden Urteils des EuGH zum Solidaritätsprinzip in der Montanunion. Abschießend und zusammenfassend soll die Bedeutung dieses ersten Integrationsvertrages für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft gewürdigt werden. 2. Schuman-Plan In der Erklärung der französischen Regierung über die Vereinigung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie durch Robert Schuman heißt es: „Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird unmittelbar die Grundlage gemeinsamer wirtschaftlicher Entwicklung schaffen als erste Etappe der europäischen Föderation. Die Solidarität der Produktion, die so entstehen wird, wird of-

206

Diesen Aspekt übersieht Hieronymi und geht nicht weiter auf den EGKS ein. Krawielicki, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), FS Möhring, S. 483 (506). 208 Dazu allgemein Krawielicki, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), FS Möhring, S. 483 ff.; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 3. 207

102

F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

fenbaren, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich sein wird.“209

Diese zwei Sätze enthüllen die Gestalt der auf Grundlage des Schuman-Plans ausgearbeiteten Montanunion. Einerseits wird die EGKS als erste Etappe einer europäischen Föderation betrachtet; sie ist also nur als Zwischenschritt gedacht210. Folglich ist der Kerngedanke des gesamten Vertrages die Errichtung einer in sich selbst ruhenden, mit eigener Hoheit ausgestatteten supranationalen Gemeinschaft211. Zum anderen spricht der französische Außenminister von einer „Solidarität der Produktion“. Das bedeutet, dass die grundlegenden Elemente der industriellen Produktion, zur damaligen Zeit waren dies Kohle und Stahl, allen Mitgliedsländern zu gleichen Bedingungen zur Verfügung stehen. Dieser Ansatz entsprach der Einschätzung Schumans, dass der Weg zu einem vereinten Europa sich nur durch das Erreichen vieler kleiner Integrationszwischenschritte realisieren ließ: „Ein geeintes Europa entsteht nicht auf einen Schlag; dazu bedarf es vieler kleiner Schritte“212. Die Montanunion war in diesem Sinne als erster Schritt gedacht. Die erklärte Absicht der französischen Initiative war es, eine vollständige und umfassende Teilintegration der als kriegsentscheidend eingeschätzten Industrien, d.h. der Stahlproduktion, zu erreichen213. Neben den wirtschaftlichen Motiven, Frankreichs Kokserzeugung war nicht autark und hatte zudem Interesse an der Absetzung seiner Industrieerzeugnisse, war vor allem die dauerhafte Friedenssicherung und eine Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses ausschlaggebend. Es waren politische Motive vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung, die den entscheidenden Anstoß für den Schuman-Plan gegeben haben. So sollte einer Verschärfung des belasteten deutsch-französischen Verhältnisses vorgebeugt werden, indem das französische Sicherheitsbedürfnis und das deutsche Interesse am Saarland zum Ausgleich gebracht wurden214. Angesichts der historisch-politischen Situation 1950 läutete die Schuman-Erklärung eine neue Epoche europäischer Geschichte ein und den Beginn der bis heute andauernden längsten Friedensperiode zwischen den beteiligten Staaten.

209

Abgedruckt in: Beck-Texte Europarecht, 9. Aufl., München 1989. So für den EWGV Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, S. 36: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft soll nach dem Willen ihrer Schöpfer Teil eines Aufbauwerkes sein, das zur Föderation führt“. 211 Ophüls, NJW 1951, 289. 212 Zitat nach Stern, in: Horn/Bauer/Stern (Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge, S. 8. 213 Vgl. ausführlich zur Entstehung der Montanunion Dichgans, Montanunion, S. 51 ff. 214 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 6 Rn. 18 f. 210

V. Schuman-Plan und Montanunion

103

3. EGKS-Vertrag a) Präambel Der Schuman-Plan bildete die Hauptgrundlage des elf Monate später unterzeichneten Vertrages über die Montanunion und enthielt bereits wesentliche Grundlagen der Union. So ist es wenig verwunderlich, dass sich auch der eben zitierte Gedanke der Solidarität in ähnlicher Form in der Präambel wieder findet215. Dort heißt es im dritten Erwägungsgrund: „Conscients que l’Europe ne se construira que par des réalisations concrètes créant d’abord une solidarité de fait et par l’établissement de bases communes de développement économique.“

Während der französische Originaltext von „solidarité de fait“ und die italienische Übersetzung von „solidarietà di fatto“ sprechen, heißt es in der deutschen Fassung etwas schlichter „tatsächliche Verbundenheit“. Grundsätzlich sind in der EG alle Sprachen der Mitgliedstaaten auch verbindliche Amtssprachen, so dass dies ein häufig auftauchendes Interpretationsproblem ist. Für den Bereich des EGV bestimmt Art. 314 EGV ausdrücklich, dass der Wortlaut des Vertrages in allen Amtsprachen der EG verbindlich ist. Der EuGH hat dazu die Regel entwickelt, dass im Zweifelsfall der Text in einer Amtssprache nur unter Berücksichtigung der anderen verbindlichen Sprachfassungen verstanden werden kann216. Es gilt die verschiedenen sprachlichen Fassungen einheitlich auszulegen. Falls dies dem Wortlaut nach nicht möglich ist, sind die systematische und die teleologische Auslegung der Wortlautinterpretation vorrangig217. Der EGKSV ist in dieser Hinsicht jedoch ein Sonderfall, denn gemäß Art. 100 ist lediglich die französische Fassung allgemein verbindlich218. Die sprachlichen Nuancen, die sich bei einem Vergleich der Begriffe „solidarité de fait“ und „tatsächliche Verbundenheit“ ergeben, müssen daher bei der Interpretation außer Acht gelassen werden. Wichtiger als semantische Unterschiede ist die inhaltliche Bedeutung. Die Mitgliedstaaten der Montanunion sind, der Schuman-Erklärung folgend, offensichtlich nicht davon ausgegangen, dass es zum damaligen Zeitpunkt eine Solidarität zwischen den europäischen Völkern allgemein oder auch nur den sechs Gründungsstaaten gegeben hat. Um das Projekt der Friedenswahrung und des wirtschaftlichen Fortschritts auf dem europäischen Kontinent zu verwirklichen, setzten sie auf eine wirtschaftliche Integration und politische Kooperation. An215

Monaco, in: Quadi/Monaco/Trabucchi (Hrsg.), Commentario, Preambolo, S. 31. EuGH, Rs. 9/79, Koschnike/Raad van Arbeid, Slg. 1979, 2717 Rn. 6. 217 EuGH, Rs. C-449/93, Rockfon/Specialarbejderforbundet i Danmark, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28. 218 B/P/P/S, S. 291 FN 35; vgl. auch Quadi/Monaco/Trabucchi (Hrsg.), Commentario, in dem der französische Vertragstext auf Italienisch analysiert wird. 216

104

F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

gesichts der unmittelbaren Kriegserfahrungen und der historischen Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich erscheint diese Idee auch im Rückblick noch als revolutionär219. Das Solidaritätsprinzip sollte schrittweise und gemeinsam entwickelt werden. An erster Stelle stand die Errichtung eines gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl und somit eine wirtschaftliche Teilintegration. Damit war die Hoffnung verbunden, dass dieser tatsächlichen, d.h. künstlich geschaffenen, vorgegebenen Solidarität, eine vertiefte Gemeinschaft der europäischen Völker folgen wird. Hier deutet sich zum ersten Mal die Methode an, die für die gesamte europäische Integrationsgeschichte zum Merkmal geworden ist. Die Rolle des Schrittmachers übernimmt das europäische Recht, indem es dynamisch und zielbezogen auf eine ständige Weiterentwicklung angelegt ist. Mit Hilfe des positiven Rechts wird eine tatsächliche Lage geschaffen, die gewissermaßen der Realität voranschreitet. Das Recht entsteht so nicht aus einer Rezeption der bestehenden Verhältnisse und Traditionen, sondern dient der Entwicklung einer Idee, die es in der Praxis erst noch zu verwirklichen gilt. b) Das Prinzip der Solidarität in den weiteren Regelungen des EGKS-Vertrages Mit der Montanunion wurde eine neue Rechtsordnung geschaffen, die nur vereinzelt und sehr begrenzt auf historische Vorbilder zurückgreifen konnte220. Ihr Kennzeichen war gemäß Art. 9 Abs. 5 und 6 EGKSV in der Fassung von 1951 der „caractère supranational“. Nach der Konzeption des Vertrages sollte die Kohle- und Stahlwirtschaft der nationalen Zuständigkeit vollständig entzogen und der supranationalen Kommission unterstellt werden221. Der beste Weg dafür ist die Errichtung einer supranationalen, d.h. mit eigener Hoheitsgewalt ausgestatteten, Gemeinschaft, die das gemeinsame Interesse vertritt. Die EGKS steht damit für das Anerkenntnis der Mitglieder, ausschließlich im vorgegebenen Rahmen die gemeinsamen Ziele zu verfolgen222. Ein solcher Vorrang der gemeinsamen Interessen vor den individuellen einzelstaatlichen Interessen ist in dieser Arbeit als ein Hauptbestandteil des Solidaritätsprinzips, die respektierende Solidarität, identifiziert worden. So beruht folglich auch die Konzeption der Montanunion auf dem Solidaritätsprinzip.

219 Matthies, in: Baur/Müller-Graff/Zuleeg (Hrsg.), FS Börner, S. 233 (234): „Wenn man die damalige Situation des Jahres 1950 der heutigen Lage der EG und Europas gegenüberstellt, kann man diese Einschätzung nur als prophetisch bezeichnen“. 220 Zu denken ist hier nur an die Internationale Donaukommission des 19 Jh. und das Internationale Zuckerabkommen von 1954. 221 Matthies, in: Baur/Müller-Graff/Zuleeg (Hrsg.), FS Börner, S. 233 (237); einen Überblick über die Entwicklung und Tätigkeiten für alle drei Gemeinschaften bis 1970 findet sich bei Sattler, JöR n. F. 19, 1970, S. 1–128. 222 Ipsen, Einzelstudien, S. 97 (102).

V. Schuman-Plan und Montanunion

105

Diese Interpretation deckt sich mit der Feststellung des EuGH, dass im EGKSV ein Prinzip der Solidarität vorhanden ist223. Das grundlegende Prinzip der Solidarität komme in der Präambel des Vertrages zum Ausdruck224. Es werde durch zahlreiche Vorschriften des EGKSV konkretisiert, insbesondere Art. 3, 49 ff., 55 Abs. 2, 56 und 53. Die Aufzählung dieser Vorschriften ist aufschlussreich für das Verständnis von Solidarität im EGKSV. Entscheidend für die Montanunion ist, wie erwähnt, der Vorrang des gemeinsamen Interesses vor den unterschiedlichen Interessen der Unternehmen und Staaten. Ausdruck dieses Ansatzes ist vor allem Art. 3, der den Organen der Gemeinschaft, „im gemeinsamen Interesse“ weitreichende Kompetenzen einräumt. Auch in der Präambel geben sich die Vertragsparteien entschlossen, „einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen“ zu bilden. Es zeigt sich also, dass das Solidaritätsverständnis des EGKSV gebietet, die eigenen Interessen zurückzustellen, um den Fortschritt aller und die Hebung des Lebensstandards für alle zu erreichen. Nach Ansicht des EuGH ist der Vorrang der gemeinsamen Interessen die Grundvoraussetzung für eine Pflicht zur Solidarität225. Aber auch die leistende Solidarität ist im EGKSV konkretisiert, insbesondere in den Wirtschafts- und Sozialbestimmungen im dritten Teil EGKSV. Dort erhält die Kommission die Befugnis, Investitions- und Förderungsmaßnahmen zu ergreifen. So kann vor allem Art. 56 EGKSV als Ausprägung des Solidaritätsprinzips betrachtet werden226. Wenn durch den technischen Fortschritt oder die wirtschaftliche Lage die Zahl der Arbeitsplätze in den beiden Industriebereichen abnimmt oder Unternehmen liquidiert werden, kann die Kommission auf Antrag der Staaten entweder Programme zur Schaffung von Arbeitsplätzen finanzieren oder nicht rückzahlungspflichtige direkte Finanzhilfen gewähren. Die Mittel dazu werden zum Teil durch Erhebung von Umlagen auf die Produktion von Kohle und Stahl oder durch Anleihen auf den Märkten der Mitgliedstaaten aufgebracht227. Damit gehen die Vorschriften des EGKS weit über die Möglichkeiten des EGV hinaus. Insbesondere kann die Kommission bei Krisen auf dem Stahl- und Kohlesektor auch intervenierend tätig werden gemäß der Art. 57 ff. EGKSV. Sie ist befugt, Höchst- und Mindestpreise auch für die Ausfuhr von Kohle und Stahl festzusetzen sowie Ein- und Ausfuhrzölle zu erheben. Zusätzlich kann sie, wenn diese Maßnahmen nicht greifen, bei einer offensichtlichen 223 EuGH, verbundene Rs. 154, 205, 206, 226 bis 228, 263 und 264/78 sowie 39, 31, 83 und 85/79. SpA Ferriera Valsabbia und andere/Kommission, Slg. 1980, I-907. 224 EuGH, verbundene Rs. 154, 205, 206, 226 bis 228, 263 und 264/78 sowie 39, 31, 83 und 85/79. SpA Ferriera Valsabbia und andere/Kommission, Slg. 1980, I-907 Rn. 59. 225 EuGH, verbundene Rs. 154, 205, 206, 226 bis 228, 263 und 264/78 sowie 39, 31, 83 und 85/79. SpA Ferriera Valsabbia und andere/Kommission, Slg. 1980, I-907 Rn. 59. 226 Dichgans, Montanunion, S. 377. 227 Art. 49 EGKSV.

106

F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

Krise ein Quotensystem festlegen, nach dem jedes Unternehmen nur eine bestimmte Menge Kohle und Stahl produzieren darf, Art. 58 EGKSV228. 4. Ergebnis In Conclusio bleibt damit festzuhalten, dass die Montanunion nicht nur in visionärer Weise eine neue Rechtsordnung geschaffen hat, sondern dass der Aspekt der Solidarität im EGKSV deutlicher und stärker ausgeprägt ist als im EGV229. Dies gilt für die leistende Seite des Solidaritätsprinzips und wird verständlicher, wenn man sich den grundlegenden Ansatz der Gemeinschaft für Kohle- und Stahl vor Augen hält. Es handelte sich um eine vollkommene Vergemeinschaftung in zwei Industriezweige, die, wenn auch zur damaligen Zeit einen sehr wichtigen, immer nur einen Teil der Wirtschaftsleistungen darstellen. Anstelle der nationalen Behörden und des nationalen Verwaltungsrechts tritt in diesen Bereichen eine supranationale europäische Behörde und ein europäisches Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht. Daraus erklären sich die umfassenden Befugnisse zur solidarischen Unterstützung, wie sie oben aufgezeigt worden sind. In der Europäischen Gemeinschaft, die sämtliche Wirtschaftszweige erfasst und eine Vollintegration aller nationalen Märkte anstrebt, ist ein solcher Ansatz nicht realisierbar. Insofern ist im EGV die leistende Seite des Solidaritätsprinzips schwächer betont230. Die Krisenklauseln des EGV in Art. 100 und 119 EGV verleihen keine Befugnis zur direkten Intervention durch die Gemeinschaft, wie dies in den Vorschriften der Art. 54 ff. EGKSV vorgesehen ist. Das Bemerkenswerte am Vertrag über die Montanunion ist, dass er bereits den Weg zu einer Ausdehnung der Union über den wirtschaftlichen Bereich hinaus weist. Er soll nur der erste Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft der Völker sein, so dass die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion eine erste Etappe auf dem Weg zu einer europäischen Föderation ist231. Das Gerüst einer solchen Union bildet das Solidaritätsprinzip als stärkstes normatives Einigungsband. Dieser Ansatz ist durch den EGV wieder abgeschwächt worden. Eine politische Finalität klingt dort nicht mehr an. In der Präambel liegt der Schwerpunkt auf der wirtschaftlichen Integration im Sinne der Friedens- und Freiheitswahrung und einer stetigen Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der europäischen Völker. Erst mit der Errichtung der Europäischen Union liegt wieder ein Vertrag vor, der die Frage 228

Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 2939 ff. Ein Hinweis dafür ist auch die Finanzierung der Montanunion. Im Gegensatz zur EG ist die EGKS eine finanziell autonome supranationale Organisation, die über Finanzhoheit bei Einnahmen und Ausgaben verfügt. Vgl. dazu Meermagen, Beitragsund Eigenmittelsystem, S. 122 ff. 230 Vgl. die Ausführungen im Kapitel F. VI. 231 5. Erwägungsgrund Präambel EKGSV und 3. Absatz Schuman-Deklaration. 229

VI. Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft

107

nach der politischen Finalität wieder anstößt und zur Diskussion anregt232. Diese Debatte hat sich im Vorfeld der Osterweiterung und mit der Aussicht auf eine europäische Verfassung in den letzten Jahren beschleunigt und verschärft. Rückblick und Vergleich zeigen, dass das Solidaritätsprinzip schon im EGKSV in eine Richtung weist, die mit dem EUV wieder aufgenommen und weiterentwickelt worden ist. Es geht um mehr als die wirtschaftliche Vollintegration, die mit Errichtung des Binnenmarktes und Einführung des Euro verwirklicht scheint. Nach Erreichung dieser Ziele soll die politische Vergemeinschaftung gefestigt und in allen Bereichen herausgebildet werden. Hier gilt es die respektierende Seite des Solidaritätsprinzips in Erinnerung zu rufen. Mangels einer tatsächlich vorhandenen Solidarität der europäischen Völker gebietet es das Prinzip, als gemeinsam definierte Ziele im gemeinsamen Verbund unter Geltung des Vorrangs des Gemeinwohls zu verfolgen. Dabei behält auch nach seinem Auslaufen der Ansatz des EGKSV Gültigkeit, dass nur durch konkrete Integrationsleistungen eine Solidarität der europäischen Völker entstehen kann. Die Solidarität muss für den einzelnen sichtbar werden, wie bei der Hilfe für die Überschwemmungsopfer 2002, damit auch eine Solidargemeinschaft der Bürger entsteht.

VI. Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Der Euratom-Vertrag ist neben dem EGV der zweite Bestandteil der Römischen Verträge vom 25. März 1957. Der Abschluss beider Verträge stand im Zeichen der Suezkanal-Krise, des Ungarn-Aufstandes und des Erfolges der Montanunion und bedeutete nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ein Wiederaufleben der europäischen Einigungsbemühungen233. Im Euratom-Vertrag geht es ausschließlich um die Förderung und Erforschung der friedlichen Nutzung der Kernenergie, auch um die Abhängigkeit der auf Erdöl beruhenden Energieversorgung zu verringern. Insofern handelt es sich hier um einen sehr technischen und hoch spezialisierten Industriezweig. Die Konzeption des Euratom-Vertrages, Aufgaben und Anzahl der Organe decken sich mit den beiden anderen Verträgen. Die Euratom hat Rechtspersönlichkeit nach Art. 184 EAGV und zeichnet sich durch ihren supranationalen Ansatz aus. Beim EGKSV hat sich gezeigt, dass zwischen dem Merkmal der Supranationalität und dem Solidaritätsprinzip eine enge Verknüpfung besteht. Die suprana232 Art. 1 Abs. 2 EU stellt fest: „Dieser Vertrag stellt ein neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden“. 233 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 6 Rn. 20 ff.; zu den Anfängen der EAG vgl. Weilemann, Anfänge der EAG, 1983.

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F. Das Solidaritätsprinzip in den Verträgen der EG

tionale Ausgestaltung sichert die Wahrung des gemeinsamen Interesses. Auch im EAGV ist das gemeinsame Interesse durch die Vertragsziele definiert und sichergestellt, dass eine unabhängige, mit Hoheitsgewalt ausgestattete Behörde die Ziele verfolgt. Dies deutet auch für die Montanunion auf eine Geltung des Solidaritätsprinzips hin. Im Text des Vertrages wird der Begriff der Solidarität selber aber nicht verwandt. Das entscheidende Argument findet sich in Art. 192 EAGV. Dort wird wortgetreu das Gebot der Loyalität, wie es in Art. 10 EGV enthalten ist, wiedergegeben. Voraussetzung und Grundlage der Gemeinschaftstreue ist, wie gezeigt, das Solidaritätsprinzip. Das Solidaritätsprinzip ist damit als Grundbaustein auch im Euratom-Vertrag enthalten. Die leistende Seite steht dabei hinter der respektierenden Seite deutlich zurück. In diesem hoch spezialisierten Bereich geht es mehr um die Förderung der Forschung, Entwicklung einheitlicher Sicherheitsstandards, Gesundheitsschutz der Bevölkerung und Arbeitskräfte usw. als um den wirtschaftlichen Austausch von Gütern.234. Die Unterstützung in Krisenzeiten spielt hier eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist vielmehr, dass eine gemeinsame Forschung und Entwicklung der friedlichen Nutzung von Kernenergie betrieben und von den Mitgliedstaaten anerkannt und gefördert wird.

VII. Gesamtergebnis In der Einleitung wurde die Frage gestellt, was Solidarität bedeutet. Für den Bereich der Europäischen Gemeinschaften hat sich nun eine Antwort ergeben. Dort hat sich Solidarität als grundlegendes Strukturprinzip erwiesen. Das Solidaritätsprinzip im EGV begründet die gegenseitigen Beziehungen von Mitgliedstaaten, Völkern, Bürgern und der EG, indem es für das Anerkenntnis des gemeinsamen Interesses steht. Es hat in Art. 2 EGV seinen normativen Anknüpfungspunkt. Diese Vorschrift muss erweitert ausgelegt werden, damit das Vertragsziel der Förderung der Solidarität nicht auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander beschränkt bleibt. Zu einem umfassenden Rechtsprinzip wird die Solidarität erst durch einen Vergleich mit dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue und Art. 10 EGV. Hier zeigt sich, dass es eine zweidimensionale und gegenseitige Pflicht zur Solidarität gibt, sowohl zwischen EG und Mitgliedstaaten in der vertikalen Ebene als auch unter diesen, also horizontal. Dabei begründet das Solidaritätsprinzip diese Pflicht, während der Grundsatz der Loyalität die Art und Weise der Beziehungen ausgestaltet. Beide sind dergestalt miteinander verbunden, dass die Treuepflicht akzessorisch zum Solidaritätsprinzip ist. Das Solidaritätsprinzip schreibt vor, dass alle Seiten die Vertragsziele zu fördern haben. Dort, wo sich ein Vorrang dieser Ziele ergibt, z. B. im Bereich des Binnenmarktes, können dann die nationalen Interessen nur nachrangig oder 234

Vgl. die Aufzählung in Art. 2 EAGV.

VII. Gesamtergebnis

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ausnahmsweise berücksichtigt werden. Die Loyalitätspflichten konkretisieren nun diesen allgemeinen Vorrang, indem sie im Einzelfall Abstimmungs-, Konsultations- und auch Unterlassungspflichten darstellen. Die leistende Solidarität zeigt sich deutlich in den Kohäsionsvorschriften des EGV. Insbesondere entsteht durch das Solidaritätsprinzip die Pflicht, dass in der Gemeinschaft eine bedingte Umverteilung zur Unterstützung der wirtschaftlich schwächeren Länder und Regionen zu erfolgen hat. Dieser Anspruch besteht dem Grunde nach, es lassen sich aber keine konkreten Vorgaben für die Art, Weise und Höhe der Mittel aus der Solidarität ableiten. Im EGKSV ist das Solidaritätsprinzip am stärksten ausgeprägt. Dort manifestiert es einen Vorrang des gemeinsamen Interesses, der grundsätzlich und generell gilt. Außerdem ist die leistende Seite des Solidaritätsprinzips besonders ausgeprägt, indem der Kommission weitreichende Kompetenzen zur finanziellen Unterstützung und Intervention in Krisenzeiten eingeräumt worden sind.

G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die Europäische Union I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht Der am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichnete Vertrag über die Europäische Union erwähnt den Begriff der Solidarität explizit und an prominenter Stelle. Bereits die Präambel bestätigt die Übereinkunft der damaligen Zwölfergemeinschaft „die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition zu stärken“1. Ferner weist der dritte Absatz von Art. 1 EUV im zweiten Satz der Union die Aufgabe zu, „die Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten“. Schließlich findet sich in den Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im zentralen Art. 11 Abs. 2 EUV folgende Aussage: „Die Mitgliedsstaaten unterstützen die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und gegenseitigen Solidarität“. Der Terminus der Solidarität in seiner Verwendung sowohl als Adjektiv als auch als Substantiv ist offenbar ein Kernelement der politischen Union. Im Gegensatz zum EGV wird er mehrfach verwendet und scheint so bei den Vertragsverhandlungen zur EU eine stärkere Rolle gespielt zu haben. Die Europäische Union stellt nach ihrem Selbstverständnis „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar“2. Mit ihrer Errichtung wurde ein weiterer, wesentlicher Integrationsschritt unternommen. Während der EGV primär eine wirtschaftpolitische Zielsetzung hatte, ist die Union Ausdruck eines politischen Einigungswillen der Mitgliedstaaten. Es wurde bereits gezeigt, dass schon die historische Grundkonzeption aller Gemeinschaften darauf angelegt war, durch einen „spill-over“-Effekt3 eine politische Union zu schaffen4. Dieser Gedanke ist mit der Errichtung der EU wieder aufgenommen worden. Dadurch stellt sich die Frage, ob sich das Verständnis 1

Präambel EUV, 5. Erwägungsgrund. Art. 1 Abs. 2 EUV. 3 Damit ist gemeint, dass eine funktionierende und vollkommene wirtschaftliche Integration in einem gemeinsamen Markt schließlich auch zu einer politischen Integration der Mitgliedstaaten führen würde. Die Erfolge des Binnenmarktes sollten also in andere Bereiche der Zusammenarbeit „überlaufen“. 4 Insbesondere der EGKSV war in dieser Hinsicht als bloßer Zwischenschritt für eine politische Union gedacht; vgl. Kapitel F. V zur Montanunion. 2

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

111

von Solidarität durch den EUV verändert oder erweitert hat. Eine politische Gemeinschaft ist vielmehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft darauf angewiesen, dass ihre Ziele und Interessen anerkannt und verfolgt werden. Außerdem treten in der Union die europäischen Völker und der einzelne Bürger stärker in den Vordergrund. Ein taugliches Bindeglied und eine Legitimationsgrundlage kann insofern das Solidaritätsprinzip sein. Es fragt sich, ob dieser Ansatz mit dem EUV verwirklicht worden ist. 1. Entwicklungsgeschichte a) Regierungskonferenzen 1990/91 Der Vertrag über die EU ist das Ergebnis eines bereits 1972 bekundeten Willens der Staats- und Regierungschefs, „die Beziehungen der Mitgliedsstaaten in eine Europäische Union umzuwandeln“5. Der Vertag in der Form von Maastricht beruht auf den Vorarbeiten zweier Regierungskonferenzen zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union. Die Einrichtung der Regierungskonferenz über die politische Union wurde durch eine gemeinsame deutsch-französischen Initiative vom 18. April 1990 angestoßen. Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident Françoise Mitterand sahen vor dem Hintergrund der deutschen Einheit und des Zusammenbruchs der Ostblockstaaten die Notwendigkeit gekommen, „den politischen Aufbau des Europas der Zwölf“6 zu beschleunigen. Es sollte also neben dem Ziel der Errichtung eines liberalen Binnenmarktes ohne innere Grenzen und die Schaffung einer neuen Währung zugleich ein politischer Verband geschaffen werden. Zu der wirtschaftlichen Integration sollte auch die Außen- und Verteidigungspolitik Bestandteil der Union sein. Damit wurde ein Pfad wieder betreten, der 1954 verlassen worden war. Damals scheiterte der erste Versuch einer politisch-integrierten Union in Form der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft am Widerstand der französischen assemblée nationale7. Die EVG sollte ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Erreichung des in der Präambel des EGKS-Vertrages zum Ausdruck kommenden Ziels sein, „durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft“8 auch in anderen Bereichen zu legen. Nach den Vorstellungen Mitterands und Kohls sollte diese Union auf der Solidarität beruhen: 5

Vgl. Schlusskommuniqué der Pariser Gipfelkonferenz vom 19. Oktober 1972. Vgl. Text der gemeinsamen Initiative in Weidenfeld, Maastricht, S. 103 f. 7 s. dazu die Dokumentation „Der Kampf um den Wehrbeitrag“, Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik e. V. Mainz, 1. Halbband 1952, 2. Halbband 1953, Ergänzungsband 1958; Röper/Issel, ZRP 2003, 397. 8 Vgl. Präambel EGKSV, 5. Erwägungsgrund. 6

112

G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

„Wir drücken den Wunsch aus, dass die Regierungskonferenz die Grundlagen und die Strukturen einer starken und solidarischen Politischen Union festlegt, die bürgernah ist und entschlossen den Weg geht, der ihrer föderalen Berufung entspricht.“9

Zuvor hatte bereits die griechische Delegation vorgeschlagen, dass „the principle of Community solidarity“ in einem eigenen Artikel des neuen Vertrages niedergelegt werden sollte10. Ebenso betonten die portugiesischen Vertreter, dass die richtige Anwendung der beiden Aspekte Subsidiarität und Solidarität in der Union gewährleistet werden müsse11. Mit diesen Forderungen stimmen dann auch die Schlussfolgerung des Vorsitzes des Europäischen Rates bei seiner Tagung in Rom am 14./15. Dezember 1990 überein: „Der ER hat die nachfolgenden Schlussfolgerungen genehmigt: . . . Grundlagen der Union bilden die Solidarität zwischen ihren Mitgliedstaaten, die umfassende Verwirklichung der Wünsche ihrer Bürger, der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Verantwortlichen der einzelnen Staaten und der Gemeinschaft und zwischen den Organen . . .“12

Auch das Europäische Parlament stimmt in seiner Entschließung zur Vorbereitung der Sitzung des Europäischen Rates in Maastricht dem Gedanken zu, „die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Ländern der Gemeinschaft in eine echte Europäische Union umzuwandeln, um die Grundlagen und Strukturen eines starken, solidarischen und bürgernahen Europas, das den durch seine föderative Berufung vorgegebenen Weg beschreitet, zu definieren.“13

Auf dem Weg zum Vertrag von Maastricht wurde dann der Gedanke der Solidarität von der luxemburgerischen Präsidentschaft in der ersten Hälfte 1991 weitergeführt14, während ihr niederländischer Nachfolger erst zum Schluss eine Bestimmung über die Solidarität wieder einführte15. Den handelnden Akteuren auf allen Ebenen der Europäischen Gemeinschaft war es offenbar ein Anliegen, den solidarischen Charakter der zu errichtenden 9 Vgl. Text der gemeinsamen Erklärung, abgedruckt in: Weidenfeld, Maastricht, S. 115 ff. 10 Vgl. den griechischen Vorschlag zu den Diskussionen über die Entwicklung einer Europäischen Union, zitiert nach Marias, LIEI 1994, 103. 11 Vgl. den portugiesischen Vorschlag zu den Diskussionen über die Entwicklung einer Europäischen Union, zitiert nach Marias, LIEI 1994, 103. 12 Vgl. Text der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates, abgedruckt in: Weidenfeld, Maastricht, S. 239 ff. 13 Vgl. Text der Entschließung vom 10. Oktober 1991, abgedruckt in: Weidenfeld, Maastricht, S. 157 ff. 14 Art. A des Vertragsentwurfs: Aufgabe der Union ist es, die Gesamtheit der Beziehungen zwischen ihren Mitgliedstaaten kohärent und solidarisch zu gestalten und für eine schrittweise Verwirklichung eines immer engeren Zusammenschlusses zu sorgen. Agence Europe, Dokument Nr. 1722/1723, 5. Juli 1991. 15 Vgl. den ersten Entwurf vom 30. November 1991 in Agence Europe, Dokument Nr. 1733/1744 und den endgültigen Entwurf vom 13. Dezember 1991 in Agence Europe, Dokument Nr. 1750/1751.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

113

politischen Union festzustellen und deshalb ein Solidaritätsprinzip zu normieren16. Was konkret unter dieser unionsrechtlichen Solidarität zu verstehen ist, erschließt sich dabei jedoch nicht. Es fehlt jeder Hinweis darauf, ob damit z. B. die Unterstützung der wirtschaftlich schwächeren Staaten gemeint ist oder eine allgemeine Verpflichtung auf ein europäisches Gemeinwohl. Vielmehr erscheint Solidarität als Grundvoraussetzung für die Errichtung einer politischen Union, die nur bestehen kann, wenn sich die in ihr verbundenen Mitgliedsstaaten solidarisch verhalten. Damit wird eine solche Union zum Manifest einer europäischen Solidarität, deren konkreter Inhalt noch zu bestimmen bleibt. Das Auftauchen des Begriffes in den politischen Dokumenten zeugt zunächst davon, dass Solidarität einem unverbindlichen politisch-ethischen Appell gleichkommt, einer Beschwörung der politischen Union, um dieser zum Erfolg und zu Akzeptanz zu verhelfen. Abgesehen vom Vorschlag der griechischen Delegation, die explizit ein Solidaritätsprinzip im Primärrecht verankern wollte, ist damit für die Feststellung eines Rechtsprinzips der Solidarität noch nicht viel gewonnen. Es lässt sich allenfalls ein politischer Wille für eine solidarische Union feststellen. b) Tindemans Bericht Konkretere Aussagen zum Aspekt der Solidarität enthalten zwei für die Entwicklung der Europäischen Union entscheidende Dokumente. Der Tindemans Bericht von 1975 über die Europäische Union beschreibt die Rahmenbedingungen für die Gestaltung derselben aufgrund der Erwartungen der europäischen Völker. Es gehe darum, „der faktischen Solidarität unserer Volkswirtschaften, unserer Finanzen und unseres sozialen Lebens eine organische Form“17 zu geben. „Ein demokratisches, solidarisches Europa, das den Menschen zu seinem Hauptanliegen macht“18 sei das Ziel. Unter der Überschrift „konkrete Solidarität“ verdeutlicht Tindemans dann seine Vorstellung von Solidarität19. Solidarität in diesem Sinne steht also für eine generelle Grundhaltung der europäischen 16

Vgl. auch den eben zitierten Vorschlag der griechischen Delegation, FN 10. Vgl. Text des Tindemans Bericht, abgedruckt in: Weidenfeld, Materialien zur Politischen Union, S. 314; Bulletin EG Beilage 1/1976, S. 1 ff. 18 Vgl. Text des Tindemans Bericht, abgedruckt in: Weidenfeld, Materialien zur Politischen Union, S. 314. 19 „Die Öffentlichkeit in unseren Ländern wünscht kein technokratisches Europa. Die Europäische Union muss im täglichen Leben fühlbar werden und bürgernah sein. Sie muss in Bildung und Kultur, Information und Nachrichtenwesen, Jugendbetreuung und Freizeitgestaltung ihren Ausdruck finden. Sie muss die rechte des einzelnen schützen und durch Institutionen, die ihre Legitimität aus dem Willen unserer Völker herleiten, die Demokratie stärken. Das Bild Europas muss den zugrunde liegenden Bestrebungen und den realen Möglichkeiten entsprechen und nach innen wie außen die Solidarität unserer Völker und Werte unserer Gesellschaftsordnung unter Beweis stellen. Ich bin überzeugt, dass es diesem Europa, dem Europa des Fortschritts, weder an 17

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Völker. Es ist der Überbau einer Europäischen Union, deren Aufgabe es sein muss, das Projekt der europäischen Integration für den Einzelnen vorteilhaft zu gestalten. Die Vergemeinschaftung der Wirtschaft durch die Europäischen Gemeinschaften führte zu einer vorgegebenen Solidarität. Für eine darüber hinausgehende politische Union ist nun, wenn man Tindemans Ausführungen richtig versteht, eine neue Form einer solidarischen Gemeinschaft notwendig. Zum Ziel für die Union wird damit „die Konkretisierung der europäischen Solidarität durch äußere Zeichen, die im täglichen Leben greifbare Wirklichkeit sind“20. Dem folgend schlägt Tindemans vor, neben der Einführung eines europäischen Passes die Abschaffung der Personenkontrollen, Verbesserung der Verkehrswege und Beseitigung der Tarifdiskriminierungen zwischen den Verkehrsund Fernmeldewesen verschiedener Staaten, vereinfachte Erstattung von Kosten für ausländische Heilbehandlungen, eine stärkere Verflechtung des Bildungswesens mit dem Ziel einer gegenseitigen Anerkennung von Studienabschlüssen. Europäische Solidarität meint also offenbar verstärkte Integration. Der faktischen Verbundenheit der Völker soll eine tatsächliche folgen, so dass der einzelne Bürger dies im alltäglichen Leben wahrnehmen kann. Solidarität wird damit zum Integrationsprogramm. Ziel der Integration ist die Förderung des Wohles aller, also eines europäischen Gemeinwohls. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht mehr die Staaten, sondern die Bürger der Union. Viele dieser Vorschläge sind inzwischen Realität geworden wie die Abschaffung der Personenkontrollen und die Unionsbürgerschaft. Auch wenn das eigentliche Ziel einer tatsächlichen und nicht nur faktischen Solidarität der Bürger und Völker wohl noch nicht erreicht ist, so setzt der Tindemans Bericht doch ein frühes Ausrufezeichen in diese Richtung. c) Entwurf des EP zu einem Vertrag über die Europäische Union Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer Europäischen Union war der Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union durch das Europäische Parlament im Frühjahr 198421. Dort findet sich in der Präambel im sechsten Erwägungsgrund eine Aussage, die bereits der im Vertrag von Maastricht enthaltenen Formulierung sehr ähnlich ist: „Entschlossen, die Solidarität zwischen den europäischen Völkern unter Achtung ihrer historischen Persönlichkeit, ihrer Würde und ihrer Freiheit im Rahmen von freiwillig akzeptierten gemeinsamen Institutionen zu stärken.“ Kraft noch an Dynamik mangeln wird“. Vgl. Text des Tindemans Bericht, abgedruckt in: Weidenfeld, Materialien zur Politischen Union, S. 314. 20 Vgl. Text des Tindemans Bericht, abgedruckt in: Weidenfeld, Materialien zur Politischen Union, S. 338. 21 Dazu ausführlich: Schwarze/Bieber, Verfassungsentwicklung, 1984; Capotorti/ Hilf/Jacobs/Jacqué, Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, 1986.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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Zu den Zielen der Union gehört ebenfalls, „eine wirtschaftliche Entwicklung ihrer Völker im Rahmen eines freien Binnenmarktes bei stabiler Währung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und stetigem Wirtschaftswachstum, ohne unterschiedliche Behandlung der Staatsangehörigen und Unternehmen der verschiedenen Mitgliedsstaaten dadurch herbeizuführen, dass sie die Fähigkeit der Staaten, ihrer Bürger und Unternehmen zur solidarischen Anpassung ihrer Strukturen und Tätigkeiten an die wirtschaftlichen Änderungen stärkt.“22

Im Verständnis dieser Aussage ist also die Union dazu berufen, die Solidarität zu stärken, um eine wirtschaftliche Prosperität für ihre Völker zu ermöglichen. Genannt werden auch gleich die Adressaten, nämlich Staaten, natürliche und juristische Personen. Jeder soll solidarische Anpassungen vornehmen, damit die mit dem Aufbau des Binnenmarktes einhergehenden Veränderungen bewältigt werden können. Dies kann eigentlich nur heißen, dass Solidarität von Staaten und jedem Bürger Beiträge fordert, zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles. Wenn damit das gemeinsame Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung aller Völker an erster Stelle steht, bedeutet diese Aussage auch, dass kurzfristige Nachteile solidarisch in Kauf genommen werden müssen. Anderenfalls funktioniert diese Union nicht, denn ohne solidarische, also gemeinnützige und nicht eigennützige, Beiträge kann es nicht zu einer wirtschaftlichen Entwicklung kommen, die auf lange Sicht für alle vorteilhaft ist. Die erforderlichen Beiträge zur gegenseitigen Solidarität werden zunächst nicht genannt. In den nachfolgenden Bestimmungen wird jedoch deutlich, dass dahinter der Leitgedanken der leistenden Solidarität steckt23. Art. 73 des Entwurfes sieht einen reinen Finanzausgleich „zur Verringerung der Ungleichgewichte in der Wirtschaftskraft der Regionen“ vor und Art. 71 normiert eine Art Steuererhebungskompetenz, „die Art oder die Bemessungsgrundlage der bestehenden Einnahmen“ zu ändern und „neue Einnahmen“ zu schaffen. Dadurch hätte die Union über eine eigene Steuerhoheit verfügt. Diese weitreichende Kompetenz wird lediglich in der Präambel mit der Erwähnung der„historischen Persönlichkeit, Freiheit und Würde der Völker“ eingegrenzt. Damit ist nichts anderes gemeint als es die treffenderen Worte in der Präambel des Maastrichtvertrages ausdrücken, dass die EU nur „unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen“24 Solidarität einfordern könne. Die Höhe der finanziellen Solidarbeiträge steht so aber vollkommen im Ermessen der Union nach den Vorstellungen des Parlamentsentwurfes.

22 Vgl. Art. 9 des Entwurfs, abgedruckt in: Weidenfeld, Materialien zur Politischen Union, S. 359. 23 So auch Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (742 f.). 24 Präambel EUV, 5. Erwägungsgrund.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

d) Ergebnis Der Rückblick auf die Entwicklung des Solidaritätsgedankens im Zuge der europäischen Integration hat gezeigt, dass als Grundlage einer politischen Union der Staaten die Solidarität der Staaten und Völker angesehen worden ist und wird. Die faktische Solidarität der europäischen Volkswirtschaften, wie sie Grundlage des EGV ist, ist zu großen Teilen verwirklicht worden. Gibt es nun einen Unterschied zwischen einer faktischen, vorgegebenen Solidarität und dem Solidaritätsverständnis der Union? Der Aspekt der finanziellen Unterstützung findet sich in beiden Konzepten. Der Unterschied könnte jedoch darin liegen, dass in der Union nun der Bürger in den Mittelpunkt rückt. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass eine weitere, vertiefte Integration über den wirtschaftlichen Bereich hinaus nur möglich ist, wenn sich der Einzelne mit der Union identifizieren kann. Deshalb muss sich das Solidaritätsprinzip auch auf die Beziehungen der Völker und Bürger untereinander erstrecken. Die Hoffnung von Tindemans ist dabei, dass durch eine weitgehende Integration zentraler Lebensbereiche sich die Solidarität unter den Völkern von selbst einstellt. In diesem Sinne steht die Solidarität in der Union für eine verstärkte Integration. Nach der wirtschaftlichen Zusammenführung soll nun die gesellschaftliche und politische folgen. Solidarität wird damit zum Integrationsprogramm. Ziel der Integration ist die Förderung des Wohles aller, also eines europäischen Gemeinwohls. Dafür ist die Bereitschaft zur Solidarität auf allen Ebenen erforderlich. 2. Präambel EUV Wie bereits gezeigt, wird der Begriff der Solidarität in der Präambel des EU Vertrages an exponierter Stelle verwendet. Welche Schlüsse für das Verständnis von Solidarität im EUV lassen sich daraus ziehen? Zunächst muss dafür der fünfte Erwägungsgrund ausgelegt werden25. Danach muss geklärt werden, inwieweit Aussagen der Präambel dazu beitragen können, ein Rechtsprinzip der Solidarität zu konstituieren. Das schließt die Frage nach der rechtlichen Bedeutung einer Präambelaussage mit ein. Abschließen kann dann eine erste Begriffsbestimmung des Solidaritätsprinzips im Unionsvertrag vorgenommen werden. a) Zur Auslegung europäischen Rechts Grundsätzlich gelten für die Auslegung des europäischen Primärrechts die schon aus dem nationalen Recht bekannten Canones der Auslegung26. Aller25 Im Maastrichtvertrag war dies der vierte Erwägungsgrund. Durch den Amsterdamer Vertrag wurde dann eine Aussage über die sozialen Grundrechte davor geschoben.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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dings erfolgt dabei eine unterschiedliche Gewichtung von grammatikalischer, systematischer, teleologischer und historischer Auslegung durch den EuGH. Der Wortlaut wird vom EuGH nur selten als entscheidendes Argument angeführt. Aufgrund der mit der Vielzahl der offiziellen Sprachen verbundenen sprachlichen Nuancen und Mehrdeutigkeiten scheint dies konsequent. Im Vordergrund und von überragender Bedeutung ist die systematisch-teleologische Auslegung des Primärrechts27. Die Ziele der Verträge sind also für die Auslegung essentiell. Damit einher geht eine stärkere objektive Auslegung, als sie z. B. im Völkerrecht üblich ist. Das stärkste Zeichen dafür ist die Tatsache, dass der EuGH bei der Auslegung von Primärrecht die Entstehungsgeschichte niemals ausdrücklich heranzieht28. So kommt es zu einer dynamischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Die Auslegung orientiert sich dabei an vom Gerichtshof entwickelten Kriterien, die zu einer gemeinschaftsrechtlichen Dogmatik geführt haben. Dies begründet der EuGH mit den Eigenständigkeiten und Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts. Durch den EG-Vertrag ist eine eigene Rechtsordnung geschaffen worden, die als Verfassung der Gemeinschaft bezeichnet wird. Die Folge ist eine unbedingt einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts und der Vorrang vor jedem nationalen Recht. Die Funktionsfähigkeit dieser Rechtordnung gilt es nach Ansicht des EuGH zu sichern, so dass das Gericht immer wieder auf das Prinzip des effet utile29 und den Grundsatz in dubio pro communitate zurückgreift. Die Auslegungsmethoden des EuGH unterscheiden sich dadurch deutlich von den völkerrechtlichen Interpretationsregeln30. Es bestehen grundsätzlich keine Bedenken, diese für das Gemeinschaftsrecht gewonnenen Auslegungsgrundsätze auf das Unionsrecht zu übertragen. Damit soll keine Aussage bezüglich dem Verhältnis der beiden Rechtsordnungen getroffen werden. Deshalb können die Grundsätze, die auf der Eigenart der EG beruhen, nur bedingt für eine Auslegung des Unionsrechts nutzbar gemacht werden. Die übrigen Auslegungsmethoden sind aber voll anwendbar. Damit ist insbesondere die systematisch-teleologische Auslegung der Verträge gemeint, die für den EUV in gleicher Weise von Bedeutung ist. Dies zeigt vor allem auch die ähnliche Struktur von EUV und EGV mit der Voranstellung der wesentlichen Ziele in den ersten Artikeln31.

26 Vgl. zur Auslegung allgemein Bleckmann/Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EUWirtschaftsR, B. I Rn. 5 ff. 27 Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rn. 453. 28 Bleckmann/Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, B. I Rn. 40; Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1178). 29 EuGH, Rs. 8/55, Fédéchar, Slg. 1955/56, 312. 30 Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion, S. 189; Oppermann, Europarecht, Rn. 681. 31 Eine umfassende Analyse der Zielbestimmungen und ihrer Gemeinsamkeiten nimmt Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 99 ff. vor.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

b) Auslegung der Präambel EUV Die Mitgliedstaaten der Union äußern in der Präambel des EU Vertrages den Wunsch, „die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition zu stärken“. Die Formulierung erfolgt in dem für alle Präambeln des europäischen Primärrechts typischen hohen Sprachduktus32. Um die Stellung und Bedeutung der Solidarität innerhalb der Präambel herauszuarbeiten, ist ein Vergleich mit den übrigen Erwägungsgründen sinnvoll. Während sich dort die Vertragsparteien „entschlossen“33 zeigen, „in dem festen Willen“34 und „in Bestätigung“35 ihrer wesentlichen Ziele voranzuschreiten, äußern sie bezüglich der gegenseitigen Solidarität zwischen den Völkern lediglich den frommen Wunsch, diese zu stärken. Die gleiche unverbindliche Formulierung findet sich im anschließenden Erwägungsgrund, wo der Wunsch ausgedrückt wird, die „Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken“. Des Weiteren ist das Ziel der gegenseitigen Solidarität noch mit dem Vorbehalt versehen, die Geschichte, Kultur und die Tradition der Völker zu beachten36. In den anderen Erwägungsgründen findet sich kein vergleichbarer Vorbehalt. So erscheint das Konzept der Solidarität in der Präambel mehr ein Wunsch, als ein verbindliches Ziel der Union zu sein. Außerdem soll die Stärkung der Solidarität nicht auf Kosten der nationalen Identität geschehen. Dadurch wird der Konflikt zwischen Ausbau der Europäischen Union, d.h. mehr Vergemeinschaftung und mehr Kompetenzen für die Union, einerseits und der Furcht vor einem schleichenden Verlust der eigenen Staatlichkeit durch die Errichtung der politischen Union andererseits deutlich37. Die Einschränkung im fünften Erwägungsgrund Präambel EUV wird normativ verpflichtend durch Art. 6 Abs. 3 EUV: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“. In diesem Spannungsfeld zwischen gemeinschaftlichem und einzelstaatlichem Interesse scheint letzteres den Ausschlag zu geben. Einerseits wird das Ziel einer immer engeren Union der Völker Europas postuliert. Durch die Gründung der Europäischen Union soll eine neue Stufe der europäischen Integration erreicht werden. Diese neue Form des politischen im Gegensatz zum vor allem wirt32 Zu einer europäischen Präambeltheorie vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 276 ff. 33 Vgl. 1., 7., 9., 10., 11., 12. Erwägungsgrund Präambel EUV. 34 8. Erwägungsgrund. 35 3. und 4. Erwägungsgrund. 36 Am Sinngehalt dieses Vorbehalt zweifelt Zuleeg: „Hier sind Vorbehalte angefügt, die dem kulturellen Bereich entstammen, der doch von Anstrengungen zur Solidarität kaum beeinträchtigt wird“, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Präambel EUV Rn. 13. 37 Zum Ganzen: Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Präambel EUV Rn. 21 f.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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schaftlichen Zusammenschluss nach dem EGV bedarf einer verstärkten Solidarität der Mitgliedstaaten. Aus dem Zusammenspiel von Solidarität und stärkerer Integration wird deutlich, dass letztere als Grundbedingung für eine erfolgreiche Union angesehen wird. Solidarität in diesem Sinne bedeutet dann die Bereitschaft zur Integration, also auch des Vorrangs des gemeinsamen Ziels vor nationalen Alleingängen. Das einzelstaatliche Interesse ist Ausdruck der anderen Seite des Spannungsfeldes. Die Furcht vor einer schleichenden Erosion der eigenen Staatlichkeit, dem Verlust von Hoheitsrechten und der Preisgabe nationaler Errungenschaften drückt sich in den erwähnten Vorbehalten, insbesondere in Art. 6 Abs. 3 EUV, aus. Insofern begrenzt also die Betonung der nationalen Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten ihre gegenseitige Solidarität. Wenn Solidarität die Gemeinschaft betont und ihr den Vorrang zugesteht, dann führt die Betonung der mitgliedstaatlichen Eigenstaatlichkeit dazu, dass dieser im Zweifel der Vorrang gebührt. Nicht ganz eindeutig erscheint die Aussage des fünften Erwägungsgrundes, wenn von einer Solidarität zwischen den Völkern gesprochen wird. Sind damit die Mitgliedstaaten gemeint oder die europäischen Völker, vielleicht sogar unmittelbar die europäischen Bürger? Für den ersten Ansatz spricht, dass die Union durch einen völkerrechtlichen Vertrag errichtet worden ist. Es sind zunächst einmal die Mitgliedstaaten, die aus dem EUV berechtigt und verpflichtet werden. Außerdem tragen die Mitgliedstaaten durch ihre gegenseitige Solidarität und den Willen zur Zusammenarbeit dazu bei, dass die Union existiert und lebensfähig bleibt. Zuletzt sind es die Mitgliedstaaten, die als „Herren der Verträge“ die Geschwindigkeit und Dimension der Integration bestimmen. Ein Vergleich mit der Aufgabenzuweisung des Art. 1 Abs. 3 EUV zwingt jedoch zu einer erweiterten Auslegung38. Es fällt auf, dass in Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV von einer Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten sowie ihren Völkern gesprochen wird, während die Präambel das Solidaritätsprinzip vom Wortlaut her nur auf das Verhältnis zwischen den Völkern beschränkt. Offenbar unterscheidet der Vertrag also zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Völkern. Darin liegt aber kein Gegensatz, denn die Solidarität auf beiden Ebenen steht nicht in einem Ausschlussverhältnis. Es wird vielmehr eine zeitliche Dimension erkennbar. Der Solidarität der Mitgliedstaaten gilt zunächst die Aufmerksamkeit der Union. Eine weitergehende Solidarität der Völker ist noch nicht erkennbar und deshalb erwähnt die Präambel auch nur den diesbezüglichen Wunsch. Art. 1 Abs. 3 betont aber zusätzlich, dass die Gestaltung der Solidarität der Mitgliedstaaten eine Solidarität der Völker mit einschließt39. Eine engere Verbindung der Staaten soll auch zu einer engeren Verbindung ihrer Völker führen.

