Gottfried Hermann (1772-1848): Internationales Symposium in Leipzig, 11.-13. Oktober 2007 9783823365464, 3823365460

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Gottfried Hermann (1772-1848): Internationales Symposium in Leipzig, 11.-13. Oktober 2007
 9783823365464, 3823365460

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Rainer Kößling - Gottfried Hermanns Leben und seine Bedeutung fürdie Universität Leipzig
Ulrich Schindel - Hermann als akademischer Lehrer:Die Göttinger ProfessorenKarl Friedrich Hermann und Hermann Sauppe
Jonas Flöter - Gottfried Hermann und Wilhelm von HumboldtAspekte neuhumanistischer Bildung inSachsen und Preußen
Christoph Michel - Programm und Fragment:Zu Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe(1820-1831)
Michael Schramm - Hermann und Kant:Philologie als (Kantische) Wissenschaft
Eva Tichy - Hermann als Grammatiker
Thomas Poiss - Zur Idee der Philologie. Der Streit zwischenGottfried Hermann und August Boeckh
Glenn W. Most - Hermann gegen Creuzer über die Mythologie
Georg Danek - Gottfried Hermann und die Homerforschung
Gauthier Liberman - Hermann et la colométrie pindarique de BoeckhRévolution et contre-révolution en métrique
Enrico Medda - quid sit illud, quod regulam dicimus:Hermann e la critica inglese
Roger D. Dawe - Hermann and Tragedy
Martin L. West - Hermannus de argumentis tragicis restituendis
Marcus Deufert - Quid aliud est Plautina emendare quam ludere?Gottfried Hermanns Bedeutung für diePlautusphilologie des 19. Jahrhunderts
Index

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Leipziger Studien zur klassischen Philologie

Kurt Sier / Eva Wöckener-Gade (Hrsg.)

Gottfried Hermann (1772–1848)

Leipziger Studien zur klassischen Philologie Neubegründet von Ekkehard Stärk (†) und Kurt Sier Herausgegeben von Marcus Deufert, Ursula Gärtner und Kurt Sier

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Kurt Sier / Eva Wöckener-Gade (Hrsg.)

Gottfried Hermann (1772–1848) Internationales Symposium in Leipzig 11.–13. Oktober 2007

Umschlagabbildung: Papyrus mythologischen Inhalts aus der Bibliotheca Albertina, Inventarnummer 1390

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http://www.narr.de E-Mail: [email protected] Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6546-4

Inhalt Rainer Kößling (Leipzig) Gottfried Hermanns Leben und seine Bedeutung für die Universität Leipzig........................................................................................... 1 Ulrich Schindel (Göttingen) Hermann als akademischer Lehrer: Die Göttinger Professoren Karl Friedrich Hermann und Hermann Sauppe ......................................... 19 Jonas Flöter (Leipzig) Gottfried Hermann und Wilhelm von Humboldt. Aspekte neuhumanistischer Bildung in Sachsen und Preußen ................ 35 Christoph Michel (Freiburg i. Br.) Programm und Fragment: Zu Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831) ................. 51 Michael Schramm (Leipzig) Hermann und Kant: Philologie als (Kantische) Wissenschaft ................... 83 Eva Tichy (Freiburg i. Br.) Hermann als Grammatiker ........................................................................... 123 Thomas Poiss (Humboldt-Universität Berlin) Zur Idee der Philologie. Der Streit zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh........................................................................................ 143 Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore di Pisa/Chicago) Hermann gegen Creuzer über die Mythologie........................................... 165 Georg Danek (Wien) Gottfried Hermann und die Homerforschung ........................................... 181 Gauthier Liberman (Bordeaux) Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh. Révolution et contre-révolution en métrique ............................................. 197 Enrico Medda (Pisa) quid sit illud, quod regulam dicimus: Hermann e la critica inglese.............. 221

VI Roger D. Dawe (Cambridge) Hermann and Tragedy .................................................................................. 255 Martin L. West (Oxford) Hermannus de argumentis tragicis restituendis ....................................... 265 Marcus Deufert (Leipzig) Quid aliud est Plautina emendare quam ludere? Gottfried Hermanns Bedeutung für die Plautusphilologie des 19. Jahrhunderts....................................................................................... 277 Index .................................................................................................................... 299

Vorwort Der vorliegende Band enthält die Beiträge einer im Oktober 2007 veranstalteten Tagung, bei der Gelehrte aus sechs Ländern und vier Disziplinen sich zusammenfanden, um einen neuen Blick auf Gottfried Hermann zu werfen, einen der Heroen der Klassischen Philologie und ehedem berühmten, heute jenseits der Fachgrenzen nur noch wenig bekannten Leipziger Gräzisten der Goethezeit. Beabsichtigt war eine Bestandsaufnahme und kritische Würdigung von Hermanns Bedeutung für die allgemeine Geistesgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seiner Position in der Geschichte des Fachs. Innerhalb dieses Rahmens gliedert sich der Band in zwei größere Komplexe. Auf Studien zu Hermanns Leben und Wirken an der Universität Leipzig folgen Untersuchungen, die seinen Beziehungen zu Wilhelm von Humboldt und Goethe nachgehen, seine an Kant orientierte Methodologie und die in ihr angelegte Grammatiktheorie diskutieren und seine Wissenschaftsfehden mit August Boeckh und Friedrich Creuzer einer neuen Analyse unterziehen. Manches, was in den acht Beiträgen zur Sprache kommt, geht über die bisherige Forschung wesentlich hinaus. Dies gilt nicht minder für die nachfolgenden sechs, die sich der philologischen Praxis und Hermanns Umgang mit den Texten zuwenden, seinen Erfolgen in der Wiedergewinnung des Ursprünglichen ebenso wie seinen Schwächen. Drei Beiträge sind auf die griechische Tragödie bezogen, die das Zentrum seiner Arbeit bildet, drei weitere seiner Beschäftigung mit Homer, Pindar und Plautus gewidmet. Bei der Konzeption der Tagung war mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Anliegen auch ein systematisch-methodologisches Interesse verbunden. Steht Hermann doch wie kaum ein anderer für das Programm einer Textphilologie (oder, mit dem polemischeren Etikett, ,Wortphilologie‘), die zu den gegenwärtigen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Trends in der Klassischen Philologie eher quer liegt. Kein Wunder, dass er von den Anwälten der soft skills ignoriert oder marginalisiert wird. Aber auch die Textkritik, seine eigene Domäne, hat nach ihm eine andere Gestalt und eine geschichtliche Dimension hinzugewonnen, die ihm fern lag, und in einigen neueren Publikationen muss er sich gefallen lassen, dass eine Art Ultrakonservatismus ihn teils zu vereinnahmen sucht und teils bekämpft. Was also bleibt von seiner Philologie? Es war nicht immer schmeichelhaft, was die Referenten – eigentlich allesamt für Hermann eingenommen – in concreto bei ihm vorgefunden und in ihren Beiträgen erläutert haben, und im Verlauf der Tagung machte sich bei den Teilnehmern das etwas ambivalente Gefühl breit, dass da, Vortrag um Vortrag, auch eine gewisse Entzauberung eines unserer Helden stattfand. Als ein Ergebnis des Symposiums lässt sich in der Tat die Einsicht betrachten, dass das Bild, das die Wissenschaftsgeschichte von Hermann gezeichnet hat,

VIII in mancher Hinsicht verfälschend ist und der Revision bedarf. Das betrifft zum Teil schlicht die Präzisierung der Positionen, die er tatsächlich vertreten hat. Doch dieses sozusagen negative Resultat ist ja nur die eine Seite. Hermann galt zu seiner Zeit als der ,princeps philologorum‘ und hat als Lehrer und Forscher einen ungeheuren Einfluss ausgeübt, und ebenso wenig steht in Frage, dass wir ihm nicht nur etwa die ,Hermannsche Brücke‘ im Hexameter, sondern an sehr vielen Stellen auch das elementare Verständnis der Texte verdanken, mit denen wir alle umgehen. Das war der Ausgangspunkt des Symposiums. Die Vorträge haben teilweise ein ganz neues Licht auf die methodischen (und ,psychologischen‘) Grundlagen seiner Arbeit geworfen, teils haben sie gezeigt, worin er auch dort, wo er aus unserer Perspektive fehlging, uns heute noch etwas sagen kann. – Parallel zu der Tagung fand 2007 eine von der Kustodie der Universität Leipzig organisierte Ausstellung zu Gottfried Hermann statt. Alle wesentlichen Bereiche der Hermannschen Philologie werden im vorliegenden Band angesprochen – nur die Orphica hätten wohl auch einen eigenen Beitrag verdient, den der eine der beiden Herausgeber in einer gesonderten Publikation nachzureichen hofft. Wie Hermann selbst als Textkritiker in der Diskussion mit seinen englischen Kollegen das Prinzip der Anomalie gegenüber dem der Analogie verfochten hat, hielten wir es für reizvoll und geraten, an der Interdisziplinarität und Internationalität des Kolloquiums, bei dem neben vier modernen Sprachen auch die Charis von Hermanns sermo patrius sich vernehmen ließ, möglichst wenig zu rühren, sondern die Verschiedenheit der Wissenschaftsstile (etwa in der Zitationsweise) bei der Veröffentlichung weitgehend zu bewahren. Nur in einem Punkt, der vielleicht trivial erscheinen mag, aber den Leser irritieren könnte und darum hier erwähnt sei, haben wir normalisiert: kursiv gesetzt werden die Titel antiker Werke und von den neuzeitlichen die lateinischen, sofern es sich um Eigennamen und nicht um Appellative handelt (z. B. Elementa doctrinae metricae im Gegensatz zu ,Opuscula‘ oder ,Aeschyli tragoediae‘). Wir danken der Fritz Thyssen Stiftung, deren großzügige Förderung das Symposium und die Drucklegung des Tagungsbands ermöglicht hat. Unser Dank gilt ferner all denen, die an der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge mitgewirkt haben: Volker Dietz, Enrica Fantino, Bianca Hausburg, Ulrike Hoier, Felix Meister, Jonas Schollmeyer und besonders Sylvia Kurowsky. Dem Gunter Narr Verlag danken wir für die engagierte und sorgfältige Betreuung des Buchs. Leipzig, im März 2010

Kurt Sier, Eva Wöckener-Gade

Rainer Kößling

Gottfried Hermanns Leben und seine Bedeutung für die Universität Leipzig

Als er im Sommersemester 1795 sein Lehramt an der Universität Leipzig antrat, konnte Gottfried Hermann auf eine ansehnliche Reihe hervorragender Gelehrter zurückschauen, die hier einstmals die studia humanitatis befördert hatten, an ihrer Spitze Petrus Mosellanus und Joachim Camerarius. Doch hat wohl kaum ein zweiter von diesen allen in gleicher Weise erfolgreich, umfassend, nachhaltig und weithin als Forscher, akademischer Lehrer, Förderer der höheren Schulbildung sowie als Repräsentant der Universität gegenüber Landesherren, Stadtoberen und gelehrten Gremien gewirkt, wie es ihm beschieden sein sollte. Ein Indiz für die Fortdauer seines Gelehrtenruhmes mag auch in dem Umstand zu erkennen sein, dass Hermann Köchly, sein Schüler und Biograph, zu seinem 100. Geburtstage am 28. November 1872 die ,Gedächtnisrede auf Gottfried Hermann‘ an der Universität Heidelberg hielt. Nahezu sein ganzes Leben lang sollte Hermann in der Stadt Leipzig ansässig bleiben. Sie zählte um die Mitte des 18. Jahrhunderts circa 30 000 Einwohner. Durch Handel, Wandel und Gewerbefleiß, nicht zuletzt auch dank der Messen und der Entfaltung des Buchdrucks und Buchvertriebs, war ihre Bürgerschaft zu beträchtlichem materiellem Wohlstand gelangt. Den Wissenschaften wurde hier, wie im gesamten Herzogtum Sachsen, großzügige Förderung zuteil: Mit der Errichtung einer Schule hatten die Augustinerchorherren des Thomasklosters schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine erste Stätte wissenschaftlicher Ausbildung an der Pleiße geschaffen. Im Dezember 1409 erfolgte die Gründung eines Studium Generale, und 1512 eröffneten die Stadtväter mit der Nikolaischule eine zweite Lehranstalt; um die Mitte des 16. Jahrhunderts gründete Herzog Moritz die drei sächsischen Fürsten- und Landesschulen St. Afra in Meißen, Pforta bei Naumburg (jeweils 1543) und St. Augustin in Grimma (1550). An ihnen wie an anderen sächsischen Gymnasien wirkten meist hervorragende Gelehrte, von denen nicht wenige in Leipzig studiert hatten, und die wissenschaftlichen sowie persönlichen Kontakte zwischen der Leipziger Universität und den anderen sächsischen Bildungsstätten waren früh entstanden und zur Zeit Hermanns besonders eng. Gleich ihren Landesherren ließen sich insbesondere die wohlhabenden Bürger der ,Lindenstadt‘, von denen nicht wenige in ihrer Vaterstadt studiert und akademische Würden erlangt hatten, die Förderung der Wissenschaften, bildenden Künste sowie der Musik angelegen sein. Die Universität, in Gelehrtenkreisen außer als ,Studium Lipsiense‘, ,Academia Lipsiensis‘ oder ,Universitas litterarum Lipsiensis‘ auch mit dem grä-

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Rainer Kößling

zisierten Namen ,Philyrea‘, ,Philurea‘ bezeichnet, während die Stadt unter den Studenten ,Pleißathen’ hieß, verfügte dank landesherrlicher Großzügigkeit über respektable materielle Besitztümer. Insbesondere zur Rezeption des Renaissancehumanismus, aber auch zur Verbreitung der lutherischen Reformation in Mitteldeutschland hatte sie vormals ihren Beitrag geleistet und sodann im 17. und 18. Jahrhundert die wissenschaftlichen Studien durch glückliche Berufungen und dank der Wirksamkeit hervorragender Gelehrter zielstrebig befördert. Eine Zeitlang galt der obersächsische Dialekt als mustergültig, und im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts erstarkten hier auch Bestrebungen zur Erforschung und Normierung der deutschen Sprache. Hier nun wurde Gottfried Johann Jakob Hermann am 28. November 1772 geboren.1 Die Familie, welcher er entstammte, darf hinsichtlich ihres Vermögens und ihres sozialen Ranges als gutbürgerlich gelten. Der Vater Johann Jacob Heinrich Hermann (1731-1798), ein promovierter Jurist, war Advokat; seit 1778 gehörte er als Mitglied, später als Senior dem Leipziger Schöppenstuhl an, einem Kollegium, welches, in enger Verbindung mit der Juristenfakultät stehend, zu aktuellen Rechtsfragen beratend bzw. entscheidend Stellung bezog. Der knappen Charakteristik aus Köchlys Feder zufolge war er „ohne hervorragende Gaben, aber ein Biedermann von altsächsischem Schrot und Korn“.2 Immerhin gehörte zu seinen Wesenszügen ein hinlängliches Maß an Einsicht sowie menschlichem Verständnis. Als nämlich der Philologe Friedrich Wolfgang Reiz (1733-1790) ihm empfahl, seinem Sohn den von diesem erstrebten Wechsel von der Jurisprudenz zum Studium der antiken Sprachen nicht zu verwehren, stimmte er dem – gewiss nicht eben leichten Herzens – zu. Gottfrieds Mutter Anna Esther (1743-1823) wurde in Halle an der Saale als Tochter des Weinhändlers Plantier geboren, der von französischen Vorfahren abstammte. Gewinnend durch ihre hohe Intelligenz, ihre geistige Regsamkeit und die Liebenswürdigkeit ihrer Umgangsformen, könnte allein 1

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Von den zahlreichen Arbeiten zu Hermanns Leben und Wirken seien hier genannt: H. G. Kreußler, Beschreibung der Feierlichkeiten am Jubelfeste der Universität Leipzig den 4. Dezember 1809. Nebst kurzen Lebensbeschreibungen der Herren Professoren, Leipzig 1810 (zu Hermann: 65 f.). – O. Jahn, Gottfried Hermann, in: Biographische Aufsätze, Leipzig 21849, 91–132. – K. F. Ameis, Gottfried Hermanns pädagogischer Einfluß. Ein Beitrag zur Charakteristik des altclassischen Humanisten, Jena 1850. – H. Köchly, Gottfried Hermann, Heidelberg 1874. – C. Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, München/Leipzig 1883, 666–87. – U. von Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie (31927), Nd. Leipzig 1959, 49 f., 58. – E. Bethe, Gottfried Hermann, in: Sächsische Lebensbilder, hg. von der Sächsischen Kommission für Geschichte. Zweiter Band, Leipzig 1938, 198–206. – R. Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen (engl. 1976), München 1982. 219 ff. – E. G. Schmidt, Gottfried Hermann. 28. November 1772–31. December 1848, in: W. W. Briggs and W. M. Calder III (Hgg.), Classical Scholarship. A Bibliographical Encyclopaedia, New York 1990, 160–75. – Ein Teil von Hermanns Werken erschien in seinen ,Opuscula‘, vol. I–VII, Lipsiae 1827-1839; vol. VIII, ed. Th. Fritzsche, Lipsiae 1877. Nd. Hildesheim/New York 1970. Köchly (wie Anm. 1) 3.

Gottfried Hermanns Leben und seine Bedeutung für die Universität Leipzig

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sie, so behaupten Zeitgenossen, ihrem Sohne dieserart Eigenschaften vererbt haben. Seine Universitätsreife erlangte der junge Gottfried Hermann nicht durch den Besuch etwa einer der renommierten Leipziger Schulen, sondern gleichsam standesgemäß durch Privatunterricht. Lange Zeit war er ein renitenter, unkonzentrierter, sehr agiler Junge, den es stärker zu körperlichen Übungen zog als zu wissenschaftlicher Bildung und methodischer Schulung. Seinen ersten Lehrer namens Ritter scheint er durch seine starre Eigensinnigkeit an den Rand der Verzweiflung gebracht zu haben. Dem nächsten widerfuhr das jedenfalls nicht: Dieser war Karl David Ilgen (1763-1834), „eine von jenen naturwüchsigen und urkräftigen Schulmeisternaturen“,3 der nachmalige Rektor von Schulpforta.4 1783 hatte er das Studium der Theologie und Philologie in Leipzig begonnen und im Jahre darauf die Ausbildung Hermanns übernommen. Nur 9 Jahre älter als sein Schüler, erlangte er dank seiner imposanten Persönlichkeit dessen Respekt. Mit pädagogischem und didaktischem Geschick begabt und vermittels seiner gründlichen Gelehrtheit vermochte er ihm solide fachliche Grundlagen für eine tiefergehende Beschäftigung mit der antiken Literatur zu vermitteln und ihn auf diese Weise dafür auch zu begeistern. Während der beiden Jahre seines Unterrichts arbeiteten sie intensiv und auf wenige Texte konzentriert; so lasen sie zum Beispiel in den Griechischstunden lediglich zwei Kapitel aus Xenophons Memorabilien sowie vier Bücher der Ilias. Zeitlebens blieb Hermann dem Lehrer in Hochachtung und Dankbarkeit verbunden. Rund zwanzig Jahre später gedachte er in der an Ilgen gerichteten, mit dem 7. Mai 1806 datierten Epistola editoris, die er seiner Ausgabe der Homerischen Hymnen voranstellte, dessen Anteils an seiner beruflichen Entwicklung: Mit großem Vergnügen erinnere ich mich immer an jene Zeit, da ich Dich, Ilgen, Du hochverehrter Mann, zum Lehrer hatte. Es gibt nämlich niemand, dem ich so viel verdanke wie Dir. Ich war ein Junge von ungestümem Temperament und viel mehr den Waffen als der Wissenschaft zugeneigt; doch sobald Du mich unter Deine Fittiche genommen hattest, hast Du mich nicht nur mühelos gebändigt, sondern in mir bald auch eine so starke Liebe zu den Wissenschaften entfacht, dass es seit jener Zeit für mich nichts befriedigenderes gab als jene Studien, die mich auch jetzt noch fesseln, da ich zum Manne geworden bin.

Und am Ende des Briefes versichert er ihm, seit seiner Kindheit habe ihn Ilgen mit einer fast väterlichen Liebe bedacht, für die er ihm zeitlebens dankbar bleiben werde.5 3 4

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Köchly (wie Anm. 1) 20. Über Ilgen vgl. Fr. C. Kraft, Vita Caroli Davidis Ilgenii. Cum effigie Ilgenii praefixa, Altenburg 1837; H. Kaemmel, Ilgen, in: Allgemeine Deutsche Biographie 14, 1881, 19–23. Homeri Hymni et Epigrammata, Lipsiae 1806, iii und cxxii: „Magna cum voluptate recordari soleo illius temporis, quo te Ilgeni, vir summe reverende, magistrum habui. Nemo enim quisquam est, cui tantum, quantum tibi, debeam, qui simulac me, ferocis

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Rainer Kößling

Mit solcher Gründlichkeit philologisch ausgebildet und im Bewusstsein dessen zum Studium hoch motiviert, wurde Hermann bereits zwei Jahre später, am 27. April 1786, im Alter von noch nicht einmal vierzehn Jahren, an der Juristenfakultät der Leipziger Universität immatrikuliert. Das Studienfach entsprach dem Wunsche des Vaters, und dieser steuerte damit gewiss nicht zuletzt auch auf die künftige berufliche und materielle Absicherung seines Sohnes hin. Doch die einmal ausgeworfene Saat begann aufzugehen, und der Student widmete sich mehr und mehr der Philologie. Schließlich stimmte der Vater einem Wechsel des Studienfaches zu. Die Gräzistik und die Latinistik vertraten damals in Leipzig durchaus prominente Gelehrte. Zu ihnen gehörte Christian Daniel Beck (1757-1832). Er bekleidete das Rektorenamt immerhin dreizehn Male, hatte 1784 eine Philologische Gesellschaft ins Leben gerufen und wurde 1809 zum Direktor des neu gegründeten Philologischen Seminars ernannt.6 Hermann hörte seine Vorlesungen und hat später auch seiner verehrungsvoll gedacht.7 Außerdem studierte er bei den Philosophen Caesar und Platner, dem Mathematiker Töpfer und dem Physiker Hindenburg. Doch zur akademischen Bezugsperson des jungen Studenten wurde Friedrich Wolfgang Reiz (1733-1790), der ordentliche Professor der griechischen und lateinischen Sprache, dann auch der Poesie an der Leipziger Universität.8 Schon Ilgen war sein Schüler gewesen. Als eine höchst glückliche Fügung hat Hermann seine Ausbildung bei Reiz später bezeichnet.9 Die

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ingenii puerum, et ad arma quam ad litteras paratiorem, in disciplinam acceperas, non modo domuisti facillime, sed mox etiam tanto litterarum amore incendisti, ut ex illo tempore nihil his studiis, quibus nunc quoque vir factus teneor, haberem iucundius“. […] „illud autem proprium habeo, quod me non modo pluribus, quam alios, ac maioribus tibi meritis obstrinxisti, sed etiam ab ipsa pueritia mea eo es amore complexus, qui paternum aequaret. Quo amore tuo ut nihil mihi dulcius est, ita me, quoad vivam, iure tuum vocabis“. Über Beck vgl. Hermann, Oratio in creatione aa. ll. Magistrorum et Philosophiae Doctorum A. MDCCCXXXIII. Post obitum Chr. D. Beckii, Opuscula V 312–21; C. F. A. Nobbe, Vita Christiani Danielis Becki memoriae prodita, Leipzig 1837; Fr. A. Eckstein, Allgemeine Deutsche Biographie 2, 1875, 210–12. Eine Festrede anlässlich der Magister- und Doktorpromotionen im Jahre 1833 nahm Hermann zum Anlass, im Gedenken an Beck sein Verhältnis ihm gegenüber zu schildern sowie Becks Persönlichkeit und Gelehrsamkeit zu würdigen; darin heißt es (wie Anm. 7, 313): „Illud tantum propositum habeo, pietati ex aliqua parte satisfacere quum nostrum omnium, tum meae ipsius, qui illum adolescens magistrum, post in omnibus quos in Academia nostra consequutus sum honorum gradus testem, comitem, adiutorem habui. [...] Nam eruditio, quo uno nomine omnes quas in homine litterato sitas esse virtutes oportet intelligimus, quum his tribus rebus contineatur, doctrina, ingenio, liberali cultu: harum nulla est quae in Chr. D. Beckio non fuerit eximia ac plane singularis“. Über Reiz vgl. Hermanns Rede auf der 7. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1844 in Dresden, 6–11 = Opuscula VIII 453–63. „Ex Ilgenii disciplina admissus sum ad Fr. V. Reizium, virum ut probitate, ita doctrina ingenioque incomparabilem, quo quod praeceptore uti mihi contigit, in summa felicitate

Gottfried Hermanns Leben und seine Bedeutung für die Universität Leipzig

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Kontakte zwischen beiden gingen über den Rahmen des Unterrichts hinaus: „Er wurde Hermann’s Lehrer, nicht nur in seinen Vorlesungen, sondern auch im vertrauten häuslichen Verkehr; er war vorzugsweise geeignet, das rasch lodernde Feuer seines genialen Schülers nicht zu dämpfen, aber zu mäßigen, und das in ihm auszubilden, was ohne einen solchen Einfluss vielleicht weniger entwickelt worden wäre“. Mit diesen Worten charakterisierte Otto Jahn in seiner Gedächtnisrede auf Hermann das Verhältnis des Gelehrten zu seinem jungen Studenten.10 Reiz hatte sich als Editor unter anderem der aristotelischen Rhetorik (1785) und Poetik (1772), später auch des plautinischen Rudens (1789) verdient gemacht. Seinem Schüler vermittelte „der hinsichtlich seiner Rechtschaffenheit, Gelehrtheit und Begabung unvergleichliche Mann“ (Hermann [Anm. 10]) nicht allein Faktenkenntnisse, sondern vor allem und nachhaltig zwei methodische Grundsätze für die wissenschaftliche Arbeit: ,Widme dich keinesfalls mehreren, sondern jeweils nur einem einzigen antiken Autor!‘ ,Übernimm keine wissenschaftliche These vertrauensvoll, sondern prüfe die Zusammenhänge immer selbst!‘11 Sie sollten, gefestigt und vertieft durch philosophische Grundsätze Immanuel Kants, hinfort Hermanns philologische Arbeit entscheidend und nachhaltig prägen. Nachdem Hermann am 19. Dezember 1790 in Leipzig zum Magister Liberalium Artium promoviert worden war und 1793 die Ergebnisse seiner Studien über die Grundlagen des Strafrechts in der Arbeit De fundamento iuris puniendi dissertatio12 veröffentlicht hatte, wandte er sich der Beschäftigung mit der Philosophie Kants zu und verbrachte das Wintersemester 1793/94 an der Universität Jena mit dem Besuch einschlägiger Vorlesungen. Nach Leipzig zurückgekehrt, traf er alle Vorbereitungen für seinen Eintritt in die akademische Laufbahn. Mit der Abhandlung De poeseos generibus13 habilitierte er sich hier als ,Magister legens‘, als Privatdozent. Im Sommersemester 1795 begann er zu lehren, und zwar über Kants Theorie der Urteilskraft sowohl als auch über die Antigone des Sophokles. Doch in der Folgezeit wandte er sich nahezu ausschließlich der Klassischen Philologie als Lehrund Forschungsbereich zu. Die Gegenstände seiner Vorlesungen bildeten fortan und zeit seines Wirkens die griechische und lateinische Syntax und Stilistik, die griechische Literatur, Poesie, Poetik, Mythologie; hinzu kamen die Methodologie der Philologie, Hermeneutik und Kritik. In seinen Semi-

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puto“ (Acta Societatis Graecae, edd. A. Westermannus, C. H. Funkhaenel, Vol. I. Praefatus est G. Hermannus, Lipsiae MDCCCXXXVI, vii). O. Jahn, Gottfried Hermann, in: Biographische Aufsätze, Leipzig 1866, 96 f. Acta Societatis Graecae I (wie Anm. 10), ix: „Huius igitur viri quum et publica et privata institutione uterer, praeter multa praeclara quae ab eo didici, haec ei duo potissimum debeo, primum ut non multos simul scriptores, sed unum quoque tempore solum legerem, deinde ut non credere temere, sed cogitare adsuescerem et in caussas cuiusque rei inquirere. Utrumque quantam utilitatem afferat non est obscurum“. Hermann, Opuscula I 1–19. Hermann, Opuscula I 20–43.

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Rainer Kößling

naren behandelte er überwiegend die Werke griechischer Autoren, vor allem der Dichter, von Homer und Hesiod über die Tragiker, sodann Aristophanes und Pindar, die Bukoliker Theokrit, Bion und Moschos, bis zu Nonnos und dessen Paraphrase des Johannesevangeliums, zudem die Opera der Prosaiker Thukydides, Platon und Aristoteles; von den Texten römischer Dichter waren es die des Plautus, Terenz und Lukrez, die er interpretierte. Die Übersicht der Themen seiner Lehrveranstaltungen, wie sie Köchly zusammengestellt hat,14 lässt die enge Verbindung zwischen den Akzenten in der Lehre und jenen, die Hermann in der Forschungsarbeit setzte, erkennen. Sie bezeugt jedoch ebenfalls, mit welch hohem Pflichtbewusstsein er sich dem Unterrichten widmete: Ohne irgendeine Unterbrechung dozierte er vom Sommersemester 1795 bis zu seinem Tode im Wintersemester 1848/49. Die Erfolge in der Lehre, insbesondere aber auch seine wissenschaftlichen Arbeiten, beförderten bald Hermanns beruflichen Aufstieg. Er hatte mehrere Publikationen zur antiken Metrik verfasst,15 dazu Untersuchungen zur Textkritik des Aischylos und Euripides (1797) und eine Ausgabe der aristotelischen Poetik (1802). Bereits 1798 wurde er, sechsundzwanzigjährig, zum außerordentlichen Professor der Philosophie berufen. Als nach dem Tode August Wilhelm Ernestis die Professur für Beredsamkeit vakant geworden war, schlug die Universität neben „anderen geeigneten Subjekten“ für die Neubesetzung auch Gottfried Hermann vor. In der Begründung für ihn (und seinen Mitkandidaten Eichstädt) vom August 1802 hieß es: […] so haben selbige nicht allein durch fleissige Vorlesungen vornehmlich über alte, griechische und römische Schriftsteller, zu nutzen gesucht, sondern auch durch kritische Bearbeitung und Ausgaben theils einzelner Stücke theils ganzer Werke der alten Classiker sowie durch eigene, mit Sachkenntniß und Scharfsinn abgefasste Schriften sich vielen Ruhm selbst im Auslande erworben.

1803 erhielt Hermann die ordentliche Professur der Beredsamkeit. Welche Beweggründe das Ministerium zu dieser Entscheidung veranlasst hatten, ließ der Text der Urkunde vermuten. Darin stand, die Professio Eloquentiae werde „auf der Universität zu Leipzig dem Professori Philosophiae ordinario zu Leipzig, M. Gottfried Hermann, in Betracht der von ihm in mehreren öffentlichen Schriften dargelegten gründlichen Gelehrsamkeit und vertrauen Bekanntschaft mit der griechischen und römischen Litteratur, und weil wir ihn eben zu dieser Professur vorzüglich qualifiziert erachten“, übertragen.16

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Köchly (wie Anm. 1) 193–96. De metris poetarum Graecorum et Latinorum libri III, Leipzig 1796; Handbuch der Metrik, Leipzig 1799. Dresden, den 1. X. 1803. – Beide Schreiben befinden sich im Universitätsarchiv Leipzig (UAL) im Ordner mit der Signatur PA 571.

Gottfried Hermanns Leben und seine Bedeutung für die Universität Leipzig

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Mit der Disputatio De differentia prosae et poeticae orationis trat er das Lehramt an, und 1809 kam die damit verbundene Professur der Poetik hinzu. In dieser Zeit, am 29. September 1803, heiratete Hermann Christiane Wilhelmine (1777-1841), eine Tochter aus der renommierten Leipziger Familie Schwägrichen, deren Vater Johann Gottfried ein Kaufmann war. In einer glücklichen Ehe schenkte sie ihm drei Söhne, welche auf die Namen deutscher Könige getauft wurden: Otto (der als Student beim Versuch, einen Freund vor dem Ertrinken in der Elster zu retten, zusammen mit diesem ertrank), Rudolf (der bald nach der Geburt starb) und Conrad (der später Philologie studierte), und drei Töchter, die ebenfalls fürstliche Namen erhielten und später Gelehrten angetraut wurden: Mathildis dem Theologen Naumann, Louise dem Philologen und ersten Leipziger Professor für Germanistik Moriz Haupt und Wilhelmina dem Klassischen Philologen Franz Volkmar Fritzsche. Während der folgenden Jahre, die von den Ereignissen der napoleonischen Herrschaft, des Russlandfeldzuges, der Völkerschlacht bei Leipzig, dann von dem Wiener Kongress sowie den Karlsbader Beschlüssen geprägt waren, enthielt Hermann sich weiterhin weitgehend eines politischen Engagements. An seiner treuen Ergebenheit gegenüber dem sächsischen Fürstenhaus ließ er gleichwohl keinen Zweifel. Im Vordergrund standen für ihn sein Wirken im Lehramt, in dem er über die Grenzen des Faches hinaus attraktiv und erfolgreich blieb, und seine Forschungsarbeit.17 Gleich seinem einstigen Vorgänger im Lehramt, Joachim Camerarius (1500-1574), war er ein ebenso begeisterter wie geübter Reiter.18 Im persönlichen Umgang war Hermann freundlich, verbindlich, urban und durchaus nicht ohne Humor. Davon zeugen unter anderem seine zahlreichen Briefe an Freunde, Lehrer und Kollegen. Als Beispiel hierfür mag ein Antwortschreiben an den sächsischen Philologen und Gymnasialrektor Friedrich Lindemann (1792-1854) dienen, über dessen Arbeiten Hermann sich gelegentlich auch durchaus kritisch geäußert hat. Nach seinem Studium in Wittenberg (bei Lobeck) und in Leipzig (bei Beck und Hermann) war er Rektor des städtischen Gymnasiums in Zwickau geworden und hatte Hermann neben einem Prisciantext ein griechisches Poem gesandt; dieser verbesserte darin einiges, um dann fortzufahren: 19 ,Du hast mir freundlich ein 17

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Eine knappe kritische Würdigung der philologischen Arbeiten Hermanns und des prägenden Einflusses, der auf seine Schüler sowie deren Wirken ausstrahlte, hat bereits Wilamowitz (wie Anm. 1) 49 f. gegeben. Gleich diesem bezog er in seine Untersuchungen auch die griechischen Bezeichnungen für die verschiedenen Gangarten des Pferdes ein: Commentatio de verbis quibus Graeci incessum equorum indicant ad Xenophontem de re equestri cap. VII, Opuscula II 63–80. UBL, MS 0661, pag. 7: „Sed vide, quid agam? Carmen, quod tu amico misisti, censori potius misisse putabis. Verumtamen si me nosti, ea ipsa re amicitiam meam cognosces. Miserunt enim etiam alii mihi carmina, in quibus est (?), cui nihil censorium scripsi. Nec poteram, nisi voluissem    μ    

 μμ remittere“.

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Gedicht gesandt, und was tue ich? Ich spiele den Zensor. Doch wenn Du mich kennst, wirst Du daraus meine Freundschaft zu Dir erkennen. Andere sandten mir ebenfalls Gedichte, die manches enthalten, das ich nicht korrigiert habe – was ja auch nur möglich gewesen wäre, wenn ich Ihnen mit etwas hätte antworten wollen, das aus ihrer Pseudo-Sprache ins Griechische zurückübersetzt ist‘. Will sagen: Anderen habe ich ihre Texte nicht korrigiert, weil diese so ungriechisch waren, dass ein Verbesserungsversuch nicht lohnte – aber Dein Gedicht verdient die Korrektur. Ein anderer Brief, datiert auf den 20. September 1822, enthält die eindrucksvolle Beschreibung der Umgebung sowie des Schlosses von Heidelberg, das er auf einer Wanderung entlang der Bergstraße besucht hatte; ein knapper Auszug daraus mag zeigen, welche Begeisterung Hermann ergriffen hatte und wie er sie zu vermitteln verstand: 20 Wir wanderten durch das Ende der Bergstrasse, erfahren, dass wir nur noch ein halbes Stündchen von Heidelberg entfernt sind, es ist uns unerklärlich wie das Neckartal, wie Heidelberg uns noch versteckt seyn kann, da kommen wir in ein Dörfchen, Neuenhain, demselben [sic] wo Luther auf seiner Reise nach Worms übernachtete, wir treten heran da lag Heidelberg am Fuß der waldigen Berge, oben thronten ernst die herrlichen Ruinen des Schlosses, zu den Füssen fließt der Neckar, reges Treiben belebte ihn, o es wird dieser Augenblick mir stets unvergesslich seyn. So bald als möglich erstiegen wir den Schlossberg, besuchten das Schloss, so etwas Grosses und Erhabenes habe ich noch nie gesehen, der Umfang, die Lage, die Bauart, die Verzierungen alles groß, schön, zur Bewunderung und zum Staunen hinreißend […]. Doch auch abgesehen von der Schönheit der Ruine, welch eine herrliche Aussicht genießt man von der Terrasse, nach meinem Gefühl übertrifft sie die auf der Brühlschen in Dresden bei weitem. Ich unterlasse jede Beschreibung, da ich nur zu gut weiß, wie eine solche ein Meisterstück seyn muß, soll sich nicht anders der Leser dabei langweilen, besser wäre es Alle Ihr Lieben setztet Euren Wanderstab auch hierher und sähet selbst dass ich viel viel zu wenig gesagt habe. Den alten Vater Voss haben wir gestern auch besucht, höchst interessant war sein Gespräch, seine Belehrung; sie Dir, guter Robert mündlich mitzutheilen behalte ich mir vor. Kreutzer war verreißt, das that mir unendlich leid, gern hätte ich ihn kennen gelernt.

Dass es Hermann auch nicht an Humor fehlte, bezeugen unter anderem einige seiner Gedichte, die er an Freunde wie z. B. August Hermann Niemeyer, den Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle, sandte.21 Nicht wenige der an seine Freunde gesandten Briefe Hermanns enthielten auch Schilderungen seiner Lebenssituation. Ernst Platner teilte er mit, die Theologische Fakultät in Rostock habe ihn „zum Doctor der Theologie creirt

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Das Original befindet sich in der Bibliothek des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig mit der Signatur Autogr. 48. F 7, R 15. Viro summo Augusto Hermanno Niemeyero ... tres absentes amici, Opuscula III 350–53.

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[…]. Es kam mir vor als hätte man mir eine Allongeperücke über den Kopf gestülpt“. Und später schilderte er das Innere seines Arbeitszimmers: 22 Wollen Sie nun sich in Gedanken zu mir versetzen, so denken Sie sich in das Paulinum, in die Wohnung ihres Vaters, die mir nach seinen Tode zu Theil geworden ist, in die Stube neben dem Cabinete, in dem ihr Vater arbeitete, und mich, wie ehemals, unter Büchern, Papieren, Pfeifen, Handschuhen, Sporen und ähnlichen Dingen bunt durch einander. Da sitze ich jetzt am Ofen und schreibe an Sie, und denke der alten Zeiten.

Hermanns Bedeutung für die Universität Leipzig lässt sich knapp auf hauptsächlich vier Gebieten zusammenfassen: dem der Forschung; dem der Lehre und der Förderung begabter Studenten; in seinem Mitwirken an der universitären Selbstverwaltung und nicht zuletzt in der Repräsentation der Universität bei festlichen Anlässen. Im Mittelpunkt seiner philologischen Arbeiten stand zunächst die Erforschung der antiken Metrik.23 Diese Studien sowie die Untersuchungen zur antiken Mythologie waren es, die Goethes Aufmerksamkeit erregten und ihn zu einer hohen Wertschätzung des Leipzigers führten. Am 9. September 1820 schrieb er an ihn: „Von großer Wichtigkeit sind allerdings die Überlieferungen, in welchen das Kennerauge, durch eine späte Hülle, noch immer den alten Kern zu entdecken vermag. Und so möge auch Ihnen ewiger Dank bleiben, dass Sie den alten griechischen Kern uns unverhüllt bewahren …“; und im selben Jahre notierte er in seinen Tag- und Jahresheften: 24 „Hermanns Programm ‚Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie’ empfing ich mit der Hochachtung, die ich den Arbeiten dieses vorzüglichen Mannes von jeher gewidmet hatte: Denn was kann uns zu höherem Vorteil gereichen, als in die Ansichten solcher Männer einzugehen, die mit Tief- und Scharfsinn ihre Aufmerksamkeit auf ein einziges Ziel hinrichten?“ Persönliche Begegnungen in Leipzig, wo Goethe ihn eines Tages unverhofft aufsuchte und zur Abfassung einer deutschen Metrik zu gewinnen trachtete, und während eines Kuraufenthaltes in Karlsbad25 steigerten die gegenseitige Hochachtung. Wiederholt hat Goethe mündlich oder brieflich bekannt, dass er Hermann eine Fülle an Anregungen zur Beschäftigung mit Dramen der griechischen

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H. Schöne, Neun Briefe Gottfried Hermann’s an E. Platner, C. B. Meißner, L. Spengel, H. Härtel, in: Festgabe der Philosophischen Fakultät der Königlichen Universität in Greifswald zum 350jährigen Jubiläum des Städtischen Gymnasiums in Greifswald, Greifswald 1911, 13 f. In seinen Arbeiten versuchte er, die Grundlage der rhythmischen Gestaltung allein aus dem Wesen der Sprache zu erklären und nicht auch aus dem Element der Musik. Neben den bereits oben genannten Arbeiten erschienen 1816 die Elementa doctrinae metricae und hiervon eine Epitome doctrinae metricae (1819, 41869). Goethe. Berliner Ausgabe. 2. Aufl., Bd. 16. Poetische Werke, 1973, 305. – Zu ,Goethe und Hermann‘ vgl. in diesem Band den Beitrag von Christoph Michel. „Mit Professor Hermann aus Leipzig führt mich das gute Glück zusammen, und man gelangt wechselseitig zu näherer Aufklärung“, Goethe (wie Anm. 29) 310.

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Klassiker verdankte, und Hermann widmete ihm, ,der den zarten Geist der griechischen Muse den Deutschen nahe gebracht hat‘, seine Ausgabe der euripideischen Iphigenie in Aulis.26 Auch Schiller und Wilhelm von Humboldt zollten Hermanns Arbeiten Anerkennung. Wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung kam seinen Untersuchungen zur griechischen Grammatik zu: „Indem H[ermann] der Grammatik die Aufgabe zuweist, das Wesen und die Gestaltung der Sprache aus der menschlichen Vernunft als ihrer Quelle zu erklären, verlangt er anstatt der bisher üblichen empirischen eine rationelle Behandlung des grammatischen Stoffes“.27 Bereits 1801 hatte er seine Abhandlung De emendanda ratione Graecae grammaticae pars I vorgelegt und darin auch die antike grammatikalische Überlieferung kritisch beleuchtet und korrigiert. Andere Abhandlungen folgten, so jene über Ellipse und Pleonasmus und eine weitere De particula . Zu wichtigen Erkenntnissen ist Hermann weiterhin auf dem Gebiet der Textkritik und bei der Interpretation antiker Autoren gelangt. Des Interpreten Aufgabe erörterte er in einer eigenen Schrift28 ausführlich und akzentuierte auch hierbei die Verbindung von Kritik und Textauslegung. Seine editorische Arbeit war umfangreich und erfasste die Hauptvertreter der griechischen Poesie, wie er sie auch in seinem Unterricht zu behandeln pflegte, so die Tragiker Aischylos, Sophokles, Euripides, dann Aristophanes und Pindar, die Homerischen Hymnen und die Orphica, um die wichtigsten zu nennen; daneben die aristotelische Poetik. Die Solidität und Genialität seiner Arbeit zeigen sich noch heute darin, dass nicht wenige seiner Emendationen die Zeiten überdauert haben. Auseinandersetzungen über wissenschaftliche Probleme blieben bei einem so intensiven und reichen Forschungsvolumen nicht aus. Zunächst mit Georg Friedrich Creuzer (1771-1858) über das Wesen der antiken Mythologie, sodann mit Friedrich Gottlieb Welcker (1784-1868) über die Struktur der antiken tragischen Trilogie sowie mit diesem und August Boeckh (1785-1867) über die griechischen Inschriften.29 Während in dem letzteren Disput Hermann die Sprache über alles in der Überlieferung und Exegese stellte, ord26

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Goethio Taurica Iphigenia Spiritum Graiae Tenuem Camenae Germanis Monstratori D. G. H. – In seinem Dankesbrief vom 12. November 1831 schrieb Goethe an Hermann, dieser habe ihn „so oft aus düstern kimmerischen Träumen in jenes heitere Licht- und Tageland gerufen und versetzt, daß ich Ihnen die angenehmsten Augenblicke meines Lebens schuldig geworden“ (Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV. Abtheilung, 49. Band, 1909, 137 ff., 369 f.). C. Bursian, Allgemeine Deutsche Biographie XII 176. – Vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Eva Tichy und Michael Schramm. De officio interpretis, Opuscula VII 97–128. – Vgl. den Beitrag von Roger Dawe. E. Vogt, Der Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie, in: H. Flashar/K. Gründer/A. Horstmann (Hgg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, 103–21. – Vgl. die Beiträge von Thomas Poiss und Gauthier Liberman.

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nete Boeckh sie weiteren Faktoren gleich. Ausgenommen den Konflikt mit Welcker, hat Hermann die Kontroversen als ein Gentleman geführt und sachliche Differenzen nie auf Personen übertragen.30 Sein wissenschaftliches Werk genoss sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern beträchtliches Ansehen. Mehrere Akademien wählten ihn zu ihrem Mitglied, darunter die von Petersburg und Rom. Er gehörte zur Gruppe jener dreizehn Leipziger Gelehrten, die am 3. April 1845 die Errichtung einer Gesellschaft der Wissenschaften anregten. Nachdem am 1. Juli 1846 die Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften – die nachmalige Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig – gegründet worden war, stand Hermann ihr als Sekretar der philologisch-historischen Klasse bis zu seinem Lebensende vor. Wie an anderen Hochschulen gab es auch an der Leipziger Universität seit längerem zahlreiche wissenschaftliche Sozietäten, welche sich eine intensive Pflege von Sprache, gesprochenem Wort oder Dichtung zur Aufgabe gestellt hatten. Die bekannteste davon ist wohl – nicht zuletzt dank Gottscheds zeitweiligem prägendem Wirken – die Deutsche Gesellschaft geblieben.31 Auf Bitten seiner Studenten hin gründete Hermann gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine derartige Societas zwecks Übung der Interpretation antik-griechischer Texte. Als an der Universität noch weitere ähnliche Vereinigungen entstanden waren, erhielt sie zur öffentlichen Präzisierung ihres Anliegens im Jahre 1805 den Namen ,Societas Graeca‘. Ihre Mitgliederzahl blieb begrenzt, die Aufnahme war begehrt und setzte eine besondere Leistung voraus. Unter Hermanns Leitung pflegten die Studierenden eine sehr vielfältige Palette von Themen zu erörtern: Neben Problemen der Textkritik standen solche der Textüberlieferung, sachliche Erläuterungen einzelner Stellen bei verschiedenen Autoren, semantische Probleme und historische Ereignisse. Bis an sein Lebensende blieb ihr Gründer dieser, seiner Societas treu und verantwortungsbewusst verbunden. ,Im Jahre 1815‘, so erinnerte er sich drei Jahrzehnte später in der Vorrede zu den Acta Societatis Graecae,32 ,erlangte ich von König August, dass diese Gesellschaft nicht allein ihre offizielle Anerkennung erfuhr, sondern ihr auch drei königliche Stipendien für die jeweils vorzüglichsten Mitglieder gewährt wurden‘. Im Ergebnis seiner Arbeit und seiner Hingabe, aber auch ihres Fleißes und ihrer Begeisterung 30

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Mit Bezug auf Hermanns Erhebung in den Ritterstand schrieb Wilamowitz (wie Anm. 1) 49: „Er war ein Ritter in jedem Sinne der Wortes und liebte den Kampf, aber er führte ihn ritterlich“. – Vgl. die Beiträge von Enrico Medda, Glenn Most und Martin West. D. Döring, Johann Christoph Gottsched und die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, in: Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hg. von K. Nowak und L. Stockinger, Stuttgart/Leipzig 2002, 111–30. (wie Anm. 10, xviii): „Impetravi autem anno MDCCCXV. ab rege Friderico Augusto, ut ea societas non solum publica auctoritate agnosceretur, sed etiam donaretur tribus regiis stipendiis, quibus fruerentur qui quoque tempore inter socios ordine primos essent”.

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gingen aus der ,Griechischen Gesellschaft‘ zahlreiche spätere Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren von Rang hervor, und sie wirkten in verschiedenen Regionen Deutschlands, in Russland sowie der Schweiz höchst erfolgreich bei der Erforschung und Vermittlung der Humaniora,33 unter ihnen Westermann, Bergk, Reisig, Passow und Dindorf. Eine Griechische Gesellschaft gründete später auch Hermanns Schüler Christian August Lobeck (1781-1860), der nachmalige Königsberger Ordinarius, an der Universität Wittenberg. Die Philologische Gesellschaft an der Universität Leipzig war am 12. Mai 1809 in den Rang eines Königlichen ,Seminarium philologicum‘ erhoben worden; sein Zweck bestand in einer Förderung der klassischen Studien und der Ausbildung geeigneter Gymnasiallehrer.34 Die Leitung hatte Christian Daniel Beck inne. Als nach dessen Ableben die Direktorenstelle wiederum zu besetzen war, befürchtete Hermann, das Ministerium könnte ihn mit dessen Leitung betrauen und gleichzeitig seiner Societas Graeca ihre Eigenständigkeit nehmen. Deshalb lehnte er zunächst vorsorglich deren Übernahme ab.35 Die Wertschätzung, deren Hermann sich damals weithin erfreute, deutet der Physiker und vorjährige Rektor Heinrich Wilhelm Brandes in einem Brief vom März 1834 an den Dekan an.36 Er äußert darin die Befürchtung, das Ministerium bringe den Verdiensten „des von ganz Europa mit Ehrerbietung genannten Hermann“ nicht die gebührende Anerkennung entgegen; auch, so fährt er fort, „ist es uns unmöglich, den tiefen Schmerz zu unterdrücken, den es in uns erregt hat, zu sehen, daß ein Mann, der die größeste [sic] Zierde unserer Universität ist, um welchen Sachsen seit länger als dem Drittel eines Jahrhunderts beneidet ist, und der noch immer mit voller Kraft und Thätigkeit wirkend zu den beliebtesten und nützlichsten Docenten unserer Univer-

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Darauf hat Hermann selbst in seiner Vorrede zu den Acta Societatis Graecae mit Stolz hingewiesen (wie Anm. 10, xxiv f.): „Vix ulla non modo in Saxonia, sed in Germania illustrior schola aut litterarum universitas est, in qua non doceant viri qui aliquando Societati Graecae fuerint adscripti. Quin etiam extra Germaniam, ut Petropoli et complures in Helvetia, ac potissimum in carissima mihi iterato hospitio urbe Turici per illius societatis opportunitatem habeo mei memores mihique dilectos amicos”. Zur Geschichte des Philologischen Seminars s. J. H. Lipsius, Das Philologische Seminar, Proseminar und Institut, in: Die Institute und Seminare der Philosophischen Fakultät an der Universität Leipzig. Die philologische und die philosophisch-historische Sektion 1409-1909, Leipzig 1909. In seiner Randbemerkung zum Entwurf des einschlägigen Schreibens des Dekans Krug an das Ministerium schrieb Hermann bezüglich der Stellenbesetzung: „[…] bitte ich, damit das Hohe Ministerium nicht etwa an mich denke, und, wie es zu thun pflegt, sofort eine Anordnung erlasse, die ich ablehnen müsste, da, wo ich ein Zeichen gemacht habe, noch folgenden Zusatz zu machen: Einen solchen hoffen wir in dem Manne zu erhalten, welchem das Hohe Ministerium die erledigte Professur der Griechischen und Lateinischen Sprache übertragen wird“. Der Dekan übernahm diesen Zusatz. (UAL Phil. Fak. B 1/14:31, Bl. 310). UAL Phil. Fak. B 1/14:31, Bl. 381 f.

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sität gehört, sich nicht in vollem Grade der belohnenden Aufmunterung von Seiten eines Hohen Ministerii erfreut, die er in so hohem Grade verdient“. Schließlich übertrug das Ministerium Hermann die Leitung am 10. Mai 1834 dennoch und bezog dabei unter Berücksichtigung seiner Änderungsvorschläge die Societas Graeca in das Königlich Philologische Seminarium mit ein.37 Am 1. August 1834 wurde es von Hermann eröffnet. Die Grundlagen der Arbeit in diesem Rahmen legte er in seiner bereits genannten Untersuchung De officio interpretis dar. Zu den Aufgaben des Ordinarius für Dichtung und Beredsamkeit gehörte die Repräsentation der Universitas bei besonderen Feierlichkeiten mittels Festreden oder -gedichten. Eine überaus große Anzahl solcher Texte belegt, auf welche Weise Hermann auch diesen Obliegenheiten pflichtbewusst und jeweils mit der ihm eigenen Intelligenz nachgekommen ist. Abgesehen von den nicht gleichermaßen spektakulären Anlässen wie etwa den Geburtstagen oder den Amtsjubiläen betagter Kollegen etc. waren es gelegentlich politische Anlässe, so die von Napoleon vorgenommene Erhebung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August zum König (1806), hauptsächlich aber die Jahrhundertfeiern, zu denen die Stimme der Hohen Schule mit würdevollem, feierlichem Klang zu ertönen hatte: so im Dezember 1809 die Jubelfeier der Universität anlässlich ihres 400. Gründungstages, so am 31. Oktober 1817 das Gedenken an die Veröffentlichung der Thesen Martin Luthers oder im Sommer 1839 die Erinnerung an die Einführung der Reformation in Leipzig; hinzu kamen die Säkularfeiern der Fürstenschulen von Meißen und Pforta (1843). Hermann würdigte diese Ereignisse mit bemerkenswerter Sachkenntnis, in klarer, eleganter lateinischer Prosa und mit rhetorischer Brillanz; nicht selten wählte er auch eine metrische Form. Insbesondere die Prosatexte enthalten nicht wenige Selbstbekenntnisse und Urteile ihres Verfassers. In seinem Vortrag zum Bittgottesdienst für den König entwarf er gleichsam einen von Idealen der Aufklärung geprägten Fürstenspiegel (1807). Darin erkannte er den ersten Platz unter den fürstlichen Tugenden, statt der traditionellen fortitudo, der sapientia zu; diese wiederum gliederte er in prudentia et iustitia und leitete von diesen beiden die für das Regiment eines modernen Staates erforderlichen Qualitäten im einzelnen

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Das Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts teilte dann am 5. März 1834 der philosophischen Fakultät seinen Entschluss mit; in ihm hieß es u. a. (UAL Phil. Fak. B 1/14:31, Bl. 374): „Es kam hierbei hauptsächlich darauf an, theils die von dem Professor der Poesie und Beredsamkeit D. Gottfried Hermann vorlängst gestiftete und mit Auszeichnung geleitete, griechische Gesellschaft, in ihrer der Universität Leipzig so ehrenvollen, nützlichen Wirksamkeit zu erhalten, theils eine ähnliche zweckmäßige Einrichtung für Übungen in der lateinischen Literatur, auf welche die griechische Gesellschaft, nach ihrer stiftungsmäßigen Bestimmung, sich nicht ausdrücklich mit erstreckte, zu treffen, theils endlich den Studierenden Gelegenheit zu verschaffen, in Beurtheilung und Behandlung archäologischer Gegenstände, und allem, was das eigentlich Reale der Alterthumswissenschaft betrifft, besondere Anleitung und Übung zu erhalten“.

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her. Dabei erging an den Herrscher die Mahnung, an die Stelle der privata virtus habe das Wirken für die Allgemeinheit zu treten.38 Seiner Religiosität, dies soll hier wenigstens angedeutet werden, verlieh er auch in dem Vortrag auf der Feier zum Reformationsjubiläum in Leipzig Ausdruck. Darin hieß es: ,Überhaupt ist nichts ewig außer jener Notwendigkeit, von welcher die Welt regiert wird, sei es nun, dass wir sie mit ebendieser Bezeichnung Notwendigkeit oder ehrfurchtsvoll Gott nennen. […] Es gibt nämlich, wenn wir es recht betrachten, lediglich eine Religion des Menschengeschlechts, in der [die Menschen] jene Kraft als Lenkerin aller Dinge sowohl verehren als auch fürchten.‘39 Darauf folgen Bezüge auf Zeitprobleme. Er schließt mit der Hoffnung, es möchte sich doch die Erkenntnis durchsetzen, welche die Vernunft lehrt, welche die heiligen Schriften verkündet und die Reformatoren verfochten haben, ,dass nämlich nicht die Tugend um der Religion willen zu verehren sei, sondern dass die Religion den Menschen gegeben worden sei als der kraftvollste und gottgefälligste Ansporn zur Tugend‘.40 Gleichfalls in Prosa gefasst war die Festrede zur 400-Jahrfeier der Erfindung Gutenbergs, die in der Buchstadt Leipzig eine besondere Würdigung erfuhr. Hermann hielt sie im Juni 1840. Darin hat er nun freilich auch auf Gefahren, die durch einen möglichen Missbrauch des Buchdrucks drohten, hingewiesen: Die Forderung nach Pressefreiheit, so sagte er da sinngemäß, erkläre sich daraus, dass heutzutage junge Leute, ohne gründliche Sachkenntnis und ,bar jeder Ehrfurcht der Religion ihre Heiligkeit, den Königen ihre Majestät, dem Adel das von den Vorfahren überkommene Ansehen nehmen wollen, auf Umsturz versessen die Geister entzünden, unter Vorgauklung eines leeren Begriffs von Freiheit sowie allgemeiner Gleichberechtigung die mit ihrem Lose Unzufriedenen, wie sie überall zu finden sind, offen oder verdeckt zum Aufstand anstacheln‘. Zum Schutz gegen diese Kreise hätten schon die Vorfahren das Mittel der Bücherzensur geschaffen, um den Autor, den Buchhändler, die Bürgerschaft vor einem Vergehen und vor Schaden zu bewahren. ,Der Historiograph Tacitus preist das Glück solcher Zeiten, da man denken darf, was man will, und was man meint auch äußern (ubi sentire quae velis et quae sentias dicere). Darum aber beneiden uns jene, die es uns verbieten möchten, die Wahrheit zu sagen, wohingegen sie

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Oratio in supplicatione ob susceptum ab Electore Saxoniae Friderico Augusto nomen regium, Opuscula I 343–52. Oratio in tertiis Sacris Secularibus receptae a civibus Lipsiensibus reformatae per Martinum Lutherum religionis. A. MDCCCXXXIX, Opuscula II 414–27, hier 415: „Omnino aeternum nihil est praeter necessitatem illam qua mundus regitur, sive eam hoc ipso necessitatis nomine, seu verabundi deum appellamus: […] Non est enim, si recte aestimamus, nisi una universi generis humani religio, qua vim illam rerum omnium moderatricem et reverentur et metuunt”. „ […] sed religionem datam esse hominibus, ut ad virtutem incitamentum haberent, idque et gravissimum et sanctissimum“ (wie Anm. 47, 426).

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selbst Unhaltbares proklamieren‘.41 In der Rede spiegelt sich natürlich ein deutliches Maß konservativer Gesinnung wider. Kein Wunder, dass die Reaktionen darauf zwiespältig waren, durchaus auch aggressiv. Dadurch aber zeigte sich einmal mehr, dass die politischen Spannungen der dreißiger Jahre in Leipzig durchaus virulent geblieben waren. Hermann hat seine Urteile über die Eigenheiten seiner Zeit und die politische Situation in Sachsen wiederholt auch in Briefen ausgedrückt. Unter dem 7. Dezember 1839 schrieb er an Rudolph Sturenberg die Einschätzung: „Unsere Zeit ist krank an drei argen Krankheiten, an unmenschlicher Humanität, an gottlosem Pessimismus, und an zahllosem Überfluß an Rath. Ob alles das eine chronische Krankheit ist, die einmal von selbst aufhören wird, oder eine acute, die ihre Krisis in einem Paroxysmus findet, mag ich nicht zu entscheiden.“42 Und in einem Brief an seinen Freund Ernst Platner vom 20. November 1840 klagte er „über die Schwäche und Kraftlosigkeit der Zeit, besonders in öffentlichen Angelegenheiten“, um dann fortzufahren: „Denn durch eine monströse Humanität sinken wir in die von Niebuhr richtig prophezeiete Barbarei zurück. In Sachsen sind wir constitutionell, das heißt es regiert niemand und jeder, und nur darin ist man consequent, überall, wo man liberal seyn sollte, auf die kleinlichste Weise zu knausern und zu sparen, um schlechtes Gesindel in Zucht- und Arbeitshäusern recht gemächlich zu verpflegen.“43 In seinen aus verschiedenen offiziellen Anlässen geschriebenen Gedichten zeigt sich neben seiner Beherrschung der antiken Metra auch die Vielfalt seiner poetischen Begabung. Galante Töne etwa erklangen aus einem namens der Universität verfassten Gratulationsgedicht auf die Vermählung des sächsischen Fürsten Friedrich August mit Maria von Bayern 1833. Gewandt an den Fürsten, sprach er zu diesem in einer sapphischen Strophe: 44 At Tibi pondus grave publicarum sublevat curarum amor atque blanda te suum poscens sibi Friderice, voce Maria.

Selbstverständlich trug das Wirken einer solchen Persönlichkeit auch dazu bei, das Ansehen der Hohen Schule noch zu steigern. Was lag deshalb näher, als Hermann auch übergreifende universitäre Ämter anzuvertrauen? Dies geschah einige Jahre nach seiner Berufung: Er wurde zuerst am 3. März 1807 zum Dekan gewählt und hatte dieses Amt später wiederholt inne (WS 1825, 1827, 1829).

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Köchly (wie Anm. 1) 211 und 213. Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Mscr. Dresd. App. 333, Nr. 116 a. Schöne (wie Anm. 26) 15 f. Opuscula V 339.

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,Herr Professor Ritter Hermann‘ gehörte ferner als Decemvir dem Collegium decemvirale an.45 Es sollte „die Aufsicht über die gemeinschaftlichen Güter der Universität führen und die Rechnungsabnahmen besorgen“ (37). Um die Themenspezifik und -vielfalt anzudeuten, sei hier ein Problem erwähnt, das der Rektor am 15. September 1828 vortrug: „Es sey durch einen anonymen Brief angegeben worden, dass das Brod im Convict nicht das richtige Gewicht halte von einem Bäckergesellen Otto angegeben. Erkundigung über den Bäckergesellen Otto einzuziehen und die Mass Brod im Convicte durch Gewicht zu untersuchen“. Man kann sich leicht vorstellen, mit welchem Maß an Interesse oder Ironie Hermann den Erörterungen derartiger Probleme lauschte. Doch es gab auch schwerer wiegende moralische, wie etwa die Vorsorge für ein angemessenes Verhalten von Studenten anlässlich einer öffentlichen Hinrichtung.46 Kraft seines Amtes war er Mitglied des ,Concilium Dominorum Professorum‘: Auf den wohl monatlich stattfindenden Sitzungen hatte der Rektor u. a. vorzutragen: Probleme der Deputierten des Landtages, Finanzangelegenheiten der Universität, Stipendien- und Stiftungsangelegenheiten, Relegierungen, damit über diese Themen sodann beraten werden konnte. Zweimal, in den Wintersemestern 1819 und 1823, hatte Hermann selbst als Rektor der Universität den höchsten Rang in der Selbstverwaltung der Hohen Schule inne. Aus den Akten geht hervor, dass in diesen Amtsperioden neben den üblichen Fragen wie der Verwaltung des Universitätsvermögens, Bauprojekten, Emeritierungen (z. B. des Fechtmeisters), Stellenbesetzungen (z. B. der Lehrstellen für russische und neugriechische Sprache) und dem Austausch akademischer Schriften zwischen deutschen Universitäten auch weiterreichende und politische Probleme zu behandeln und entscheiden waren. Hierzu gehörten die immer wieder zu besprechenden Aktivitäten der Burschenschaften, die gleichsam staatlich beaufsichtigt wurden, die Abänderung der Nationalverfassung mit ihrer Straffung der Selbstverwaltung der Universität und die Ernennung eines königlichen außerakademischen Bevollmächtigten bei der Universität Leipzig, womit die staatliche Aufsicht 45 46

UAL, Repert. I/XIV, No. 58, Sectio I. Davon zeugt der Text einer offiziellen Bekanntmachung des Rektors (UBL, Ms 0278 i, Nr. 57): „Da, wie ich gehört habe, die Herren Commilitonen in nicht unbedeutender Anzahl gesonnen sind, Zeugen der morgen statt findenden Hinrichtung zu seyn, so hat, auf meine Verwendung, das Raths-Landgericht gestattet, dass ihnen, nach altem Herkommen innerhalb der Schranken ein besonderer Platz angewiesen werde. Um Missbrauch dieser Erlaubnis zu verhüten, wird es aber nothwendig seyn, dass sich die Herren einen gemeinschaftlichen Versammlungsplatz wählen, wozu vielleicht der Paulinerhof am geeignetsten seyn möchte, und sich von da aus nach der Richtstätte begeben, wo sie jedoch Schlag neun Uhr einzutreffen ersucht werden. Daß, da es hier keinem Freudenfest, sondern nur einem traurigen Act der Gerechtigkeit gilt, die Theilnahme der Herren Commilitonen eine möglichst geräuschlose seyn werde, darf ich von ihrem bewährten Schicklichkeitsgefühl erwarten. Leipzig, am 17. November 1840. Der Rector der Universität“.

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über die Hochschule gefestigt wurde. Zu jener gehörte es, dass sich die Regierung in Dresden von Zeit zu Zeit auch „Anzeigen über die an hiesiger Universität wirklich gehaltenen Vorlesungen“ vorlegen ließ.47 Mit diesen Aufgaben hatte Hermann einen beträchtlichen Anteil an der Verwaltung und Leitung der Universität, deren Studentenzahl sich im Jahre 1817 auf 911 und 1826-1830 auf 1287 belief. Kein Wunder war es deshalb, dass bei der Übergabe des Augusteums, des neu errichteten Universitätsgebäudes, am 3. August 1836 Hermann als Senior der Universität von allen Dekanen zum Procancellar für alle Fakultäten bestimmt wurde. Im Mittelpunkt seiner Festrede stand nunmehr auch der Prozess der Umbildung, von dem auch die Landesuniversität betroffen war. Für sein Wirken wurden Hermann zahlreiche hohe Auszeichnungen und Ehrungen zuteil. Der sächsische König verlieh ihm 1815 das Ritterkreuz des neu gestifteten Sächsischen Civil-Verdienst-Ordens als einzigem Bürger Leipzigs; er wurde Mitglied der Friedensklasse des Preußischen Ordens Pour le mérite, auch Griechen und Russen ehrten ihn mit hohen Orden. Zahlreiche Akademien und wissenschaftliche Gesellschaften des In- und Auslandes wählten ihn zu ihrem Mitglied. Als man nach der Gepflogenheit der Zeit Hermanns 50jähriges Doktorjubiläum festlich beging, nahm aus Leipzig, ja auch über dessen Grenzen hinaus, wer Rang und Namen besaß, darunter Offiziere und die Ärzteschaft, an der Festveranstaltung im Gewandhaus teil, die Rektor Drobisch ausrichtete. Eine Gedenkmünze wurde geprägt. Die Zahl der Glückwunschschreiben war Legion. Ein Teil davon rühmte dankbar die wissenschaftlichen oder pädagogischen Anregungen, die von dem Jubilar ausgegangen waren. Dabei blieben diese keineswegs auf das Gebiet der Klassischen Philologie beschränkt. Bemerkenswert ist das Schreiben der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Alterthümer, der Hermann angehörte. Darin wurde der hohe Wert der klassischen Sprachstudien auch für ein tiefer gehendes Verständnis des Deutschen und anderer Sprachen hervorgehoben. Sodann heißt es, dass er „den alleinigen Weg zur rechten Behandlung der deutschen und jeder anderen Sprache, die Grundlage zur allgemeinen Sprachphilosophie und den Anfang zum vollkommnern Verständnis des geistigen Seins und Wirkens der Völker aller Länder und Zeiten geboten hat; ihm, dem von ganz Europa anerkannten Meister und Schöpfer der Sprachwissenschaften,“ werde hiermit gratuliert.48 Die Universität hob seine Anerkennung in ganz Deutschland hervor: Er sei, so hieß es in dem offiziellen Gratulationsschreiben, der Princeps der Philologen, habe sich in dem Verlaufe seiner 46jährigen Lehrtätigkeit bei der

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UAL, Rep. 01/16/01, 57–59. UAL, PA 571.

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so beträchtlichen Anzahl seiner Studenten dauerhaft in die Erinnerung eingeprägt und den Ehrennamen eines Lehrers ganz Deutschlands erworben.49 Und der Rektor Drobisch widmete ihm eine ,Cantilena‘, die in der metrischen Form der mittellateinischen Vagantendichtung verfasst war: 50 Cantilena Gaudeamus! Gaudii Magna dies venit. Nunc canamus carmina, Nunc promamus jubila Magna dies venit. Doctor et doctissime Eques, equitator, Salve, vir et domine, Re simul et nomine, Salve iubilator!

Am 31. Dezember 1848 ist Gottfried Hermann verstorben. Die Trauer um ihn blieb nicht auf den Kreis seiner Amtskollegen beschränkt und schon gar nicht auf die Freunde und die Bekannten in Leipzig. Zu seiner Würdigung verfasste Hermanns Jugendfreund Eduard Platner, der Professor der Rechte zu Marburg, einen Beitrag ,Zur Erinnerung an Gottfr. Hermann‘ in der Zeitschrift für Alterthumswissenschaft (VII [1849] 1–11), an dessen Ende er schrieb: „Fassen wir zusammen, so war Hermann als Mensch, Schriftsteller und Lehrer, durch seine Einfachheit, Humanität, Freisinnigkeit, Genialität und Gründlichkeit in seiner Wissenschaft, eine Persönlichkeit, worauf Deutschland stolz sein kann“. In der Folgezeit begann die wissenschaftliche Aufarbeitung seines Wirkens und seines Werkes. Dass diese noch längst nicht beendet ist, zeigt die Veranstaltung dieser Tagung. Gewiss werden sein Werk und die Vorbildhaftigkeit seiner Persönlichkeit auch während der 600-Jahrfeier der Universität die gebührende Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren.