38 39

Zu Art. 1 Abs. 3 EUV vgl. unten G. I. 3. Das zeigt die Verwendung der Konjunktion „sowie“ anstelle von „und“.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Darüber hinaus ist es ebenfalls denkbar, dass diese Formulierungen sich auf eine immer wichtiger werdende Legitimationsgrundlage der EU beziehen, den Unionsbürger40. Mit dem Begriff der Völker könnte die Gemeinschaft der Unionsbürger gemeint sein, die zwar kein europäisches Staatsvolk darstellen, aber jedoch nicht zuletzt wegen Art. 17 EGV sich in einer lockeren Verbundenheit befinden. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass der Vertrag sich von dem Gedanken einer exklusiven Bindung von Bürger und Staat löst und zusätzlich ein Konzept der Unionsbürgerschaft etablieren will41. Die ganze Präambel ist so Ausdruck des Bemühens, ein Europa der Bürger zu errichten42. Die Solidarität zwischen den Unionsbürger soll gestärkt werden. Das Mittel dazu ist die Errichtung einer politischen, bürgernahen Union. Dahinter steckt die Einsicht, dass eine solche Union der Legitimation bedarf und eine Legitimation durch die Mitgliedstaaten alleine als unzureichend empfunden wird. Nur wenn die Völker und ihre Bürger zur Solidarität bereit sind, ist eine weiterführende Solidarität der Mitgliedstaaten vorstellbar. Indem damit das Gemeinwohl anerkannt wird und die Solidaritätspflichten akzeptiert werden, erhält die Union eine hinreichende Legitimationsgrundlage. Die teleologische Auslegung geht damit über den Wortlaut hinaus, ohne aber die Wortlautgrenze zu überschreiten. Die Präambel bezieht sich sowohl auf das das Verhältnis der Mitgliedstaaten als auch auf das ihrer Völker und damit eingeschlossen ihrer Bürger. Die Solidarität auf allen drei Ebenen soll demnach gestärkt werden. Das wird auch in den übrigen Formulierungen der Präambel deutlich, die sich immer wieder auf den Bürger beziehen, so im 3., 4., 9., 11., 12. Erwägungsgrund43. c) Zum rechtlichen Gehalt von Präambeln Auch wenn die rechtliche Bedeutung von Präambeln allgemein als gering eingeschätzt wird, so darf ihre Funktion im Normtext jedoch nicht unterschätzt werden44. Als politisches Bekenntnis der Vertragsparteien gemeint, haben ihre Aussagen eine vielfache Bedeutung. Die Präambeln der Unionsverträge geben wichtige Hinweise zur Auslegung des Primärrechts und des abgeleiteten Sekun40 So auch Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV, Rn. 14. 41 B/E/H, § 3 Rn. 24 ff.; vgl. auch 9. Erwägungsgrund der Präambel: „Entschlossen, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft für die Staatsangehörigen ihrer Länder einzuführen“. 42 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Präambel EUV Rn. 14. 43 Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Präambel EUV Rn. 22 erstrecken die Bestimmung nur auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten und ihrer Völker. 44 Dazu Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Präambel EUV Rn. 1–4; Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Präambel EUV Rn. 5–10.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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därrechts als Ausdruck des gemeinsamen Willens. Sie enthalten die Motive und die gemeinsamen Überzeugungen der Vertragsparteien. Aufgrund der Tatsache, dass die Entstehungsmaterialien der Verträge offiziell nicht dokumentiert werden, ist dies ein wichtiger Aspekt der rechtlichen Bedeutung von Präambeln. Zudem legen sie Rechtsgrundsätze nieder, welche der Rechtsfortbildung dienen können, weil die Präambel Zeugnis von der gemeinsamen Rechtsanschauung der Vertragsparteien gibt. Damit ist ihr Inhalt gleichsam ein vor die Klammer gezogenes Selbstverständnis des politischen Gemeinwesens, im Ergebnis damit das alle Bürger Verpflichtende45. Die Präambel des EUV hat somit unbestreitbar einen normativen Gehalt. Nach Art. 31 Abs. 2 WVRK ist die Präambel eines völkerrechtlichen Vertrages ein Bestandteil des Vertrages. Was bedeutet dies für das Solidaritätsprinzip? Weitergehende rechtliche Wirkungen als die eben angeführten können der Präambel des EUV nicht entnommen werden46. Insbesondere begründet diese keine selbständigen Rechte oder Pflichten der Vertragsparteien. Ein lediglich auf die Aussagen in der Präambel gestütztes Prinzip hätte somit keine eigene rechtliche Verbindlichkeit. Etwas anderes ist es dagegen, wenn ein in der Präambel anklingender Grundsatz in weiteren Bestimmungen des Vertrages enthalten ist und im Verbund mit diesen seine Wirkung entfalten kann. Das gleiche gilt, wenn das in der Präambel enthaltene Prinzip Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ist. Folglich ist zu prüfen, wo und auf welche Weise das Solidaritätsprinzip in den weiteren Bestimmungen über die Europäische Union enthalten ist und ob es sich als allgemeiner Rechtsgrundsatz qualifizieren lässt. d) Ergebnis Zu diesem Zeitpunkt kann festgehalten werden, dass der im fünften Erwägungsgrund enthaltene Gedanke der Solidarität insbesondere für die teleologische Auslegung des EUV herangezogen werden kann. Indem das Solidaritätsprinzip in der Präambel zum EUV teilnormativiert ist, ist es Ausdruck einer gemeinsamen Grundüberzeugung der Vertragsstaaten. Häberle meint dazu, dass hier Solidarität als innovatives Prinzip erscheine, das weit in die Zukunft hineinreicht47. Gerade wegen der Allgemeinheit der Aussage sei diese überaus geeignet, eine tiefere Integration dort zu propagieren, wo das positive Europarecht noch hinterherhinkt. Trotz der geringen normativen Kraft könne deshalb eine solche Präambelaussage appellativ wirken, als Inspiration für die zukünftige Verfassungsentwicklung48. Müller-Graff spricht von Zielbestimmungen der Ver45 46 47 48

Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 272. Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Präambel EUV Rn. 7. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 283. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 283.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

träge. Der Unionsgedanke beinhaltete das Ziel, ein Gemeinwesen zu schaffen. Für die Gemeinsamkeit seien zwei Elemente kennzeichnend: Kohärenz und Solidarität; „Solidarität im Sinne des Beistands, Kohärenz im Sinne des Zusammenhalts und stimmigen Gesamtzusammenhangs“49. Dieser Ansatz reduziert aber das Solidaritätsprinzip auf seine leistende Seite. 3. Art. 1 Abs. 3 EUV a) Grundstruktur der Europäischen Union Die Norm des Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV entwirft das konzeptionelle Bild der Europäischen Union, indem es die normativen und organisatorisch-politischen Elemente beschreibt, aus denen sich die EU zusammensetzt50. Herkömmlich wird von einem Säulenmodell gesprochen, in welchem die EU das Dach bilde51. Die erste Säule bilden die supranational ausgerichteten drei Ursprungsgemeinschaften52. Daneben stehen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen als zweite und dritte Säule. Im Gegensatz zur supranationalen EG hat die EU mehr Ähnlichkeiten mit einer klassischen Internationalen Organisation. Über die genaue Zusammensetzung der EU auch mit Hinblick auf das Verhältnis zu der EG herrscht aber nach wie vor keine Einigkeit53. Das Säulenmodell ist zwar weit verbreitet, doch gibt es bedeutende Gegenentwürfe, namentlich die Einheitsthese54 und als ihren dogmatischen Gegenpol die Trennungstheorie55. Dazu kommt das Bild von der EU als einer „gestuften Internationalen Organisation“56. Dies ist die Bezeichnung für solche Organisationen, zu denen außer ihren Mitgliedstaaten andere Organisationseinheiten als rechtlich selbständige Untergliederungen gehören, im Falle der Union also die Gemeinschaften57. Eine Entscheidung für das eine oder andere Modell ist an dieser Stelle nicht erforderlich. Vielmehr ist die Frage nach der Rechtsfähigkeit der EU von Interesse.

49

Müller-Graff, EuR Beiheft 2, 1998, 74. Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 37. 51 Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. A EUV Rn. 16; Blanke, DÖV 1993, 412; Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 3. 52 Nach dem Auslaufen des EGKSV zum 23. Juli 2002 sind damit nur noch die EG und die EAG gemeint. 53 Vgl. Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 38 ff. 54 von Bogdandy/Nettesheim, NJW 1995, 2326 ff.; dies., EuR 1996, 12 (20 ff.). 55 Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 92 ff.; Pechstein, EuR 1995, 247; Zacker, Europarecht, S. 17. 56 Trüe, S. 59. 57 Trüe, S. 59. 50

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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b) Solidarität als Aufgabe der Union Nachdem so die Grundlagen der Union normiert sind, werden ihr im zweiten Satz des Art. 1 Abs. 3 EUV Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Der Union wird die „Aufgabe“ zugewiesen, die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten“. Diese Aussage ist entscheidend für die Bestimmung von Adressat und Regelungsfolge der Norm. Zudem weist die Formulierung auf eine Kompetenznorm hin im Sinne einer generellen Handlungsermächtigung, wenn von einer „Aufgabe“ der Union gesprochen wird. Diese Fragen sind zu klären bevor der Inhalt und die Regelungsaussage von Art. 1 Abs. 3 EUV festgestellt werden kann. aa) Adressat Dem Wortlaut nach wird in Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV der Europäischen Union eine konkrete Aufgabe zugewiesen. Es scheint damit, als ob die Union selber Zuordnungsobjekt von Rechten und Pflichten sein könnte. Voraussetzung für eine solche Pflichtenbindung ist aber, dass die Union über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügt. Im Gegensatz zu den Gemeinschaften58 ist eine solche für die Union nicht ausdrücklich normiert. Dies ist jedoch noch kein zwingendes Argument gegen die Rechtsfähigkeit. Auch die Charter der VN enthält in dieser Hinsicht keine ausdrückliche Regelung, ohne dass die Rechtsfähigkeit der Vereinten Nationen bestritten wird59. Zudem werden einige Formulierungen des EUV als Hinweis auf eine Rechtsfähigkeit der Union gedeutet60. In einem Dreischritt muss deshalb geklärt werden, ob die EU nach völkerrechtlichen Regeln ein eigenständiges Rechtssubjekt ist, ob daraus auch die innere und äußere Rechtsfähigkeit folgt und wie danach das Verhältnis zu den Gemeinschaften zu bestimmen ist. Erst dann kann entschieden werden, ob die Union als eigenes Rechtssubjekt im Sinne von Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV Aufgaben wahrnehmen kann. (1) Die Union als Internationale Organisation Der Begriff der Europäischen Union ist in den Verträgen nirgends definiert. Sprachlich ungenau und vielfältigen Interpretationen offen bestimmt Art. 1 Abs. 1 EUV: „Durch diesen Vertrag gründen die Hohen Vertragsparteien untereinander eine Europäische Union, im folgenden als ,Union‘ bezeichnet“. Nach allgemeiner Auffassung ist die Union weder ein Staat im herkömmlichen Sinne

58 59 60

Art. 281 EGV; Art. 184 EAGV; Art. 6 EGKSV. Trüe, S. 7. Art. 1 Abs. 3, 11 Abs. 2, 13 Abs. 2, 23 Abs. 1, 24, 38.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

noch ein geborenes Völkerrechtssubjekt61. Als gekorenes Subjekt des Völkerrechts muss die Union dann die Voraussetzung für die Annahme eigener Rechtssubjektivität erfüllen. Kennzeichen einer Internationalen Organisation als gekorenes Völkerrechtssubjekt ist ein auf Dauer angelegter, mitgliedstaatlicher geprägter, dem Völkerrecht unterworfener Verband von Völkerrechtssubjekten, der eigene Aufgaben mit eigenen Organen selbständig und aufgrund eigener Willensbildung erfüllt62. Es lässt sich kaum bestreiten, dass die Union in diesem Sinne eine auf Dauer angelegte völkerrechtliche Einigung ist. Der EUV ist ein völkerrechtlicher Vertrag geschlossen von geborenen Völkerrechtssubjekten, den Mitgliedstaaten, die dynamischen Formulierungen der Präambel und Art. 1 Abs. 2 EUV machen deutlich, dass die Union als dauerhafter Prozess angelegt ist auf dem Weg zu einer voranschreitenden Integration ihrer Mitgliedstaaten. Es findet sich deshalb keine Auflösungs- oder Ausstiegsklausel im EUV63. Art. 51 EUV bestimmt, das der Vertrag über die Europäische Union auf unbegrenzte Zeit gilt64. Entscheidendes Merkmal der Dauerhaftigkeit ist auch die Zielbezogenheit nach Art. 2 EUV. Die Ziele sind offen und allgemein normiert und zeigen, dass die Union eine dauerhafte Legitimation aus der Verfolgung dieser Ziele ableitet. Für die Frage nach der Verbandstruktur muss die Union eine körperschaftlich strukturierte Staatenverbindung darstellen. Körperschaftlich bedeutet, dass die Union Mitglieder hat. Der Wortlaut des EUV spricht in der Regel von den Mitgliedstaaten der Union, z. B. Art. 1 Abs. 3, Art. 2 3. Spiegelstrich, Art. 6 Abs. 2 und 3. Insbesondere aber Art. 49 EUV zeigt, dass die Union ein Verband in diesem Sinne ist65. Bereits der Wortlaut des EUV zeigt demnach, dass die Einordnung der EU als reine intergouvernementale Konferenz ohne eigene Verbandstruktur keine Stütze findet66. Schließlich bedarf es für die Annahme einer Internationalen Organisation eigener Organe mit der Fähigkeit zur eigenständigen Willensbildung. Als Organe werden die handlungsfähigen Ausformungen eines Rechtsträgers bezeichnet, die in der Lage sind, einen eigenständigen Willen zu bilden67. Nach Art. 4 EUV ist 61

Hatje, Loyalität, S. 20 m. w. N. von Seidl-Hohenveldern, Internationale Organisationen, Rn. 102; Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 6; Zuleeg, EuR Beiheft 2, 1998, 151 f. 63 Anders ist dies nach dem VerfV. Vgl. zu seinen spezifischen Besonderheiten Cromme, EuR 2005, 36 ff. 64 Daraus folgt nicht, dass ein einvernehmlicher und auch ein einseitiger Austritt eines Mitgliedstaates nicht möglich ist. Vgl. dazu unten Kapitel J. V. und die Ausführungen über den Austritt aus der Union. 65 So Dörr, EuR, 1995, 334 (340). 66 Trüe, S. 12 ff.; a. A. Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 85. 67 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rn. 19 ff. 62

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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Organ der EU der Europäische Rat. Der Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Kommissionspräsidenten. Ihm kommt eine herausragende Leitungsfunktion zu, indem er „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“ gibt und die allgemeinen politischen „Zielvorstellungen“ festlegt. Seine Handlungsfähigkeit zeigt die klare Unterscheidung der Tätigkeiten des Rates vom gemeinsamen Handeln der Mitgliedstaaten68. Der Europäische Rat ist zur Bildung eines eigenständigen Willens in der Lage. Das Einstimmigkeitserfordernis ist hiergegen kein überzeugendes Argument. Die Fähigkeit zur Willensbildung setzt lediglich voraus, dass der Rat nicht von einem anderen Handlungsträger abhängig ist69. Im Gegensatz zur bloßen intergouvernementalen Konferenz steht am Ende eine Organentscheidung des Rates und nicht nur ein Verhandlungsergebnis70. Ob als Weiteres die in Art. 5 EUV aufgeführten Organe als Unionsorgane bezeichnet werden können oder es sich um einen Fall der Leihe von Gemeinschaftsorganen handelt, ist ebenfalls umstritten71. Mit dem Europäischen Rat verfügt die Union jedoch über ein der eigenständigen Willensbildung fähiges Organ, so dass es der Qualifizierung weiterer Organe nicht bedarf. Die EU weist damit alle Merkmale einer Internationalen Organisation auf und ist aus diesem Grund als solche ein eigenständiges Rechtssubjekt des Völkerrechts. (2) Innere und äußere Rechtsfähigkeit Eine Rechtsfähigkeit der Union hat zur Folge und setzt gleichzeitig voraus, dass die Union selber Zurechnungssubjekt von konkreten Rechten und Pflichten ist. Im Zusammenhang mit dem hier zu untersuchenden Art. 1 Abs. 3 EUV bedeutet dies, das der Union die konkrete Aufgabe der Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zugewiesen wird. Nach dem grundlegenden Urteil des ICJ besitzen Internationale Organisationen interne und externe Rechtsfähigkeit, wenn aus der Satzung der Organisation gemäß der impliedpowers-Doktrin gefolgert werden kann, dass die Organisation zur Erreichung ihrer Ziele bestimmte Befugnisse besitzen soll72. Art. 1 EUV betrifft die grundlegende Struktur der Union und das Verhältnis der Mitgliedstaaten und Gemeinschaften zur Union. Es kommt an diesem Punkt also alleine auf die innere Rechtsfähigkeit der Union an.

68

Hatje, Loyalität, S. 22 f. Ress, EuR Beiheft 2, 1995, 27 (39). 70 Trüe, S. 16. 71 Dafür Hatje, Loyalität, S. 24; Trüe, S. 19; Zuleeg, EuR Beiheft 2, 1998, 151 f.; dagegen Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 165 ff. 72 Rechtsgutachten des ICJ v. 11. April 1949 über den Ersatz von im Dienste der UN erlittenen Schäden, ICJ Reports 11-1949, 174 (178 ff.). 69

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Dafür müsste die Union über eigene Handlungsbefugnisse zu rechtsverbindlichen Handlungen gegenüber den Mitgliedstaaten verfügen. Als Beleg dafür wird die Möglichkeit angeführt, Mitgliedschaftsrechte bei Verstößen gegen fundamentale Rechtsprinzipien der Union nach Art. 6, 7 EUV auszusetzen73. Ein deutliches Zeichen für eine innere Rechtsfähigkeit ist auch Art. 23 EUV im Rahmen der Bestimmungen über die GASP. Grundsätzlich sind die Beschlüsse nach diesem Titel für alle Mitgliedstaaten verbindlich. Ein Staat kann allerdings nach Abs. 2 bei einer Stimmenthaltung eine Erklärung abgeben, die ihn von der Umsetzungspflicht befreit. Als Mitglied der Union bleibt er jedoch dem Beschluss unterworfen, so dass er im „Geiste gegenseitiger Solidarität“ ihn zwar nicht fördern muss, die Durchführung des Beschlusses aber auch in keiner Weise behindern darf. Wenn also der Rat Handlungen im Sinne von Art. 12 EUV beschließt, sind diese für alle Mitgliedstaaten verbindlich. Die enthaltenden Staaten trifft eine generelle Unterlassungspflicht. (3) Ergebnis Die Europäische Union ist folglich eine Internationale Organisation, die über eine eigene, innere Rechtsfähigkeit gegenüber ihren Mitgliedern verfügt74. Dies ergibt sich bereits nach der bisherigen Vertragslage, auch wenn es an einer ausdrücklichen Bestimmungen wie im EGV, EAV und EGKSV immer noch fehlt. Dieses Ergebnis wird auch von den jüngsten Entwicklungen im Primärrecht bestätigt. Nach dem VerfV besitzt die Union gemäß Art. I-7 Rechtspersönlichkeit75. Diese Bestimmung ist nach der hier vertretenen Auffassung in Bezug auf die innere Rechtsfähigkeit nur noch deklaratorischer Natur. Sie ist aber gleichwohl zu begrüßen, da sie eine eindeutige Festlegung und normative Klarheit bewirkt. bb) Unterscheidung zwischen Aufgabe und Ziel Gemäß der so ermittelten Auffassung ist damit eine eigene Aufgabenzuweisung an die Union durch die Vorschrift des Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Union ist im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten rechtsfähig, so dass es denkbar ist, dass die Kompetenz zur Gestaltung der Beziehungen zwischen diesen im Sinne der Kohärenz und Solidarität bei ihr liegt. Es ist deshalb zu klären, was mit dem Begriff der „Aufgabe“ gemeint ist und wie er sich von den in Art. 2 EUV genannten Zielen unterscheidet.

73 74 75

Hatje, Loyalität, S. 25. A. A. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 1 EUV Rn. 16. Dazu Fassbender, AVR 2004, 26 ff.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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(1) Verbandskompetenz der Union Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV ist die einzige Norm des Vertrages, die der Union eine Aufgabe zuweist. An anderer Stelle ist stets von Zielen der Union die Rede, so insbesondere in Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 1 oder auch Art. 6 Abs. 4 EUV. Diese terminologische Unterscheidung ist in allen Sprachfassungen vorhanden76. Vom Wortlaut her kann die Aufgabe der Union nicht mit ihren Zielen gleichgesetzt werden. Wenn man jedoch das Zusammenspiel von Art. 1 und 2 EUV betrachtet, ergibt die Unterscheidung einen Sinn. Art. 1 EUV regelt die Grundstruktur der Union und ihren Aufbau. Dazu gehört eine generelle und allgemeine Aufgabenzuweisung. So wird nicht nur eine Zweckbestimmung vorgenommen, sondern auch eine Legitimationsgrundlage für die Union gelegt. Die Errichtung einer Internationalen Organisation mit eigener Rechtsfähigkeit im Innenverhältnis bedarf im Sinne der heute herrschenden Legitimationstheorien einer formellen und einer materiellen Legitimität77. Die formelle Legitimität der Union wird durch die Zustimmung und fortwährende Partizipation der Mitgliedstaaten erreicht. Die materielle Legitimität speist sich aus der Erkenntnis, dass eine gemeinsame Aufgabe besser oder ausschließlich durch die Union zu erreichen ist. Dazu kommt, dass sich die Zweckbestimmung der Union als völkerrechtlicher Organisation aus ihrem Gründungsvertrag ergeben muss78. Erst aus einer Handlungseröffnung folgt auch eine Handlungsmöglichkeit der Union. Die Folge davon ist auch, dass die Union ultra vires handelt, wenn sie sich nicht im Rahmen ihrer Aufgaben bewegt. Insofern muss die Vorschrift des Art. 1 Abs. 3 im Zusammenhang mit den in Art. 2 EUV festgelegten Zielen gesehen werden. Während in Art. 1 Abs. 3 EUV eine Art Verbandskompetenz zu Gunsten der Union etabliert wird, wird dort die Sachkompetenz geregelt79. Mit dem Begriff der „Aufgabe der Union“ erfolgt also eine grundsätzliche Zweckbestimmung für die Union. Der Hinweis auf diese Aufgabe verleiht ihrem Handeln Legitimität und eröffnet der Union Handlungsmöglichkeiten. Für einzelne Maßnahmen bedarf es jedoch konkreter Ermächtigungsgrundlagen. Der Union steht damit grundsätzlich die Verbandskompetenz zu, die Beziehung zwischen ihren Mitgliedstaaten und den Völkern im Sinne des Solidaritätsprinzips zu gestalten. Daraus ergeben sich keine konkreten Rechtsfolgen, es folgt aber eine allgemeine Richtungsvorgabe für die Gestalt der Union.

76 Aufgabe = task (en), mission (fr), misión (es) und Ziele = objectives (en), objectifs (fr), objetivos (es). 77 Vgl. die Nachweise bei Stumpf für die EG, S. 121 ff. 78 Zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge s. Ipsen, Völkerrecht, § 11. Verdross/ Simma, § 774 ff. 79 So auch Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 44.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

(2) Sachkompetenz der Union Wenn man festhält, dass Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV die Verbandskompetenz der Union regelt, ist die Frage nach der Sachkompetenz der EU aufgrund dieser Norm im Grunde bereits beantwortet. Es wird lediglich festgehalten, dass die EU für die Beziehungen der Mitgliedstaaten und ihrer Völker untereinander zuständig ist. Eine Handlungskompetenz ist dadurch nicht gegeben. Dafür ist die Aussage in Satz 2 zu allgemein und unpräzise. Es lassen sich also keine Handlungsbefugnisse der Union mit einem Verweis auf Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV und einem dort vorhandenen Solidaritätsgebot begründen. Diese Auslegung wird sehr deutlich durch einen Vergleich mit der Vorschrift des Art. 2 EUV. In systematischer Anlehnung an die vom EG Vertrag bekannte Regelungstechnik enthält Art. 2 EUV einen Zielkatalog80. Die genannten Ziele der Union konkretisieren die Verbandskompetenz zum einen in sachlicher Hinsicht. Es wird geregelt, welche Sachgebiete überhaupt zum großen Thema der Gestaltung der „solidarischen und kohärenten Beziehungen“ gehören81. Zum anderen wird die Qualität des Unionshandelns festgelegt. Jeweils im 2. Halbsatz der fünf Spiegelstriche von Art. 2 EUV wird die Art und Weise und zugleich die Intensität des Unionshandelns festgelegt82. So ist die Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts durch die Schaffung eines Binnenmarktes und durch die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirklichen83. Das gemeinsame Auftreten nach außen wird durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik erreicht84. Für das Verhältnis der beiden Normen ergibt sich damit, dass Art. 2 S. 1 EUV die Leitidee des Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV ausgestaltet und inhaltlich füllt. Zunächst erfolgt eine allgemeine Handlungseröffnung für die Union. Dann werden die Aufgaben durch Art. 2 EUV näher bestimmt und einzelne Sachkompetenzen festgelegt. 80 Vgl. Art. 2 EGV, der als zentrale Grundnorm des Integrationsprogramms der Gemeinschaft angesehen wird; so Ukrow, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 4. 81 Dazu gehören: die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, ein hohes Beschäftigungsniveau und die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung (1. Spiegelstrich); die Behauptung der Identität auf internationaler Ebene (2. Spiegelstrich); die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen der Mitgliedstaaten (3. Spiegelstrich); die Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (4. Spiegelstrich); die volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands und seine Weiterentwicklung (5. Spiegelstrich). 82 Ähnlich wie hier unterscheidet Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 2 ff., zwischen Unionsaufgabe und Unionsauftrag als Untergliederung des Oberbegriffs der Ziele; vgl. auch Stumpf, S. 70 ff. 83 2. HS 1. Spiegelstrich, Art. 2 S. 1 EUV. 84 2. HS 2. Spiegelstrich, Art. 2 S. 1 EUV.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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Die Ziele des Art. 2 S. 1 EUV haben eine verbindliche Wirkung für die Union85. Ihre Wirkung geht über die allgemeiner Programmsätze hinaus. Dies ergibt sich aus der Funktion der Norm als Ausdruck des integrationspolitischen Programms der Union. Sofern damit spezifische Handlungsbefugnisse für die Union verbunden werden, sind diese an anderer Stelle im Vertrag geregelt, z. B. Art. 11 ff. EUV für die GASP. Deshalb begründet auch Art. 2 EUV keine Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen der Union86. Seine normative Bedeutung liegt vor allem in seiner auslegungsleitenden Funktion für die Ermittlung des Sinngehaltes des EU Vertrages87. Zudem können die einzelnen Ziele der Prinzipienbildung dienen88. Hier scheint ein Vergleich zu den rechtlichen Wirkungen der Präambel auf der Hand zu liegen, wenngleich Art. 2 EUV unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen kann. (3) Ergebnis Nach der Wortlautauslegung ergibt sich ein Unterschied zwischen den Begriffen von „Aufgabe“ und „Ziele“ der Union. Systematisch steht die Aufgabe in Art. 1 Abs. 3 EUV vor den Zielen der Union in Art. 2, 3 EUV. Sie ist im grundlegenden Absatz über Aufbau und Struktur der Union enthalten. Teleologisch ergibt die Unterscheidung einen Sinn, wenn man sie auf eine Kompetenzabgrenzung zurückführt. Die Verbandskompetenz der Union wird in Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV, die entsprechenden Sachkompetenzen werden in Art. 2 EUV geregelt. Dabei wird man davon ausgehen müssen, dass nach dem derzeitigen Verständnis der Union es sich nur um eine konkurrierende Kompetenz handeln kann. Der Union fehlt es an supranationalen Elementen, so dass es zwar ihrem Sinn und Zweck entspricht, die gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder zu gestalten, dass aber diesen ebenso eine Kompetenz auf diesem Gebiet verbleibt. cc) Umfassendes Konzept des Solidaritätsprinzips in Art. 1 Abs. 3 EUV Bei den Ausführungen zum 5. Erwägungsgrund der Präambel hat sich gezeigt, dass das Konzept der Solidarität umfassender ist als im Wortlaut der Präambel angedeutet. Das Solidaritätsprinzip betrifft über den Wortlaut hinaus das 85 Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 3; Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 24; Geiger, EUV/EGV, Art. 2 EUV Rn. 2; Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. B EUV Rn. 3. 86 Geiger, EUV/EGV, Art. 2 EUV Rn. 2; Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUKommentar, Art. 2 EUV Rn. 3. 87 Müller-Graff, EuR Beiheft 2, 1998, 67 (68). 88 Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 25.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

gegenseitige Verhältnis der Mitgliedstaaten, der Völker und der Bürger im Verbund der Union89. Diese Auslegung wird durch einen Vergleich mit Art. 1 Abs. 3 EUV unterstützt. Für diese Beziehungen ist die Union neben den Mitgliedstaaten zuständig. Zugleich mach Art. 1 Abs. 3 EUV deutlich, dass das Solidaritätsprinzip für alle drei Säulen der Union Geltung beansprucht. Ob damit gleichzeitig eine Kompetenzbeschränkung der EU einhergeht, so dass die Union keine eigenen Beziehungen zu Mitgliedstaaten oder Drittstaaten aufbauen kann, darf nicht pauschal beurteilt werden90. Die Beurteilung dieser Frage hängt von der An- bzw. Aberkennung einer eigenen Rechtspersönlichkeit der EU ab. Diese wurde zusammen mit der inneren Rechtsfähigkeit weiter oben bejaht91. Deshalb gibt es nicht nur horizontale sondern auch vertikale Beziehungen innerhalb der Union. Der Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 EUV scheint dagegen auf die horizontale Ebene beschränkt zu sein, denn er spricht nur von Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Völkern. Eine solche Auslegung ist jedoch nicht zwingend. Der Grund für die zurückhaltende Formulierung liegt wahrscheinlich in der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten bezüglich der Rechtsnatur der Europäischen Union. Hätte man die vertikale Ebene hinzugefügt, d.h. also die Beziehungen zwischen Union und Mitgliedstaaten sowie ihren Völkern, dann wäre dies eventuell als weiteres Argument für eine Rechtsfähigkeit gedeutet worden. Wenn man jedoch die Union als eigenständige Rechtspersönlichkeit mit eigenen Befugnissen gegenüber den Mitgliedstaaten ansieht, dann liegt es nahe, das Solidaritätsprinzip auf die vertikale Ebene zu erstrecken92. Dies entspricht einem umfassenden Verständnis des Solidaritätsprinzips, das ein grundsätzliches Strukturmerkmal der gesamten Union darstellt. Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV weist deutlich darauf hin, dass die Hauptgrundlage der Union die EG ist. In der Gemeinschaft kann das Solidaritätsprinzip umfassende Geltung auf vertikaler und horizontaler Ebene beanspruchen. Eine Beschränkung in der Union auf die horizontale Beziehungsebene ist mit diesem Verständnis nicht zu vereinbaren. Mit der Bejahung einer Rechtsfähigkeit der EU entstehen dort ebenso zweidimensionale Beziehungen. Insofern ist von einer umfassenden Geltung auszugehen, 89 So auch Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. A EUV Rn. 62. 90 So aber offensichtlich Stumpf: Der Begriff der „Aufgabe“ eröffne für die Union die Möglichkeit zur Gestaltung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. „Damit ist gleichzeitig gesagt, dass die Union keine eigenen Beziehungen, sei es zu den Mitgliedstaaten, sei es zu Drittstaaten, sei es zu den Völkern der Mitgliedstaaten oder zu den Völkern Europas oder sei es zu den Einzelpersonen direkt, gestaltet.“, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 43. 91 s. Kapitel G. I. 3. b) aa) (3). 92 In diesem Sinne auch Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. A EUV Rn. 23: „Es entspricht dem umfassenden Begriff der Solidarität, wenn man unter dem Dach der Union auch das gegenseitige Verhältnis Union – Mitgliedstaaten mit einbezieht“.

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so dass das Solidaritätsprinzip sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen diesen und der Union Geltung beansprucht93. c) Kohärenz und Solidarität Nachdem nun mittels Auslegung festgestellt worden ist, dass die Vorschrift des Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV an die Union gerichtet ist und ihr die Verbandskompetenz für die Gestaltung der Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Völkern zuweist, bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Gehalt des Solidaritätsprinzips. Was ist unter der Gestaltung solidarischer Beziehungen innerhalb der Union zu verstehen? Welche Aspekte des Solidaritätsprinzips erfasst Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV? Dabei geht es nicht um das Aufzeigen von konkreten Rechten und Pflichten an dieser Stelle. Wie die Präambel ist Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV nicht dazu geeignet, Handlungen der Union oder der Mitgliedstaaten zu legitimieren. Beide sind jedoch Ausdruck des Solidaritätsprinzips, so dass ihr Inhalt für die Auslegung und Konkretisierung dieses Prinzips von Bedeutung ist. Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV enthält ein weiteres für die Union grundlegendes Prinzip, das Gebot der Kohärenz. Weil beide Begriffe in derselben Vorschrift über die allgemeine Verbandskompetenz der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Völkern auftauchen, muss eine Abgrenzung erfolgen. aa) Gemeinsamkeiten und Unterschiede Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass beide Begriffe einen unterschiedlichen normativen Bedeutungsinhalt haben. Es wird ausdrücklich zwischen Kohärenz und Solidarität innerhalb eines Satzes unterschieden. Dieses setzt sich auch in weiteren Normen des EU Vertrages fort94. Eine solche Unterscheidung macht keinen Sinn, wenn beide Begriffe den gleichen Inhalt haben. Zudem weisen beide Termini von der ursprünglichen Wortbedeutung unterschiedliche Konnotationen auf95. Deshalb bleibt festzuhalten, dass das Solidaritätsprinzip neben dem Kohärenzprinzip einen eigenen Inhalt aufweist96. 93 Auch Klein geht von einer Erweiterung der Pflicht zur Solidarität durch Art. 1 Abs. 3 EU aus. Allerdings beschränkt er diese auf die horizontale Eben zwischen den Mitgliedstaaten, den Völkern und ihren Angehörigen. Klein, in: Hailbronner/Klein/ Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. A EUV Rn. 62 ff. 94 Art. 3 erwähnt nur die Kohärenz; Art. 11 Abs. 2 unterscheidet wieder zwischen „gegenseitiger Solidarität“ und „kohärenter Kraft“. 95 Zur Solidarität vgl. oben; Kohärenz leitet sich von dem lateinischen cohaerentia ab und bedeutet: „Zusammenhang“ vgl. Krenzler/Schneider, EuR 1994, 144 (145); Siems, Kohärenzgebot, S. 21. 96 So auch B/B/P/S, Rn. 137.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

(1) Das Kohärenzgebot Das Kohärenzprinzip erfährt auf den ersten Blick eine große Aufmerksamkeit im EUV. Mit Art. 3 EUV ist ein eigener Artikel über die Kohärenz aller Maßnahmen der Union zur Erreichung ihrer Ziele, insbesondere auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, eingefügt worden. Es lassen sich dabei verschiedene Formen des Kohärenzgebots97 unterscheiden. Ein Zusammenhang mit dem Solidaritätsprinzip besteht im Rahmen des Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV lediglich zur inneren und inhaltlichen Kohärenz, wenn man diese Kategorisierung akzeptiert98. Gemeint ist damit die Wahrung des Zusammenhalts innerhalb der Union, ohne das dabei eine Beschränkung auf gewisse Vertragsgegenstände erfolgt. Das Kohärenzgebot ist vor allem ein zielorientiertes Abstimmungsgebot zwischen den verschiedenen Säulen der Union99. Die verschiedenen Maßnahmen auf unterschiedlichen Politikfeldern sollen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Damit das erreicht werden kann, gebietet das Kohärenzgebot ein aufeinander abgestimmtes Verhalten der Akteure. Sinn und Zweck des Kohärenzgebots besteht dann darin, dass alle Politikbereiche der Union miteinander in Beziehung gesetzt werden und im Lichte der Einheit des Unionsrechts auszulegen sind100. So sollen beispielsweise Maßnahmen im Bereich der GASP nicht in Widerspruch zur Handelpolitik der Europäischen Gemeinschaft, Art. 131 ff. EGV, treten. Dies ist die Aufgabe des Kohärenzgebots. (2) Unterschiede zum Solidaritätsgebot Als besondere Ausprägung der inneren Kohärenz wird allgemein der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in Form der Kohäsionsvorschriften Art. 158 ff. EGV angesehen101. Ohne an dieser Stelle die Diskussion führen zu müssen, ob das Kohärenzgebot auch für die EG gilt102, zeigt das Beispiel der Kohäsionsvorschriften doch den wesentlichen Unterschied zwischen Kohärenzund Solidaritätsprinzip. Die Verpflichtung zum Zusammenhalt entstammt nicht dem Kohärenzgebot, sondern vielmehr dem Solidaritätsprinzip103. Richtig stellt Calliess fest, dass 97 Vgl. dazu Müller-Graff, integration 1993, 147 ff., der zwischen innerer, äußerer und inhaltlicher Kohärenz unterscheidet. 98 Skeptisch: Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 132 f.; Bunk, S. 5 ff.; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 42 f. 99 Pechstein, EuR 1995, 247 (254). 100 Siems, Kohärenzgebot, S. 22. 101 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 42 f.; ders., Solidaritätsprinzip, S. 192; Siems, S. 23; Pechstein, EuR 1995, 247 (254). 102 Dazu vgl. Siems, S. 36 ff.; Bunk, S. 47 ff. 103 s. bereits die Ausführungen zum Loyalitätsgebot, Kapitel F. III. 4. c).

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der Inhalt der so genannten inneren Kohärenz sich „bei genauerer Betrachtung als Ausprägung des Solidaritätsprinzips“ darstellt104. So verstanden beinhaltet Solidarität einen Leistungsaspekt. Über das Gebot der Rücksichtnahme und Kooperation sind die Mitgliedstaaten zur Förderung und Unterstützung verpflichtet, damit der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der Union gewährleistet ist. Demgegenüber kann das Kohärenzgebot nur den Maßstab darstellen für die Art und Weise dieser Pflichterfüllung. Die Handlungen der Mitgliedstaaten und der Union, die aufgrund ihrer Rechtsfähigkeit ebenfalls Adressat des Solidaritätsgebots ist, sollen abgestimmt und inhaltlich widerspruchsfrei erfolgen. Damit dient das Kohärenzgebot auf diese Weise der Effektivität des Solidaritätsprinzips. Es setzt aber eine Pflichtenbindung voraus, während das Solidaritätsprinzip diese Pflichten begründen kann. Bei der Abgrenzung von Kohärenz- und Solidaritätsgebot kann demnach zwischen Verpflichtung und ihrem Maßstab unterschieden werden105. Das Solidaritätsgebot konstituiert eine unmittelbare Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bzw. der Union gegenüber denselben, sich in einer gewissen Art und Weise zu verhalten. Die Verpflichtung zur Kohärenz sorgt dann dafür, dass das Verhalten in den verschiedenen Säulen aufeinander abgestimmt wird, damit kein Widerspruch entsteht. Dafür ist es notwendig, dass die Mitgliedstaaten und Organe der Union sich untereinander abstimmen und unterrichten, Leitlinien erlassen werden, etc. Daraus folgt nun ein weiterer wesentlicher Unterschied der beiden Strukturprinzipien des EUV. Das Kohärenzprinzip ist akzessorisch in dem Sinne, dass es seinen Geltungsgrund nicht in sich trägt. Es bedarf eines Anknüpfungspunktes im Vertrag, damit eine Pflicht zur Kohärenz gegeben wird. Das Kohärenzprinzip gilt dann, wenn die Adressaten, also die Mitgliedstaaten und ihre Völker, aufgrund einer besonderen Verbindung miteinander verknüpft sind. Das Solidaritätsprinzip ist in dieser Hinsicht eigenständig. Es ist die Grundlage für die gemeinsame Verbindung der Mitgliedstaaten in der Union. Zugespitzt formuliert kann gefolgert werden: Die Union bezieht ihre Legitimation aus dem Solidaritätsprinzip, denn dies verpflichtet Unionsorgane und Mitgliedstaaten auf das gemeinsame Interesse. Das Solidaritätsprinzip ist insofern nicht akzessorisch. Indem es Grundlage einer jeden Gemeinschaft ist, gilt das Prinzip unabhängig von konkreten Pflichten, die sich aus Einzelvorschriften ablesen lassen, und ist davor gelagert. Diese Unterscheidung gleicht damit derjenigen, die in Hinblick auf das Verhältnis von Gemeinschaftstreue und Solidaritätsprinzip getroffen worden ist. Das Solidaritätsprinzip ist notwendig, damit es im gemeinsamen Verbund von Hoheitsträgern zu einer Zielverwirklichung kommen kann. Das

104 105

Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 43. Diese Unterscheidung stammt von B/B/P/S, Rn. 137.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Kohärenzprinzip greift dann ein, wenn mehrere Verbände unter einem Dach bestehen und die Gefahr widersprüchlichen Handelns besteht. bb) Ergebnis Kohärenz und Solidarität sind also nicht nur ihrer Wortbedeutung nach zwei unterschiedliche Begriffe. Sie unterscheiden sich auch in ihrer Rechtsqualität nach dem Vertrag über die Europäische Union. Beide Begriffe sind konstitutiv für die Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Politikfeldern in einem Mehrebenensystem. Damit die Union ihre in Art. 2 EUV und Art. 2, 3 EGV genannten Ziele verfolgen kann, ist die Kohärenz des Verhaltens und der Maßnahmen notwendig. Anderenfalls kann es zu sich widersprechenden Maßnahmen in den unterschiedlichen Säulen kommen. Das Kohärenzgebot baut auf dem Solidaritätsprinzip auf und ergänzt es in wertvoller Weise, indem es gegenseitige Rücksichtnahme und Abstimmung unter den Mitgliedstaaten in allen Bereichen der Union vorschreibt. Das Kohärenzgebot ist allerdings akzessorisch und setzt deshalb eine bestehende Solidarverpflichtung voraus. Ob aber das Solidaritätsprinzip ebenso umfassend ist, kann erst nach einer Untersuchung der zweiten und dritten Säule bestimmt werden. Erst wenn in diesen Bereichen die Geltung des Prinzips erwiesen ist, kann die Aufgabenzuweisung durch Art. 1 Abs. 3 EUV als grundsätzliche Verpflichtung zur Solidarität in der gesamten Union gedeutet werden. 4. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union a) Einleitung und Entwicklung der GASP Ebenso wie das Konzept einer Europäischen Union ist die Idee einer gemeinsamen Zusammenarbeit im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zwischen den Mitgliedstaaten nicht neu106. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gehörte von Anfang an zum Integrationsprogramm. Allerdings sind in diesem Bereich die nationalen Sensibilitäten besonders stark ausgeprägt. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 als Vorläufer der GASP wurde bereits erwähnt107. Nach dem Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sollte eine gemeinsame Armee aufgestellt werden, so dass die nationale Verfügbarkeit über die eigenen Streitkräfte nur noch auf wenige Ausnahmefälle begrenzt war108. Daneben sah der Art. 38 Abs. 1 EVGV 106 Ein guter Überblick über die Entwicklung bis zum Vertrag von Nizza gibt Marquardt, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vorbemerkungen zu den Artikeln 11 bis 28 EUV Rn. 1–7. 107 Röper/Issel sprechen von einem „Wiedererstehen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ mit Errichtung der GASP, ZRP 2003, 397.

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eine weitreichende Regelung vor, indem er die spätere Überführung der EVG in ein bundesstaatliches oder staatenbündisches Gemeinwesen vorsah109. Durch das Scheitern der EVG aus Furcht vor dem Verlust nationaler Souveränität war das Projekt einer politischen Integration auf lange Sicht ins Hintertreffen geraten, so dass die Mitgliedstaaten sich fortan auf die wirtschaftliche Integration konzentrierten. Diese Diskrepanz wirkt bis heute fort110. Auch nach dem Vertrag von Nizza und dem VerfV ist der Bereich der GASP weiterhin von intergouvernementaler Zusammenarbeit anstelle von supranationalen Strukturen geprägt. Der erneut gescheiterte Versuch, in diesem Bereich das Einstimmigkeitserfordernis abzuschaffen, ist nur ein allzu sichtbarer Beleg dafür111. Nach Art. I-40 Abs. 6 VerfV bleibt die einstimmige Beschlussfassung die Regel im Bereich der GASP. b) Rechtsnatur der GASP Die wesentlichen Grundlagen der Union stellen die Gemeinschaften dar. Darauf weist der Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV hin112. Vorbildcharakter für die zukünftige Entwicklung der Union hat demnach eher die supranationale EG als die intergouvernementale GASP, die als Ergänzung zu den bestehenden Formen der Integration gedacht ist113. Die GASP steht sowohl rechtlich als auch politisch außerhalb der Gemeinschaften. Es handelt sich um eine völkerrechtlich vereinbarte Form der Zusammenarbeit ohne gemeinschaftliche Beschaffenheit114. Damit ist die GASP grundsätzlich dem traditionellen Völkervertragsrecht zuzuordnen115. Es findet also keine Kompetenzübertragung auf einen übergeordneten Hoheitsträger statt, wie dies im supranationalen Bereich der Fall ist. Allerdings wird diese strikte Zuweisung in den zwischenstaatlichen Bereich der Zusammenarbeit immer mehr bezweifelt. Diese Diskussion ist eng verflochten mit der Frage der Rechtspersönlichkeit der EU. Wer die EU nicht für rechtsfähig hält, muss das Handeln im Bereich der GASP dem rein intergouverne108

B/E/H, § 1 Rn. 15. Text abgedruckt in Hill/Smith, S. 16 ff. 110 So auch Burghardt/Tebbe, in: G/T/E, Vorbemerkungen zu den Artikeln J bis J.11 EUV Rn. 6. 111 Zu den aktuellen Reformüberlegungen: Jopp/Reckmann/Regelsberger, integration 2002, 230 ff. 112 Stumpf, in; Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 41; Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 4. 113 Stumpf, in; Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 41. 114 Müller-Graff, integration 1993, 148 f. 115 Für diese Einordnung Gottschald, S. 25; Krück, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 11 EUV Rn. 5. 109

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mentalen Bereich zuordnen. Die Befürworter einer eigenen Rechtspersönlichkeit der Union müssen dieses als Unionsrecht einordnen; folglich wird das Handeln der Union und nicht den Mitgliedstaaten zugerechnet116. Der Rechtscharakter der GASP lässt sich derzeit nicht abschließend bestimmen. Es bietet sich an, die GASP als eine Sonderform der Integration zu werten, wo die Mitgliedstaaten gemeinsames Handeln zwischen intergouvernementalen und integrierten Ansätzen erproben117. Zurechnungssubjekte bei Handlungen im Bereich der GASP sind die Mitgliedstaaten und die Union als solche. Mit der ihr hier zuerkannten Rechtsfähigkeit ist die Möglichkeit der Zurechnung gegeben. c) Solidaritätsprinzip im Rahmen der GASP Die zentrale Norm für die GASP ist Art. 11 EUV. In Struktur, Aufbau und Stellung ähnelt sie Art. 2 EUV. Die im Titel V des EUV enthaltenen Vorschriften konkretisieren das in Art. 2 2. Spiegelstrich EUV enthaltene allgemeine Ziel der Union. Während Art. 11 EUV als vorangestellte Bestimmung den besonderen materiellen Teil des EUV einleitet, steht Art. 2 EUV dem allgemeinen Teil des EUV voran. Gemäß Art. 11 Abs. 2 EUV sind die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, „die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität“ zu unterstützen. Ferner sollen die Staaten zusammenarbeiten, „um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln“. Zudem enthält der das Entscheidungsverfahren innerhalb der GASP regelnde Art. 23 eine interessante Formulierung: „Im Geiste gegenseitiger Solidarität unterlässt der betreffende Mitgliedstaat alles, was dem auf diesem Beschluss beruhenden Vorgehen der Union zuwiderlaufen oder es behindern könnte, und die anderen Mitgliedstaaten respektieren seinen Standpunkt.“

Vor einer Auslegung soll als erstes untersucht werden, wie und wann der Solidaritätsgedanke in diesem Politikbereich konkret formuliert worden ist und Eingang in den Vertrag gefunden hat. aa) Entwicklungsgeschichte (1) EVG und Fouchet-Plan Der gescheiterte Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft enthielt noch keinen Hinweis auf eine irgendwie geartete Solidaritätsverpflichtung 116 So auch im Ergebnis: Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 11 EUV Rn. 1. 117 Damit folge ich B/E/H, § 35 Rn. 5 f.

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der Mitglieder. Dagegen findet sich im Fouchet-Plan von 1961 eine zentrale Bestimmung über die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in Art. 11. Der erste Entwurf vom 2. November 1961 lautete: „There shall be solidarity, mutual confidence and reciprocal assistance as between Member States. They undertake to abstain from any step or decision that might hinder or delay the achievement of the aims of the Union. They shall loyally cooperate in any consultations proposed to them and respond to requests for information addressed to them by the Council or, in compliance with the instructions of the Council, by the European Political Commission.“

Der zweite Entwurf vom 18. Januar 1962 enthält dann nur noch die ersten beiden Sätze118. Die Formulierung im ersten Satz deutet noch auf einen unverbindlichen politischen Solidaritätsappell an die Mitgliedsstaaten hin. Es wird ein Appell („shall“) an die Mitgliedstaaten gerichtet und keine normative Pflicht ausgesprochen. Inhaltlich kommt ein Dreiklang von Solidarität, gegenseitigem Vertrauen und reziproker Unterstützung zum Ausdruck. Vertrauen ist eine fundamentale Voraussetzung für die Übung von Solidarität, denn ein Staat wird sich nur solidarisch, in welcher Form auch immer, im Vertrauen darauf verhalten, dass sich die anderen Staaten ebenfalls so verhalten würden und werden. Der Aufruf zur reziproke Unterstützung weist auf eine Leistungskomponente hin, ist jedoch in dieser Form zu allgemein, um daraus eine solidarische Pflicht ableiten zu können. Art. 11 Fouchet-Plan legt ausweislich seiner Überschrift die Pflichten der Mitgliedstaaten fest. Eine konkrete Solidaritätspflicht wird dort nicht normiert. Dafür ist die Formulierung zu allgemein. Eine Konkretisierung wird erst durch den zweiten Satz erreicht. Dort ist generalklauselartig bestimmt, was sich heute als Gebot der Gemeinschaftstreue fast wortgleich in Art. 10 Abs. 2 EGV wieder findet. Die dort ausgesprochene Unterlassungspflicht richtet sich an die Mitgliedstaaten. Der Fouchet-Plan wird als Reaktion auf das Scheitern der EVG und der EPG angesehen. Sein Charakteristikum war eine intergouvernementale politische Union mit einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, welche die supranationalen Tätigkeiten der Gemeinschaften kontrollieren sollte119. Aus diesem Grund scheiterte er im Frühjahr 1962 am Widerstand der integrationsfreundlicheren Länder, namentlich der Benelux-Staaten120. Während damit im völkerrechtlich geprägten Entwurf des französischen Botschafters Christian Fouchet ein Solidaritätsappell enthalten war, erwähnte die supranational ausgerichtete EVG den Begriff der Solidarität überhaupt nicht. Offenbar bedarf es bei der rein völkerrechtlichen Kooperation eines ausdrücklicheren und verstärkten Appells an die Solidarität, als dies in der supranationalen Gemeinschaft notwendig 118 119 120

Rn. 7.

Beide Texte finden sich bei Hill/Smith, S. 47–62. Gottschald, S. 21. Burghardt/Tebbe, in: G/T/E, Vorbemerkungen zu den Artikeln J bis J.11 EUV

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ist. Dies ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die gegenseitigen Beziehungen in der supranationalen Gemeinschaft viel enger und untrennbarer verwoben sind. (2) Vom Davignon-Report zum Vertrag von Maastricht Der Begriff Solidarität tauch erneut im Davignon-Report von 1970 auf: Die Zusammenarbeit in der Außenpolitik hat demnach folgende Ziele: „die Harmonisierung der Standpunkte, die Abstimmung der Haltung und, wo dies möglich und wünschenswert erscheint, ein gemeinsames Vorgehen zu begünstigen und dadurch die Solidarität zu festigen“121. Der Report gilt als die Geburtsstunde einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit, die durch den anschließenden Kopenhagener Bericht von 1973 und den Londoner Bericht von 1981 kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Solidarität tritt auch hier nur in der Form eines unverbindlichen Appells auf. Dies liegt vor allem in der Rechtsnatur der Berichte begründet, die rein politische Absprachen im Stile eines Gentlemen’s Agreement der Mitgliedstaaten enthielten122. Die EPZ war eine intergouvernementale Zusammenarbeit zur Koordinierung nationaler Außenpolitiken ohne Ansätze zu einer weiteren Integration123. Das änderte sich auch nicht mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte am 28. Februar 1986 in Den Haag124. Die EPZ wurde dadurch in Art. 30 EEA völkerrechtlich verankert und institutionalisiert. So findet sich in der Präambel im fünften Erwägungsgrund die Formulierung „in dem Bewusstsein der Verantwortung Europas, sich darum zu bemühen, immer mehr mit einer Stimme zu sprechen und geschlossen und solidarisch zu handeln, um seine gemeinsamen Interessen und seine Unabhängigkeit wirkungsvoller zu verteidigen“. Im für die Normierung der EPZ zentralen Art. 30 EEA heißt es im Abs. 2 a): „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, einander in allen außenpolitischen Fragen von allgemeinem Interesse zu unterrichten und zu konsultieren, damit sichergestellt ist, dass sie durch Abstimmung, Angleichung ihrer Standpunkte und Durchführung gemeinsamer Maßnahmen ihren gemeinsamen Einfluss so wirkungsvoll wie möglich ausüben.“

121 Luxemburger Bericht: Erster Bericht der Außenminister an die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten vom 27. Oktober 1970, abgedruckt in: Auswärtiges Amt (Hrsg.), GASP, S. 31–37. 122 Burghardt/Tebbe, in: G/T/E, Vorbemerkungen zu den Artikeln J bis J.11 EUV Rn. 8. 123 Semrau, S. 15 f. 124 BGBl. 1986 II, S. 1102.