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UBL, MS 0278 i, Nr. 168: „[…] et omnium consensu princeps philologorum suo iure diceretur, / item per XLVI amplius annos / erudienda infinita multitudine iuvenum / quorum in animis optimi magistri memoriam nulla unquam oblivio obscurabit / totius Germaniae praeceptoris nomen commeruisset / ipsaque studia humanitatis a se in pristinam dignitatem restituta / ne in detersum rudis saeculi squalorem atque barbariem relaberentur / ad hunc usque diem fortiter obstituisset“. (wie Anm. 58) Nr. 160.

Ulrich Schindel

Hermann als akademischer Lehrer: Die Göttinger Professoren Karl Friedrich Hermann und Hermann Sauppe Wie das Gehen durch wechselseitiges Vorsetzen eines Fußes vor den anderen bewerkstelligt wird, so pflegen auch die Wissenschaften teilweise abwechselnd fortzuschreiten. Hätte jeder Fuß sein besonderes Bewußtsein, so wäre es lächerlich, wenn der jedesmal vorausgeschrittene sich darauf etwas einbilden und den zurückgebliebenen verachten wollte, auf den er sich doch stützen mußte, um voraus zu kommen, und der sogleich wieder ihm voraus sein wird; noch lächerlicher aber, wenn er, ausgestreckt ohne Boden unter sich zu haben, sich seines Vorgeschrittenseins rühmte. Die Gelehrten vergessen es manchmal, daß sie gleichsam die Füße sind, auf denen die Wissenschaft fortschreitet.1

Kaum eine andere Äußerung Gottfried Hermanns zeigt den Grad an wissenschaftlicher Bewusstheit und Schärfe und gleichzeitig weltgewandter Redefähigkeit, die den Mann charakterisieren, zu dessen Gedächtnis wir uns heute versammelt haben. Wenn man in den Annalen unsrer Wissenschaft nach seinen Spuren sucht, dann ist die gedrängte Charakteristik, die Wilamowitz in seiner ,Geschichte der Philologie‘ (1921) von ihm gibt, noch immer eine der bemerkenswertesten. Obwohl vom Späthellenismus bis auf ältere Zeitgenossen nur 80 Seiten lang, widmet sie G. Hermann eine ganze Seite – soviel gesteht Wilamowitz Gelehrten wie Gesner, Heyne, F. A. Wolf, Fr. Jacobs nicht zu, später nur noch Boeckh, K. Lachmann, K. O. Müller. Was liest man also bei Wilamowitz? Gottfried Hermann war und blieb ein Leipziger, und der sächsische Rationalismus ist in ihm unverkennbar. […] Der Kantischen Logik hat sich Hermann gleich ganz ergeben, und den wissenschaftlichen Standpunkt, den er mit ihrer Hilfe einnahm, als absolut richtig behauptet. Jeden anderen wies er schroff zurück, und was nicht in den scharf umrissenen Gesichtskreis fiel, den er in der Jugend übersehen gelernt hatte, hielt er sich berechtigt zu ignorieren.2

Hermanns theoretische Positionen in Sprachkritik, Stilistik, Metrik, Mythologie und Dichter-Exegese erfahren harsche Kritik.

1

2

G. Hermann, Opuscula VI 2, 9 (Rezension von K. O. Müllers Edition der aischyleischen Eumeniden). U. von Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie, Leipzig 31921, 49.

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Ulrich Schindel Aber der Hermann, der die Menschen im persönlichen Verkehr und auf dem Katheder bezauberte, war zum Glück ein ganz anderer, und wenn er ein Chorlied vorlas, trat die volle Schönheit den Hörern unmittelbar vor die Seele. […] Sprache und Vers waren in ihm lebendig, und daß er dieses Leben in seinen Schülern erweckte, war sein besonderer Charme. – Wer freilich nichts davon in sich aufnahm, bei dem ward die Wortphilologie nur zu leicht eine leer klappernde Mühle.3

Zwei Stichworte erscheinen hier, die für die weiteren Ausführungen von Bedeutung sein werden: Hermanns ‚Schüler’ und ‚Wortphilologie’. Von den Schülern Hermanns nennt Wilamowitz ausdrücklich „nur eine enge Auswahl“, nämlich fünf: Friedrich Thiersch, „der in München der Reformator der Schule und der Erwecker des neuen Geistes der Universität ward“;4 Christian August Lobeck, „der in Königsberg eine eigene Schule gründete“5 (und mit seinem ,Aglaophamus‘ neue Perspektiven in der antiken Religionswissenschaft eröffnete); erstaunlicherweise den Bonner August Ferdinand Näke, der in der Wissenschaft kaum Spuren hinterlassen hat und von dem Bursian beschwichtigend sagt: „Gegen schriftstellerische Thätigkeit hatte Näke eine eigentümliche, zum Theil wohl aus seiner Vorliebe für eine gewisse Behaglichkeit und Bequemlichkeit des Lebens entsprungene Abneigung“6 — Wilamowitz erwähnt ihn wohl nur wegen seiner damals singulären Beschäftigung mit Kallimachos; den vielseitigen und „ausgezeichneten“, aber nicht übermäßig originellen Friedrich Jacobs; und schließlich August Meineke, den Editor der Fragmenta Comicorum Graecorum. Was Wilamowitz nur in Andeutung sichtbar macht, die breite Schulwirkung G. Hermanns, war auch schon am Ende des 19. Jahrhunderts eine unbestrittene Realität. Entsprechend liest man in Ludwig Urlichs ,Grundlegung und Geschichte der Klassischen Altertumswissenschaft‘ (21892, 125) mit dem Pathos der Wilhelminischen Epoche: [G. Hermann war] der gefeiertste Lehrer einer zahlreich zusammenströmenden Jugend, auf dem Katheder durch jede Art von Vorzügen glänzend […]; seine zahlreichen Schüler verbreiteten seinen Ruhm über Universitäten und Schulen. Seine philosophische Bildung gab ihm stahlharte Waffen der Logik und Dialektik in die Hände, die sichere Abgeschlossenheit seines Charakters einen festen Kürass, den er nur zuweilen lüftete, um einen Ausfall in andere Gebiete zu machen. Denn sein eigenes Feld war und blieb in höchstem Sinne Grammatik und Kritik.

Dass dies aber nicht nur Wilhelminisches Pathos ist, zeigen spätere Bestandsaufnahmen. Alfred Gudeman in seinem ,Grundriß der Geschichte der Klassischen Philologie‘ (1909, 222) nennt als Hermanns „bedeutendste Schüler“ neben den von Wilamowitz ausgewählten zwölf weitere Professoren der 3 4 5 6

Wilamowitz (wie Anm. 2) 49. Wilamowitz (wie Anm. 2) 50. Wilamowitz (wie Anm. 2) 50. C. Bursian, Geschichte der Classischen Philologie in Deutschland, München 1883, 729.

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Klassischen Philologie an deutschen Universitäten oder berühmten Gelehrten Schulen, und Ernst Günther Schmidt in seiner Biographie Hermanns7 nennt (neben den fünf erwähnten) ebenfalls zwölf wichtige Hermann-Schüler unter Hinzufügung ihrer Universitäten (bzw. Schulen): Darunter sind berühmte Namen wie Franz Passow (Breslau), Adolf Trendelenburg (Berlin), Leonhard Spengel (München), Johannes Classen (Hamburg), Moriz Haupt (Leipzig, Berlin), Theodor Bergk (Halle, Bonn), Hermann Bonitz (Wien, Berlin), Hermann Köchly (Heidelberg), Karl Lachmann (Berlin), Friedrich Ritschl (Bonn, Leipzig). Unter diesen sind in beiden Listen auch Karl Friedrich Hermann und Hermann Sauppe, die späteren Göttinger Professoren – bei Wilamowitz sind sie keineswegs übergangen, sondern an späterer Stelle als Gelehrte eigenen Gewichts erwähnt. Das entspricht auch durchaus dem Rang und Ansehen der beiden in der Diadoché der Göttinger Klassischen Philologen: K. F. Hermann als Nachfolger Karl Otfried Müllers, Sauppe als Nachfolger von Friedrich Wilhelm Schneidewin, der fast gleichzeitig mit Hermann am Jahresende 1855 verstorben ist. Was aber macht diese beiden Gelehrten zu Philologen, denen man die Leipziger Hermann-Schule auch heute noch ansieht? Oder sind sie eher untypische Erzeugnisse?

Exempel I Karl Friedrich Hermann wurde 1804 in Frankfurt am Main als Sohn eines Buchhändlers geboren. Seine Jugendbildung verlief eher untypisch, überwiegend durch Hauslehrer und infolgedessen deutlich schneller als an den Gelehrten Schulen im Anfang des 19. Jahrhunderts üblich: Schon mit 16 Jahren bezog er die Universität, um sich den klassischen Studien zu widmen. Er wählte Heidelberg, wo zu dieser Zeit Friedrich Creuzer unter großem Zulauf lehrte. Das war für einen Reichsstädter keine selbstverständliche Entscheidung, denn Heidelberg war zu dieser Zeit eher ein Romantikernest; Leipzig oder gar das aufstrebende Berlin hätte man stattdessen erwartet. Aber das war der Einfluss von Schulgenossen, deren Haus- und Lerngemeinschaft am Gymnasium in Weilburg Hermann als Externer zum Zwecke eines ordentlichen Abitur-Examens knapp zwei Jahre erfahren hatte. Nun also Studium bei Creuzer, der in die Geschichte unsrer Wissenschaft vornehmlich mit der berühmt-berüchtigten ,Symbolik‘ eingegangen ist. Wir wissen nichts Persönliches von Hermann aus dieser Zeit, außer dass er Creuzer auch in späterer Zeit „seinen Mystagogen in die Hallen der Wissenschaft“ genannt und ihm auch noch in den Göttinger Jahren die Treue gehalten hat, als er seine Berufung zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger Akademie veranlasste. Zum Herbst 1822 wechselte Hermann dann 7

E. G. Schmidt, Gottfried Hermann, in: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, hg. von W. W. Briggs und W. M. Calder III, New York/London 1990, 160–75.

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nach Leipzig zu seinem berühmten Namensvetter. Hier blieb er zwei Jahre, bis zu seiner Promotion über eine Plutarch-Schrift, Mitglied der ‚Griechischen Gesellschaft’ und eifriger Diskutierer in Fragen der philologischen Kritik. Folgendermaßen schildert Hermann Köchly eine ihrer Sitzungen: Es ist Freitag Abend sechs Uhr zur Winterszeit; der alte Kachelofen seit Mittag nicht geheizt, hält einmal ausnahmsweise gemüthlich die rechte Mitte. Wir sitzen, etwa ein Dutzend Mitglieder, an den beiden Langseiten des alten Tisches, welchen trübe und fliessende Talglichter in defecten Blechleuchten zur Nothdurft erhellen; weitaus der größte Theil des geräumigen Hörsaals ist in kimmerisches Dunkel gehüllt. Vor dem Tisch unter dem Katheder steht ein uralter, etwas zweifelhafter Lehnstuhl, der aber auch einst seine Glanztage gehabt hat: er war einmal, wie es scheint mit rothem Sammet überzogen. Ihm zunächst an dem Ende des Tisches sitzen Disputant und Opponent – auctor libelli und adversarius – einander gegenüber, gewöhnlich stumm und in gespannter Erwartung dessen, was da kommen wird, während die Übrigen über alles Mögliche zu plaudern pflegen. Da hören wir den festen regelmässigen Tritt auf jener morschen Treppe: er [Hermann] tritt ein und schreitet rasch nach seinem Sitze; wir erheben uns; ein stummer Gruß von beiden Seiten; er reicht dem Opponenten die mitgebrachte und unmittelbar vorher nochmals durchgegangene Arbeit: der Kampf beginnt, je nach der Individualität und dem Geschick der Streitenden höchst verschiedenartig, aber stets wohl vorbereitet, ernst und in würdiger Form. Mit der gewissenhaften Aufmerksamkeit eines Kampfrichters folgt H. der Rede und Gegenrede, um mit absoluter Sicherheit allemal zur rechten Zeit einzugreifen. Wenn die Debatte über das Ziel hinausschweift, … wenn der Eine den Andern nicht versteht, wenn Beide auf falscher Fährte sich befinden, dem ungerechten Angriff zu wehren, die ungeschickte, aber berechtigte Vertheidigung zu unterstützen, stets ist er da, dem geschickten Turnmeister vergleichbar, der nie unnützer Weise Hand anlegt, aber nie, wo es nothwendig ist, die Hilfe zu geben verfehlt; unendlich mannigfach, aber jedesmal angemessen die Art und Weise des Eingreifens … (bald ein kurzes Wort der Zustimmung, Ermunterung oder Abweisung, bald eine eigene zusammenhängende Ausführung, bald eine längere Disputation mit dem Einen oder Andern, um ihn zur Erkenntnis des Richtigen zu führen).

Wie in seinen Schriften, so begnügt er sich auch hier nie mit dem pythagoreischen   .8 Nachdem er mit einem Studienfreund anderthalb Jahre nach Italien gereist war, wovon noch begeisterte briefliche Schilderungen – Venedig, Rom, Neapel, Pompeji – erhalten sind, habilitierte sich K. F. Hermann, 22jährig, in Heidelberg und begann dort mit einer intensiven akademischen Lehre als Privatdozent: von Herbst 1826 bis Ostern 1832 – in knapp sechs Jahren – hielt er 32 Vorlesungen zu wechselnden Themen, darunter 15 über verschiedene antike Autoren. Sein Eifer wurde ihm nur zurückhaltend vergolten mit dem Angebot einer unbezahlten außerordentlichen Professur. So nahm er im gleichen Jahr das Angebot einer ordentlichen Professur in Marburg gerne an. Dort wirkte er zehn Jahre mit großem Erfolg, bei seinen 8

Szene aus H. Köchly, Gottfried Hermann, 1874, 79.

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Studenten wie bei seinen Kollegen und auch als Bürger hochgeschätzt. Es wurde ihm sogar die Ehrenbürger-Würde der Stadt Marburg verliehen. Was seine Lehrtätigkeit betrifft, darf man einen Schüler zu Wort kommen lassen: 9 Hohen Werth verlieh dem Unterricht Hermanns, dass der Kreis seiner systematischen Vorlesungen ein wohlberechnetes Ganzes, eine tief eingehende Darstellung des gesamten classischen Alterthums bildete […]. Land und Volk von Hellas, Bodenverhältnisse und Producte der einzelnen Landschaften wie Ansiedlungen und Eigenthümlichkeiten der besonderen Stämme, die griechischen Staatsverfassungen, Religionsbräuche und Lebenseinrichtungen, die Literatur, die Sprache und Schrift Griechenlands und Roms, ihre Philosophie, ihre vielseitige Kunst, ihre Münzdenkmale wurden in jenem Kreise, der drei Jahre auszufüllen pflegte, mit der allergrößten Genauigkeit gelehrter Untersuchung geschildert; eine Geschichte der politischen und geistigen Cultur beider Völker fasste den gewaltigen Stoff abschliessend zusammen, die Encyclopädie und Methodologie des philologischen Studiums lehrte ihn beherrschen und lieferten das Rüstzeug zu eigenen Forschungen.

Manuskripte und Materialien zu diesen Vorlesungen sind in Hermanns Nachlass in der Göttinger UB noch vorhanden und bezeugen, dass er von Mal zu Mal an ihrer Aktualisierung weitergearbeitet hat. 1842 erreichte ihn ein Ruf nach Göttingen auf die Nachfolge von Karl Otfried Müller. Da er die Sorgfalt der Kasseler Regierung für ihre Landesuniversität Marburg für unzureichend hielt – was zu dieser Zeit durchaus zutreffen mochte –, ging er bereitwillig auf das Angebot Hannovers/Großbritanniens ein. Es sollten ihm zwar nur 13 Jahre in Göttingen beschieden sein bis zu seinem plötzlichen Tod 1855, doch hat er seine Göttinger Zeit als Höhepunkt seines Professorenamts empfunden. Hier übernahm er sofort die Leitung des berühmten, von Johann Matthias Gesner gegründeten Seminarium Philologicum und gründete wenige Jahre darauf ein ergänzendes pädagogisches Seminar. Schon 1843 wurde er in die Göttinger Akademie gewählt. In seinem Lehramt, das ausdrücklich auch die Archäologie mit einbegriff, entfaltete er, ganz im Sinne seiner Vorgänger Christian Gottlob Heyne und K. O. Müller, eine vielseitige, weit über die eigentliche Philologie hinausgehende Vorlesungstätigkeit; im Sommersemester 1854 erreichte sein Wochenprogramm 21 Stunden. Ein Überblick über die wichtigsten Themen der Vorlesungen aus diesen 13 Göttinger Jahren sieht wie folgt aus.10 An Überblicksvorlesungen finden sich: 7mal über griechische Altertümer (staatliche, religiöse, private); 4mal über antike Kulturgeschichte; 4mal über Enzyklopädie und Methodologie der Philologie; 2mal über Kritik und Hermeneutik; 5mal über griechische, 4mal über lateinische Literaturgeschichte; 9 10

M. Lechner, Zur Erinnerung an K. F. Hermann, in: Aufsätze, 1864, 8. Aus den gedruckten lateinischen Vorlesungsverzeichnissen in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.

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2mal über Geschichte der antiken Philosophie; 9mal über Archäologie und Kunst; 7mal über Numismatik; daneben über 7 griechische Autoren: Hesiod (2x), Platon (9x), Demosthenes (6x), Lykurg (1x), Theokrit (3x), Plutarch (1x), Pausanias (1x); über 4 römische Autoren: Cicero (11x), Persius (4x), Juvenal (4x), Tacitus (3x) – das Übergewicht von Themen, die man der ,Sachphilologie‘ zurechnen würde, ist deutlich. Im Nachruf eines Schülers findet sich folgendes Bild des akademischen Lehrers: 11 Wenn Hermann mit seinem heftig kurzen Schritt aufs Katheder geeilt war, dann machte er, ähnlich wie Priamos an Ilions Thor der Helena den Odysseus als Redner schildert, zuerst nur einen unscheinbaren Eindruck, denn er stand etwas gebückt und seine Stimme war hoch und dünn; bald aber war dieser erste Eindruck verwischt, er hob sich empor, die Gedanken kamen wie Flocken gedrängt, unmittelbar aus ihm gezeugt; unter heftigem Arbeiten der Arme zwang er sie in Schranken, Ordnung und Ausdruck (er verwirrte sich nie); dann ergoß er die Fülle des Stoffs und warf leuchtende klärende Gedankenblitze dazwischen. So fesselte er seine Zuhörer.

Wie sehr ihn seine Schüler verehrten, wird daran deutlich, dass sie nach seinem plötzlichen Tod – er starb mit 51 Jahren, eine Woche nach dem Tod seiner Frau, ohne dass eine physische Krankheit festgestellt werden konnte – eine Marmorbüste Hermanns stifteten, die im Bibliothekssaal der Universitätsbibliothek aufgestellt wurde – eine Seminarbibliothek gab es dazumal noch nicht in Göttingen. Heute steht die Büste natürlich in der Bibliothek des Seminars für Klassische Philologie. Welche wissenschaftlichen Spuren sind nun von diesem Hermann-Schüler geblieben? Keines seiner vielen Bücher wird man heute noch aus anderen als historischen Gründen benutzen. Doch sind sie ohne Zweifel wesentliche Stufen der Entwicklung und Konsolidierung unsrer Kenntnisse in ihrem jeweiligen Umfeld gewesen. Da ist zunächst das große Thema ‚Staatswesen, Kultus, Privatleben der Griechen’, das, was man damals ‚die Alterthümer’ genannt hat. Noch vor seiner Marburger Zeit, im Jahr 1831, ließ Hermann den ersten Band davon erscheinen, das ,Lehrbuch der griechischen Staatsalterthümer, aus dem Standpuncte der Geschichte entworfen‘; 1846, schon in Göttingen, erschien als zweiter Band das ,Lehrbuch der gottesdienstlichen Alterthümer‘, 1852 der letzte Band mit den ,Privatalterthümern‘. Dass Hermann ganz im Sinne seiner Göttinger Vorgänger eine Gesamtsynthese, und dies nicht nur der griechischen, sondern, wie sein postum erschienenes Werk ,Culturgeschichte der Griechen und Römer‘ (1857/58) deutlich macht, der antiken Geistesgeschichte insgesamt, im Blick hatte, wird hier klar erkennbar. Obwohl diese Werke im einzelnen vielfach gelobt worden sind – ihre „Präcision und Bündigkeit, große Sorgfalt bei Sammlung und Sichtung der Litteratur, Vollständigkeit, Wärme und genaue Auffassung des Einzelnen und Besonderen, 11

Weser-Zeitung Nr. 3771, S. 1, Sp. 1., 1856.

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die Fähigkeit, die leitenden Ideen deutlich und scharf hervortreten zu lassen“12 –, so ist doch von Anfang an ein grundlegender Mangel scharf kritisiert worden: ihr unübersichtlicher Aufbau. So hat K. O. Müller (wie Anm. 12) sogleich moniert: So kunstreich in dieser Anordnung das eigentlich Antiquarische mit dem Historischen verflochten ist, indem von geeigneten Ruhepuncten der geschichtlichen Entwickelung aus zusammenfassende Berichte über den Zustand und den inneren Organismus der griechischen Hauptstaaten und Staatenverbindungen gegeben werden: so wenig wird es sich doch auch selbst der Verfasser verhelen können, wie es bey einer solchen Disposition oft beynahe auf willkührliche Weise entschieden werden muß, ob man die Erörterung dieses oder jenes Gegenstandes an die oder eine andere Epoche anknüpfen wolle. So darf man es wirklich eine Art von Willkühr nennen, daß […]“.

Und dann folgen zahlreiche Einzelkritiken, an denen die Unhandlichkeit des Buchs aufgewiesen wird. Noch fast 100 Jahre später, in Georg Busolts ,Griechischer Staatskunde‘ von 1920, wird das Werk Hermanns durchaus mit Achtung genannt. Sein Ziel sei gewesen, „eine im Rahmen der allgemeinen politischen Entwickelung gezeichnete Verfassungsgeschichte Griechenlands“ zu geben. Aber ihre Struktur sei gänzlich verfehlt: „Die verfassungsgeschichtlichen Abschnitte werden durch systematische Stücke unterbrochen, so daß die zusammenhängende Entwicklung zerrissen wird“.13 Immerhin ist Busolt 1920 noch bereit, einzuräumen: „Wenn trotzdem dieses trockene Handbuch […] viel benutzt wird, so erklärt sich das dadurch, daß es aufgrund selbständiger gelehrter Forschung zuverlässig und objektiv über die einzelnen Institutionen unterrichtet und ein Magazin bildet, in dem eine Fülle von Material aufgespeichert ist“.14 Wenn man sich bewusst macht, dass Hermanns Buch noch vor Erscheinen des die Seeurkunden enthaltenden 3. Bandes von Boeckhs ,Staatshaushaltung der Athener‘ (1840) und weit vor dem überraschenden Fund von Aristoteles’ ,Staat der Athener‘ (1891) entstanden ist, wird man leicht verstehen, dass heutzutage niemand mehr auf Hermanns Leistung zurückgreift: Sie ist in die jüngere Forschung inkorporiert. Der andere Bereich unserer Wissenschaft, in dem Hermann wichtig geworden ist, betrifft die antike Philosophie, hier speziell Platon. In dem neuen Platon-Buch von Michael Erler (Basel 2007) liest man im Kapitel ‚Die Nachwirkung Platons: Idealismus und Romantik’ zu Hermanns Platon-Bild Folgendes (545): Die Würdigung der Dialoge (ist) für Schleiermacher nicht mit der des persönlichen Werdegangs des Autors Platon gleich zu setzen, sondern hat paradigmatisch-didaktische Funktion. Eben diese Einschätzung wird sich dann mit

12 13 14

K. O. Müller, GGA 1831, 184. St, 1837–40. G. Busolt, Griechische Staatskunde I (1920) 16. Busolt (wie Anm. 13) ebd.

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Karl Friedrich Hermann (1839) ändern, der in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher (Spätdatierung des Phaidros) den Entwicklungsgedanken in die Diskussion einbrachte und die Dialoge als Manifestation einer geistigen Biographie ihres Autors verstand und damit großen Einfluß ausübte.

Was Erler hier im Sinn hat, ist Hermanns Schrift ,Geschichte und System der platonischen Philosophie‘ (1839) – ein Werk, das noch 1976 nachgedruckt worden ist, so wenig hat es an Aktualität verloren. Zugleich sollte man auch erwähnen, dass eine andere Arbeit Hermanns zu Platon in unserer Zeit nachgedruckt worden ist: ,Über Platons schriftstellerische Motive‘, in K. Gaisers Sammelband ,Das Platonbild‘ von 1969, in der Gesellschaft so illustrer Namen wie Fr. Schleiermacher, P. Natorp, J. Stenzel, W. Jaeger, Fr. Solmsen, N. Hartmann, H. Gundert, H. J. Krämer und H. Kuhn. Dass aber das Platonbild nicht nur in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung, sondern auch in seiner heutigen Dimension erheblich durch Hermanns Sichtweise geprägt ist, erfährt man in Erlers Kapitel ‚Stand der Platonforschung’. Da heißt es (2): Wer mit Schleiermacher die Dialogform ernst nimmt, gleichwohl aber nach den Lehren des Autors sucht, muß berücksichtigen, daß manche Passagen als widersprüchlich empfunden werden können und sich die Dialogform generell gegen eine Systematisierung ihres Inhalts zu sperren scheint. Diesem Spannungsverhältnis suchte man durch ein evolutionistisches Platonkonzept gerecht zu werden, das durch Schleiermachers Schüler Fr. Ast, durch J. Socher und G. Stallbaum, vor allem aber durch K. F. Hermann großen Einfluß gewann, kam es doch einem wachsenden historischen Bewußtsein entgegen, das die jeweilige Philosophie in ihrer Entwicklung zu begreifen und mit der Vita des Protagonisten zu verbinden suchte.

All das, was bisher über K. F. Hermann berichtet wurde, zeigt ihn kaum als Schüler seines großen Namensvetters: Mit ‚Wortphilologie’ hat das alles gerade nichts zu tun. Aber es ist auch keineswegs alles, was er geleistet hat, sondern er hat sich auch ausführlich mit philologischer Kritik beschäftigt, gerade auch im Zusammenhang mit Platon: 1851 bis 1853 hat er bei Teubner eine vollständige Ausgabe der Werke Platons einschließlich der Scholien in sechs Bänden publiziert. In der Praefatio der Platon-Ausgabe weist er darauf hin, dass er dieselben Prinzipien bei dieser Edition zugrunde gelegt habe, wie bei seiner früheren Beschäftigung mit Persius: „quas olim in Lectionum Persianarum prooemio prisci scriptoris recensendi leges adumbravi, nunc quoque ita sequendas esse duxi, ut quamvis nullis novorum codicum subsidiis usus tamen multis locis ab illorum exemplis discederem“.15 Gemeint sind hier die 1842 noch in Marburg erschienenen Lectiones Persianae, die Vorstufe seiner 1854 publizierten Persius-Edition bei Teubner. Mit dieser Arbeit hatte Hermann in den dreißiger Jahren begonnen und war dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass die 15

Platon-Ausgabe I, Praef. iii.

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handschriftliche Überlieferung grundsätzlich gleichmäßig verderbt sei und man einzig durch Nutzung der Interpretamente der spätantiken Scholienüberlieferung zum Urtext gelangen könne: „difficultatibus, quae in sententia poetae enucleanda cernuntur, plerumque interpretando magis quam emendando succurrendum fore dixi“. Diese völlig zutreffende Perspektive hat dann wenig später Otto Jahn aufgenommen und schon 1843 in seiner erfolgreichen kommentierten Persius-Edition umgesetzt, durch welche die erst elf Jahre später erschienene Hermannsche von Anfang an überholt war. Ähnlich ist es Hermann auch mit seiner Platon-Edition gegangen. Sie war, wie das oben angeführte Zitat ja ausdrücklich angibt, nullis novorum codicum subsidiis usus angelegt und konnte sich mit den älteren Editionen eines I. Bekker, M. Schanz, Fr. Ast und G. Stallbaum nicht messen; so wird sie in Erlers Abschnitt ‚Überlieferung und Chronologie, 1, 4: Renaissance und Neuzeit’ (zu Unrecht) nicht einmal einer Erwähnung für wert befunden. Sollte man K. F. Hermann nun einen untypischen Schüler seines Namensvetters nennen? Das sicher nicht. Dass Gottfried Hermann ein Kantianer war, ist bekannt: In seiner Jenaer Studienzeit hatte er die Kantische Philosophie kennengelernt und verinnerlicht. K. F. Hermann hat gegen Ende seines Lebens, im Jahr 1853, eine Rede über die ,Wechselwirkung des Realismus und Idealismus‘ gehalten. Als Professor eloquentiae war er nach alter universitärer Tradition dazu verpflichtet, Festreden zu halten, hier zur Akademischen Preisverleihung der Göttinger Fakultäten. Dabei hat er zu einem richtig verstandenen Idealismus – dass es auch hier Fehlentwicklungen gäbe, räumt er ein – Folgendes gesagt: „Zweierlei Thätigkeiten sind es insbesondere, worin der wissenschaftliche Idealismus seine Richtung verfolgt: die Kritik, in der er die Fesseln sprengt, welche die Aussenwelt der Geistesfreiheit anlegt, und das Forschen nach Principien, worin er diese selbst und jene wieder durch sie zu bestimmen und zu beschränken sucht“.16 Und zu den Gefahren des Realismus sagt er: „Was ist es doch anders, wenn die unendliche Freiheit des Ich in das Maass unabänderlicher Naturgesetze gezwängt und der unsichtbare Wille, ohne dessen Centralkraft das All ein Nichts seyn würde, zu einem innerweltlichen Theile dieses Alls selbst herunter gewürdigt wird“.17 Oder noch etwas später: „Was helfen uns alle Bereicherungen unserer Kenntnisse, wenn sie nur den Vorrath des Wissens mehren, ohne dieses zum Bewußtsein seiner Gründe gelangen zu lassen? Was fruchtet alle Vermehrung unserer Mittel, wenn sie uns über die nächstliegenden und augenblicklichen Zwecke die höheren und ewigen vergessen machen?“18 Dass hier Kantische Philosophie den Hintergrund ausmacht, ist unverkennbar; sie mag aus Gottfried Hermanns Leipziger Schule stammen.

16

17 18

Die Wechselwirkung des Realismus und Idealismus. 1853, 3 (in: Sechs akademische Reden). (wie Anm. 16) 7. (wie Anm. 16) 8.

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Und dass dieser Schüler auch so lebenskluge Urteile beherzigte, wie es unser Anfangszitat verkörpert – ob er es gekannt hat, weiß ich nicht –, dass er sich also durchaus seiner Funktion als eines ‚Fußes’ bewusst war, ‚auf dem die Wissenschaft fortschreitet’, ist aus der Vorrede zu seinen ,Gesammelten Abhandlungen‘ (1849) erkennbar. Da schreibt er bescheidentlich: 19 [Ich habe] durchgehend durch Nachträge und Berichtigungen oder Zusätze dafür gesorgt, dass die Leser nicht etwa bloss, was ich vor zehn oder fünfzehn Jahren über einen Gegenstand gedacht habe, sondern meine gegenwärtige Überzeugung kennen lernen, und je besser ich weiss, was ich in dieser Zwischenzeit habe zulernen müssen, desto mehr habe ich damit nur einem eigenen Bedürfnisse gedient, mit dem ich mich deshalb auch gar nicht brüsten will.

Aber dass K. F. Hermann trotzdem eher auf die Seite der ,Sachphilologie‘ gehört, wird an der Vorrede zu seinen ,Gesammelten Abhandlungen‘ (Anm. 19, viii) deutlich: [Man] könnte fragen, ob dergleichen monographische Arbeiten [wie die in dem Band gesammelten] selbst noch einen Werth haben in einer Zeit, die mehr dazu berufen scheint, die überreichen Ergebnisse einer forscherischen Periode zusammenzufassen und zu ordnen, als durch neue Einzelforschungen die Mühe des Ordnens immer zu vergrössern; und dass ich weit entfernt bin, die höhere Bedeutung solchen Ordnens zu verkennen, glaube ich durch andere Schriften sattsam dargethan zu haben.

Daran kann kein Zweifel bestehen.

Exempel II Wer ein wenig bewandert ist in der Geschichte der Klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts, kennt – zumindest dem Titel nach – die Epistola Critica ad Godofredum Hermannum, Philologorum Principem von Hermann Sauppe. Und allein durch dieses sein bekanntestes Werk scheint Sauppe als typischer Hermannianer gekennzeichnet. War er das wirklich? Immerhin war er Gottfried Hermanns naher Landsmann, geboren in einem Dorf in der Nähe von Dresden als Sohn eines Pfarrers im Jahr 1809.20 Es war die Zeit der Napoleonischen Feldzüge, und die frühe Kindheit von Hermann Sauppe war getrübt von den Aufregungen der Freiheitskriege. Als sich der Friede wieder eingestellt hatte, starb sein Vater (1820), und er wurde aus materiellen Gründen – Pfarrwitwen hatten dazumal keine Versorgung – zu einem Onkel, Kantor bei St. Othmar in Naumburg, gegeben. Dort, in der Domschule, erfuhr er seine Schulausbildung und bezog mit 17 Jahren die Universität Leipzig. In Leipzig fand er bald Aufnahme in die ,Griechische 19

20

K. F. Hermann, Gesammelte Abhandlungen und Beiträge zur classischen Literatur und Alterthumskunde, 1849, vi. Zum Biographischen vgl. hier und im Folgenden den Artikel von E. Ziebarth, in: Allgemeine Deutsche Biographie, s. v. Sauppe, H., Nachtragsband 55, 1910.

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Gesellschaft‘ Gottfried Hermanns und studierte bei ihm bis 1832 die klassischen Sprachen. In einer lateinischen autobiographischen Skizze21 über die Zeit der Schule und des Studiums, die er um 1830 verfasste, hebt Sauppe die tenuitas vitae hervor, seine finanzielle Bedrängnis, die ihn zu vielerlei Hilfstätigkeiten nötigte – Federn schneiden, Fahnen korrigieren, Nachhilfestunden geben, Bücher vorlesen –, der er aber mit dem Vergil-Motto tu ne cede malis, sed contra audentior ito begegnet sei. Vom Studium bei G. Hermann sagt er bescheidentlich – ganz offenbar in Reverenz vor Hermanns bekanntem Spruch über das Nichtwissen22 – „quo diutius scholis Hermanni intereram, eo magis intelligebam me adhuc nihil scire“.23 Ganz anders sieht das Zeugnis aus, das Gottfried Hermann seinem abgehenden Schüler Sauppe, wahrscheinlich für die Bewerbung um eine Stelle an dem neugegründeten Gymnasium in Zürich, ausstellte. Er schreibt: 24 In iis, qui ad antiquas litteras et ingenii egregiam sollertiam et studii summam assiduitatem attulerunt, merito nominandus est Hermannus Sauppe, vir humanissimus, modo ille in Universitati Halensi dignitate doctoris Philosophiae ornatus, qui postquam in nostra Academia per aliquot annos philologiae operam dederat, receptus a me in Societatem Graecam, ea in societate per quadriennium plurima exhibuit doctrinae multa eaque accuratissima veterum scriptorum lectione partae specimina, iudiciumque ostendit exercitatione diligentissima ita fortunatum, ut appareret eum et uti recte opibus quas sibi parasset, et acute inventa exponere dilucide apteque eloqui didicisse. Quibus ille virtutibus quo magis mihi probatus est, eo certius confido, si ei antiquarum litterarum scientia iuvenes erudiendi munus tribuatur, talem inventum iri, qualem maxime sibi exoptare debeant, qui rectam in his studiis viam cupiant ingredi. Quare quemadmodum ipse eum magnifacio, sic hoc testimonio etiam aliis commendandum putavi. scribebam in Universitate Litterarum Lipsiensi pridie Cal. Decembr. a. 1832. Godofredus Hermannus, D. Eloqu. et Poet. P. P. O.