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Im selben Absatz unter c) wird weiter festgelegt: „Jede Hohe Vertragspartei trägt bei ihren Stellungnahmen und einzelstaatlichen Maßnahmen den Standpunkten der übrigen Partner in vollem Umfang Rechnung und berücksichtigt in gebührendem Maße die Wichtigkeit der Festlegung und Verwirklichung gemeinsamer europäischer Standpunkte.“

Geschlossen und solidarisch handeln können die Mitgliedstaaten nur, wenn sie untereinander ein gewisses Maß an Solidarität üben. Damit ist die respektierende Solidarität angesprochen, also eine Rücksichtnahme auf die Gemeinsame Außenpolitik und eine Förderung ihrer Ziele. In dieser Hinsicht wird das Solidaritätsprinzip in Art. 30 Abs. 2 konkretisiert. Während unter a) eine allgemeine Konsultationspflicht beschrieben wird, verlangt Abs. 2 c) von den Mitgliedern eine gebührende Berücksichtigung der Interessen der anderen Staaten und der Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens. Auch wenn hier der Begriff der Solidarität fehlt, findet sich in diese Vorschrift, wenn auch in äußerst schwacher Ausprägung, einer ihrer Grundelemente wieder. Das Solidaritätsprinzip im Bereich der EEA verbietet die alleinige Befolgung der nationalen Interessen in der Außenpolitik. Es wird zwar keine Pflicht zur Zurückstellung der nationalen Prioritäten zu Gunsten der gemeinsamen Interessen festgelegt, aber diese sind gebührend zu berücksichtigen. Die Staaten sollen nicht ohne Rücksicht auf die Interessen der anderen handeln, damit Europa nach außen geschlossen und solidarisch auftreten kann. Durch den Vertrag von Maastricht wurde die EPZ zur Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik und damit weiter verstärkt und erstmals institutionalisiert. Obwohl sich die intergouvernementale Form der Zusammenarbeit durch den Unionsvertrag nicht geändert hat, brachte der EUV einen wesentlichen Fortschritt für die gemeinsame Außenpolitik. Es erfolgte eine Verzahnung von supranational und völkerrechtlich strukturierten Politikbereichen durch die Konstruktion einer europäischen Union125. Nach dem Motto „Getrennte Strukturen – Gemeinsame Institutionen“ wurde ein einheitlicher institutioneller Rahmen für die Zusammenarbeit in der Außenpolitik geschaffen. Auch der Aspekt der Solidarität wurde verstärkt. Art. J.1 Abs. 4 EUV bestimmte: „Die Mitgliedsstaaten unterstützen die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und gegenseitigen Solidarität“. Diese Formulierung ist eine deutliche Steigerung an Klarheit und Aussagekraft im Vergleich zur Vorschrift des Art. 30 Abs. 2 c) EEA. Eine erneute Steigerung erhielt der Solidaritätsgedanke durch den Vertrag von Amsterdam 1997. Bei der Regierungskonferenz standen Überlegungen zu mehr Kohärenz, Kontinuität, Effizienz, Sichtbarkeit und Solidarität in der GASP im Vordergrund126. Die Formulierung des Art. J.1 Abs. 4 EUV wird in Art. 11 125

Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 3 EUV Rn. 1.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Abs. 2 S. 1 EUV übernommen. Zusätzlich fordert ein zweiter Satz: „Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln“. Nunmehr ist also von Loyalität und gegenseitiger Solidarität sowie gegenseitiger politischer Solidarität die Rede. Rein quantitativ kann eine Zunahme des Solidaritätsgedankens im Zuge der Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik der Union festgestellt werden. Ob dies auch qualitativ zutrifft, bleibt zu untersuchen. bb) Das Solidaritätsprinzip, seine Funktion und sein Inhalt Die GASP als Sonderform der Integration in der Union bleibt auch nach dem Vertrag von Nizza und dem VerfV auf eine rein völkerrechtliche Kooperation beschränkt. Es fragt sich, ob hier ein anderes Konzept der Solidarität als in der supranationalen Europäischen Gemeinschaft gilt. Im Laufe der bisherigen Untersuchung hat sich gezeigt, dass das Solidaritätsprinzip in eine „respektierende“ und eine „leistende“ Seite unterteilt werden kann. Insofern gilt es, die Vorschriften aus dem Titel V des EUV daraufhin zu untersuchen, ob sich dort das Solidaritätsprinzip in vergleichbarer Weise manifestiert. (1) Adressaten Die Frage, wer aus dem Solidaritätsgebot im Rahmen der GASP verpflichtet wird, ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts leicht zu beantworten. Im Abs. 2 von Art. 11 EUV werden ausschließlich die Mitgliedstaaten erwähnt. Das Solidaritätsgebot richtet sich also an diese. Nicht so eindeutig lässt sich feststellen, auf welchen Ebenen das Solidaritätsprinzip im Bereich der GASP Geltung beansprucht. Art. 11 Abs. 2 S. 2 EUV normiert zunächst nur die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit. Damit ist die horizontale Ebene angesprochen, also die Kooperation der Unionsstaaten untereinander im Bereich des Titel V. EUV. Durch die Zusammenarbeit soll die „gegenseitige politische Solidarität“ gefördert und verstärkt werden. Der erste Satz von Art. 11 Abs. 2 EUV scheint dagegen auf die vertikale Ebene hinzuweisen, indem dort die Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Außen- und Sicherheitspolitik der Union aufgerufen werden. In gleicher Weise wird eine vertikale Beziehungsebene im dritten Satz deutlich, wo von den „Interessen der Union“ gesprochen wird. Die Annahme einer vertikalen Beziehungsebene zwischen Union und Mitgliedstaaten setzt aber voraus, dass die Union ein selbständiger Akteur in diesem Bereich ist. Die Entscheidung hängt wiederum davon ab, ob man die EU als eigene Rechtspersönlichkeit ansieht oder nicht. 126 Regelsberger, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1996/97, S. 215.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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Für die ablehnende Meinung ist der Begriff der „Europäischen Union“ in den GASP-Bestimmungen politischer und nicht rechtlicher Natur. Es handele sich um eine Falsa demonstratio non nocet, um eine Façon de Parler, denn gemeint sei die Gesamtheit der Mitgliedstaaten127. Politisch handele zunehmend die Union im Verkehr mit Drittstaaten und Internationalen Organisationen, völkerrechtlich seien es aber die Mitgliedstaaten128. Nach der hier vertretenen Auffassung ist eine solche Konstruktion nicht notwendig. Mit einem Anerkenntnis der Rechtspersönlichkeit der Union kann sie selbst Vertragspartner sein und Träger von Rechten und Pflichten. Insofern gibt es auch eine vertikale Beziehungsebene in der GASP zwischen Union und Mitgliedstaaten. Fraglich ist aber, ob damit das Solidaritätsgebot auch für die Union gilt im Sinne einer Rücksichtnahme auf nationale Sonderinteressen der Mitgliedstaaten in der Außenpolitik. Ist also auch die Union als eigenständige Rechtspersönlichkeit dem Solidaritätsgebot unterworfen? Dagegen spricht eigentlich der Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 S. 1 EUV, der den Mitgliedstaaten eine aktive Förderungspflicht ohne nationale Vorbehalte („vorbehaltlos“) auferlegt. Zudem ist für die Schaffung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht förderlich, wenn die Union stets die nationalen Interessen berücksichtigen muss. Das Ziel ist die Behauptung der Identität der Union auf internationaler Ebene. Dazu muss die Union mit einer Stimme sprechen und die Mitgliedstaaten dürfen sich nicht widersprüchlich verhalten. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Politik in einem Bereich, der traditionell zum Kernbereich staatlicher Souveränität gehört, wird durch die Betonung des Kohärenzgebotes für die GASP, Art. 3 Abs. 2 EUV, unterstrichen. Es ist also durchaus mit dem Konzept der GASP zu vereinbaren, wenn man das Solidaritätsgebot auf eine einseitige Verpflichtung der Mitgliedstaaten gegenüber der Union sowie untereinander beschränkt. Allerdings zeigen zahlreiche Regelungen in den Bestimmungen über die GASP, dass dieser Bereich von Rücksichtnahme auf die nationalen Sensibilitäten geprägt ist. Es gilt grundsätzlich das Prinzip der Einstimmigkeit, die Union ist zur Achtung des besonderen Charakters der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Mitgliedstaaten nach Art. 17 Abs. 1 EUV verpflichtet und Art. 23 EUV sieht die Möglichkeit einer konstruktiven Enthaltung aus Gründen der nationalen Politik vor. Zudem gilt Art. 6 Abs. 3 EUV für die gesamte Union und damit auch für den Bereich der GASP129. Die nationale Identität der Mitgliedstaaten ist also grundsätzlich und in allen Bereichen der Union zu beachten. Der fehlende Wille der Mitgliedstaaten, für die GASP grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen einzuführen, und die strikte intergouvernementale Ausrichtung zei127

von Münch, GASP, S. 191. Müller-Graff, integration 1993, 147 (152). 129 Daraus zieht Kugelmann, EuR Beiheft 2, 1998, 99 (102) den Schluss, dass auch die Union dem Solidaritätsgebot gegenüber ihren Mitgliedern unterworfen ist. 128

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

gen, dass eine einseitige Beschränkung des Solidaritätsprinzips nicht dem Willen der „Herren der Verträge“ entspricht. Die GASP in ihrer derzeitigen Form zeichnet sich nicht dadurch aus, dass das Unionsinteresse in der Außenpolitik dem Interesse der einzelnen Staaten vorgeht. Vielmehr beruhen die Entscheidungen in diesem Bereich auf einer permanenten Kompromissfindung und internen Abstimmungen. Es kommt somit zu einer dualen Außenpolitik der Mitgliedstaaten, d.h. Handlungen im Bereich der GASP können gleichzeitig nationale und europäische Interessen verfolgen. Das Solidaritätsgebot erfüllt seinen Zweck nur dann vollständig, wenn es dafür sorgt, dass sowohl die nationalen Politiken im Einklang mit den Beschlüssen und Leitlinien der GASP sind, als auch die Unionsaußenpolitik nicht im Widerspruch zu nationalen Politiken steht. Unter den gegebenen Bedingungen kann die GASP nur in der Wechselwirkung zwischen Union und Mitgliedstaaten verwirklicht werden130. Das Solidaritätsprinzip erstreckt sich so auf die horizontale und die vertikale Ebene und gilt dort jeweils gegenseitig, d.h. für Union und Mitgliedstaaten als auch zwischen den Mitgliedstaaten131. (2) Inhalt des Solidaritätsgebots Nachdem nun feststeht, wer die primär Verpflichteten im Rahmen der GASP sind, ist es notwendig, Art und Umfang einer solchen Verpflichtung näher zu bestimmen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Gemeinsamen Außenpolitik um eine Art der völkerrechtlichen Zusammenarbeit. Auf der völkerrechtlichen Ebene ist ein Solidaritätsprinzip durchaus anerkannt, aber seine Funktion und sein Inhalt sind noch ungeklärt132. Die rechtliche Bindung der Staaten an ein solches Prinzip ist so schwach und allgemein, dass die Grenze zur politischen Absichtserklärung kaum zu ziehen ist. Die GASP unterscheidet sich aber wesentlich von anderen Formen völkerrechtlicher Kooperation. Die GASP ist Teil eines geschlossenen Systems mit einer eingrenzbaren und definierten Anzahl von Akteuren. In diesem System herrscht eine gesteigerte Verbundenheit als in sonstigen internationalen Kooperationsforen, es bestehen mehr Kooperationsebenen und nicht zuletzt eine geographische und historische Nähe der Mitgliedstaaten133. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn sich für die GASP ein stärker normativ ausgeprägtes Solidaritätsprinzip mit konkret zu benennenden Pflichten nachweisen lässt. 130

Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. J.1 EUV

Rn. 9. 131 So auch Kugelmann, EuR Beiheft 2, 1998, 99 (102) trotz Ablehnung einer Rechtsfähigkeit der Union. 132 Vgl. die Ausführungen zum Völkerrecht weiter oben, Kapitel D. 133 Kugelmann, EuR Beiheft 2, 1998, 99 f. begründet die besondere Form der Kooperation in der GASP mit dem Gebot der Kohärenz und dem Solidaritätsprinzip.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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(a) Literatur Die Stimmen in der Literatur deuten jedenfalls in diese Richtung. Art. 11 Abs. 2 EUV als Ganzes manifestiere eine gesteigerte Pflicht zur Förderung der GASP. Dazu genüge nicht die bloße Einhaltung der gemeinsamen Regelungen des fünften Titels des EUV. Insbesondere der dritte Satz mache deutlich, dass es sich um eine rechtliche Verpflichtung und nicht um einen politischen Appell handelt. Dadurch werde der völkerrechtliche Grundsatz der Vertragstreue speziell ausgeprägt134. Einen Vergleich mit dem Loyalitätsprinzip der EG ziehen Burghardt/Tebbe. Art. 11 Abs. 2 EUV enthalte das Gebot der Unionstreue für den intergouvernementalen Bereich im Vergleich zu Art. 10 EGV. Es werde eine Handlungspflicht zur vorbehaltlosen und aktiven Unterstützung konstituiert. Dies korrespondiere im Wesentlichen mit einer Pflicht zur aktiven Teilnahme an Beratungen, zur Offenlegung des eigenen Standpunktes und zur Mitteilung relevanter Informationen. Ob damit auch eine Verpflichtung zur Koordinierung der Interessen in Hinblick auf ein gemeinsames Unionsinteresse gemeint ist, lasse sich nicht beantworten. Im Gegensatz zum justiziablen Gemeinschaftsrecht, sei das Solidaritätsgebot im Rahmen der GASP allerdings nicht erzwingbares Völkerrecht. Dieser Auffassung ist auch Krück. Art. 11 Abs. 2 EUV konkretisiere die Solidaritätspflichten der Mitgliedstaaten. Diese Form der Unionstreue entspreche der in Art. 10 EGV statuierten Gemeinschaftstreue135. Allerdings wird dann der Unterschied zwischen beiden nicht herausgearbeitet, ebenso wie die Differenzierung der aus dem Solidaritätsgebot fließenden Pflichten fehlt. Eine genauere Unterscheidung nimmt Kaufmann-Bühler vor136. Auch für ihn besteht eine Übereinstimmung der aus dem Solidaritätsprinzip resultierenden Pflichten mit denen, die sich aufgrund des Loyalitätsgebotes nach Art. 10 EGV ergeben sowie den vergleichbaren, aus dem Prinzip der Bundestreue in föderalen Staaten stammenden Pflichten. Kaufmann-Bühler kommt zu dem Ergebnis, dass im Bereich der GASP die Handlungspflichten aus dem Solidaritätsprinzip im Bereich der GASP viel stärker ausgeprägt sind als das für den Bereich der Gemeinschaften der Fall ist. Zur Durchführung der GASP bedürfe die Union in ganz anderem Umfang der Mitgliedstaaten, da in diesem Bereich ein unabhängiges Organ, wie es die Kommission für die EG ist, nicht gibt137. Deshalb sei „die Solidarpflicht folgerichtig und nötig, insbesondere solange es noch keine 134

Zum ganzen: Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 11 EUV

Rn. 4. 135

Krück, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 11 EUV Rn. 8. Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. J.1 EUV Rn. 3 f. 137 Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. J.1 EUV Rn. 3 f. 136

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

gemeinschaftliche, sondern nur eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt“138. Dabei geht Kaufmann-Bühler sogar so weit, dass er von einer „Überordnung des gemeinsamen Interesses über das nationale Interesse auch in der GASP“ ausgeht, wobei die Pflicht zur Loyalität und Solidarität und das Verbot unionsschädigenden Verhaltens diesen Vorrang sichern139. Insgesamt wird dem Solidaritätsgebot also in der Literatur eine rechtliche Bedeutung für die GASP zugewiesen. Es erlegt den Mitgliedstaaten gesteigerte Abstimmungs- und Rücksichtnahmeverpflichtung und damit Kooperationspflichten auf. Seine Aufgabe sei es sicherzustellen, dass die Außenpolitik der Mitgliedstaaten im Einklang mit den in der GASP erarbeiteten Positionen steht und diesen nicht zuwiderläuft140. Häufig wird dabei der Vergleich mit dem Gebot der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 10 EGV gezogen. Eine Differenzierung zwischen beiden Prinzipien erfolgt jedoch nicht. (b) Eigener Ansatz Der Wortlaut des Unionsvertrages unterstützt zunächst einmal die Einschätzung, dass Solidarität in der GASP politische und nicht rechtlich verpflichtende Solidarität ist. Art. 11 Abs. 2 S. 2 EUV erlegt den Mitgliedstaaten eine Kooperationspflicht in Bezug auf die Förderung der „politischen Solidarität“ auf. Eine solche Form von Solidarität lässt sich nicht einfordern, sondern folgt politischer Vernunft und politischem Kalkül. Ein Mindestmaß an politischer Solidarität ist allerdings Voraussetzung für das Funktionieren der GASP als gemeinsamer Verbund. Deshalb wird von „weiterentwickeln“ und „stärken“ der politischen Solidarität gesprochen, eine solche also begrifflich bereits vorausgesetzt wird. Bei einem Vergleich der Formulierungen in Art. 11 Abs. 2 fällt auf, dass Satz 1 von „gegenseitiger Solidarität“ spricht, während im nächsten Satz diese zur „gegenseitigen politischen Solidarität“ wird. Dabei handelt es sich nicht um ein Redaktionsversehen oder eine Unachtsamkeit, denn der zweite Satz ist jünger und wurde erst durch den Vertrag von Amsterdam eingeführt141. Die Deutungsmöglichkeiten sind nun vielfältig. Der neu eingefügte Appell in Satz 2 könnte dazu dienen, möglichen Blockbildungen und Frontstellungen zwischen

138

Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. J.1 EUV

Rn. 9. 139

Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. J.1 EUV

Rn. 9. 140

Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. J.1 EUV

Rn. 9. 141 Einen guten Überblick über die durch Amsterdam eingeführten Neuerungen im Bereich der GASP gibt: Gilsdorf, in: Hummer (Hrsg.), Der Vertrag von Amsterdam, Institutionelle und materielle Reformen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, S. 237 ff.

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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großen und kleinen Mitgliedstaaten vorzubeugen142. Zugleich könnte damit eine Entscheidung über die Natur der Beziehungen im Rahmen der GASP getroffen worden sein. Es handelt sich um eine politische Zusammenarbeit ohne rechtliche Bindungen und Verpflichtungen. Kooperation und nicht Integration steht im Vordergrund der Bemühungen. Durch den adjektivischen Zusatz „politisch“ wird dies nun noch deutlicher herausgestellt. Von Solidarität kann nach dieser Konzeption nur gesprochen werden, wenn es gelingt, einen gemeinsamen Standpunkt aller Mitgliedstaaten zu formen, den die Union im Außenverhältnis vertreten kann. Erst dann lässt sich eine Unionsaußenpolitik feststellen, die von der Summe der Einzelinteressen unterscheidbar ist. (aa) Respektierende Solidarität in der GASP Das Solidaritätsprinzip dient dabei der Bewahrung des gemeinsamen Standpunktes indem es Handlungs- und Unterlassungspflichten statuiert. Die Handlungspflichten sind in den verschiedenen Bestimmungen des Titel V normiert143. Die generalklauselartige Formulierung des Art. 11 Abs. 2 S. 1 EUV („aktiv und vorbehaltlos“) kommt daneben nicht zur Anwendung144. Allerdings zeigen die zahlreichen Ausnahmetatbestände und insbesondere das generelle Einstimmigkeitserfordernis im Bereich der GASP, das Solidarität hier nicht absolut im Sinne eines generellen Vorrangs der gemeinsamen Interessen, sondern relativ zu verstehen ist. Das Interesse des Gliedstaates geht somit im Zweifel dem Interesse der Gesamtheit aller Staaten vor. Jede Entscheidung mit Auswirkungen auf diesen Bereich muss aber in gegenseitiger Abstimmung getroffen werden. Besonders deutlich wird dies durch Art. 16 EUV, wonach zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung im Rat eine gegenseitige Unterrichtung und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet. Diese offene Formulierung schließt also keinen Gegenstand der Außen- und Verteidigungspolitik von vornherein aus. Einzige Voraussetzung ist, dass die zu behandelnde Frage von allgemeiner Bedeutung ist. Mangels weiterer Vorgaben bleibt es dabei der politischen Praxis des Rates überlassen, die konkret darunter fallenden Fragen zu bestimmen145.

142 Regelsberger, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1996/97, S. 219. 143 Zum Beispiel Art. 15 S. 3 EUV, Art. 16 EUV, Art. 14 EUV. 144 Burghardt/Tebbe/Marquardt, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 11 EUV Rn. 8. 145 Burghardt/Tebbe/Marquardt, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 16 EUV Rn. 2 kommen deshalb zu dem Schluss, dass zwar kein Politikbereich durch Art. 16 EU ausgeschlossen wird, dass sich aber die allgemeine Bedeutung einer Frage im Umkehrschluss faktisch daraus ergibt, dass sie im Rahmen der GASP behandelt wird.

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G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Deutlicher sind die Unterlassungspflichten normiert worden. Insbesondere Art. 23 Abs. 1 S. 4 EUV verbietet den Staaten jede Tätigkeit, die einem einmal getroffenen Beschluss im Rahmen der GASP zuwiderläuft oder diesen behindern könnte. Dort wird der Fall geregelt, dass ein Staat sich bei einem Entschluss der Stimme enthalten und zugleich eine förmliche Erklärung abgegeben hat, so dass der Beschluss für dieses Mitgliedsland nicht bindend ist. Diese Formulierung erinnert an das Gebot in Art. 11 Abs. 2 S. 3 EUV: „Sie (die Mitgliedstaaten) enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihre Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte.“ Das Prinzip der Solidarität beschränkt hier also die politische Souveränität der Mitgliedstaaten. Jenseits der speziellen Regelungen ist es diesen untersagt, sich gegen die Interessen der Union zu stellen146. Die Verfolgung eigener Interessen ist damit untersagt, wenn diese den Interessen der Union, wie sie in dem speziellen Beschluss zu Tage treten, zuwider laufen. Bemerkenswert ist, dass dies auch gilt, wenn ein Staat seine Bindung ausdrücklich durch die förmliche Erklärung ausgeschlossen hat. Damit unterliegen die Staaten einem Frustrationsverbot. Mit dieser an das völkerrechtliche contracting-out angelehnten konstruktiven Enthaltung wird eine integrationsfreundliche Alternative zur Ablehnung eröffnet147. Folglich kann die Regelung des Art. 23 als Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzes der Solidarität in Art. 11 Abs. 2 EUV gesehen werden148. Der Kern des Solidaritätsprinzips in der GASP ist die Anerkennung einer unionsspezifischen Außenpolitik als solchen. Es kommt damit zu einer dualen Außenpolitik der einzelnen Staaten. Zum einen gibt es die nationale, vollkommen souveräne Außenpolitik. Diese wird durch die politischen Präferenzen der jeweiligen Regierungskoalition geprägt. Daneben existiert allerdings eine europäische Außenpolitik. Ihr Strukturmuster ist insofern anders, als dass sie immer Ausdruck eines Kompromisses der Mitgliedstaaten ist. Erst der gemeinsame Nenner aller führt dazu, dass es neben der Summe der nationalen Interessen auch noch andere, davon verschiedene Unionsinteressen gibt. Diese sind nicht notwendigerweise identisch mit der Summe der Einzelinteressen, denn durch das Einstimmigkeitserfordernis im Bereich der GASP ist ein gewisses Abrücken von nationalen Positionen für eine Kompromissfindung unausweichlich. Die Schnittmenge des kleinsten gemeinsamen Nenners ergibt dann das, was man als Unionsinteresse bezeichnen kann. Eine solche Sicht bewegt sich im Rahmen der rechtlichen Konstruktion der GASP, wonach die Akteure die Mitgliedstaaten sind, die lediglich durch einen völkerrechtlichen Vertrag miteinander verbunden 146 Krück, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 11–28 EUV Rn. 73: „So steht die Solidarität einem Ausscheren einzelner Mitgliedstaaten jenseits der speziellen vertraglichen Mechanismen entgegen.“ 147 Vedder, EuR Beiheft 1, 1999, 7 (26). 148 So wohl auch Kugelmann, EuR Beiheft 2, 1998, 99 (102).

I. Das Solidaritätsprinzip im Unionsrecht

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sind. Funktion des Solidaritätsprinzips in diesem Bereich ist es nun, einen angemessenen Ausgleich zwischen nationalen Einzelinteressen und einer europäischen Außenpolitik zu finden. Insoweit steht der respektierende Teil des Solidaritätsprinzips im Vordergrund. Am deutlichsten sind hier dann die Unterlassungspflichten bestimmt. Den Ausgleich, den das Solidaritätsprinzip in der GASP gewährleisten soll, zeigt am besten Art. 23 Abs. 1 EUV. Anhand eines praktischen Beispiels soll seine Relevanz verdeutlicht werden. Die Union beschließt einen humanitären Rettungseinsatz unter der Beteiligung von Kampftruppen. Dieser Beschluss ist nach Art. 23 Abs. 1 EUV einstimmig zu fassen. Wegen der Beteiligung von Kampftruppen ist solch ein Beschluss aber ein Problem für neutrale Mitgliedstaaten wie Irland, Finnland, Österreich und Schweden. Das Prinzip der Solidarität gebietet jetzt keine Aufgabe dieser Neutralität, sondern unter Umständen eine Stimmenthaltung nach Art. 23 Abs. 1 EUV. Auf der anderen Seite darf aber der auch der Einsatz im Namen der Union die grundsätzliche Neutralität dieser Mitgliedstaaten nicht in Frage stellen. (bb) Leistende Solidarität in der GASP Als wesentlicher Bestandteil des Solidaritätsprinzips hat sich eine Leistungskomponente gezeigt. Fraglich ist nun, ob sich dies auch für den Bereich der GASP nachweisen lässt. Gemäß Art. 28 Abs. 3 2. UA EUV muss ein Mitgliedstaat, der von seinem Recht zur konstruktiven Enthaltung Gebrauch gemacht hat, sich nicht an den finanziellen Kosten einer beschlossenen Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen beteiligen. Daraus folgt aber anderseits, dass für alle übrigen Maßnahmen die Pflicht zur finanziellen Solidarität besteht149. Also muss ein Staat bei außenpolitischen Beschlüssen die Finanzlast mittragen, obwohl er sich der Stimme enthalten hat. Hier zeigt sich der Leistungsaspekt des Solidaritätsgebotes. Die Stimmenthaltung dieses Landes verdeutlicht, dass der Beschluss im Rahmen der GASP zwar nicht gänzlich den eigenen Interessen konträr läuft, sonst hätte das Land gegen den Beschluss gestimmt, aber auch nicht vollständig kompatibel mit der eigenen Politik ist. Trotzdem muss sich dieses Land an der Finanzierung eines von ihm nicht getragenen Entschlusses beteiligen, entweder indirekt über den Haushalt der EG oder direkt nach dem Bruttosozialprodukt-Schlüssel150, Art. 28 Abs. 3 2. UA EUV. 149

Thun-Hohenstein, Der Vertrag von Amsterdam S. 72. Zum Haushalt der EU vgl.: Oppermann, Europarecht, § 10 Finanzordnung. Der Bruttosozialprodukt-Schlüssel ergibt sich dabei aus Art. 2 des Ratsbeschlusses über das System der Eigenmittel der EGen (94/728 vom 31.10.1994, ABl. 1994, L 239/9) in Verbund mit der Richtlinie 89/139 vom 13.2.1989, ABl. 1989, L 49/26 ff. Dabei gibt es eine Gesamtobergrenze und die Höhe orientiert sich an der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaates. 150

148

G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

Eine weitergehende finanzielle Verpflichtung aus dem Solidaritätsprinzip lässt sich aber für die GASP nicht feststellen. Es folgen insbesondere keine Unterstützungspflichten für andere wirtschaftlich schwächere Mitgliedstaaten daraus. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Gedanken des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts im EGV, der als besondere Ausprägung des Solidaritätsprinzips bewertet worden ist151. Im Bereich der GASP geht es lediglich um eine Finanzierung der Aufgaben, während die Kohäsionsvorschriften eine aktive Unterstützung und Förderung von ärmeren Mitgliedsländern und Regionen im Sinne einer positiven Umverteilung beabsichtigen. Es bleibt Sache der Mitgliedstaaten, die technischen und militärischen Mittel zur Verfügung zu stellen, die für die Durchführung der Beschlüsse der GASP erforderlich sind. Eine Unterstützung der wirtschaftlich stärkeren für die schwächeren Mitgliedsländer ist nicht vorgesehen. (3) Schwäche des Solidaritätsprinzips in der GASP Im Bereich der GASP wird damit vor allem die respektierende Seite des Solidaritätsprinzips betont. Sein Schwachpunkt besteht darin, dass es lediglich einen Ausgleich der Interessen und keinen Vorrang der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik statuiert. Diese Schwäche des Solidaritätsprinzips zeigt sich in der politischen Praxis. Aufgrund der fehlenden Sanktionsmöglichkeit und der fehlenden Justitiabilität des Titels V EUV fällt es leicht, die Vorschrift zu ignorieren152. Dies geschieht typischerweise in politischen Situationen von herausragender internationaler Bedeutung aufgrund von nationalem Eigeninteresse und Profilierungssucht153. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die offene Zerrissenheit der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Unterstützung für den zweiten Golfkrieg im Februar 2003. In einem Brief erklärten acht Unionsländer und Beitrittskandidaten ihre Solidarität (!) mit der repressiven Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber dem Irak154. Art. 16 EUV und das Solidaritätsgebot gebietet in einem solchen Fall zumindest eine vorherige Abstimmung und Information der anderen Unionsländer. Es ist bezeichnend für die GASP, dass die Souveränität der Staaten der Solidarität untereinander vorgeht. Zumindest in der Rechtspraxis verkommt damit das Solidaritätsprinzip zum politischen Appell. Solidarität wird nur geübt, wenn es politisch opportun erscheint und den nationalen Interessen nicht entgegenläuft. 151

s. oben Kapitel F. IV. 6. Denkbar ist allerdings eine mittelbare Überprüfung durch den EuGH. Zu den möglichen Konstellationen vgl. das Kapitel über die Justitiabilität des Solidaritätsprinzips, K. II. 153 Burghardt/Tebbe/Marquardt, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 11 EUV Rn. 16. 154 FAZ v. 31.01.2003, Nr. 26, S. 4. 152

II. Das Solidaritätsprinzip in den Bestimmungen von Strafsachen

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d) Ergebnis Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass auch im Bereich der GASP der Gedanke der Solidarität normiert ist. Aus diesem Solidaritätsprinzip fließen Handlungs- und Unterlassungspflichten. Insbesondere in Art. 23 Abs. 1 EUV ist ein explizites Unterlassungsgebot für den Fall einer konstruktiven Enthaltung statuiert. Das Solidaritätsprinzip geht dabei über den völkerrechtlichen Grundsatz der Vertragstreue hinaus. Auch wenn ein Mitgliedstaat seine Bindung an einen Beschluss ausgeschlossen hat, trifft ihn eine Unterlassungspflicht. Damit gibt das Solidaritätsprinzip der Gemeinsamen Außenpolitik eine Struktur, die sich von anderen Formen der intergouvernementalen Zusammenarbeit auf völkerrechtlicher Ebene unterscheidet155. Die GASP ist mehr als ein rein intergouvernementales Kooperationsforum, weil sie auf eine systematische und vertiefte Zusammenarbeit mit Verfahren und Beschlussformen angelegt ist156. Dies zeigen die Gebote der Kohärenz und Solidarität. Der Grundsatz der Solidarität geht aber nicht soweit, dass er den einzelnen Staaten auferlegt, unbedingt zu einem Kompromiss zu kommen. Die Mitgliedstaaten können weiterhin im Rat ihre nationalen Interessen verfolgen. Auch gilt im Zweifel der Vorrang des einzelstaatlichen vor dem gemeinsamen Interesse, ein Zeichen dafür, dass hier noch sehr die intergouvernementalen Strukturen überwiegen. Die Solidaritätspflicht bleibt im Bereich der GASP primär eine Unterlassungspflicht.

II. Das Solidaritätsprinzip in den Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Im Gegensatz zum fünften Titel des EUV enthält das nachfolgende Kapitel über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) keinen wörtlichen Hinweis auf das Solidaritätsprinzip. Die Struktur von GASP und PJZS als zweiter und dritter Säule der Union ist aber vergleichbar. Es handelt sich um Formen der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Der Rat ist das maßgebliche Entscheidungsgremium, und es gilt generell das Einstimmigkeitsprinzip. Ein fehlender schriftlicher Hinweis auf das Solidaritätsprinzip im Titel VI. des EUV bedeutet nun nicht, dass das Solidaritätsprinzip in diesem Bereich nicht zum Tragen kommt. Wenn man davon ausgeht, dass die Solidarität nicht nur wegen Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV, der ja für die gesamte Union gilt, ein all155 Streinz, Europarecht, Rn. 422 weist darauf hin, dass die Akte im Rahmen der GASP und der PJZS sich deshalb von sonstigem intergouvernementalem Zusammenwirken unterscheiden, weil diese Formen des Zusammenwirkens besonders institutionalisiert sind und sich des Europäischen Rates als Organ und der Institutionen der Europäischen Gemeinschaften bedienen. 156 Kugelmann, EuR Beiheft 2, 1998, 99 (100).

150

G. Nachweis eines Prinzips der Solidarität im Vertrag über die EU

gemeiner Rechtsgrundsatz der EU ist, können sich auch die Vorschriften über die PJZS als Ausdruck des Solidaritätsprinzips erweisen. Eine zentrale Vorschrift wie Art. 11 Abs. 2 EUV, die die allgemeinen Solidaritätspflichten der Mitgliedstaaten enthält, fehlt für die PJZS. Der Einleitungsartikel 29 beschränkt sich auf eine Aufzählung des grundlegenden Ziels einer Schaffung eines Raumes der Freiheit, Sicherheit und des Rechts mit einem hohen Maß an Sicherheit für die Bürger und der Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Für die GASP wurde eine generelle Unterlassungspflicht als wesentlicher Bestandteil des Solidaritätsprinzips festgestellt. Eine solche fehlt ebenfalls im Bereich der PJZS157. Es lässt sich aber eine verstärkte Kooperationspflicht der Mitgliedstaaten feststellen. Wie in der GASP finden sich hier besondere Konsultations- und Informationspflichten. Art. 34 Abs. 1 schreibt vor, dass bei allen Maßnahmen mit Bezug zu den Regelungen der Art. 29–42 EUV eine Unterrichtung und Konsultation der anderen Mitgliedstaaten im Rat notwendig ist158. Information und Kooperation ist besonders für den Bereich der Strafverfolgung und Verbrechensprävention notwendig. Insofern stellen diese Pflichten die sachliche Grundlage der PJZS dar. Eine weitere Konkretisierung dieser Pflichten beinhaltet Art. 37 EUV159. Allerdings wird hier kein Vorrang der gemeinsamen Interessen, wie sie sich in den Zielen der PJZS ausdrücken, konstituiert. Vielmehr gilt auch hier, dass zwar Kooperation und Koordination gefordert ist, das einzelstaatliche Interesse im Zweifel aber vorgeht160. Daneben deuten auch andere Texte im Zusammenhang mit Titel VI. EUV auf das Solidaritätsprinzip hin. In einem gemeinsamen Aktionsplan zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages über den Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, betonen Rat und Kommission die Notwendigkeit, dass „der Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen diesen und den europäischen Organen“ auch bei grenzüberschreitenden Herausforderungen, namentlich organisierter Kriminalität und Migrationsbewegungen, zum Tragen kommt161. Bemerkenswert an dieser Äußerung ist, dass der Grundsatz der Solidarität ohne weiteres sowohl auf die horizontale Ebene, zwischen den Mitgliedstaaten, als 157 Anders noch Degen, in: G/T/E, Art. K EUV Rn. 3, der auf Grundlage von Art. K.7 Maastrichter Vertrag zu der Annahme kommt, dass die Mitgliedstaaten „alles zu unterlassen haben, was der Justiz- und Innenzusammenarbeit zuwiderläuft oder sie behindert“. 158 Daraus entnimmt Hieronymi, dass die Mitgliedstaaten ihre eigenen Interessen zugunsten des gemeinsamen Interesses zurückstellen müssen; Hieronymi, S. 74. 159 Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 29 EUV Rn. 7. 160 Dies zeigt deutlich Art. 33 EUV, der den Mitgliedstaaten die unbedingte Kompetenz zum Schutz der inneren Sicherheit und Wahrung der öffentlichen Ordnung zugesteht. Durch die Verwendung der Generalklauseln kann hierunter praktisch jeder Bereich fallen, der auch Gegenstand der PJZS sein kann. A. A. Hieronymi, S. 74. 161 ABl. 1999, C 19/1, Teil II A. 24. iii).

II. Das Solidaritätsprinzip in den Bestimmungen von Strafsachen

151

auch auf die vertikale Ebene, zwischen Mitgliedstaaten und Union, vertreten durch ihre Organe, bezogen wird. Ebenso wird im zweiten Erwägungsgrund der Präambel zum Europol-Übereinkommen darauf hingewiesen, dass „Fortschritte bei der Solidarität und Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erforderlich sind“162. Diesem Zweck soll dann die Errichtung des Europäischen Polizeiamtes und einer verbesserte polizeiliche Zusammenarbeit dienen. Wenn der Solidaritätsgedanke im Bereich der intergouvernemtalen Kooperation so verstanden wird, dass er verstärkte Formen der Rücksichtnahme und Kooperation gebietet, dann lässt sich auch im Bereich der PJZS das Solidaritätsprinzip nachweisen. Deshalb sind die Mitgliedstaaten gehalten, keine nationalen Alleingänge zu unternehmen, ohne eine Abwägung und Abstimmung mit dem gemeinsamen Interesse zu suchen. Die Solidaritätspflicht gebietet es schließlich, dass die Mitgliedstaaten im Bereich der PJZS nur in den dort vorgesehenen Formen zusammenarbeiten können163. Das heißt nicht, dass sie im gemeinsamen Interesse zusammenarbeiten müssen. Nur wenn die Mitgliedstaaten sich für eine Kooperation unter dem Dach der PJZS entschließen, bleibt ihnen die Möglichkeit zu anderen Formen der Zusammenarbeit, etwa ein stärkerer Datenabgleich nur zwischen bestimmten Mitgliedern, mit Ausnahme der Möglichkeit zur vZa nach Art. 40 EUV verwehrt. So beinhalten die Regelungen der PJZS solidarische Pflichten als Ausfluss des für die ganze Union geltenden Solidaritätsprinzips. Wenn in den allgemeinen Bestimmungen der Präambel und des Art. 1 Abs.3 S. 2 EUV, die für alle drei Säulen der Union verbindlich sind, ein solches Prinzip enthalten ist, dann erstreckt das Solidaritätsprinzip sich notwendigerweise auch auf die PJZS. Seine grundsätzliche Geltung vorausgesetzt, kann es dann aber, wie gesehen, qualitativ unterschiedliche Pflichten enthalten.

162

ABl. 1995, C 316/1, Anhang. So auch Wasmeier/Jour-Schröder, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 29 EUV Rn. 5. 163

H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte I. Einleitung und Methode Wenn bisher vom Solidaritätsprinzip die Rede gewesen ist, dann erfasst dies, das hat die Auslegung ergeben, ausschließlich die Staaten und die Union in ihrer wechselseitigen Verbundenheit. Es ist herausgearbeitet worden, dass das Solidaritätsprinzip ein herausragendes Struktur- und Ordnungsmerkmal der Union darstellt, welches Staaten und Union im gemeinschaftsrechtlichen Verkehr Rechte und Pflichten auferlegen kann. Die Integration im Verfassungsverbund der Europäischen Union ist solidarisch. Nach allgemeiner Auffassung fehlen jedoch noch die Voraussetzungen in der Europäischen Union, um von einer vergleichbaren solidarischen Verbundenheit der Bürger und europäischen Völker sprechen zu können1. Insofern hat sich die oben angeführte Aussage Robert Schumanns noch nicht voll bewahrheitet2. Es ist keine europäische Föderation entstanden und eine tatsächliche Verbundenheit der Bürger außerhalb und unabhängig von den Vorgaben des positiven Rechts fehlt nach wie vor in der Union. Dennoch ist die alleinige Konzentration auf das Verhältnis der Staaten im Verbund der Europäischen Union angesichts aktueller Entwicklungen nicht mehr zu rechtfertigen. Zu nennen sind an dieser Stelle nur die mit Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft3, das Konzept der Bürgernähe der Union4 und die Rechtsprechung des EuGH zu den europäischen Grundrechten5. Vor allem aber die am 7. Dezember 2000 auf der Regierungskonferenz in Nizza feierlich proklamierte Charta der Grundrechte zeigt deutlich, dass sich die Europäische Union zu einer Union der Bürger entwickeln will6. Im Zuge dieser Entwicklungen ist die Rechtsstellung des Unionsbürgers erweitert worden. Er bleibt grundsätzlich „Marktbürger“7, d.h. Freiheit und Gleichheit werden vor allem im Zu1

Volkmann, SuS 1998, 17 (22 f.). Vgl. Kapitel F. V. 2. 3 Art. 17 EGV. 4 Vgl. 12. Erwägungsgrund der Präambel EUV. 5 Die Grundrechte der Person gehören nach der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, vgl. EuGH, Rs. 29/ 69, Stauder, Slg. 1969, 419, Rn. 7. 6 s. dazu allgemein: Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1989; Hrbek (Hrsg.), Europa und Bürger, 1994. 7 Dieser Ausdruck wurde von Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 8 Rn. 6 geprägt: Marktbürger will hervorheben, dass der Einzelne als Bürger seines Staates, der Mitgliedstaat 2

II. Rechtsverbindlichkeit der Charta

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sammenhang mit der Verwirklichung der wirtschaftlichen Ziele der Verträge gewährt. Jedoch sind seine Rechte kontinuierlich erweitert worden aufgrund der Erkenntnis, dass die Union mit fortschreitender Integration einer verbesserten Legitimationsgrundlage bedarf. Die Europäische Union ist deshalb schon seit langer Zeit nicht nur eine Rechtsgemeinschaft, sondern auch eine Grundrechtsgemeinschaft8. Damit sich der Bürger mit der Union identifiziert, sollen zu den marktwirtschaftlichen Freiheiten auch soziale Rechte hinzukommen. Dies wurde auch vom Europäischen Rat so gesehen: „to prepare for the future, the Union must rely on its achievements. It must continue to promote its inherent values of solidarity and justice as enshrined in the Charter of Fundamental Rights. The European social model, characterised in particular by systems that offer a high level of social protection, by the importance of the social dialogue and by the services of general interest covering activities vital for social cohesion, is today based, beyond the diversity of the Member States’ social systems, on a common core of values.“9

In der Charta taucht der Begriff der Solidarität an mehreren Stellen auf. So nehmen auch die neuesten Entwicklungen im Primärrecht10 den Gedanken der Solidarität auf. Mit der Charta werden zum ersten Mal die europäischen Grundrechte in einem Dokument zusammengefasst und sichtbar gemacht. Es ist deshalb unumgänglich, die einzelnen Bestimmungen der Charta zu analysieren und auszulegen auf der Suche nach dem Rechtsprinzip der Solidarität11. Im Vordergrund sollen dabei folgende Fragen stehen: Können durch die Rechte der Charta verbindliche Rechte der Bürger begründet werden? Wer wird durch die Charta verpflichtet? Welches Verständnis von Solidarität ist der GR-Charta zu entnehmen? Erfährt das Konzept der Solidarität in der Europäischen Union durch die Charta der Grundrechte eine Erweiterung?

II. Rechtsverbindlichkeit der Charta Nach dem derzeitigen Stand kann die GR-Charta keine rechtliche Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Es lassen sich aus ihr keine Rechte und Pflichist, und dem er weiterhin angehört, dem Recht des gemeinsamen Marktes untersteht, soweit er an ihm teilnimmt. 8 Pache, EuR 2002, 475 (476); Dazu meint Hirsch: „Durch den Verfassungsvertrag ändert sich die raison d’être der Union: das Individuum rückt in den Mittelpunkt, die Integration auf den traditionellen Politikfeldern der Wirtschaft und der Währung tritt in den Hintergrund“, Hirsch, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf, S. 111 (119). 9 2001, O.J. C157/4; zitiert nach Lenaerts/Desomer, ELRev. 2002, 375 (380). 10 Die Charta der Grundrechte wird hier, den Entwicklungen vorgreifend, dem Primärrecht zugeordnet trotz ihrer bisherigen rechtlichen Unverbindlichkeit. Mit der Ratifizierung des VerfV wird sie dann ein rechtlich bindender Teil des Primärrechts. 11 Es verwundert daher, dass Hieronymi die Grundrechtecharta mit keinem Wort erwähnt; vgl. Hieronymi, Solidarität, 2003.

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

ten ableiten. Die Charta ist als unverbindliche Erklärung vom Europäischen Rat in Nizza angenommen worden, da der Widerstand für eine Aufnahme der Charta in die Verträge zu groß gewesen ist12. Insbesondere der EuGH ist nicht an die GR-Charta gebunden, weil ein Hinweis in Art. 6 Abs. 2 EUV durch den Vertrag von Nizza nicht eingeführt worden ist. Diese Vorschrift ist inzwischen nach Art. 46 lit. d) EUV der Gerichtsbarkeit des EuGH unterstellt. Trotzdem ist die Charta ein starkes Symbol einer gemeinsamen europäischen Werteordnung. Die Existenz europäischer Grundrechte und Werte wird von keiner Seite mehr in Frage gestellt, so dass die GR-Charta ungeachtet der Rechtslage ein unentbehrliches Dokument für die Auslegung und Analyse des Primärrechts darstellt. Außerdem spricht vieles dagegen, die Charta nach ihrer feierlichen Proklamation in Nizza einfach „verwelken“ zu lassen13. So enthielt bereits der Beschluss des Europäischen Rates von Köln den Hinweis, dass die Aufnahme der Charta in die Verträge zu prüfen sei14. Ebenso versprechen die Mitgliedstaaten in der Erklärung Nr. 23 zum Vertrag von Nizza, dass im Rahmen der Vorbereitung der Union für eine Erweiterung 2004 ein Schwerpunkt auf der Prüfung des Status der Charta liegen soll15. Allerdings enthalten diese Erklärungen keinerlei Festlegung auf eine spätere Rechtsverbindlichkeit der Charta16. Schließlich ist die Charta zum größten Teil auf eine spätere rechtliche Verbindlichkeit angelegt. Insbesondere die Art. 51 ff. GR-Charta machen nur im Fall einer Verbindlichkeit Sinn17. Inzwischen ist mit der Annahme des VerfV auf der Regierungskonferenz am 29. Oktober 2004 in Rom die Rechtsentwicklung vorangeschritten. Der VerfV verankert nun die Charta als zweiten Teil einer zukünftigen Verfassung. Deshalb bestimmt Art. I-9 Abs. 1 VerfV: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte als dem Teil II dieser Verfassung enthalten sind“. In diese Entwicklung passt es, dass bereits weiterführende Überlegungen im Hinblick auf die Einführung einer eigenen Grundrechtsbeschwerde vor dem EuGH angestellt werden18. Mit der Ratifizierung des VerfV durch alle 25 Mitgliedstaaten wird sich die Diskussion über eine rechtliche Verbindlichkeit der Charta19 spätestens erledi12

Schmitz, JZ 2001, 833 (835). Pernice, DVBl. 2000, 847 (858): „Die Charta zu verabschieden und dann als feierliche Erklärung ,verwelken‘ zu lasse, wäre ein neuer Beweis für die Entfremdung zwischen Bürger und Regierungen. Die Bürger vertrauen darauf und erwarten, dass ihre Regierungen und Parlament in der Lage sind, die Rechtsbeziehungen zwischen ihnen und Union durch eine verbindliche Charta zu konkretisieren“. 14 Bulletin EG, 6-1999, 1138, Anhang IV. 15 Erklärung zur Zukunft der Union, Nr. 23, Rn. 5. 16 Hilf, EuR Beiheft 3, 2002, 13 (26). 17 Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 28. 18 Calliess, EuZW 2001, 261 (268); Reich, ZRP 2000, 375 (377 f.). 19 Dafür Lenaerts/de Smijter, CMLRev. 2001. 273 (298 ff.); dagegen exemplarisch Goldsmith, CMLRev. 2001, 1201 (1214 ff.). 13

III. Adressaten

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gen. Auch wenn nach der Ablehnung des VerfV in Frankreich und den Niederlanden der Ausgang dieses Prozesses wieder völlig offen scheint, wird für den Zweck der vorliegenden Arbeit von einer künftigen rechtlichen Verbindlichkeit der Charta ausgegangen20. Erst durch rechtliche Wirkung kann die Charta die ihr zugedachte identitätsstiftende und integrierende Funktion vollkommen wahrnehmen21.

III. Adressaten Den grundsätzlichen Anwendungsbereich der GR-Charta umschreibt Art. 51 GR-Charta (Art. II-111 VerfV). Obwohl sich dies aus dem Wortlaut des Artikels nicht ohne weiteres erschließen lässt, richtet sich die Charta an die gesamte Europäische Union und ihre Organe22. Es werden alle Bereiche der Union einschließlich der Gemeinschaften und der 2. und 3. Säule darunter gefasst23. Die Union soll bei allen Handlungen einer vollständigen Grundrechtsbindung unterworfen werden und der Unionsbürger soll sich auf die einzelnen Rechte berufen können. Daneben macht Art. 51 GR-Charta (Art. II-111 VerfV) deutlich, dass auch die Mitgliedstaaten zu den Adressaten gehören, allerdings beschränkt auf die Bereiche, in denen sie bei der Durchführung des Rechts der Union handeln24. Damit findet die Charta nur Anwendung, wenn es um die Anwendung von Verordnungen oder die Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten geht25. Da dies nur durch die zuständigen Organe der Mitgliedstaaten geschehen kann, sind diese denknotwendig ebenfalls Adressaten. Folglich sind alle Organe der Union und der Gemeinschaft auf sämtlichen Tätigkeitsfeldern an die GR-Charta gebunden. Ebenso müssen Mitgliedstaaten und ihre zuständigen Organe sowohl bei der normativen als auch bei der administrativen Durchführung von Unions- und Gemeinschaftsrecht die europäischen Grundrechte achten. Dagegen lässt sich die Frage nach der unmittelbaren und mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, also ihrer Wirkung auch im Privatrechtsverkehr, ebenso wie die Frage nach den grundrechtlichen Schutzpflichten nicht so eindeutig und wohl nur im konkreten Fall beantworten. Für Art. 32 GR-Charta (Art. II-92 VerfV) wird z. B. bereits für beide Absätze eine unmittelbare Drittwirkung angenommen26. 20 Zu den mit einer Aufnahme der GR-Charta in das Primärrecht verbundenen Problemen vgl. Schröder, JZ 2002, 849. 21 Schröder, JZ 2002, 849 (850). 22 So auch Goldsmith, CMLRev. 2001, 1201 (1204 f.). 23 Borowski, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Artikel 51 Rn. 17. 24 Zu praktischen Problemen durch diese Formulierung Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 26. 25 So auch Tettinger, NJW 2001, S. 1010; Große Wentrup, S. 49 ff. 26 So Schmitz, JZ 2001, 833 (841).

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

IV. Textanalyse 1. Präambel Die Bedeutung des Solidaritätsprinzips für die Europäische Union wird durch die Präambel der Charta deutlich herausgestellt27. Der Textbefund zeigt, dass offenbar das Solidaritätsprinzip in die Charta der Grundrechte aufgenommen werden sollte. Dieses Prinzip ist im europäischen Primärrecht, wie gezeigt, keine revolutionäre Innovation. Das Solidaritätsprinzip gilt in allen Bereichen der Europäischen Union und ordnet den gemeinsamen Verbund. Deshalb ist es verfehlt, wenn Busse feststellt: „Für eine eigenständige Bedeutung unabhängig von den Konkretisierungen der Art. 27 ff.28 dürfte sie (die Solidarität) kaum in Betracht kommen, da die Gefahr eines politischen Missbrauchs dieses ideologisch erheblich vorbelasteten Begriffes zu groß scheint.“29

Mit dieser Sicht wird Solidarität auf die Bedeutung als politischer Kampfbegriff reduziert ohne seine grundlegende Funktion als Rechtsprinzip zu erkennen. Ebenso ist es missverständlich, wenn Meyer schreibt, dass die Solidarität „durch die Grundrechtscharta einen ganz neuen Stellenwert“ erhalten hat30. Auch Haag sieht in der Betonung von Solidarität in der Charta eine bedeutsame Neuerung31. Zu leicht wird dadurch übersehen, welchen Stellenwert das Solidaritätsprinzip bereits vor Verabschiedung der Charta in den europäischen Verträgen hatte. a) Entstehungsgeschichte Eingang in den Text gefunden hat der Begriff der Solidarität durch einen Vorschlag der deutschen Delegierten des Europäischen Parlaments im Konvent Kaufmann32. Daneben gab es Vorschläge der Konventsmitglieder Meyer, Berès, Leinen, Martin und van den Burg, das Solidaritätsprinzip in der Präambel oder sogar in einem gesonderten Artikel zu verankern33. Zur Begründung dieser Vorschläge wurden mehrere Gründe angeführt. Zum einen verwies Kaufmann auf die Erklärung des Europäischen Parlaments vom 12. April 1989, in deren Prä27 „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“. 28 Art. II-87 ff. VerfV. 29 Busse, EuGRZ 2002, 559 (573). 30 Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 33. 31 B/B/P/S, Rn. 640. 32 Dok. CHARTE 4332/00 v. 25. Mai 2000, S. 13. 33 Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 19.

IV. Textanalyse

157

ambel das Solidaritätsprinzip und die Sozialstaatlichkeit festgeschrieben seien. Außerdem sei das Solidaritätsprinzip das konstituierende Prinzip einer jeden – auch nichtstaatlichen – Gemeinschaft34. Zum anderen wurde rechtsvergleichend auf das Sozialstaatsprinzip des deutschen Grundgesetzes, die verfassungsgeschichtliche Verbindung der Begriffe von „Solidarité“ und „Fraternité“ in Frankreich, auf Art. 2 der spanischen Verfassung und die Präambel der polnischen Verfassung hingewiesen35. So fand sich bereits im ersten Gesamtentwurf der Präambel vom 14. Juli 2000 die Formulierung im zweiten Absatz: „Diese Union gründet sich auf die unteilbaren und universellen Grundsätze der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit aller Personen, von Männern und Frauen, und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.“36

b) Das Konzept von Solidarität Der Begriff der Solidarität ist namentlich in der Präambel und in der Überschrift zum Kapitel IV. über die sozialen Rechte zu finden. Darüber hinaus findet sich in Art. 53 GR-Charta (Art. II-113 VerfV) eine Art Querschnitts- und Öffnungsklausel37. Diese Einteilung geht zurück auf ein 3-Säulen-Modell für die sozialen Rechte, das der Delegierte des Deutschen Bundestages im Konvent, Jürgen Meyer, vorgelegt hatte38. Im Verlaufe des Konvents war die Frage nach der Aufnahme von sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten in den Chartatext äußerst kontrovers beurteilt worden, so dass am Anfang sogar ein Scheitern der gesamten Verhandlungen im Raum gestanden hatte39. So wurde beispielsweise der Begriff der Solidarität zunächst generell abgelehnt mit der Begründung, dass dieser Begriff juristisch nicht fassbar und den nationalen Traditionen einiger Mitgliedsländer (vor allem Großbritannien) als politisch-juristisches Konzept fremd sei40. Dahinter standen die Befürchtungen, dass die Aufnahme sozialer Rechte zusätzliche Kompetenzen der Gemeinschaft begründen 34

Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 19. Meyer/Engels, ZRP 2000, S. 368 (370). 36 Wortlaut abgedruckt in: Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 20. 37 „Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkommen, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden“. 38 Dazu zusammenfassend, Meyer/Engels, ZRP 2000, 368 ff. 39 Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Vorbemerkung Kapitel IV Solidarität Rn. 4. 40 Leinen/Schönlau, integration 2001, 26 (31 f.). 35

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

könnte, ein Kostenargument, wonach die Verwirklichung dieser Rechte schlicht zu teuer sei und die Sorge um eine Überfrachtung der Charta, wodurch die ihr zugedachte Klarstellungs- und Verdeutlichungsfunktion beeinträchtigt würde. Das 3-Säulen-Modell erwies sich als im Wesentlichen konsensfähig, so dass es die Grundlage für den späteren Textentwurf darstellte. Danach sollte in der ersten Säule das Solidaritätsprinzip in der Präambel oder in einem zusätzlichen Artikel gleichberechtigt neben den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit aufgenommen werden. Die zweite Säule sollte alle als unstreitig geltenden sozialen Rechte beinhalten, ohne große Detailregelungen zu treffen. Dabei handelt es sich um solche Rechte, die in einer Vielzahl von nationalen Verfassungen und internationalen Konventionen enthalten sind. Diese Rechte sollten als individuelle Abwehrrechte formuliert werden, um zu verdeutlichen, dass die Union daraus keine neuen Kompetenzen ziehen kann41. Schließlich sollte mit der dritten Säule ein dynamisches Element in Form einer Querschnittsklausel eingeführt werden. Nachdem dieser Ansatz grundsätzliche Zustimmung von allen Seiten erhalten hatte, wurde ein vermittelnder Vorschlag von Meyer und Braibant eingebracht42, dessen Bestimmungen sich im Wesentlichen in der endgültigen Fassung wieder finden. c) Auslegung Die Präambel enthält im zweiten Absatz das Solidaritätsprinzip in seiner allgemeinsten Form. Für die Frage nach der rechtlichen Wirkung von Präambeln im Allgemeinen kann auf die Ausführungen zur Präambel des EUV verwiesen werden43. Es gilt für die Präambel der Charta diesbezüglich nichts anderes. Noch deutlicher zeigt sich hier allerdings die Zusammenfassungsfunktion der Präambel, denn die Aufzählung der Werte „Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ entspricht nicht zufällig der Einteilung der ersten vier Kapitel der Charta. So ist die Nennung der Solidarität auch als Verweis auf Kapital IV der Charta zu verstehen. Unter der Überschrift „Solidarität“ wird dort der abstrakte Begriff durch verschiedene Grundrechte konkretisiert. Die Präambel der Charta der GR-Charta ist damit die Quintessenz einer europäischen Werteordnung, die sich in den einzelnen Grundrechten normativ niederschlägt44. Die Bedeutung, welche die Präambel trotz fehlender Verpflichtungswirkung hat, zeigt die heftige Auseinandersetzung im Konvent um den Gottesbezug an dieser Stelle45. 41 42 43 44

Meyer/Engels, ZRP 2000, 368 (371). So genanntes Braibant-Meyer-Papier, CHARTE 4401/00 v. 4. Juli 2000. Vgl. G. I. 2. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 6.

IV. Textanalyse

159

Die Erwähnung der Solidarität in der GR-Charta beruht auf einem durchdachten Konzept und hat nicht nur zufällig als moralisch wertvolles Füllwort Eingang in die Präambel gefunden. Das Solidaritätsprinzip wird als fundamentales Strukturprinzip der Union betrachtet. Während dies für den Unions- und den Gemeinschaftsvertrag bereits vermutet werden konnte, ergibt sich diese Auslegung eindeutig aus der Entstehungsgeschichte der Charta. Bedeutsam ist dabei nicht so sehr die Tatsache, dass Solidarität auf eine Stufe mit Freiheit und Gleichheit gestellt wird46. Verfassungsgeschichtlich lässt sich dieser Dreiklang auf die Losung von „liberté, égalité, fraternité“ der französischen Revolution zurückführen47. Es ist im ersten Kapitel gezeigt worden, dass der Begriff der Solidarität sich an den Begriff der Brüderlichkeit anlehnt und aus diesem entwickelt worden ist48. Das Solidaritätsprinzip stellt sich auch in der GR-Charta als grundlegendes Prinzip der Europäischen Union dar. Das Wichtige und Neue ist die erstmalige und ausdrückliche Feststellung im Primärrecht, dass das Solidaritätsprinzip einer der tragenden und unverzichtbaren Pfeiler der Union ist („Die Union gründet sich auf“). Damit wird dem Solidaritätsprinzip die herausragende Stellung eingeräumt, die sich auch im EGV und EUV durch Auslegung nachweisen lässt. Allerdings fehlte bislang ein derart deutlicher Hinweis im Primärrecht. Trotz der Klarheit der Aussage des zweiten Absatzes bereitet ihr Inhalt gewisse Schwierigkeiten. Solidarität wird dort als „unteilbarer und universeller“ Wert angesehen. Diese Formulierung ist kritisiert worden49. Auch nach der hier vertretenen Auffassung lässt sich eine universelle Geltung des Solidaritätsprinzips nicht begründen. Wie im ersten Kapitel nachgewiesen worden ist, lässt sich ein verbindliches Prinzip der Solidarität oder gar ein Menschrecht dieser Art im Völkerrecht derzeit nicht feststellen. Insofern ist die Aussage von Meyer zu pauschal, wenn er feststellt: „Der Anspruch, ,universell‘ zu gelten, ist eine logisch schwer vermeidbare Qualität von Menschenrechten, die als solche in ihrer Geltung nicht an den Grenzen eines Staates oder eines Staatenverbundes wie der Europäischen Union enden.“50

45

Vgl. dazu Busse, EuGRZ 2002, 559 (566 f.); aus soziologisch-philosophischer Sicht Heit, ARSP 2004, 461 (469 ff.). 46 So aber Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 33. 47 Vgl. oben Kapitel A. II. 3.; das sieht ebenfalls Zimmermann, S. 24 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV, Rn. 185 bezieht sich auf die Überschrift zum Kapitel IV. und schreibt: „Das knüpft . . . an das dritte Losungswort der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, an, zu der ein enger ideengeschichtlicher Zusammenhang besteht“. 48 s. Kapitel B. II. 3. 49 Busse, EuGRZ 2001, 559 (570); Tettinger, FAZ v. 26.8.2000, Nr. 192, S. 6; a. A. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 33. 50 Meyer, ders. (Hrsg.), in: Kommentar zur Charta, Präambel Rn. 33.

160

H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

Vielmehr scheint es, dass das Solidaritätsprinzip eine größere und engere Art der Verbundenheit voraussetzt, als dies in den internationalen Beziehungen der Staaten gewöhnlich der Fall ist. Eine weitere materielle Inhaltsbestimmung lässt sich mit Blick auf die Präambel allein nicht vornehmen. Der Blick auf die Diskussionen im Konvent hat aber gezeigt, dass der Begriff der Solidarität in Anlehnung an das deutsche Sozialstaatsprinzip und die Thematik der sozialen Grundrechte verwendet worden ist. Insofern erfährt das Solidaritätsprinzip der GR-Charta erst durch den Bezug zum Kapitel IV. GR-Charta eine ausreichende Konkretisierung. Das Solidaritätsprinzip wird dort sozialrechtlich ausgestaltet und enthält in diesem Kapitel den Grundcanon sozialer Grundrechte in der Union. In zwölf Artikeln werden unterschiedliche Aspekte sozialer Grundrechte im Arbeitsleben, einige Grundprinzipien wie Gesundheitsschutz, Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse sowie Bestimmungen zum Umweltschutz und zum Verbraucherschutz niedergelegt. Das Kapitel wird im Anschluss näher beleuchtet werden. An dieser Stelle lässt sich zunächst festhalten, dass das Prinzip der Solidarität neben der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit einen unverzichtbaren Pfeiler der Union darstellt. Dabei weist es einen materiell-rechtlichen Gehalt auf, der es normativ verbindlich macht. Auch die Bezeichnung der Solidarität als Wert in der Präambel steht der Annahme eines allgemeinen Rechtsprinzips nicht entgegen. Grundsätzlich unterscheidet sich die Normkategorie der „Werte“ von Normen und Rechtsprinzipien durch ihre Unverbindlichkeit und generelle Offenheit51. Es wird eine allgemeine Aussage getroffen, ein Zustand charakterisiert, ohne dass sich daraus konkret materielle Rechte oder Pflichten ableiten ließen. Werte enthalten im Gegensatz zu Prinzipien kein Sollensgebot. Statt einer Verpflichtung nimmt ein Wert eine Bewertung vor und gelangt so zu einer Aussage über einen besseren oder schlechteren Zustand52. Insofern passt es, in einer Präambel von Werten zu sprechen. Es spricht aber kein Grund dagegen, dass aus dem Wert der Solidarität durch weitere Konkretisierungen das Prinzip der Solidarität mit entsprechender normativer Wirkung für Union und Mitgliedstaaten gleichermaßen werden kann. 2. Die Solidaritätsgrundrechte des Kapitels IV. a) Überblick Das Solidaritäts-Kapitel der GR-Charta (Teil II VerfV) enthält drei verschiedene Normkategorien. Es kann zwischen Teilhaberechten, Schutzpflichten und Unionszielbestimmungen unterschieden werden53. In elf Artikeln werden die so 51 52

Ausführlich zu den verschiedenen Terminologien unten im Kapitel I. Schorkopf, Homogenität, S. 75/Absatz 90.

IV. Textanalyse

161

genannten sozialen Grundrechte niedergeschrieben. Dabei fallen die letzten beiden Art. 37 (Art. II-97 VerfV) und 38 (Art. II-98 VerfV) zum Umwelt- und Verbraucherschutz etwas heraus, gehören sie doch nicht zu dem Kernbereich dessen, was im Allgemeinen unter dem Titel der sozialen Rechte behandelt wird54. Weil das Assoziationsfeld des „Sozialen“ dabei unbegrenzt ist55, kann es hier nicht darum gehen, die einzelnen Artikel dieses Kapitel en detail zu erörtern. Diese sind an anderer Stelle inzwischen ausführlich bearbeitet worden56. Vielmehr geht es um das grundlegende Verständnis von Solidarität, wie es sich im Spiegel dieser Grundrechte darstellt. Die meisten Artikel im Solidaritätskapitel sind als individuelle Grundrechte formuliert, d.h. sie verleihen dem Bürger subjektive Rechte zu seinem Schutz. Dabei kommt den sozialen Rechten, die nach der Entstehungsgeschichte den Kerngehalt des Solidaritätsprinzips der Charta bilden, der gleiche Rang zu wie allen anderen grundrechtlichen Garantien in der Charta57. Der Schutzumfang der einzelnen Rechte variiert aber erheblich. Art. 27, 28, 30, 34, 35 S. 1 und 36 GR-Charta58 verweisen bezüglich des Umfangs und Inhalts der Rechte auf das Gemeinschaftsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Durch die Charta werden diese Rechte also nur im Grundsatz als Unionsgrundrechte anerkannt, während der materielle Gehalt an anderer Stelle ausgestaltet wird. Deshalb ist bei diesen Grundrechten weder ein Tätigwerden der Union notwendig noch werden den Mitgliedstaaten zusätzliche Pflichten auferlegt59. Der Wortlaut und die Ausgestaltung der meisten sozialen Rechte zeigen dabei die gegensätzlichen Auffassungen im Konvent. Während man nicht darauf verzichtet hat, soziale und wirtschaftliche Rechte ausführlich zu normieren, so zeugen doch die eben genannten Vorbehalte von den grundsätzlichen Bedenken in diesem Bereich. Indem auf die nationalen Normen und Gepflogenheiten60 verwiesen wird, soll gewährleistet werden, dass nicht mittels der Grundrechte 53

Dazu Zimmermann, S. 32 ff. Funk, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 39 (51). 55 Isensee, Der Staat 19, 1980, 373. 56 Vgl. insbesondere die Kommentierungen zum Kapitel IV. in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 93 ff.; Funk, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 39 ff.; Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentierung der GR-Charta; Iliopoulos-Strangas, Der Schutz sozialer Grundrechte, in: Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, 2003, S. 133–193. 57 Schmitz, JZ 2001, 833 (841). 58 Art. II-87, II-88, II-89, II-90, II-94, II-95 S. 1, II-96 VerfV. 59 Goldsmith, CMLRev. 2001, 1201 (1213). 60 Darunter fällt wohl das gesamte Gewohnheitsrecht und staatliches Handeln, das nicht in Form des positiven Rechts auftaucht. Ansonsten würde die Aufzählung der Gepflogenheiten zusätzlich zu den nationalen Normen keinen Sinn machen. Der Vorbehalt zu Gunsten des jeweiligen Schutzniveaus auf nationaler Ebene ist damit in diesem Bereich sehr weit. 54

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

neue Kompetenzen der Union begründet werden oder dem Bürger etwas versprochen wird, was die Union nicht einhalten kann. Die Verpflichtungswirkung der Mitgliedstaaten geht nur soweit, als dass sie den anerkannten sozialen Schutz in diesen Bereichen nicht völlig abschaffen dürfen61. Jenseits der allgemeinen horizontalen Schrankenregelung des Art. 53 GR-Charta (Art. II-113 VerfV) wird hierdurch eine zweite und damit doppelte Schranke gezogen62. Ob sich dieses Ergebnis auch auf die Bestimmungen der Art. 35 S. 2, 37 und 38 übertragen lässt, ist umstritten. Dabei geht es um die Frage, ob diese Bestimmungen rein objektiv-rechtliche Unionszielbestimmungen63 sind oder ob ihnen ein subjektiv-rechtlicher Charakter zukommt mit der Folge, dass es sich um Rechte des Unionsbürgers handelt64. Dieser Streit bedarf für die vorliegende Untersuchung nicht der Entscheidung. b) Solidaritätsprinzip der Union und soziale Grundrechte der Charta – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Im Sinne des dargestellten 3-Säulen-Konzepts sind die Art. 27–38 GR-Charta (Art. II-87–II-98 VerfV) als Ausdruck und Konkretisierung des Solidaritätsprinzips zu verstehen. Während in der Präambel der allgemeine Grundsatz der Solidarität seinen Niederschlag gefunden hat, dienen diese Vorschriften dazu, ihn inhaltlich auszufüllen und mit konkreten Rechten zu versehen. Damit erscheinen die sozialen Grundrechte als Hauptbestandteil des Solidaritätsprinzips im Verständnis der GR-Charta, sie sind als leges speziales eines allgemeineren Prinzips gedacht65. Diese Auslegung entspricht jedoch nicht dem bisherigen Verständnis von Solidarität gemäß den Bestimmungen von EUV und EGV. Das Solidaritätsprinzip der Verträge hat sich dort als Ordnungsmerkmal im Mehrebenensystem der Union erwiesen. Es ist Ausdruck der wechselseitigen Verbundenheit von Staaten in einer gemeinsamen, höher gelagerten Rechtsordnung. Sein Subjekt sind die Staaten und nicht die Bürger. Deshalb schreibt das Solidaritätsprinzip vor, das europäische Gemeinwohl bei allen unionsrechtlichen Entscheidungen angemessen zu berücksichtigen. Mit anderen Worten verlangt die respektierende Seite des Solidaritätsprinzips von den einzelnen Akteuren, die Interessen der anderen genügend zu berücksichtigen. Dazu erlegt es ausschließlich den Staaten und der Union in einem zweidimensionalen Beziehungsgeflecht Rechte und Pflichten auf. Diese Pflichten werden durch den Grundsatz der Soli61

Schmitz, JZ 2001, 833 (841). Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (3). 63 So Calliess, EuZW 2001, 261 (265); ders., in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechtes, § 19 Rn. 23. 64 So Schmitz, JZ 2001, 833 (841). 65 So das 3-Säulen-Konzept von Meyer, s. dazu Meyer/Engels, ZRP 2000, 368 ff. 62

IV. Textanalyse

163

darität begründet und legitimiert. In der Terminologie der Grundrechtsdogmatik gesprochen geht es also um Schutz- und Abwehrrechte für die Interessen der Union und der Staaten. Leistungs- und Teilhaberechte fließen in gewissem Umfang aus der leistenden Seite des Solidaritätsprinzips Im Gegensatz dazu ist es Aufgabe der europäischen Grundrechte, den Unionsbürger mit konkreten Abwehr-, Schutz- und Teilhaberechten zu versehen. Damit verschiebt sich der Fokus von den Staaten zum Individuum. Die Rechte des Kapitel IV der Charta, mit Ausnahme der genannten objektiven Prinzipien, gewähren unmittelbar einen Anspruch des Einzelnen gegenüber den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten. Es geht um das Wohl des einzelnen Arbeitnehmers und Bürgers. Die als Ausdruck der Solidarität gesehenen Rechte, wie das Recht auf soziale Sicherheit und Unterstützung66 oder das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen67, sowie die individuelle Schutzdimension deuten so auf ein europäisches Sozialstaatsprinzip hin. Sie fügen sich nicht ohne weiteres in das Verständnis von Solidarität ein, wie es bisher vertreten worden ist. Wie oben erwähnt wurde das Säulenkonzept Meyers damit kritisiert, dass es sich am deutschen Sozialstaatsprinzip anlehne. Im Grundgesetz sind soziale Rechte im Katalog der Grundrechte nicht, zumindest nicht explizit, enthalten. Dafür ist dort in Art. 20 Abs. 1 GG das Sozialstaatsprinzip enthalten. In den Verfassungen anderer Mitgliedsländer sowie der Beitrittskandidaten finden sich dagegen häufiger soziale Grundrechte68. Die im Kapitel über die Solidarität enthaltenen Rechte unterscheiden sich zwar qualitativ von diesen Rechten, tragen aber auch den Gedanken der Sozialstaatlichkeit in sich. Es geht damit um das Verhältnis von Solidaritäts- und Sozialstaatsprinzip. Offenbar sind die sozialen Rechte der GR-Charta als Konkretisierung des Solidaritätsprinzips verstanden worden. Ein solches Verständnis weicht allerdings von dem bisher gefundenen Ergebnis ab. Bislang hat sich das Solidaritätsprinzip als resistent gegenüber individuellen Ansprüchen der Unionsbürger erwiesen. Dafür wird in der Union regelmäßig das Sozialstaatsprinzip herangezogen. Deshalb müssen beide Prinzipien zuerst in Beziehung zueinander gesetzt werden. Dabei wird bewusst auf das bundesdeutsche Sozialstaatsprinzip Rekurs genommen, fasst es doch soziale Rechte unter dem Dach eines abstrakten Verfassungsprinzips zusammen, während in anderen Rechtsordnungen eine Aufzählung in Einzelrechten erfolgt. Das Solidaritätsprinzip ist ebenfalls ein allgemeines, zusammenfassendes Prinzip, so dass eine bessere Vergleichbarkeit gegeben ist. 66

Art. 34 GR-Charta (Art. II-94 VerfV). Art. 31 GR-Charta (Art. II-91 VerfV). 68 Recht auf Bildung in Art. 24 (Belgien), § 76 (Dänemark), § 13 (Finnland), Art. 42 Abs. 4 (Irland) oder Recht auf Arbeit in § 15 (Finnland), Art. 22 (Griechenland), Art. 11 (Luxemburg) oder Recht auf Wohnen in Art. 21 Abs. 4 (Griechenland), Art. 65 (Portugal), Art. 47 (Spanien); vgl. die Aufzählung bei Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta, Vorbemerkungen zu Kapitel IV. Solidarität Rn. 17. 67

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

c) Das bundesdeutsche Sozialstaatsprinzip Der Begriff des Sozialstaats ist wegen seiner Mehrdeutigkeit umstritten, und auf die Frage, was der Sozialstaat sei, kann es vielfältige Antworten geben69. Überwiegend werden als die wichtigsten Ziele des Sozialstaats genannt: Hilfe gegen Not und Armut und ein menschenwürdiges Existenzminimum für jedermann, mehr Gleichheit durch den Abbau von Wohlstandsdifferenzen und die Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen, mehr Sicherheit gegenüber den „Wechselfällen des Lebens“70 und allgemein die Hebung und Ausbreitung des Wohlstandes71. Dabei besteht grundsätzlich Einigkeit darüber, was das Sozialstaatsprinzip prinzipiell meint, aber eine große Ungewissheit darüber, was es konkret anordnet, welche Aufgaben für den Staat und welche Rechte für den Einzelnen darauf beruhen72. Darauf muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Für das Sozialstaatsprinzip im Allgemeinen gilt, dass es eine Wertentscheidung des Verfassungsgebers darstellt73. Damit wird es zur Maßstabsnorm allen staatlichen Handelns. Es stellt also eine objektive Grundentscheidung dar, die nicht nur als Staatszielbestimmung zu beachten ist, sondern einen immanenten Wert der Verfassung widerspiegelt. Dazu gehören die grundsätzliche Offenheit des Sozialstaatsprinzips und die Ungewissheit über seine konkrete Bedeutung. Deshalb kann es keine individuellen Rechte begründen und auch nicht alleine als Legitimation für staatliches Handeln gelten. Das Sozialstaatsprinzip schafft keine Kompetenzen, sondern es setzt solche voraus74. Das Prinzip verpflichtet aber nicht nur den verteilenden Staat zur Schaffung einer gerechten Sozialordnung. Umgekehrt manifestiert es auch eine Sozialpflichtigkeit der Bürger des Staates untereinander und dem Staat gegenüber. Darunter fallen Schutz-, Beistands-, Fürsorgepflichten und Pflichten zur kollektiven Selbsthilfe, Bindungen des Eigentums, Abgabe- und Leistungspflichten, die den Staat erst in den Stand versetzen, seine Sozialaufgaben sinnvoll zu erfüllen75. „Der sozial gebende Staat braucht auch den sozial gebenden, gebundenen, verpflichteten Bürger“76. Die Verträge von Union und Gemeinschaft haben im Zuge der zunehmenden Integration immer mehr Elemente einer europäischen Sozialstaatlichkeit aufge69

Vgl. nur die Ausführungen bei Zacher, HbStR, Band I, § 25; Stern, Staatsrecht I,

§ 21. 70

BVerfGE 21, 362 (375); 36, 237 (247 ff., 250). Diese Aufzählung stammt von Zacher, HbStR, Band I, § 25 Rn. 25. 72 Das BVerfG hat dies treffend so ausgedrückt: „Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt nur das ,Was‘, das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er lässt aber für das ,Wie‘, d.h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen.“, BVerfGE 22, 180 (204). 73 Stern, Staatsrecht I, § 21, S. 910. 74 Zacher, HbStR, Band I, § 25 Rn. 108. 75 Aufzählung nach Hesse, Rn. 213. 76 Zacher, HbStR, Band I, § 25 Rn. 100. 71

IV. Textanalyse

165

nommen. Der EuGH hat bereits früh von einer sozialen Verpflichtung der Gemeinschaft gesprochen77. In der Präambel des EUV wird seit Amsterdam auf die sozialen Grundrechte der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 verwiesen. Zu den Zielen der Union gehört nach Art. 2 EUV die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts. Art. 2 EGV schreibt vor, dass durch die Errichtung des Binnenmarktes ein hohes Maß an sozialem Schutz gefördert werden soll. Dadurch werden Elemente eines europäischen Sozialstaatsprinzips im Zielkatalog des Art. 2 EGV verankert78. Dieses wird dann weiter durch die Art. 136 ff. und Art. 146 f. konkretisiert. Es wird deshalb von einer „beeindruckenden Entwicklung eines in der ursprünglichen Fassung eher wirtschaftsliberalen Modells durch Elemente europäischer Sozialstaatlichkeit“79 gesprochen. Wenn es zu einer Ratifizierung des VerfV kommen wird, dann wird durch die Art. 27–38 GR-Charta (Art. II-87–II-98 VerfV) ein europäisches Sozialstaatsprinzip eingeführt werden80. Allerdings fehlen im europäischen Primärrecht die Elemente der Sozialpflichtigkeit des Einzelnen, die Teil des bundesdeutschen Sozialstaatsprinzips sind. Im Konvent konnte man sich nur auf die Worte des sechsten Absatzes der Präambel einigen: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortlichkeit und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“

Insofern ist eine Vergleichbarkeit von europäischem und bundesdeutschem Sozialstaatsprinzip nur bedingt gegeben. d) Das Solidaritätsprinzip als Basis des Sozialstaatsprinzips Für das deutsche Staatsrecht ist die Verbindung von Solidarität und Sozialstaatlichkeit von Volkmann detailliert analysiert worden81. Dabei erweist sich das Sozialstaatsprinzip als Basis des Solidaritätskonzepts im Grundgesetz. Die Trias von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie sorge dafür, dass die Solidarität auf spezielle Weise verrechtlicht wird82. Die Solidarität in einer Gemeinschaft trage dazu bei, dass grundlegende Pflichten zu gegenseitiger Anerkennung und Rücksichtnahme im Umgang mit einander bestehen. „Ziel und Richtung“ dieser Gemeinschaft würden dann „durch die dem Sozialstaat immanente 77 So in Bezug auf den Art. 119 EGV a. F. (Art. 141 EGV), EuGH, Defrenne/Sabena, Slg. 1976, 455 (473). 78 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 17. 79 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Art. 2 EGV Rn. 33. 80 So auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV, Rn. 188. 81 Volkmann, Solidarität, S. 300 ff., 332 ff. 82 Volkmann, Solidarität, S. 362 f.

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

Idee gegenseitiger Unterstützung und Verantwortung“ vorgegeben83. Eine ältere Auffassung verneint dagegen noch die normative Qualität der Solidarität und folgert deshalb: „Das zugrunde liegende ethische Prinzip (der Sozialstaatlichkeit) ist das der Solidarität“84. Die sozialstaatliche Idee des Grundgesetzes ist ein wesentlicher Faktor, um von einer „umfassenden Unterstützungs- und Verantwortungsgemeinschaft“ sprechen zu können85. Die für das Solidaritätsprinzip festgestellte charakteristische Sorge für andere findet ihren Niederschlag im Sozialstaatsprinzip86. Volkmann kommt deshalb zu der Aussage, dass „die Elemente des Solidaritätsbegriffs . . . innerhalb der Trias von Demokratie – Rechtsstaat – Sozialstaat in einer im Grundlegenden identischen, im Detail möglicherweise ergänzten oder variierten Gestalt wiederkehren“87. Demzufolge ist der „Sozialstaat . . . nur das Mittel, dessen sich Bürger bedienen, um ihre Solidarität zu organisieren“88. Insofern hat Zacher Recht, wenn er als das Wesentliche des Sozialstaats definiert, „Solidarität der Bürger mit den Bürgern – vermittelt durch das Gemeinwesen und gelebt in der Gesellschaft“89. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Grundlage des Sozialstaats nicht nur, aber vor allem auf der Idee der Solidargemeinschaft beruht90. Deshalb legitimiert insbesondere der Grundsatz der Solidarität sozialpolitische Regelungen, durch welche die Lasten gerecht verteilt und einseitige Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen mit der Folge gemildert werden, dass andere entsprechend belastet werden91. Was nun das Verhältnis von Solidaritäts- und Sozialstaatsprinzip auf bundesdeutscher Ebene betrifft, so gibt es Wechselbeziehungen zwischen beiden. Der Begriff des „Sozialen“ impliziert eine Steigerung der Solidarität. Während letztere lediglich verlangt, die Interessen anderer entsprechend zu berücksichtigen, schreibt das Sozialstaatsprinzip vor, dass der dabei zu erfolgende Ausgleich der Interessen eben sozial erzielt wird. Treffend hat Badura beobachtet: „Er (der Sozialstaat) verwandelt die dem Staat abverlangte Gewährleistung der sozialen Gerechtigkeit und die damit der Gesellschaft auferlegte Solidarität aller Gesellschaftsglieder in eine Rechtsfrage und ein juristisches Problem.“92

83

Volkmann, Solidarität, S. 363. Badura, Staatsrecht, D Rn. 35; in diesem Sinne auch Violini, in: Müller-Graff/ Riedel (Hrsg.), Verfassungsrecht der EU, 33 (39). Hervorhebungen durch den Verfasser. 85 Volkmann, Solidarität, S. 337. 86 Volkmann, Solidarität, S. 334. 87 Volkmann, Solidarität, S. 305. 88 Volkmann, Solidarität, S. 335. 89 Zacher, HbStR, Band 1, S. 1095. 90 von Münch, NJW 1996, 2349. 91 Benda, in: HbVR, S. 525. 92 Badura, DÖV 1989, 491 (492). 84

V. Ergebnis

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Bei dieser Gleichung besteht aber die Gefahr, dass von einer Solidarität gesprochen und diese vorausgesetzt wird, ohne dass sie in dieser Weise wirklich vorhanden wäre93.

V. Ergebnis Die Überlegungen zum deutschen Grundgesetz und seinem Verständnis von Solidarität und Sozialstaatlichkeit lassen sich gewiss nicht in dieser Form auf die europäische Ebene übertragen. Das scheitert bereits daran, dass es ein vergleichbares europäisches Sozialstaatsprinzip in dieser Form noch nicht gibt. Es fehlt vor allem die solidarische Verbundenheit der Bürger, wie sie für den Nationalstaat vorausgesetzt wird. Zudem ist die Unionsbürgerschaft mit der Staatsbürgerschaft nicht vergleichbar und substantiell verschieden. Im nationalen Bereich ist es aber gerade die Staatsbürgerschaft, die das Fundament und den Bezugspunkt für das Solidaritätsprinzip bildet94. Die Hauptfolge davon ist, dass dem Unionsbürger keine europäischen Sozialpflichten auferlegt werden können95. Da es ein allgemeines europäisches Sozialstaatsprinzip nicht gibt, kann es auch nicht Inhalt und Ziel einer europäischen Solidarität vorgeben und diese konkretisieren96. Im Ergebnis und in Beantwortung der oben gestellten Frage lässt sich damit sagen, dass die sozialen Rechte der GR-Charta ein Solidaritätsverständnis offenbaren, wie es sich im bundesdeutschen Sozialstaatsprinzip zeigt. In der Europäischen Union fehlt aber eine dem Nationalstaat vergleichbare Verantwortungsund Schicksalsgemeinschaft der Unionsbürger. Damit bleibt das Solidaritätsprinzip nach wie vor auf die zwischenstaatliche Ebene beschränkt. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass durch die Charta Elemente einer europäischen Sozialstaatlichkeit hinzugekommen sind. Das Solidaritätsprinzip hat dadurch aber allenfalls eine Ergänzung und keine Erweiterung erfahren. Also kann mit der Einführung der sozialen Rechte durch das Solidaritätskapitel nur die Hoffnung verbunden werden, das Empfinden und Bewusstsein einer gemeinsamen Identität und Verbundenheit der europäischen Völker herauszubilden97. Denn eine bloß 93 Für das GG führt Benda dazu aus: „Von der Solidarität aller Bürger oder bestimmter Gruppen wird gern gesprochen; dieses Prinzip dient als oft verwendete Rechtfertigung vieler Maßnahmen vor allem im Bereich der Sozialpolitik. Es lässt sich aber bezweifeln, dass dieser Grundsatz, der den Ausgleich sozialer Gefällesituationen rechtfertigen soll, von den mit dieser Begründung Belasteten wirklich innerlich akzeptiert wird.“ In: HbVR, S. 525. 94 Volkmann, Solidarität, S. 347 ff. 95 Dies wurde schon bei den Ausführungen zu Art. 2 festgestellt, s. oben F. II. 1. b) cc) und vgl. auch Art. 17 EGV, der mit der Unionsbürgerschaft keinerlei Pflichten verbindet. 96 Volkmann, Solidarität, S. 411 meint: „Der ,europäische Sozialstaat‘ . . . ist Zukunftsmusik“.

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H. Kapitel 4 Charta der Grundrechte

formalistische und funktionalistische Bindung zwischen den Mitgliedstaaten kann nicht zu einer vertieften supranationalen Solidargemeinschaft der Völker führen98. Die Charta der Grundrechte kann einen Anstoß geben, dass Solidarität noch mehr zu einem Kernbegriff der Integration wird und sich dem nationalstaatlichen Vorbild annähert, indem es sozialstaatliche ausgeprägt wird. Die derzeitige Rechtslage zeigt aber, dass Solidarität in der Europäischen Union nicht nur ein anderes Subjekt, die Mitgliedstaaten, betrifft, sondern auch inhaltlich verschieden ist. Das europäische Solidaritätsprinzip lässt höchstens in Ansätzen Elemente eines europäischen Sozialstaatsprinzips erkennen.

97 Zum Beitrag des VerfV zu einer europäischen Identität vgl. von Bogdandy, JZ 2004, 53 ff. 98 Dorau, S. 208.

I. Solidarität als mitgeschriebenes Verfassungs- und Strukturprinzip der EU Wenn man davon ausgeht, und das ist der grundlegende Ansatz dieser Arbeit, dass Solidarität ein „Urprinzip jeglichen staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenschlusses“1 bezeichnet, dann ist es nicht verwunderlich, dass der Nachweis eines solchen Prinzips auch in der Europäischen Union gelungen ist. Die Koordinaten der Solidarität sind dabei durch eine Auslegung von EGV, EUV und GR-Charta gewonnen worden. Es hat sich gezeigt, dass das Solidaritätsprinzip eine respektierende und eine leistende Seite aufweist, wobei mal die eine mal die andere überwiegt. Dabei ist die Begründung des Solidaritätsprinzips durch das positive Recht außerordentlich wichtig. Das Recht erscheint in der Europäischen Union zu einem noch größeren Teil als im föderalen Nationalstaat als Garant des Zusammenhalts im gemeinsamen Verbund. Im Staat treten noch weitere Faktoren hinzu, wie die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Sprache, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, die gemeinsame Religion und die bereits genannte Staatsbürgerschaft. Diese Elemente werden derzeit noch exklusive mit dem Nationalstaat assoziiert und dienen als Abgrenzungs- und vor allem als Zusammenhaltskriterien 2. Sie treten neben das positive Recht und dienen der Begründung eines solidarischen Miteinanders. In der Union ist einzig das Recht der Schrittmacher der Solidarität. Mangels eigener Zwangsgewalt ist die Union darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten das Recht befolgen und akzeptieren. Im Recht der Union und dem Willen, es zu befolgen, spiegelt sich dann der aktuelle Grad der Solidarität. Der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, hat als erster auf diese besondere Beziehung zwischen Gemeinschaft und ihrem Recht hingewiesen. Die Gemeinschaft sei Schöpfung des Rechts, Rechtsquelle, Rechtsordnung und Rechtspolitik zugleich3. In den Verträgen lassen sich jedoch unterschiedliche Kategorien von Recht nachweisen. Es gilt hier, was Sommermann für den modernen Verfassungsstaat festgestellt hat:

1

Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. A EUV Rn. 23. Dabei mangelt es nicht an Versuchen, die Grundlagen europäischer Solidarität mit vergleichbaren Kriterien zu manifestieren. S. zuletzt Böckenförde, FAZ v. 20.06.2003, Nr. 140, S. 8; Lenz, ZRP 1988, 449 ff. 3 Hallstein, Die EG, S. 53 ff. 2

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I. Solidarität als mitgeschriebenes Verfassungs- und Strukturprinzip der EU

„Die klassische Grundstruktur einer Norm, die in der Verknüpfung eines Tatbestandes mit einer Rechtsfolge besteht, genügt nicht mehr, um den Aufgaben des Staates in einer hochkomplexen Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaft gerecht zu werden.“4

Es finden sich deshalb neben den konkreten Rechtssätzen, allgemeine Grundsätze5, Werte6 oder auch normgefasste Zielbestimmungen7. Hinzu kommen allgemeine Rechtsgrundsätze8 und allgemeine Strukturprinzipien9 als ungeschriebene Rechtsquellen. Damit Solidarität als Rechtsbegriff von ethisch-moralisch und politischen Forderungen unterschieden werden kann, muss der Begriff einer diesen Normkategorien zugeordnet werden.

I. Solidarität als konkreter Rechtssatz Rechtssätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie konkrete, anwendbare Verhaltensgebote enthalten. Sie stellen ein unmittelbares Sollensgebot auf für einen bestimmbaren Adressatenkreis10. Zudem ergibt sich unmittelbar aus einem Rechtssatz, welches Verhalten konkret geschuldet ist. Tatbestand und Rechtsfolge sind so konkrete formuliert, dass sich mittels Subsumtion der Fall entscheiden lässt. Nach Dworkin entfalten Regeln (rules) ihre Wirkung nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Treffen zwei sich widersprechende Regeln aufeinander, so kann nur eine gültig bleiben mit der notwendigen Folge, dass die eine gültige Regel die andere verdrängt11. Unions- und Gemeinschaftsverträge enthalten unzählige solcher Rechtssätze, z. B. das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 12 EGV. Auch die Solidarität taucht in Art. 11 Abs. 2 EUV als Rechtssatz auf. Allerdings zeigt die Erwähnung des Begriffs in anderen Vorschriften, dass sich der Begriff nicht auf einen einzelnen konkreten Rechtssatz beschränken lässt. Insbesondere die Erwähnung in der Präambel des EUV ist ein Beleg dafür. Eine Präambel zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass sie gemeinsame Werte, allgemeine Prinzipien und geteilte Ideen beinhaltet, aber keine konkreten Rechtssätze. Außerdem hat sich der Begriff der Solidarität als sehr offen und allgemein dargestellt. Deshalb kann Solidarität durchaus in der 4

Sommermann, Staatziele, S. 355. Vgl. Art. 6 EUV. 6 Vgl. 1. Erwägungsgrund der Präambel Charta der Grundrechte: „Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden“. 7 Diese Kategorie führt Müller-Graff für Art. 2 EGV ein; vgl. Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 116. 8 Zum Beispiel Art. 6 Abs. 2 EUV, Art. 288 Abs. 2 EGV. 9 Diesen Begriff benutzen B/E/H, § 6 Rn. 17. 10 Alexy unterscheidet hier zwischen deontologischen Pflichtsätzen (Rechtssätze) und Optimierungsgeboten (Prinzipien); vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 126 ff. 11 Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 22 ff. 5

III. Solidarität als allgemeiner Rechtsgrundsatz

171

Form eines Rechtssatzes im Primärrecht auftreten, wenn sie in einzelnen Normen konkretisiert ist. In ihrer allgemeinen und generellen Geltung, um die es im Kontext dieser Arbeit geht, erweist sich Solidarität aber nicht als konkreter Rechtssatz. Es gibt keine zentrale Norm des Solidaritätsprinzips, in der Tatbestand und Rechtsfolge so formuliert sind, dass anhand einer Subsumtion ein konkreter Fall entschieden werden könnte.

II. Solidarität als allgemeiner Grundsatz im Sinne von Art. 6 EUV Art. 6 Abs. 1 EUV enthält die vier fundamentalen Rechtsgrundsätze der Union, die sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union prägen. Sie werden auch als die spezifischen Verfassungsprinzipien bezeichnet12. Der Begriff der Solidarität ist in der Aufzählung von Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit nicht enthalten. Wenn man bei einer formalen Betrachtung bleibt, zählt damit Solidarität nicht zu den Verfassungsprinzipien der Union, wie sie in Art. 6 EUV enthalten sind. Allerdings enthält Art. 6 EUV sicherlich nicht alle Strukturprinzipien der Europäischen Union, wenngleich seine sprachliche Ausgestaltung darauf hinweist, dass an dieser Stelle der normative Rahmen für die Union abgesteckt werden sollte13. Folglich bedeutet die Nichtnennung von Solidarität nicht, dass es ein Solidaritätsprinzip als allgemeinen Rechtsgrundsatz nicht geben kann. So betont auch Bieber, dass Art. 6 EUV das Prinzip der Solidarität immanent sei14. Eine solche Auslegung hat einen gewissen Reiz, wenn man Art. 6 EUV als Staatsfundamentalnorm für die Union betrachtet. Sie ist aber nicht zwingend, denn das Solidaritätsprinzip ist nicht darauf angewiesen, dass es dogmatisch in Art. 6 EUV verankert wird, um seine Wirksamkeit entfalten zu können.

III. Solidarität als allgemeiner Rechtsgrundsatz Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts ergeben sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten oder sind ihren Rechtsordnungen gemeinsam. Sie müssen Bestandteil des Rechts der Mitgliedstaaten oder jedenfalls einzelner Mitgliedstaaten sein und der Lösung von Problemen dienen, die in gleicher oder vergleichbarer Weise auch vom Gemeinschaftsrecht bewältigt werden müssen15. Schon früh hat der EuGH so die 12

Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 62 ff. So auch von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 157 und FN 32. 14 Bieber, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und Europäische Integration, S. 41 (50). 13

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I. Solidarität als mitgeschriebenes Verfassungs- und Strukturprinzip der EU

Grundrechte zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen erhoben16. Dabei ist die Frage nach dem Geltungsgrund der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht umstritten, auch weil der EuGH dazu keine Stellung bezogen hat17. Es besteht aber Einigkeit über die Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze zur Auslegung, Kontrolle und Lückenfüllung im Unionsrecht. Das Solidaritätsprinzip könnte damit ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im eben beschriebenen Sinne sein. Es wurde bereits gezeigt, dass sich dieses Prinzip durchaus in einigen Verfassungen der Mitgliedstaaten wieder findet18. Allerdings hat der EuGH bisher in keiner Weise das Solidaritätsprinzip als allgemeinen Rechtsgrundsatz bezeichnet. Die oben erwähnten Urteile sprechen von einer Pflicht zur Solidarität, die aus dem Wesen der Verträge entstammt und nicht im Sinne einer wertenden Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungen gewonnen wird.

IV. Solidarität als normativer Wert Der zweite Erwägungsgrund der Charta verdeutlicht, dass sich die Union auf den unteilbaren und universellen „Wert“ der Solidarität gründet. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Union sich auf bestimmte, allgemeinverbindliche Werte stützt, die nach innen verbindlich sind und nach außen proklamiert werden. Mit der Einführung von Art. 6 und Art. 7 EUV als Sicherungsnorm ist dieser Anspruch der Union, eine Wertegemeinschaft zu sein, sichtbar geworden19. Werte enthalten im Gegensatz zu Prinzipien kein Sollensgebot. Statt einer Verpflichtung nimmt ein Wert eine Bewertung vor und gelangt so zu einer Aussage über einen besseren oder schlechteren Zustand20. Der Unterschied besteht darin, dass die Lösung einer Prinzipienkollision eine Antwort auf die Frage gibt, was definitiv gesollt ist, während die Lösung einer Wertekollision darauf antwortet, was definitiv besser ist21. Damit ist ein Wert anfälliger für Fehlinterpretationen, wohingegen der Soll-Befehl eines Prinzips stets klarer wirkt. Beide Kategorien bedürfen jedoch der Konkretisierung durch einzelne Rechtssätze. Als Strukturmerkmale einer Rechtsordnung sind sie unverzichtbar. Werte sind notwendigerweise unbestimmt und vielschichtig. Sie bestehen häufig vor und 15

Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 220 EGV Rn. 21. Ständige Rspr. seit EuGH Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125; vorher bereits Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419. 17 Dazu Meessen, JIR 1974, 283; Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 63 f. 18 Vgl. bereits oben, Kapitel C. 19 Speer, DÖV 2001, 980 (986); vgl. zur Lage nach dem VerfV Calliess, JZ 2004, 1033 ff. 20 Schorkopf, Homogenität, S. 75. 21 Alexy, ARSP Beiheft 25, 1985, 13 (24). 16

V. Solidarität als mitgeschriebenes Struktur- und Verfassungsprinzip

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außerhalb des Rechts, d.h. sie gelten ethisch und politisch ohne weitere Begründung22. Werte stehen typisch für große und abstrakte Endzwecke und gelten deshalb oft absolut und kompromisslos. Der historische Rückblick hat gezeigt, dass Solidarität häufig als politischer und ethischer Wert benutzt worden ist23. Wenn es aber um den Begriff im Rahmen der Unionsverträge geht, taucht Solidarität als normativer Wert auf. Als Verfassungswert beschreibt er einen grundlegenden Ordnungszustand der Union. Die Union ist ein solidarischer Verbund. Solidarität als Verfassungswert gilt auf allen Ebenen und wird zum Selbst- oder Endzweck der Union. Eine solche Einordnung der Solidarität erscheint nach dem bisher gesagten durchaus möglich. Der Nachteil liegt jedoch im hohen Abstraktionsgrad und dem moralischethischen Unterton, wenn man Solidarität als bloßen Wert bezeichnet. Zudem ist bei einer solchen Kategorisierung noch weniger klar, welche Rechten und Pflichten sich ergeben.

V. Solidarität als mitgeschriebenes Struktur- und Verfassungsprinzip Neben den erwähnten allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die aus einem wertenden Rechtsvergleich gewonnen werden, lassen sich dem Europarecht auch solche allgemeinen Grundsätze und Prinzipien entnehmen, die sich aus Geist und System der Verträge ergeben. Auch im Europarecht ist es erlaubt, aus den konkreten Einzelregelungen der Verträge allgemeine Rechtsprinzipien und Leitprinzipien abzuleiten. Auf diese kann man sich bei der Auslegung und Lückenfüllung der Verträge stützen24. Dabei wird der Begriff des „Grundsatzes“ und des „Prinzips“ des Gemeinschaftsrechts in der Regel synonym gebraucht25. Solche Prinzipien sind kein überpositives Rechts, sondern sie müssen sich am Wortlaut der Verträge nachweisen lassen26. Als prominente Beispiele können der Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts27 oder das Subsidiaritätsprinzip genannt werden. Diese Beispiele zeigen auch, dass es sich dabei sowohl um ungeschriebene als auch in das Primärrecht aufgenommen Grundsätze handeln kann, wie dies mit Art. 5 EGV für das Subsidiaritätsprinzip geschehen ist. Die rechtstheoretische Unterscheidung von Regeln und Prinzipien geht auf Ronald Dworkin zurück und ist von Robert Alexy weiterentwickelt worden28. 22 23 24 25 26 27 28

Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 272 ff.; Leisner, JZ 2001, 313 (315). s. oben B. II. Bleckmann, Europarecht, Rn. 734. Schorkopf, Homogenität, S. 74. B/E/H, § 6 Rn. 17. EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.). Vgl. die Nachweise bei Borowski, ZÖR 1998, 307 (308).

174

I. Solidarität als mitgeschriebenes Verfassungs- und Strukturprinzip der EU

Während Rechtssätze ein unmittelbares, konkretes Verhaltens- oder Unterlassungsgebot beinhalten, sind Rechtsprinzipien in der Regel sehr generell und allgemein und bedürfen der Ausformung durch einzelne Rechtssätze. Anderenfalls steht ihre Abstraktheit einer Anwendung im konkreten Einzelfall entgegen. Unter Regeln kann man subsumieren, während für Prinzipien die Abwägung gilt. Rechtsprinzipien als Optimierungsgebote sind graduell erfüllbar, wohingegen für Rechtssätze ein Wenn-dann-Schema gilt29. Rechtsprinzipien sind die hinter dem positiven Recht stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze und Rechtsgedanken. Sie bilden die Tiefenstrukturen des Rechts30. Es handelt sich um Leitideen, die durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung in Regeln konkretisiert werden31. Mit den Werten haben die Prinzipien gemeinsam, dass sie der Konkretisierung bedürfen und auf einem hohen Abstraktionsniveau angesiedelt sind. So kann ein Wert zugleich ein Prinzip sein, wenn er sich in der Rechtsordnung nachweisen lässt32. Prinzipien dienen so der Verdeutlichung und der Positivierung der Werte einer Gemeinschaft. Aus einem Prinzip wiederum können dann konkretere Regelungen fließen. In diesem Sinne ist es vorzugswürdig, das Solidaritätsprinzip als Verfassungsund Strukturprinzip der Union einzuordnen. Hierbei handelt es sich um ein mitgeschriebenes Prinzip des europäischen Primärrechts, da es aus den einzelnen Normen des Primärrechts herausgefiltert werden kann33. Mit dieser Formulierung soll deutlich werden, dass die Solidarität das Fundament der Union ist und deshalb nicht nur in einzelnen Normen zum Ausdruck kommt, sondern dem gesamten Vertragssystem zu Grunde liegt. Insofern ist das Solidaritätsprinzip dort mitgeschrieben, so dass eine Bezeichnung als ungeschriebenes Prinzip nicht ganz zutreffend ist. Es bezeichnet eine Eigenschaft der Union und bedarf der Konkretisierung. Zugleich stellt es ein wesentliches Ordnungsmerkmal dar, so dass seine Bezeichnung als Verfassungsprinzip gerechtfertigt ist. Dabei hat der EuGH schon seit langem die Verträge als Verfassung der Gemeinschaft bezeichnet34.

29

Diesen Ausdruck benutzt Westphal, DÖV 2000, 996 (997). Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 272 ff. 31 Larenz, Methodenlehre, S. 421. 32 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 254. 33 Diese Kategorie benutzt Arnauld für die ungeschriebenen Grundsätze der Gemeinschaft, die aus dem Telos der Verträge gewonnen werden; vgl. Arnauld, EuR 2003, 191 (203). 34 EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Europäisches Parlament, Slg. 1986, 1357 Rn. 23; Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079 Rn. 21. 30

VI. Ergebnis

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VI. Ergebnis Solidarität zählt folglich zu den mitgeschriebenen Verfassungs- und Strukturprinzipien der Union. Das schließt nicht aus, dass die Solidarität zugleich einen normativen Wert der europäischen Wertegemeinschaft darstellt Allerdings ist dann die rechtliche Verbindlichkeit geringer. So wird das Modell einer solidarischen Union entworfen und ihre Gestalt prägen. Gleichzeit bezeichnet das Solidaritätsprinzip ein fundamentales Vertragsziel. Es ist dem Wandel der Rechtsauffassungen und der Rechtspraxis unterworfen und kann so nie als vollkommen verwirklicht gelten. Solche Ziele stellen unter veränderten, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Bedingungen immer wieder neue Anforderungen an ihre Verwirklichung. Als final-programmiertes Prinzip gibt das Solidaritätsprinzip der Union und ihren Mitgliedern das Ziel der Solidarität vor, ohne sie auf einen bestimmten Weg oder ein Mittel der Zielverwirklichung zu verpflichten. Als Rechtsprinzip fließt es in die Abwägung mit ein und ist deshalb auch durch andere Prinzipien beschränkbar. Dabei darf das Solidaritätsprinzip niemals völlig einem anderen Prinzip weichen, sonst würde die Grundlage der Union zerstört. In vielfacher Hinsicht erscheint so das Solidaritätsprinzip als allgemeinste und damit wirksamste Kollisionsregel35. Eine solche ist bei einem Zusammenschluss und der Errichtung eines übergeordneten Hoheitsträgers unverzichtbar36.

35 Dies gilt vor allem bei der Kollision von mitgliedstaatlichem und gemeinschaftlichem Interesse, wo das Solidaritätsprinzip einen gerechten Ausgleich fordert oder einen Vorrang statuiert. 36 Ähnlich Zuleeg, NJW 2000, 2846 (2848): Für einen föderativen Zusammenschluss ist ein Kollisionsrecht unerlässlich.

J. Grenzen der Solidarität I. Einleitung Im Kollisionsfall von Solidaritäts- und beispielsweise Subsidiaritätsprinzip ist eine dogmatische, grundsätzliche Lösung möglich1. Rechtsprinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass in solch einem Fall ein Abwägungsvorgang beginnt. In typischen Konfliktlagen kann dies dazu führen, dass, wenn die Abwägung im Ergebnis von Rechtsprechung und Lehre akzeptiert wird, aus Prinzipien neue Regeln entstehen, die den Rückgriff auf die abgewogenen Prinzipien erübrigen2. Die Zahl der potentiellen Berührungspunkte mit anderen Vorschriften des Primärrechts ist bei einem solch umfassenden Prinzip, wie dem der Solidarität, groß. Es kann deshalb nicht darum gehen, an dieser Stelle alle potentiellen Konfliktfelder im Einzelnen nachzuzeichnen. Ebenso wenig steht hier die Technik des Abwägungsvorgangs an sich im Vordergrund. Vielmehr ist im Folgenden die Frage nach den grundsätzlichen Grenzen der Solidarität in der Europäischen Union zu stellen. In der Literatur ist ein mögliches Spannungsfeld zwischen dem Subsidiaritäts- und dem Solidaritätsprinzip sehr prononciert von Calliess herausgearbeitet worden3. Ob dieses Spannungsfeld in dieser Weise wirklich gegeben ist, soll zunächst untersucht werden. Danach und mit Blick auf den leistenden Aspekt der Solidarität stellt sich die Frage, wieweit die Pflicht zur finanziellen Solidarität reicht. Es wird zu untersuchen sein, ob dieses Prinzip die Einführung eines Finanzausgleichs, wie er in föderalen Bundesstaaten statt findet, für die Europäische Union erfordert. Mit dem Vertrag von Nizza besteht in allen drei Säulen der Europäischen Union die Möglichkeit zu einer verstärkten Zusammenarbeit einzelner Staaten. Hier gilt es herauszuarbeiten, ob darin ein unvereinbarer Konflikt mit dem Solidaritätsprinzip liegt. In gleicher Weise könnte ein Austritt eines oder mehrerer Mitgliedstaaten aus der Union einen Widerspruch zur gegenseitigen Solidarität bedeuten, denn diese wird durch den Austritt vollständig aufgekündigt. Schließlich sollen das Verhältnis von homogener Werteordnung und Solidaritätsprinzip kurz beleuchtet werden. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit das Homogenitätserfordernis eine notwendige Bedingung für das Solidari1 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 185 ff. entwickelt hier einen Lösungsansatz. 2 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 256. 3 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union.

II. Das Subsidiaritätsprinzip

177

tätsprinzip in der Union darstellt. Schließlich ist es denkbar, dass das Solidaritätsprinzip möglicherweise eine Begrenzung durch andere Fundamentalziele der Verträge erhält.