Kein Wunder, dass Hermanns Empfehlung Erfolg hatte: Sauppe wurde zum Frühjahr 1833 Lehrer in Zürich und gleichzeitig Privatdozent an der jungen Universität, gerade mal 24 Jahre alt. In der neuen Umgebung integriert er sich schnell, zu seinem Umgang gehören Männer wie die Dichter Herwegh, der für die 48er Revolution wichtig werden wird, und Gottfried Keller, der Anatom Jakob Henle, der Archäologe Ludwig Roß, der ihn auf die griechische Epigraphik lenkt. Zwölf Jahre wird Sauppes Schweizer Epoche dauern. Die erfolgreiche Gymnasiallehrer-Tätigkeit beiseite gelassen – er wird 1838 Konrektor –, sammelt er erste Erfahrungen in der akademischen Lehre: Charakteristischerweise sind seine ersten Vorlesungen, seit 1837, handfest: über

21

22 23 24

Abgedruckt als Beilage im Nachruf von U. v. Wilamowitz-Moellendorff (unten Anm. 29), Beilage 1, 44. „Est et quaedam nesciendi ars et scientia“, vgl. Köchly (wie Anm. 8) 11. (wie Anm. 21) 46. (wie Anm. 21), Beilage 3, 48.

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Griechisches Staatsrecht, über die Geschichte der griechischen Beredsamkeit, über Encyclopädie und Methodologie der Philologie; Grammatik und Kritik bleiben im Hintergrund bzw. in der Verborgenheit der häuslichen Gelehrtenstube: Seit 1839 ediert Sauppe, zusammen mit Johann Georg Baiter, die Oratores Attici (bis 1850, 9 Bände). Und 1842 erscheint die schon erwähnte Epistola Critica ad Godofredum Hermannum, eine Gratulationsschrift des 32-jährigen Sauppe an seinen 68-jährigen Lehrer in Leipzig zu dessen 50-jährigem Doktor- (oder Magister-) Jubiläum im Jahr 1841, 172 Seiten lang.25 Die Einleitung zeigt die gehörige Deferenz des Schülers gegenüber dem gefeierten Lehrer: Die früheren tenebrae in „grammatica, ars metrica, fundamenta, quibus non tantum philologia nititur omnis, sed institutio liberalis omnis nitatur“, wie sie durch Johann Friedrich Fischer (1726-1799) und Richard Dawes (1709-1766) charakterisiert gewesen seien,26 seien nun durch „haec literarum nostrarum lux“ – also Hermanns Werke – vertrieben. Aber nicht nur in der Sache, auch in der Methode und der Vermittlung habe der Lehrer eine neue Zeit eröffnet: „quot discipuli tuo se exemplo ad ingenuam animi morumque veritatem et simplicitatem erectos esse sentiunt, quot magistri magistrorumque magistri te scribendo, dicendo, vivendo suum magistrum fuisse et esse laeti gratique profitentur et gloriantur“ ruft er aus,27 um dann bescheiden anzukündigen: 28 „benigne igitur permitte, Godofrede Hermanne, ut de rebus quibusdam ad artem criticam pertinentibus tecum agam“. Diese res ad artem criticam pertinentes betreffen zunächst: (1) die LysiasHandschriften und die Tatsache, dass der 1815 nach Heidelberg wiedergekehrte Palatinus X die Vorlage aller jüngeren Hss. ist; (2) die AntiphonHandschriften, besonders den Athous N und seine Bedeutung; (3) die Demosthenes-Handschriften und den Wert der Vulgata, am Beispiel der 1. Philippica. Dann folgen (ab § 5, S. 50 f.) grundsätzliche Fragen der Überlieferung, nämlich über den Nutzen von Sekundärüberlieferung bei Grammatikern, in Rhetorik-Lehrbüchern, bei Lexikographen, in Scholien, verdeutlicht an drei Beispielen: Theognis bei Aristoteles und Plutarch, Isokrates in Lukians Charidemos, Demosthenes bei Harpokration; und eine weitere Kollektion von Sekundärtestimonien aus Tragödie, Komödie und Beredsamkeit. Daran schließt sich (ab § 6, S. 65 f.), immer handfest mit Beispielen unterfüttert, eine Fehler-Systematik: Fehler auf Grund von Wortabtrennung; Kompendien und Kontraktionen; Buchstaben- und Lautverwechslung; falsche 25

26

27 28

H. Sauppe, Epistola Critica ad Godofredum Hermannum, Philologorum Principem, 1842. Vgl. auch Sauppes Ausgewählte Schriften (1895) 80 ff. J. F. Fischer, Animadversiones in Jac. Welleri grammaticam Graecam, 1750/52, vgl. Bursian (wie Anm. 6) 417. R. Dawes, Miscellanea Critica, 1745, vgl. C. O. Brink, English Classical Scholarship, 1986, 89 f. (deutsche Ausgabe, 1997, 121 f.). Epistola Critica (wie Anm. 25) 4. Epistola Critica (wie Anm. 25) 5.

Hermann als akademischer Lehrer

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Personenverteilung im Dialog; Eindringen von Interpolationen; Haplographien, Dittographien, Augensprung. Wilamowitz hat in seinem Nachruf auf Sauppe gesagt, dass diese Epistola critica „immer eine paradigmatische Bedeutung behalten“ wird,29 und daran ist kein Zweifel — auch wenn sie mit dem Specimen einer Edition endet, nämlich des Carmen de figuris, einer metrisch gebundenen lateinischen Figurenlehre aus der Spätantike, zu dem ich vor nicht langer Zeit dreißig neue Emendationen über Sauppe hinaus beitragen konnte; aber dass die philologische Wahrheit nicht statisch ist, sondern ein Wachstum in der Zeit hat, das zu leugnen wäre Sauppe der letzte gewesen. Am Schluss seiner epistola hat Sauppe ein Bekenntnis zu dieser immer neu zu erwerbenden Wahrheit abgelegt, das auch heute noch berührt: 30 nolo enim philologus esse, nollem doctrinae copiam et iudicii subtilitatem, etiam si possem, ostentare, homo esse volo: hoc est, veritatem sequor, quae vere pulchra sint, persentiscere studeo, bonus esse annitor. Miseros eos omnes esse existimo, quos ita agere videas, ut alio tempore homines docti, alio homines elegantis iudicii et morum festivorum, alio homines boni sibi esse posse videri videantur. Hoc intellego et teneo, omnis doctrinae unum finem hunc debere esse, ut veritatem sequamur, veri simus ipsi in cogitando, agendo, vivendo. Hoc me consolatur et animum meum tranquillum et felicem reddit. Quod ut intelligerem, tuae mi Hermanne admonitiones effecerunt, effecit exemplum tuum. Hoc me tibi debere laetus profiteor.

Dass hier nicht Sprach- oder Sachphilologie die Richtpunkte sind, ist evident. Und so ist auch die weitere wissenschaftliche Entwicklung Sauppes nicht verwunderlich. Obwohl Sauppe das schweizerische Bürgerrecht erwirbt, obwohl er eine Züricher Bürgerstochter heiratet, mit der er eine lange und glückliche Ehe führen wird, strebt er zurück in seine angestammte Heimat, deren politische Entwicklung er von außen aufmerksam verfolgt. So nimmt er zum Jahresende 1845 die Stelle des Direktors des Weimarer Gymnasiums an. Elf Jahre wird er dort erfolgreich und gesellschaftlich anerkannt in der geistig regen Umgebung wirken. Er wird 1848 Stadtverordneter, gehört zu den 134 Wahlmännern für die Wahl des Weimarer Abgeordneten zum Frankfurter Paulskirchen-Parlament und wird Offizier der Bürgerwehr, die den Unruhen des Jahres ’48 steuern soll. Wie lebhaft er an der politischen Entwicklung Anteil nimmt – er vertritt entschieden den Standpunkt der konstitutionellen Monarchie, gegen die Republik –, zeigt ein Konvolut von 70 Dokumenten, Flugschriften und Briefen aus den Jahren 1848/49, die er gesammelt hat und die sich in seinem Nachlass befinden; auch zwei Reden-Entwürfe von 29

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U. von Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Sauppe, Nachrichten Akad. Göttingen, Geschäftliche Mitteilungen 1894, 36–48; vgl. auch Kleine Schriften 6, 1972, 3–10. Epistola Critica (wie Anm. 25) 171.

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Sauppes Hand sind darunter.31 Verbindungen freundschaftlicher Geselligkeit und geistigen Austauschs knüpft er mit dem Mythologen und Bibliothekar Ludwig Preller, dem Archäologen Adolf Schöll, den Komponisten Franz Liszt und Peter Cornelius, den Dichtern Hans Christian Andersen, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Gustav Freytag, die alle in diesen Jahren Weimars geistiges Profil beleben. Bei der Goethe-Feier 1849 übernimmt er die Organisation und führt in diesem Zusammenhang den Briefwechsel mit dem Bildhauer Ernst Rietschel über ein Goethe-Denkmal: Es wird 1857 (da ist Sauppe schon in Göttingen) als Doppelbildnis Goethe/Schiller vor dem Weimarer Nationaltheater aufgestellt werden, wo es heute noch steht. Es ist nicht verwunderlich, dass bei einer so vielfältigen Aktivität die wissenschaftliche Produktion Sauppes etwas in den Hintergrund tritt. Sie beschränkt sich im wesentlichen auf die – zusammen mit Moriz Haupt betriebene – Herausgeberschaft einer Sammlung griechisch-lateinischer Schriftsteller mit Kommentar ,für den Schulgebrauch‘, die sehr erfolgreich wird und in der Sauppe 1857 den Protagoras Platons bearbeitet hat. 1856 kam der Ruf an die Georgia Augusta in Göttingen; Sauppe hat dies als Erfüllung seines Lebens angesehen und ihn ohne Zögern angenommen. Wilamowitz, Sauppes Nachfolger in Göttingen, hat in seinen ,Erinnerungen‘ geschrieben, dass dieser Ruf zu spät gekommen sei – so spät, dass Sauppe sich nicht mehr von der Schule auf die Universität habe umstellen können.32 Sauppe war 47 Jahre, also in voller Schaffenskraft. Was Wilamowitz im Sinne hatte, ist die Tatsache, dass Sauppe in der Göttinger Zeit, in 36 Jahren – und Sauppe war bis zu seinem Lebensende in Forschung und Lehre aktiv –, kein größeres Werk mehr verfasst hat. Zwar sind auch noch in dieser Zeit Arbeiten von ihm erschienen, die Wilamowitz „Musterstücke ersten Ranges“ genannt hat: 33 etwa die Edition der Mysterieninschrift von Andania (1859), die Quellenanalyse von Plutarchs Perikles (1867), die Scheidung des Sophisten von dem Redner Antiphon (1867). Doch Sauppes Arbeitskraft erstreckte sich überwiegend nur noch auf Opuscula und Rezensionen: von 100 kleineren Abhandlungen sind 70 in den Göttinger Jahren verfasst, von 180 Rezensionen die Hälfte. Die wichtigeren füllen einen nach Sauppes Tod publizierten gewichtigen Band ,Ausgewählte Schriften‘ (1896). Wilamowitz hat diesen Befund in seinem Nachruf mit dem Hinweis auf die vita activa Sauppes erklären wollen. Und das trifft zu: Sauppe übernahm sofort das Seminarium philologicum und baute daneben das von seinem Vorgänger K. F. Hermann begründete Pädagogische Seminar systematisch aus: In jedem seiner 75 Semester hielt er 4-stündige Exercitationes paedagogicae ab. Wilamowitz sagt zutreffend, dass Sauppe, als er „in die gemessenen

31 32 33

UB Göttingen, MS Sauppe 127. U. von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848-1914, 1928, 206. Wilamowitz (wie Anm. 2) 63.

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Zirkel der exklusiven und anspruchsvollen Gelehrtenoligarchie“34 Göttingens getreten war, sofort „einer der maßgebenden Wenigen“35 gewesen sei. Dreimal amtierte Sauppe als Prorektor der Universität (1859/60, 1860/61, 1873/74). Er wurde alsbald in die Akademie berufen (1857), führte mehrere Jahrzehnte die Redaktion der Göttingischen Gelehrten Anzeigen und war acht Jahre lang, ab 1885, geschäftsführender Sekretär der philosophischhistorischen Klasse der Akademie. Er hatte entsprechenden Einfluss auf die Mitgliedschaft und schlug in seiner Amtszeit die Berufung so berühmter Fachgenossen wie Johan Nicolai Madvig, Moriz Haupt, Theodor Bergk, Ludolf Ahrens, Adolph Kirchhoff, Franz Bücheler, Hermann Usener, Hermann Bonitz, Johannes Vahlen und Otto Ribbeck vor – gleichsam eine Ehrentafel der Klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts.36 An Sauppes Vorlesungsprogramm scheint seine Leipziger Provenienz deutlich abzulesen zu sein: 13mal Syntaxis (bzw. leges) sermonis (bzw. linguae) Graeci (-ae), 13mal (Ars) Grammatica sermonis Latini, 12mal Ars (bzw. leges) hermeneutica (-ae) et critica (-ae); aber daneben auch 10mal Elementa (bzw. lineamenta) epigraphices Graecae et Latinae – etwas überhaupt ganz Neues im Lehrprogramm der Klassischen Philologie dieser Zeit. Und an Autoren sind behandelt im Griechischen zehn, am häufigsten Lysias (13mal), Demosthenes (12), Platon (10) und Aischylos (10), im Lateinischen sieben, am häufigsten Cicero (18mal), Plautus (14), Terenz (13) und Lukrez (12).37 Nimmt man die beiden Befunde – Lehre und Forschung – zusammen, dann ist Wilamowitz’ Aussage im Nachruf: „Sauppe hat sich von der systematischen Grammatik, von aller Metrik und von der gesamten griechischen Poesie so gut wie fern gehalten“,38 grosso modo zutreffend, und auch von Sauppes „Einlenken in die sogenannte Sachphilologie“ und seinem „Wandeln auf Böckhs und K. O. Müllers Bahnen“39 darf man mit Recht sprechen.

Fazit Typische Schüler Gottfried Hermanns sind weder K. F. Hermann noch Sauppe gewesen. Hat es denn solche gegeben? Durchaus! Ein ‚typischer’ Hermannianer war – um nur einen Namen zu nennen – August Meineke,40 mit seiner Kette von Fragment-Sammlungen und kritischen Editionen. Und von seiner noch umfangreicheren kritischen Editionstätigkeit her hätte 34 35 36 37

38 39 40

Wilamowitz (wie Anm. 29), Kl. Schr. 6, 6. Wilamowitz (wie Anm. 29), Kl. Schr. 6, 6. Zu den Wahlvorschlägen vgl. das Archiv der Akademie Göttingen s. v. Sauppe. Dokumentiert in den gedruckten lateinischen Vorlesungsverzeichnissen der Göttinger Universität 1856-1893. Wilamowitz (wie Anm. 29), Kl. Schr. 6, 7. Wilamowitz (wie Anm. 29), Kl. Schr. 6, 7. Vgl. Sauppes Nachruf: Zur Erinnerung an Meineke und Bekker, Abh. Akad. Göttingen 1872.

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Immanuel Bekker ein Hermann-Schüler sein können. Aber der war der Schüler von Friedrich August Wolf. Woraus man sehen kann, dass SchülerLehrer-Verhältnisse nicht automatisch nach dem Sprichwort       ! funktionieren, auch mit positivem Vorzeichen nicht.

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Gottfried Hermann und Wilhelm von Humboldt Aspekte neuhumanistischer Bildung in Sachsen und Preußen Humboldt ist mir eine unendlich angenehme und zugleich nützliche Bekanntschaft; denn im Gespräch mit ihm entwickeln sich alle meine Ideen glücklicher und schneller. Es ist eine Totalitaet in seinem Wesen, die man äußerst selten sieht, und die ich außer ihm nur in Dir gefunden habe. Er hat zwar vor Dir sehr viel an einer gewissen Leichtigkeit voraus, die man sich in seinen Verhältnissen leichter erwerben kann, als in den unsrigen.

Mit diesen Worten beschreibt Friedrich Schiller in einem Brief an Christian Gottfried Körner vom 18. Mai 1794 die intensive und freundschaftliche Zusammenarbeit mit Wilhelm von Humboldt.1 Schiller skizziert hier eine Arbeitsgemeinschaft, die für die Entwicklung und Geschichte des deutschen Idealismus im Allgemeinen und für die Herausbildung des neuhumanistischen Bildungsideals im Besonderen von entscheidender Bedeutung war. Auf Wunsch Schillers zog Humboldt im Februar 1794 nach Jena und erst wenige Tage vor der Absendung dieses Briefes war Schiller selbst in Jena angekommen. Der Begegnung und dem Gedankenaustausch mit Humboldt fieberte er bereits entgegen. Die Herausbildung des neuhumanistischen Bildungsideals soll im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen. Dabei werden erstens die politischen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen umrissen, unter denen die Bildungsideen Wilhelm von Humboldts entstanden sind. Zweitens wird der Einfluss Gottfried Hermanns für die Ausprägung des sächsisch-süddeutschen Neuhumanismus nachgezeichnet. Darauf aufbauend soll abschließend dann auf die Zusammenarbeit von Humboldt und Hermann bei der Übersetzung des Agamemnon eingegangen werden.

I. Das Jahr 1794, in dem Wilhelm von Humboldt nach Jena kam, kann geradezu als Beginn einer ein halbes Jahrzehnt anhaltenden Entwicklung angesehen werden, in der die Universitätsstadt Jena zum Schmelztiegel des deutschen Geisteslebens avancierte. Auf Betreiben Schillers lehrte seit Frühjahr 1794 1

Schiller an Körner, Jena, 18. Mai 1794, in: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. von F. Jonas, Bd. 3, Stuttgart/Leipzig/Berlin/Wien [1893], 438.

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Johann Gottlieb Fichte an der Universität. Nicht zuletzt dadurch wuchs die Bedeutung der Universität Jena sprunghaft an. Friedrich Hölderlin, Christoph Wilhelm Hufeland, Friedrich Immanuel Niethammer, Novalis, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Wilhelm Schelling, Ludwig Tieck und Gottfried Hermanns Lehrer Karl David Ilgen kamen nach Jena. Auch Goethe und Humboldts Bruder Alexander besuchten die Stadt. Diese Ballung bereits anerkannter oder sich noch entwickelnder deutscher Geistesgrößen war keineswegs zufällig. Den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund bildete die Französische Revolution. Insbesondere in der Bewertung der revolutionären Ereignisse in Paris und Frankreich war es unter den deutschen Intellektuellen zu einem gravierenden Umschwung gekommen. Ihre Begeisterung für die Französische Revolution war gesunken. Die Ideen von ,liberté, égalité und fraternité‘ mobilisierten zwar noch immer. Die realen Ausprägungen der Revolution mit politischem Mord und Terror schreckten aber ab.2 Und mit ihnen sank der Glaube an eine humanistische Zielperspektive der Französischen Revolution. Der bereits unter den Girondisten eingeleitete innere Terror war durch Robespierre im Frühjahr 1793 verstärkt und im Juni 1794 zur ,grande terreur‘ gesteigert worden.3 Einen wesentlichen Grund für diesen Zivilisationsbruch sahen deutsche Intellektuelle in der Aufklärung und ihrer Pädagogik. Die Aufklärung hatte die Vernunft und die Ratio ins Zentrum von Bildung und Erziehung gestellt. Sie erschien nun als Quelle der kalten und unmenschlichen Entwicklung in Frankreich. Eine Antwort auf diese Entwicklung gab Friedrich Schiller in seinen Briefen ,Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘. In seiner berühmt gewordenen Epochendiagnose erkannte Schiller die Grundübel seiner Zeit auf zwei Ebenen. Erstens: im Konflikt zwischen Natur und Sittlichkeit, der sich insbesondere in den gesellschaftlichen Klassen manifestiert habe, und zweitens, in der Orientierung des Menschen am Beruf.4 Diese Orientierung hatten die Aufklärungspädagogen gerade für wünschenswert gehalten. Nun erscheint diese Klage über den Sittenverfall nicht neu. Bereits JeanJacques Rousseau hatte sie erhoben. Neu war allerdings die Antwort, die Schiller auf seine Diagnose gab. Denn er zeigte eine Alternative auf, die seiner Meinung nach im Modell des griechischen Menschen bestünde. Die Lebensweise der Griechen in ihrer klassischen Zeit war für Schiller das ideale Muster. Nach ihm hätten die Griechen zu jener Zeit in der Einheit mit sich selbst gelebt. In seinem Sechsten Brief schreibt er dazu: „Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und 2

3 4

R. Safranski, Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München/ Wien 2004, 346–72. H.-O. Sieburg, Geschichte Frankreichs, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, 194–200. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von K. Goedeke, Bd. 10: Aesthetische Schriften, hg. von Reinhold Köhler, Stuttgart 1871, 274–384.

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energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen“.5 Diese für ihn ideale Welt der griechischen Staaten konfrontiert er mit seiner eigenen Gegenwart. In seiner Griechenbegeisterung war Schiller nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern er war gleichzeitig auch Träger dieses Zeitgeistes. Was er mit Blick auf das neuhumanistische Bildungsideal besonders herausstellte, ist seine enge Verbindung zu Wilhelm von Humboldt. Zur Veranschaulichung der ideengeschichtlichen Wechselwirkung zwischen beiden Persönlichkeiten soll kurz Humboldts Lebensweg nachgezeichnet werden.6 Der am 22. Juni 1767 geborene Wilhelm von Humboldt stammte aus einer Familie mit adeliger Gelehrtenbildung. Seine Eltern ließen ihn und seinen Bruder Alexander im Sinne der Aufklärung ausbilden und erziehen. Zu seinen Privatlehrern gehörten die Aufklärungspädagogen Johann Jakob Engel, der die Brüder vor allem in die antike Philosophie einführte, und Johann Heinrich Campe, der von 1769 bis 1773 und nochmals 1775/76 den gesamten Unterricht leitete. In Göttingen widmete sich Humboldt dem Studium der Philosophie, der Geschichte und den Alten Sprachen und hörte hier bei dem Schriftsteller und Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg, vor allem aber bei dem Klassischen Philologen Christian Gottlob Heyne. Der Anregung Campes folgend, reiste er 1789 mit ihm nach Paris, um die Revolutionsereignisse zu erleben. Doch die Reaktionen und die Verarbeitung dieses Ereignisses waren sehr verschieden. Während Campe begeisterte Briefe aus Paris schrieb und diese auch bald veröffentlichte, blieben Humboldts Tagebucheintragungen gegenüber den Pariser Ereignissen distanziert und kühl. Die Lage der Pariser Waisenkinder interessierte ihn ebenso sehr wie das eigentliche Revolutionsgeschehen. Nach seiner Rückkehr verlobte er sich im Dezember 1789 mit Karoline von Dacheröden, einer Jugendfreundin von Charlotte Schiller, geborene von Lengefeld. Karoline führte ihn in Jena und Weimar ein und durch sie lernte er Schiller, Goethe und Herder kennen. Ab Sommer 1790 trat Humboldt für eineinhalb Jahre in den preußischen Staatsdienst, zog sich daraus aber schnell zurück, um sich wieder seinen wissenschaftlichen und politischen Forschungen widmen zu können. In dieser Zeit nahm er Kontakt zu Friedrich Gentz, dem Schriftsteller, Politiker und Mitarbeiter des Fürsten Metternich auf. Aus diesem Austausch gingen Humboldts erste politische Schriften hervor: ,Idee über Staatsverfassung‘ und ,Idee zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘. Auszüge aus diesen Werken ließ Schiller in seinen Zeitschriften veröffentlichen. Von größerer Bedeutung für die Herausbildung seiner neuhumanistischen Bildungsideen wurde aber die enge Zusammenarbeit mit dem Homer-Forscher und Hallenser Professor Friedrich August Wolf. Beide 5 6

Schiller (wie Anm 4) 287. Vgl. A. Dove, Friedrich Wilhelm Christian Karl Ferdinand von Humboldt, Allgemeine Deutsche Biographie 13 (1881) 338–58. H. Scurla, Wilhelm von Humboldt. Werden und Wirken, Berlin 1985.

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trafen sich, um griechische Texte zu lesen und zu erarbeiten. Wie bereits erwähnt, entschlossen sich Humboldt und seine Frau Karoline im Jahr 1794, auf Wunsch Schillers nach Jena zu ziehen. Dort arbeiteten Humboldt und Schiller fast täglich zusammen. Nach Aufenthalten in Paris und Spanien bewarb sich Humboldt 1801 um die Stelle des preußischen Residenten am Heiligen Stuhl. Die politische Bedeutung dieses Amtes war gering. Napoleon beherrschte zu dieser Zeit die gesamte italienische Halbinsel und so auch den Kirchenstaat und den Papst. Um so intensiver konnte sich Humboldt dem Studium der Antike widmen. Er bezeichnete später die Jahre zwischen 1802 und 1808 als die zentralen Jahre seiner Bildung. Seine Frau Karoline blieb sogar noch vier weitere Jahre in Rom. Nach dem Zusammenbruch des preußischen Staates im Anschluss an die Niederlage bei Jena und Auerstedt wurde Humboldt vom Freiherrn vom Stein in das neue preußische Reformkabinett gerufen. Darin war er von Februar 1809 bis Juni 1810 als Leiter der Sektion des Kultus und Unterrichts im preußischen Innenministerium tätig. Von hier aus leitete er die neuhumanistische Reform des höheren Schulwesens Preußens und der preußischen Universitäten ein. Wegen Kompetenzstreitigkeiten nahm er seinen Abschied als Sektionschef und ging in den diplomatischen Dienst zurück. In dieser Funktion war er neben Staatsminister Hardenberg entscheidend an den Friedensverhandlungen und Verträgen in Frankfurt, Châtillon und Wien beteiligt. Die nach dem Wiener Kongress einsetzende reaktionäre Politik Preußens führte zu Auseinandersetzungen zwischen Hardenberg und Humboldt. Dieser verließ daher 1819 den Staatsdienst und widmete sich vor allem seinen Sprachstudien. Zu den Hauptwerken seines späten Wirkens gehören die Arbeiten ,Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java‘ und ,Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus‘. Wie bereits angedeutet, entwickelte Humboldt sein bildungspolitisches Programm im Diskurs mit Schillers Zeitanalyse. In seiner Arbeit von 1793, ,Theorie der Bildung des Menschen‘, geht auch Humboldt von einer kritischen Zeitdiagnose aus. Dabei beklagt er vor allem die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Humboldts Antwort ist bis heute Gegenstand bildungsphilosophischer Reflexionen. Als Aufgabe formulierte er: „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“.7 Humboldt sieht somit den Ort der Bildung des Menschen in der geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis. Das Modell für diese Praxis erblickte Humboldt – so wie Schiller – in den antiken Griechen, und das in doppelter Hinsicht: Zum einen anthropologisch, das heißt in den Möglichkeiten, die die 7

W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Bd. 1, hg. von A. Flitner und K. Giel, Stuttgart 1960, 235.

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Menschen aus sich heraus besitzen. Zum anderen politisch: Die soziale Ordnung der Griechen war seiner Meinung nach die Voraussetzung für die Entfaltung des antiken Menschen. Dabei ging es ihm nicht um die Wiederherstellung des klassischen Altertums, sondern um die Frage, welche Möglichkeiten einer wirksamen Begrenzung des Staates es gebe. Das politische Vorbild erkannte er dabei in der Polis – also den antiken Stadtstaaten wie Athen - und seine Überlegungen schlossen natürlich auch das altgriechische Bildungsideal der paideia ein, das gleichermaßen die musische, gymnastische und politische Bildung und Erziehung umfasste. Humboldt entwickelte daraus seine Vorstellung und seinen Begriff einer allgemeinen Menschenbildung, die eine Bildung für alle, ungeachtet ihres gesellschaftlichen Standes und ungeachtet des zukünftig auszuübenden Berufes umfasste. Insofern meinte ,allgemeine Menschenbildung‘ eben nicht die Vermittlung nützlicher Kenntnisse, sondern die Entwicklung der individuellen Kräfte zu einem harmonischen Ganzen.8 Damit war selbstredend eine deutliche Abkehr vom pädagogischen Konzept der Aufklärung verbunden, in dem der Nützlichkeitsaspekt in den Vordergrund gestellt worden war. Dies waren die Grundsätze, von denen Humboldt und seine späteren Mitstreiter in der Sektion des Kultus und Unterrichts und in der Wissenschaftlichen Deputation des preußischen Ministeriums – vor allem Georg Heinrich Ludwig Nicolovius und Johann Wilhelm Süvern – ausgingen. Humboldt selbst hatte seine Grundsätze 1809 in einem Plan zur Einrichtung des Königsberger Schulwesens und später im sogenannten ,Litauischen Schulplan‘ dargelegt: 9 Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. – Was das Bedürfniss des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen. Denn beide Bildungen – die allgemeine und die specielle – werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten. Für jene ist also jede Kenntniss, jede Fertigkeit, die nicht durch vollständige Einsicht der streng aufgezählten Gründe, oder durch Erhebung zu einer allgemeingültigen Anschauung (wie die mathematische und ästhetische) die Denk- und Einbildungskraft, und durch beide das Gemüth erhöht, todt und unfruchtbar. Für diese muss man sich sehr oft auf in ihren Gründen unverstandene Resultate beschränken, weil die Fertigkeit da seyn muss, und Zeit oder Talent zur Einsicht fehlt. […] Die Organisation der Schulen bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte. 8

9

W. v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan, in: Werke in fünf Bänden (wie Anm. 7), Bd. 4, 168–95. (wie Anm. 8 ) 188.

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Dementsprechend sollte es kein nach sozialen Ständen differenziertes, sondern nur ein einziges Bildungssystem geben, welches horizontal gegliedert war. Dabei hielt Humboldt an einer Unterscheidung von elementaren und höheren Schulen fest. Als Schaltstelle für die Verbindung von neuhumanistischem Bildungsideal und Bildungspraxis sah er aber die gelehrte Schule an. Erst hier begann für ihn der eigentliche Schulunterricht, dessen Zweck es war, Fertigkeiten zu üben und Kenntnisse zu erwerben, ohne die, so Humboldt, „wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich“ seien.10 Im Unterricht der gelehrten Schule sollte es also um zweierlei gehen: erstens um die Aneignung konkreten Wissens – also das Lernen selbst –, und zweitens um die Ausbildung der Fertigkeit, sich selbst Neues anzueignen – also um das ,Lernen zu lernen‘. Inhaltlich umfasste der Schulunterricht die Alten Sprachen, Mathematik und die Historie. Allerdings war bei der Historie nicht allein die Geschichte im engeren Sinne gemeint, sondern zugleich die empirischen Wissenschaften. Darunter verstand er auch die Geographie, Naturbeschreibung und die Physik. Der Schüler hatte sich auf allen drei Gebieten zu bewegen. Er konnte dabei aber individuellen Neigungen folgen und Schwerpunkte setzen. Humboldt betonte zwar stets, dass auf alle drei Gebiete gleichmäßiger Wert zu legen sei, aber aus seinen Erläuterungen werden Abstufungen deutlich. Dem historischen Unterricht – also der Vermittlung von Erfahrungskenntnissen – maß er die geringste Bedeutung zu. In der Mathematik hatte seiner Meinung nach die Vernunft ihren reinsten Ausdruck gefunden. Daher sei der Mathematikunterricht für die Entwicklung der Verstandeskräfte von besonderer Bedeutung. Wirklich zu sich selbst komme der Mensch aber erst durch die Sprache. In ihr objektiviere sich der menschliche Geist in umfassendster Weise. In ihr werde der Mensch in seinen nationalen und individuellen Ausprägungen erkennbar. Die Sprache bilde den Zugang zu den Gedanken und Empfindungen der Menschen. Erst die Beschäftigung mit der Sprache eröffne die tiefere Einsicht in die Conditio humana. Damit der Sprachunterricht seine bildende Kraft auch entfalten kann, muss er nach Humboldts Auffassung jedoch ganz anders betrieben werden, als das bis dahin in den Lateinschulen geschah. Denn nicht für den mündlichen und schriftlichen Gebrauch und die Nachahmung kanonisierter Vorbilder sollte die Sprache gelernt werden. Vielmehr ging es darum, dem Lernenden die Sprachstruktur einsichtig zu machen. Dabei sollte er erkennen, wie Ideen und Empfindungen in Sprache umgesetzt und Ideen und Empfindungen sprachlich miteinander verbunden werden. Um dieses Ziel zu erreichen, erschienen den Neuhumanisten die Alten Sprachen wesentlich geeigneter als die modernen Sprachen oder die Muttersprache. Denn die Alten Sprachen besaßen ein hohes Maß an Fremdheit und keine direkte Verbindung zur gegenwärtigen Welt. Insofern wurde auch dem Griechischen der Vorzug vor dem Lateinischen gegeben. 10

(wie Anm. 8) 169.

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Die Überzeugung vom herausragenden Wert des Griechischen für die Bildung des Individuums traf Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen mit der Überzeugung der Neuhumanisten, dass das antike Griechentum allgemein Vorbildcharakter habe. Die Griechen hätten in bislang unübertroffener Weise der Humanitätsidee Ausdruck verliehen. Dabei repräsentierten sie gewissermaßen den gesamten Spannungsbogen der menschlichen Entwicklung und Kultur. Daraus leitete Humboldt ab, dass im Studium der Griechen allein der ideale Weg zur Humanität zu sehen sei. Dass die Schwerpunktsetzungen verschieden sein konnten, wird später im Kontrast mit Gottfried Hermann deutlich werden. Lehrplan für preußische Gymnasien 1816

Klassen Latein Griechisch Deutsch Mathematik Naturwissenschaften Geschichte & Geographie Religion Hebräisch Zeichnen Kalligraphie

I (3 J.) 8 7 4 6 2

II (2 J.) 8 7 4 6 2

III (2 J.) 8 5 4 6 2

IV (1 J.) 8 5 4 6 2

V (1 J.) 6

VI (1 J.) 6

6 6 2

6 6 2

Summa 76 50 44 60 20

3

3

3

3

3

3

30

2 (2)

2 (2)

2

2

2

2

2

2

32

32

3 4 32

3 4 32

20 (10) 10 8 318

32

32

Aus diesem allgemeinen Bildungskonzept entwickelte der enge Mitstreiter Humboldts im preußischen Ministerium, Johann Wilhelm Süvern, einen speziellen Lehrplan, den er 1816 vorlegte. Hauptgegenstände des Unterrichts waren Griechisch, Latein, Deutsch und Mathematik, wofür Süvern drei Viertel des wöchentlichen Lehrpensums reservierte. Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie, Religion und Zeichnen traten als Nebenfächer hinzu. Gesang und Gymnastik sollten außerhalb der Schulstunden unterrichtet werden.11 Dies war natürlich ein sehr konzentriertes Lehrprogramm, das unter dem Leitwort ,Allgemeine Menschenbildung‘ lief. Alle für das praktische Leben wichtigen Lehrgegenstände, vor allem aber die modernen Fremdsprachen, fehlten darin. 11

F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Berücksichtigung auf den klassischen Unterricht, Bd. 2, Berlin/Leipzig 1921, 291 f.

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An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass die individualistische und philosophisch-ästhetische Ausrichtung des Neuhumanismus Ausdruck der sozialen Lage und der spezifischen Traditionen der Befürworter jenes Neuhumanismus war. Und das war in erster Linie das gebildete und vorwiegend protestantische Bürgertum. Dieses fand in der griechischen Antike einen kulturellen Zustand der Vollkommenheit. Auf diesen wurde Bezug genommen und gleichzeitig an die humanistischen Traditionen des 14. bis 16. Jahrhunderts angeknüpft. Insofern sah das gebildete Bürgertum in der Humboldtschen Bildungsreform auch das Kernstück der sogenannten SteinHardenbergschen Reformen.12

II. Im Gegensatz zu Humboldt entwickelte Gottfried Hermann aus seiner philologischen Arbeit heraus kein bildungs- oder gar schulpolitisches Programm. In seinen Vorlesungen und Übungen nahm er auf die Forderungen und Bedürfnisse des altsprachlichen Unterrichts an höheren Schulen keine Rücksicht und blieb gegenüber der Pädagogik distanziert.13 Dennoch wurde er vor allem mit seiner Griechischen Gesellschaft zum Ausgangspunkt einer spezifischen, auf Mittel- und Süddeutschland konzentrierten neuhumanistischen Bildungsidee. Dazu waren in Sachsen zwei Institutionen gegeben, die eine Brücke zwischen dem Humanismus des 16. Jahrhunderts und der neuhumanistischen Entwicklung um 1800 bildeten. Dies waren die Universität Leipzig und die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Hermann stand nicht nur in dieser auf den Humanismus bezogenen Tradition, sondern auch in einem eigentümlichen personalen Verhältnis zur Landesschule Pforta. Bis zum zwölften Lebensjahr wurde er von Karl David Ilgen erzogen, der nicht zuletzt durch Hermanns Unterstützung 1802 Rektor der Landesschule Pforta wurde.14 Ferner vereinigte er in seiner 1798 gegründeten Griechischen Gesellschaft eine Vielzahl Pfortenser Absolventen.15 Der 1772 in Leipzig geborene Hermann blieb seiner Heimatstadt zeitlebens verbunden. Nach anfänglichem Jurastudium folgte er seiner philologischen Neigung und studierte – vor allem bei Friedrich Wolfgang Reiz – Griechisch und Latein. Ilgen und Reiz bezeichnete Hermann später als seine 12

13

14

15

P. Lundgreen, Zur Konstituierung des ,Bildungsbürgertums‘. Berufs- und Bildungsauslese der Akademiker in Preußen, in: W. Conze/J. Kocka (Hgg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen (Industrielle Welt, Bd. 38), Stuttgart 1992, 79–108. H. Koechly, Gottfried Hermann. Zu seinem hundertjährigen Geburtstage, Heidelberg 1874, 84 f. P. Dorfmüller, Vier Briefe von Gottfried Hermann aus dem Nachlass Carl David Ilgens, in: Das Altertum 53 (2008), 51–70. Koechly (wie Anm. 13) 79–81. Vgl. auch K. F. Ranke, August Meineke. Ein Lebensbild, Leipzig 1871, 26 f.

Gottfried Hermann und Wilhelm von Humboldt

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eigentlichen Lehrer. Gleichzeitig setzte er sich intensiv mit Kants Philosophie auseinander. 1794 habilitierte sich Hermann in Leipzig und eröffnete im folgenden Jahr seine akademische Lehrtätigkeit mit Vorlesungen zu Kant und Sophokles, wandte sich danach aber ausschließlich philologischen Themen zu. Als Anerkennung für seine Lehrtätigkeit erhielt er 1797 eine außerordentliche Professur und begründete im Jahr darauf die Griechische Gesellschaft, aus der über 200 hervorragende Universitätsgelehrte und Schulmänner hervorgingen. 1803 wurde er zum ordentlichen Professor für Eloquenz und 1809 zusätzlich für Poesie ernannt.16 Hermanns wissenschaftliche Neigungen gingen in eine philosophische und eine philologische Richtung. Bereits während seines Studiums wandte er sich der Philosophie Kants zu. Dazu besuchte er 1793/94 in Jena die Vorlesung Karl Leonhard Reinholds, der als hervorragender Kenner der Kantschen Lehrbegriffe galt. Die logisch-begriffliche Schulung und gewisse von Kants Philosophie bestimmte Tendenzen zum Rationalismus und zur abstrakt-systematischen Deduktion schlugen sich später in Hermanns Arbeiten zur griechischen Metrik und Grammatik nieder. Ungeachtet seiner phänomenalen Virtuosität in der griechischen und lateinischen Sprache blieb er im Verhältnis zum philologischen Enthusiasmus Jenenser Prägung, dem auch Humboldt zuzuordnen war, distanziert. Spöttisch äußerte er sich dazu 1813 in einer Dekanatsrede: 17 Vt exemplo utar, quis nescit istos umbraticos homines, qui nihil usquam inveniri divinius putant, quam Graece Latineque doctum esse. Hoc summum esse censent; huc omnia referunt; caetara nugas esse credunt; libros Graece scriptos intelligere maximam virtutem, Ciceronem Latine scribendo exprimere immortalem gloriam esse putant: ut paucis complectar, solos Graecos et Romanos, homines fuisse indicant, et, si per ipsos staret, e nobis quoque Graecos aut Romanos facerent.

Natürlich war auch Hermann der Meinung, dass das Studium des klassischen Altertums nur über ein ,richtiges Verstehen der Werke‘ erzielt werden könne.18 Anders als Humboldt vertrat er aber nicht die Ansicht, dass über die Erforschung des ,antiken Menschen‘ zur Anschauung der Idee des Menschen selbst zu gelangen sei. Folgt man Friedrich Paulsen, so lag hierin der Kern der Auseinandersetzung mit August Boeckh.19 Allerdings hatte dieser Disput 16

17 18

19

Zum Leben Hermanns vgl. O. Jahn, Gottfried Hermann. Eine Gedächtnisrede gehalten am 28. Januar 1849 in der Academischen Aula zu Leipzig, Leipzig 1849; Koechly (wie Anm. 13); C. Bursian, Johann Gottried Jakob Hermann, in: Allgemeine Deutsche Biographie 12 (1880), 174–180; E. Bethe, Gottfried Hermann, in: Sächsische Lebensbilder 2 (1938), 198–206; E. G. Schmidt, Gottfried Hermann, in: Classical Scholarship. A biographical encyclopedia, ed. By W. M. Calder, New York/London 1990, 160-175. Zitat nach Koechly (wie Anm. 13) 314. K. F. Ameis, Gottfried Hermann’s pädagogischer Einfluß. Ein Beitrag zur Charakteristik des altclassischen Humanisten, Jena 1850, 5. Paulsen (wie Anm. 11) 407 f.

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auch eine personale Dimension. Die Mehrzahl der Hermann-Schüler waren Absolventen der Landesschule Pforta und kamen so mit einer ausgezeichneten lateinischen Sprachbildung an die Universität. Hermann entwickelte die Sprachfertigkeit seiner Schüler sowohl im Lateinischen als auch im Griechischen weiter, aber für den Schulunterricht empfahl er nur die Übung im Latein-Schreiben und die Rückübersetzung von Texten ins Griechische, um dem Schüler die Vergleichsmöglichkeit zum klassischen Text zu geben. Den mündlichen Gebrauch der griechischen Sprache behielt er der universitären Bildung und speziell seiner Griechischen Gesellschaft vor. Hermann ging es darum, „durch thatsächliche Eingewöhnung seiner Schüler […] ein klares und folgerichtiges Denken“ zu erzeugen.20 Davon abgeleitet und mit Blick auf die Landesschule Pforta empfahl er eine möglichste Beschränkung des gymnasialen Curriculums. Dabei unterstrich er, „daß von vielerlei Dingen reden zu können, und mit keinem recht bekannt zu sein, nicht Vielseitigkeit ist“, sondern „gerade das, was man mit diesem Namen belegt, die größte Einseitigkeit“ sei.21 Multum, non multa, lautete also der Leitspruch. Darüber hinaus regte Hermann spezielle Methoden für die Klassikerlektüre an. Einerseits habe der Philologe die Aufgabe des richtigen Erklärens, worunter er verstand: „Wort und Sinn eines Schriftstellers dem jedesmaligen Hörer und Leser nach dem ihm zukommenden Standpunkte zum Verständnis zu bringen“.22 Anderseits sollten seiner Meinung nach an den Gymnasien die antiken Werke schneller und im größeren Umfang gelesen werden. Entsprechend unterstrich Hermann, dass man eine Sprache „überhaupt nur durch vieles und verständiges Lesen der Schriftsteller“ lerne.23 Dabei sollte die erste Lektüre eines Werkes nur kursorisch erfolgen, um eine Vorstellung vom Gesamtwerk zu erhalten, und erst danach war der Text detaillierter zu behandeln.24 Gleichzeitig war auf die grammatische Richtigkeit zu achten, denn nur so sei „griechischer Sinn und Geist und Beobachtung einer Menge von Feinheiten“ möglich. „Vor allen Dingen“, so Hermann, „bedarf es einer zweckmäßigen Interpretation, die überall das Nothwendige giebt, und weder durch Unnöthiges und Ungehöriges vom vorliegenden Gegenstande abführt, noch das, was Missverständnissen ausgesetzt ist, unberührt läßt“.25 Gemeint war dabei aber keine kulturhistorische Einordnung antiker Texte, sondern eine textkritische und grammatikalische Analyse. In diesem Rahmen schloss Hermann auch jede Form induktiver Beweise aus.26 Bei der Diskussion sprachlicher Untersuchungen antiker Texte ging Hermann auf die Fragen der ästhetischen Schönheit ein. Doch unterschied er sich 20 21 22 23 24 25 26

Ameis (wie Anm. 18) 29. Ameis (wie Anm. 18) 30. Koechly (wie Anm. 13) 86. Ameis (wie Anm. 18) 33. Ameis (wie Anm. 18) 35. Ameis (wie Anm. 18) 34. Ameis (wie Anm. 18) 40.

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auch hier von den Ansichten Schillers und Humboldts. Während Schiller darauf Wert legte, dass die Schönheit einzelner Werke stets auf das Schönheitsideal des gesamten klassischen Altertums zurückweise, entdeckte Hermann diese Kategorien allein im Individuellen. „Das Wesen eines Kunstwerkes“, so sagt er, „besteht allemal in der Individualität, weil es nicht logisch unter den Begriff des Schönen oder Erhabenen subsumiert, sondern nur in der Anschauung aufgefaßt, und nur gezeigt werden kann, wie diese individuelle Form ein ästhetisches Ganzes gebe.“27 Die abstrakte Idee des Schönen und Erhabenen sei mit den schwankenden Urteilen subjektiver Gefühle nicht zu erfassen. Dabei gestand er aber zu, dass insbesondere für die Griechen konkrete Musterbilder dieser Ideen zu entwickeln und festzumachen seien. Lehrplan der Landesschule Pforta 1811 (eingeführt 1812)28 Klassen Latein Griechisch Hebräisch Deutsch Französisch

Theologie Geschichte Geographie Mathematik /Physik Rhetorik Logik/ Psychologie Archäologie Encyklopädie (Abitur) Schreibkunst Tanzkunst Gesangunterricht

I Selekta 9 4 2

2 2 2

28

3 3

IV Tertia 12 5

V Quarta 15 4

1 2

2

3

2

2

3 2 2

2

2

1

3 2 4 1

Summa 54 21 6 6 6

8 11 4 12

2

6 2

1 2

1 2

26

27

II III Prima Sekunda 9 9 4 4 2 2 2 1 2 2

26

2

2 2 2

2 2 2

4 4 6

27

35,5

38,5

153

Ameis (wie Anm. 18) 49. C. Kirchner, Die Landesschule Pforta in ihrer geschichtlichen Entwicklung seit dem Anfange des XIX. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, Naumburg 1843, 86.

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Bildungspolitische Wirkung auf den gymnasialen Unterricht erzielten Hermanns Überlegungen nicht durch ihn selbst, sondern ausschließlich durch seine Schüler. So flossen seine Methoden in den Lektüreplan von 1825 ein, den der Pforta-Absolvent und Hermann-Schüler August Meineke als Rektor des Gymnasiums in Danzig dem preußischen Unterrichtsministerium vorlegte und den das Ministerium allen preußischen Gymnasien empfahl. Als Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums setzte Meineke selbst diesen Lektüreplan um.29 Die methodischen Überlegungen Hermanns finden sich aber auch im bayerischen Schulplan von 1829, den der Pfortenser Absolvent und Hermann-Schüler Friedrich Thiersch entwickelte.30 Auf dieser Grundlage stellten die Hermannschüler Hermann Sauppe und dessen Schwiegersohn Moriz Haupt eine Sammlung klassischer Texte zusammen, die den pädagogischen Anforderungen der Klassenstufen Unterseunda bis Oberprima entsprachen.31 Die Lehrplanvorschläge, die Meineke und Thiersch unterbreiteten, waren letztlich aber am Vorbild der Landesschule Pforta orientiert.

III. Während die Ideen zu einer neuhumanistischen Bildung weitgehend unvermittelt nebeneinander standen und sich das preußische Konzept erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in Mitteldeutschland durchzusetzen begann, kam es bei der Übersetzung von Aischylos’ Agamemnon zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Humboldt und Hermann. Seit seinem zeitweiligen Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1791 setzte sich W. von Humboldt eingehend mit dem griechischen Altertum auseinander und studierte vor allem die Werke Homers und Pindars. In diesen Fragen tauschte er sich mit dem Hallenser Professor Friedrich August Wolf aus, den er im Sommer 1792 in Halle besuchte. Bereits bei diesem zweitägigen Besuch wurden die gemeinsamen Ansichten von der Antike offenbar. Das Gefühl einer gegenseitigen geistigen Förderung führte beide zu einem intensiven, freundschaftlichen Austausch. Auf Hermanns 1796 erschienenes Werk De metris stieß Humboldt offenbar erst in Auseinandersetzung mit Goethes ,Hermann und Dorothea‘. Indem Goethe in Fragen der Metrik sowohl Humboldts Rat als auch Hermanns Arbeit heranzog, war auch Hum29 30

31

Ameis (wie Anm. 18) 32; Ranke (wie Anm. 15) 44–48. M. Liedtke, Von der erneuerten Verordnung der Unterrichtspflicht (1802) bis 1870, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, Bd. 2: Geschichte der Schule in Bayern von 1800 bis 1918, Bad Heilbrunn 1993, 90–95. M. Haupt/H. Sauppe (Hgg.), Sammlung griechischer und lateinischer Schriftsteller mit deutschen Anmerkungen, Berlin 1854 ff. Vgl. auch Haupts und Sauppes Sammlung von Ausgaben griechischer und lateinischer Schriftsteller, in: Allgemeine Schulzeitung. Ein Archiv für die neueste Geschichte des gesammten Schul-, Erziehungs- und Unterrichtswesens der Universitäten, Gymnasien, Volksschulen und aller höheren und niederen Lehranstalten, 31 (1854), Heft 60, 515–520.

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boldt animiert worden, sich mit Hermanns De metris auseinanderzusetzen. Allerdings verließ er 1797 Jena, und damit endete vorerst auch seine Auseinandersetzung mit Hermanns Werk. Erst unmittelbar nach seiner Berufung zum Direktor der Sektion des Kultus und Unterrichts im preußischen Innenministerium im Herbst 1808 nahm er über Wolf Kontakt zu Hermann auf. Zu dieser Zeit hatte Humboldt seine Übersetzung des Agamemnon bereits fertig gestellt und in Auszügen an Wolf gesandt, der im Januar 1809 darüber an Hermann berichtete. Humboldt war sich der Besonderheit seiner Übersetzung, die Aischylos im Wortlaut, im Versbau und im Versmaß folgte, durchaus bewusst. Auf Wolfs Empfehlung wandte er sich Mitte Februar 1809 selbst an Hermann mit der Bitte um Durchsicht und Korrektur des Manuskripts. Allerdings war er nicht bereit, das originale Manuskript an Hermann zu senden, sondern nur eine durchschossene Abschrift. Hermann, der sich seit seinen Lehrjahren bei Friedrich Reiz mit Aischylos und Plautus beschäftigte und umfangreiche Ausgaben plante, sah im Humboldtschen Anliegen offenbar eine gute Gelegenheit, die eigenen Arbeiten voranzutreiben. Zugleich erkannte er, dass seine Forschungen zur Metrik und Prosodie in Humboldts Übersetzung eingeflossen waren. Entsprechend euphorisch sprach er sich über die Übersetzung aus: 32 Ich wiederhole es, noch bei keinem Übersetzer der Alten als bei Ihnen habe ich die zu diesem Geschäfte wesentlichen drei Erfordernisse beisammen gefunden, richtiges Verstehen des Originals, Gewandtheit in der Sprache, in welche übersetzt wird, und das so seltene Talent, auch in Ansehung des Tons dieselbe Wirkung, die das Original macht, hervorzubringen.

Humboldts Arbeit als Sektionsdirektor ließ eine kontinuierliche Arbeit am Agamemnon offenbar nicht zu. Gleichzeitig hatte Wolf eine gründliche Revision der Übersetzung, insbesondere der Chöre gefordert. Zu dieser war Humboldt erst als preußischer Gesandter in Wien vom Herbst 1812 bis zum Sommer 1813 gekommen. Zu einer zwischenzeitlichen Abkühlung des Verhältnisses zwischen Humboldt und Hermann kam es offenbar auch, nachdem Hermann den ihm angebotenen philologischen Lehrstuhl an der neuen Berliner Universität zuerst angenommen und dann aus finanziellen Erwägungen abgelehnt hatte. Die revidierte Fassung des Agamemnon führte Humboldt in den Kriegszügen vom Herbst 1813 mit. Zwei Tage nach der Völkerschlacht kam er am 20. Oktober 1813 in Leipzig an. In den zwei Tagen, in denen er bei Hermann wohnte, ging er mit ihm einige Szenen seiner überarbeiteten Fassung durch. Die schizophrene Situation der von der Schlacht gezeichneten und mit Toten und Verwundeten überfüllten Stadt sowie die Gespräche zwischen Humboldt und Hermann über die Agamemnon-Übersetzung haben Friedrich

32

Hermann an Humboldt, 21. Februar 1809, in: Wilhelm von Humboldts Briefe an Gottfried Hermann, hg. von A. Leitzmann, Weimar 1929, 11.

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Gottlieb Welcker und Heinrich von Treitschke überliefert: 33 „Mit Hermann besprach sich Humboldt auf dem Schlachtfeld bei Leipzig, das er doch auch nicht ungesehen lassen wollte, und als Hermann aufmerksam machte auf die seltsame Verbindung dieser Zwecke, sagte Humboldt: Ja sehen Sie, Liebster, Reiche gehen zugrund, wie wir hier sehen, aber ein guter Vers besteht ewig“. In diesen Leipziger Tagen verständigten sich beide auf die Form der herauszugebenden Übersetzung. Dabei wurde eine kombinierte Ausgabe des Agamemnon geplant, die die Humboldtsche Übersetzung und eine kritische Textausgabe von Hermann beinhalten sollte. Später regte Humboldt an, die Anmerkungen zur Übersetzung, die zumeist Hermann anbrachte, in Griechisch zu formulieren, damit „kein anderes Wort als Griechisch und Deutsch in dem Werkchen sey“, wie Humboldt meinte.34 Noch annähernd drei Jahre zog sich die weitere Arbeit hin. Die von Albert Leitzmann veröffentlichten Briefe Humboldts an Hermann vermitteln den Eindruck, als ob die Änderungsvorschläge Hermanns zu einer weitgehenden Revision des gesamten Manuskripts führten. Es gab kaum einen Vers, zu dem Hermann keine Änderungsvorschläge unterbreitete. An seine Frau schrieb Humboldt am 20. Dezember 1814: 35 „Hermann ist dagegen freilich auch eigensinnig, willkürlich und kühn, ändert den Text, wenigstens die Versabteilung gewiß auch oft umsonst und macht mir dadurch manchmal unnötige Mühe“. Dennoch scheint er Hermanns Vorschläge weitgehend übernommen zu haben. Allerdings ließ ihm die diplomatische Tätigkeit nur wenig Zeit zur Überarbeitung. Ungeachtet dessen drängte er auf eine zügige Fertigstellung des Werks, das zum Jahreswechsel 1815/16 publikationsreif war. Eine sofortige Veröffentlichung verhinderte indes Hermanns Verleger Gerhard Fleischer in Leipzig, der eine griechisch-deutsche Doppelausgabe des Agamemnon für unverkäuflich hielt. Hermann empfahl, allein die Übersetzung zu publizieren, was mit nochmaligen Überarbeitungen vor allem des Anmerkungsapparates verbunden war. Nach sieben Jahren gemeinsamer Arbeit erschien im Herbst 1816 Humboldts Übersetzung des Agamemnon.

Resümee Die Zusammenarbeit von Humboldt und Hermann bei der Übersetzung von Aischylos’ Agamemnon lässt die unterschiedlichen Auffassungen beider über die curriculare Ausprägung der neuhumanistischen Bildung in einem anderen Licht erscheinen. Dabei differenzierte Humboldt zwischen seinem auf das gesamte Bürgertum bezogenen Bildungsideal und der wissenschaftlichen philologischen Arbeit. „Ich bin mir bewußt“, schrieb er nach der Veröffent-

33

34 35

A. Leitzmann, Randbemerkungen Welckers zu Hayms Biographie: Archiv für das Studium der neueren Sprache und Literatur 133 (1915) 405. Humboldt an Hermann, Wien, 6. März 1815, in: Leitzmann (wie Anm. 32) 28. Humboldt an Hermann, Wien, 2. Dezember 1814, in: Leitzmann (wie Anm. 32) 27.

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lichung der Übersetzung am 13. August 1816 an Hermann, „bei dieser Arbeit auf keinerlei Weise nach augenblicklichem Gefallen, sondern allein nach Richtigkeit und Vollendung gestrebt zu haben, und Ihr Beifall ist mir dabei die erwünschte Belohnung“.36 Er scheint sich dabei sehr wohl darüber im Klaren gewesen zu sein, dass er in dem anhaltenden Streit zwischen Hermann und Boeckh Partei ergriff. Dieser Umstand schlug auch auf die Beziehung zwischen Humboldt und Wolf durch, der die Verfahrensweise der Arbeit am Agamemnon kritisierte. Gleichzeitig fühlten sich Humboldt und Hermann aber durch ihre gemeinsame methodisch-philosophische Grundlage verbunden, die auf die rationalistische Pädagogik der Aufklärung und das abstrakt-systematische Denken Kants zurückging. Dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die von Humboldt initiierte preußisch-norddeutsche Variante des Neuhumanismus im Bildungswesen endgültig durchsetzte, hatte aber vor allem politische und bildungspolitische Ursachen. In dieser Zeit verlor das humanistische Gymnasium nicht nur seine sozial ausgleichende Funktion, auch der altsprachliche Unterricht erhielt eine andere Bedeutung. Es ging jetzt nicht mehr um das Eindringen in den Geist der Antike, sondern um die formale Sprachbildung. Friedrich Paulsen führt dazu treffend aus: 37 „[L]ateinische Grammatik und Extemporalien mochten am meisten geeignet scheinen, subjektivem Meinen und individueller Willkür entgegenzutreten; die Grammatik spricht imperativisch und fordert Gehorsam“. Insofern versuchte die preußische Bildungspolitik, das Gymnasium neu zu verankern. Der Anknüpfungspunkt war aber nicht das neuhumanistische Bildungsideal humboldtscher Prägung, sondern die Tradition der humanistischen Lateinschulen. Damit traten auch Hermanns bildungstheoretische Ansichten wieder auf die Tagesordnung, ohne dass dabei die Verbindung zu dem Leipziger Philologen konkret benannt worden wäre. Hinzu kam, dass führende Vertreter des sächsisch-süddeutschen Neuhumanismus, wie August Meineke und vor allem Hermann Bonitz – beide Absolventen der Landesschule Pforta – in Preußen tätig wurden und damit zur Überbrückung der neuhumanistischen Richtungen beitrugen.

36 37

Humboldt an Hermann, Frankfurt, 13. August 1816, in: Leitzmann (wie Anm. 32) 46. Paulsen (wie Anm. 11) 556.

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Programm und Fragment: Zu Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831)

Dass Goethe im Verlauf seines langen Lebens zahlreiche persönliche Kontakte zu klassischen Philologen hatte, kurz- und längerfristige, einige von größerer Bedeutung für seine Werke, ist bekannt1 und doch noch nicht im

Im folgenden verwendete Siglen und Abkürzungen: AA-Ls:

Goethe, Schriften zur Literatur. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 6 Bde., Berlin 1970-78. BG: Goethe, Begegnungen und Gespräche, hg. von E. Grumach und R. Grumach, Berlin 1965 ff. DjG³: Der junge Goethe, hg. von H. Fischer-Lamberg, 5 Bde. u. Registerband, Berlin/ New York 1963-74. FA: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 39 Bde. in 2 Abt., Frankfurt am Main 1985-99 [Frankfurter Ausgabe]. GG: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe und dem Nachlaß von Flodoard Freiherrn von Biedermann erg. und hg. von W. Herwig, 5 Bde., Zürich/München 1965-87. GJb: Goethe-Jahrbuch. GSA: Goethe- und Schiller-Archiv (Weimar). GT: Johann Wolfgang Goethe, Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik hg. von J. Golz, Stuttgart/Weimar 1998 ff. MA: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. von K. Richter, 21 Bde. u. Registerband, München 1985-99 [Münchner Ausgabe]. Opuscula: Gottfried Hermann, Opuscula, Bde. I–VIII, Leipzig 1827-77. Petersen: U. Petersen, Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption der Goethezeit, Heidelberg 1974. Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeiter der Ausgabe H. Ruppert, Weimar 1958. SNA: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. von J. Petersen […], Weimar 1949 ff. WA: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 133 Bde. (in 143), Weimar 1887-1919 [Weimarer Ausgabe]. 1

Der Bogen spannt sich vom häuslichen Lateinunterricht durch Johann Jakob Scherbius und den seinerseits durch die Gymnasialzeit am Coburger ,Casimirianum‘ altsprachlich vorgebildeten Vater (überliefert sind die Übungshefte des siebenjährigen Goethe, die Labores iuveniles) über den (vergeblichen) Wunsch des 15jährigen, sich bei Christian Gottlob Heyne in Göttingen als Hörer einzuschreiben (Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 6. Buch: WA I 27, 42), die Teilnahme an Vorlesungen F. A. Wolfs in Halle (1805), die langjährige fachliche Beratung durch den Altphilologen Friedrich Wilhelm Riemer (zunächst auch Hauslehrer für den Sohn August), später auch durch Karl Wilhelm Göttling, die sporadischen oder längerfristigen Kontakte mit Schulmännern und Universitätslehrern

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Christoph Michel

Zusammenhang dargestellt. Hans Rupperts Skizze ,Goethe und die Altertumswissenschaftler seiner Zeit. Mit den von Goethe und Heyne gewechselten Briefen‘2 hat keine Monographie angeregt. Nicht einmal sein Vorschlag, „bei einer Neuauflage des Standardwerkes von E. Grumach, Goethe und die Antike, Berlin 1949, im Abschnitt ‚Altertumswissenschaft’ die Zeugnisse über F. A. Wolf hinaus um die für die bedeutenden anderen Philologen“ zu vermehren,3 wurde realisiert, die ,Neuauflage‘ ist noch heute ein Desiderat. Es blieb bei punktuellen Erschließungen der doch eher raren Beziehungen Goethes zu prominenten ‚Fachgelehrten’, denen er persönlich begegnete, mit denen er längerfristig korrespondierte, deren Publikationen ihn anregten und beschäftigten. Nur für zwei herausragende Philologen hat die Forschung die Dokumente zusammengeführt, ausgewertet oder zum Sprechen gebracht: Friedrich August Wolf und Gottfried Hermann; und nur Wolfs Briefe sind bisher durch ausführliche Kommentare erschlossen.4 Eine Gesamtdarstellung der wechselseitig anregenden, von Goethe aber auch immer wieder als belastend empfundenen Kontakte mit Wolf5 steht noch aus; hingegen sind wir durch die Darstellung Paul Primers6 über Hermanns Beziehungen zu Goethe

2 3

4

5

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(u. a. Voß d. J., Passow, Osann, Schubarth, Welcker) bis zu dem vermächtnishaften Dankesbrief an Gottfried Hermann vom 12. November 1831 (unten S. 81). Forschungen und Fortschritte 33 (1959), H. 8, 230–36. Ruppert (wie Anm. 2) 230 Anm. 1. Vgl. Grumach, Goethe und die Antike, II 933–53; in den Zeugnissen sind außer Wolf auch Hermann und Bentley erwähnt, Hermann außerdem in den Zeugnissen (1. Bd.) zu Aischylos (249–53), Euripides (274–97), Plautus (326) und Accius (334) sowie zum Abschnitt ,Glaube‘ (2. Bd., 707–16: Creuzer–Hermann). – Zu Goethe und Welcker s. J. Wohlleben, Beobachtungen über eine Nicht-Begegnung: Welcker und Goethe, in: W. M. Calder III u. a. (Hgg.), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung (Hermes Einzelschriften 49), Stuttgart 1986, 3–34. Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. Die Sammlung besorgt und erläutert durch S. Reiter, 3 Bde., Stuttgart 1935. Die 43 erhaltenen Briefe Wolfs an Goethe (aus dem Zeitraum 1795-1817) hatte Reiter schon im GJb 27 (1906) 3–96 veröffentlicht. Für Goethes 30 Briefe an Wolf (1795-1819) müssen die Bände 10–11, 14, 16–17, 19, 21–22, 25, 27 und 31 der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe konsultiert werden. Reiter selbst nimmt in seinem ,Vorbericht‘ zum Problem der fehlenden ,Gegenstimme‘ Stellung (Bd. 1, xi f.). Siehe die summarische Äußerung Goethes gegenüber Kanzler von Müller anlässlich der letzten Begegnung mit Wolf auf dessen Durchreise nach Frankreich in Weimar am 5. April 1824 (Kanzler Friedrich von Müller, Unterhaltungen mit Goethe, hg. von R. Grumach, Weimar 1982, 122): „Geheimrat Wolf sei der unverträglichste, unleidlichste Sterbliche durch sein ewiges Negieren. Deshalb sei Goethe so gut wie zerfallen mit ihm. Wenn er komme, sei es, als ob ein beißiger Hund, ein reißendes Ungetüm ins Haus trete. «(…) oft hatte ich etwas von ihm gelernt; wenn ich es nach 2 Tagen wieder vorbrachte, behandelte er es wie die größte Absurdität»“. – Vgl. auch J. Irmscher, Friedrich August Wolf e Goethe, in: S. Cerasuolo (Hrsg.), Friedrich August Wolf e la scienza dell’antichità. Atti del convegno … Napoli 24-26 maggio 1995, Neapel 1997, 171–76; M. Riedel, Zwischen Dichtung unf Philologie. Goethe und Friedrich August Wolf, in: DVjs 71 (1997) 92 – 109. P. Primer, Goethes Beziehungen zu Gottfried Hermann. Schulprogramm des KaiserFriedrichs-Gymnasiums Frankfurt am Main 1913; vgl. dazu die kritische und weiterführende Besprechung von S. Reiter, Sokrates NF 2 (1914) 643–50. Erste Hinweise auf

Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831)

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ausreichend informiert, während die von Ernst Günther Schmidt vorbereitete kommentierte Edition des (schmalen) Briefwechsels noch nicht vorliegt.7 Dieser Edition vorgreifend soll hier über Vorgeschichte, Verlauf und Ertrag des Briefkontakts zwischen Goethe und Hermann berichtet und darüber hinaus der Frage nachgegangen werden, wie Goethe die fachspezifischen Mitteilungen Hermanns in seine literarische Produktion integriert, aber auch Hermann fachübergreifend als ,Gleichgesinnten’ etabliert hat. Dabei ist es bemerkenswert, dass der Briefwechsel mit Hermann erst 1820 einsetzt, kurz nach dem Ende der schriftlichen Korrespondenz mit F. A. Wolf (1819), bemerkenswert ferner, dass Goethe auf Hermann zuerst 1796 aufmerksam wurde, nah an der ersten persönlichen Begegnung mit Wolf und dessen Zusendung der Prolegomena ad Homerum (1795), wodurch der Briefwechsel mit letzterem in Gang gekommen war.8 Grund für Goethes damaliges Interesse an Hermann war dessen eben erschienene Schrift De metris poetarum Graecorum et Romanorum libri III, die den Vierundzwanzigjährigen mit einem Schlag bekannt machte. Goethe, der für die Arbeit an seiner epischen Dichtung ,Hermann und Dorothea‘ wie schon für den 1794 veröffentlichten ,Reineke Fuchs‘ Hexameterstudien betrieb,9 erwarb die Schrift10 und begann im Januar 1797 mit deren Studium.11 Nach Wilhelm v. Humboldts Eindruck wurde sie in der nächsten Zeit zu Goethes „Hauptbuch, das er vorzüglich als eine Autorität zu [metrischen] licenzen zu gebrauchen“ schien.12 An Humboldt wandte sich Goethe offensichtlich auch mit der Bitte, ihm das Verständnis des Buchs zu erleichtern, wie aus Humboldts Brief an Goethe vom 16. Februar 1797 hervorgeht, dem er ein um eigene Beispiele und Erklärungen erweitertes Referat aus der ,Metrik‘ beilegte (GSA Sign. 28/439 St. 11, Bl. 2-4): 13 Ich habe nunmehr im Herrmann das Kapitel vom Hexameter durchgelesen,

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die Beziehungen und den Briefwechsel bei H. Köchly, Gottfried Hermann. Zu seinem hundertjährigen Geburtstage, Heidelberg 1874, 62 f. und 227 f. Angekündigt: ,Johann Wolfgang Goethe – Gottfried Hermann, Briefwechsel 1820-1831. Aufgrund der Vorarbeiten von Ernst Günther Schmidt und Ekkehard Stärk hg. von Christoph Michel‘ (Leipziger Studien zur Klassischen Philologie 4), Tübingen 2010. – Vgl. auch E. G. Schmidt, Gottfried Hermann, in: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, hg. von W. W. Briggs und W. M. Calder III, New York/London 1990, 160–75. F. A. Wolf, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 4) I 172 (Nr. 154); WA IV 10, 309 (Nr. 3211). Nicht nur weil ihm Voß’ in der Vorrede zu seiner Georgica-Übersetzung dargelegte Anforderungen an die Gestaltung des deutschen Hexameters „sibyllinische Blätter“ geblieben waren (und trotz der Beratung durch Herder, Knebel und Wieland), hatte Goethe 1800 eine metrische Umarbeitung des ,Reineke Fuchs‘ mit Unterstützung A. W. Schlegels begonnen, die jedoch nur handschriftlich für die ersten vier Gesänge überliefert ist (vgl. dazu MA 4. 1, 1022 f.). Ruppert, Nr. 676. Goethes Tagebuch vom 14. 1. 1797: „Früh Herrmann de Metris. Böttiger wegen des epischen Gedichts“ (GT II 1, 93). An Carl Gustav v. Brinckmann, 13. Februar 1797 (BG 4, 284). Die Beilage hier erstmals gedruckt.