II. Das Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip hat eine Entwicklung genommen, die dem Solidaritätsprinzip vielleicht noch bevorsteht. Es ist mit zunehmender Integration immer mehr in den Vordergrund gerückt, meistens unter dem Gesichtspunkt einer Kompetenzabgrenzung zwischen Union und den Mitgliedstaaten. Inzwischen ist es mit einer positivrechtlichen Norm in Art. 5 EGV durch den Vertrag von Maastricht verankert worden. Verantwortlich dafür waren insbesondere die deutschen Bundesländer, die wegen der Errichtung der Europäischen Union Einbußen an Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit befürchteten4. Zudem sind die Zweifel an seiner Justitiabilität geringer geworden und in der Praxis gibt es erste Urteile des EuGH, in den das Gericht den Anwendungsbereich der Norm des Art. 5 EGV überprüft5. Allerdings herrscht Uneinigkeit über den Rang dieses Prinzips. Nach einem Teil der Literatur6 und der Rechtsprechung7 galt das Subsidiaritätsprinzip vor seiner normativen Verankerung im EG-Vertrag durch den Vertrag von Maastricht nicht als allgemeines Rechtsprinzip des Gemeinschaftsrechts. Dagegen wird auf Seiten der Gemeinschaft davon ausgegangen, dass das Subsidiaritätsprinzip schon immer ein grundlegendes Prinzip der europäischen Integration gewesen ist8. Deutlich wird dies in einer Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip9. 4 Vgl. Zur Sicht der deutschen Länder Vetter, in: Hrbek (Hrsg.), Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union, 1995, S. 9–20; Oschatz, in: Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 1993, S. 41–52. 5 EuGH, Rs. C-84/94, Großbritannien/Rat, Slg. 1996, I-5755; Rs. C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405; Rs. C-36 u. C-37/97, Kellinghusen/Amt für Land- und Wasserwirtschaft, Slg. 1998, I-6337. 6 von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. 3b EGV Rn. 22; Heintzen, JZ 1991, 317 (322), Zuleeg, DVBl. 1992, 1329 (1333); a. A. Pieper, Subsidiarität, S. 207 und S. 272: „Doch schon vor seiner ausdrücklichen Aufnahme in den Maastrichter Vertrag war mit den Gründungsverträgen für das Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten ein zumindest ,subsidiärer Zug‘ festgelegt“; Jacqué/Weiler, CMLRev. 1990, 203. 7 EuG, Rs. T-29/92, SPO/Kommission, Slg. 1995, 289 Rn. 330; EuGH, verb. Rs. C36/97 und C-37/97, Kellinghusen/Amt für Land- und Wasserwirtschaft Kiel, Slg. 1998, I-6337 Rn. 35. 8 Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments über den Grundsatz der Subsidiarität (Bericht Giscard d’Estaing) vom 4. Juli 1990, EP-Dok. A 3 – 163/90/Teil B, S. 3. 9 „Die Subsidiarität und das ihr verwandte Prinzip der Verhältnismäßigkeit wurden nicht erst in Maastricht erfunden. Beide Grundsätze sind in der Rechtssetzung und

178

J. Grenzen der Solidarität

Die Bedeutung, die diesem Prinzip der Europäischen Union beigemessen wird, ist an vielen Stellen bemerkbar. In Amsterdam wurde das Protokoll Nr. 7 über die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes angenommen10. Eines der Anliegen des Post-Nizza-Prozesses ist es zu prüfen, „wie eine genaue, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann“11. In der Bundesrepublik Deutschland wird ein jährlicher Subsidiaritätsbericht im Auftrag des Bundeskabinetts durch den Bundesminister der Finanzen vorgelegt, in dem alle Rechtaktsvorschläge der Kommission in dem betreffenden Jahr auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 5 EGV und dem Subsidiaritätsprotokoll überprüft werden12. Die Kommission ist dazu gehalten, „die Sachdienlichkeit ihrer Vorschläge unter dem Aspekt des Subsidiaritätsprinzips“ zu begründen13. Aus den unterschiedlichsten Gründen, Sorge um den Verlust von Souveränität auf der einen und Begründung von Kompetenzen auf der anderen Seite, wird der Subsidiarität also nach wie vor große Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings hat sich die Zahl der Verstöße nach dem letzten Berichten der Bundesregierung auf ein Minimum reduziert14. Bevor an dieser Stelle nun das mögliche Konfliktpotenzial des Subsidiaritätsprinzips mit dem der Solidarität aufgezeigt wird, muss geklärt werden, was unter Subsidiarität in der Europäischen Union zu verstehen ist. 1. Inhalt und Definition Subsidiarität und die Vorstellungen, was darunter zu verstehen ist und welche Ziele sich damit verbinden, variieren erheblich und hängen gewiss vom jeweiligen politischen Standpunkt des Betrachters ab. Deshalb hat Stein Recht, indem er Folgendes feststellt:

anderen Tätigkeiten der Gemeinschaft bekannt. Neu ist lediglich, dass Artikel 3b des Vertrags über die Europäische Union einen präzisere Aussage enthält“. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip, Agence EUROPE/Dokument Nr. 1804/05 vom 30. Oktober 1992. 10 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 11 ABl. 2001, C 80/85. 12 Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips 1999, BT-Drs. 14/4017 vom 18. August 2000. 13 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, Nr. 9, 2. Spiegelstrich. 14 Nach dem Bericht für 1999 waren es lediglich 2 Rechtsakte, die Bedenken begegneten, vgl. Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips 1999, BT-Drs. 14/4017 vom 18. August 2000.

II. Das Subsidiaritätsprinzip

179

„Auf relativ sicherem Boden bewegt man sich daher wohl nur dann, wenn man Subsidiarität primär als Prinzip für die Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft begreift.“15

In der katholischen Soziallehre, die einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung des modernen Verständnisses beider Begriffe hat, stehen Subsidiarität und Solidarität nebeneinander. Sie bilden Komplementärprinzipien als Hauptbausteine der sozialen Gesellschaftsordnung16. Zunächst kommt der Subsidiarität eine negative Komponente zu. Hier wirkt sie beschränkend gegenüber der Gemeinschaft, indem sie dafür sorgt, dass der kleineren Einheit der Vorrang im Handeln im Sinne einer Zuständigkeitsprärogative17 gegenüber der größeren Einheit nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zukommt. Damit wird Subsidiarität einschränkend, die staatliche Wirksamkeit begrenzend, verstanden. In den Texten der katholischen Soziallehre offenbart sich aber auch ein oft übersehener Gerechtigkeitsbezug, wo positive Subsidiarität zum Konnexbegriff zur Gerechtigkeit wird18. Nach diesem Verständnis obliegt es dem Staat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, den einzelnen positiv zu unterstützen, „wenn die Hindernisse, welche der Ausführung einer vernunftgemäßen, rechtlich erlaubten und allgemein nützlichen Unternehmung im Wege stehe, von den Einzelnen oder den Beteiligten natürlichen Genossenschaften gar nicht, nicht auf genügende Weise oder nicht ohne Verletzung des Rechts oder des Gemeinwohles weggeräumt werden können, und wenn die nötigen, durch keine noch dringenderen Bedürfnisse in Anspruch genommenen Mittel zur Verfügung stehen.“19

Dahinter offenbart sich die Idee von einer Gesellschaft, die keine einfache Summe von Individuen ist, sondern vielmehr eine „Gemeinschaft der Gemeinschaften“, also aus vielen unterschiedlichen sozialen Gruppen und Gruppierungen besteht20. Die positive Seite des Subsidiaritätsprinzips beinhaltet danach zweierlei: die Gemeinschaft sorgt für das, „was das Glied für sich selbst schlechterdings nicht tun kann; zum andern Mal darin, dass sie das Glied unterstützt bei dem, was es nicht allein, sondern nur mit Hilfe anderer vollbringen kann.“21

Allerdings steht das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip nicht in Übereinstimmung mit dem Verständnis der katholischen Soziallehre22. Auf der Strecke 15

Stein, in: Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, S. 23 (26 f.). von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 114 ff.; Höffe, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, S. 49 (52): „. . . kann man als Hintergrund auf die katholische Soziallehre schließen, baut diese doch auf der Trias Personalität – Solidarität – Subsidiarität auf“. 17 Der Begriff stammt von Jestaedt, Arbeitgeber 1993, 725. 18 Häberle, AöR 1994, 169 (191). 19 Zitiert nach Lecheler, Subsidiaritätsprinzip, S. 36. 20 Constantinesco, integration 1990, 165 (167). 21 von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 94. 16

180

J. Grenzen der Solidarität

geblieben ist der positive Aspekt, das Gerechtigkeitspostulat der katholischen Soziallehre. Die Legaldefinition des Art. 5 Abs. 2 EGV enthält keinen Hinweis in diese Richtung. Ganz überwiegend wird das Subsidiaritätsprinzip der Union deshalb als Kompetenzausübungsregel, also von seiner negativen Seite her, verstanden23. Es setzt voraus, dass in einem Gemeinwesen eine Kompetenzverteilung zwischen oberer und unterer Ebene bereits stattgefunden hat. Für die Europäische Union zeigt sich die Bedeutung dieses Prinzips in der Lösung des Spannungsfeldes zwischen der supranationalen Einheit und der mitgliedstaatlichen Souveränität. Die Union insgesamt ist als zielbezogener und dynamischer Verbund zu verstehen. Deshalb müssen ihr gewisse Kompetenzen zustehen, um die angestrebten Ziele erreichen zu können. Die Abstraktheit und Offenheit der Ziele macht die klare Abgrenzung anhand eines Kompetenzkataloges jedoch sehr schwierig. Außerdem ist in der Regel nicht der Weg und die Art und Weise der Zielerreichung vorgeschrieben, so dass jeder weitere Integrationsschritt zunächst Kompetenznahme bedeutet24. Auf der anderen Seite beruht die Union auf der souveränen Eigenstaatlichkeit ihrer Mitglieder, die ebenfalls auf die Ziele verpflichtet sind und entsprechende Kompetenzen für die nationale Gesetzgebung besitzen. In diesem potentiellen Konfliktfeld zwischen notwendiger Kompetenzausübung auf Unionsebene einerseits und verbleibender mitgliedstaatlicher Kompetenz andererseits fungiert das Subsidiaritätsprinzip als Ordnungsprinzip. Dabei bestimmt es nicht, wer welche Aufgabe zu erfüllen hat, sondern vielmehr, wie die Union, wenn es sich nicht um eine ausschließliche Zuständigkeit handelt, ihre Kompetenz auszuüben hat mit Rücksicht auf die ebenfalls bestehende konkurrierende Kompetenz der Mitgliedstaaten. Folglich ist das Subsidiaritätsprinzip eine Ordnungsnorm für die vertikale Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Es gilt nur im Bereich der konkurrierenden Kompetenzen, da es bei einer ausschließlichen Sachkompetenz der Union gar nicht zu einem Subsidiaritätskonflikt kommen kann. 22 Lecheler, Subsidiaritätsprinzip, S. 140; auch Lienbacher, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 2 konstatiert eine „Ablösung von den geistesgeschichtlichen Wurzeln“ in der katholischen Soziallehre, wobei er allerdings die Betonung nicht auf die positive, sondern auf die negative Seite des Subsidiaritätsprinzips legt, die im Anwendungsbereich des Art. 5 EGV keinen Platz mehr findet; Pieper, Subsidiarität, S. 240: „Ein Essentialium des klassischen Subsidiaritätsverständnisses fehlt zudem bei allen Vorschlägen: Die Möglichkeit zur Rückverlagerung von Aufgaben an untere Ebenen bzw. zur Unterstützung dieser bei der Aufgabenwahrnehmung“. 23 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 5 EGV Rn. 26; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 2; Lienbacher, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 3; von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. 3b EGV Rn. 19; Bieber, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, S. 165 (175); Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 356; Lecheler, Subsidiarität, S. 144; Blanke, in: Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, S. 95 (105); a. A. Merten, in: ders. (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, S. 77 (81); Stewing, DVBl. 1992, 1516 ff.; Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, 720 (723). 24 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 356.

II. Das Subsidiaritätsprinzip

181

Ob jetzt in einer konservativen Lesart damit ein Im-Zweifel-Vorrang der kleineren Ebene im Sinne einer Entweder-oder-Regel gemeint ist oder aber von einer progressiven Subsidiarität gesprochen werden kann, in der dem gemeinwohlorientierten Solidaritätsprinzip, und damit zunächst der zentralen Unionsebene, grundsätzlich der Vorrang gebührt, lässt sich nicht entscheiden25. Der Begriff ist zu offen und flexibel und seine Konkretisierung hängt zu sehr vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab, als dass sich eine solche gemeingültige Regel aufstellen ließe26. 2. Der vermeintliche Konflikt zweier Fundamentalprinzipien a) Spannungspotential zwischen Subsidiarität und Solidarität Trotz der Unmöglichkeit, den Begriff der Subsidiarität allgemeingültig zu definieren27, erfährt das Prinzip bei einigen Autoren eine Auslegung, die es in Konflikt mit dem Solidaritätsprinzip der Europäischen Union bringt. So stellt Bieber fest, dass „außer mit dem Prinzip der Solidarität . . . besondere Spannungsverhältnisse zwischen dem ,allgemeinen Wohl der Gemeinschaft‘ und dem Subsidiaritätsprinzip erwachsen“28. Auch Möschel sieht einen Gegensatz zwischen Solidarität in der Gemeinschaft und dem Subsidiaritätsprinzip. Diese seien zum Teil inkommensurable Prinzipien, so dass eine praktische Konkordanz zwischen ihnen leicht willkürlich erscheinen kann29. Ohne nähere Begründung stellt Ukrow fest, „im übrigen ist das Subsidiaritätsprinzip des Art. 3b Abs. 2 EGV mit dem Solidaritätsprinzip des Art. 2 EGV zu kollidieren imstande“30. Am deutlichsten hat wie erwähnt Calliess den Konflikt dieser beiden Strukturprinzipien der Union zum Thema gemacht und einen eigenen Lösungsansatz entwickelt31. 25 Diese Unterscheidung trifft Calliess, um das von ihm festgestellte Spannungsverhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität zu lösen; vgl. Calliess, Subsidiaritätsund Solidaritätsprinzip, S. 207 ff. 26 Deutlich Schima, der in seiner Analyse des Subsidiaritätsprinzips vor und nach dem Vertrag von Maastricht zu der Schlussfolgerung gelangt, dass „vor wie nach dem Vertragsabschluss wurden und werden daher von allen Seiten die Interpretationen des Prinzips angeboten, die den betreffenden Interessen am besten entsprechen“, Schima, Subsidiaritätsprinzip, S. 173. 27 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 207 in Bezug auf Art. 5 EGV alleine; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 72 stell fest: „Das Subsidiaritätsprinzip ist ideologisch offen. Die ideologische Offenheit, die wirklichkeitsangepaßte Elastizität und der Blankettcharakter in den Anwendungsmöglichkeiten geben dem Subsidiaritätsprinzip die Chance umfassender Geltung“. 28 Bieber, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, S. 165 (178 f.). 29 Möschel, NJW 1993, 3025 (3037). 30 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 45 f. 31 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 185 ff.

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J. Grenzen der Solidarität

Calliess bringt beide Prinzipien in Verbindung mit der Lehre vom Gemeinwohl, der zufolge es der Staat ist, der auf Grundlage der Ziele der Verfassung dem Gemeinwohl gegen die Partikularinteressen der Gemeinschaft Geltung verschafft. Dabei ist das bonum commune das Ziel, dem sowohl die Gemeinschaft als auch ihre Glieder verpflichtet sind. Die Verpflichtung der Glieder entspringt dabei dem Solidaritätsprinzip. Es betont den Vorrang des „integrierten Ganzen vor dem separierten Teil“32. Aufgabe des Subsidiaritätsprinzips ist es in diesem System der konkurrierenden Zuständigkeiten für das Gemeinwohl, die „jeweils untere Einheit in der Verwirklichung des Gemeinwohls“ zu schützen33. Indem sich dadurch das Gemeinwohl sowohl im Solidaritätsprinzip als auch im Subsidiaritätsprinzip entfaltet, entsteht ein „Spannungsverhältnis, das dem Subsidiaritätsprinzip immanent ist und bei seiner Auslegung zu berücksichtigen ist“34. So werden beide Prinzipien einander zum gegenseitigen Korrektiv. Der Ansatz von Calliess beschränkt beide Prinzipien auf das Problem der Kompetenzabgrenzung und die Frage, welche Ebene besser geeignet ist, das Gemeinwohl im Sinne der allgemein anerkannten Interessen zu fördern. Es erfolgt somit eine enge Auslegung und Reduzierung des Bedeutungsinhalts beider Prinzipien auf die Vorrangfrage. b) Literatur Wenn zwei Rechtsprinzipien im deutschen Verfassungsrecht aufeinander stoßen, löst die Rechtsprechung und die Lehre diesen Konflikt mit dem Mittel der praktischen Konkordanz35. Die von Hesse entwickelte Formel gebietet es, bei der Kollision zwischen zwei Verfassungsgütern einen verhältnismäßigen Ausgleich in der Weise herzustellen ist, dass die Einschränkung des einen Gutes der Optimierung des anderen dient, ohne dass eines der beiden Güter vollständig aufgegeben wird. Dieser Abwägungsvorgang lässt sich auch in der Rechtsprechung des EuGH in vergleichbarer Weise nachweisen36. Deshalb wird vorgeschlagen, eine solche Abwägung auch im Falle des Konflikts zwischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip vorzunehmen37. Dabei erscheint es selbstverständlich, dass eine solche Abwägung nicht abstrakt sondern immer im konkreten Einzelfall erfolgen 32

Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 186. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 185. 34 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 186; ders., in: ders./Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 5. 35 Hesse, S. 19 ff. 36 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. 4 EGV Rn. 62 ff. 37 Bieber, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, S. 165 (179); Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 210; Möschel, NJW 1993, 3025 (3027); Häberle, AöR 1994, 169 (198); Hieronymi, S. 130. 33

II. Das Subsidiaritätsprinzip

183

muss, wobei es auf den jeweiligen Handlungsbereich der Gemeinschaft entscheidend ankommt38. Diese Auffassungen konstatieren damit ebenso ein Spannungsfeld zwischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip. Die Lösung des Konflikts ist einer im deutschen Staatsrecht beheimateten Methode zu entnehmen, dem Prinzip der praktischen Konkordanz. Es wurde gezeigt, dass der vermeintliche Konflikt zwischen Gemeinschaftsund Staatsebene nur im Bereich konkurrierender Kompetenzen auftritt. Die Verfasser des deutschen Grundgesetzes haben diesen klassischen Konflikt zwischen Bundes- und Landesebene im föderalen Verbund durch die Einführung eines abschließenden Kompetenzkataloges zu lösen versucht39. Dabei wird jedoch übersehen, dass mit solch einem Katalog häufig der gegenteilige Effekt erreicht wird40. Anstelle einer Sicherung und Bewahrung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen kommt es zu zentralisierenden Tendenzen. Im Bereich der konkurrierenden Kompetenzen zieht die Zentralgewalt immer mehr Befugnisse an sich und erweitert die bestehenden großzügig. Als Reaktion benutzen die Länder ihre verbliebenen Einflussmöglichkeiten zur Blockade im Bundesrat. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben Bundestag und Bundesrat in der 15. Legislaturperiode gemeinsam eine Kommission zur Reform des Föderalismus in der BRD eingesetzt, die jedoch bezeichnenderweise aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten um die Bildungspolitik im Dezember 2004 scheiterte. Deshalb gilt für die Europäische Union, dass „das Binnenmarktkonzept . . . eine enumerative Zuständigkeitsliste bis auf weiteres“ nicht erlaubt41. Insofern geht der Ansatz im VerfV in die falsche Richtung, wenn mit der Einführung eines Kompetenzkataloges (Art. I-13 f.) der wachsenden Sorge um eine Kompetenzannahme auf Unionsebene zu Lasten der nationalen und regionalen Körperschaften begegnet werden soll. c) Kritik und eigener Ansatz Die restriktive Interpretation des Solidaritätsprinzips bei Calliess stößt jedoch auf Grund der hier gefundenen Ergebnisse auf einige Bedenken. Die Auslegung des Prinzips im Kontext des gesamten Primärrechts hat ergeben, dass sich Solidarität nicht auf eine Kompetenzverteilungsregel begrenzen lässt mit der Folge, dass dem Gemeinwohl ein automatischer Vorrang gebührt. Im Bereich der GASP gilt vielmehr, dass dort allenfalls gesteigerte Kooperations- und Informationspflichten vorherrschen, nicht jedoch ein grundsätzlicher Vorrang einer Unionsaußenpolitik gegenüber der Außenpolitik der Mitgliedstaaten. Außerdem 38 39 40 41

Bieber, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, S. 165 (179). Art. 72 ff. GG. So auch Schima, Subsidiaritätsprinzip, S. 32. Ehlermann, EuR 1992, 453 (455).

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J. Grenzen der Solidarität

weist das Solidaritätsprinzip eine respektierende und eine leistende Seite auf. Wenn man das Solidaritätsprinzip restriktiv deutet, wird dieses auf seine respektierende Seite reduziert ohne die Unterstützungs- und gegenseitigen Einstandspflichten zu berücksichtigen. Das aufgezeigte Spannungsfeld existiert in dieser Art und Weise nicht, wenn man erkennt, dass Solidarität und Subsidiarität auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Damit ist nicht die vertikale Beziehungsebene zwischen Union und Mitgliedstaaten gemeint, denn diese ist vorliegend das tertium comparationis. Es geht um eine qualitative Verschiedenheit der beiden Prinzipien. Subsidiarität ist in der Union auf eine formale Ordnungsregel beschränkt, bei der es um Zuständigkeitsfragen und Kompetenzausübung geht. Solidarität lässt sich jedoch nicht auf eine formale Vorrangregel limitieren. Das Solidaritätsprinzip ist vielmehr Voraussetzung dafür, dass es zur Frage der Subsidiarität erst kommen kann. Erst wenn die Mitgliedstaaten und die Union ihre gegenseitigen Solidaritätspflichten anerkennen und befolgen, ist die Grundlage gelegt, dass gemeinsame Ziele, also das Gemeinwohl, definiert und verfolgt werden können. Danach muss dann entschieden werden, wer in der vertikalen Ebene im konkreten Fall besser geeignet ist, die Aufgaben zu verwirklichen. Volkmann hat in diesem Sinne richtig erkannt, dass das Solidaritätsprinzip gegenüber Zuständigkeitsfragen und einer zentralen gegenüber einer dezentralen Organisation der Gemeinschaft grundsätzlich neutral ist42. Hinzu kommt, dass, wenn man Solidarität richtig versteht, es des Subsidiaritätsprinzips nicht mehr bedarf. Das Solidaritätsprinzip gilt reziprok zwischen Union und den Mitgliedern und verpflichtet beiden Seiten, auf die anderen Interessen Rücksicht zu nehmen. Das bedeutet aber auch, dass die Gemeinschaft die Interessen ihrer Mitgliedstaaten angemessen zu berücksichtigen hat. Wenn die Union bei konkurrierender Kompetenz eine Entscheidung trifft, die zwar auf die Vertragsziele gestützt ist, die Interessen der Mitgliedstaaten aber unangemessen beeinträchtigt, dann ist die Handlung nicht mehr legitimiert. Es liegt ein Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip vor, denn die Union hat die ihr obliegenden Rücksichtnahmepflichten verletzt. Insofern ist seine legitimierende Wirkung begrenzt. Die Mitgliedstaaten bedürfen so nicht mehr des Schutzes durch das Subsidiaritätsprinzip43. Eine solche Sichtweise findet auch in der Literatur Anhänger. Noch ohne nähere Begründung kommt Constantinesco zu dem Schluss, dass das Subsidiari42

Volkmann, SuS 1998, 17 (27). Ähnlich auch Xuereb, ELRev. 2002, 643 (652): „The argument is that the principle of active solidarity can compensate for the deficit in ,protection‘. In other words ,Enabling‘ a State to participate is likely often to remove its objections to participation. This could impact on one’s approach to the ,catalogue of competences‘, and also render it a matter of less concern that the application of the test of subsidiarity led to the conclusion that the Union had competence to act“. 43

II. Das Subsidiaritätsprinzip

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tätsprinzip nur in Verknüpfung mit „den Prinzipien der Partizipation, der Kooperation, der Solidarität und der Garantie richtig verstanden“ wird44. Einen erhellenden Vergleich mit dem Loyalitätsgebot zieht Schima. Er stellt bei einer Gegenüberstellung von Subsidiaritätsprinzip und dem Loyalitätsgebot nach Art. 10 EGV fest, dass sich beide ergänzen und gut miteinander vereinbaren lassen. Wenn in letzterem ein umfassendes Gebot der Rücksichtnahme gesehen wird, dann wird das Subsidiaritätsprinzip zum Bestandteil der Gemeinschaftstreue, indem es der Gemeinschaft aufgibt, die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu achten und zu wahren45. Nach Schima geht die Verpflichtung aus Art. 10 EGV soweit, dass auch außerhalb des Unionsvertrags die Mitgliedstaaten zu einem gemeinschaftskonformen Verhalten verpflichtet sind. So falle dann unter Umständen die Notwendigkeit weg, eine Gemeinschaftsmaßnahme überhaupt zu erlassen46. Insofern kann es dann gar nicht zum Konflikt kommen. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das Solidaritätsprinzip Voraussetzung für das Treuegebot, indem es das „ob“ der Verpflichtung regelt, während Loyalität die Art und Weise der gegenseitigen Beziehungen regelt. Wenn nun das Subsidiaritätsprinzip als Bestandteil der Gemeinschaftstreue angesehen wird, dann wird deutlich, dass Solidarität und Subsidiarität auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind; ein Konflikt somit a priori ausscheidet. Auch Isensee kommt bei seiner Interpretation der katholischen Soziallehre zu dem Ergebnis, dass Solidarität zur unerlässlichen Voraussetzung für Subsidiarität wird. „Solidarität bedeutet die Pflicht zur wechselseitigen Hilfe, das Einstehenmüssen füreinander. Nur in einer solidarischen Zuordnung hierarchisch gestufter Kompetenzträger können Zuständigkeiten nach dem Leitbild komplementärer Ergänzung verteilt werden.“47

Deutlich klingt hier die Grundaussage an, dass die Frage der Subsidiarität ohne eine Grundsolidarität der Teile mit dem Ganzen und umgekehrt sich gar nicht erst stellt48. Als formale Bedingung seiner Anwendbarkeit bedarf das Subsidiaritätsprinzip einer gemeinsamen Zielbezogenheit der unterschiedlichen Ebenen. Ein die Ebenen überragendes Gemeinwohl macht erst ein System der vertikalen Arbeitsteilung notwendig. Mit dieser Zielgemeinsamkeit ist nichts anderes als

44

Constantinesco, integration 1990, 165 (177). Schima, Subsidiaritätsprinzip, S. 46. 46 Schima, Subsidiaritätsprinzip, S. 46. 47 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 28. 48 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 30: „In dieser Ausweitung (der Zuordnung einer positiven Seite zum Subsidiaritätsprinzip) wird aber der begriffliche Umfang des Grundsatzes unscharf: es werden Voraussetzungen der Subsidiarität (die Solidarität der Gesellschaftsglieder) in den Inhalt einbezogen, so dass wiederum der Begriff in eine positive und in eine negative Seite aufgespalten werden muß“. 45

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J. Grenzen der Solidarität

das Solidaritätsprinzip gemeint. Damit korreliere das Prinzip der Solidarität mit dem der Subsidiarität „als Kehrseite derselben Medaille“49.

III. Wie weit reicht die Pflicht zur finanziellen Solidarität? Zu den elementaren Zielen von EUV und EGV gehört es, das Wohlstandsgefälle in ihrem Gebiet zu verringern, Lebensbedingungen und -qualität stetig zu verbessern und eine für alle Mitgliedstaaten vorteilhafte Entwicklung des Binnenmarktes zu gewährleisten50. Diesen Zielen sind sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten verpflichtet. Aus ökonomischer Sicht gibt es unterschiedliche Ansätze, wie das allgemeine Ziel einer Angleichung der Wirtschaftskraft der einzelnen Staaten erreicht werden könnte. Unter anderem wird die Einführung eines genuinen Finanzausgleiches anstelle des bisher bestehenden Umverteilungssystems auf der Ausgabenseite gefordert. Ein Finanzausgleich wird auch regelmäßig von den ärmeren Mitgliedstaaten ins Spiel gebracht, und vor dem Hintergrund der jüngsten Erweiterung erscheint diese Frage von ungebrochener Aktualität. Es herrscht jedoch keine Einigkeit, ob ein solcher wirklich das effektivere und bessere Mittel zur Wohlstandsangleichung in der Union darstellt. Wie an anderer Stelle gezeigt, sehen die Verträge kein systematisches Finanzausgleichssystem vor, das die Anhebung der Finanzkraft schwächerer Gebietskörperschaften auf ein gewünschtes Niveau bewirkt und eine Art solidarischer Umverteilung von finanzstarken auf finanzschwachen EU-Staaten und deren Regionen erlaubt51. Allerdings ist die leistende Seite der Solidarität deutlich im EGV mit dem Titel XVII und den Art. 100, 119 EGV verankert. Daraus ist hier eine grundsätzliche Pflicht zur finanziellen Unterstützung durch die wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten und Umverteilung durch die Union abgeleitet worden52. Nicht geklärt wurde bisher die Frage, wieweit diese Solidaritätspflicht reicht. Gilt beispielsweise das juste-retour-Prinzip, so dass den Mitgliedstaaten das an Förderung zurückfließen muss, was sie an Beiträgen bezahlt haben? Es geht gerade auch um die Frage, ob die ärmeren Mitgliedsländer gestützt auf das Solidaritätsprinzip einen rechtlichen Anspruch auf einen Finanzkraftausgleich haben, wie dies für den Bundesstaat aufgrund des Bundesstaatsprinzips anerkannt ist. Bei der folgenden Untersuchung der Grenzen der finanziellen Solidarität ist außer Acht zu lassen, ob z. B. die Einführung eines Finanzausgleichs nach bundesdeutschem Vorbild aus ökonomischer Sicht wün49

Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 353. Präambel EUV 8., 12. Erwägungsgrund, Art. 2, 1. Spiegelstrich EUV, Präambel EGV 2., 3., 4., 5. Erwägungsgrund, Art. 2, 3 k), Titel XVII EGV. 51 So auch Walthes, S. 91. Vgl. auch oben Kapitel F. VI. 2. d). 52 Vgl. oben Kapitel F. VI. 2. d). 50

III. Wie weit reicht die Pflicht zur finanziellen Solidarität?

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schenswert ist. Wichtig ist alleine, ob sich aus den Verträgen eine rechtliche Pflicht zur Änderung oder Erweiterung des bestehenden Systems ableiten lässt. 1. Umverteilung durch Finanzausgleich Bieber bemerkte bereits früh, dass sich eine weitere Entwicklung der Integration wohl nur erreichen lässt, wenn „eine Verstärkung des Finanzausgleichs zugunsten ärmerer Staaten der Gemeinschaft“ erreicht wird53. Inzwischen ist mit dem Eintritt in die dritte und letzte Stufe der WWU die wirtschaftliche Integration vollständig erreicht. Es bleibt die Ausgestaltung der politischen Union. Ob nun mit zunehmender Integration der „Solidaritätsdruck“54 wächst, so dass ein stärkerer finanzieller Transfer notwendig ist, ist eine politische und keine rechtliche Frage. Bevor jedoch rechtliche Antworten gegeben werden können, muss zunächst der Begriff des Finanzausgleichs definiert werden55. a) Begriffsbestimmung In der Finanzwissenschaft wird eine Unterteilung zwischen passivem und aktivem Finanzausgleich vorgenommen, wobei im ersten Fall die Verteilung der Ausgaben und im letzten Fall die Verteilung der Einnahmen zwischen den Gebietskörperschaften im Vordergrund steht56. Der aktive Finanzausgleich lässt sich wiederum in einen primären und einen sekundären aktiven Finanzausgleich unterteilen57. Dabei bedeutet primär, dass die bestehenden Finanzierungsquellen zwischen den verschiedenen Körperschaften aufgeteilt werden. Beim sekundären aktiven Finanzausgleich geht es dagegen um die nachträgliche Umverteilung der Einnahmen58. Dieser wird auch als Finanzausgleich im engeren Sinn bezeichnet und meint beispielsweise vertikale Zahlungen des Gesamtstaates an die Gliedstaaten mit horizontal ausgleichender Wirkung, also einer Anpassung der bestehenden Unterschiede zwischen den Gliedstaaten. Alleine dieser sekundäre aktive Finanzausgleich steht in Frage, wenn es um die Forderung nach Einführung eines europäischen Finanzausgleichs geht59. So sollen die folgenden Ausführungen darauf beschränkt sein geleitet von der Frage, ob es normativ 53

Bieber, EuR 1982, 115 (122). Dieser Ausdruck stammt von Starck, SuS 1993, 114. 55 Zutreffend weist Walthes daraufhin, dass die bestehende Umverteilung auf der Ausgabenseite häufig unzutreffend als innereuropäischer Finanzausgleich bezeichnet wird; vgl. Walthes, S. 90. 56 Niermann, S. 45; Häde, Finanzausgleich, S. 4 f. 57 Meermagen, S. 70 f. 58 Niermann, S. 46. 59 Vgl. die Nachweise für das wirtschaftswissenschaftliche Schrifttum bei Niermann, S. 46 FN 20. 54

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J. Grenzen der Solidarität

geboten ist, ein System vertikaler oder horizontaler Transferleistungen für die Union einzuführen. b) Gilt das Prinzip des „juste retour“? Eine Grenze der finanziellen Solidarität könnte das so genannte juste-retourPrinzip darstellen. Damit ist der Ansatz gemeint, dass sich zu jeder Zeit ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen- und Ausgabenseite für den einzelnen Mitgliedstaat feststellen lässt60. Jede staatliche Ausgabe für die Union muss danach durch eine gleich hohe Einnahme kompensiert werden können61. Dieses Thema steht in keinem Zusammenhang mit der Frage der Umverteilung, wird aber häufig mit den bestehenden Umverteilungsmechanismen der gemeinschaftsrechtlichen Fonds verknüpft. Die Tatsache, dass einige Mitgliedsländer wesentlich mehr zahlen, als sie durch Strukturförderung und Kohäsion erhalten, wird mit dem Problem der Nettozahler umschrieben62. Von diesen Ländern wird dann zuweilen eine Aufrechnung nach dem juste-retour-Prinzip betrieben in der Absicht, die Nettozahlerlast zu verringern. Wenn der eigentlich fällige Beitrag eines Mitgliedlandes mit dem Hinweis auf juste retour entsprechend reduziert wird, liegt darin eine Begrenzung der finanziellen Solidarität. Gegen dieses Prinzip sprechen jedoch gewichtige Argumente, so dass es von Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend abgelehnt wird63. Das grundsätzliche Argument lautet, dass sich eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union gar nicht bewerkstelligen lässt. Es gibt keine allgemein anerkannte Methode, die präzise die wirtschaftlichen Vorund Nachteile des Binnenmarktes ermitteln kann. Damit ist auch eine genaue Bestimmung von Einnahmen und Ausgaben nicht möglich, wenn die Einnahmen nicht nur auf die zufließenden Gelder der EU beschränkt werden. Außerdem findet sich in den Verträgen keine Bestimmung, die einen solchen Ausgleich fordert. Im Gegenteil ist dort, wie gezeigt, gerade der Ausgleich der bestehenden wirtschaftlichen Differenzen ein Ziel der Union. Vor allem aber ist ein solcher Ansatz mit dem Solidaritätsprinzip nicht vereinbar. Wie gezeigt, ist darin auch eine generelle Pflicht zur Unterstützung der wirtschaftlich schwäche-

60 Tonelli, RMC 1981, 220 (221): „on entend par juste retour la tendance qu’ont les Etats à considérer comme naturel le fait que les sommes investies par eux dans les entreprises communautaires leur soient redistribuées pour l’accomplissement de leurs propres projets“. 61 Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (734). 62 Griese, EuR 1998, 462 (474). 63 Glaesner, S. 106; A. A. Tonelli, RMC 1982, 442 (457 ff.): „Dans de contexte, la notion de juste retour non seulement n’est pas à rejeter, mais elle peut constituer au contraire un élément apte à renforcer la solidarité et la cohésion de la Communauté“.

III. Wie weit reicht die Pflicht zur finanziellen Solidarität?

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ren Länder durch die reicheren Mitgliedsländer der Union enthalten. Die Bestimmung der Länder, die zu einer Unterstützung verpflichtet sind, kann aber nur dadurch ermittelt werden, dass sich Beiträge und Förderungskriterien an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren. Folglich ist die Nettozahlerposition einiger Länder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke gerechtfertigt. Diese Staaten, das wurde bereits gesagt, profitieren in der Regel auch mehr von der wirtschaftlichen Integration des Binnenmarktes. Insofern rechtfertigt es das Solidaritätsprinzip, dass einige Länder höhere Belastungen zu tragen haben als andere. Nach der Gesamtkonzeption der Union ist diese darauf angelegt, solche kurzfristigen finanziellen Nachteile auf lange Sicht auszugleichen64. Der Ansatz des juste-retour ist mit dem Solidaritätsprinzip nicht vereinbar. Die einseitige Betrachtung von Ein- und Ausgaben aufgrund der Mitgliedschaft entspricht nicht dem Charakter der europäischen Integration65. Ein solches System würde ein Ende der Umverteilung und die Akzeptanz der Ausgangsverteilung bedeuten66. Die beiden Seiten des Solidaritätsprinzips werden nicht beachtet. Die Rücksichtnahme auf das europäische Gemeinwohl, worunter eben auch die Angleichung der Lebensverhältnisse fällt, und der Aspekt gegenseitiger Unterstützung sind nach dem juste-retour-Prinzip nicht gewahrt. c) Erfordert zunehmende Integration einen stärkeren Finanzausgleich? Die Anforderungen des Solidaritätsprinzips an einen Finanzausgleich erschöpfen sich nach den Verträgen darin, dass grundsätzlich eine Unterstützung der schwächeren Regionen und Gebiete gewährt ist und in Krisenzeiten jeder Mitgliedstaat mit Unterstützung durch die Union rechnen kann. Die Art und Weise des Finanzausgleichs wird dort nicht geregelt. Mit der Vollendung der Währungsunion durch die Einführung einer gemeinsamen Währung wurde die Forderung nach einem verstärkten Finanzausgleich erhoben67. Nur wenige Mitgliedsländer waren in der Lage, die für die Geldwertstabilität des Euros erforderlichen Konvergenzkriterien zu erfüllen. Eine ausgeglichene Wirtschaftsleistung in der Euro-Zone ist aber eine elementare Voraussetzung für das Gelingen der Währungsunion. Aus dieser Sicht erscheint ein Finanzausgleich im engeren Sinne sinnvoll, indem er durch direkte ungebundene Zahlungen effektiver wirkt

64 Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (734). 65 Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 269 EGV, Rn. 19. 66 Niermann, S. 64. 67 Deutlich Steindorff, EuZW 1996, 6 (7 f.), der einen degressiv ausgestalteten Finanzausgleich als unterlässliche Form der Solidarität bei der Schaffung der Währungsunion fordert. „Man kann nicht Europa fordern und solche Solidarität verweigern“.

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J. Grenzen der Solidarität

als die bisherige Strukturpolitik und dadurch eine schnellere Angleichung der Wirtschaftskraft ermöglicht. Vorschläge für die Einführung eines solchen Finanzausgleichs gab es schon wesentlich früher. Im MacDougall-Bericht von 1977 wird die Einführung eines horizontalen Finanzausgleichs nach Art des deutschen Länderfinanzausgleichs gefordert68. Ebenso sah der Entwurf für eine europäische Verfassung des Europäischen Parlaments von 1984 in Art. 73 die Einführung eines Finanzausgleichs vor69. Es lässt sich aber weder dem Solidaritätsprinzip noch den sonstigen Bestimmungen des Primärrechts eine Pflicht der Mitgliedstaaten entnehmen, einen solchen Finanzausgleich einzuführen. Mit dem bestehenden System von Struktur- und Kohäsionsfonds wird den grundsätzlichen Forderungen des Solidaritätsprinzips Rechnung getragen. Auf welche Weise der wirtschaftliche und soziale Zusammenhang in der Gemeinschaft gewährleistet wird, liegt im Ermessen der Mitgliedstaaten und der Unionsorgane und ist vor allem eine politische und keine rechtliche Entscheidung. 2. Neue Situation aufgrund der Erweiterung durch die MOES? Mit der Erweiterung der Union um zehn Staaten seit dem 1. Mai 2004 kommen gewaltige strukturpolitische Herausforderungen auf die Union und ihre Mitgliedstaaten zu70. Nach derzeitigem Stand sind alle zehn Länder Nettoempfänger und haben Anspruch auf Förderung aus den Struktur- und Kohäsionsfonds71. Allein die Kosten für die Anpassung der umweltrechtlichen Standards, die von der Union gefordert werden, betragen über 60 Milliarden Euro für alle Beitrittsländer nach Schätzungen der Kommission72. Zugleich räumt sie ein, dass die Union nicht in der Lage sein wird, die fehlenden Mittel bis zum Beitritt der Staaten zu übernehmen73. Damit wird die Osterweiterung vielleicht „der wichtigste und umfassendste Test der selbst gestellten Aufgabe, eine Solidaritätsgemeinschaft zu sein“74. 68

European Commission, MacDougall-Report, Band I, S. 66 ff. Artikel 73: „Zur Verringerung der Ungleichgewichte in der Wirtschaftskraft der Regionen wird ein Finanzausgleich eingeführt“. Vgl. dazu die Kommentierung in: Capotorti/Hilf/Jacobs/Jacqué, S. 238 f. Der Entwurf wurde bereits weiter oben analysiert, vgl. Kapitel G. I. 1. c). 70 Woyke schätzt die nötigen Mehraufwendung im Rahmen der Struktur- und Kohäsionsforderung auf ca. 27 Milliarden Euro. Vgl. Tabelle 8 bei Woyke, Politische Bildung 2002, 8 (24). 71 Lippert, integration 2001, 179 (183); Bergmann, ZPR 2001, 18 (21). 72 Zitiert nach Becker, integration 1998, 225 (230); diese Zahl nennt auch Bergmann, ZPR 2001, 18 (19). 73 Agenda 2000, Bulletin der Europäischen Union, Beilage 5/97, S. 55. 74 Becker, integration 1998, 225 (236). 69

III. Wie weit reicht die Pflicht zur finanziellen Solidarität?

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Im Angesicht dieser in Größe und Qualität einzigartigen Erweiterung der Europäischen Union stellt sich die Frage, ob das bestehende Umverteilungs- und Ausgabensystem der Union einer grundlegenden Reform bedarf75. Mit der von der Kommission vorgelegten Agenda 200076 und dem Eigenmittelbeschluss 200077, der einen Finanzrahmen bis 2006 regelt, ist eine Übergangslösung gefunden worden, ohne jedoch die finanzwirtschaftlichen Herausforderung durch die Erweiterung gebührend zu berücksichtigen78. Gleichzeitig ist klar, dass sich die Beitragsbilanz aller derzeitigen Mitgliedsländer insofern verändern wird, als das sich die Positivsalden der Nettoempfänger verringern und die Nettobeiträge der übrigen Staaten erhöhen werden79. Das Solidaritätsprinzip verpflichtet hier Union und Staaten zu einer grundsätzlichen Unterstützung und Umverteilung der Mittel. Sowohl aus der Perspektive der Beitrittskandidaten, die sich wirtschaftlichen Aufschwung und finanzielle Transfers durch ihren Beitritt zur EU erhoffen, als auch aus der Perspektive der EU der 15, die den Umfang ihrer zusätzlichen Belastungen bzw. Einbußen erfahren wollen, ist es deshalb wichtig zu sehen, welche Rechte und Pflichten sich in diesem Bereich aus dem Solidaritätsprinzip ergeben. In einem Zweierschritt soll nun gezeigt werden, ob die Grenzen des Solidaritätsprinzips aufgrund der Erweiterung neu definiert werden müssen. Außerdem soll die Rechtsprechung des EuGH daraufhin untersucht werden, ob und wie sich Ansprüche auf finanzielle Transferleistungen rechtlich durchsetzen lassen. a) Reform des Finanzsystems, Erhöhung der Mittel für die Fonds, direkte Zahlungen als Folge der Erweiterung? Das Konfliktpotential zwischen Alt- und Neumitgliedern in einer erweiterten Union ist besonders in der Struktur- und Agrarpolitik beträchtlich. Die neuen Mitglieder werden hier eine Gleichbehandlung mit den bisherigen Nettoempfängerländern fordern. Im Gegensatz dazu sind die bisherigen Nettozahler bestrebt, ihre Zahllast zu verringern und die derzeitigen Nettoempfänger werden auch nicht freiwillig einer Reduzierung ihrer Förderung aufgrund der Erweiterung zustimmen80. Ein Fortschritt ist hier, dass nach Art. 161 Abs. 3 EGV nun die Möglichkeit qualifizierter Beschlussfassung für die Aufgaben, vorrangigen Ziele und die Organisation von Struktur- und Kohäsionsfonds vorgesehen ist. Voraussetzung ist allerdings, dass die finanzielle Vorausschau 2007–2013 und die da75

Dazu Axt, Solidarität und Reform, 2000. Dokument KOM (97) 2000 endg. 77 Beschluss des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 2000, L 253/42. 78 Waldhoff, ZEuS 2000, 201 ff. 79 Agenda 2000, Bulletin der Europäischen Union, Beilage 5/97, S. 74. 80 Dazu Lippert/Bode, integration 2001, 369 (375 ff.). 76

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zugehörige interinstitutionelle Vereinbarung vorher angenommen worden sind. Dazu ist noch Einstimmigkeit erforderlich unter Beteiligung der beigetretenen Länder. Hierbei kann es zu Blockaden kommen. Das Solidaritätsprinzip kann hier grobe Vorgaben machen, ohne dass dadurch ein politischer Kompromiss entbehrlich würde. Mit dem Solidaritätsprinzip nicht zu vereinbaren ist es, wenn an der in der Agenda 2000 beschlossenen Ungleichbehandlung der neuen Mitglieder im Vergleich zu den bisherigen Nettoempfängern festgehalten wird81. Das Prinzip fordert eine grundsätzliche Umverteilung entsprechend der wirtschaftlichen Stärke der Mitgliedsländer. Wenn nun durch den Beitritt das durchschnittliche BIP der Union sinkt, fallen Irland und Spanien aus der Strukturförderung heraus, da sie dann über 90 Prozent des durchschnittlichen BIP der Union liegen82. Ebenso werden Portugal und Griechenland, die auch nach der Erweiterung zu den Empfängern gehören, Kürzungen hinnehmen müssen. Gewiss steht es im Belieben der Mitgliedstaaten, die Beitragsbemessungsgrenze neu zu verhandeln oder das gesamte System der Struktur- und Regionalförderung zu reformieren. Unter dem bestehenden System gebietet das Solidaritätsprinzip jedoch eine Umverteilung zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Staaten. Folglich müssen auch ehemalige Empfängerländer wie Spanien oder Irland akzeptieren, dass sie unter Umständen zu Nettozahlern in der Union aufgrund der Erweiterung werden83. b) Klagemöglichkeit auf Förderung? Im abschließenden Kapitel wird die Frage nach der grundsätzlichen Justitiabilität des Solidaritätsprinzips detailliert erörtert werden. An dieser Stelle soll als Teilausschnitt die Rechtsschutzmöglichkeiten im Rahmen des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts behandelt werden. Die in den Struktur- und Kohäsionsfonds enthaltenen Mittel werden aufgrund einer allgemeinen Verordnung nach Art. 161 Abs. 1 EGV84 und verschiedenen Durchführungsverordnungen organisiert und verteilt85. In der Regel sind die Mitgliedstaaten dafür zuständig, Programme oder Pläne für förderungswürdige Vorhaben an die Kommission weiterzuleiten. Diese beschließt dann mit einem gemeinschaftlichen Förderkonzept Art und Umfang der Förderung. Es ist also zuletzt die Entscheidung der Kommission, ob und in welcher Höhe ein konkretes Vorhaben gefördert wird. Der Rat setzt allerdings durch den Erlass der allgemeinen Verordnungen die Aufgaben, die vorrangigen Ziele und die Organisation der Fonds fest. 81 82 83 84 85

Agenda 2000, Bulletin der Europäischen Union, Beilage 5/97. Lippert/Bode, integration 2001, 369 (378). Im Ergebnis ebenso Hieronymi, S. 114. Derzeit gilt die VO 1260/1999, ABl. 1999, L 161/1. Vgl. dazu B/E/H, § 27 Rn. 17 ff.

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Deshalb ist es nicht die Kommission, sondern der Rat, der die Förderungskriterien aufstellt. Die Kommission entscheidet dann im administrativen Vollzug, welche Gebiete und Regionen die Kriterien erfüllen. Denkbar sind nun verschiedene Möglichkeiten des Rechtsschutzes in diesem Verfahren86. Grundsätzlich können alle Entscheidungen der Gemeinschaft von der allgemeinen Strukturfondsverordnung bis zum befürwortenden oder ablehnenden Förderungsbescheid der Kommission Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH bzw. bei natürlichen oder juristischen Personen vor dem EuG sein. Mit dem Beitritt der zehn Staaten im Jahr 2004 wird die Gefahr juristischer Verteilungskämpfe um die Fördermittel steigen. Insofern ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Mitgliedsländer, die sich benachteiligt fühlen, diese Rechtsakte anfechten werden mit der Begründung, dass die Zielsetzung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts des EGV nicht ausreichend berücksichtigt worden ist87. In Betracht kommt dafür eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 1 EGV gegen den entsprechenden Rechtsakt88. Dabei ist es für die Zulässigkeit der Klage nicht erforderlich, dass eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit oder die Verletzung eigener Rechte geltend gemacht wird89. Die Mitgliedstaaten sind auch insofern privilegiert, als dass sie kein Rechtsschutzinteresse vortragen müssen90. In einem neueren Urteil hat der EuGH grundsätzliche Aussagen darüber getroffen, ob die Rüge einer Verletzung des Grundsatzes des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zum Erfolg der Klage führen kann91. Mit einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 1 EGV hatte Portugal einen Beschluss des Rates über den Abschluss von Vereinbarungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Islamischen Republik Pakistan sowie zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Indien über den Marktzugang für Textilwaren angefochten. Portugal, das über einen großen Textil- und Bekleidungssektor verfügt, machte geltend, dass der Beschluss unter Verstoß gegen den Grundsatz des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts erlassen worden sei, der in den Art. 2, 3 k), 158–162 EGV niedergelegt sei. Als Unterstützung 86

Vgl. dazu Glaesner, S. 78 ff. So bereits in Hinblick auf die Süderweiterung der Gemeinschaft mit Spanien und Portugal Glaesner, S. 80 f. 88 EuGH, Rs. C-239/97, Irland/Kommission, Slg. 1998 I-2655 ist ein Beispiel für solch eine Klage gegen die Kürzung der Zuwendungen aus den Fonds. Die Klage wurde allerdings aufgrund eines Fristversäumnis als unzulässig abgewiesen. Im Verfahren EuGH, Rs. C-107/99, Italien/Kommission, Slg. 2002, I-1091 geht es ebenfalls um Kürzungen von Förderungsmitteln. Die Klage war erfolgreich, allerdings musste sich der EuGH nicht zu den Vorschriften des Titel XVII äußern. 89 Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 230 EGV Rn. 19. 90 EuGH, Rs. 45/86, Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493 Rn. 3; Rs. 131/86, Vereinigtes Königsreich/Rat, Slg. 1988, 905 Rn. 6. 91 EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I-8395 Rn. 86. 87

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berief sich das Land auf eine Verordnung des Rates über einen finanziellen Beitrag zugunsten Portugals für ein spezifisches Programm zur Modernisierung der Textil- und Bekleidungsindustrie, die in den Begründungserwägungen auf diesen Grundsatz verweist92. Dazu führt der EuGH mit Deutlichkeit aus: „Auch wenn die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts nach den Art. 2 und 3 sowie 130a bis 130e EGV eines der Ziele der Gemeinschaft ist und folglich gerade bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im wirtschaftlichen und sozialen Bereich einen wichtigen Gesichtspunkt darstellt, so weisen die fraglichen Bestimmungen doch programmatischen Charakter auf, so dass die Verwirklichung des Zieles des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts das Ergebnis von Politiken und Handlungen der Gemeinschaft sowie der Mitgliedstaaten sein muss.“

Damit bestätigt sich die Auslegung des leistenden Solidaritätsprinzips, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen worden ist. Entscheidungen im Bereich des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts sind zuallererst Ermessensentscheidungen des Rates und der Kommission und richten sich nach politischen und nicht rechtlichen Gesichtspunkten. Der Zusammenhalt muss zwar grundsätzlich durch die Union und die Mitgliedstaaten gewährleistet werden, aber die Art und Weise wird durch die Politiken und Handlungen der Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten bestimmt. Es reicht also für einen Mitgliedstaat nicht aus, nur auf den Titel XVII EGV und die Zielbestimmung in Art. 2 EGV zu verweisen. Das Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts ist zu allgemein und hat einen dynamischen Charakter, so dass eine Feststellung daraus resultierender konkreter Rechte und Pflichten nicht möglich ist93. Eine Klage, die sich auf die Vorschriften über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt stützt, kann deshalb nur Erfolg haben, wenn ein evidenter und schwerer Verstoß gegen dieses Vertragsziel vorliegt94. Dieses wird man für den Fall annehmen müssen, dass überhaupt keine Maßnahmen ergriffen werden, um das Ziel nach Art. 158 Abs. 2 EGV zu erreichen. In dieser Hinsicht ist dann auch eine Unterlassungsklage gemäß Art. 232 EGV möglich mit dem Argument, dass die Gemeinschaft keine Handlungen vorgenommen hat, um die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete und Inseln zu verringern95. 92

VO EG Nr. 852/95, ABl. 1995, L 86/10. So auch Rodriguez-Lopez, in: Schwarze/Schermers (Hrsg.), S. 157 f. 94 Ähnlich auch Glaesner, S. 178: „Deshalb unterliegt die Berücksichtigung der Zielbestimmung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts nur in sehr eingeschränktem Umfang der Kontrolle durch den EuGH. Die Aufhebung eines Rechtsakts wegen völliger Missachtung des Prinzips des Art. 130a ist daher nur in Extremfällen denkbar“. 95 Dazu Glaesner, S. 101 ff. 93

III. Wie weit reicht die Pflicht zur finanziellen Solidarität?

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3. Britische Beitragsermäßigung als Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip? Eine Ausnahme im System des Gemeinschaftshaushalts stellt die Korrekturregelung für das Vereinigte Königreich dar. Großbritannien hatte bereits kurz nach seinem Beitritt im Jahr 1974 eine Reduzierung seiner Zahlungen an die Gemeinschaft gefordert. Das Argument war, dass Großbritannien gemessen an seinem relativen Wohlstand eine zu große Haushaltslast trage96. Das Land verfügt über einen relativ kleinen Agrarsektor, so dass es aufgrund der erforderlichen hohen Importe aus Drittländern zu einem hohen Anteil an den Eigenmitteln in Form von Zöllen und Agrarabschöpfungen kommt. Diesen Abführungen an die Gemeinschaft stehen wegen der relativ geringen Erzeugung nur wenige Rückflüsse aus der GAP gegenüber. Als Konsequenz wurde 1976 ein allgemeiner Finanzmechanismus beschlossen, wonach unter bestimmten Bedingungen der Finanzierungsanteil eines Mitgliedstaates reduziert werden konnte97. Allerdings gelangte dieser Mechanismus nie zur Anwendung, da kein Land die Voraussetzungen erfüllte98. Nachdem Großbritannien von 1980 bis 1983 Ausgleichszahlungen erhalten hatte, kam es bei der Tagung des Europäischen Rates in Fontainebleau 1984 zu einer politischen Einigung über den Ausgleich für Großbritannien99. Der dort entwickelte allgemeine Ausgleichsgrundsatz besagt, dass jeder Mitgliedstaat, der gemessen an seinem relativen Wohlstand eine zu große Haushaltslast trägt, zu gegebener Zeit in den Genuss einer Korrekturmaßnahme gelangen kann. Dementsprechend wurde ein Korrekturmechanismus entwickelt, der im Ergebnis nur dem Vereinigten Königsreich zugute kommt100. Danach erhält Großbritannien einen Ausgleich in Höhe von 66% der Differenz zwischen seinem Anteil an den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln und den Rückflüssen an Großbritannien aus den Ausgaben der Gemeinschaft101. Der Fehlbetrag im europäischen Haushalt wird von den übrigen Mitgliedsländern getragen, wobei die Ausgleichslast für Deutschland als größtem Nettozahler auf zwei Drittel des eigentlichen Anteils begrenzt ist102. Dieser einseitig begünstigende Korrekturmechanismus ist seitdem beibehalten und zuletzt im Beschluss des Rates über das System der Eigenmittel der Gemeinschaft vom 29. September 2000 festgehalten worden103. 96 Messal, S. 109 f.; Walthes, S. 204; Häde, Finanzausgleich, S. 486; Strasser, S. 174 ff. 97 Dazu Messal, S. 112. 98 Peffekoven, S. 56. 99 Bleckmann, Europarecht, Rn. 1251. 100 Häde, Finanzausgleich, S. 487. 101 Zur komplizierten Berechnung s. Messal, 117 f. 102 Art. 5 Eigenmittelbeschluss 1994, ABl. 1994, L 293/9. 103 Art. 4 Beschluss des Rates vom 29. September 2000 „Über das System der Eigenmittel der Gemeinschaften“, ABl. 2000, L 253/42.