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und glaube Ihnen davon Rechenschaft geben zu können. Wenn er [Hermann] von einer incisione prima, septima, duodecima u. s. w. spricht, so versteht er darunter die Cäsur nach der ersten, siebenten, zwölften Silbe u. s. w. Nun rechnet er jeden Fuß zu drei Silben, weil er so viele haben kann, wenn er sie auch in dem gegebenen Beispiel nicht hätte. So ist incisio septima die Cäsur nach der ersten Silbe des 3ten Fußes, die, welche die Griechen "μμ# nennen, weil diese gerade umgekehrt jeden Fuß zu zwei Silben annehmen u. zwei kurze für eine lange zusammen nehmen Hiernach sind nun soviel Cäsuren im Hexameter möglich, als derselbe Silben hat, die letzte abgerechnet, folglich 16. Herrmann führt von diesen 13 an. Die von ihm citirten Grammatiker sind nicht so ausführlich. Indeß will ich die 3 bei ihm fehlenden hinzufügen, u. mit Beispielen belegen, damit Sie das Schema durchaus vollständig beisammen haben. Vorher bemerken will ich nur noch, daß alle diese Cäsuren in 3 Classen zerfallen; 1.) in solche, die auf eine der ersten langen Silben der Füße treffen u. folglich männlich sind, in die 1te, 4te, 7te, 10te, 13te, 16te. 2.) in weibliche, die auf der ersten Kürze des Daktylus ruhen, und also nur dann möglich sind, wenn ein Daktylus dasteht, in die 2te, 5te, 8te, 11te, 14te; 3.) in solche, die auf die letzte Silbe des Dactylus oder Spondeus fallen, u. wo folglich Wort u. Fuß zugleich schließt, in die 3te, 6te, 9te, 12te, 15te. Hier nun wäre das ganze Schema: 1.) nach der 1ten Silbe: 2.) 2ten 3.) 3ten 4.) 4ten 5.) 5ten 6.) 6ten +7.) 7ten +8.) 8ten 9.) 9ten +10.) 10ten 11.) 11ten 12.) 12ten 13.) 13ten 14.) 14ten 15.) 15ten 16.) 16ten

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|   "  %    μ  monstra | ferunt; populatque ingentem farris aceruom & "& |  μ    %

 " μ  μ"μ, |    μ& "  '’ (μ&. degenerare | tamen, ni vis humana quotannis in cassum furit. | ergo animos aeuumque notabis fortunam Priami | cantabo et nobile bellum

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montibus audiri fragor | aut resonantia longe Eumenides, quibus anguineo | redimita capillo quae pax longa remiserat arma; | nouare parabant continuo ventis surgentibus, | aut freta ponti et ripas rapitare, locosque nouos | ita sola curculio atque inopi metuens formica | senectae ingentem remis Centaurum promouet: | ille parturiunt montes, nascetur ridiculus | mus

Unter diesen Cäsuren zeichnen sich jedoch die 7te, 8te u. 10te sehr merkwürdig aus. Sie sind nicht bloß, wie Herrmann sagt, die gewöhnlichsten, sondern außer in so alten u. rauhen Dichtern als Lucretius und Ennius sind, wird es schwerlich einen einzigen Vers griechisch oder lateinisch geben, der nicht eine dieser drei Cäsuren hätte. Eine von diesen ist die unerläßliche Regel; eine andere der übrigen kann alsdann nach dem Bedürfniß des Sinnes oder Wohlklangs hinzukommen. Die 12te ist die, welche den Charakter des sogenannten Bukolischen Hexameters ausmacht, der im Theokrit so oft vorkommt. Die 11te wurde unter den Alten am sorgfältigsten vermieden. Ich füge das beliebte Motto aus dem Bion hinzu: *+ μ 

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  μ1  , 2 μ "2 4"  )5

Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831)

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 ’ 6 7 /   , 8 μ " 9 " # μ6, den weniger interessanten Ueberrest, der die Gründe entwickelt, lesen Sie wohl einmal selbst in Bruncks Analecten. T. I. p. 388. nr. VI. nach.

Humboldt hatte bereits 1795 während eines Besuchs bei Hermann Einblick in dessen Vorarbeiten zur ,Metrik‘ erhalten und sich danach in einem Brief an Schiller kritisch über Hermanns Prinzipien geäußert (Tegel, etwa 10. Juli 1795): 14 Dieser Mann, unter dem Sie Sich einen recht eigentlichen Magister mit einem geflickten Rock, in einer engen schmutzigen Stube und unter Büchern vergraben denken müssen, hat den sonderbaren Einfall die Silbenmaaße der Alten aus den Kantischen Kategorien erklären zu wollen. Ein Stückchen muß ich Ihnen doch zur Probe mittheilen. Die Kategorien, die er zur Erklärung anwendet, sind die der Causalität und der Wechselwirkung. Jede Silbe, sagt er, muß durch die vorhergehende bestimmt werden und aus ihr entstehen. Nicht genug aber, daß jede folgende Silbe muß in der vorhergehenden gegründet seyn, so muß auch jede folgende auf die vorhergehende zurückwirken, und alle müssen durch wechselseitige Causalität verbunden seyn. Nun äußern sich aber hiebei zwei Schwierigkeiten: 1., da jede Silbe entstanden sein muß, kann keine die erste seyn, 2., da alle wechselseitig auf einander einwirken, so müßten entweder alle lang oder alle kurz seyn. Die Lösung beider Schwierigkeiten war er nicht im Stande mir in irgend einer Sprache zu sagen, sondern verwies mich lediglich auf sein Buch, das Michaelis erscheint.

Ob Humboldt seine grundsätzlichen Einwände gegenüber Goethe wiederholt hat, wissen wir nicht; in einem Brief an Wolf vom 3. März 1797 scheinen die Vorbehalte jedoch einer generellen Zustimmung gewichen: „Der Hermann de metris hat mich erstaunlich interessiert. Es ist ein Meisterwerk in jeder Absicht. Ich studiere noch sehr daran. Nächstens mehr darüber.“15 Eine unmittelbare Antwort Goethes auf Humboldts Mitteilung fehlt, auch ist die praktische Auswirkung von Hermanns metrischem ‚System’ auf Goethes deutsche Hexameter und generell auf seine Nachbildungen antiker Versmaße noch nicht untersucht: außer ,Herrmann und Dorothea‘ wären hier u. a. die ,Achilleis‘, ,Helena im Mittelalter‘, die Versepisteln und Theater14

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, hg. von S. Seidel, Bd. 1, Berlin 1962, 64 f. – Hermanns Verdienste um die Metrik würdigt aus heutiger Sicht E. G. Schmidt (wie Anm. 7) 162 f. SNA, Bd. 35: Briefwechsel. Briefe an Schiller 25. 5. 1794-31. 10. 1795, in Verbindung mit L. Blumenthal hg. von G. Schulz, Weimar 1964, 239 (Nr. 243); s. dazu auch: Wilhelm von Humboldts Briefe an Gottfried Hermann. Mitgeteilt und erl. von A. Leitzmann, Weimar 1929, 5 f. (= Sonderdruck aus der FS zum 70. Geburtstag von Walther Judeich). Die von Wolf angekündigte detaillierte Stellungnahme Humboldts zur ,Metrik‘ ist offenbar nicht erfolgt. Doch eröffnete Humboldt 1809 den Briefwechsel mit Hermann mit der Bitte, seine Übersetzung des Agamemnon zu überprüfen, vor allem „diejenigen Lesarten zu bemerken, welche auf die Übersetzung Einfluss haben können, auch in den Chören die Veränderungen, die Sie im Metrum und der Abtheilung der Verse machen“ (Leitzmann a. O. 9).

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Prologe, Xenien und Elegien, die undatierten Übersetzungen aus Ilias und Odyssee und die polymetrische ,Pandora‘ einzubeziehen. An äußeren Indizien für Goethes fortgesetzte Beschäftigung mit Hermanns metrischen Studien fehlt es jedenfalls nicht; so erwarb er noch im Erscheinungsjahr 1799 Hermanns ,Handbuch der Metrik‘16 (das er, neben Karl Philipp Moritz’ ,Prosodie‘, während der Arbeit an der ,Pandora‘ nutzte17) und lieh De metris an Schiller aus.18 Mehr noch: Metrisches war ein Gesprächsgegenstand während Goethes (vielleicht durch den Leipziger Verleger Gerhard Fleischer angeregten) Besuchs bei Hermann (seit 1797 Extraordinarius an der Leipziger Universität) am 7. Mai 1800, über den er im Tagebuch vermerkte: „[…] zu Prof. Herrmann er ist mit dem Aeschylus und Plautus beschäftigt, über mancherley philologische Gegenstände über Euripides zuletzt über Prosodie und Rhythmik. | Herr Fleischer sagte mir daß das Werk über die Sylbenmasse stark nach England gehe.“19 Hermann hat bei dieser Begegnung vor allem Goethes Verteidigung des Euripides und speziell seine Hochschätzung der Bakchen beeindruckt. Darauf kam er im Brief an Goethe vom 10. April 1823 zu sprechen, der die Zusendung seiner Ausgabe der Bakchen ankündigte: 20 In den Bacchen des Euripides, deren Druck beynahe vollendet ist, habe ich, wenn auch […] bloß auf philologische Kleinigkeiten beschränkt, doch, weil manches sehr misverstanden war, mehr Gelegenheit gehabt, für die, die nicht bloß an dem Buchstaben hängen, unvermerkt aus einer bessern Quelle zu schöpfen, und es wird mich ungemein freuen, wenn ich darin von Ew. Excellenz einigen Beyfall erhalten sollte. Die Erinnerung an ein Urtheil, das Sie vor vielen Jahren einmal über dieses Stück gegen mich aussprachen, ist mir immer dabey gegenwärtig gewesen.

Auch in der Einleitung zu seiner Edition der euripideischen Hekabe (1831) kommt Hermann auf das Gespräch zurück: 21 16 17

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Ruppert, Nr. 675. Vgl. Goethes Tagebuch vom 26. 5. 1808: „Pandorens Wiederkunft […] überlegt. Hermanns Metrik“ (GT III 1, 441). Vgl. Goethes Tagebuch vom 28. 9. 1800 (GT II 1, 386). – Zu erwähnen sind auch zwei speziellere Abhandlungen Hermanns zur antiken Metrik, die dieser Goethe zuschickte: Über die bestrittene Cäsur im Trimeter der griechischen Tragödie (Berlin 1817; Ruppert, Nr. 673) und: De epitritis Doriis dissertatio (Leipzig 1824; Ruppert, Nr. 674). Bemerkungen zur Metrik enthält auch die De Ricardo Bentleio eiusque editione Terentii dissertatio (Leipzig 1819), die Goethe als Einzeldruck erhalten hatte (Ruppert, Nr. 1446). Hermanns 1816 in Leipzig erschienenes Buch Elementa doctrinae metricae befindet sich dagegen nicht in Goethes Bibliothek. – Unsicher ist, ob Goethes von Eckermann unter dem 11. 2. 1831 referierte Kritik an „Philologen der letzten Zeit“, die „sich gar zu viel mit dem Technischen und mit langen und kurzen Sylben zu schaffen gemacht“ hätten (FA II 12, 431), auch auf Hermann zu beziehen ist, der in der Praefatio seiner Ausgabe von Euripides’ Bakchen allein 56 Seiten auf das syllabische Augment verwendet hatte. GT II 1, 363. Nach der Hs. (GSA 28/402 St. 2); in Goethes Bibliothek: Euripidis Bacchae, rec. Godofredus Hermannus, Leipzig 1823 (Ruppert, Nr. 1260). Euripidis Tragoediae, rec. G. Hermannus, Bd. 1. 1, xiv f. (siehe auch GG I 744, Nr. 1565).

Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831)

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Euripidis versatile et diversissimis argumentis aptum ingenium memini ante multos annos Goethium in sermone quodam, quum ego Aeschylum et Sophoclem anteferrem, multa cum laude praedicare. Et quis magis idoneus arbiter est, quam is vir, quem, si quem umquam, nascentem placido lumine viderunt Musae? Manebit merito haec laus Euripidis, etiam si non eius sit solius propria.

Nur bedingt glaubwürdig ist dagegen, was Otto Jahn in seiner ,Gedächtnisrede‘ auf Hermann (1849) über das Gesprächsthema ‚Metrik’ berichtet: 22 Bei dem allgemeinen Aufschwung der poetischen Thätigkeit machte sich damals das Streben geltend, auch in der Vollendung der Form sich den Mustern des Alterthums zu nähern; wie willkommen mußte ein Werk wie die Metrik sein. Besonders Goethe, der damals mit der Achilleïs und der Helena beschäftigt war und genauer in das Wesen der antiken Versmaße einzudringen strebte, nahm den regsten Antheil daran, und als er bald darauf nach Leipzig kam (1800), trat er eines Abends unerwartet zu dem erstaunten Hermann in’s Zimmer. In dem Gespräche, das sich über Verskunst zwischen ihnen entspann, forderte ihn endlich Goethe auf, eine deutsche Metrik zu schreiben, was Hermann mit dem Bemerken ablehnte, es sei Goethe’s Aufgabe die deutsche Metrik zu schaffen.

Dass nach diesem verheißungsvollen Auftakt das Gespräch zwischen Goethe und Hermann über ein langes, zwanzigjähriges Intervall hin nicht in der sichtbaren Form eines Briefwechsels fortgesetzt wurde, berechtigt nicht zu der Annahme, dass Wolfs dominante Persönlichkeit Goethes Interesse an Hermann habe schwinden lassen, wie umgekehrt die Deutung zu kurz greift, der 1820 einsetzende Briefwechsel zwischen Goethe und Hermann sei die Folge einer rapiden Entfremdung zwischen Goethe und Wolf gewesen, so dass Hermann nun „in gewisser Weise den Platz Wolfs eingenommen“ hätte. Vielmehr stehen sachliche Gründe hinter der erneuten (durch eine zweite Begegnung, 1820 in Karlsbad, inaugurierten) Annäherung und der folgenden engeren Zusammenarbeit. Vorbereitet war diese auch durch Goethes in den vorausgegangenen Jahren gewachsenes Interesse an Hermanns Schriften und seine Zustimmung zu Hermanns Position in der zwischen diesem und Friedrich Creuzer öffentlich geführten Debatte über die Auffassung der antiken Mythologie. Ausgelöst hatte den Disput und seine Weiterungen Creuzers Schrift ,Symbolik und Mythologie der alten Völker‘ (Leipzig 1810-1812), in der die griechische Mythologie als Relikt uralter östlicher Weisheit symbolisch-mystisch verstanden wurde, wogegen Hermann mit der Dissertatio De Mythologia Graecorum antiquissima (Leipzig 1817)23 opponierte. Seine An22

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O. Jahn, Gottfried Hermanus. Eine Gedächtnisrede, in: Biographische Aufsätze, Leipzig 1866, 89–132, hier: 112 (siehe auch GG I 744, Nr. 1564). In Goethes Bibliothek (Ruppert, Nr. 1970); in Goethes Tagebuch wird die Schrift erstmals am 17. 1. 1818 erwähnt. Am 10. 2. 1818 schrieb Goethe dem Leipziger Buchhändler J. A. G. Weigel: „Können zwey Exemplare der Dissertation des vortrefflichsten Hermanns, dem ich gelegentlich meine Verehrung auszudrücken bitte, | De Graecorum mythologia anti-

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sicht, dass die griechische Religion poetisch-etymologisch zu erklären sei, wiederholte und befestigte er in einem Briefwechsel mit Creuzer, den dieser 1818 unter dem Titel ,Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie‘ unter beider Namen in Heidelberg veröffentlichte. Der fünfte dieser Briefe, in dem Hermann die Streitfrage, „wie überhaupt Mythologie zu betrachten und zu behandeln“ sei, durch ein methodisch differenziertes, periodisierendes Konzept zu entscheiden suchte,24 fand Goethes ungeteilte Zustimmung, der er durch eine knappe Paraphrase unter dem Titel ,Geistesepochen nach Hermanns neuesten Mittheilungen‘ im 3. Heft des 1. Jahrgangs seiner Zeitschrift ,Über Kunst und Alterthum‘ (1818) Ausdruck verlieh.25 Bereits in seinem Schreiben an Creuzer vom 1. Oktober 1817, in dem er diesem für die Übersendung der ,Briefe‘26 dankt, hatte Goethe, verbindlich, doch dezidiert und in geradezu feierlich-bekenntnishafter Form,27 Position bezogen: 28 Ew. Wohlgeboren | bin ich […] den größten Dank schuldig. Sie haben mich genöthigt in eine Region hineinzuschauen, vor der ich mich sonst ängstlich zu hüten pflege. Wir andern Nachpoeten müssen unserer Altvordern, Homers, Hesiods u. a. m., Verlassenschaft als urkanonische Bücher verehren; als vom heiligen Geist Eingegebenen beugen wir uns vor ihnen und unterstehen uns nicht, zu fragen: woher, noch wohin? Einen alten Volksglauben setzen wir gern voraus, doch ist uns die reine charakteristische Personification ohne Hinterhalt und Allegorie Alles werth; was nachher die Priester aus dem Dunklen, die Philosophen in’s Helle gethan, dürfen wir nicht beachten. So lautet unser Glaubensbekenntniß. Geht’s nun aber gar noch weiter, und deutet man uns aus dem hellenischen Gott-Menschenkreise nach allen Regionen der Erde, um das Ähnliche dort aufzuweisen, in Worten und Bildern, hier die Frost-Riesen, dort die FeuerBrahmen; so wird es uns gar zu weh, und wir flüchten wieder nach Jonien, wo

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quissima, | beygelegt werden, so würde es mir sehr angenehm seyn“ (WA IV 29, 45; Nr. 7972). Die ,Tag- und Jahres-Hefte’ 1817 bekräftigen das Lob Hermanns: „Hermann über die älteste griechische Mythologie interessirte die Weimarischen Sprachfreunde auf einen hohen Grad“ (FA I 17, 286). Aus seiner Überzeugung, „daß die älteste Griechische Poesie, aus der ich die Mythologie der Griechen abzuleiten versucht hatte, sich durch Einfachheit, wie alles Griechische, characterisire“, und dass „alle alte Nationalmythologie […] aus bildlich dargestellten Philosophemen“ bestehe, „die man, so weit es nur immer möglich ist, aus ihnen selbst erklären“ müsse, folgt für Hermann: „die älteste Nationalmythologie der Griechen muß etymologisch-allegorisch; die Lehre der Priester und Mysterien historisch-dogmatisch; und die exoterische Theorie der Dichter und Philosophen philosophisch-kritisch behandelt und erklärt werden“ (Briefe über Homer und Hesiodus 57 f. 78. 86). – Zur Kontroverse zwischen Hermann und Creuzer vgl. jetzt auch den Beitrag von Glenn Most im vorliegenden Band. 107–12; der Erstdruck wiedergegeben in FA I 20, 243–46. Ruppert, Nr. 1220. Auf diese ‚religiöse’ Tönung zu achten, hat uns A. Schöne in seinem Buch ,Goethes Farbentheologie‘ (München 1987) gelehrt. WA IV 28, 266 f.; Nr. 7881.

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dämonische liebende Quellgötter sich begatten und den Homer erzeugen. Demohngeachtet aber kann man dem Reiz nicht widerstehn, den jedes Allweltliche auf Jeden ausüben muß. Ich habe die gewechselten Briefe mit vielem Antheil wiederholt gelesen, wenn aber Sie und Hermann streiten, was macht unser einer als Zuschauer für eine Figur!

Entschiedener noch als in diesem Schreiben und durch den Aufsatz ,Geistesepochen‘ hat Goethe in Briefen an Sulpiz Boisserée vom 17. Oktober 1817 und [10.-]16. Januar 1818 gegen Creuzer (und seine ‚Gefolgsleute’) Stellung genommen und Hermann zu seinem Verbündeten erklärt. Vor allem der Brief vom 16. Januar 1818 macht die Fronten deutlich (WA IV 29, 12 f.; Nr. 7951): Zuerst spreche ich meine Freude aus über die sich unter uns immer mehr ausgleichende Überzeugung; auch dießmal stimme ich völlig ein. Winkelmanns Weg, zum Kunstbegriff zu gelangen, war durchaus der rechte, Meyer hat ihn ohne Wanken streng verfolgt, und ich habe ihn auf meine Weise gern begleitet. Der sonstigen treuen Mitarbeiter in diesem Felde gab es auch wohl noch; sehr bald aber zog sich die Betrachtung in Deutung über und verlor sich zuletzt in Deuteleyen; wer nicht zu schauen wußte fing an zu wähnen und so verlor man sich in egyptische und indische Fernen, da man das Beste im Vordergrunde ganz nahe hatte. Zoega fing schon an zu schwanken, Böttcher tastete überall herum, am liebsten im Dunkeln und man hatte nun immerfort an den unseligen dionysischen Mysterien zu leiden. Creuzer, Kanne und nun auch Welcker entziehen uns täglich mehr die großen Vortheile der griechischen lieblichen Mannigfaltigkeit und der würdigen israelitischen Einheit. Hermann in Leipzig ist dagegen unser eigenster Vorfechter. Die Briefe, zwischen ihm und Creuzer gewechselt, kennen Sie, der fünfte ist unschätzbar. Dazu nun seine lateinische Dissertation über die alte Mythologie der Griechen macht mich ganz gesund: denn mir ist es ganz einerley, ob die Hypothese philologisch-kritisch haltbar sey, genug, sie ist kritisch-hellenisch patriotisch und aus seiner Entwickelung und an derselben ist so unendlich viel zu lernen als mir nicht leicht in so wenigen Blättern zu Nutzen gekommen ist.

Ohne dass es einer direkten Verständigung bedurft hätte, vermutlich ohne davon zu wissen, war Hermann also in Goethes und seiner Freunde Kunstund Kulturprogramm einbezogen, ja zum externen ,Vorfechter‘ befördert worden, und so fiel auch das Wiedersehen mit Goethe am 20. Mai 1820 in Karlsbad für ihn äußerst erfreulich und trotz des langen Intervalls wie ein Treffen Gleichgesinnter aus. Wieder war es Goethe, der die Initiative ergriff und Hermann „in seiner wunderlichen Bergwohnung“ im Nürnberger Hof aufsuchte; es folgten mehrere Begegnungen bis zum 27. Mai, dem Vortag von Goethes Abreise.29 In den ,Tag- und Jahres-Heften’ zu 1820 erwähnt Goethe 29

Vgl. Goethes Tagebuch, 20. 5. 1820: „Gegen Abend hinter St. Florian hinauf, die Stadt Nürnberg aufzusuchen, merkwürdig als augenblickliche Herberge der Professoren Hermann und [Karl Heinrich Ludwig] Poelitz [seit 1815 Prof. der Sächs. Geschichte und Statistik] aus Leipzig“; 21. 5.: „Hermann und Poelitz aus Leipzig“; 22. 5.: „Nach Tische Aufstieg nach der Stadt Nürnberg. Bey der Rückkehr die Herren Professor Hermann und Poelitz angetroffen. Mit ihnen spazieret und conversirt“; 25. 5.: „Am Brunnen, mit

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summarisch das Menschlich-Atmosphärische und deutet nur indirekt den sachlichen Ertrag der Gespräche an: 30 „Mit Professor Hermann aus Leipzig führt mich das gute Glück zusammen und man gelangt wechselseitig zu näherer Aufklärung.“ Dass Goethe diese Begegnung als ‚glückliches Ereignis’ empfand, bestätigt auch ein Bericht des Weimarer Legationsrats v. Conta, der, seit Mitte Mai in Karlsbad, dort fast täglich Umgang mit Goethe hatte, und der dadurch auch mit Hermann in Kontakt kam: 31 „An Goethes Stelle wird mir [nach dessen Abreise] Hermann treten, ein kraftvoller, geistreicher Mann, der, wenn er auch kein Goethe ist, doch ebenfalls anregend und belebend durch seine Gespräche wirkt. Und Goethe sagte mir von ihm: ,Wenn man nur so glücklich wäre, einen so interessanten Mann wenigstens alle Vierteljahre einmal zu sprechen.’ “ Doch nicht nur die Vergewisserung wechselseitiger menschlicher Sympathie (Goethe mag an Hermann auch die von ihm so geschätzten Eigenschaften des Resoluten, Tatkräftigen bewundert haben) ließ die Karlsbader Begegnung zum ‚Kairos’ und Initiationspunkt längerer Zusammenarbeit werden: Es waren vor allem die gemeinsamen Themen, die diese begründeten. Auch darauf kommt Goethe in den ,Tag- und Jahres-Heften’ zu 1820 zu sprechen, wenn er diejenigen Arbeiten Hermanns und Wolfs nebeneinanderstellt, denen er „von jeher“ seine „Hochachtung gewidmet“ habe, oder die ihm „schon längst auf (s)einem Wege vorgeleuchtet“ hätten und ihn auch gegenwärtig (wieder) beschäftigten: Wolfs Prolegomena und Hermanns ,Programm über das Wesen und die Behandlung der Mythologie‘. An dem letzteren hebt Goethe die exemplarische Behandlung des Methodischen hervor und demonstriert darüber hinaus an einem einzelnen Beispiel die produktive Wirkung, die von dieser Schrift auf ihn ausging:32 […] was kann uns zu höherem Vortheil gereichen, als in die Ansichten solcher Männer einzugehen, die mit Tief- und Scharfsinn ihre Aufmerksamkeit auf ein einziges Ziel hinrichten! Eine Bemerkung konnte mir nicht entgehen, daß die spracherfindenden Urvölker, bey Benamung der Naturerscheinungen und deren Verehrung als waltender Gottheiten, mehr durch das Furchtbare als durch das Erfreuliche derselben aufgeregt worden, so daß sie eigentlich mehr tumultuarisch zerstörende als ruhig schaffende Gottheiten gewahr wurden. Mir schienen, da sich denn doch dieses Menschengeschlecht in seinen Grundzügen niemals verändert, die neusten geologischen Theoristen von eben dem Schlage, die ohne feuerspeiende Berge, Erdbeben, Kluftrisse, unterirdische Druck- und Quetschwerke (":μ  ), Stürme und Sündfluthen keine Welt zu erschaffen wissen.

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Prof. Hermann gesprochen“; 27. 5.: „[Nachmittags] Prof. Hermann. Über Trilogie pp.“ (WA III 7, 175–78). FA I 17, 321 f. K. F. A. v. Conta an seine Frau, Karlsbad, 26. 5. 1820 (GG III 1, 173); Hermann habe seinerseits „Goethen wie einen Gott in Menschengestalt“ verehrt (an dieselbe, 27. 5.; ebd. 174). FA I 17, 316.

Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831)

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Indem Goethe eine an Hermanns philologisch-etymologischen Exempla gewonnene Erkenntnis in eine Attacke gegen seine geologischen Gegner integriert, folgt er demselben Muster wie bei seiner Indienstnahme der Hermannschen ,Mythologie‘ für die Zwecke der ,Weimarer Kunstfreunde‘. Und wiederum vergleichbar ist die Geste, mit der Goethes erstes, auf die Begegnung folgendes und den Briefwechsel seinerseits33 eröffnendes Schreiben an Hermann diesen (noch immer im Reflex auf die Mythologica) zu weiteren Mitteilungen auffordert (Jena, 9. [20.] September 1820):34 Von großer Wichtigkeit sind […] die Überlieferungen, in welchen das Kennerauge, durch eine späte Hülle, noch immer den alten Kern zu entdecken vermag. Und so möge auch Ihnen ewiger Dank bleiben, daß Sie den alten griechischen Kern uns unverhüllt bewahren und von Zeit zu Zeit, auf mancherley Weise, die Nebel zerstreuen, die sich darüber hin- und herziehen. Leider ist, nicht allein in diesem höchst bedeutenden Felde, sondern auch in so manchem andern das Unheil, daß man nichts abgesondert, charakteristisch, sich selbst gemäß will bestehen lassen, sondern alles mit allem verknüpfen, vereinigen, ja transsubstanziiren möchte. Wie wohlthätig ist daher die ernste Behandlung, mit welcher Sie Nation und Zeitalter, Kunst und Wissenschaft im Innern selbst zusammen halten und befestigen, ohne die Einwirkung von außen zu läugnen, oder die Wirkung nach außen zu verkennen. Welch großes Verdienst bleibt Ihnen, das Unnöthige und Ungehörige, wenn es auch verwandt erscheinen sollte, abzulehnen und an der Seite zu halten. Haben Sie die Güte, mich künftighin mit demjenigen, womit Sie das Öffentliche beschenken, auch bald bekannt zu machen. Das glückliche Zusammenseyn hat mich, bey allzukurzer Dauer, auf’s neue gekräftigt und die Anhänglichkeit und Verehrung, die ich Ihnen längst gewidmet, auf’s neue lebhaft hervorgerufen.

Diesem Brief beigelegt war Heinrich Meyers Besprechung des Tafelwerks ,Iliadis fragmenta antiquissima cum picturis edente Angelo Maio‘, Mailand 1819.35 Meyer rezensiert in der für ihn charakteristischen kleinschrittigen Weise, im Wechsel von Lob und Tadel die nach älteren, wohl spätantiken Vorlagen angefertigten Umrisszeichnungen zu ausgewählten Partien (‚Szenen’) der Ilias. Sollte diese Sendung nur unbefangene Mitteilung sein und lediglich Hermanns ,Aufmerksamkeit an sich ziehen‘? Oder sah Goethe 33

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Voraus ging Hermanns Brief an Goethe vom 31. 7. 1820 (beigelegt waren die folgenden Schriften Hermanns: Über die bestrittene Caesur im Trimeter der griechischen Komödie. Ein Brief an den Herausgeber der literarischen Analecta [F. A. Wolf] nebst dessen Vorwort. Beilage zum 1. Heft der Analecta, 1817 [Ruppert, Nr. 673]; Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer, 1819 [Nr. 1971]; De Ricardo Bentleio eiusque editione Terentii dissertatio, 1819 [Nr. 687 und 1446]; De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli, 1819 [Nr. 687]; De compositione tetralogiarum tragicarum, 1819 [Nr. 687 f.]; De Aeschyli Danaidibus dissertatio, 1820 [Nr. 1230]). WA IV 33, 242 f.; Vorlage: Hs. Johns in der Slg. Hirzel, UB Leipzig. Erschienen in: Über Kunst und Alterthum II 3 (1820) 99–116; wieder abgedruckt in FA I 20, 511–18.

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nicht bereits in Hermann einen in seinem Fach dem hochgeschätzten Meyer vergleichbaren Geistesverwandten und zudem methodisch ähnlich ‚genau’ vorgehenden Kritiker, der auf seine Weise dem ,Winckelmannschen Faden‘ zu folgen versprach? Enthält doch Hermanns Antwortbrief, sonst von eigenem Rang, in der Anwendung philologischer Kriterien Analogien zu Meyers ästhetischer Bildkritik (15. Oktober 1820): 36 Aus dem Meere einer kleinlichen und langwierigen grammatischen Untersuchung, in der ich eben befangen bin, habe ich mich wie ein fliegender Fisch ins Freye erhoben und an diesen wohlthätigen Strahlen gesonnt.37 Die Bemerkungen über die Zeichnungen in dem Mayländischen Homer finde ich sehr gegründet. Ich hatte diese Zeichnungen noch nicht gesehen, da ich das Buch nicht selbst besitze. Jetzt habe ich es geborgt, und bin erstaunt über diese unverkennbaren Nachbildungen alter Denkmäler. Ich hoffe, die in der Abhandlung gegebenen Winke werden von Männern, denen die erforderlichen Sammlungen zu Gebote stehen, benutzt werden. Es wird interessant seyn, den Quellen hier und da auf die Spur zu kommen. Eine auffallende Bestätigung, daß alte Werke zum Vorbild gedient haben, glaube ich darin zu finden, daß manche Scenen nicht nach dem Homer dargestellt sind, z. B. N. XXVI. wo Astyanax schon ein straffer Knabe ist, und N. XXXIV. in dem Dolon. Homer giebt ihm zwar eine Wolfshaut, jedoch nur als Mantel, um. Aber der geschmacklose Verfasser des Rhesus, den ich mehr nach meinem Gefühl, als aus streng erweislichen Gründen für einen Alexandrinischen Dichter halte, läßt ihn ganz in einen Wolf verkleidet auf vier Füssen ins Lager schleichen, so daß man auch hier mit Recht ausrufen kann, Blieb der Wolf in dem Walde, So würd’ er nicht beschrien. Ob ich ihn entschuldige, wenn er ein Bildwerk dabey in Gedanken hatte, mag gezweifelt werden. Gewiß aber dient seine Beschreibung mit jener Zeichnung zusammengehalten, zu einem Grunde, auf das Vorhandenseyn einer solchen Darstellung im Alterthume zu schließen. In den Schlachtengemälden weisen dahin die Reiter. Wohin aber die egalisirten Pferde, da Alcibiades seinen Pferden die Schwänze abschlagen ließ, damit man in Athen etwas zu reden hätte? Einen eigenen Reiz hat in diesen Darstellungen, wie in den meisten alten Kunstwerken, die Unverhältnißmäßigkeit der Nebendinge, wie der Mauern, oder der Erschlagenen. Wenn auch wohl eigentlich aus Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit entstanden, wie späterhin in den Holzschnitten alter Bücher, scheinen diese Andeutungen doch Gesetz worden zu seyn, und indem

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Wiedergabe nach der Hs. GSA 28/402 St. 1. Hermanns Dank bezieht sich auf das ihm von Goethe zugeschickte Heft von ,Kunst und Alterthum‘ (s. Anm. 36), namentlich auf die ihm schon in Karlsbad durch v. Conta bekannt gewordenen ,Urworte. Orphisch‘. – E. G. Schmidt bemerkt (im Kommentar zur noch ungedruckten Briefedition [oben Anm. 7]), dass bereits die Aufnahme in den Kreis der von Goethe mit einem Freiexemplar des Heftes Beschenkten eine Auszeichnung bedeute; so habe Goethe die wenigen Adressaten im Tagebuch namentlich verzeichnet: seinen Sohn August, Nicolovius, Schultz, Zelter, Rochlitz, Graf Reinhard, Hermann und Bergius.

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sie die Sachen bloß symbolisch darstellen, kann das Auge desto bequemer auf den Hauptfiguren ruhen. So dürfte, was in anderer Rücksicht Fehler wäre, als Verdienst erscheinen. Dasselbe Gesetz haben wohl auch die Dichter befolgt. Eben so einfach und großartig stehen in der Griechischen Tragödie und Komödie nur wenige Hauptfiguren da, und es müßte nicht uninteressant seyn, diese dramatische Gruppirung mit der in den Werken der bildenden Kunst zu vergleichen. Doch wer vermöchte dieses, wie Ew. Excellenz? Denn um diese kunstlose Kunst des Alterthums, die mit sicherer Hand überall die wesentlichen Momente faßt, und die Nebensachen nicht achtet, richtig und treffend zu würdigen, bedarf es dieser Kunst selbst, und diese ist eine Göttergabe.