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J. Grenzen der Solidarität

Wie verträgt sich ein solcher Korrekturmechanismus mit dem Solidaritätsprinzip? Die Meinungen darüber gehen auseinander. So sieht Tomuschat eine „sachliche Berechtigung“ für diese Vorzugsbehandlung104. Niemand dürfe erwarten, „dass das Land geduldig die Überschüsse der übrigen Mitgliedstaaten mitfinanziert“. In ähnlicher Weise stellt Hieronymi fest, das die Pflicht zur Solidarität nicht gebiete, „die Landwirtschaft der anderen Staaten zu fördern“105. Deshalb könne aus dem Solidaritätsprinzip kein Anspruch abgeleitet werden, der Großbritannien verpflichtet, die hohen Agrarausgaben der anderen Staaten mitzutragen. Dagegen erscheint Häde die Berechtigung für den Ausgleichsmechanismus „zumindest fragwürdig“106. Deutlicher stellt auch Bieber fest, dass der Korrekturmechanismus zugunsten Großbritanniens „das Prinzip der solidarischen Verantwortung für die gemeinschaftlichen Einnahmen“ beeinträchtigt107. Ebenso wird aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht bemängelt, dass der Korrekturmechanismus keine konsistente Konzeption erkennen lasse und eine unzulässige Ausnahme des Systems darstelle108. Die Diskussion um die Beitragsermäßigung Großbritanniens zeigt allerdings nur, dass das gesamte System der Eigenmittel der Gemeinschaft und ihrer Ausgaben von politischen Kompromissen geprägt ist und sich rechtlich schwer einordnen lässt. Richtig ist deshalb die Einschätzung, dass es sich bei dem Korrekturmechanismus um den politischen Preis für den Verbleib des Vereinigten Königsreich in der Gemeinschaft handelt109. Die Beibehaltung dieser Ausnahme ist deshalb auch nur politisch zu begründen und nicht rechtlich110. Das Solidaritätsprinzip jedenfalls spricht weder für eine solche Regelung noch dagegen. Genauso wie die hohen Ausgaben im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik auf politischen Beschlüssen beruhen und den Forderungen einzelner Mitgliedstaaten Rechnung tragen111, genauso wird mit der Beitragsermäßigung eine politische Entscheidung im Sinne eines harmonischen Zusammenhalts in der Union getroffen. Das Solidaritätsprinzip würde es allenfalls gebieten, Großbritannien zu unterstützen, wenn seine Wirtschaftskraft im Vergleich zum Gemeinschaftsdurchschnitt stark abfallen würde. Aus diesem Prinzip folgt nur die grundsätz104 Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (749). 105 Hieronymi, S. 106. 106 Häde, Finanzausgleich, S. 487 f. 107 B/E/H, § 5 Rn. 22. 108 Walthes, S. 206 ff. 109 Fugmann, S. 284; Häde, Finanzausgleich, S. 488. 110 Messal, Wirtschaftsdienst 1988, 210 (215). 111 Vor allem Frankreich hat das „Prinzip der finanziellen Solidarität“ zu Vorbedingung der Öffnung seines Wirtschaftsraums gemacht, da Frankreich traditionell die höchsten Agrarüberschüsse in der Gemeinschaft produziert; vgl. Tomuschat, Solidarität, in: Capotorti/Ehlermann/Frowein/u. a. (Hrsg.), FS Pescatore, S. 729 (742); Bieber, EuR 1982, 115 (121).

IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit

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liche Pflicht der reicheren Staaten zur Unterstützung der ärmeren Mitgliedsländer. Über die Art und Weise dieses Ausgleichs trifft das Solidaritätsprinzip keine Regelungen. Dieses bleibt eine politische Ermessensentscheidung. 4. Ergebnis Zu Beginn ist gefragt worden, wie weit die Pflicht zur finanziellen Solidarität, also die leistende Seite des Solidaritätsprinzips, reicht. Die Antwort muss nun lauten, soweit, dass im Grundsatz eine Umverteilung von den wirtschaftlich stärkeren zu den wirtschaftlich schwächeren Staaten erfolgt. Deshalb ist zunächst einmal der Ansatz des juste-retour mit dem Solidaritätsprinzip nicht zu vereinbaren, da dort keinerlei Umverteilung stattfindet, sondern der Haushalt der Union darauf beschränkt wird, dass er den Mitgliedstaaten ebenso viele Zuschüsse gewährt, wie diese an Beiträgen aufbringen müssen. Das Solidaritätsprinzip gebietet weiterhin eine vollständige Gleichbehandlung der zukünftigen Neumitglieder, auch wenn dies zu Lasten der bisherigen Nettoempfängerstaaten geht. Hier steht vor allem auch der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Staaten in Frage. Alle Forderungen, die darüber hinausgehen, lassen sich nicht mit einem Verweis auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhang und das Prinzip der gegenseitigen Solidarität beantworten. Es handelt sich um politische Entscheidungen, die mit rechtlichen Kategorien nicht zu beschreiben sind. So wünschenswert eine Reform der Strukturpolitik und des Finanzausgleiches in der Europäischen Union erscheint, einen rechtlichen Anspruch darauf gibt es nicht. Genauso wird eine Klage eines Mitgliedstaates auf Förderung durch die Union nur in seltenen Fällen zulässig sein. Das Solidaritätsprinzip lässt sich nicht dergestalt verdichten, dass es in diesem Bereich normative Ansprüche begründet. Auch für die Beurteilung, ob Ausnahmeregelungen zu Gunsten einzelner Staaten statthaft sind, eignet sich das Solidaritätsprinzip nicht.

IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit 1. Einleitung und Fragestellung Die Diskussion um die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit (vZa) ist nicht neu und taucht typischerweise im Zusammenhang mit bevorstehenden oder bereits vollzogenen Erweiterungen der Union auf112. Dadurch zeigt sich die Befürchtung, dass durch eine Erweiterung der Union das Fortschreiten der 112 Der erste Anstoß ging von der Pariser Rede Willy Brandts 1974 aus, der eine nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten abgestufte Integration forderte, in: Bulletin EG, Beilage 1/1976; zur weiteren Entwicklung vgl. Langeheine,

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J. Grenzen der Solidarität

Integration verzögert oder sogar behindert werden könnte113. Zu einer positivrechtlichen Kodifizierung kam es jedoch erst durch den Vertrag von Amsterdam, der die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des EGV und der dritten Säule über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen vorsah114. Auf der Regierungskonferenz von Nizza wurden dann die als reformbedürftig angesehenen Voraussetzungen für eine vZa erleichtert und die Flexibilisierung auch für den Bereich der GASP eingeführt115. Die Begriffe und Termini in diesem Zusammenhang sind vielfältig und spiegeln häufig das hinter ihnen stehende Integrationsverständnis wider116. Es wird von einem „Kerneuropa“117, einem „Europe à geometrie variable“118 oder auch „Europe à plusieurs vitesse“119 gesprochen. Daneben tauchen Konzepte eines „Europe aux solidarités renforcées“120, einer „differenzierten Integration“121 oder eines „Europe à la carte“122 auf. Die Vorschläge sind heterogen und zum Teil grundverschieden, weisen aber doch eine grundsätzliche Gemeinsamkeit auf. Sie alle schränken das grundsätzliche Prinzip ein, dass der acquis communautaire für alle gilt und auch unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten weiterentwickelt werden soll. Anstelle des „Mythos der Uniformität“ der Unionsmitglieder tritt also die „Realität der Vielfalt“123. Folgerichtig lautete der Leitspruch des VerfV: „In Vielfalt geeint“124. Nun geht es aber an diese Stelle nicht darum, aufzuzeigen, welche Grenzen den unterschiedlichen Konzepten durch die bestehenden Verträge gesetzt werden125. Umgekehrt stellt sich für die vorliegende Arbeit die grundsätzliche Frage, ob überhaupt und wenn ja wie die vZa mit dem Solidaritätsprinzip zu Abgestufte Integration, S. 2 ff.; Chaltiel, RMC 1998, 289 (290); Scharrer, in: Grabitz (Hrsg.), Abgestufte Integration, S. 1 (6 ff.) und Schutz, 1999, S. 1 ff. 113 Daneben lassen sich noch weitere Gründe für die Möglichkeit einer vZa finden, vgl. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 43 EUV Rn. 2 f. 114 Zu den unterschiedlichen Vorschlägen im Vorfeld der Regierungskonferenz vgl. Giering, integration 1997, 72; Stubb, JCMS 1996, 283. 115 Dazu Giering/Janning, integration 2001, 146 ff. 116 So auch Cloos: „Ces termes traduisent des sensibilités différentes et ouvrent des pistes très diverses“; Cloos, RMCUE 2000, 512. 117 Schäuble-Lamers-Papier vom 1. September 1994, abrufbar unter: http://www. cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf. 118 Krämer, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, S. 307 (320). 119 Tindemans Bericht S. 18, abgedruckt in: Weidenfeld, Materialien zur Politischen Union, S. 314.; Langeheine, Abgestufte Integration, S. 38 ff. 120 Chirac, RAE 1995, 27 ff. 121 Ehlermann, EuR 1997, 362 (363 f.). 122 Dahrendorf, Ralf, S. 19; dazu Schutz, S. 24 ff. 123 Wessels/Jantz, in: Hrbek (Hrsg.), Die Reform der Europäischen Union, 345 (346). 124 Art. I-8 VerfV. 125 Diesen Ansatz wählt Hieronymi, S. 148 ff.

IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit

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vereinbaren ist. Steht also das Solidaritätsprinzip einer Flexibilisierung entgegen, so dass eine Vereinbarung einer vZa gegen die unionsimmanente Solidarität verstößt? Wie verträgt es sich mit dem Solidaritätsgedanken, dass in einem gemeinsamen Verfassungsverbund einige Mitglieder ausscheren und eine differenzierte und zusätzliche Form der Kooperation einrichten und verfolgen? Der begrifflichen Klarheit wegen soll dabei der Ausdruck der vZa verwendet werden. Diese Wortwahl findet sich in den Verträgen und ist daher anderen Termini vorzuziehen. Es ist damit zunächst diese grundsätzliche Frage zu beantworteten. Dabei kann auf eine genaue Analyse der einzelnen Konzepte verzichtet werden, wenn man sich auf die allen gemeinsame Tatsache bezieht, dass unabhängig von der konkreten Ausgestaltung und zeitlichen Dauer immer ein Teil der Mitgliedstaaten sich auf einem bestimmten Gebiet aus dem gemeinsamen Verbund löst und eine eigene zusätzliche Form der Kooperation begründet. Dies kann im Bereich der Verträge geschehen, das heißt in Verfolgung der dort vorgesehenen Kompetenzbereiche, aber genauso auch außerhalb der Verträge. Damit stellt sich die interessante Frage, ob mit der Eröffnung der vZa für alle drei Säulen durch den Vertrag von Nizza den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu anderen Formen intergouvernementaler Kooperation verschlossen worden ist. Diese soll kurz erörtert werden. Erst danach kann untersucht werden, ob die bestehenden Regelungen im Titel VII EUV und Art. 11, 11a EGV mit den Anforderungen des Solidaritätsprinzips übereinstimmen. 2. Spannungsfeld Solidaritätsprinzip und vZa a) Literatur In der Literatur wird auf ein Konfliktpotential zwischen Solidaritätsprinzip und vZa hingewiesen. Hilf geht von einem Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Solidarität und allen Erscheinungsformen der abgestuften Integration aus126. Solidarität steht der vZa zwar nicht unumstößlich und grundsätzlich entgegen, aber es sei doch erforderlich, dass „Fälle abgestufter Integration nach Möglichkeit zu vermeiden sind und dass allen Mitgliedstaaten die erforderliche Unterstützung zu gewähren ist, um an allen Bereichen des Unionsrechts teilnehmen zu können“127. Andererseits erfordere das Solidaritätsprinzip auch, den weitergehenden Integrationswillen einer Mehrheit von Staaten nicht zu behindern, so dass eine vZa möglich ist, wenn sie für die nicht teilnehmenden Staaten jederzeit offen steht. Ähnlich stellt auch Bieber fest, dass die Möglichkeit zu einer vZa in keinem Fall das „Bemühen um Solidarität innerhalb des Ge126 127

Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. A EUV Rn. 24. Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. A EUV Rn. 24.

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J. Grenzen der Solidarität

samtverbandes“ mindern sollte128. Nach Auffassung des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlamentes, José María Gil-Robles, ist eine vZa nur in den Bereichen statthaft, in denen nach wie vor das Einstimmigkeitserfordernis gilt. Auf allen anderen Gebieten führt u. a. der Grundsatz der Solidarität „als logische Konsequenz zum Ausschluss einer verstärkten Zusammenarbeit“129. Ausführlicher untersucht Martenczuk das vermeintliche Spannungsverhältnis und gelangt zu der Erkenntnis, dass der Grundsatz der föderalen Solidarität durch die differenzierte Integration aufgelockert, wenn nicht sogar aufgelöst wird130. Hieronymi resümiert, dass das Solidaritätsprinzip der Differenzierung zumindest teilweise entgegensteht131. Grundsätzlich sei eine vZa zu vermeiden, da „das solidarische Gebot, dem gemeinsamen Interesse den Vorrang vor dem eigenen Interesse einzuräumen“ nicht gewahrt würde, denn die Differenzierung in einem bestimmten Politikbereich diene nur den Interessen einiger Mitgliedstaaten132. Allerdings erkennt Hieronymi in Ausnahmefällen eine Differenzierung an. Das bestehende Spannungsverhältnis zum Solidaritätsprinzip sei durch eine Abwägung zu lösen, so dass eine vZa möglich ist, wenn „der integrationspolitische Nutzen die Gefahren für die Solidarität überwiegt“133. Andere Autoren erkennen das Solidaritätsprinzip nicht und berufen sich stattdessen auf den Grundsatz der Loyalität, um Grenzen für eine vZa zu ziehen134. In jedem Falle müsse der Grundsatz der Gemeinschaftstreue gewahrt bleiben, wenn es zu einer differenzierten Fortentwicklung der europäischen Integration komme135. Dabei wird auf die Bestimmungen des Art. 43 Abs. 1 h) (Art. 43 Abs. 1 f) a. F.) und Abs. 2 S. 2 EUV hingewiesen, wo der Grundsatz des Art. 10 EGV konkretisiert und verankert worden sei136. Konzepte wie das eines „Kerneuropas“ oder eines „Europa der variablen Geometrie“ sind nach dieser Auffassung nicht mit der Gemeinschaftstreue zu vereinbaren, da sie sich außerhalb des Unionsrahmens befinden137.

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B/E/H, § 37 Rn. 19. Gil-Robles, EuZW 1997, 353. 130 Martenczuk, EuR 2000, 352 (362 f.). 131 Hieronymi, S. 156. 132 Hieronymi, S. 156 f. 133 Hieronymi, S. 157. 134 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 43 EUV Rn. 22, 27; Huber, EuR 1996, 347 (351); Ehlermann, EuR 1997, 362 (373). 135 Huber, EuR 1996, 347 (351). 136 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 43 EUV Rn. 22, 27; wohl auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 43 EUV Rn. 19. 137 Huber, EuR 1996, 347 (351). 129

IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit

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b) Das AETR-Urteil des EuGH Im bereits erwähnten AETR-Urteil des EuGH ging es um eine vergleichbare Problematik138. Die Kommission klagte gegen einen Beschluss des Rates, der die damals sechs Mitgliedstaaten der EWG befähigte, die neuen Verhandlungen für ein Europäisches Übereinkommen über die Arbeit der im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrzeugbesatzungen (AETR) selbständig zu Ende zu führen. Sie stützte ihre Klage darauf, dass diese Angelegenheit in den Bereich der ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit falle, da auf diesem Gebiet inzwischen EG-Verordnungen erlassen worden waren, die mit den geplanten Regelungen des AETR kollidierten139. Der Erlass solcher Regelungen führe nach und nach dazu, dass aus einer vormals konkurrierenden Zuständigkeit eine ausschließliche werden könne140. Der Rat war dagegen der Auffassung, dass es sich weiter um einen Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit handelte, so dass die Mitgliedstaaten auch außerhalb des EG-Vertrages zu einem Abschluss kommen durften. In dieser Rechtssache geht es nicht um eine vZa nach dem EG-Vertrag. Eine solche war im damaligen acquis communautaire noch nicht vorgesehen. Dennoch sind die Ausführungen des EuGH im Grundsatz übertragbar. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass bei einem Gegenstand einer gemeinsamen Politik die Mitgliedstaaten „jedenfalls gehalten waren, zur Wahrnehmung der Gemeinschaftsinteressen solidarisch vorzugehen“141. Das AETR-Abkommen wurde nach dem Beschluss des Rates durch die Mitgliedstaaten und nicht durch die Gemeinschaft geschlossen, erfolgte also außerhalb des EG-Vertrages. Vergleichbar ist dies mit einer vZa außerhalb der Verträge. Die dort getroffenen Beschlüsse sind nur für die Teilnehmer der Differenzierung verbindlich142. Das bedeutet nach Auffassung des EuGH jedoch nicht, dass die Pflichten aus Art. 10 EGV suspendiert sind. Außerhalb des Rahmens des Gemeinschaftsrechts können die Mitgliedstaaten also keine Verpflichtungen eingehen, die Gemeinschaftsrechtsnormen, welche zur Verwirklichung der Vertragsziele ergangen sind, beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können143.

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EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263. EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263 (269 ff.). 140 EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263 (270): „So werde in dem Maße, wie Gemeinschaftsnormen in Kraft treten, die Gemeinschaft nach und nach für die durch diese Normen geregelten Gebiete ausschließlich zuständig“. 141 EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263 (281). 142 Hatje, Loyalität, S. 94; Becker, EU-Erweiterung, S. 51. 143 EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263 (275). 139

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J. Grenzen der Solidarität

c) Eigener Ansatz Das Solidaritätsprinzip weist zwei Seiten auf, die im Kontext von EUV und EGV herausgearbeitet worden sind. Zum einen gibt es die respektierende Solidarität, also die Berücksichtigung des europäischen Gemeinwohls und der Interessen der anderen Mitgliedstaaten. Dadurch wird nicht überall ein automatischer Vorrang des Gemeinwohls konstituiert, sondern die Qualität des Solidaritätsprinzips variiert in den unterschiedlichen Politikfeldern der Union. Deshalb greift es auch zu kurz, wenn man mit dem Hinweis darauf, dass eine vZa notwendigerweise diesen Vorrang nicht berücksichtigt, einen automatischen Konflikt mit dem Solidaritätsprinzip annimmt144. Zum anderen wurde die leistende Seite des Solidaritätsprinzips analysiert mit dem Ergebnis, dass eine grundsätzliche Unterstützungs- und Umverteilungspflicht besteht, die in Art und Weise jedoch völlig offen ist. Entsteht vor diesem Hintergrund jetzt a priori ein Konflikt zwischen der Möglichkeit zur vZa und dem Solidaritätsprinzip? Die Antwort muss verneinend ausfallen. Anders gewendet, die Möglichkeit zur vZa ist ihrerseits eine Regelung, um das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union zu wahren. Dessen politische Funktion liegt doch darin, dafür zu sorgen, dass der Zusammenhalt in der Union bestehen bleibt, und es einen gerechten Ausgleich der partikulären Interessen gibt. In einer immer größeren Union und einer zunehmenden Komplexität der Rechtsverhältnisse und Materien, die durch das Europarecht geregelt werden, ist dieser Zusammenhalt großen Belastungen ausgesetzt. Die bessere Alternative ist es dann, den Mitgliedstaaten, die diesen Zusammenhalt nicht wahren können oder wahren wollen, die Möglichkeit zur Differenzierung zu geben. Nur dadurch ist ein solidarischer Ausgleich der Interessen gewährleistet. Das Solidaritätsprinzip steht damit der vZa nicht per se entgegen, sondern umgekehrt ist diese Möglichkeit notwendig, um das Solidaritätsprinzip in einer erweiterten Union zu wahren. Das Solidaritätsprinzip sichert ebenso, dass wurde an anderer Stelle gezeigt, die gemeinsame Verpflichtung von Union und Mitgliedstaaten auf die Verfassungsziele. Die in den Präambeln EUV und EGV, Art. 2 EUV, Art. 2, 3 EGV aufgeführten Ziele sind Leitmotive und Legitimation zugleich. Dabei liegt den Verträgen die Grundannahme zugrunde, dass eine einheitliche Integration durch einheitliche Regelungen den Königsweg darstellt in Richtung einer vertieften Supranationalisierung. Insofern setzen die Verträge, wie besonders schon der EGKSV, einen politischen Willen zur Integration voraus, der als politische Tatsache vorgeben und dauerhaft bestehend sein muss145. Dieses Einheitspostulat ist jedoch nur solange ein tragfähiger Ansatz, solange drei Voraussetzungen er144

So aber Hieronymi, S. 148 ff. Vgl. in diesem Kontext die interessanten Ansätze bei von Simson, in: Aubin/von Caemmerer/Meylan/u. a. (Hrsg.), FS Riese, S. 83 ff., über die Bedeutung des politischen Willens für die Europäischen Gemeinschaften. 145

IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit

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füllt sind. Erstens müssen die Mitgliedstaaten wirtschaftlich in der Lage sein, sich an der jeweiligen Integrationsstufe zu beteiligen, Nutzen aus dieser zu ziehen und den erreichten Integrationsstand nicht zu gefährden. Die Konvergenzkriterien und die Differenzierung für den dritten Teil der Währungsunion sind ein Beispiel dafür, dass eine Differenzierung aus ökonomischer Sicht Sinn machen kann. Zweitens müssen die Mitgliedstaaten politisch fähig und willens sein, den Schritt auf die nächste Integrationsstufe zu vollziehen. Das Sozialprotokoll mit den Ausnahmen für das Vereinigte Königreich und Dänemark ist ein Beispiel aus diesem Bereich. Als dritte und letzte Voraussetzung muss ein eindeutiger Vorrang des gemeinsamen vor dem individuellen Interesse nachweisbar sein. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Einführung von Mehrheitsentscheidungen für den jeweiligen Politikbereich146. Das zeigt, dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich bereit sind, auch nachteilige Beschlüsse aus Gründen des europäischen Gemeinwohls zu akzeptieren. Hier herrscht dann ein gesteigertes Integrationsniveau, so dass das Einheitspostulat Sinn macht. Wenn eine dieser Voraussetzung nicht gegeben ist, dann ist die Erreichung der spezifischen Verfassungsziele zumindest verlangsamt, wenn nicht gar ganz unmöglich geworden. Bei wirtschaftlicher Schwäche kann der Mitgliedstaat die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen, mit der Folge von neuen Ungleichheiten in der Union, und gefährdet somit die Umsetzung des Integrationsschritts. Bei fehlendem politischen Willen ist eine Umsetzung ebenso unwahrscheinlich, z. B. wenn eine von der Verfassung vorgeschriebene Volksabstimmung wie in Dänemark die Einführung des Euros verhindert. In Bereichen mit Einstimmigkeitserfordernis hat jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht, so dass der Integrationsschritt ebenfalls verhindert werden kann. Anstelle des Einheitspostulats tritt dann die Möglichkeit zur vZa, damit es zu einer Zielverwirklichung kommen kann. Aufgabe und Funktion des Solidaritätsprinzips ist es nun, dafür zu sorgen, dass die vZa nicht zu Lasten der Union oder der anderen Mitgliedstaaten erfolgt. Dabei gilt dieses Prinzip in dem Maße, indem es Wirkungen für den jeweiligen Politikbereich entfaltet. So erscheint eine vZa im Bereich der GASP eher zulässig, da dort ein genereller Vorrang des Gemeinschafts- vor dem mitgliedstaatlichen Interesse nicht feststellbar ist. Dagegen wird eine vZa auf dem Gebiet des Binnenmarktes in den ursprünglich geregelten Bereichen wohl nur als letzte Ausnahme und ultima ratio denkbar sein147. Die leistende Seite des Solidaritätsprinzips beinhaltet die Pflicht, dass die wohlhabenden Staaten die wirtschaftlich schwächeren Staaten dergestalt unterstützen, dass diese die Möglichkeit zur Teilnahme an Binnenmarkt, Wirtschafts146 Für den Bereich des EGV vgl. die Übersicht bei Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 251 EGV Rn. 9; im EUV gilt grundsätzlich das Einstimmigkeitserfordernis. 147 In diesem Bereich sei nach wohl allgemeiner Einschätzung sowieso wenig Raum für eine verstärkte Zusammenarbeit meint Hofmann, EuR 1999, 713 (727).

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J. Grenzen der Solidarität

und Währungsunion haben. Folgt daraus auch die Pflicht, im Falle einer vZa mit finanziellen Transferleistungen dafür zu sorgen, dass die aus wirtschaftlichen Gründen nicht beteiligten Staaten sich anschließen können? Dies wird man nicht annehmen können. Die grundsätzliche Unterstützungspflicht bezieht sich auf die bestehenden Bereiche der Integration, wie sie in den Verträgen vorgesehen sind. Wie gesehen ist es nicht möglich, daraus einzeln, konkrete und justitiable Rechte oder Pflichten abzuleiten. Das gilt auch für den Bereich einer vZa148. Allerdings schreibt das Solidaritätsprinzip vor, dass die Tür für die anderen Mitgliedstaaten offen gehalten wird. Die Möglichkeit des Beitritts zu bestehenden Kooperationen in Form einer vZa muss also jederzeit gewährleistet sein. 3. Kooperationen außerhalb der Verträge Nicht unmittelbar mit der Problematik von Solidarität und vZa verhaftet ist die Frage, ob mit der Einführung der Möglichkeit zur vZa in allen drei Säulen jede andere außervertragliche Form der Kooperation für die Mitgliedstaaten ausgeschlossen worden ist. Sie soll deshalb nur am Rande und aus Gründen der Vollständigkeit behandelt werden. Es geht dabei um Formen der äußeren Differenzierung, also einer Kooperation von einem Teil der Mitgliedstaaten auf Gebieten, die nicht in die Zuständigkeit der Union fallen, aber mit den vertraglichen Regelungen in einem sachlichen Zusammenhang stehen können149. Diese Frage wird von der Literatur unterschiedlich beantwortet. Mit dem Hinweis auf das Gebot der Gemeinschaftstreue verneint eine Meinung die Zulässigkeit von Kooperationen außerhalb des Rahmens der Verträge150. Das Loyalitätsgebot verpflichtet nach dieser Ansicht die Mitgliedstaaten, ausschließlich von den in den Verträgen geregelten Möglichkeiten zur Verstärkten Zusammenarbeit Gebrauch zu machen. Vor dem Vertrag von Nizza, der erst eine vZa in der zweiten Säule einführte, wäre damit eine Kooperation im Bereich der GASP ausgeschlossen gewesen. Dagegen wird angeführt, dass die Mitgliedstaaten weiterhin die Herren der Verträge sind151. Die Befugnis zur Kooperation außerhalb der Verträge kommt in ihrer grundsätzlich unbeschränkten völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit zum Ausdruck und ist nicht an die Union abgetreten worden152. Eine Grenze ergibt sich nach dieser Auffassung alleine aus dem Gebot der Gemeinschaftstreue. Eine solche äußere Differenzierung ist da-

148

So auch Hatje, Loyalität, S. 98 f. Die Differenzierung zwischen innerer und äußerer Flexibilität nimmt Hatje, Loyalität, S. 93 vor. 150 Constantinesco, RTDE 1997, 751 (755); Martenczuk, ZEuS 1998, 464; in diese Richtung tendieren auch Epiney/Freiermuth/Mosters, DVBl. 2001, 941 (945 FN 40). 151 Hofmann, EuR 1999, 721 (728). 149

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nach nur zulässig, wenn sie den Zielen der Union nicht zuwiderläuft und soweit wie möglich von den vertraglichen Bestimmungen Gebrauch gemacht wird. 4. Die Regelungen im EUV und EGV Es bleibt zu untersuchen, ob die bestehenden Regelungen des Primärrechts zur vZa den abgesteckten Zulässigkeitsrahmen einhalten. Zusammenfassend ergibt sich, dass das Solidaritätsprinzip einer vZa in keinem Bereich des Unionsrechts entgegensteht. Es besteht auch a priori kein Spannungsfeld zweier gegenläufiger Prinzipien. Vielmehr kann es gerade der Wahrung des Solidaritätsprinzips dienen, wenn Formen einer vZa zwischen einigen Mitgliedstaaten begründet werden. Allerdings folgen aus dem Solidaritätsprinzip die Pflichten zur Rücksichtnahme und Unterstützung. Deshalb müssen bei einer vZa die Interessen der Union und der anderen Mitgliedstaaten ausreichend berücksichtigt werden. In bestimmten Bereichen gebietet es das Solidaritätsprinzip, von der vZa erst als ultima ratio Gebrauch zu machen. Außerdem muss gewährleistet sein, dass die anderen Mitgliedstaaten sich zu jeder Zeit der vZa anschließen können. Eine besondere finanzielle Unterstützung für die Staaten, die sich nicht an der vZa beteiligen können, lässt sich durch das Solidaritätsprinzip aber nicht begründen. a) Die allgemeinen Bestimmungen Die allgemeinen Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit finden sich in Art. 43–45 EUV und Art. 11, 11a EGV. Nach dem Vertrag von Nizza ist nun eine vZa grundsätzlich auf allen Politikfeldern der Union denkbar, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Es besteht ein Rückschrittsverbot nach Art. 43 lit. a) EUV, d.h. eine vZa darf nicht hinter den acquis communautaire zurückfallen und muss stets den Integrationsprozess stärken153. Nach derselben Vorschrift muss eine vZa die Ziele der Union fördern und ihre Interessen schützen. Dazu werden ausdrückliche Rücksichtnahmepflichten normiert, Art. 43 lit. b), lit. c), lit. h), und die vZa nur für die Bereiche der konkurrierenden Zuständigkeiten zugelassen, lit. d). Unter dem Aspekt der leistenden Solidarität ist die Vorschrift des Art. 43 lit. e) EUV interessant. Keine Form der vZa darf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Gemeinschaft nach Titel XVII beeinträchtigen. Wie oben herausgearbeitet worden ist, bringt eine vZa keine neuen finanziellen Pflichten mit sich; sie darf aber offensichtlich auch 152 Hatje, Loyalität, S. 95; Hofmann, EuR 1999, 721 (728); Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 43 EUV Rn. 28; Cremer, in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, Art. 27a EUV Rn. 2. 153 Constantinesco, RTDE 1997, 751 (758).

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nicht dazu führen, dass die durch den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt erfolgte Umverteilung gefährdet wird. Weiterhin ist wichtig, dass sich für eine vZa mindestens acht Mitgliedstaaten zusammenfinden müssen, Art. 43 lit. g)154. Es gilt zudem das Prinzip der Offenheit, nach Art. 43 lit. j) i. V. m. 43b EUV, so dass eine vZa schon bei ihrer Gründung allen Mitgliedstaaten offen stehen und danach jederzeit Mitglieder aufnehmen muss, die dem Grundbeschluss und den in diesem Rahmen gefassten Beschlüsse nachkommen. Art. 43a EUV bestimmt für alle drei Säulen, dass eine vZa immer nur als ultima ratio in Betracht kommt. Dahinter verbirgt sich eine grundlegende Skepsis gegen diese Form der vertieften Integration. Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, ob vorher eine Abstimmung in einer relevanten Materie im Rat versucht worden sein muss oder nicht, ist nicht ohne Schwierigkeiten zu beantworten. Der Vertrag von Nizza versucht eine Einengung vorzunehmen, indem nun gefordert wird, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele nicht in einem vertretbaren Zeitraum verwirklicht werden können. Es wird sich erweisen müssen, ob durch die Hinzufügung eines weiteren unbestimmten Rechtsbegriffes wirklich ein Fortschritt erzielt worden ist. Es wird Aufgabe des EuGH sein, die Voraussetzungen einer vZa unter Berücksichtigung eines weiten Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten zu präzisieren, wenn es konkrete Beispiele gibt155. Die Finanzierung der vZa erfolgt grundsätzlich durch die beteiligten Staaten selbst, sofern nicht durch einen einstimmigen Ratsbeschluss unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten etwas anderes bestimmt wird156. Schließlich wiederholt Art. 45 EUV ein allgemeines Kohärenzgebot, wonach Rat und Kommission sicherstellen sollen, dass die Maßnahmen in einer vZa untereinander sowie im Verhältnis mit den Politiken der Union und der Gemeinschaft im Einklang stehen. Konstitutiv ist allein die Kohärenzverpflichtung für Maßnahmen in einer vZa oder zwischen mehreren via. Das übrige ergibt sich bereits aus Art. 43 EUV. Während also im Titel VII EUV die allgemeinen Bestimmungen und Grundsätze der vZa getroffen werden, finden sich die einzelnen Verfahrensregelungen über die Aufnahme und Durchführung einer vZa jeweils gesondert im EGV157 und in den Bestimmungen über die GASP158 sowie die PJZS159. Dabei variie154 Vor der Erweiterung in der Union der 15 war damit noch eine Mehrheit der Staaten erforderlich. Mit dem Beitritt der zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten und Zypern sind es nur noch ein knappes Drittel der Staaten, ohne das diese Bestimmung geändert worden ist. 155 Der EuGH ist nach Art. 46 lit. c) EUV dafür zuständig, sowohl den grundsätzlichen Beschluss über eine vZa zu überprüfen als auch die Maßnahmen, die im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit getroffen werden. 156 Art. 44a EUV. 157 Art. 11, 11a EGV.

IV. Die Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit

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ren die Verfahrens- und Abstimmungsvorschriften, so dass sich z. B. für den Bereich der GASP eine Vetomöglichkeit ergibt. Art. 27c EUV verweist auf das Beschlussverfahren nach Art. 23 Abs. 2 UA 2 EUV. Danach kann ein Mitglied des Rates aus wichtigen Gründen der nationalen Politik die Abstimmung über die Aufnahme einer vZa im Bereich der GASP verhindern. Die Entscheidung kann dann mit qualifizierter Mehrheit dem Europäischen Rat übertragen werden, wo allerdings das Einstimmigkeitserfordernis gilt. Wichtig ist aber, dass die allgemeinen Abstimmungs-, Kohärenz- und Rücksichtnahmepflichten überall gelten. Auch das Prinzip der Offenheit ist in allen drei Bereichen gewahrt. b) Bewertung Die bestehenden Bestimmungen im EUV und EGV erfüllen die Anforderungen des Solidaritätsprinzips. Sie sind zum Teil viel restriktiver und verschärfen die Voraussetzungen für eine vZa mehr, als es nach dem Solidaritätsprinzip erforderlich ist. So kann eine vZa in allen drei Säulen immer nur als ultima ratio in Betracht kommen, obwohl gerade für die GASP aber auch für die PJZS weniger strenge Voraussetzungen denkbar sind. Insgesamt zeigen die Regelungen eine grundlegende Skepsis der Mitgliedstaaten gegenüber dieser Form abgestufter Integration. Die Furcht vor einer Zersplitterung des Integrationsprozesses und des Verlustes der Rechtseinheit scheint noch die Sicht auf die Vorteile der vZa zu verdecken. 5. Ergebnis Einer der genannten Vorschläge zur vZa wird mit der Überschrift „Europa aux solidarités renforcées“ versehen. Dieser Begriff fasst die gefundenen Ergebnisse gut zusammen. Die Möglichkeit zur vZa gleicht einer verstärkten Solidarität in diesem Bereich. Die vZa ist keine unsolidarische Alternative zum solidarischen Integrationsprozess durch gemeinsames Recht und gemeinsame Institutionen. Es besteht kein automatisches, von vornherein angelegtes Spannungsfeld zwischen dem Prinzip der Flexibilisierung und dem der Solidarität. Das Solidaritätsprinzip statuiert nur im Bereich des Binnenmarktes einen Vorrang des gemeinsamen Interesses160. Dort ist eine vZa aber kaum mehr vorstellbar, als ultima ratio jedoch zulässig. Die Möglichkeit zu einer vZa sichert erst die Bewahrung des Solidaritätsprinzips in einer erweiterten und vertieften 158

Art. 27a–e EUV. Art. 40, 40a, 40b, EUV. 160 Vgl. auch Bleckmann, Die Entwicklung der Allgemeininteressen aus den Grundrechten der Verfassung, S. 50 ff., der für einen grundsätzlichen Vorrang der gesamteuropäischen Wohlfahrtsinteressen vor den nationalen gegenläufigen Interessen plädiert. 159

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J. Grenzen der Solidarität

Union. Zugleich gewährleistet sie die nach Art. 2 EUV und Art. 2 EGV erforderliche Zielverfolgung, indem sie eine vorübergehende oder dauernde Blockade aus wirtschaftlichen, politischen oder verfahrenstechnischen Gründen verhindert. Ein im Grundsatz angelegter, a priori feststellbarer Konflikt zwischen dem Solidaritätsprinzip und der vZa besteht nicht.

V. Austritt aus der Union Ein Problemkreis, der gleichsam an den „Grundfesten“161 der Gemeinschaft rührt, ist der Austritt oder auch der Ausschluss aus der Europäischen Union. Eine solche Extremsituation tritt auf, wenn die bestehende Rechtordnung der Union nicht in der Lage ist, einen Interessengegensatz befriedigend zu lösen, so dass der Mitgliedstaat oder eben die Union den Austritt bzw. den Ausschluss erwägen. Im Gegensatz dazu soll die eben erläuterte Möglichkeit zur vZa gerade eine solche Situation verhindern und einen Interessenausgleich herbeiführen. Mag der Austritt einzelner Mitgliedstaaten noch zu verkraften sein, so stellt doch spätestens der Austritt einer Vielzahl von Ländern die Existenz der gesamten Union in Frage. Dabei nimmt mit zunehmender Erweiterung und Vertiefung der Union die Wahrscheinlichkeit eines Austritts nicht ab, sondern eher zu. Es gilt nach dem Gemeinschaftsrecht ein generelles Rückschrittverbot, d.h. eine Reduzierung des acquis communautaire ist nicht möglich, um im Extremfall einen Zusammenhalt der Union zu gewährleisten162. Die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen auf alle Politikbereiche kann dazu führen, dass einzelne Mitgliedstaaten ihre Interessen als nicht mehr gewahrt sehen. Mögliche Konfliktfelder sind in einer Union von 25 oder mehr Staaten stärker und aufgrund der zunehmenden Heterogenität prononcierter vorhanden. Auch der politische Wille und vor allem die Zustimmung der Bevölkerung sind ausschlaggebend für einen Verbleib in der Europäischen Union. In den Mitgliedsländern, die nationale Referenden vorsehen, könnte eine negative Volksabstimmung einen Austritt nach sich ziehen. Diese Überlegungen zeigen, dass in Hinblick auf die gerade vollzogenen und die noch bevorstehenden Erweiterungen und die Integrationsvertiefung durch den VerfV der Frage nach einem Austritt enorme praktische Relevanz zukommt. In der Vergangenheit ist diese Problematik bereits verschiedentlich aufgetaucht, so z. B. in Bezug auf Großbritannien, Griechenland und Dänemark163. 161 Diese Formulierung benutzt der EuGH im für das Solidaritätsprinzip wichtigen Schlachtprämienurteil aus dem Jahre 1973, EuGH, Rs. 39/72, Kommission/Italienische Republik, Slg. 1973, 101 (115); zur Auslegung vgl. oben Kapitel F. III. 4. b) bb). 162 Deshalb ist der Vorschlag von Zuleeg nicht umsetzbar, wenn er meint, dass „unter Umständen Abstriche an den Errungenschaften der Integration gemacht werden müssen, um die Existenz der Gemeinschaft nicht zu gefährden“; vgl. Zuleeg, in: Bieber/Bleckmann/Capotorti/u. a. (Hrsg.), GS Sasse, Band I, S. 55 (71).

V. Austritt aus der Union

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Es liegt auf der Hand, dass ein vollzogener Austritt oder Ausschluss ebenso an den Grundfesten des Solidaritätsprinzips rührt. Er steht einer „Verabschiedung aus der EU-Solidarität“ gleich164. Insofern muss bei den Grenzen des Solidaritätsprinzips auch diese Frage entsprechend erläutert werden165. Die Frage des Austritts/Ausschlusses aus der Union wird seit langem in der Literatur diskutiert166. Der EuGH hat sich bis jetzt noch nicht explizit zu dieser Frage geäußert, einige Urteile enthalten aber Hinweise, die Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen geben167. Es zeichnet sich allerdings ab, dass diese Streitfrage demnächst zur Rechtsgeschichte gehören wird, denn Art. I-60 Abs. 1 VerfV bestimmt nun: „Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten“. Bevor das Verhältnis von Solidaritätsprinzip und Austritt/Ausschluss geklärt werden kann, müssen zunächst die grundlegenden Positionen in dieser Streitfrage dargestellt werden. Gerade auch in Hinblick auf die zu erwartende Vertragsänderung durch den VerfV ist es nicht notwendig, die (bald historische) Diskussion in ihren Einzelheiten nachzuzeichnen. Es soll an dieser Stelle genügen, die denkbaren Facetten der Meinungen, von ablehnender über vermittelnder bis zur befürwortender, überblicksartig wiederzugeben. Zum Schluss muss das Verfahren nach Art. I-60 VerfV kurz beschrieben und bewertet werden. 1. Der Austritt aus Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft Bei einem Austritt eines Mitgliedstaates sind zwei Fälle denkbar. Entweder der Mitgliedstaat scheidet im Einvernehmen mit allen übrigen Ländern aus der Union aus oder es handelt sich um eine einseitige und nichteinvernehmliche Kündigung. Dazu muss zwischen einem Ausscheiden aus der gesamten Union und der nur teilweise Beendigung der Mitgliedschaft unterschieden werden. Es ist denkbar, dass für ein Land nur der Austritt aus der GASP und/oder der PJZS 163

Vgl. dazu Waltemathe, Austritt, S. 22 ff. Pöhle, integration 1999, 231 (233). 165 Dieser Aspekt ist, soweit ersichtlich, nirgendwo in der Literatur beachtet worden. Auch bei Hieronymi, finden sich keine Ausführungen zu diesem Problemkreis. 166 Vgl. Dagtoglou, in: Schnur (Hrsg.), FS Forsthoff, S. 77; Zuleeg, in: Bieber/ Bleckmann/Capotorti/u. a. (Hrsg.), GS Sasse, Band I, S. 55; Bernhardt, in: Hafner/ Loibl/Rest/u.a (Hrsg.), Liber Amicorum Seidl-Hohenveldern, S. 25; Doehring, in: Dörr/Fink/Hillgruber (Hrsg.), FS Schiedermair, S. 695; Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000; Waltemathe, Austritt aus der Europäischen Union, 2000; Pöhle, integration 1999, 231; Schwarze, EuR 1983, 1; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 312 EGV; Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 312 EGV; Schweitzer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 312 EGV. 167 Vgl. die Urteile und Nachweise bei Waltemathe, Austritt, S. 46 ff. 164

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J. Grenzen der Solidarität

in Frage kommt, es aber weiterhin Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft sein will168. a) Der einvernehmliche Austritt aus EU und/oder EG Die Frage des einvernehmlichen Austritts ist eng verbunden mit der Frage, ob die Mitgliedstaaten noch „Herren der Verträge“ sind. Dieser Ausdruck betont die den Mitgliedstaaten verbliebene Souveränität und verweist auf die völkerrechtliche Grundlage des Unions- und der Gemeinschaftsverträge. Von diesem Standpunkt aus gesehen können die Verträge nach allgemeinen völkerrechtlichen Regeln durch einen entsprechenden actus contrarius in ihrer Gesamtheit wieder aufgehoben werden169. Dafür kommen die Regelungen der Art. 54 lit. b)170 sowie Art. 59171 WVRK in Frage172. Wer dagegen die Anwendbarkeit der allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen im Bereich der Union verneint, muss nicht notwendigerweise zu einer anderen Auffassung gelangen. Denkbar ist eine Aufhebung der Verträge im Wege einer Vertragsrevision nach Art. 48 oder 49 EUV mit einer Änderung oder Abschaffung der Art. 51 EUV, 312 EGV173. Nur wenige Autoren lehnen diese Möglichkeit mit dem Hinweis darauf ab, dass die Völkerrechtssubjektivität der Mitgliedstaaten an dieser Stelle beschränkt worden 168 Diese Möglichkeit wurde nach der Ablehnung des Unionsvertrags durch Dänemark 1992 in Betracht gezogen; vgl. Oppermann/Classen, NJW 1993, 5 (7); Glistrup, RMC 1994, 9 (13). 169 Deutlich Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 312 EGV Rn. 12: „Denn derjenige, der über die Rechtsmacht verfügt, eine Bindung einzugehen, muss grundsätzlich auch über die Macht verfügen, die Bindung zu lösen“; so auch Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 48 EUV Rn. 5; Zuleeg, in: Bieber/ Bleckmann/Capotorti/u. a. (Hrsg.), GS Sasse, Band I, S. 55 (58 f.); Götting, Mitgliedschaft in der EU, S. 148; zweifelnd Kempen, AVR 1997, 271 (279 FN 20), der zwar betont, dass Gemeinschaftsrecht Völkerrecht ist und deshalb auch die völkerrechtlichen Regelungen anwendbar sind. Aus der Sicht des deutschen Staatsrechts ist für Kempen aber vorstellbar, dass eine Aufhebung des deutschen Zustimmungsgesetzes zur EU durch den in Art. 23, 24 und der Präambel GG enthaltenen Integrationsbefehl beschränkt ist. 170 Die Beendigung eines Vertrages kann jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien nach Konsultierung der anderen Vertragsstaaten erfolgen. 171 Nach dieser Norm gilt ein Vertrag durch den Abschluss eines späteren, sich auf denselben Gegenstand beziehenden Vertrages zwischen den gleichen Parteien als beendet, wenn dies aus dem späteren Vertrag hervorgeht oder Bestimmungen desselben mit denen des früheren Vertrages unvereinbar sind. 172 Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 312 EUV Rn. 2. 173 Für die Anwendung des Verfahrens nach Art. 48 EUV: Götting, Mitgliedschaft in der EU, S. 145; B/E/H, § 7 Rn. 40; Meier, NJW 1974, 391 (394); Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 479; Zuleeg, in: Bieber/Bleckmann/Capotorti/u. a. (Hrsg.), GS Sasse, Band I, S. 55 (58 f.); Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 51 EUV Rn. 2; Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. O EUV Rn. 32; Schwarze, EuR 1983, 1 (14 f.).

V. Austritt aus der Union

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ist174. Zu diesem Ergebnis müssen auch der EuGH und die Autoren kommen, welche die grundlegenden Bestimmungen der Verträge in Manier des Art. 79 Abs. 3 GG als materielle Schranken für eine Vertragsänderung betrachten175. Als unproblematisch erweist sich also das einvernehmliche Entlassen eines Mitgliedstaates. Nach ganz überwiegender Meinung kann ein Mitgliedstaat aus der Union austreten, wenn dies in Übereinstimmung mit allen andern Mitgliedstaaten geschieht176. Ob dafür die Regelungen der WVRK, Art. 54 lit. b, subsidiär herangezogen werden können, oder das Entlassen des Mitgliedstaates nach Art. 48 EUV geschieht, muss also nicht entschieden werden. Der einvernehmliche Austritt ist damit kein Konfliktfall des Solidaritätsprinzips, solange nicht der Austritt vieler Staaten zur Auflösung der Union führt. Erst dann wird das Solidaritätsprinzip grundlegend in Frage gestellt. b) Einseitiger und nicht einvernehmlicher Austritt aus EU und/oder EG Ein Testfall für die Solidarität stellt dagegen der einseitige Austrittswunsch eines Mitgliedstaates gegen den Willen eines anderen oder aller Mitgliedstaaten dar. Nach geltendem Recht enthalten die Verträge keine Kündigungsklausel und EUV und EG gelten auf „unbegrenzte Zeit“177. Eine ordentliche Kündigung ist deshalb grundsätzlich ausgeschlossen178. Die Beantwortung der Frage, ob auch eine nicht einvernehmliche außerordentliche Kündigung rechtlich zulässig ist, muss sich deshalb aus dem allgemeinen Völkerrecht und den allgemeinen Grundsätzen und Zielen der Verträge ergeben. aa) Befürworter eines einseitigen Austrittrechts Die Befürworter eines solchen Austrittrechts stellen auf die ungeachtet allen Souveränitätsverlusts verbliebene faktische Möglichkeit der Mitgliedstaaten ab, die Union zu verlassen179 In letzter Konsequenz bleibe es damit den Mitglied174 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 7; Thieme, VVDStRL 1960, 50 (72); Zimmerling, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EG-Kommentar, Art. 312 EGV Rn. 6. Zweifelnd noch Hilf, in: G/T/E, Art. 240 EGV Rn. 7, der eine solche Möglichkeit jedenfalls bei einem Grad staatenähnlicher Souveränität der Gemeinschaft ausschließt; anders in der Neuauflage Weber, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 312 EGV Rn. 5. 175 Bieber, ZSchwR 1993, 327 ff.; Curtin, CMLRev. 1993, 17 (64); Heintzen, EuR 1994, 35 (39 f.); EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079 Rn. 21. 176 Weber, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 312 EGV Rn. 9; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 4 Rn. 20; Götting, Mitgliedschaft in der EU, S. 148; Ehlermann, EuR 1984, 113 (124); Meier, NJW 1974, 391 (394). 177 Art. 51 EUV, Art. 312 EGV. Das wird der VerfV nicht ändern, vgl. Art. IV-446 VerfV. 178 Auch das Völkerrecht in Gestalt der WVRK enthält keine Regelungen über eine ordentliche Kündigung.

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J. Grenzen der Solidarität

staaten überlassen, über die Art und Weise ihrer politischen Bindungen zu bestimmen. Das zeige auch die Tatsache, dass die Union anders als der Bundesstaat über keine eigenen Zwangsmittel verfügt, um einen Austritt zu verhindern. Nach dieser Ansicht scheint die faktische Austrittsmöglichkeit zu reichen, um eine rechtliche Zulässigkeit derselben zu begründen. Ihre Vertreter geben allerdings zu, dass die Sezessionsmöglichkeit im „metajuristischen-historischen“180 Bereich und damit überwiegend außerhalb normativer Betrachtung liegt. bb) Gegner eines einseitigen Austrittsrechts .Nach der Gegenansicht gilt ein Verbot des einseitigen Ausscheidens181. Das folgt aus der zeitlichen Unbegrenztheit der Verträge, denen die Mitgliedstaaten freiwillig beigetreten sind182. Die Mitgliedstaaten sind politisch, wirtschaftlich und rechtlich derart miteinander verwoben, dass eine einseitige Kündigung ausgeschlossen ist. Diese Meinung begründet das Verbot einer nicht einvernehmlichen Kündigung also mit der Struktur und dem Gesamtcharakter der Gemeinschaft sowie der Zielsetzung, einen immer engeren Zusammenschluss der Völker Europas herbeizuführen183. cc) Austrittsrecht nur in Ausnahmefällen Die überwiegende Meinung vertritt eine vermittelnde Position184. Grundsätzlich besteht kein Recht zur ordentlichen Kündigung der Verträge durch einen Mitgliedstaat, da sich dafür keine Regelung in den Verträgen findet. In Ausnahmefällen ist aber nach dieser Ansicht ein Austritt denkbar. Dabei wird auf den völkerrechtlichen Grundsatz der clausula rebus sic stantibus verwiesen, der in Art. 62 WVRK normiert ist185. Als ultima ratio und erst nach Ausschöpfung aller durch die Verträge zur Verfügung gestellten Schlichtungsmechanismen und 179 Erler, VVDStRL 1960, 7 (18); Stein, VVDStRL 1994, 26 (33); Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 77 f. 180 Erler, VVDStRL 1960, 7 (18). 181 Constantinesco, Band I, S. 181 f.; Ehlermann, EuR 1984, 113 (124); Everling, in: Bernhardt/Geck/Jaenicke/u. a. (Hrsg.), FS Mosler, S. 173 (184); Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 74; sowie die Nachweise bei Götting, Mitgliedschaft in der EU, S. 109 FN 9, S. 144. 182 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 4 Rn. 20. 183 Everling, in: Bernhardt/Geck/Jaenicke/u. a. (Hrsg.), FS Mosler, S. 173 (184). 184 Schweitzer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 312 EGV Rn. 5; Zuleeg, in: Bieber/Bleckmann/Capotorti/u. a. (Hrsg.), GS Sasse, Band I, S. 55 (62); Geiger, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rn. 9; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUKommentar, Art. 312 EGV Rn. 3; Heintzen, AöR 1994, 564 (572); Hobe, Verfassungsstaat, S. 355; Klein, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. O EUV Rn. 28; Oppermann, Europarecht, Rn. 221; Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 457 ff.; Kempen, AVR 1997, 271 (283 f.), Schmitt Glaeser, S. 41 f.

V. Austritt aus der Union

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Notstandsklauseln ist eine Berufung auf Art. 62 WVRK zulässig und führt zur Beendigung der Mitgliedschaft. Die Anforderungen an eine solche Ausnahmesituation sind sehr hoch. Es müssen sich die wesentlichen Grundlagen der Union, die Grund für die Zustimmung des Mitgliedstaates waren, in nicht vorhergesehener Weise derart geändert haben, dass das Ausmaß der auf Grund des Vertrags noch zu erfüllenden Verpflichtungen tief greifend umgestaltet wird186. Insofern fällt es schwer, Umstände zu benennen, die eine Berufung auf die clausula rebus sic stantibus und damit einen zulässigen Austritt aus der Union rechtfertigen würden187. c) Zulässigkeit eines Teilaustrittes Schließlich ist noch kurz die oben aufgeworfene Frage zu beleuchten, ob ein Teilaustritt aus der EU rechtlich zulässig ist. Diese Frage stellt sich nur, wenn man wie hier von zwei verschiedenen Rechtssubjekten, Europäische Union und Europäische Gemeinschaft, ausgeht. Nach der so genannten Verschmelzungsthese besteht nur noch ein völkerrechtliches Rechtssubjekt, die EU, so dass ein Rücktritt auch nur insgesamt möglich erscheint188. Ungeachtet dessen stellen sich bei einem Teilaustritt und einer weiter bestehenden Mitgliedschaft in der EG rechtliche Probleme. Der EGV ist durch den EUV geändert worden, Art. 8–10 EUV, so dass konsequenterweise nach einem Teilaustritt der EGV in seiner Form vor dem Maastrichtvertrag wieder zur Anwendung gelangen müsste. Theoretisch würden dann zwei Versionen des EGV nebeneinander existieren, was mit praktischen und rechtlichen Schwierig185 Zuleeg, in: Bieber/Bleckmann/Capotorti/u. a. (Hrsg.), GS Sasse, Band I, S. 55 (60 ff.); Schweitzer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 312 EGV Rn. 5; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 312 EGV Rn. 3; Bernhardt, in: Hafner/Loibl/Rest/u.a (Hrsg.), Liber Amicorum Seidl-Hohenveldern, S. 25 (31); Geiger, EUV/EGV, Art. 312 EGV Rn. 9; a. A. Lück, S. 85 f.; Everling, in: Bernhardt/Geck/Jaenicke/u. a. (Hrsg.), FS Mosler, S. 173 (183); Constantinesco, Band I, S. 180 f. 186 Differenzierend Doehring, in: Dörr/Fink/Hillgruber (Hrsg.), FS Schiedermair, S. 695 (696 ff.). Der Autor weist daraufhin, dass eine Berufung auf die clausula rebus sic stantibus nur zulässig ist, wenn sich solche Umstände grundlegend ändern, die alle Vertragsparteien gleichermaßen vorausgesetzt haben. Ein späteres Verhalten der Vertragsparteien fällt nicht darunter, sondern stellt eine Vertragsverletzung dar. Die einseitige Lösung von einem völkerrechtlichen Vertrag ist dann gerechtfertigt, wenn der oder die Vertragspartner den Vertrag verletzen. Im Falle der Union ist ein solcher Austritt nach Doehring dann zulässig, wenn die Organe der Europäischen Gemeinschaft eine von dem Vertrag aufgezeigte Kompetenzgrenze überschreiten. 187 Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 312 EGV Rn. 8; Oppermann, Europarecht, Rn. 221 hält nur die „radikale Umwälzungen der parlamentarischdemokratischen Sozialstruktur“ eines Mitgliedstaates für vorstellbar, die einen Austritt rechtfertigen würden. 188 von Bogdandy/Nettesheim, NJW 1995, 2324 (2327 f.).

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J. Grenzen der Solidarität

keiten verbunden sein dürfte189. Außerdem bestimmt Art. 49 EUV, dass ein Beitritt zur Union nur insgesamt, also zu allen drei Säulen, zulässig ist. Im Umkehrschluss könnte dies bedeuten, dass damit die Zustimmung des beitretenden Staates verbunden ist, auch nur insgesamt wieder auszutreten. Ein Teilrücktritt ist im Unionsrecht ebenso wenig geregelt, wie der vollständige Austritt. Er trägt zu einer weiteren Verkomplizierung und Verflechtung der bereits unübersichtlichen Vertragsregelung bei. Generell ausgeschlossen ist die Möglichkeit eines Teilaustritts aus der zweiten oder dritten Säule des EUV aber nicht190. 2. Ausschluss aus der EU/EG Beim Thema des Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der Union kommt es zu vergleichbaren Problemstellungen. Es muss festgestellt werden, ob dafür als Rechtsgrundlage das allgemeine Völkerrecht herangezogen werden kann, denn EUV und EGV enthalten keine Regelungen über den Ausschluss eines Staates. Noch davor gelagert ist die Frage, ob ein solcher Ausschluss generell zulässig ist. Dagegen sprechen die überzeugenderen Argumente. Insbesondere die Einführung des Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV zeigt, dass die Verträge eine abschließende Regelung bei schweren und anhaltenden Verletzungen der Grundwerte der Union vorsehen191. Wenn dort kein Austritt als Sanktion vorgesehen ist, ist ein solcher auch nicht zulässig, denn Art. 7 EUV ist eine abschließende Vorschrift. EUV und EGV sind in diesem Sinne ein self-contained Regime. Dieser Einschätzung entspricht auch, dass sich die Regierungskonferenz im Vorfeld von Amsterdam bewusst gegen die Aufnahme eines Ausschlussrechtes entschieden hat192. Insofern kann es kein Spannungsverhältnis zum Solidaritätsprinzip geben, denn ein Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der Union ist generell als unzulässig zu erachten. 3. Austritt als Aufhebung des Solidaritätsprinzips? Auf einen stark vereinfachten Nenner gebracht heißt Solidarität gemeinsam Handeln, während ein Austritt, jedenfalls im Falle des außerordentlichen und nicht einvernehmlichen Austritts, ein einseitiges Vorgehen bedeutet. Diese Grundkonzeption des Solidaritätsprinzips durchzieht die Verträge von EU und EG in unterschiedlicher Intensität und mit einer verschiedenen Pflichtendichte. Bedeutet nun der einseitige Austritt eine Kündigung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Solidaritätsprinzips? 189 190 191 192

Darauf weist auch Waltemathe, Austritt, S. 177 f. hin. So auch Waltemathe, Austritt, S. 178. Dazu Schorkopf, Homogenität, S. 143 ff. Schorkopf, Homogenität, S. 188.

V. Austritt aus der Union

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Die Beantwortung diese Frage hängt davon ab, auf welcher Rechtsebene sie behandelt wird. Aus der Sicht des Völkerrechts ist das Recht zur außerordentlichen Kündigung möglich, denn die Mitgliedstaaten sind nach wie vor autonome Völkerrechtssubjekte. Das der EU immanente Solidaritätsprinzip gebietet jedoch eine differenzierte Sicht. Jedenfalls dort, wo das Solidaritätsprinzip einen generellen Vorrang der Gemeinschaftsinteressen vorsieht, ist ein Austritt nach völkerrechtlichen Regelungen ausgeschlossen. So ist ein Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft nur nach Unionsrecht denkbar. Sowohl im Verfahren nach Art. 48 wie auch nach Art. 49 EUV ist dafür eine Mehrheitsentscheidung des Rates erforderlich193. Ein Austritt aus der GASP oder der PJZS ist auch nach den völkerrechtlichen Regelungen denkbar. Das Solidaritätsprinzip konstituiert hier keinen absoluten Vorrang des Unionswohls. Als ultima ratio und nach Ausschöpfung aller Konfliktregelungsmechanismen ist demnach ein Austritt aus der Union möglich. Das Solidaritätsprinzip gebietet eben auch der Union, auf die Interessen der Mitgliedstaaten Rücksicht zu nehmen. Wenn also die inneren Verhältnisse eines Staates dazu führen, dass dieser den Austritt aus der Union teilweise- oder insgesamt beantragt, dann ist dieser als letzte Möglichkeit zulässig. 4. Die Austrittsklausel des Vertrages über eine Verfassung für Europa Die Diskussion über die Zulässigkeit eines einseitigen Austritts wird aller Voraussicht nach von der Rechtsentwicklung überholt werden. Im Verfassungskonvent wurde beschlossen, dass die zukünftige Verfassung eine Regelung über den Austritt beinhalten soll. Dadurch soll dem Eindruck entgegengetreten werden, dass die Union eine „unauflösliche Zwangsgemeinschaft“ darstellt194. Die Klausel des Art. 60 VerfV ist sicherlich auch mit Hinblick auf die bis lang größte Erweiterung in der Geschichte der Union eingefügt worden. Den Staaten der ehemaligen Sowjetunion195 und den anderen Mitgliedstaaten des ehemaligen Ostblocks dürfte der Beitritt zu einer Union, die den Wiederaustritt ausdrücklich zulässt, dadurch leichter gefallen sein. Diese jungen Nationalstaaten zeigen eine besonders große Skepsis, wenn es darum geht, die gerade erst gewonnene volle Souveränität wieder einzuschränken. Allerdings ist eine solche Regelung gemäß der überwiegenden Auffassung in der Literatur deklaratori193 Bei Art. 48 EUV genügt für die Einberufung der Regierungskonferenz, die nach allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen über die Vertragsänderungen entscheiden soll, eine einfache Mehrheit, während Art. 49 EUV die Einstimmigkeit vorschreibt. 194 Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, 613 (620). 195 Allerdings weist Waltemathe, Austritt, S. 202 daraufhin, dass ein Austrittsrecht alleine noch nicht die Integrationsbereitschaft fördern kann. Die Verfassung der Sowjetunion sah ein solches vor, dass aber aufgrund der faktischen Zwangsmitgliedschaft nur auf dem Papier bestand.

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J. Grenzen der Solidarität

scher Natur. Wie oben dargestellt, wird auch auf Grundlage der geltenden Verträge ein Austrittsrecht generell oder in Ausnahmefällen bejaht. Der Vorteil des Art. 60 VerfV besteht damit darin, dass ein Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen der WVRK in den Art. 54 ff. nicht mehr notwendig ist, um einen Austritt zu begründen. Aufgrund der expliziten Normierung eines Austrittsrechts in der Verfassung ist ein solcher Weg sogar versperrt. a) Übersicht über das Verfahren des freiwilligen Austritts Die Überschrift des Art. 60 lautet: „Freiwilliger Austritt aus der Union“196. Anschließend wird in insgesamt fünf Absätzen das Verfahren eines solchen Austritts geregelt. Es fällt auf, dass der Austritt aus der Union an keinerlei Bedingungen oder Voraussetzungen geknüpft ist. Abs. 1 gibt jedem Mitgliedstaat das Recht, gemäß seinen internen Verfassungsvorschriften aus der Europäischen Union auszutreten. Nicht erforderlich ist das Vorliegen außergewöhnlicher und nicht vorhergesehener Umstände, wie bei der clausula rebus sic stantibus nach Art. 62 WVRK. Der Staat unterliegt auch keiner Begründungspflicht. Es muss keine Vertragsverletzung eines Vertragspartners vorliegen197, so dass fraglich ist, ob es neben diesem ordentlichen Kündigungsrecht in Art. 60 VerfV auch noch ein außerordentliches Kündigungsrecht geben kann. Insofern ist die Regelung doch nicht deklaratorisch, denn ein ordentliches Kündigungsrecht wurde bisher von allen Meinungen abgelehnt. Auch das Völkerrecht sieht nur ein außerordentliches Kündigungsrecht vor. Beschließt ein Mitgliedstaat den Austritt, so hat er dem Europäischen Rat seine Absicht mitzuteilen, Art. 60 Abs. 2 VerfV. Dieser handelt auf Grundlage noch zu erlassener Leitlinien ein Abkommen über die Modalitäten des Austritts aus, dass die Bedingungen für die zukünftigen Beziehungen dieses Staates zur Union regeln soll. Das Abkommen wird dann mit qualifizierter Mehrheit vom Ministerrat im Namen der Union geschlossen, wobei die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich ist198. Dieses Abkommen ist das einzige Hindernis auf dem Weg zum Austritt, wenn sich z. B. keine qualifizierte Mehrheit im Rat findet oder das Europäische Parlament seine Zustimmung verweigert. Allerdings ist sichergestellt worden, dass der Austritt nicht endgültig blockiert werden kann. Spätestens zwei Jahre nach der Mitteilung des Austrittwunsches hat die Verfassung für den Mitgliedstaat keine Gültigkeit mehr, Art. 60 Abs. 3 VerfV. Schließlich muss der Austritt nicht unwiderruflich sein. Nach Abs. 5 196 Nach Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, 613 (620) ist das Adjektiv „Freiwillig“ überflüssig, denn die Freiwilligkeit sei jedem Austritt immanent. 197 Eine solche kann nach Art. 60 Abs. 2 WVRK zur Beendigung eines mehrseitigen Vertrages durch eine Vertragspartei führen. 198 Art. 60 Abs. 2 S. 3 VerfV.

V. Austritt aus der Union

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kann der Mitgliedstaat der Union jederzeit wieder beitreten gemäß der allgemeinen Beitrittsregelung des Art. 58 VerfV. b) Vereinbarkeit einer ordentlichen Kündigungsklausel mit dem Solidaritätsprinzip Ob es eine politisch kluge Entscheidung gewesen ist, die Austrittsklausel in die Verträge aufzunehmen, wird die Praxis zeigen199. Die jetzige Fassung des Art. 60 VerfV ist allerdings sehr kritisch zu beurteilen. Sie stellt eine grundlegende Neuerung in den Verträgen dar. Das Verfahren ist dabei zum Teil den Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention nachempfunden worden200. Die Aufnahme der Klausel in den VerfV wurde begleitet von einer intensiven Debatte darüber, ob eine solche Klausel überhaupt in die Verfassung aufgenommen werden sollte und wie das Verfahren auszugestalten sei. Der deutsche Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des EP Elmar Brok sprach sich gegen eine Möglichkeit des freiwilligen Austritts aus, da eine solche Klausel auch bisher nicht Teil des acquis communautaire ist und ihre Auswirkung auf „den Charakter der Union und die gegenseitige Verpflichtung zur Solidarität“ beachtet werden müsse201. Ebenso hat Bundesaußenminister Fischer als Mitglied des Konvents die Streichung der kompletten Klausel vorgeschlagen202. Die Mehrheit der Konventsmitglieder befürwortete jedoch ihre Beibehaltung, wobei aber von mehreren Seiten für strengere Anwendungsvoraussetzungen plädiert worden ist. Die Vorschläge zielen darauf ab, den Austritt zu erschweren, indem er auf Ausnahmesituationen, insbesondere anlässlich einer Verfassungsreform in den betreffenden Mitgliedstaaten, beschränkt werden soll oder die Wirksamkeit von dem Abschluss eines Abkommens mit der Union abhängt und nicht nach zwei Jahren automatisch gilt203. Das Präsidium machte den Konvent dagegen auf dreierlei aufmerksam204. Erstens sollte der Austritt nicht von dem Abkommen zwischen Union und Mitgliedstaat abhängen, um 199 Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, 613 (620) befürchten, dass die Norm von nationalistischen Kräften missbraucht werden könnte, um ihren antieuropäischen Kurs zu untermauern. 200 Vermerk des Präsidiums zu Titel X vom 2. April 2003, CONV 648/03. 201 Beitrag Elmar Brok vom 7. März 2003, CONV 325/2/02. 202 Suggestion for amendment of Article 46; abrufbar unter: http://europeanconvention.eu.int/Docs/Treaty/pdf/46/Art46fischerDE.pdf; ebenso die Änderungsvorschläge der Konventsmitglieder de Vries, de Bruijn, Farnleitner, Lopes und Lobo Antunes, vgl. Reaktionen auf den Entwurf der Artikel der überarbeiteten Fassung von Teil I vom 4. Juni 2003, CONV 779/03. 203 Vgl. die Zusammenfassung der Vorschläge in Übersicht über die Änderungsvorschläge betreffend die Zugehörigkeit zur Europäischen Union: Entwürfe für die Artikel von Titel X des Teils I (Artikel 43 bis 46) vom 14. April 2003, CONV 672/03. 204 Vermerk des Präsidiums zu Titel X vom 2. April 2003, CONV 648/03.

218

J. Grenzen der Solidarität

das Konzept des freiwilligen Austritts nicht auszuhöhlen. Zweitens müsse geprüft werden, welche rechtlichen Folgen der Austritt in den Fällen nach sich zieht, in denen kein solches Abkommen zustande kommt. Als dritter Punkt wurde eine Konzession an die Befürworter einer Verschärfung gemacht, indem vorgeschlagen wurde, die dem sachlichen Inhalt des Abkommens entsprechende Abstimmungsregel anzuwenden. Nach Auffassung des Präsidiums würde das nach derzeitiger Rechtslage zu einer Einstimmigkeitsregel führen205. Der VerfV sieht nun ein ordentliches Kündigungsrecht der Mitgliedstaaten vor. Das widerspricht nicht nur der ganz überwiegenden Literaturmeinung, wonach ein solches Recht aufgrund der geltenden Verträge ausgeschlossen ist. Eine solche Klausel ist auch mit dem Solidaritätsprinzip nicht zu vereinbaren206. Der Stand der Integration in der politischen Union und die vielfältige Verflechtung der Mitgliedstaaten lassen ein ordentliches und fristloses Kündigungsrecht nicht denkbar erscheinen. Art. 60 muss deshalb sehr restriktiv und im Sinne einer ultima ratio Klausel ausgelegt werden. Im Grunde wird das Solidaritätsprinzip nur gewahrt, wenn das ordentliche Kündigungsrecht, das sich aufgrund der Wortlautauslegung ergibt, teleologisch in ein außerordentliches umdeutet. Nur nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Kompromissfindung unter Beachtung des Solidaritätsprinzips wird ein Austritt zu rechtfertigen sein. Anderenfalls kann das Ziel der Völker Europas, „die alten Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten“ zu leicht konterkariert werden207.

VI. Fehlende Homogenität als Grenze der Solidarität 1. Einleitung und Problemstellung Solidarität lässt sich nicht einfach durch einen Rechtsakt verbindlich machen208. Als Vorrausetzung der Solidarität bedarf es eines gewissen Maßes an geteilter Grundüberzeugung, an gemeinsamer Erfahrung und ähnlichen Kriterien, die zu einer tatsächlich empfundenen Gemeinsamkeit führen können209. 205 Wenn allerdings nach wie vor der Austritt nicht vom Abschluss eines solchen Abkommens abhängt, kann auch die Erhöhung des Quorums kein wirkliches Hindernis darstellen. 206 In diesem Sinn auch der Beitrag Elmar Brok vom 7. März 2003, CONV 325/2/ 02, wonach die Auswirkungen auf die gegenseitige Verpflichtung zur Solidarität erst noch zu prüfen seien, bevor ein einseitiges Austrittsrecht gewährt werden kann. 207 3. Erwägungsgrund Präambel VerfV. 208 Gramm, JZ 1994, 611 (616 f.). 209 Das stellt Bockenförde deutlich heraus: „Es bedarf darüber hinaus eines gewissen Maßes an Gemeinsamkeit, näher hin an Übereinstimmung über die Art und Weise und über Grundsätze des gemeinsamen Zusammenlebens. Diese Übereinstimmung kristallisiert sich in Fragen wie ,Wer sind wir?‘ und ,Wie sollen und wollen wir mit-

VI. Fehlende Homogenität als Grenze der Solidarität

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Das aus der Bundesstaatslehre entwickelte Kriterium der Homogenität gilt so auch in der Europäischen Union210. Zum Wesen eines Bundes gehört es, dass über rationale Zwecke hinaus eine Homogenität des sozialen, politischen und kulturellen Bewusstseins, das über bloße Solidarität hinausreicht und zu einer bündischen Gesamtexistenz führt, vorhanden ist211. Die Homogenität ist ein Ordnungsprinzip, das die Gleichartigkeit bestimmter Eigenschaften miteinander in Beziehung stehender Verbände zum Inhalt hat212. Das erfordert zunächst einmal eine Verständigung über diese Eigenschaften, die sich in den Zielen und Werten eines politischen Verbandes widerspiegeln. Diese Ziele, wenngleich als Normen fest verankert, erwachsen aus gewissen vorrechtlichen Bedingungen, wie gemeinsame Sprache, Religion, Kultur, Geschichte etc. Nun lautet die gängige Argumentation, dass innerhalb der Europäischen Union eine solche Verbundenheit noch fehle213. Die Gründe sind der Mangel einer einheitlichen Sprache, die ethnische Pluralität, große kulturelle Unterschiede, verschiedene historische Erfahrungen und Prägungen. Eine Weiterentwicklung der Europäischen Union ist deshalb nicht denkbar, ohne dass gewisse „Grundlagen europäischer Solidarität“214 vorhanden sind. Damit stellt sich die Frage, welches Maß an Homogenität, d.h. welche Grundlagen, erforderlich ist, damit das Solidaritätsprinzip auch tatsächlich und nicht nur rechtstheoretisch funktionieren kann. Mit Blick auf die zunehmende räumliche und kulturelle Ausdehnung der Union gefragt, wie viel Heterogenität verkraftet die Union, bevor die notwendigen Bedingungen für das Solidaritätsprinzip nicht mehr vorhanden sind. Die Antwort darauf müssen in erster Linie die Sozialwissenschaften und die Empirie geben. So gesehen ist das Solidaritätsprinzip an dieser Stelle in seinem außerrechtlichen Gehalt betroffen. Eine solche Analyse kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Allerdings gibt es ein rechtliches Homogenitätsgebot in der Union in Art. 6 Abs. 1 EUV, das es zu untersuchen gilt.

einander leben?‘ Sie kann Raum lassen für Unterscheidung (und wird das auch müssen), aber sie muss zugleich eine gewisse Gemeinsamkeit aufweisen, eine rationale und in gewissem Umfang auch emotionale Gemeinsamkeit“; in: FAZ v. 20.06.2003, Nr. 140, S. 8. 210 Schorkopf, Homogenität, S. 34 f. und dort die Nachweise in FN 70. 211 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band I, S. 659. 212 Vgl. zu den unterschiedlichen Ansätzen Peters, Theorie der Verfassung Europas, S. 700; Schorkopf, Homogenität, S. 28 ff. 213 Peters, Theorie der Verfassung Europas, S. 703: „Innerhalb der Europäischen Union, so die vielfach vertretene Meinung, fehle die Homogenität und der Grundkonsens“. 214 So der Titel des ausgezeichneten Aufsatzes von Bockenförde, in: FAZ v. 20.06. 2003, Nr. 140, S. 8.

220

J. Grenzen der Solidarität

2. Das Homogenitätsgebot in der Europäischen Union Die Europäische Union ist, das wurde an anderer Stelle bereits gezeigt, nicht nur eine Rechts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft215. Die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Fundamentalwerte zählt Art. 6 Abs. 1 EUV auf: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten216 und Rechtsstaatlichkeit217. Diese Werte bilden den Maßstab, der sowohl an die Beziehungen nach innen als auch nach außen angelegt wird. Nach innen wird ein Sollensgebot an die Mitgliedstaaten gerichtet, auch in Zukunft die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, des Menschenrechtsschutzes und der Rechtsstaatlichkeit einzuhalten218. Das gleiche gilt für neue Mitgliedstaaten, die allerdings als Grundvoraussetzung für ihren Beitritt erst einmal die Einhaltung dieser Grundsätze sicherstellen müssen gemäß Art. 49 Abs. 1 EUV. Nach außen, namentlich in der GASP und der Entwicklungszusammenarbeit, soll die Politik der Union dazu beitragen, diese Werte fortzuentwickeln und zu stärken, Art. 11 Abs. 1 5. Spiegelstrich EUV und Art. 177 Abs. 2 EGV. Die Verpflichtung auf bestimmte Rechtsprinzipien sowohl zwischen den Mitgliedstaaten untereinander als auch in deren Verhältnis zur Union wird als Homogenitätsprinzip der Europäischen Union bezeichnet. Dabei können der Homogenität vier Funktionen zugeordnet werden, die Konsens-, Legitimations-, Integrations- und Sicherungsfunktion219. Eng verknüpft mit der Thematik von Homogenität und Solidarität ist die Integrationsfunktion. Durch die Verpflichtung auf gemeinsame Werte wird ein gemeinsames europäisches Werte- und Rechtssystem geschaffen. Dadurch kann der Einzelne sich orientieren, welchen Inhalt der Integrationsprozess hat. Im Zuge dieser gemeinsamen Wertvorstellungen wird die Grundlage für ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, also eine europäische Identität, geschaffen220. Bieber dagegen meint, dass Homogenität weder Ziel noch Voraussetzung des aus einem „europäischen Verfassungsverbunds erwachsenden Wertesystems“ ist221. Europa gründe sich auf die Wechselwirkungen der unterschiedlichen 215

Speer, DÖV 2001, 980. Damit sind nicht die Grundfreiheiten des EGV gemeint, sondern es handelt sich um einen feststehenden Begriff aus der EMRK; vgl. Präambel EMRK, 3. Erwägungsgrund und Frowein, in: ders./Peukert (Hrsg.), EMRK-Kommentar, Präambel Rn. 3. 217 Bieber, in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und Integration, S. 41 (49) meint, dass der Begriff der Solidarität als ungeschriebenes Rechtsprinzip in Art. 6 Abs. 1 EUV neben den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit steht. 218 Schorkopf, Homogenität, S. 78. 219 Dazu Schorkopf, Homogenität, S. 36 ff. 220 Kritisch zum Wertebegriff des VerfV von Bogdandy, JZ 2004, 53 (58 f.). 221 Bieber, Solidarität und Loyalität, S. 13; kritisch auch Peters, Theorie einer Verfassung Europas, S. 703 ff. 216

VI. Fehlende Homogenität als Grenze der Solidarität

221

Werte und Kulturen. Die Eigenart Europas bestehe in „der Gleichzeitigkeit übergreifender und räumlich begrenzter Loyalitäten“, so dass das europäische Rechtssystem diese Vielfalt garantieren muss222. Dieses Zusammenspiel von Vielfalt und Einheit sei die Quelle der spezifischen europäischen Kultur. Es geht Bieber nicht darum, durch die Entwicklung der Europäischen Union zu einer Ablösung des Nationalstaates zu kommen. Vielmehr ist für ihn gerade das Miteinander verschiedener Völker und Staaten in einem gemeinsamen Verfassungsverband das Einzigartige und Wertvolle der europäischen Integration. Hieraus würden sich dann spezifische transnationale Werte der Union ergeben, insbesondere die Solidarität, die sinnvollerweise nur in einem mehrgliedrigen Verband existieren kann. Allerdings bestreitet auch Bieber nicht, dass ein Mindeststandard gemeinsamer Werte notwendig und auch vorhanden ist223. Die Werte würden, da ein europäisches Volk und sonstige vorrechtliche Substrate fehlen, durch das europäische Recht verankert und konkretisiert. Das Recht wiederum entstehe in Wechselwirkung und unter Rezeption der nationalen Rechtsordnungen und Werte. Die so entstandenen europäischen Werte, wie z. B. das Demokratieprinzip, würden dann kein bestimmtes Demokratiemodell vorschreiben, sondern würden den absoluten Grundwert, den Minimalgehalt dessen, was in der Europäischen Union als demokratisch gilt, normieren. Insofern besteht kein Widerspruch zu dem hier verfolgten Ansatz, dass ein gewisses Maß an Homogenität erforderlich ist, damit dass Solidaritätsprinzip eine tragfähige Grundlage hat. Es besteht also eine Wechselwirkung zwischen Homogenität einer Gemeinschaft und dem Grad der geübten gegenseitigen Solidarität. Inhalt und Intensität des Solidaritätsprinzips folgen der Qualität von Gesellschafts- und Gemeinschaftsbeziehungen. Je homogener eine Gesellschaft ist, desto größer sind auch die Solidaritätspflichten. In jedem Fall ist ein gewisses Grundmaß an Homogenität unverzichtbar für das Solidaritätsprinzip. In der Union wird diese Homogenität durch die gemeinsame Werteordnung erreicht. Dabei sorgt das Solidaritätsprinzip dafür, dass das Homogenitätspostulat nicht im Sinne Carl Schmitts verstanden wird und so zur Ausgrenzung des Fremden und Exklusivität der eigenen Werte führt224. Die Solidarität, wie sie sich als Rechtsprinzip der Euro222

Bieber, Solidarität und Loyalität, S. 13. „Die eigentlich notwendige und besondere Leistung der Integration ist die rechtliche Verankerung der Verpflichtung auf gemeinsame Werte“. Bieber, Solidarität und Loyalität, S. 20. 224 Carl Schmitt, Die Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 14: „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, dass sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen und fernzuhalten weiß“ und weiter: „Im Übrigen muss man sagen, dass eine Demokratie – weil zur Gleichheit immer auch eine Ungleichheit gehört – einen Teil der vom Staate beherrschten Bevölkerung ausschließen kann, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein, dass sogar im Allgemeinen bisher zu einer Demokratie immer auch Sklaven gehörten oder Menschen, die in irgendeiner 223

222

J. Grenzen der Solidarität

päischen Union gezeigt hat, impliziert die Anerkennung einer Pluralität von Werten und Interessen und die gegenseitige Rücksichtnahme. Die respektierende Solidarität fordert gerade die Einbeziehung anderer Interessen. Solange ein gemeinsames Wertesystem von den Mitgliedstaaten anerkannt wird und eine Verständigung darüber erfolgt, zieht die zunehmende Heterogenität der Union der Solidarität keine Grenze.

VII. Zielkonflikte und Grenzen aus anderen Zielbestimmungen der Verträge Trotz der bedeutenden Stellung des Solidaritätsprinzips als umfassendes mitgeschriebenes Strukturprinzip folgt daraus kein grundsätzlicher Vorrang vor den anderen Zielen der Union. Als Vertragsziel, wie es z. B. in Art. 2 EGV enthalten ist, kann das Solidaritätsprinzip in Konkurrenz mit den anderen dort normierten Aufgaben der Gemeinschaft geraten. Die Ziele der Art. 2, 3 EGV können dabei in ein grobes Dreierraster eingeordnet werden, in wirtschaftspolitische, sozial- und umweltpolitische und integrationspolitische Ziele225. Ob in diesem Zielvieleck ein eindeutiger Vorrang der wirtschaftspolitischen Ziele zu Gunsten von Marktintegration und Wettbewerb besteht226 oder ob der Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten als „integrationspolitisch allgemeinstes Ziel“ ein besonderes Gewicht zukommt227, lässt sich auf Grundlage des EGV nicht eindeutig entscheiden. Für die Frage nach den Grenzen des Solidaritätsprinzips ist es jedoch wichtig, dass das Prinzip nicht über sondern neben den anderen Zielen der Verträge steht. Da nicht alle Ziele auf einmal und in gleicher Weise verwirklicht werden können, muss, da sich zwingende rechtliche Vorgaben nicht finden, den Organen der Gemeinschaft ein weiter Ermessensspielraum zukommen. Dabei unterliegen sie grundsätzlich der Pflicht, widerstreitende Ziele aufeinander abzustimmen. Allerdings liegt es in ihrem politischen Ermessen, dem einen oder anderen Ziel zeitweilig den Vorrang einzuräumen, z. B. vorrangig Maßnahmen zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zu ergreifen, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt228. Eine dauerhafte Zurückstellung ist dagegen unzulässig229. Form ganz oder halb entrechtet und von der Ausübung politischer Gewalt ferngehalten waren, mögen sie nun Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, Aristokraten oder Gegenrevolutionäre heißen“. Vgl. dazu Pernice, AöR, 1995, 100. 225 Diese Einteilung nimmt Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 116 ff. vor. 226 So Basedow, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Everling, Band I, 49 (54, 60). 227 Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-WirtschaftsR, A. I Rn. 120 f. 228 EuGH, Rs. 5/73, Balkan-Import-Export/HZA Berlin-Packhof, Slg. 1973, 1091 Rn. 24; Rs. 139/79, Maizena/Rat, Slg. 1980, 3393 Rn. 23. 229 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 28 Rn. 25.

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips Es ist unbestritten, dass die Rechtsprechung des EuGH herausragende Beiträge zur Europäischen Integration geleistet hat1. Der Gerichtshof hat das positive Recht durch kluge Interpretation und die Entwicklung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen stetig vorangetrieben2. Auch das Prinzip der Solidarität ist durch die Urteile des EuGH geprägt worden, wenngleich es nur einige wenige Urteile sind, die sich explizit mit diesem Prinzip auseinandersetzen. An dieser Stelle geht es nun darum, die grundsätzliche Justitiabilität des Solidaritätsprinzips zu untersuchen. Inwieweit spielt es in der Rechtspraxis eine Rolle und welche Möglichkeiten des Rechtsschutzes gibt es? Bei der Beantwortung dieser Fragen muss den strukturellen Besonderheiten des unionsrechtlichen Rechtsschutzes und des Solidaritätsprinzips gleichermaßen Rechnung getragen werden. Zunächst bleibt trotz der hier anerkannten inneren Rechtsfähigkeit der Europäischen Union festzuhalten, dass es sich bei EUV und EGV um zwei unterschiedliche Rechtsordnungen handelt. Obwohl beides völkerrechtliche Verträge sind, unterscheiden sich die durch sie errichteten Organisationen grundsätzlich. Intergouvernementalität und Supranationalität sind die Schlagwörter, die sich auch im Rechtsschutzsystem der Union widerspiegeln. Während im Bereich des EUV nur sehr vorsichtig Ansätze zu einer Justitiabilität entwickelt werden, hat der EuGH eine starke und unabhängige Stellung im EGV. Es besteht damit ein System der abgestuften gerichtlichen Kontrolle in der Union. Das Solidaritätsprinzip hat sich als bedeutendes Strukturmerkmal der ganzen Europäischen Union erwiesen. Es bildet das Fundament für alle Bereiche der europäischen Integration, den Europäischen Gemeinschaften, der GASP und der PJZS. Daraus folgt, dass es sich um ein umfassendes Ordnungsprinzip handelt, das nicht originär oder ausschließlich in einer Säule verwurzelt ist. Jede Art des Zusammenschlusses in der Europäischen Union, sei sie nun intergouvernemental oder supranational geprägt, wird durch das Solidaritätsprinzip getragen und legitimiert. Dabei bestehen Abstufungen in der rechtlichen Qualität des Solidaritätsprinzips, die Auswirkungen auf die Justitiabilität haben. Das ist zum Bei1 Genannt seien nur der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor jeder Art von nationalem Recht, der Grundsatz der unmittelbaren Geltung, die Entwicklung von europäischen Grundrechten oder der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch. 2 Von manchen wird die Rechtsprechung als zu gemeinschaftsfreundlich und teilweise kompetenzüberschreitend bewertet; vgl. die Nachweise bei B/B/P/S, Rn. 519 FN 14 und 15.

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K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

spiel anders beim Kohärenzgebot. Erst mit Errichtung der Europäischen Union und der Einführung von Formen intergouvernementaler Zusammenarbeit ist das Kohärenzgebot notwendig geworden. Es soll gewährleisten, dass ein Nebeneinander von qualitativ unterschiedlichen Kooperationsformen der Mitgliedstaaten funktioniert und schreibt deshalb die Pflicht zur Abstimmung und Widerspruchsfreiheit der Einzelakte vor. Seinen Ursprung hat das Kohärenzgebot deshalb im EUV, der die verschiedenen Kooperationsformen unter seinem Dach vereinigt. Die Geltung des Kohärenzgebotes für die EG bedarf aus diesem Grund einer genauen dogmatischen Begründung, welche das grundsätzliche Verhältnis von Unions- zu Gemeinschaftsvertrag berührt3. Das Solidaritätsprinzip hat in diesem Sinne seinen Ursprung sowohl in der Union als auch in der Europäischen Gemeinschaft. Dort, wo eine Gemeinschaft besteht, spielt das Solidaritätsprinzip eine Rolle. Das führt jedoch nicht dazu, dass von zwei unterschiedlichen Prinzipien gesprochen werden muss. Es gilt ein Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, aber, und das ist an dieser Stelle entscheidend, die Art des Rechtsschutzes kann sich von Integrationsbereich zu Integrationsbereich unterscheiden. Dazu bedarf es näherer Ausführungen.

I. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips im Gemeinschaftsrecht 1. Einleitung und Problemstellung Von verschiedenen Seiten ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Europäischen Gemeinschaften eine Rechtsgemeinschaft bilden4. Die Union gründet sich in viel stärkerer wenn nicht sogar ausschließlicher Form auf das positive Recht als der Nationalstaat, der zu seiner Legitimität auf außer- und vorrechtliche Determinanten verweisen kann. Eine herausragende Rolle in einer so verstandenen Gemeinschaft kommt der rechtsprechenden Gewalt zu. Diese nimmt der EuGH auf Grundlage der Art. 220 EGV, 31 EGKS und 136 EAGV für die Gemeinschaften wahr5. In seinem Verständnis gründet sich die Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft darauf, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit den Verträgen sind6. Art. 220 EGV bestimmt generalklauselartig: 3

Vgl. die Ausführungen bei Siems, Kohärenzgebot, S. 36 ff. Zuleeg, NJW 1994, 545; B/B/P/S, Rn. 518. 5 Nach Art. 3 des Abkommens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften gibt es seit 1957 nur einen einzigen Gerichtshof für alle drei Gemeinschaften. 6 EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339 Rn. 23: „Dazu ist zunächst hervorzuheben, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane 4

I. Im Gemeinschaftsrecht

225

„Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz sichern im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags.“

Die vor allem auch praktische Bedeutung des Solidaritätsprinzips wäre gering, wenn sich nicht auch eine Justitiabilität für das Solidaritätsprinzip begründen ließe. Anderenfalls würde der Aufruf zur Solidarität zum Appell verkommen und die Grundstrukturen der Gemeinschaft wären auf Beliebigkeit gegründet. Es fragt sich also, ob das Solidaritätsprinzip „Recht“ im Sinne von Art. 220 EGV darstellt. Ist dies der Fall, dann ist der EuGH sowohl zur Kontrolle der Anwendung des Solidaritätsprinzips berufen als auch zur Auslegung dieses Prinzips. In der Folge ist es interessant zu sehen, wie die Anwendung des Solidaritätsprinzips im konkreten Fall aussieht. Wer kann sich auf dieses Prinzip berufen? Wer sind die möglichen Klagegegner? Wie überprüft der EuGH eine Verletzung der Pflicht zur Solidarität? 2. Zuständigkeit des EuGH zur Überprüfung des Solidaritätsprinzips Unter den Begriff des Rechts in Art. 220 EGV fallen alle Normen der Gemeinschaftsrechtsordnung. Dazu zählen die drei Gründungsverträge als Primärrecht, das gesamte Sekundärrecht und schließlich, für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand von besonderem Interesse, auch das ungeschriebene Gemeinschaftsrecht7. Dabei prägen die allgemeinen Strukturprinzipien, die der EuGH in fast fünfzig Jahren Rechtsprechung entwickelt hat, die Gemeinschaft in besonderer Weise. Ihre Auslegung und Bewahrung ist ein wesentlicher Beitrag für die europäische Integration und die Weiterentwicklung der Gemeinschaft. Das Solidaritätsprinzip ist in diesem Rahmen zu den allgemeinen Strukturprinzipien zu zählen8. Das es sich dabei um ein mitgeschriebenes Prinzip handelt, d.h. es ist dem geschriebenen Recht zu entnehmen dort aber nicht geregelt ist, steht seiner Rezeption durch die Rechtsprechung nicht entgegen. Zum einen setzt das Bestehen eines Prinzips nicht voraus, dass es dem geschriebenen Recht angehört9. Zum anderen werden diese Prinzipien gerade aus einer teleoder Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen. Mit den Artikeln 173 und 184 EWG-Vertrag auf der einen und Artikel 177 EWG-Vertrag auf der anderen Seite ist ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtsmäßigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist“. 7 Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 11; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 8; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 220 EGV Rn. 11 ff. 8 Vgl. zur Einordnung weiter oben Kapitel I. V. 9 EuGH, Rs. 108/63, Merlini/Hohe Behörde, Slg. 1965, 1 (15).

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K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

logischen Auslegung der Verträge gewonnen und dem Wesen der Gemeinschaft entnommen. So ist denn auch unbestritten, dass der EuGH zur Auslegung und Wahrung solcher allgemeinen Rechtssätze des Gemeinschaftsrechts befugt ist10. Damit fällt die Überprüfung des Solidaritätsprinzips in den Kompetenzbereich des EuGH gemäß Art. 220 EGV. Es fällt unter das „Recht“ im Sinne der Norm. 3. Die konkrete Überprüfbarkeit der Pflichten zur Solidarität nach dem EG-Vertrag An dieser Stelle soll mit einem Blick auf die Rechtsprechung des EuGH erläutert werden, auf welche Weise das Gericht zu einer Auslegung und Wahrung des Solidaritätsprinzips kommt. Auf diese Weise soll die praktische Relevanz des Solidaritätsprinzips untersucht werden. a) Aktiv- und Passivlegitimation Das Solidaritätsprinzip der Gemeinschaft bewegt sich in einem zweidimensionalen Raum. Es regelt das Zusammensein und das Zusammenwirken von verschiedenen Hoheitsträgern und den für sie handelnden Organen im gemeinsamen Verfassungsverbund. Folglich können sich auch alle Seiten zum Schutz ihrer Rechte auf das Solidaritätsprinzip berufen. Es wurde gezeigt, dass dieser Grundsatz sowohl im gegenseitigen Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten und ihren Organen gilt, als auch zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten. Daraus folgt auch die Möglichkeit für diese Parteien, aktiv oder passiv legitimiert zu sein. Eine solche Möglichkeit besteht für natürliche oder juristische Personen auf Grundlage des EGV nicht. Allerdings sind mit der Charta der Grundrechte konkrete Solidaritätsrechte normiert worden. Wenn diese durch den VerfV ein rechtlich verbindlicher Bestandteil der Verträge wird, dann kann das Solidaritätsprinzip auch in diesem Kontext Bedeutung erlangen. Es fehlt zwar an einem eigenen Verfahren zur Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung, denn eine eigene Grundrechtsbeschwerde soll nicht eingeführt werden. Der EuGH zählt die Grundrechte aber schon lange zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die zu wahren ihm obliegt. Mit einer Rechtsverbindlichkeit der Charta könnte sich der Einzelne so auf die dort normierten Solidaritätsrechte berufen und auf das dahinter stehende allgemeine Solidaritätsprinzip. Dieses wird damit zumindest indirekt justitiabel in den Verfahren, in denen natürliche oder juristische Personen beteiligt sind. 10 Vgl. insbesondere Lecheler, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, 1967.

I. Im Gemeinschaftsrecht

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b) Klagearten Für die Verfahren vor dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz stehen die im EGV abschließend aufgezählten Klagearten zur Verfügung. Dabei kann das Solidaritätsprinzip grundsätzlich in jedem dieser Verfahren eine Rolle spielen und als Argument genutzt werden. Eine besondere Bedeutung erlangt es aber sicherlich im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 230 Abs. 2 EGV. Eine Ausnahme bilden die Verfahren nach Art. 230 Abs. IV und Art. 232 Abs. III EGV, in denen natürliche oder juristische Personen unmittelbar aktiv legitimiert sind und gegen die Gemeinschaft Klage erheben. Der Grundsatz der Solidarität richtet sich nach derzeitigem Recht nicht an die Unionsbürger. Eine hierauf gestützte Klage ist folgerichtig unzulässig. Mit einer Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte wird jedoch auch diese Möglichkeit in Zukunft eröffnet sein. c) Das Solidaritätsprinzip im Prozess An anderer Stelle sind bereits die Urteile des EuGH analysiert worden, die sich mit dem Solidaritätsprinzip beschäftigen. Dabei standen der Inhalt und das Verständnis dieses Prinzips, wie er sich in der Rechtsprechung niederschlägt, im Vordergrund. An dieser Stelle soll es nun darum gehen, wie das Solidaritätsprinzip verfahrensrechtlich zur Geltung kommt. Dazu müssen die genannten Urteile noch einmal kurz daraufhin untersucht werden, wer sich aus welchen Gründen auf das Solidaritätsprinzip bezieht und wie der EuGH dazu Stellung genommen hat. aa) Urteile des EuGH Im ersten Urteil, in dem der EuGH sich zur Solidarität in der Gemeinschaft geäußert hat, lag ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich vor, eingeleitet durch die Europäische Kommission nach Art. 169 EWG (226 EGV)11. Allerdings beruft sich keine Seite auf den Grundsatz der Solidarität im Rahmen ihrer Anträge. Auch der EuGH erwähnt das Prinzip nur in der materiellen Begründung am Rande und nicht in den Leitsätzen. Dabei kommt er zu einer grundsätzlichen Aussage: Nach seiner Auffassung verbietet es die dem EGKSV zugrunde liegenden Solidarität, dass ein Staat in Ausübung einer den Staaten vorbehaltenen Zuständigkeit einseitig Maßnahmen ergreift, die der Vertrag verbietet. Im nächsten Urteil, Rechtssache 39/72, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik, ist das Solidaritätsprinzip in den 11

EuGH, verb. Rs. 6 und 11/69, Kommission/Frankreich, Slg. 1969, 523.

228

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

Leitsätzen enthalten und damit ein tragendes Argument der Urteilsbegründung. Erneut geht es dabei um ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 Abs. 2 EWG-Vertrag (226 EGV). Es ist nicht verwunderlich, dass sich wieder kein ausdrücklicher Hinweis auf das Solidaritätsprinzip in den Anträgen von Kläger, Beklagter oder Generalanwalt wieder findet. Zu diesem frühen Zeitpunkt der Gemeinschaft war dieses Prinzip durch die Rechtsprechung noch nicht als solches herausgearbeitet worden und auch der Öffentlichkeit unbekannt. Eine Anerkennung des Solidaritätsprinzips ist erst mit diesem und dem eben genannten Urteil durch den EuGH geschehen. In der Rs. 39/72 nimmt der EuGH dann ausdrücklich Bezug auf die Pflicht zur Solidarität und stützt die Verurteilung der Italienischen Republik wegen Nichtumsetzung einer Verordnung darauf. In der mehrfach erwähnten Rs. 22/70 AETR12 handelte es sich um eine Anfechtungsklage im Sinne von Art. 173 EWG-Vertrag (230 Abs. 2 EGV). Im sechsten Leitsatz des Urteils heißt es: „Sind Verhandlungen vor dem Übergang der Zuständigkeiten auf die Gemeinschaft eingeleitet worden, so haben die Organe, deren Befugnisse unmittelbar berührt werden, also der Rat und die Kommission ihre Zusammenarbeit einvernehmlich zu regeln, um die Interessen der Gemeinschaft möglichst wirksam wahrzunehmen. Die Mitgliedstaaten sind, wenn sie auf Regierungsebene eingeleitete Verhandlungen fortsetzen, in jedem Fall gehalten, gemäß ihren Verpflichtungen aus Artikel 5 im Interesse und für Rechnung der Gemeinschaft solidarisch vorzugehen.“13

Im Ergebnis wies der EuGH die Klage der Kommission als unbegründet ab. Das Zusammenwirken von Rat und Kommission bezüglich der Verhandlungen über das Verkehrsabkommen entspreche den Grundsätzen der Solidarität14. Im nächsten Verfahren, dem Gutachten 1/75 vom 11. November 1975, ist erneut ein völkerrechtliches Abkommen, dieses Mal ein Entwurf der OECD einer „Vereinbarung über eine Norm für die lokalen Kosten“, Gegenstand des Verfahrens. Dabei handelte es sich um ein nichtstreitiges Verfahren nach Art. 228 Abs. 1 UA. 2 EWG-Vertrag (230 Abs. 6 EGV), in welchem die Kommission ein Gutachten des EuGH über die Vereinbarkeit des geplanten Abkommens mit dem EG-Vertrag ersucht15. Ausdrücklich wird das Solidaritätsprinzip dort nicht erwähnt. Allerdings verweist der EuGH in einem späteren Gutachten darauf, dass er die Pflicht zur Solidarität ausführlich an dieser Stelle betont hat16. Inhaltlich geht es um die Frage, ob im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik nach Art. 113, 114 EWG-Vertrag (132, 133 EGV) eine parallele Zuständigkeit von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf diesem Feld möglich ist. Grundsätz12 13 14 15 16

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

Rs. 22/70, Kommission/Rat – AETR, Slg. 1971, 263. Rs. 22/70, Kommission/Rat – AETR, Slg. 1971, 263 (264). Rs. 22/70, Kommission/Rat – AETR, Slg. 1971, 263 (281 f.). Gutachten 1/75, Slg. 1975, 1355. Gutachten 1/76, Slg. 1977 741 Rn. 12.

I. Im Gemeinschaftsrecht

229

lich führt der EuGH aus, dass es mit der Konzeption des Gemeinsamen Marktes unvereinbar ist, wenn sich „die Mitgliedstaaten unter Berufung auf eine parallele Zuständigkeit einen Freiraum vorbehalten könnten, um in den Außenbeziehungen die gesonderte Befriedigung ihrer Eigeninteressen zu suchen, auf die Gefahr hin, einen wirksamen Schutz der Gesamtinteressen der Gemeinschaft zu hintertreiben.“17

Mit der Anerkennung einer solchen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten könnten diese Beziehungen mit Drittländern aufnehmen, die den Absichten der Gemeinschaft zuwiderlaufen. „Damit würde das institutionelle Zusammenspiel verfälscht, das Vertrauensverhältnis innerhalb der Gemeinschaft erschüttert und die Gemeinschaft gehindert, ihre Aufgaben zum Schutz des gemeinsamen Interesses zu erfüllen“18. Das Gutachten 1/76 vom 26. April 1977 prüft die Vereinbarkeit des Entwurfs zu einem Übereinkommen über die Errichtung eines europäischen Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt mit den Vorschriften des Vertrages19. Der EuGH stellt die Unvereinbarkeit des Entwurfes mit dem EG-Vertrag fest, da es „die Handlungsfreiheit der Gemeinschaft in ihren auswärtigen Beziehungen aufgibt und die innere Verfassung der Gemeinschaft modifiziert, indem es im Hinblick sowohl auf die Vorrechte der Organe als auch auf die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten zueinander wesentliche Strukturelemente der Gemeinschaft verändert.“20

Weiter ist der Gerichtshof der Ansicht, „dass die Struktur des Aufsichtsrats und die Ausgestaltung des Beschlussfassungsverfahrens innerhalb dieses Organs nicht der Forderung nach Einheitlichkeit und Solidarität entspricht.“21

In einem späteren Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien nach Maßgabe des Art. 169 EWG-Vertrag (Art. 226 EGV) wird deutlich, dass der EuGH inzwischen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Solidarität für die Gemeinschaft anerkennt22. Dabei bezieht er sich auf die Rs. 39/72 als Grundsatzurteil zum Solidaritätsprinzip und wiederholt die dort gemachten Hauptaussagen. So gelangt das Gericht dann im zweiten Leitsatz zu der Feststellung, dass die unvollständige Anwendung einer Verordnung aufgrund von nationalen Vorbehalten die Pflicht zur Solidarität derart erheblich stört, dass die Gemeinschaft in ihren Grundfesten beeinträchtigt ist23.

17 18 19 20 21 22 23

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

Gutachten 1/75, Slg. 1975, 1355 (1363 f.). Gutachten 1/75, Slg. 1975, 1355 (1363 f.). Gutachten 1/76, Slg. 1977 741. Gutachten 1/76, Slg. 1977 741 Rn. 12. Gutachten 1/76, Slg. 1977 741 Rn. 12. Rs. 128/78, Kommission/Großbritannien, Slg. 1979, 419. Rs. 128/78, Kommission/Großbritannien, Slg. 1979, 419 Rn. 12.

230

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

bb) Analyse Alle diese Entscheidungen weisen eine Gemeinsamkeit auf: Das Solidaritätsprinzip wird dort niemals von den Klägern oder Beklagten als Argument angeführt, sondern ausschließlich vom Gericht zur Begründung und Argumentation genutzt. Der EuGH erkennt das Prinzip jedoch als fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts an, so dass diese Zurückhaltung erstaunt. In gleicher Weise verwunderlich ist es, dass sich seit Anfang der 80er Jahre kein Urteil mehr finden lässt, in dem der EuGH auf das Solidaritätsprinzip rekurriert. Ebenso wenig hat die ausdrückliche Verankerung dieses Prinzips durch den Vertrag von Maastricht dazu geführt, dass das Prinzip eine Renaissance erfahren hat24. So kann man zu dem Schluss gelangen, dass das Prinzip der Solidarität in der Rechtsprechung keine rechtsfortbildende Bedeutung erlangt hat25. Darin besteht ein auffälliger Unterschied zu den anderen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV. Als Erklärung erscheinen mehrere Gründe erwägenswert. Die mangelnde Notwendigkeit, das Solidaritätsprinzip heranzuziehen, kann heißen, dass dieser Grundsatz in der Gemeinschaft inzwischen allgemein anerkannt ist. Die Mitgliedstaaten und die Organe der Gemeinschaft akzeptieren ihre gegenseitigen Pflichten zur Solidarität, so dass keine Verstöße mehr feststellbar sind. Diese Sicht erscheint allerdings zu idealistisch, wenn man die unverändert hohe Zahl an Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH betrachtet26. Stichfester erscheint der Verweis auf die Rechtsprechung zu Art. 10 EGV. Indem hier der Gerichtshof ein umfassendes System von Rechten und Pflichten rechtsfortbildend kreiert hat, ist ein Rückgriff auf das Solidaritätsprinzip entbehrlich geworden. Gleichzeitig ist so der Bedarf für eine allgemein-dogmatische Begründung geschwunden27. Ein Hinweis auf die im Wege der Rechtsfort24 So hat sich die Mutmaßung von Marias nicht bewahrheitet: „Failure to observe solidarity as a binding Community objective, is expected to be used as an argument by various Member States after the coming into effect of the Treaty on European Union, as a result of the abolition of unanimity in many Community fields“. Vgl. Marias, LIEI 1994, 85 (109). 25 von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 182 unter Hinweis auf folgende Rechtssachen: EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I8395 Rn. 83 ff. und Rs. 126/86, Giménez Zaera/Instituto nacional de la Seguridad Social und Tesorería General de la Seguridad Social, Slg. 1987, 3697, Rn. 11. 26 Im Jahr 2004 waren 88,13% aller neu anhängigen Rechtssachen Vertragsverletzungsverfahren. Die Anzahl ist von 118 im Jahr 1998 auf 193 im Jahr 2004 gestiegen. Vgl. dazu die Rechtsprechungsstatistiken im Jahresbericht des EuGH abrufbar unter: http://www.curia.eu.int/de/plan/index.htm. 27 Der Stil der Urteile des EuGH ist an die französische Rechtspraxis angelehnt, so dass sich die Urteile mehr durch ihre Kürze als durch ihre dogmatisch vertiefte Begründung auszeichnen. Vgl. dazu grundsätzlich Everling, EuR 1994, 127.

II. Im Rahmen des Vertrages über die EU

231

bildung entwickelten Rechte und Pflichten aus dem Loyalitätsgebot genügt dann in fast allen Fällen. Das Prinzip der Solidarität hat zur Untermauerung dieser Rechtsprechung zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und anderer wichtiger Rechtsprinzipien gedient28. In dem Maße, indem diese Prinzipien gefestigte Rechtsprechung werden, in dem Maße nimmt die Bedeutung des Solidaritätsprinzips als theoretisches und dogmatisches Fundament ab. Ein letzter Grund lässt sich aus der Tatsache schließen, dass sich kein Urteil finden lässt, in welchem sich entweder die Klägerseite oder die Beklagtenseite auf das Solidaritätsprinzip beruft. Offenbar ist die dogmatische Argumentation mit diesem Prinzip der Rechtspraxis fremd. Zudem reicht die Berufung auf das allgemeine Solidaritätsprinzip nicht aus, damit eine Klage erfolgreich ist. Es kann lediglich unterstützend hinzutreten, wenn sich das angefochtene Verhalten als Verletzung der allgemeinen Pflicht zur Solidarität darstellt. Im Vordergrund stehen jedoch die aus konkreten Normen oder Rechtsakten resultierenden Rechte und Pflichten. 4. Ergebnis Das Solidaritätsprinzip ist folglich nach dem EGV justitiabel. Es stehen grundsätzlich alle Klagearten des EGV zur Verfügung, um eine Verletzung des Solidaritätsprinzips geltend zu machen. Die Berufung einer natürlichen oder juristischen Person z. B. im Verfahren nach Art. 230 Abs. 4 EGV auf das Solidaritätsprinzip ist dagegen unzulässig. Dies wird sich teilweise durch eine rechtliche Verbindlichkeit der Charta der Grundrechte ändern, indem dann die dort normierten Solidaritätsrechte in allen Verfahren vor dem EuGH justitiabel sind. In der Rechtspraxis hat das Solidaritätsprinzip allerdings seit Anfang der 80er Jahre keine praktische Bedeutung mehr. Ebenso wenig hat das Solidaritätsprinzip der Rechtsfortbildung gedient.