Sekundierten derartige Bemerkungen und Aufschlüsse Hermanns im Binnenraum des Briefwechsels mit Goethe dessen eigenen Kunstansichten, ohne dass der Empfänger sie andernorts als Bestätigung oder Bereicherung publik gemacht hätte, so nannte Goethe ausdrücklich den Urheber, wenn er aus Hermanns Publikationen zitierte oder ihnen eine Anregung entnahm. Beispielhaft lässt sich das Procedere einer solchen ‚Offenlegung’ an Goethes Exzerpt eines einzelnen Satzes aus Hermanns Programm De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli (1819)38 zeigen, den er, vom Kontext isoliert, zum Aphorismus, ja zur Maxime erhob und, mit Nennung des (unter Gebildeten inzwischen berühmten) Verfassers, als Fazit ans Ende eines eigenen, naturwissenschaftlichen Aufsatzes stellte. Diese Transposition sah Goethe sich sogar verpflichtet Hermann (wenn auch als fait accompli) anzuzeigen, indem er ihm (am 5. Oktober 1820) schrieb: 39 „Indessen ist mir ein herrliches Wort aus Ihren Mittheilungen zu Gute gekommen, welches, zwar mit kleinen Lettern, aber mit großer Bedeutung anzuführen mich nicht enthalten konnte. Es ist dieses in dem neusten Heft der Morphologie pp. geschehen; ob am rechten Platz, beurtheilen Sie geneigtest selbst, wenn ich genannte Blätter zu übersenden wage“. Das angekündigte, dann aber (versehentlich?) doch nicht übersandte, Heft ist das 3. des 1. Bandes von Goethes Zeitschrift ,Zur Naturwissenschaft überhaupt‘ (1820, 230 f.), plaziert ist das Zitat am Schluss eines Aufsatzes über den Horn, einen von Goethe im Mai 1820 besuchten Berg bei Elbogen, dessen merkwürdig gestaltete Basalte „von der Größe einer Kinderfaust“ Rätsel aufgaben: 40 Der Horn Ein freier hoher Gebirgsrücken, der auf einer flachen Höhe aufsitzt, bleibt dem Reisenden nach Carlsbad rechts, und wird von dorther immer als ein ansehnlicher Berg beachtet. Seinen Gipfel habe nie bestiegen, Freunde sagen er sei Basalt, so wie die von der Fläche seines Fußes gewonnenen Steine. Sie werden zur Chausseebesserung angefahren und haben das Merkwürdige daß sie, ohne etwa zerschlagen zu sein, einzeln klein sind, so daß eine Kinderhand die 38 39 40

Vgl. Anm. 33; wieder abgedruckt in: Opuscula II 288-305. WA IV 33, 289. LA I 8, 165.

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Christoph Michel kleinern, die größern eine Knabenhand gar wohl zu fassen vermöchte. Sie werden also zwischen einem Tauben- und Gänseei hin- und wiederschwanken. Das Merkwürdigste aber hiebei darf wohl geachtet werden: daß sie sämtlich, genau besehen, eine entschiedene Gestalt haben, ob sie sich gleich bis ins Unendliche mannigfaltig erweisen. Die regelmäßigsten vergleichen sich dem Schädel eines Tiers, ohne untere Kinnlade; sie haben alle eine entschiedene Fläche auf die man sie legen kann. Alsdann stehen uns drei Flächen entgegen, wovon man die obere für Stirn und Nase, die beiden Seiten für Oberkiefer und Wangen, die zwei rückwärts für die Schläfe gelten läßt, wenn die hinterste, letzte dem Hinterhaupt zugeschrieben wird. Ein Modell in diesem Sinne verfertigt zeigt einen regelmäßigen Krystall, welcher nur selten in der Wirklichkeit erscheint; der aber, sobald man diese Grundform, diese Grundintention der Natur einmal anerkannt hat, überall, auch in den unförmlichsten Individuen wieder zu finden ist. Sie stellen sich nämlich von selbst auf ihre Base und überlassen dem Beobachter die übrigen sechs Flächen herauszufinden. Ich habe die bedeutendern Abweichungen in Ton nachgebildet und finde daß selbst die unregelmäßigsten sich zu einer oder der andern Mittel-Gestalt hinneigen. Sie scheinen nicht von der Stelle gekommen zu sein. Weder merklich abgestumpft noch abgewittert, liegen sie auf den Äckern um den Berg wie hingeschneit. Ein geistreicher junger Geolog sagte: es sähe aus wie ein Aerolithen-Haufen, aus einer frühern, prägnanten Atmosphäre. Da wir im Grunde nicht wissen, woher diese Dinge kommen mögen; so ist es gleichviel ob wir sie von oben oder von unten empfangen, wenn sie uns nur immer zur Beobachtung reizen, Gedanken veranlassen und zu Bescheidenheit freundlich nötigen. Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. Hermannus.

Legt der unmittelbar vorausgehende Satz nahe, das angezogene Zitat als generelle Aufforderung zur (von Goethe noch öfter empfohlenen) Selbstbescheidung des Forschers zu verstehen, so lässt der Kontext des gesamten Aufsatzes noch eine andere Lesart zu: Bildet doch auch seinen Hintergrund Goethes lebenslanges Misstrauen gegenüber den aus Phänomenen des Vulkanismus abgeleiteten Erdentstehungs-Theorien. Darauf verweist die wegen fehlender Autopsie als Kautel formulierte Bemerkung „Freunde sagen es sei Basalt“. Selbst die wohlwollend referierte Deutung des „geistreiche(n) junge(n) Geolog(en)“ (vermutlich C. F. A. v. Conta), es handele sich um ein ‚kosmisches’ Phänomen, impliziert einen Vorbehalt, indem Goethe den gängigen, ihm suspekten Begriff der ,Meteoriten‘ (aus dem Weltraum herabgestürzte Steine) durch ,Aerolithen‘ (durch Kondensation entstandene atmosphärische Steine) ersetzt, d. h. eine weniger spektakuläre, ‚erdnähere’ Erklärung bevorzugt, für die nächstliegende aber – Basalt-Zerklüftung41 – sich gar nicht erst entscheidet, sondern auf die ihm geheure Empirie ausweicht und an der merkwürdigen Form die Grundintention der Natur zur Gestalt erläutert. Das Zitat der ars nesciendi dürfte demnach hier nicht so 41

Nach heutigem Verständnis die zutreffende Erklärung; vgl. FA I 25, 1126.

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sehr einer Vertiefung der Bescheidenheits-Topik als der Verhüllung eines geologischen Rückzugsgefechts dienen. In einem anderen Licht erscheint Hermanns dictum, wenn man seinen Kontext noch um den Schluss des im selben Heft vorausgehenden Artikels erweitert, in dem Goethe Carl Wilhelm Noses wissenschaftsgeschichtliche Abhandlung ,Historische Symbola, die Basalt-Genese betreffend, zur Einigung der Parteien dargeboten‘ (1820)42 in einem „kurzen, geordneten Auszug“ referiert. Gerade Goethes morphologische Hefte sind von ihm so angelegt, dass ihre Artikel miteinander korrespondieren, sich wechselseitig erhellen. Dementsprechend weist der Schlussabschnitt des Referats auf Hermanns ‚Maxime’, genauer: auf die ihr von Hermann beigegebene (von Goethe nicht zitierte) Erläuterung,43 voraus, in der, wie auch bei Nose, die „wichtigste Frage“ zur Sprache kommt „inwiefern wir ein Unerforschtes für unerforschlich erklären dürfen, und wie weit es dem Menschen vorwärts zu gehen erlaubt sei, ehe er Ursache habe vor dem Unbegreiflichen zurückzutreten oder davor stille zu stehen?“ Goethe beantwortet sie auf eigene, sich von der Antwort der Gelehrten unterscheidende Weise:44 Unsere Meinung ist: daß es dem Menschen gar wohl gezieme ein Unerforschliches anzunehmen, daß er dagegen aber seinem Forschen keine Grenzen zu setzen habe; denn wenn auch die Natur gegen den Menschen im Vorteil steht und ihm manches zu verheimlichen scheint, so steht er wieder gegen Sie im Vorteil, daß er, wenn auch nicht durch sie durch, doch über sie hinaus denken kann. Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen, welche wir, in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit, von Angesicht zu Angesicht anschauen und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das, in seiner Einfalt, Unbegreifliche sich in tausend und aber tausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart.

Goethes Letztbegründung seiner Abstinenz, das Aperçu, führt über die Aporie hinaus und weist ihn wieder auf die Empirie zurück, öffnet den Blick aufs neue für die unendliche Varietät der Erscheinungen und hält auch den 42 43

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Ruppert, Nr. 4942. De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli (Opuscula II 288): „Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. Nam si turpe est nescire, quae possunt sciri, non minus turpe est, scire se putare, quae sciri nequeunt. Alterum enim segnitiem aut inertiam, alterum assentandi levitatem aut temeritatem coniectandi arguit. Posita est autem haec, quam dico, ars in eo, ut quis cognito, quousque progredi sciendo liceat, quod citra est, strenue persequatur, quod autem ultra est, ab eo sese abstineat”. Die Affinität dieser Stelle zu Kants Wissenschaftsbegriff diskutiert der Beitrag von Michael Schramm im vorliegenden Band. – Vgl. auch Goethes bekannten, (vermutlich 1829) aus Plutarchs Moralia in die eigene wissenschaftsphilosophische Terminologie übertragenen Prosa-Spruch: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren“ (FA I 13, 240; s. dort ferner im Begriffsregister die Stichworte ,Unendliches, Unerforschliches‘ und ,[Selbst-]Beschränkung‘). MA 12, 542.

Christoph Michel

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Weg zur Erklärung des ‚Problematischen’ und ‚Rätselhaften’ offen. Für solche, nicht auf die Naturwissenschaften beschränkten, sondern im weitesten Sinn ästhetischen ,Offenbarungen‘ liefern Hermanns ,Programme‘ Goethe das willkommenste Substrat. Bereits bei der letzten Karlsbader Begegnung hatte Goethe im Tagebuch das Stichwort „Über Trilogie pp.“ notiert,45 und in seinem ersten Brief an Goethe vom 31. Juli 1820 schrieb Hermann von eigenen Schriften der letzten Jahre, „von denen einiger damals Erwähnung geschah“.46 Darunter dürfte sich auch das Programm De compositione tetralogiarum tragicarum (1819) befunden haben, das Hermann nun nachträglich seinem Brief beilegte.47 Diese Abhandlung fasste Goethe in einem eigenen kleinen Aufsatz zusammen, den er 1823 in ,Ueber Kunst und Alterthum‘ veröffentlichte.48 Die tragischen Tetralogien der Griechen, Programm von Ritter Hermann 1819. Auch dieser Aufsatz deutet seiner Ansicht und Behandlung nach auf einen meisterhaften Kenner, der das Alte zu erneuen, das Abgestorbene zu beleben versteht. Es kann nicht geläugnet werden, daß man sich die Tetralogien der Alten sonst [= früher] nur gedacht als eine dreyfache Steigerung desselben Gegenstandes, wo im ersten Stück die Exposition, die Anlage, der Hauptmoment des Ganzen vollkommen geleistet wäre, im zweyten darauf sich schreckliche Folgen ins Ungeheure steigerten, im dritten aber, bey nochmaliger Steigerung, dennoch auf eine gewisse Weise irgend eine Versöhnung herangeführt würde; wodurch denn allenfalls ein viertes munteres Stück, um den Zuschauer, den häuslicher Ruhe und Behaglichkeit bedürftigen Bürger wohlgemuth zu entlassen, nicht ungeschickt angefügt werden konnte. Wenn also z. B. im ersten Stück Agamemnon, im zweyten Klytämnestra und Aegisth umkämen, im dritten jedoch der von den Furien verfolgte MutterMörder durch das athenische Oberberufungsgericht losgesprochen und deßhalb eine große städtische ewige Feyer angeordnet würde, da kann uns dünken, daß dem Genie hier irgend einen Scherz anzuknüpfen wohl mochte gelungen seyn. Ist nun zwar, wie wir eingestehen, die griechische Mythologie sehr folgereich und langmüthig, wie sich denn der umsichtige Dichter gar bald überzeugen wird, daß aus jedem Zweig jenes gränzenlosen Stammbaums ein paar Trilogien heraus zu entwickeln wären; so kann man doch begreifen, daß, bey unerläßlichen Forderungen nach immer sich überbietenden Neuigkeiten, nicht immerfort eine gleich reine Folge zu finden gewesen. Sollte sodann der Dichter nicht bald gewahr werden, daß dem Volk an der Folge gar nichts gelegen ist? sollte er nicht klug zu seinem Vortheil brauchen, daß er es mit einer leichtsinnigen Gesellschaft zu thun hat? Er giebt lieber sein Innerstes auf, als es sich ganz allein und umsonst sauer werden zu lassen. 45 46 47 48

27. 5. 1820 (WA III 7, 78). Leipzig, 31. 7. 1820 (Hs. GSA 28/88 Bl. 337). Siehe Anm. 33. IV 2, 158–65; im Folgenden zitiert nach AA-Ls 1, 175–77.

Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831) Höchst natürlich und wahrscheinlich nennen auch wir daher die Behauptung gegenwärtigen Programms: eine Tri- oder gar Tetralogie habe keineswegs einen zusammenhängenden Inhalt gefordert, also nicht eine Steigerung des Stoffs, wie oben angenommen, sondern eine Steigerung der äußeren Formen, gegründet auf einen vielfältigen und zu dem bezweckten Eindruck hinreichenden Gehalt. In diesem Sinne mußte nun das erste Stück groß und für den ganzen Menschen staunenswürdig seyn; das zweyte, durch Chor und Gesang, Sinne, Gefühl und Geist erheben und ergötzen; das dritte darauf durch Aeußerlichkeiten, Pracht und Drang aufreizen und entzücken, da denn das letzte zu freundlicher Entlassung so heiter, munter und verwegen seyn durfte als es nur wollte. Suchen wir nun ein Bild und Gleichniß zu unseren Zeiten. Die deutsche Bühne besitzt ein Beyspiel jener ersten Art an Schillers Wallenstein, und zwar ohne daß der Dichter hier eine Nachahmung der Alten beabsichtigt hätte; der Stoff war nicht zu übersehen, und zerfiel dem wirkenden und schaffenden Geiste nach und nach selbst gegen seinen Willen in mehrere Theile. Der Empfindungsweise neuerer Tage gemäß bringt er das lustige heitere Satyrstück: das Lager voraus. In den Piccolomini ehren wir die fortschreitende Handlung; sie ist noch durch Pedanterie, Irrthum, wüste Leidenschaft niedergehalten, indeß zarte himmlische Liebe das Rohe zu mildern, das Wilde zu besänftigen, das Strenge zu lösen trachtet. Im dritten Stücke mißlingen alle Versuche der Vermittlung; man muß es im tiefsten Sinne hochtragisch nennen, und zugeben, daß für Sinn und Gefühl hierauf nichts weiter folgen könne. Nun müsen wir aber, um an die von dem Programm eingeleitete Weise, völlig Unzusammenhängendes auf einander glücklich und schicklich folgen zu lassen, durch ein Beyspiel irgend eine Annäherung zu gewinnen, uns über die Alpen begeben, und uns die italiänische, eine dem Augenblick ganz gewidmete Nation, als Zuschauermasse denken. So sahen wir eine vollkommen ernste Oper in drey Akten, welche, in sich zusammenhängend, ihren Gang ruhig verfolgte. In den Zwischenräumen der drey Abtheilungen erschienen zwey Ballette, so verschieden im Charakter unter einander als mit der Oper selbst; das erste heroisch, das zweyte ins Komische ablaufend, damit die Springer Gewandtheit und Kräfte zeigen konnten. War dieses vorüber, so begann der dritte Akt der Oper, so anständig einherschreitend, als wenn keine Posse vorhergegangen wäre. Ernst, feyerlich, prächtig schloß sich das Ganze. Wir hatten also hier eine Pentalogie, nach ihrer Weise der Menge vollkommen genugthuend. Noch ein Beyspiel fügen wir hinzu: denn wir sahen, in etwas mäßigern Verhältnissen, Goldonische dreyaktige Stücke vorstellen, wo zwischen den Abtheilungen vollkommene zweyaktige komische Opern auf das Glänzendste vorgetragen wurden. Beyde Darstellungen hatten weder dem Inhalt noch der Form nach irgend etwas mit einander gemein, und doch freute man sich höchlich, nach dem ersten Akt der Comödie, die bekanntbeliebte Ouverture der Oper unmittelbar zu vernehmen. Eben so ließ man sich, nach dem glänzenden Finale dieses Singaktes, den zweyten Akt des prosaischen Stücks gar wohl gefallen. Hatte nun abermals eine musikalische Abtheilung das Entzücken gesteigert, so war man doch noch auf den dritten Akt des Schauspiels

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Christoph Michel höchst begierig, welcher denn auch jederzeit vollkommen befriedigend gegeben ward. Denn der Schauspieler, compromittirt durch seine sangreichen Vorgänger, nahm nun alles was er von Talent hatte zusammen, und leistete, durch die Ueberzeugung seinen Zuschauer im besten Humor zu finden selbst in guten Humor versetzt, das Erfreulichste, und der allgemeine Beyfall erscholl beym Abschluß auch dieser Pentalogie, deren letzte Abtheilung gerade die Wirkung that wie der vierte Abschnitt der Tetralogien, uns befriedigt, erheitert und doch auch gemäßigt nach Hause zu schicken.

Obwohl Goethe gleich zu Beginn seines Referats hinter Hermann zurücktritt und ihm das Verdienst zuspricht, ein (wissenschaftlich fundiertes) theatralisches Gegenkonzept zu dem abstrakten Schema des ‚trilogischen Verbandes’ (Satz – Gegensatz – Vermittlung) entwickelt zu haben, das August Wilhelm Schlegel in seinen ,Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur‘ (Wien 1808) formuliert hatte,49 ist sein Beitrag durchaus nicht nur eine Illustration der Hermannschen These. Vielmehr steht hinter den von Goethe angeführten Beispielen einer von wirkungsästhetischen Absichten (in Hermanns Terminologie: durch die tractatio, nicht das argumentum) bestimmten50 Folge der Stücke seine eigene langjährige, erst eben (1817) beendete Praxis in der Entwicklung und Leitung des Weimarischen Theaters. Wie diese bleiben hier auch die Kritiker der Goetheschen Programmgestaltung unerwähnt und ebenso sein Befremden über die von A. W. Schlegel rigoros auf den Punkt gebrachte Definition der Trilogie als eines „dreiaktigen Dramas“51 – auch sie in Goethes Sicht Bestandteil der regressiven Kunstansichten der ‚Romantiker’. Hermann dagegen setzte sich mit Schlegels These in ihrer aktuellen Wiederaufnahme durch den (Bühnen-) Architekten und Archäologen Hans 49

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Der erste Teil der Vorlesungen ,Über dramatische Kunst und Literatur‘ erschien 1809 in Heidelberg. In der teilweise noch unausgearbeiteten Manuskriptfassung notiert Schlegel zu der Frage „Was eine Trilogie sei?“: die Verknüpfung mehrerer Tragödien, „unbeschadet der beschlossenen Selbständigkeit“, „vermöge eines gemeinsamen durch ihre Handlungen hingehenden Verhängnisses zu einem großen Zyklus […]. Dieser beschränkte sich aber auf die Zahl drei (welche auch bei der Einteilung in Akte die einzig gültige ist, nämlich: Anfang, Mittel und Ende) als die Satz, Gegensatz und Vermittlung beider in sich enthält“ (A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, hg. von E. Lohner, Stuttgart 1964, 281). – Hermanns Thesen in De compositione bespricht vor dem Hintergrund der Aufklärungsästhetik und der zeitgenössischen Gegenpositionen Petersen 167–73 (,Über die Auflösung des trilogischen Verbandes‘). Das Wirkungsziel der tragischen Komposition bestand nach Hermann in einer möglichst großen Verschiedenheit der einzelnen Stücke. Vgl. Petersen 167 f.: „Wie in der Musik führt das Gesetz der ‚diversitas’ nach Hermanns Meinung auch in der Tragödie zu einer Dreiteilung. Sie wird begründet mit dem rationalistisch-psychologischen Hinweis, daß der Zuschauer in dreifacher Weise angesprochen werden müsse: durch das Herz (‚animis’), durch die Ohren (‚auribus’) und durch die Augen (‚oculis’). Für Hermann sind dies aber nicht drei Bereiche, die in der Aufführung zu gleicher Zeit angesprochen werden, sondern er verteilt sie mit ihren Schwerpunkten auf die drei Teile der Trilogie: die erste Tragödie bringt gedrängte Handlung für das Herz, die zweite Musik für die Ohren, die dritte Neues und Überraschendes für das Auge“. A. W. Schlegel, Vorlesungen 1 (wie Anm. 49), 141.

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Christian Genelli auseinander, gegen dessen ‚aufführungspraktisches’ Werk ,Das Theater zu Athen‘ (Berlin 1818) er in seinem Programm polemisiert.52 Ganz vermeidet Goethe in seinem Referat schließlich den Reflex auf die in eigenen Dramen praktizierten genre-fremden oder die Stringenz der Handlung unterbrechenden ‚Digressionen’, die – als „Beyspiele […] unzusammenhängend-gesteigerte(r) theatralische(r) Darstellungen“53 – von Goethe selbst oder von Dritten kritisiert worden waren und an dieser Stelle mit neuen Argumenten hätten verteidigt werden können (z. B. ,Proserpina‘ im ,Triumph der Empfindsamkeit‘;54 der opernhafte ,Egmont‘-Schluss;55 das ,Intermezzo‘ in der Walpurgisnacht-Szene des ,Faust I‘56). Doch selbst wenn Goethe auf solche Exempla verzichtet, ist sein scheinbar objektives Referat, sind seine kunsttheoretischen und poetologischen Aufsätze (wie auch das Organ ,Über Kunst und Alterthum‘) insgesamt Mitteilungen in eigener Sache, ja indirekt57 Lehrschriften. Konsequent lässt Goethe, indem er ganz auf die theatralische Praxis zielt, Hermanns systematischen, auf Kant zurückweisenden Ansatz58 außer acht und bedient sich nur der Elemente, die ihm für seine ‚modernen Avantagen’ oder kreativen Palingenesien brauchbar erscheinen. Dieser Modus bestimmt auch Goethes durch Hermann angestoßene, unter beständigem Rekurs auf seine ,Programme‘ unternommene Rekonstruktionen antiker Dramen. Während unvollendete oder fragmentarisch überlieferte Werke der bildenden Kunst und Architektur Goethe von früh auf zu Rekonstruktionen

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Siehe dazu Petersen 168 f.; ebd. auch ein Hinweis auf die von F. G. Welcker in ,Die Aeschyläische Trilogie Prometheus […] nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt‘ (Darmstadt 1824) geäußerte Kritik an Hermanns De compositione. Goethe an Hermann, Weimar, 6. 4. 1823 (WA IV 37, 4). Dazu Goethes späte Selbstkritik: „Proserpina […] freventlich in den Triumph der Empfindsamkeit eingeschaltet und ihre Wirkung vernichtet“ (,Tag- und Jahres-Hefte’ [,bis 1780‘]: FA I 17, 13). Mit dem Tadel, Goethe habe sich, indem er sein Publikum zuletzt durch „einen Salto mortale in eine Opernwelt“ versetze, „an Natur und Wahrheit versündigt“, endet Schillers berühmte Rezension des ,Egmont‘ in der Allgemeinen Literaturzeitung 1788, Sp. 778 (SNA 22, 209). ,Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Titanias goldne Hochzeit. Intermezzo‘: FA I 7/1, 181–87; die kontroverse Diskussion über diese „Einstreuung von satyrischem Häckerling in ein ewiges Gedicht“ (F. T. Vischer) hat A. Schöne in: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, München ³1993, 113–19, dokumentiert und selbst vehement gegen die Plazierung dieses „handlungslose(n) BlocksbergTheater(s)“ Stellung bezogen (so noch in FA I 7/2, 362–64). Im Unterschied zu den ,Propyläen‘, denen mit der ,Einleitung‘ ein umfangreicher avis au lecteur beigegeben war (vgl. V. Langes Kommentar in MA 6. 2, 954–58 sowie den Abschnitt ,Kunstpolitik‘ in Langes Bandeinführung zu MA 6. 1, 869–72). Siehe Anm. 51.

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herausgefordert hatten,59 datieren derartige Versuche im Literarischen alle erst aus dem letzten Lebensjahrzehnt – den einen großen Plan, Schillers ,Demetrius‘-Fragment zu vollenden, ausgenommen.60 Lapidar vermerken die ,Tag- und Jahres-Hefte’ zu 1821 den Ausgangspunkt:61 Die Fragmente Phaethons, von Ritter Hermann mitgetheilt, erregten meine Productivität. Ich studirte eilig manches Stück des Euripides, um mir den Sinn dieses außerordentlichen Mannes wieder zu vergegenwärtigen. Professor Göttling übersetzte die Fragmente und ich beschäftigte mich lange mit einer möglichen Ergänzung.

Die Dissertatio Euripidis fragmenta duo Phaethontis e cod(ice) Claromontano edita (Leipzig 1821)62 erreichte Goethe als Beilage zu Hermanns Brief vom 15. Juli 1821 kurz vor der Abreise nach Eger und Marienbad (26. Juli bis 15. September) und fand augenblicklich Goethes Interesse; er nahm das Heft auf die Reise mit, und bereits am Tag nach der Ankunft in Marienbad verzeichnet sein Tagebuch eine erste Lektüre. Allerdings trafen die Anregungen Hermanns auf Goethes höchste Empfänglichkeit. Denn bereits 1820 hatte Goethe sich Wolfs Prolegomena wieder vorgenommen und seinen 1798 begonnenen ,Auszug aus der Ilias‘ fortgesetzt, den er 1821 abschloss. Dass er zu diesem Zeitpunkt unter den Gelehrten und im gebildeten Publikum, vor allem unter den Jüngeren, ein Ende der von ihm durchlittenen Chorizonten-Phase in der Homerauffassung ge59

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Beispielsweise die Münsterturm-Rekonstruktionen in Straßburg, später: ,Myrons Kuh‘, ,Der Tänzerin Grab‘ sowie die Galerie-Rekonstruktionen ,Polygnots Gemälde‘ und ,Philostrats Gemälde‘. Siehe dazu Goethes Bericht in den ,Tag- und Jahres-Heften’ zu 1805 (FA I 17, 141–43). – F. W. Riemer notiert unter dem 29. 8. 1809: „Bei Goethe. Aus Schlegels Vorlesungen vorgelesen. […] Zu den Supplices hat er [Goethe] früher das dritte Stück der Trilogie erfunden und im Kopfe ausgeführt, aber nichts aufgeschrieben“ (GG II 473, Nr. 3025). FA I 17, 328. Wiederabdruck in: Opuscula III 3–21; dort verweist Hermann eingangs in einer Fußnote auf Goethes Rekonstruktion, indem er bezeichnenderweise auf den Dichter abhebt: „Adverterunt haec fragmenta Goethium, quamvis grandaeva in senecta non cithara carentem. Iuvabit contulisse, quae scripsit in libro cui indicem fecit Kunst und Alterthum vol. IV. parte 2. et vol. VI. parte 1.“ Am Ende seiner kurzen textgeschichtlichen Einleitung skizziert Hermann als Hilfe zum Verständnis der im folgenden mitgeteilten Fragmente den tradierten Mythos und schließt mit einem Problem, für das Goethe später eine überzeugende Lösung fand (S. 6): „Ad haec fragmenta intelligenda satis est scire, Clymenen, quae ex Sole clam Phaethontem pepererat, Meropi, regi Aethiopum nuptam esse, Phaethontemque pro filio Meropis haberi. Cui quum, ut Ovidius narrat, de origine sua dubitatio iniecta esset, a matre, unde natus sit, accipit, Solemque ipsum ea de re adire iubetur. Hinc, ut alia fabulae fragmenta ostendunt, fatalis casus Phaethontis sequebatur, cuius ambustum corpus matri affertur eo ipso tempore, quo Merops nuptias filii instituebat. Deam, vel dearum cuiuspiam filiam ei destinatam uxorem fuisse, verba poetae docent. Sed quae illa sit, ego tanto minus vereor mihi ignotum profiteri, quod etiam Boettigerus, vir veteris mythologiae scientissimus, interroganti mihi non cognitam sibi hanc Phaethontis sponsam esse respondit.” – Die Komplexität von Goethes Rekonstruktion des Phaethon erhellt Petersen, 173–96.

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kommen sah, sprach er in Briefen und Gesprächen, im Tagebuch und in den ,Tag- und Jahres-Heften’ immer wieder aus, am anschaulichsten wohl im ,Entwurf einer Einleitung zum Auszug der Ilias‘ (3. Dezember 1820):63 Seit dreysig Jahren hat die sondernde und zweifelnde Kritik dergestalt überhand genommen daß wir fast allen Glauben an schriftlich Ueberliefertes verlieren mußten. Ein Alter Autor nach dem andern ward uns entrißen und wir sahen nichts als Trümmer jener hohen Zeit auf zerfetztem Pergament, und trauerten wie uns eine Marmorsammlung halbzerstörter Kunstwercke traurig macht. Wir waren so alt als möglich geworden auf einmal ermannt sich die deutsche Jugend wieder neigt sich ehrfurchtsvoll vor der Bibel wie vor dem Homer und stellt die Lebendigkeit, Würde, Einheit und frische Jugendkraft wieder her. […] Deshalb säum ich denn nicht frühere Arbeiten in solchem Sinne unternommen jetzt wieder vorzunehmen, durchzusehen und zu redigiren; dazu gehört den[n] jetzt ein Schema der Ilias, welches die sämmtlichen Motive der Handlung in genauer Folge darstellen soll, wodurch man verleitet werden kann [anzunehmen, dass] dieses unsterbliche Werck wenn es auch nicht völlig fertig und gerüstet wie Pallas entsprungen wäre; doch auf einen Hephaistos hindeutet, welcher so künstlich zu arbeiten weiß daß Leuchter sich von selbst von und zu ihren Plätzen bewegen und goldene Mädchen mit Sinn und Anmuth ihrem Schöpfer unter die Arme greifen.

Wie eng für Goethe Homer-Philologie und Tragödien-Restauration zusammenhingen, zeigt sich auch im Terminologischen, so, wenn er dem jungen Homerforscher Karl Ernst Schubarth über seine Arbeit an ,Phaethon‘ berichtet: Er beschäftige sich nun (Ende 1821), „mit Beyhülfe und Einschaltung schon bekannter Fragmente dieses Stücks das Ganze vor den Geist wieder herzustellen, indeß die Chorizonten auch an den ganzen Stücken nieseln und rütteln“.64 Zum Intentionalen kommen ‚technische’ Vorkenntnisse. Wenn Goethe auch rückblickend an Hermann schrieb, dessen Programme hätten seine dichterische Produktivität erregt, sein ,lebendiges Ahnungsvermögen’ angesprochen,65 er also den divinatorischen Aspekt seiner Rekonstruktionen hervorhob, so war er doch auch in der philologischen Erschließung fragmentarischer Texte erfahren oder auf sie vorbereitet: durch frühe Bearbeitungen antiker Stücke, durch die an archäologischen und kunstgeschichtlichen Objekten geschulte Kombinatorik und durch die im dauernden Kontakt mit der Bühne geübte, bis ins kleinste Detail dringende inszenatorische Phantasie und Anschauungskraft. In die Textphilologie hatten ihn die Korrespondenz 63

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AA-Ls 4, 201 f.; im Tagebuch übertitelte Goethe das Diktat dieses Entwurfs mit ,Über die Lust zu trennen und zu verbinden‘. Ähnlich, doch knapper beschreibt er den Paradigmenwechsel in den ,Tag- und Jahres-Heften’ zu 1820 (FA I 17, 328), wo er auch einen der jungen Philologen, K. E. Schubarth, nennt, dessen ,Ideen über Homer und sein Zeitalter‘ eben erschienen waren. Die ‚Internationalität’ des Aufbruchs betont er im Entwurf einer Anzeige von Campbells ,Lectures on Poetry‘ (AA-Ls 1, 151; 4, 205–07). 19. 11. 1821 (WA IV 35, 179). Vgl. Goethes Brief an Hermann vom 12. 11. 1831, unten S. 82.

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und der Umgang mit F. A. Wolf introduziert, doch auch der Umgang mit humanistisch Gebildeten wie Herder, Voß, Wieland, Wilhelm v. Humboldt und Böttiger, später die Beratung durch Riemer, Passow und Göttling. Trotz solcher Voraussetzungen näherte sich Goethe seinem Gegenstand nur mit großer Vorsicht („Ehrfurchtsvoll an solche köstliche Reliquien herantretend“)66 und nach umständlichen Vorarbeiten, die er in einem ‚Werkstattbericht’ offenlegte:67 Die vom Herrn Professor und Ritter Hermann im Jahre 1821 freundlichst mitgetheilten Fragmente wirkten […] auf mein Innerstes kräftig und entschieden; ich glaubte hier eine der herrlichsten Productionen des großen Tragikers vor mir zu sehen; ohne mein Wissen und Wollen schien das Zerstückte sich im innern Sinn zu restauriren, und als ich mich wirklich an die Arbeit zu wenden gedachte, waren die Herren Professoren Göttling und Riemer […] behülflich, durch Uebersetzen und Aufsuchen der noch sonst muthmaßlichen Fragmente dieses unschätzbaren Werks. […] Die gewagte Restauration besteht also: aus einer Göttlingischen Uebersetzung der von R. Hermann mitgetheilten Fragmente, aus den sonstigen Bruchstücken, die der Musgrave’schen Ausgabe, Leipzig, 1779 und zwar deren zweytem Theil S. 415 hinzugefügt sind, und aus eigenen eingeschalteten und verbindenden Zeilen. Diese drey verschiedenen Elemente ließ ich ohne weitere Andeutung, wie solches wohl durch Zeichen hätte geschehen können, gesammt abdrucken; der einsichtige Gelehrte unterscheidet sie selbst, die Freunde der Dichtung hingegen würden nur gestört; und da die Aufgabe war, etwas Zerstücktes einigermaßen als ein Ganzes erscheinen zu lassen, so fand ich keinen Beruf, mir meine Arbeit selbst zu zerstücken. Anfang und Ende sind glücklicherweise erhalten, und noch gebe ich nicht auf, die Mitte, von der wir kaum Winke haben, nach meiner Weise herzustellen.

Goethes Verfahrensweise scheint trotz dieser nachträglichen Offenlegung der Methode (von der Konzeption über die Prüfung und Ausarbeitung des Vorhandenen zur, die Spuren des mittleren Arbeitsgangs gleichsam wieder tilgenden, Veröffentlichung) fragwürdig. Wird durch den vorgefassten Begriff, die ‚Idee’ des Stücks die Nachprüfung nicht zu einer bloßen Bestätigung? Wird das Publikum (soweit es nicht ‚vom Fach’ ist) nicht um den Sachverhalt (den ‚unheilbaren’ Zustand des Fragments, die verbleibenden Unsicherheiten in der Zuordnung der einzelnen Fragmente) betrogen, nur um ein ästhetisches Ganzes genießen zu dürfen? Wird nicht überhaupt zu ,visuell’ (wie bei einem bildkünstlerischen oder architektonischen Fragment) restauriert? Liest man den Aufsatz selbst aber genauer, so fällt auf, dass eine durchgängige Reflexion auf das Fragmentarische, Hypothetische, Problematische stattfindet: Aussagemodus ist überwiegend der Konjunktiv (als Potentialis), Verluste von Text und Zusammenhang werden erwähnt, Lücken markiert,

66 67

AA-Ls 1, 159. Zu Phaethon des Euripides, Über Kunst und Alterthum IV 2, 1823, 152–58: AA-Ls 1, 171.