II. Justitiabilität des Solidaritätsgebots im Rahmen des Vertrages über die Europäische Union Die Justitiabilität des Unionsrechts ist im Vergleich zum EGV sehr stark eingeschränkt und ganze Bereiche unterfallen nicht der Jurisdiktion des EuGH. Die eingeschränkte Kontrollkompetenz des EuGH im Bereich von GASP und PJZS erklärt sich zum großen Teil daraus, dass es sich um sensible Bereiche nationalstaatlicher Souveränität handelt, auf denen die Integration noch nicht soweit vorangeschritten ist29. Gegen eine Justitiabilität des Solidaritätsprinzips in die28

So auch von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 182. Ludwig, S. 248; Middeke/Szczekalla, JZ 1993, 284 (292) kommen zu dem Schluss, dass angesichts der diesen Bereichen unterfallenden hochsensiblen Materien eine „gerichtliche Kontrolle auf Gemeinschaftsebene auf Dauer unabdingbar“ sei. 29

232

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

sen Bereichen scheint deutlich Art. 46 EUV zu sprechen. Der Gerichtshof in Luxemburg ist ein Organ der Europäischen Gemeinschaft, der auch nicht im Wege der Organleihe, wie z. B. das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission in Art. 28 Abs. 1, 41 Abs. 1, zum Organ der EUV wird30. Deshalb umschreibt Art. 46 EUV konstitutiv die zusätzlichen Zuständigkeiten des EuGH im Anwendungsbereich des Unionsvertrages. Dabei enthält diese Norm bereits dem Wortlaut nach eine abschließende Aufzählung für diejenigen Bestimmungen des EUV, auf welche die Vorschriften der drei Gemeinschaftsverträge über die Zuständigkeit des EuGH und die Ausübung dieser Zuständigkeit anzuwenden sind31. Jenseits der aufgezählten Materien ist eine Kompetenz des EuGH zur Auslegung des EUV oder Kontrolle von Handlungen aus diesem Bereich, sei es der agierenden Organen oder der Mitgliedstaaten, am Maßstab des EUV gemessen ausgeschlossen32. Eine Kompetenz des EuGH zur Überprüfung des Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV ist in dieser Aufzählung nicht erfasst. Dort ist aber der Ansatzpunkt für das der gesamten Union zugrunde liegende Solidaritätsprinzip zu sehen. Zudem ist der gesamte Titel über die GASP nicht von Art. 46 EUV erfasst. Ist es deshalb folgerichtig, die unmittelbare gerichtliche Überprüfbarkeit des Solidaritätsprinzips im EUV generell abzulehnen? Denkbar ist dagegen eine mittelbare Überprüfbarkeit des unionsrechtlich geprägten Solidaritätsprinzips auf Grundlage des Gemeinschaftsrechts. Ein Urteil des EuGH deutet in diese Richtung. Zudem ist für die PJZS eine Rechtsschutzmöglichkeit gegeben und der vollkommene Ausschluss der Gerichtsbarkeit des EuGH im Bereich der GASP ist auch nicht unumstritten. Die Frage lässt sich also nicht von vornherein eindeutig entscheiden. 1. Möglichkeit zur Überprüfung des Solidaritätsgebots im Rahmen der PJZS Seit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam verfügt der EuGH in diesem Bereich über eine originäre Kompetenz zur Überprüfung von sekundärem Unionsrecht33. Zum ersten Mal unterliegen damit Handlungen der Mitgliedstaaten im intergouvernementalen Bereich der gerichtlichen Kontrolle. Mit der Vergemeinschaftung von wesentlichen Teilen der früheren Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (ZBJI) in den Art. 61 ff. EGV haben die Mitgliedstaaten ihre Abneigung gegen eine Rechtskontrolle in diesem sensiblen Bereich nationaler Politik aufgegeben34. Dabei sind nach Art. 35 EUV zwei Verfahren 30 31 32 33 34

Geiger, EUV/EGV, Art. 5 EUV Rn. 3 f. Vgl. Wortlaut Art. 46 EUV: „gelten nur“. EuGH Rs. C-167/94, Grau Gomis, Slg. 1995, I-1023 Rn. 6. Dazu Ludwig, Die Rolle des EuGH; Dörr/Mager, AöR 2000, 386 (406 ff.). Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 531.

II. Im Rahmen des Vertrages über die EU

233

zu unterscheiden, in denen eine gerichtliche Kontrolle gegeben ist. Nach Abs. 1 besteht die Möglichkeit für ein fakultatives Vorabentscheidungsverfahren für die Prüfung der Gültigkeit und die Auslegung der Unionssekundärrechtsakte35. Voraussetzung dafür ist, dass die Mitgliedstaaten eine Anerkennungserklärung gemäß Art. 35 Abs. 2 EUV abgeben36. Obligatorisch ist das zweite Verfahren nach Abs. 6 bei Klagen der Mitgliedstaaten oder der Kommission bezüglich der Rechtmäßigkeit von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen im Sinne von Art. 34 Abs. 2 lit. b, c EUV. a) Das fakultative Vorlageverfahren des Art. 35 Abs. 1 EUV Fraglich ist nun, ob und wie das Solidaritätsprinzip Klagegegenstand in beiden Verfahren werden kann. Für die Vorabentscheidung sind die möglichen Verfahrensgegenstände abschließend aufgezählt37. Demnach kann der Gerichtshof auf Vorlage eines nationalen Gerichts Rahmenbeschlüsse, Beschlüsse und die dazu ergangenen Durchführungsmaßnahmen auslegen38. Diese Aufzählung ist abschließend, so dass allgemeine Auslegungsfragen zu den Bestimmungen der Art. 29 ff. EUV unzulässig sind39. In diesem Rahmen ist es denkbar, dass es zu einer inzidenten Prüfung des Solidaritätsprinzips kommt. Es liegt im Wesen der Normenkontrolle, das eine inzidente Auslegung des Prüfungsmaßstabs erfolgt, soweit darin Vorgaben für das zu überprüfende Sekundärrecht enthalten sind40. Als mitgeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz ist das Solidaritätsprinzip Bestandteil des EUV, so dass die fraglichen Bestimmungen der PJZS Ausdruck dieses Prinzips sein können41. Damit ist es denkbar, dass das Solidaritätsprinzip als Unionsprimärrecht zum mittelbar Maßstab für die Gültigkeit von Unionssekundärrecht nach Art. 35 Abs. 1 EUV wird. Dabei entsteht jedoch ein dogmatisches Problem, welches bisher noch nicht eindeutig gelöst werden konnte. Im Gemeinschaftsrecht ist eine Normenhierarchie anerkannt, so dass Sekundärrecht, dass dem Primärrecht entgegensteht, nichtig ist. Nach der hier vertretenden Auffassung ist das Unionsrecht demgegenüber strukturell anders und bildet eine eigene, völkerrechtliche Ordnung, so dass sich dieses Prinzip der Normabstufung nicht ohne weiteres übertragen lässt42. Folglich sind die Beschlüsse, Rahmenbeschlüsse und Maßnahmen im 35

Dazu Ludwig, S. 94 ff. Großbritannien, Irland und Dänemark haben eine solche Erklärung bislang nicht abgegeben. Vgl. die Tabelle bei Ludwig, S. 130. 37 Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 35 EUV Rn. 5. 38 Ludwig, S. 94 ff. 39 Classen, EuR Beiheft 1, 1999, 73 (85); Ludwig, S. 106. 40 Dörr/Mager, AöR 2000, 386 (412); Röben, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der EU, Art. 35 EUV Rn. 8. 41 Vgl. dazu Kapitel G. I. 5. 36

234

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

Bereich der PJZS Völkerrecht, so dass grundsätzlich in Ermangelung einer ausdrücklichen Regelung die allgemeinen Vorschriften der WVRK zum Tragen kommen. Im Völkerrecht gibt es keine Normenhierarchie mit Ausnahme des Vorrangs von ius cogens, so dass die Regel lex posterior derogat lex superior, Art. 30 Abs. 3 WVRK, angewandt wird43. Folglich könnten Sekundärrechtsakte aufgrund der Ermächtigungen im Titel VI EUV den EUV als Primärrecht ändern. Damit wäre das Primärrecht kein tauglicher Prüfungsmaßstab. Dagegen sprechen jedoch gravierende Argumente. Zunächst zeigt die Möglichkeit des Vorlageverfahrens nach Art. 35 Abs. 1 sowie der Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EUV, dass die Mitgliedstaaten offenbar von einer Nachrangigkeit des Unionssekundärrechts ausgegangen sind. Die Normierung eines Rechtsschutzverfahrens in Art. 35 EUV etabliert damit zugleich eine echte Normenhierarchie im Unionsvertrag44. Für die Feststellung der Ungültigkeit einer solchen Maßnahme braucht der EuGH einen Maßstab. Diesen kann nur der EUV bilden, so dass eine Höherrangigkeit hier impliziert wird45. Diese Auslegung kann sich auch auf den Wortlaut stützen, wonach eine Nichtigkeitsklage bei „Verletzung dieses Vertrages“ begründet ist46. Außerdem zeigt die Existenz des Art. 48 EUV, dass die lex posterior Regel im Bereich des EUV keine Gültigkeit beanspruchen soll47. Danach können die Verträge ausschließlich in dem Verfahren des Art. 48 EUV geändert werden. Die Auslegung ergibt also einen Vorrang des Unionsprimär- vor dem Unionssekundärrecht48. Folglich ist es theoretisch denkbar, dass eine Maßnahme auf dem Gebiet der PJZS wegen einer Verletzung des Solidaritätsprinzips nichtig ist. Praktisch relevant ist in diesem Fall aber eher die Nichtigkeitsklage und nicht das Vorlageverfahren des Art. 35 Abs. 1 EUV. Mit der Nichtigkeitsklage wird die Nichtigkeit des fraglichen Rechtsaktes unmittelbar festgestellt, während es dafür beim Vorlageverfahren dogmatischer Begründungarbeit bedarf49. Die unmittelbare Rechtsfolge eines solchen Urteils ist lediglich die Feststellung der Ungültigkeit. In keinem Fall darf die Vorlage nach Art. 35 Abs. 1 EUV wegen Art. 46 EUV und dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dazu führen, dass der EuGH den ganzen Titel VI EUV auslegt. Folglich kommt allenfalls eine inzidente Prüfung des Solidaritätsprinzips in Betracht, wenn die fragliche Norm bei 42 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man nur aufgrund der Einheitsthese von von Bogdandy/Nettesheim, NJW 1995, 2326 ff.; dies., EuR 1996, 12 ff. 43 Pechstein, EuR 1999, 1 (23). 44 Dörr/Mager, AöR 2000, 386 (418). 45 Zott, S. 279. 46 Art. 35 Abs. 6 S. 1 EUV. 47 Pechstein, EuR 1999, 1 (23 f.). 48 So auch Ludwig, S. 137 f.; Pechstein, EuR 1999, 1 (23 f.). 49 Vgl. dazu Ludwig, S. 130 ff.

II. Im Rahmen des Vertrages über die EU

235

der Auslegung und Gültigkeitsprüfung von Unionssekundärrecht Ausdruck des Solidaritätsprinzips ist. b) Die Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EUV Die Klagegründe des Art. 35 Abs. 6 EUV sind an die Aufzählung des Art. 230 Abs. 2 EGV angelehnt50. Die Nichtigkeitsklage ist zulässig, wenn die „Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung dieses Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauch“ erhoben wird. Wenn die danach in Betracht kommenden Vorschriften Ausdruck des Solidaritätsprinzips sind, kann also auch im Rahmen der Nichtigkeitsklage eine inzidente Überprüfungsmöglichkeit gegeben sein. Daneben hängt es von der Auslegung des Begriffes „Verletzung dieses Vertrags“ ab, ob das Solidaritätsprinzip auch unmittelbar Prüfungsgegenstand einer solchen Klage sein kann. Dabei ist die von Art. 46 EUV aufgestellte Grenze zu beachten, die durch eine extensive Auslegung nicht unterlaufen werden darf. Wenn man auch die Allgemeinen Bestimmungen des EUV im Titel I als justitiables, nicht durch Art 46 EUV ausgeschlossenes Unionsrecht betrachtet, so kann auch das in Art. 1 Abs. 3 EUV verankerte allgemeine Solidaritätsprinzip zum Prüfungsmaßstab im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EUV werden51. 2. GASP Grundsätzlich ist der gesamte Bereich des Titels V EUV von der Gerichtsbarkeit des EuGH ausgeschlossen. Art. 46 EUV enthält keinen Verweis auf die Vorschriften über die GASP. Auch durch den Vertrag von Nizza ist keinerlei Rechtsschutzmöglichkeit in der zweiten Säule eröffnet worden. Folglich ist eine direkte Kontrollmöglichkeit von Handlungen im Bereich der GASP durch den EuGH ausgeschlossen52. Die Vorschriften des Titels V EUV können nicht zum Prüfungsmaßstab erhoben werden, weil Art. 46 EUV eine Kompetenzausschlussnorm ist. Denkbar sind jedoch Konstellationen, in denen der EuGH mittelbar das Solidaritätsprinzip auslegen kann.

50

Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 35 EUV Rn. 6. Dies begründen Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 513 ff. für das Kohärenzgebot in Art. 1 Abs. 3 EUV. 52 Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 20; Krück, in: G/T/E, Art. L EUV Rn. 9; Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur EU, Art. L EUV Rn. 10. 51

236

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

a) GASP-Rechtsakte mit Verbindungen zum Gemeinschaftsrecht Keine Begründungsprobleme werfen die Fälle auf, in denen Maßnahmen aus der GASP den gemeinschaftlichen Besitzstand betreffen. Im Falle einer auf Grundlage des Art. 301 EGV erlassenen gemeinschaftsrechtlichen Wirtschaftssanktion kann diese Maßnahme trotz ihrer Verwurzelung in den völkerrechtlichen Vorschriften der GASP vom EuGH überprüft werden53. Maßstab ist dann allerdings das Solidaritätsprinzip, wie es im EGV konkretisiert ist. Das Vorliegen eines für die Sanktion erforderlichen GASP-Beschlusses kann inzident nur auf seine formelle Richtigkeit überprüft werden, d.h. ob ein ordnungsgemäß zustande gekommener Beschluss überhaupt vorliegt. Eine materielle Rechtskontrolle anhand des Unionsrechts ist ausgeschlossen. Art. 46 EUV regelt lediglich die Kompetenzen des EuGH im Bereich des Unionsrechts, ohne dabei in die Zuständigkeiten der nationalen Gerichte einzugreifen. Insofern könnte es zu einer indirekten Kontrolle von Maßnahmen aus dem zwischenstaatlichen Bereich der zweiten und dritten Säule kommen. Erlässt etwa ein Mitgliedstaat Maßnahmen zur Durchführung eines Embargo- oder Sanktionsbeschlusses und sind diese Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar, ist damit das bekannte Problemfeld der Vereinbarkeit von nationalem mit Gemeinschaftsrecht eröffnet. Art. 46 EUV ist hier nicht einschlägig. Die nationalen Gerichte können den staatlichen Durchführungsakt bei Zweifeln an seiner Gemeinschaftsrechtskompabilität dem EuGH in Verfahren nach Art. 234 EGV vorlegen. Wenn nun das Gericht auf diese Weise nach der Vereinbarkeit von staatlichem Recht, das aufgrund einer Regelung aus dem Bereich der GASP getroffen worden ist, mit dem Gemeinschaftsrecht gefragt wird, kann es zu einer indirekten Kontrolle der intergouvernementalen Maßnahme kommen. Dabei ist der Gerichtshof auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beschränkt54. Er kann weder die Gültigkeit des nationalen Rechts noch die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts überprüfen. Das ergibt sich bereits aus dem insofern eindeutigen Wortlaut des Art. 234 lit. a)–c) EGV. Allerdings kann er dem nationalen Richter Hinweise über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem erlauben, eine dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts entsprechende Lösung zu finden55. Kommt der Gerichtshof durch Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu der Erkenntnis, dass die betroffene Regelung gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, hat er zumindest indirekt die unionsrechtliche Grundlage geprüft. Der Prüfungsumfang richtet sich nämlich nach der Begründung der Vorlage durch das nationale Gericht. Grundsätzlich überprüft das Gericht 53

Osteneck, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 301 EGV Rn. 13 f. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 3. 55 So auch Krück, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV, Art. 46 EUV Rn. 31; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 13. 54

II. Im Rahmen des Vertrages über die EU

237

die Norm des Gemeinschaftsrechts nur hinsichtlich der dort aufgeführten Bedenken56. Im angenommenen Fall kann eine solche Vorlagefrage nur lauten, ob eine Regelung des Gemeinschaftsrechts einer nationalen Regelung entgegensteht, die als Durchführungsmaßnahme eines GASP-Beschlusses erlassen worden ist. Um dies zu bestimmen, muss der EuGH über die Stellung der EGNorm zum Unionsrecht nachdenken. Die nationale Norm kann nur dann unvereinbar sein, wenn eine Auslegung des EG-Rechts ergibt, dass es in diesem Fall abschließend ist oder ausschließlich anzuwenden ist. Dafür muss jedoch die Regelung im Bereich der GASP vergleichend herangezogen werden. Folglich ist eine indirekte Überprüfungsmöglichkeit gegeben, wobei natürlich stets die Grenzen des Art. 46 EUV einzuhalten sind. b) Flughafen-Transit-Fall Ein interessantes Urteil zur Frage der Justitiabilität des Unionsrechts hat der EuGH in der Rs. C-170/96 gefällt57. Auf Grundlage des Art. K.3 EUV (Art. 31 EUV) hatte der Rat der Union eine Gemeinsame Maßnahme zur Harmonisierung der Visumspflicht für den Transit auf Flughäfen beschlossen. Da sich die Mitgliedstaaten im Bereich der dritten Säule bewegten, handelte es sich um einen völkerrechtlichen Akt der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Nach Ansicht der Kommission lag darin ein Verstoß gegen Art. 100c EGV (heute in Art. 61 ff. EGV geregelt) mit der Folge, dass die Regelung auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage hätte erlassen werden müssen. Deshalb erhob die Kommission eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV auf Nichtigerklärung der Gemeinsamen Maßnahme über den Flughafentransit. Obwohl dieses Urteil im Bereich der PJZS spielt, in der nach dem Vertrag von Amsterdam eine Zuständigkeit des EuGH nach Art. 35 EUV gegeben ist, sind die Aussagen in diesem Urteil wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die GASP weiterhin relevant. Im Ergebnis verneinte der EuGH das Vorliegen der gemeinschaftlichen Kompetenz aufgrund des Art. 100c EGV, da sich die Visaregelung nicht auf das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten bezog und damit schon tatbestandlich nicht von Art. 100c EGV erfasst worden ist58. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass das Gericht die Klage gegen den Unionsrechtsakt zunächst für zulässig erachtet hat. Dabei stützt er sich auf Art. 47 EUV, der nach Art. 46 lit. f) EUV in die Zuständigkeit des EuGH fällt. Mit einem Satz stellt der Gerichtshof schlicht fest, dass es seine Aufgabe ist, darüber zu wachen, dass Handlungen, die nach Ansicht des Rates unter den Titel VI EUV fallen, „nicht in die Zuständigkeiten übergreifen, die die Bestimmungen des EG-Vertrages der 56 57 58

EuGH, Rs. C-26/96, Rotexchemie, Slg. 1997, I-2817 Rn. 6. EuGH, Rs. C-170/96, Kommission/Rat, Slg. 1998, I-2763. EuGH, Rs. C-170/96, Kommission/Rat, Slg. 1998, I-2763 Rn. 32.

238

K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

Gemeinschaft zuweisen“59. So richtig dieser Ansatz vor dem Hintergrund des Art. 220 EGV ist, so sehr bringt er jedoch auch eine problematische Kompetenzausweitung. Folglich gehen die Meinungen darüber auseinander. aa) Ansichten der Literatur Herrnfeld stimmt dem EuGH zu60. Er zitiert die Rechtsprechung des Gerichthofs, wonach bereits aus Art. 220 EGV eine Kompetenz des EuGH gegenüber einer mitgliedstaatlichen „Flucht ins Völkerrecht“ besteht. Damit ist das Handeln auf völkerrechtlichen Ebene, sei es im Rahmen der intergouvernementalen Union oder außerhalb, gemeint, wenn eine ausschließliche oder eine ausgeübte, konkurrierende Zuständigkeit der Gemeinschaft besteht. Im Verfahren nach Art. 226 EGV könne das Gericht dann eine Verletzung des EGV durch die Mitgliedstaaten feststellen. In diesem Falle liege jedoch auch eine unionsrechtliche Beachtlichkeit vor. Das folge aus Art. 46 lit. e i. V. m. Art. 47. Dadurch könne der Gerichtshof den Verstoß einer Maßnahme gegen den EUV feststellen, weil ein Verstoß gegen Art. 47 EUV vorliegt. Wenn nun eine unionsrechtliche Maßnahme die ausschließlichen oder ausgeübten Kompetenzen der Gemeinschaft verletzt, liegt eine Verletzung von Art. 47 EUV vor, welcher der Jurisdiktion des EuGH unterworfen ist. Dieser Auffassung nach ist dann auch der Weg einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV eröffnet, um Übergriffe aus dem Bereich der zweiten Säule in das Gemeinschaftsrecht zu verhindern. Klagegegner ist der als Unionsorgan tätige Rat und nicht die im Rat handelnden Mitgliedstaaten61. Grundsätzlich geht es dabei um die Überprüfung der Rechtsgrundlage. Entstammt diese dem Unionsrecht und greift in die Kompetenzen der Gemeinschaft ein, ist der darauf beruhende Akt unwirksam, und zwar sowohl gemeinschaftsrechtlich als auch unionsrechtlich. Dazu bedarf es aber einer Auslegung seines Inhalts. Denn wenn der Rechtsakt bereits seinem Inhalt nach nicht in die nach Art. 47 EUV durch den EuGH zu wahrenden Kompetenzen der Gemeinschaft eingreift, ist eine dagegen erhobene Nichtigkeitsklage bereits unzulässig. Insgesamt ergibt sich nach dieser Auffassung eine Kompetenz des EuGH zur Überprüfung von unionsrechtlichem Sekundärrecht, die sich ausschließlich auf Art. 47 EUV stützen kann. Es geht dabei um das Verhältnis von EG zu EU und die jeweilige Abgrenzung der Kompetenzen. Folglich kann es zu einer indirekten Kontrolle von Maßnahmen in der GASP nach Art. 46 lit. e) i. V. m. Art. 47 kommen, wenn dadurch ausschließliche Kompetenzen der Gemeinschaft berührt werden62. 59

EuGH, Rs. C-170/96, Kommission/Rat, Slg. 1998, I-2763 Rn. 16. Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 18. 61 Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 19; a. A.: Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 506 u. 524 ff.; Glaesner, EuR Beiheft 1, 1994, 25 (39). 62 Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 23. 60

II. Im Rahmen des Vertrages über die EU

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Nach Cremer wird durch die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen EUAkte, die sich alleine auf Art. 47 EUV stützt, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung durchbrochen63. Zudem werde dadurch die mit Art. 46 EUV deutlich errichtete Beschränkung der Gerichtsbarkeit des EuGH unterlaufen. Deshalb lehnt die Gegenmeinung auch die Möglichkeit einer Inzidentprüfung von Sekundärakten an den Schnittstellen von Unions- und Gemeinschaftsrecht ab64. Solche Unionsrechtsakte können damit in keinem Verfahren am Maßstab des Unionsprimärrechts überprüft werden. Auch Pechstein/König betonen, dass die Klage in diesem Fall als unzulässig abzuweisen ist. Indem der EuGH die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV bejaht hat, habe er ultra vires gehandelt65. Als EG-Organ habe der Gerichtshof auch nur die Befugnis, Rechtsakte von EG-Organen für nichtig zu erklären. Darin liege ein krasser Verstoß gegen die in Art. 46 EUV aufgestellten Grenzen und den daraus zu schließenden Willen der Mitgliedstaaten66. Allerdings ist nach dieser Ansicht eine Kontrolle im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EGV möglich, wenn es sich um eine ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft handelt und die Mitgliedstaaten dennoch im Rahmen des EUV handeln67. Der erforderliche Vertragsverstoß liegt dann in dem Handeln der jeweiligen Regierungsvertreter als Mitglieder des Europäischen Rates im Rahmen der GASP oder PJZS anstelle des Rates der EG als gemeinschaftsrechtlichem Organ. bb) Ergebnis Der EuGH hat in der oben genannten Entscheidung einen Weg eingeschlagen, der einer Relativierung des Kompetenzausschlusses durch Art. 46 EUV gleichkommt. In der Sache geht es um zwei Kernprobleme, die unterschieden werden müssen, im konkreten Fall aber unmittelbar miteinander verknüpft sind. Bei der materiellen Prüfung geht es um die Grundsätze der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft nach Art. 100 lit. c) EGV und den Mitgliedstaaten 63

Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 20. Als Beispiel wird die Möglichkeit zur Ergreifung von Sofortmaßnahmen bei Embargobeschlüssen im Bereich der GASP angeführt, Art. 301 EGV. Diese Bestimmung unterfällt der Gerichtsbarkeit des EuGH. Da Art. 301 EGV aber die Fassung eines Beschlusses der GASP zur Tatbestandsvoraussetzung macht, muss der EuGH diesen Beschluss insofern überprüfen können. Dabei kann es jedoch nur um eine formelle Prüfung gehen, ob überhaupt ein Beschluss zustande gekommen ist, damit Sofortmaßnahmen nach Art. 301 EGV legitimiert sind. Eine materielle Prüfung, ob der Beschluss, sei es inhaltlich sei es aufgrund von Verfahrensfehlern, rechtswidrig ist, kann der EuGH nicht durchführen. 65 Vgl. Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 526 f.; Pechstein, EuR 1999, 1 (10 f.). 66 Vgl. Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 529. 67 So auch Böse, EuR 1998, 678 (680 f.). 64

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K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

im Rahmen der PJZS. Dies ist die Frage nach der richtigen Rechtsgrundlage verbunden mit dem Problem, ob die Mitgliedstaaten bei Einschlägigkeit einer Rechtsgrundlage nach dem EGV nicht mehr im Rahmen des EUV vorgehen können. Jedenfalls bei einer ausschließlichen oder bereits ausgeübten Gemeinschaftskompetenz lässt sich eine solche Aussage gut begründen68. Der Ansatz, dass sich die Mitgliedstaaten durch eine Flucht in die intergouvernementalen und nicht justitiablen Strukturen des Unionsrechts nicht ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen entziehen sollen, ist ebenfalls richtig. Nicht zuletzt das allgemeine Solidaritätsprinzip würde einem solchen Verhalten entgegenstehen. Ein anderes Problem ist aber die Kompetenz des EuGH, ein solches Verhalten zu überprüfen. Der vom EuGH gewählte Weg, die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV gegen einen Unionsrechtsakt für zulässig zu erklären, zeigt die Befürchtung, dass der Rat durch die Wahl und Bezeichnung eines Rechtsaktes die gerichtliche Überprüfung durch den EuGH verhindern könnte69. In diesem Fall wird Art. 47 EUV seiner praktischen Wirksamkeit benommen, wenn Rechtsakte alleine aufgrund ihrer Bezeichnung von der Überprüfung ausgenommen würden70. Trotzdem sprechen gewichtige Argumente gegen die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage in diesem Fall71. Im Rahmen des Verfahrens nach Art. 230 EGV können nur Handlungen von EG-Organen auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht überprüft werden. Handlungen des Unionsorgans Europäischer Rat unterliegen in keinem Fall der Gerichtsbarkeit des EuGH72. Damit ist das Problem eingegrenzt und lässt sich auf die Frage zuspitzen, wie der Fall zu lösen ist, dass der Rat trotz Gemeinschaftskompetenz einen Rechtsakt auf den Titel VI EUV über die PJZS stützt73. Wenn man eine Entscheidungskompetenz des EuGH in diesem Fall bejaht, dann kann eine äußerliche Unionsmaßnahme nach Auslegung durch das Gericht als Gemeinschaftsrechtsmaßnahme erscheinen74. Die Wahl der falschen Rechtsgrundlage führt dann zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Rechtsaktes. In keinem Fall kann aber der EuGH auch die Unionsrechtswidrig68 Böse, EuR 1998, 678 (683); Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff (Hrsg.), HdK, Art. K EUV Rn. 17. 69 Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 20. 70 Schlussantrag GA N. Fennelly zu EuGH, Rs. C-170/96, Kommission/Rat, Slg. 1998, I-2763 (2770). 71 Dazu Böse, EuR 1998, 678 (679 ff.); Ludwig, S. 84 ff.; Pechstein/Koenig, Die EU, Rn. 526 ff. 72 EuG, Rs. T-584/93, Roujansky/Rat, Slg. 1994, II-585 (591). 73 Dieser Ansatz gilt nach Einführung des Art. 35 EUV nur noch für den Bereich der GASP und ist uneingeschränkt übertragbar. 74 Der EuGH leitet aus einer Gemeinschaftskompetenz ab, dass auch ein Gemeinschaftsorgan gehandelt haben muss; vgl. EuGH verb. Rs. C-181/91 und C-248/91, Parlament/Rat und Kommission, Slg. 1993, I-3685 Rn. 14; dagegen Ludwig, S. 88 f.; Pechstein, EuR 1999, 1 (8 ff.).

II. Im Rahmen des Vertrages über die EU

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keit feststellen. Die Begründung des EuGH über Art. 47 EUV ist nicht tragfähig. In der Konsequenz der EuGH Entscheidung würde es liegen, dass zahlreiche Akte aus dem Bereich der GASP und PJZS zumindest auf ihre Kompetenzgrundlage hin untersucht werden könnten. Einem solchen Ansatz stehen aber Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn von Art. 46 EUV entgegen75. Wenn man die Ausführungen des EuGH so versteht, dass ein Unionsrechtsakt vorliegt, der am Maßstab des Gemeinschaftsrechts überprüft werden soll, verstärken sich die Bedenken noch. Die Existenz des Art. 46 EUV und die Einführung des Art. 35 EUV zeigen deutlich, dass es dem erklärten Willen der Mitgliedstaaten entspricht, nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen die Überprüfung von Unionssekundärrecht am Maßstab des EGV zuzulassen. Für den Bereich der GASP ist dies nach wie vor kategorisch auszuschließen. Damit ist auch die Überprüfung eines GASP-Beschlusses anhand des Solidaritätsprinzips, sei es in seiner unionsrechtlichen oder seiner gemeinschaftsrechtlichen Ausprägung, ausgeschlossen. Auf jeden Fall besteht nicht die Möglichkeit einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV gegen den Unionssekundärrechtsakt. Theoretisch möglich erscheint jedoch das Verfahren nach Art. 226 EGV, wenn die Mitgliedstaaten durch ein unionsrechtliches Handeln gegen das gemeinschafsrechtlich geprägte Solidaritätsprinzip verstoßen haben. c) Justitiabilität einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der GASP Eine Kompetenz für den Bereich der verstärkten Zusammenarbeit wird durch Art. 46 lit. c EUV begründet. Damit unterliegen auch die Art. 40, 43–45 EUV der Jurisdiktion des EuGH. Es geht um zwei verschiedene Überprüfungsmöglichkeiten. Zum einen um die gerichtliche Kontrolle der Begründung einer vZa im Sinne von Art. 40 Abs. 2 EUV und zum anderen um die Überprüfung von Maßnahmen, die im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit getroffen worden sind. Der Ratsbeschluss, mit dem eine vZa im Bereich der PJZS beschlossen wird, kann wegen Art. 40 Abs. 3 EUV umfassend nach den Bestimmungen des EGV über die Zuständigkeit des Gerichtshofs überprüft werden. Demgegenüber stellt Art. 40 Abs. 2 EUV klar, dass für die Überprüfung der dort beschlossenen Maßnahmen die Regelung des Art. 35 EUV gilt. Dadurch soll die nach dem EGV bestehende umfassende Zuständigkeit auf die in Art. 35 EUV enthaltenen Verfahren beschränkt werden76. Während also für den Bereich der dritten Säule eine Sachkompetenz des EuGH durch den Verweis des Art. 40 Abs. 2 auf Art. 35 EUV gegeben ist, der gemäß Art. 46 lit. b EUV justitiabel ist, findet sich eine solche Regelung für die GASP nicht. Insofern ist eine Überprüfung 75 76

Pechstein, JZ 1998, 1008 (1009). Dörr/Mager, AöR 2000, 386 (422).

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K. Justitiabilität des Solidaritätsprinzips

von Maßnahmen im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit in der Außenund Sicherheitspolitik durch den EuGH nicht gegeben. Im Bereich der PJZS hat der EuGH demnach die Kompetenz, die dort im Rahmen einer vZa getroffenen Maßnahmen gemäß Art. 35 i. V. m. Art. 46 lit. b) EUV auszulegen und auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. In diesen Verfahren kann das Solidaritätsprinzip inzident zum Prüfungsmaßstab werden. Für eine vZa nach Art. 27 lit. a ff. EUV fehlt allerdings diese Kompetenz. Es bleiben die eben beschriebenen Möglichkeiten zur mittelbaren Überprüfung. In keinem dieser Fälle geht es aber um die Auslegung und Bewertung des Solidaritätsprinzips wie es im Bereich von GASP und PJZS konkretisiert wird.

III. Ergebnis Die Differenzierung des Rechtsschutzes in der Europäischen Union wirkt sich also auch auf die Justitiabilität des Solidaritätsprinzips aus. Auch wenn man das Prinzip als einheitlichen Grundsatz auf die gesamte Union erstreckt, so sind doch die Einschränkungen der Kompetenzen des EuGH in den drei Säulen beachtlich. Im Bereich des EGV hat der EuGH umfassende Kompetenzen. Als Folge kann auch das Solidaritätsprinzip in der Form, in der es sich im EGV niederschlägt, Prüfungsmaßstab bei allen zur Verfügung stehenden Klagearten sein. Eine Berufung von natürlichen oder juristischen Personen auf das Solidaritätsprinzip scheidet gegenwärtig noch aus. Mit Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte wird sich dies ändern. Im Bereich der PJZS kann es zu einer mittelbaren Überprüfung von Unionsrecht in den Verfahren des Art. 35 EUV kommen. Folglich ist auch eine inzidente Prüfung des Solidaritätsprinzips denkbar, wenn die fraglichen Normen als Ausdruck desselben betrachtet werden. Eine gerichtliche Überprüfung der Vorschriften aus der GASP ist in keinem Fall denkbar. Hier ist die Gerichtsbarkeit des EuGH noch umfassend ausgeschlossen. Die Kompetenzerweiterung durch den EuGH, wonach die Überprüfung eines Unionssekundärrechtsaktes auf seine Nichtigkeit hin im Verfahren nach Art. 230 EGV zulässig ist, ist aus den genannten Gründen abzulehnen. Dogmatisch einfacher zu begründen ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV. Auch in diesem Fall kann es aber nicht zu einer Überprüfung des unionsrechtlichen Solidaritätsprinzips kommen.

L. Zusammenfassung und Ausblick Das Koordinatensystem hat damit seinen letzten Eintrag erhalten. Solidarität, vormals Prinzip des römischen Rechts, politischer Kampfbegriff und allgemeingültiges moralisches Postulat, ist ein mitgeschriebenes Struktur- und Verfassungsprinzip der Europäischen Union. Der Begriff ist nicht in den Bereich folgenloser politischer Rhetorik zu verweisen. Vielmehr erweist sich, dass das Solidaritätsprinzip ein unverzichtbares objektives Ordnungsmerkmal der gegenseitigen Beziehungen im zweidimensionalen Raum der Union darstellt. Die Solidarität in der Union steht für die Absicht, zusammen im Verbund die als gemeinsam definierten Ziele zu verwirklichen. Dabei ist es gelungen, das hochabstrakte und allgemeine Wort der Solidarität zu präzisieren und normativ einzugrenzen. Bereits zu Beginn hat der Blick auf die Begriffsgeschichte und das Völkerrecht vermuten lassen, dass eine solche Konkretisierung schwerlich in eine allgemein verbindliche Definition münden kann. Was Solidarität im Einzelfall bedeutet und wer mit wem solidarisch zu sein hat, ist oftmals abhängig von politischen und gesellschaftlichen Ereignissen und dem sozialen Milieu. Trotz der Vieldeutigkeit des Begriffs lässt sich eine Einteilung in eine respektierende und eine leistende Seite vornehmen. Die respektierende Solidarität korrespondiert mit der Idee eines europäischen Gemeinwohls. Das Gemeinwohl geht dabei über die Summe der mitgliedstaatlichen Interessen hinaus und ist in den Verfassungszielen der Verträge konkretisiert. Es wird repräsentiert und vertreten durch die Organe der Europäischen Union. In solch einem Verbund müssen sowohl das Gemeinwohl als auch die Interessen der Glieder per se respektiert werden. Da auf beiden Seiten Hoheitsträger stehen, verlangt das System, um zu funktionieren, nach einer objektiven Ordnungsmaxime. Das Solidaritätsprinzip fordert normativ nun vor allem eine ausreichende Berücksichtigung der gemeinsamen Interessen, ohne dabei die individuellen Belange der einzelnen Mitglieder außen vor zu lassen. Allerdings kann es die Solidarität gebieten, dem Gemeinwohl den Vorrang einzuräumen, namentlich im Bereich des Binnenmarktes und im gesamten EGV. Das Prinzip steuert so das Ermessen und das Verhalten sowohl auf Seiten der Unionsorgane als auch auf Seiten der Mitgliedstaaten. Neue Kompetenzen kann das Solidaritätsprinzip nicht begründen, aber es kann die vorhandenen konkretisieren. In Bereichen, wo ein Vorrang des Gemeinwohls besteht, gebietet es dann die Solidarität, eine unionsrechtliche Regelung zu akzeptieren und aktiv zu fördern. Die leistende Seite des Prinzips entspricht dem, was herkömmlich mit dem Begriff der Solidarität assoziiert wird. Es geht um die grundsätzliche Unterstützung der

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L. Zusammenfassung und Ausblick

schwächeren Glieder im Verbund, um einen solidarischen Ausgleich und um Hilfe in der Not. Die Untersuchung hat ergeben, dass das Prinzip der Solidarität eine Schlüsselrolle im europäischen Primärrecht einnimmt. Das Recht der Union ist gewissermaßen „solidarisiert“1. Das Prinzip gilt umfassend für alle drei Säulen der Union, wenngleich seine Ausgestaltung im Einzelfall die rechtliche Heterogenität der Union widerspiegelt. In den Verträgen über die Europäischen Gemeinschaften erfährt es seine stärkste Ausprägung. Eine erweiterte Auslegung von Art. 2 EGV zeigt, dass die Verpflichtung der EG auf die Förderung der Solidarität über die Beziehungen der Mitgliedstaaten hinaus auf die Ebene der Völker und Bürger auszudehnen ist. Durch generelle Rücksichtsnahme- und Kooperationspflichten wird auch den Mitgliedstaaten eine aktive Förderungspflicht diesbezüglich auferlegt. Sie müssen sich solidarisch gegenüber der Gemeinschaft und den anderen Staaten verhalten. Ihr Verhalten im Gemeinschaftsverbund wird dabei vom Grundsatz der Loyalität geregelt, der als pars pro toto in Art. 10 EGV verankert worden ist. Das Solidaritätsprinzip begründet die gegenseitigen Beziehungen und legitimiert diese Pflichten, indem es die Verfolgung der gemeinsamen Ziele vorschreibt. Die Unionstreue gestaltet dagegen die Art und Weise dieses Miteinanders aus und wird damit zur reinen Maßstabsnorm. Anders gewendet, das Solidaritätsprinzip ist Ausdruck einer Gemeinschaft, während das Loyalitätsgebot eine solche Gemeinschaft voraussetzt und ihr Innenleben regelt. Dadurch wird die Unionstreue zum akzessorischen Grundsatz, während das Solidaritätsprinzip das übergreifende, die normierten Regeln übersteigende Grundprinzip ist. Insofern ist es die Gemeinschaftreue, die verhaltenssteuernd ist, während das Solidaritätsprinzip grundsätzlich legitimierend aber nicht im Einzelfall konkretisierend wirkt. Worauf sich dann wiederum die Solidarität zurückführen lässt, sei es auf das völkerrechtliche Gebot pacta sunt servanda oder das allgemeine Rechtsverhältnis der Mitgliedschaft, ist eine nachrangige Frage. Viel wichtiger ist die Feststellung, dass das Solidaritätsprinzip unverzichtbare Funktionen wahrnimmt als conditio sine qua non des europäischen Integrationsprozesses. Es sichert das Gemeinschaftsinteresse, dient als Auslegungsmaxime und ist kompetenz-konkretisierend. Vor allem die Vorschriften über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt im Titel XVII EGV spiegeln die leistende Seite des Solidaritätsprinzips wider. Die Regelungen sind dabei Ausdruck einer grundsätzlichen Unterstützungspflicht für die schwächeren Mitglieder der Gemeinschaft, die aus dem Solidaritätsprinzip fließt. Die Art und Weise, wie ein solcher solidarischer Ausgleich erfolgt, wird durch das Solidaritätsprinzip jedoch nicht vorgeschrieben. Das Solidaritätsprinzip gebietet normativ nur, dass ein solcher Ausgleich grund1

Volkmann, Solidarität, S. 369.

L. Zusammenfassung und Ausblick

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sätzlich gewährleistet wird. Die bestehenden Regelungen über Struktur- und Kohäsionsfonds genügen diesen Anforderungen. Forderung nach der Einführung eines genuinen Finanzausgleiches mit ungebundenen Zuwendungen an die Mitgliedstaaten lassen sich aus der gemeinschaftlichen Solidarität nicht begründen. Ebenso ist die Frage der Einnahmen- und Ausgabenverteilung und der Kriterien, an denen dies gemessen wird, eine politische Frage, die sich mit rechtlichen Kategorien nicht beurteilen lässt. So ist die Klage eines Mitgliedstaates auf Förderung, die sich auf die Kohäsionsvorschriften und das Solidaritätsprinzip stützt, in der Regel unzulässig. Diese Vorschriften geben grundsätzlich keinen individuellen Anspruch. Im Vertrag über die Montanunion tritt das Solidaritätsprinzip in einer Weise in Erscheinung, wie sie erst wieder mit der Gründung der Europäischen Union durch den EUV zu beobachten ist. Es klingt dort eine Finalität in Richtung eines föderalen Gemeinwesens an, wodurch die Richtung und das Ziel der weiteren Integration vorgeschrieben werden. Am Ende soll eine politische Union stehen, die alle Teile der Gesellschaft umfasst und damit weit über die wirtschaftliche Integration der nationalen Binnenmärkte hinausgeht. Der EGKSV beabsichtigte eine vollkommene Integration der Kohle und Stahlindustrie. Das Solidaritätsprinzip konnte hier, wegen der Begrenzung auf einen überschaubaren Teilbereich, normativ am stärksten formuliert werden. Es schreibt einen generellen Vorrang der gemeinsamen vor den individuellen Interessen vor. Die Kommission kann deshalb Preise festsetzen und Zölle erheben. Im Rahmen der leistenden Solidarität besteht die Möglichkeit zur Gewährung nicht rückzahlungspflichtiger Finanzhilfen. Die Mittel dazu werden durch Umlagen und Anleihen aufgebracht. Der solidarische Ausgleich ist so viel stärker und unmittelbarer als in den anderen Verträgen. Im Zuge der Errichtung einer politischen Union hat sich auch das Verständnis des Solidaritätsprinzips erweitert. Immer deutlicher tritt hervor, dass eine Solidarität der Staaten nicht ausreicht, um weitere Integrationsschritte zu legitimieren. Seit Maastricht ist die Solidarität Verfassungsziel und als grundlegendes Strukturprinzip verankert. Eine Nennung in Art. 6 EUV wäre wünschenswert, ist aber als Wirkungsvoraussetzung für die Solidarität nicht notwendig. Gemäß dem Auftrag des 5. Erwägungsgrundes der Präambel EUV wird versucht, die Unionsbürger stärker in die europäische Solidarität mit einzubeziehen. An erster Stelle ist hier die Vorstellung einer europäischen Wertegemeinschaft zu nennen, die durch die Europäische Union festgeschrieben und sichtbar gemacht wird. Dabei spielt der Wert der Solidarität, wie er durch die GR-Charta konkretisiert wird, eine entscheidende Rolle. Mit der Einführung und vor allem dem Sichtbarmachen sozialer Rechte des Einzelnen tritt die Gemeinwohlverpflichtung der Union klarer hervor. Dadurch werden Akzeptanz und Legitimation bei den Bürgern erhöht. Das Solidaritätsprinzip erfährt somit eine Anreicherung um sozialstaatliche Elemente.

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L. Zusammenfassung und Ausblick

Mit der Feststellung und normativen Eingrenzung eines europäischen Solidaritätsprinzips ist zugleich ein Beitrag zur Gewinnung einer europäischen Identität gesetzt worden. Das Anerkenntnis und die gemeinsame Interpretation von tragenden Verfassungsprinzipien der EU ist ein wesentlicher Schritt, damit die Union die Solidarität ihrer Bürger gewinnt2. In absehbarer Zeit wird sich daran nichts ändern und die europäische Solidarität auf die Ebene der Staaten beschränkt bleiben. Eine Beschränkung erfährt die Solidarität auch in den Bestimmungen über die GASP. Das Solidaritätsprinzip erschöpft sich hier in allgemeinen Rücksichtsnahme- und Kooperationspflichten. Insbesondere wird eine Unterlassungspflicht konstituiert, die allgemeinen Ziele der GASP nicht durch nationale Alleingänge zu behindern. Eine leistende Solidarität lässt sich nicht nachweisen. Im Zweifel gehen so die nationalen Interessen den gemeinsamen Zielen der europäischen Außenpolitik vor; ein klarer Unterschied zum EGV, wo in der Regel der Vorrang des gemeinsamen Interesses besteht. Vergleichbares lässt sich für die PJZS feststellen. Die Grenzen des Solidaritätsprinzips ergeben sich aus den Verträgen und den anderen Verfassungszielen. Ein Spannungsverhältnis zum Subsidiaritätsprinzip ist nur feststellbar, wenn man die Solidarität unzulässig auf eine reine Vorrangregel des Gemein- vor dem Individualwohl reduziert. Richtigerweise sind jedoch beide Prinzipien auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Das Subsidiaritätsprinzip erleichtert die Entscheidung darüber, wie die Ziele im gemeinsamen Verbund verfolgt werden sollen. Dagegen steht das Solidaritätsprinzip für die Entscheidung, gemeinsam Ziele verfolgen zu wollen. Deshalb sind auch die Regelungen über eine vZa nicht von vornherein unvereinbar mit dem Solidaritätsprinzip. Die Möglichkeit einer vZa erlaubt es erst, dem Solidaritätsprinzip vollkommen gerecht zu werden, indem ein Interessenausgleich erreicht wird. Dabei muss die Tür aber jederzeit für beitrittswillige Mitgliedstaaten offen bleiben. Wenn auch nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten ein Interessenausgleich nicht erreicht wird, ist als ultima ratio der einseitige Austritt eines Mitgliedstaates mit dem Solidaritätsprinzip vereinbar. Der Weg, den der VerfV geht mit der Eröffnung eines Rechts zur ordentlichen Kündigung, ist jedoch abzulehnen. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass das Solidaritätsprinzip eine stärkere Rolle in der Rechtspraxis spielen wird. Im Zuge des Entwurfs eines Verfassungsvertrages ist vorgeschlagen worden, eine eigene Solidaritätsklausel in den VerfE aufzunehmen, wobei die leistende Solidarität im Vordergrund stand3. In 2

von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 154. Xuereb, ELRev. 2002, 643; s. auch den Beitrag des Mitglieds des Konvents Michael Fredo „Eine Solidaritätsklausel in der europäischen Verfassung“ vom 17. Februar 2003, CONV 557/03, CONTRIB 246. Diese Vorschläge sind zu unterscheiden von der Solidaritätsklausel des VerfV, Art. I-43. Vgl. dazu oben Kapitel F. IV. 4. 3

L. Zusammenfassung und Ausblick

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der Rechtsprechung des EuGH hat die Rechtsfortbildung zu Art. 10 EGV aber seit langem das Solidaritätsprinzip als dogmatisches Argument überflüssig gemacht. Dabei ist das Prinzip grundsätzlich justitiabel und nur im Bereich der GASP ist eine Überprüfung von Rechtsakten grundsätzlich ausgeschlossen. Allerdings zeichnet sich durch die zu erwartende Rechtsverbindlichkeit der GR-Charta ein Weg ab, der das Solidaritätsprinzip wieder in den Vordergrund rücken könnte. Mit der Rechtsverbindlichkeit der GR-Charta wird das Solidaritätsprinzip im Sinne des Sozialstaatsprinzips erweitert, und kann fortan auch für die Begründung individueller Ansprüche aus sozialen Grundrechten stehen. Zudem werden sich die Verteilungskämpfe um Mittel aus den Struktur- und Kohäsionsfonds durch die Erweiterung um zehn potentielle Nettoempfängerländer verschärfen. Insofern gilt es, sich die Grundaussagen des Solidaritätsprinzips zu verdeutlichen und allen Akteuren des Europäischen Einigungsprozesses, sei es den handelnden Regierungen oder den jeweiligen Staatsbürgern, vor Augen zu führen. Die Europäische Union ist ein gemeinsames Projekt von historischer Einmaligkeit, in der auf überstaatlicher Ebene die Ziele verfolgt werden, die sich nationalstaatlich nur noch schwer oder schlechter erreichen lassen. Dafür müssen aber unter Umständen die nationalen Interessen zurückstehen und sogar finanzielle Leistungen erbracht werden als Lohn für einen Binnenmarkt des Friedens, der solidarischen Unterstützung und des gegenseitigen Vertrauens.

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Personen- und Sachverzeichnis Acquis communautaire 198, 201, 205, 208, 217 AETR-Urteil 77 f., 201 Agenda 2000 89, 191 f. Agrarabschöpfungen 90, 195 Agrarpolitik 90 f., 191, 196 Agrarsubventionen 88 Allgemeiner Rechtsgrundsatz 171 f. Amsterdam, Vertrag von 139, 144, 151, 165, 178, 214, 233, 237 Amtssprache 103 Aufgabe – der EG 52, 54 ff. – der EU 17, 123 ff. Ausschluss aus der EG/EU 214 Austritt aus der Union 208 ff. Austrittsklausel des VerfV 215 ff. Beitritt zu EG/EU 47, 82, 86, 88 f., 191, 195, 214, 220 Beitrittsländer 190 Binnenmarkt 56, 89, 93, 128, 165, 188 f., 203, 207 Bodin, Jean 34 Britische Beitragsermäßigung 195 ff. Brüderlichkeit, Idee der 23 f. BSP (Haushalt EG) 90 f. Bundesstaat 32 f., 79, 87, 95, 176 Bundestreue 33, 79, 143 Caritas 22 f., 36 Charta der Grundrechte 112 ff. Charter der Vereinten Nationen 40 ff. Clausula rebus sic stantibus 80, 212 f., 216

Davignon-Report 138 Drei-Säulen-Modell (Charta der Grundrechte) 157 f., 162 f. Drittwirkung – der Grundrechte 155 – der Vertragsbestimmungen 60 Duguit, Léon 28 EAG 101 ff. Effet utile 117 Eigenmittel 90, 94 Engels, Friedrich 25 f. Entwicklungshilfe 45, 47 Entwicklungsländer 39 ff. Entwicklungsvölkerrecht 39, 43, 45 EPZ 138 f. Finanzausgleich 87, 99 f., 187 ff. Finanzielle Solidarität 87, 99, 186 ff. Föderaler Bundesstaat 32, 79, 87 Fouchet-Plan 136 ff. Fouillée, Alfred 23 f., 28 GASP 134 ff. Gemeinschaftstreue 65 ff. Gemeinwohl 29, 31, 34 f., 45, 85 f., 113 f., 182 ff., 202 Haushalt der EG 94, 195 Herren der Verträge 119, 141, 204, 210 Homogenität 218 ff. Identität (europäische) 60, 141, 220 Internationale Gemeinschaft 39, 41 Internationale Organisation (EU) 123 ff.

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Personen- und Sachverzeichnis

Juste Retour 188 f. Justitiabilität (des Solidaritätsprinzips) 223 ff. Kerneuropa 198, 200 Koexistenzvölkerrecht 35 Kohärenzgebot 132 ff. Kohäsionsfonds 92 Kompetenzkatalog 85 Kooperationspflicht 77, 80, 150 Legitimation (der EG) 72, 85 f. Leroux, Pierre 23 Loyalitätsgebot s. Gemeinschaftstreue Maastricht, Vertrag von 52, 62, 64, 88 f., 110 ff. MacDougall-Report 190 Marktbürger 152 Marx, Karl 25 f. Mehrwertsteuer 90, 195 Mitgeschriebenes Struktur- und Verfassungsprinzip 173 f. MOES 190 f. Montanunion 101 ff. Naturrecht 36 f. Nizza, Vertrag von 74, 76, 78, 135, 140, 154, 176, 199, 204, 206, 231

Schlachtprämienurteil 82 f. Schuman – Erklärung 49, 101 f. – Plan 101 ff. – Robert 101 f. Soft Law 44 f. Solidarismus 26 ff. Solidarität – finanzielle 186 ff. – im Nationalstaat 31 ff. – im Völkerrecht 34 ff. – leistende 47, 100, 105, 109, 147 ff. – respektierende 47, 145 ff., 222 Solidaritätsfond 98 f. Solidaritätsklausel (VerfV) 96 ff. Souveränität 34 ff., 45, 141, 148, 210 Soziale Grundrechte 162 ff. Sozialreformer 22 f. Sozialstaatsprinzip 157, 163, 164 ff. Strukturfonds 91 ff. Subsidiaritätsprinzip 177 ff. Teilaustritt (EU/EG) 213 f. Tindemans Bericht 113 ff. Unionsbürgerschaft 60 f., 120, 152

Osterweiterung 107, 190 Pesch, Heinrich 27 PJZS 149 ff. Politische Union 60, 64, 110 ff. Protokoll – über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt 52, 89 f. – über die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes 178 Rechtsfähigkeit der EU 123 ff. Regionalpolitik 88, 93 Renaud, Hippolyte 23

Vattel, Emer de 37, 44 Vertragsziele (EGV) 53 ff. Vitoria, Francisco de 35 f. Völkergewohnheitsrechtliches Solidaritätsprinzip 42 ff. vZa 151, 197 ff. Wertegemeinschaft (europäische) 17 f., 172, 175, 220 Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt 52, 63 f., 87 ff. Wolff, Christian 36 f.