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Vermutungen, Ungewissheit, ja Ratlosigkeit („aber nun verläßt uns Licht und Leuchte“68) ausdrücklich zugegeben. Die Idee des Ganzen und das Räsonnement des Fragmentarischen sind in der Synthese der ‚Darstellung’ aufgehoben, doch so, dass jede konstruktive Entscheidung erkennbar bleibt. Hinzu kommt noch die 1823 (Über Kunst und Alterthum IV 2, siehe oben) veröffentlichte Rechenschaft über das Verfahren selbst, die auch den persönlichen Ehrgeiz des Verfassers nicht verschweigt, den Ganzheits-Erwartungen seiner Leser entsprechen zu wollen. In einer dritten Publikation schließlich unterzieht Goethe 1827 aufgrund neuer Funde das ‚Aperçu’ selbst einer Revision.69 Der eigentlich problematische Tatbestand wird dem Publikum schon im ersten Aufsatz nicht verschwiegen: Die Mitte des Stücks ist die ,Lücke‘ im Fragment. Goethe füllt sie mit den ‚geringeren‘ Materialien, d. h. mit den kleinen und nicht immer sicher zuzuordnenden Bruchstücken. Diese Rekonstruktion umfasst den größten Teil des Stücks. Sie beginnt mit dem Gespräch zwischen Merops und Phaethon an dessen Hochzeitsmorgen und endet mit dem Sturz des Jünglings. Goethes Konjektur sucht der erkannten Größe der Tragödie in jedem Moment adäquat zu sein; so, indem sie die in Euripides’ Stücken überhaupt, hier aber besonders wirksamen Gegensätze und Kontraste in Charakterzeichnung und Handlungsstruktur hervortreten lässt (dialektisch/agonal zwischen Merops und Phaethon, Phaethon und Phoebus; chiastisch als Szenenkontrast: „Der irdische Vater will den Sohn begründen wie sich selbst, der himmlische muß ihn abhalten sich ihm gleich zu stellen“;70 im gegensätzlichen Parallelismus von Hochzeitsvorbereitung und Zurüstung zur Wagenfahrt). Für den Kulminationspunkt, Phaethons Auffahrt und Sturz, verweigert sich Goethes Rekonstruktion allen Ausschmückungen; anstelle jenes „Wirrwarr, womit Ovid und Nonnus das Universum zerrütten“,71 lässt sie, um den „enggehaltenen lakonischen Hergang der Tragödie zu begünstigen“, Zeus „mit dem Blitz alsobald drein geschlagen“ haben72 und stellt die Katastrophe als einen nur den im Prolog umrissenen Raum – statt des Universums nur eine „enge[ ], zusammengezogene[ ] Localität, wie sie der griechischen Bühne wohl geziemen mochte“73 – erschütternden Sturz, vergleichbar dem eines Meteorsteins, dar. Für die Größe des Euripides ist Goethe auch dessen ‚Simplicität’ und Ökonomie ein Beweis. Dieser Angelpunkt in Goethes Rekonstruktion bestätigt sich ihm Jahre später durch einen Fund als divinatorische Konjektur. Am 5. August 1826 liest Goethe „im Diogenes Laertius die Stelle auf Euripides Phaethon bezüglich“,74 auf die ihn Göttling kurz zuvor in einem Brief hingewiesen 68 69 70 71 72 73 74

AA-Ls 1, 164. Euripides’ Phaethon, Über Kunst und Alterthum VI 1, 1827, 79-84: AA-Ls 1, 195 f. AA-Ls 1, 165. AA-Ls 1, 167; vgl. Ovid, Metamorphosen 1, 747–79; Nonnos, Dionysiaka 38, 105–83. Euripides’ Phaethon (wie Anm. 69), AA-Ls 1, 196. AA-Ls 1, 159. WA III 10, 226; vgl. Diogenes Laertios, Leben des Anaxagoras 2, 3, 4 ff.

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hatte. In den folgenden Tagen schon entsteht unter Verwendung dieser und zweier weiterer antiker Stellen75 ein Aufsatz, der 1827 unter dem Titel ,Euripides’ Phaethon‘ in ,Über Kunst und Alterthum‘ erscheint.76 Die antiken Zeugnisse geben seiner in der Rekonstruktion zum Ende des vorletzten Aktes geäußerten Vermutung77 recht, dass der Sturz Phaethons als rascher, für die Natur folgenloser, meteorischer Fall verstanden worden sei. Euripides habe damit seinem Lehrer Anaxagoras, der den Fall eines Meteoriten bei Aigos Potamoi vorausgesagt und diesen als Sturz eines Goldklumpens aus der als eine „durchglühte Metallmasse“ aufgefassten Sonne bezeichnet hatte, ein Denkmal gesetzt, wobei er den Ausdruck ,Goldklumpen‘ ambivalent, und zwar „nicht sowohl von der Sonne, als von dem aus ihr herabstürzenden brennenden Jüngling“ gebraucht habe.78 Diese Erklärung des Phänomens dient Goethe nicht nur zur Bestätigung seiner These von der Ökonomie des Euripides, er nutzt sie auch als Gelegenheit zu einem Hinweis auf den „hochgebildeten Dichter“, der sich der Naturwissenschaft bediene, um ein „Ereigniß […] von großem theatralischen Effect und doch nicht abweichend von dem wie es in der Welt herzugehen pflegt“, also ein Außerordentliches „naturwahr“ darzustellen.79 Dass Goethe hier auch zugleich von seinen eigenen poetischen Intentionen spricht, ist offenkundig. Denn gleichzeitig mit dem Rückblick auf den Sturz des Phaethon nimmt er die Arbeit am Helena-Zwischenspiel zu ,Faust. Zweiter Teil‘ wieder auf,80 um eine seiner ältesten Konzeptionen „mit einem gewaltsamen Anlauf“ und doch auch in einer „gewissen genialen“,81 d. h. „vom Glück […], ja fast ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks“82 abhängigen Redaktion zu vollenden, sie „im Zeitmoment“ (von Byrons Tod und der Eroberung Missolunghis) ,solideszieren’ zu lassen.83 Euphorions Sturz wird vom Chor zwar als Ikarus-Schicksal apostrophiert (V. 9901), ist aber der Substanz und Bedeutung nach sehr viel mehr als dieses: Die ,Aureole‘ weist, nach Goethes Erläuterung, den genialen, hoffnungsvollen Jüngling dem Kreis göttlicher Personen zu: „Und so kehrt denn diese Geistesflamme, bey seinem Scheiden, wieder in die höhren Regionen zurück“ (FA I 7/2, 631). Das Aufflammen und Verschwinden der Aureole verdeutlicht die Szenenanweisung an einem Naturphänomen. Lassen das strahlende Haupt, der nachziehende Lichtschweif des für einen Augenblick Schwebenden die Deutung 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Plinius, Historia naturalis 2, 58; Aristoteles, Meteorologica 1, 8. 345 a 13. AA-Ls 1, 195 f. (s. oben Anm. 70). AA-Ls 1, 167. AA-Ls 1, 195 f. (6/ $3 ). AA-Ls 1, 196. Tagebuch vom 12./13. 8. 1826 (WA III 10, 229). Goethe an Nees v. Esenbeck, 25. 5. 1827 (WA IV 42, 198). Eckermann, Gespräche, 15. 1. 1827 (FA II 12, 201). So in dem Anm. 81 genannten Brief an Nees v. Esenbeck; vgl. Eckermann, Gespräche, 5. 7. 1827 (FA II 12, 251).

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noch offen, um welche Art Meteor es sich handelt, so wird das Phänomen im Folgenden, auch als Symbol, präzise (man vergleiche das sidus Iulium84) bezeichnet: „[…] die Aureole steigt wie ein Komet zum Himmel auf“. Nicht eindeutig, höchst rätselhaft ist jedoch die Identität des Entschwindenden, ‚früh sich selbst Verlorenen’ (vgl. V. 9917). Das Naturphänomen entspricht diesem Tatbestand: Dem Toten wird nicht die Verstirnung, keine Astralmythe (wie einem geprüften Helden) zuteil, flüchtig, kometengleich kehrt der vom Körper wieder gelöste Geist „aufwärts, wo er ewig bleibt“ (Vgl. ,Howard’s Ehrengedächtnis’: ,Nimbus’). Das Studium des Phaethon scheint aber nicht nur dem außergewöhnlichen Ende Euphorions zugute gekommen, es scheint auch in dem äußersten Lakonismus, in dem die Szene ,Schattiger Hain‘ im ganzen gehalten ist, wirksam zu sein. Von der ersten Entfaltung bis zur Katastrophe und den Epilogen bleiben Ort und Personenperspektive unverändert, entsteht allein aus dem Gegensatz zwischen Euphorions Streben und den Warnungen von Elternpaar und Chor die dramatische Situation, die freilich nicht in dem Maß Handlung ist wie die antike: Den Lakonismus überführt der die ,Avantagen‘ der Moderne85 nutzende Dramatiker in die symbolische Darstellung. Nicht von ungefähr also beginnt die Retractatio des ,Phaethon‘ 1826/1827 mit dem Satz: „Wo einmal ein Lebenspunct aufgegangen ist, fügt sich manches Lebendige daran.“86 Die Rekonstruktion wird, mit einem Begriff aus Goethes ,Morphologie‘,87 im autobiographischen und werkgeschichtlichen Kontext gesehen – es entsteht eine von Funden, glücklichen Zufällen, zusammenschießenden Assoziationen mitbestimmte Folge. Das Moment des Unvorhersehbaren, Zufälligen deutet Goethe in einem Brief an Zelter vom 12. August 1826 an, in dem er den Eingangssatz der Retractatio vorformuliert: 88 „Zu den Fragmenten des Phaethon hat sich wieder eine gar hübsch erläuternde und eingreifende Stelle gefunden. Wer kann wissen, was sich alles an einen Lebenspunct anschließt.“ Für solche Anschlüsse ist es von Bedeutung, dass die Substrate fragmentarisch sind, Materialien, die dem anschließenden Denken Raum lassen, den ästhetischen Prozess offenhalten. Die ‚Vitalität’ des am Phaethon aufgegangenen Lebenspunktes, dessen Keim vielleicht schon in den ,Labores juveniles‘ gelegt worden war,89 bestätigt sich nochmals, indem Goethe die Fragmente wenige Tage vor seinem Tod von neuem so sehr interessierten, daß er „eine abermalige Revision der Herstellung verhieß“.90 84 85

86 87 88 89 90

Dazu K. Christ, Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 1979, 405. Vgl. die berühmte Äußerung Goethes über die „barbarischen Avantagen“ (gegenüber den „antiken Vorteilen“) in seinen ,Anmerkungen‘ zu Diderot, ,Rameaus Neffe‘ (WA I 45, 176 f.). Siehe auch unten Anmerkung 105. AA-Ls 1, 195. Vgl. das Vorwort zur ,Morphologie‘: „Die Absicht eingeleitet“ (FA I 24, 394). WA IV 41, 120 f. Vgl. Goethes Übersetzung des Phaethon-Mythos ins Lateinische, DjG³ I 50–52. K. W. Müller, Goethe zu Göttling, 3. 3. 1832 (GG III 2, 845; Nr. 6963).

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Kann man die Phaethon-Rekonstruktion Goethes nun aber auch objektiv als geglückt, zudem als einen Beitrag zur Wissenschaft bezeichnen, als den Goethe sie doch auch verstanden wissen wollte? Goethe selbst bedauerte in einem Brief vom 20. Mai 1826 Zelter gegenüber, 1821 nicht die zwei „Hauptscenen“, die Rede-Agone Phaethon vs. Merops und Phaethon vs. Helios, niedergeschrieben zu haben: „Wäre es auch nicht zulänglich gewesen, so war es doch immer etwas, wovon sich jetzt niemand einen Begriff machen kann.“91 Damit rückte er auch unauffällig zurecht, was Zelter in einem früheren Brief „Deine Zutaten zum ,Phaethon‘“92 genannt und auf eine Stufe mit der ,Achilleis‘ gestellt hatte. Goethes strenger Begriff von Rekonstruktion hatte ja gerade den Verzicht auf dichterische Erweiterung impliziert. Dass selbst zünftige Philologen in diesem Punkt nicht klar unterschieden und Goethes Bedauern missverstanden, zeigt Conrad Bursians ,Geschichte der classischen Philologie in Deutschland‘, in der von dem „leider nicht vollendeten Versuch einer Wiederherstellung […] aus Bruchstücken“ die Rede ist.93 Auch Hermann selbst wird Goethes ihm schon 1823, nach Abschluss des ,Versuchs‘, mitgeteiltes Eingeständnis, „wie ich von einer so schweren Aufgabe, nach verwegenem Angriff, mich doch wieder zurückziehen mußte“,94 als Abbruch, ja als Scheitern interpretiert haben. Doch stellt sich solchen Beurteilungen und auch Goethes Selbstzweifeln gegenüber die Rekonstruktion als in sich komplett, als eine echte (d. h. diskutable) große ‚Konjektur’ dar. Auch einzelne Beobachtungen, Argumente und Entscheidungen Goethes haben, gemessen am neueren Forschungsstand, ihre Validität bewiesen. Haben sich auch die Sprecherthese für den Prolog – statt des Wächters, wie schon Wilamowitz erkannte: Klymene95 – und seine aus Ovid gewonnene Erweiterung nicht halten können, so sind doch einzelne Konjekturen (Hinweise auf die Tageszeit, das Hochzeitsfest, das Geheimnis um die göttliche Abstammung) durch die Revision des Clermonter Codex (1885) sowie durch die Papyrus-Funde von 1907 bestätigt worden. Eine erstaunliche Renaissance ist durch die jüngere Forschung auch der in Goethes Prolog enthaltenen Hypothese zuteil geworden, dass die von Merops für Phaethon ausgewählte Braut eine Nymphe aus göttlichem Geschlecht (und nicht, wie von Wilamowitz bis Lesky angenommen, Aphrodite selbst) gewesen sei. James Diggle hat in seiner maßgeblichen Edition96 plausibel machen können, dass es sich 91 92

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WA IV 41, 38. 4. 2.–4.3.1826; MA 20.1, 909. Zelter erinnert sich, F. A. Wolf habe Goethes „Zutaten zum ,Phaethon‘“ anerkannt. Bd. 1, München und Leipzig 1883, 594. Goethe an Hermann, 6. 4. 1823 (WA IV 37, 3). U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Phaethon, Hermes 18 (1883) 396–434, hier: 398 (= Kleine Schriften I, Berlin 1935, [110–47] 112). Euripides, Phaethon. Edited with Prolegomena and Commentary, Cambridge 1970. Rezensiert von R. Kannicht, Gnomon 44 (1972) 1–12.

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um eine der Heliaden gehandelt haben werde.97 Dadurch bekommt aber auch Goethes These von der Ökonomie des großen Tragikers in der Beschränkung der Lokalität, dem Lakonismus der Handlungsführung in einem weiteren wichtigen Punkt Unterstützung. Und sogar die Anonymität, in der Goethe und seine Mitarbeiter die Braut belassen hatten, erscheint in diesem Horizont glänzend gerechtfertigt. Denn, argumentiert Diggle, die Tatsache, dass Euripides’ Stück in der Tradition des Mythos eine so singuläre Stellung einnehme, dass seine Version von den späteren Mythographen nicht aufgegriffen worden sei, erkläre sich vor allem daraus, dass er dem Mythos keine neuen Elemente hinzugefügt, sondern vorhandene (wie die Heliaden) ‚umfunktioniert’ habe, um den spezifisch dramatischen Anforderungen zu entsprechen: „A bride imported from an alien source or invented purely for her present rôle could not have disappeared from literature with such ease.“98 Goethes durch Hermanns Editionen angeregte Beschäftigung mit antiken Tragödienfragmenten stand jedoch nicht nur im Zeichen des Gelingens. Es gibt auch das Faktum des Scheiterns. Aus der Differenz zwischen der ‚durchgefühlten Herrlichkeit’ der einzelnen Splitter, der erahnten Größe des Verlorenen und einer angesichts allzu lückenhafter Überlieferung versagenden Imagination resultierte Resignation. Ein Zeugnis dafür sind Goethes Bemühungen um den Philoktet. Die Anregung, wieder durch eine Schrift Hermanns,99 ist nicht geringer, ja fast noch stärker als beim Phaethon, dessen ‚Wiedergewinnung’ zudem stimulierend wirkt. Gleich nach Erhalt der Schrift stellt Goethe eine ,Vergleichende Tabelle der Philoktete‘ auf (10. Februar 1826): die von Hermann aus Fragmenten des Accius, jedoch nur in einigen wenigen Grundzügen, erschlossene Version des Aischylos, die auch nur in Andeutungen (durch Dio Chrysostomos) überlieferte des Euripides, gefolgt von dem vollständigen Philoktet des Sophokles.100 Zweck der Vergleichung war, über Hermanns auf Accius gestützten Versuch hinaus, durch Sophokles 97

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100

Diggle (wie Anm. 96) 36: „[…] the genealogical information comes more naturally from Clymene“. Kannicht a. a. O., 4: „[…] dramaturgisch wahrscheinlich, daß Klymene auch die Prologrhesis gesprochen hat“. Vgl. jetzt Kannichts Ausgabe: Tragicorum Graecorum Fragmenta 5. Euripides, Göttingen 2004, Bd. 2, 800 zu F 771 und, zur Frage der Braut, 817 zu F 781, 14–31. Diggle (wie Anm. 96), 160. De Aeschyli Philocteta dissertatio (1825): Opuscula III (1828) 113–29. Goethe erhielt die Schrift am 5. 2. 1826; sie wurde mit Riemer besprochen und die Quelle Dio Chrysostomos herangezogen (WA III 10, 158–60). Vgl. C. W. Müller, Euripides, Philoktet. Testimonien und Fragmente, hg., übers. und kommentiert, Berlin/New York 2000, 86 f. AA-Ls 1, 178. Vgl. auch Eckermann, Gespräche, 31. 1. 1827: „Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvortun. Der Ulyß soll ihn holen, aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Aeschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophocles der Sohn des Achill“ (FA II 12, 226 f.).

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und Euripides zu einigen Aufschlüssen über die für Aischylos charakteristische Behandlung des Stoffs zu gelangen. Eine in dieser Hinsicht gelungene Rekonstruktion hätte alle bisherigen Bemühungen Goethes übertroffen. Doch schon am 20. Mai 1826 schreibt Goethe an Zelter, der das Thema der ‚Restauration’ soeben wieder angeschlagen hatte, über sein Vorhaben:101 In jene Regionen werde ich abermals verlockt […]. Ich mußte mich bald losmachen von diesen Betrachtungen […]. Sogar hat ein uralter Lateiner einen Philoktet geschrieben und zwar nach dem Äschylus, wovon denn auch noch Fragmente übrig sind und woraus sich der alte Grieche begreifbar einigermaßen restauriren ließe. Du siehst aber, daß das ein Meer auszutrinken sey, für unsre alte Kehle nicht wohl hinabzuschlucken.

Ein an Hermann und die eigene Tabelle anknüpfendes Konzept Goethes spricht die Gründe für den Abbruch noch deutlicher aus:102 Wie ich durch die Fragmente des Phaëton zu mannigfaltigen Bemühungen aufgerufen worden, wie ich ferner durch die wenigen Bruchstücke der Niobe auf einige Zeit angezogen ward, so erging es mir abermals und zwar diesmal sehr lebhaft, denn was könnte uns erwünschteres begegnen als [daß wir] die drey großen Tragiker gegen die wir denn doch die Augen aufzuheben uns kaum erkühnen, dergestalt vergleichen lernten[,] daß wir einsehen könnten wie sie einen Gegenstand, jeder nach seiner Weise behandelt und durchgeführt. […] […] das was Herrmann von dem Römer Accius sorgfältig gesammelt, kritisch restaurirt, und dem reinen Sinne näher bringt, erregte meine aufmerksamsten Betrachtungen um an den Aeschylus heranzukommen. Aber ich fühlte gar bald nur zu sehr, daß die ganze Wucht des griechischen Alterthums auf mich hereinzubrechen drohte und ich fühlte mich gewarnt, da ich doch wohl auch erfahren hatte, daß leidenschaftliche Neigung zu irgend einem Unternehmen uns zu anmaßlicher und vielleicht gar folgeloser Kühnheit verleitet. Denn genannter Schriftsteller hatte das Glück die drey bedeutenden Werke vollständig vor sich zu sehen und ihren Werth zu überdenken. […] [Doch selbst an den vollständigen ‚Philoktet’ des Sophokles] neuerdings wieder heranzugehen und uns von seinen Vorzügen zu durchdringen wäre eine für ein hohes Alter allzubedenkliche Aufgabe da[s] dem Vortrefflichen unserer Vorfahren weniger productive Kraft entgegenzusetzen sich [imstande] fühlt und unter dem Gewicht jener Vorzüge sich gebeugt ja vernichtet finden müßte.

Vergleicht man die als Hermanns Leistung hervorgehobenen Schritte mit Goethes Methode bei ,Phaethon‘, so wird deutlich, was zu einem ‚Begriff’ des aischyleischen Stücks fehlt: Hermann sammelte und sichtete, er ergänzte und stellte das Gewonnene fasslich dar; bei Goethe aber stand die das Ganze bereits erahnende Konzeption voran. Dem Dreischritt dort, der (wie riskant auch immer) das Gelingen einschloss, stand der (in sich musterhafte, jeder101 102

WA IV 41, 38 f. AA-Ls 1, 179 f; korrupter Text, an einigen Stellen gebessert.

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zeit rational verantwortete) Zweischritt des Philologen gegenüber. Doch überließ sich Goethe nicht der Inspiration: Die „kümmerlichen Reste“ waren nicht der Boden für einen solchen Aufschwung. Goethe verweist hier auf frühere Unternehmungen, die „folgelos“ (eines seiner negativsten Urteilswörter) geblieben waren. ,Prometheus‘, ,Achilleis‘, ,Pandora‘ könnten ihm (da von Restauration noch nicht die Rede sein konnte), ihrem riesenhaften Zuschnitt nach, vor Augen gestanden haben. Eine Grenze wird sichtbar: Das agonale Moment, das sich Goethes Beschäftigung mit antiken Stoffen immer dann beigesellt, wenn sie „in den bedenklichen Kreis der Productivität“103 eintritt, droht in Verzweiflung und Selbstvernichtung umzuschlagen, wenn das allzu Fragmentarische jeden Halt versagt, aber auch, wenn das ‚Vollkommene’ in seiner Übergröße erfahren wird (Goethe nennt das unpathetisch: sich von den „Vorzügen […] durchdringen“ ).104 Zu einer Zuspitzung kommt es dennoch nicht, aufgrund des Eingeständnisses der eigenen Unzulänglichkeit – einer Reflexion, die Goethe „Bedenken“ nennt – und des Überleitens der Produktivität in neue Stoffe. So wendet Goethe sich im oben zitierten Brief an Zelter sogleich wieder der Betrachtung des ‚Fugen’-Bildes ,Charon‘ zu, so fährt er in der Ausarbeitung des ,Helena‘-Zwischenspiels fort, wobei die an ,Philoktet‘ thematisierte Problematik der Übergröße antiker Stoffe und Gestalten vielleicht auch in der romantischen Brechung des zweiten Teils der ,Phantasmagorie‘ wiedererkannt werden darf: antike ,Vorteile‘ durch ,barbarische Avantagen‘ auszugleichen,105 wäre eine (für den ,Philoktet‘ selbst aus philologischer Strenge abgewiesene) dichterische Lösung des Problems. Führt man sich den poetologischen und dichterischen Gewinn, den Goethe aus Hermanns Mitteilungen gezogen hat, auch nur partiell vor Augen – ergänzend wäre auf Goethes das antike Satyrspiel völlig neu bewertende Studien ,Zum Kyklops des Euripides‘106 und die Beschäftigung

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AA-Ls 1, S. 179; vgl. auch Goethes Brief an Schiller vom 9. 12. 1797 (WA IV 12, 373 f.): „Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen seyn? daß das höchste pathetische auch nur ästhetisches Spiel bey ihnen gewesen wäre, da bey uns die Naturwahrheit mitwirken muß um ein solches Werk hervorzubringen. Ich kenne mich zwar nicht selbst genug um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich erschrecke aber blos vor dem Unternehmen und bin beynahe überzeugt daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte.“ AA-Ls 1, 180. Vgl. Anm. 85; dazu H. Schöne, Antike Vorteile und barbarische Avantagen. Ein Goethewort: Die Antike 10 (1934) 286–305. Im Februar 1823, Juli bis August 1824, November 1826: AA-Ls 1, 155–58; siehe auch Goethes Briefkonzept an C. W. Beuth vom 13. 6. 1827 (WA IV 42, 220): Er (Goethe) habe in seinem Aufsatz über den Kyklops des Euripides „darzuthun“ gesucht, „daß in den Satyrspielen der Alten nicht sowohl um Karikiren und Erniedrigen höherer Naturen zu thun gewesen, sondern daß man vielmehr heroische Gestalten in solche Lagen versetzt, worin sie sich deplacirt gefühlt und in Gefahr gekommen lächerlich zu werden, wie denn wirklich in obgedachtem Spiele der verschlagene kunstgewandte Redner Ulysses gegen den plumpen Natursohn Polyphem sich gar komisch ausnimmt“.

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mit den besonders geschätzten Bakchen107 einzugehen –, ist Goethes nach seinem Brief vom 19. Oktober 1823 (mit der Beilage des zweiten ,Phaethon‘Artikels und des Tetralogien-Aufsatzes) einsetzendes, acht Jahre währendes Schweigen als Korrespondent (bei fortgesetzten Zusendungen und einigen Begleitschreiben Hermanns) merkwürdig. Auch die rühmende Erwähnung im Vorwort von Hermanns Ausgabe der Alkestis, Widmungsexemplare von De Aeschyli Philocteta, des dritten Bandes der ,Opuscula‘ (mit dem erwähnten Fußnoten-Hinweis auf Goethes Phaethon-Rekonstruktion) und der Emendationes Coluthi blieben unerwidert. Goethes Verstummen auf das Hermann unterlaufene „Mißgeschick“ zurückzuführen, für die Sendung vom 19. Oktober 1823 nicht gedankt zu haben (so die Vermutung Ernst Günther Schmidts), scheint angesichts der durch Dritte bezeugten anhaltenden Hochachtung Goethes gegenüber Hermann, mehr noch angesichts des Interesses, das er seinen Veröffentlichungen weiterhin entgegenbrachte, als Erklärung nicht auszureichen. Vielmehr scheint sich zu wiederholen, was schon für das erste, weitaus längere schriftlose Intervall zwischen der Leipziger und der Karlsbader Begegnung charakteristisch gewesen war: dass Goethe Hermann so sehr in seinen ‚geistigen Haushalt’ aufgenommen hatte, dass es konventioneller Sympathiebekundungen (und solche enthalten Hermanns ‚überbrückende’ Briefe durchweg) nicht bedurfte. Letztlich ist Goethes fortgesetzter produktiver Umgang mit Hermanns Schriften als ‚faktisches Sprechen’ oder Korrespondieren zu bewerten. Nicht verwunderlich ist demnach auch der (nur scheinbar als spontane Reaktion auf Hermanns Zusendung seiner Edition der Iphigenie in Aulis108 folgende) Brief Goethes vom 12. November 1831, der eine Summe zieht und die Perspektive des Zusammenwirkens verlängert. Hermann hatte seiner Sendung vom 2. November 1831 ein kurzes, auch die unterschiedlichen ‚Niveaus’ von Dichter und Philolog korrelierendes, Begleitschreiben beigefügt:109 Ich habe mir erlaubt es [das beiliegende Buch] Ihnen zu widmen, und Ihnen, wenn auch mit wenigen Worten, ein öffentliches Zeichen einer Verehrung zu geben, die ich im Namen des alten Griechischen Geistes doch eher aus107

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Die Ankunft von Hermanns Edition ,Euripidis Bacchae‘ verbucht Goethe am 15. 10. 1823 (WA III 9, 330; Ruppert, Nr. 1260). Für seine Übersetzungen genutzt hat er nicht sie (der Textteil ist unaufgeschnitten), sondern vermutlich den 2. Band der dreibändigen Euripides-Ausgabe von Barnes/Musgrave/Beck (Leipzig 1778-88); vgl. auch Petersen 196–204 (,Übersetzung und Paraphrase der Bakchen’), bes. 198 Anm. 11. Euripidis Iphigenia in Aulide, Leipzig 1831 (Ruppert, Nr. 1261). Nach der Hs. GSA 28/152 Bl. 295. – Noch deutlicher, und durchaus selbstbewusst, hat Hermann den Dichter vom Philologen abgegrenzt in seiner Dissertatio De Aeschyli Niobe (zuerst 1823; Opuscula III, 37-58, hier: 41): „Sed ut ad Aeschyli Nioben revertamur, quae compositio fuerit illius fabulae coniiciat fortasse, ut in Euripidis Phaethonte, divinum ingenium Goethii, cui contigit, quod sibi exoptabat Horatius, integra cum mente nec turpem senectam degere nec cithara carentem. Nobis, qui critici fungimur officio, intra fines consistendum est multo angustiores“.

Gottfried Hermanns Briefwechsel mit Goethe (1820-1831)

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sprechen darf, als die, welche Griechisches ins Ungriechische übergetragen für Griechisch halten. Ich habe mich bemüht, das verdorbenste Stück des Euripides möglichst von älterer und neuerer Belästigung zu befreien. Blickt auch der leitende Gedanke des Wahren und Würdigen nur sparsam aus dem schwerfälligen philologischen Gerüste hervor, so ist er es doch allein, der es verstattete Ihren Namen dem Buche vorzusetzen.

Goethe, der sich unmittelbar nach Erhalt der Sendung am 3. November „den ganzen Abend mit der Vorrede“ der Edition beschäftigte, dieses Studium auch in den nächsten Tagen fortsetzte und dabei „glückliche Bemerkungen im Ganzen wie im Einzelnen“ fand, antwortete Hermann:110 Ew. Hochwohlgeboren haben mich so oft aus düstern kimmerischen Träumen in jenes heitere Lichtund Tageland gerufen und versetzt, daß ich Ihnen die angenehmsten Augenblicke meines Lebens schuldig geworden. Phaethon, Philoktet, die Urmythologie und so manches Andere haben mich vielfältig beschäftigt und mir möglich gemacht, das nach Zeit und Ort, Gesinnung und Talent Entfernteste an mich heranzurufen. Wollen sie mir nun gar auf die ehrenvollste Weise zugestehn, daß ich als ein gedämpftes, aber doch treues Echo jene Klänge unserm gemeinsamen Vaterland zugelenkt, so bleibt mir nichts weiter zu wünschen übrig. Die glücklichsten Augenblicke hab ich dabey gelebt; hat sich nun zugleich etwas erfreulich Förderndes für meine Landes- und Zeitgenossen entwickelt, so dient dieß zur Stärkung und Belebung meines Glaubens, den ich während eines langen Lebens festgehalten habe. Der Hauptgedanke, nach welchem Sie uns ein so herrliches Stück wiederherstellen, ist bewundernswürdig, die Ausbildung in’s Einzelne unschätzbar. Soviel darf ich wohl im Allgemeinen sagen, wenn ich auch schon, weder jetzt noch künftig, das eigentliche Verdienst gründlich anzuerkennen mir einbilden darf. Doch freu ich mich gerade in solchen Fällen eines lebendigen Ahnungsvermögens, welches durch Ihre Behandlungsweise, so weit sie auch im Besondern von mir abliegen möchte, im Ganzen mich immer befähigt und fördert.

Nicht zu überhören sind aber auch hier die Andeutungen des Trennenden, ja die Vorbehalte. Äußerte Goethe doch einen solchen, grundsätzlichen auch gegen Hermanns gedruckte Widmung (GOETHIO _ TAURICA IPHIGENIA _ SPIRITUM GRAIAE TENUEM CAMENAE _ GERMANIS MONSTRATORI _ D.), die ihn veranlasste, noch kurz vor seinem Tod, am 3. März 1832, im Gespräch mit Göttling, Euripides erneut den Philologen gegenüber in Schutz zu nehmen:111 110 111

12. 11. 1831; WA IV 49, 137–39. Berichtet durch K. W. Müller, Goethes letzte literarische Tätigkeit: GG III 2, 845 f. (Nr. 6963). Drastischer formulierte Goethe selbst wenig später im Tagebuch (22. 11. 1831; WA III 13, 176): „Ich las […] den Jon des Euripides abermals zu neuer Erbauung und Belehrung. Mich wundert’s denn doch, daß die Aristokratie der Philologen seine Vorzüge nicht begreift, indem sie ihn mit herkömmlicher Vornehmheit seinen Vorgängern

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Christoph Michel Er [Goethe] sagte unter andern: „Sie wissen, daß mir Hermann seine Ausgabe der Iphigenia dediziert hat. Es hat mich gefreut, auch darum, weil ihr Philologen in euren Urteilen konstant bleibt: ich werde von ihm tenuem spiritum* Grajae Camenae Germanis monstrator genannt, womit er mir fast scheint haben andeuten zu wollen, daß ihm Euripides nicht sehr hoch stehe; aber so seid ihr! Weil Euripides ein paar schlechte Stücke, wie Elektra und Helena, geschrieben, und weil ihn Aristophanes gehudelt hat: so stellt ihr ihn tiefer, als andere. Nach seinen besten Produkten muß man einen Dichter beurteilen, nicht nach seinen schlechtesten. Überhaupt seid ihr Philologen, obgleich ihr einen gewissen unverächtlichen Geschmack habt und durch eure solide stämmige Bildung immer einen großen Einfluß auf die Literatur behaupten werdet, doch eine Art Wappenkönige. Wie diese nur das für ein gutes Geschlecht halten, welches seit Jahrhunderten dafür gegolten hat, und wie sie zum Beispiel meinen Stamm deshalb für einen schwachen halten würden, so tut ihr es in der Literatur mit Euripides: weil der seit langer Zeit angefochten wird, fechtet ihr ihn auch an, und was für prächtige Stücke hat er doch gemacht. Für sein schönstes halte ich die Bacchen. […]“ * Er ging von dem bescheidenen Sinn des tenuis spiritus bei Horaz aus und wollte es darum nicht in ähnlichem Sinn auf sich beziehen.

Im „Nachtrag“ zu ,Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi‘ (1805) hatte Goethe eine Alternative zu der sich bereits autonom verstehenden Fachwissenschaft seiner Zeit vorgeschlagen, indem er die „Freunde des Altertums und der Kunst“ aufforderte, sich „zwischen dem Gelehrten und Künstler in die Mitte“ zu stellen (FA I 18, 917 f.). War es eine rückwärtsgewandte Utopie, wenn er, fast simultan zum ersten Brief- und Arbeitskontakt mit Hermann, dem Entwurf seiner Studie über ,Julius Cäsars Triumphzug, gemalt von Mantegna‘ (1820/ 1822) die Bemerkung anfügte, „daß die Künstler des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts immer mit Gelehrten und Alterthumsforschern, die damals auch von ihrer Seite künstlerisch arbeiteten, in genauer Verbindung standen“ (FA I 21, 642)? Einen Abglanz, eine schmale Renaissance solcher Verhältnisse scheint Goethe in seiner Verbindung mit Gottfried Hermann gesehen und seinerseits tatkräftig genutzt zu haben.

subordinirt, berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes. Hat doch Euripides zu seiner Zeit ungeheure Wirkungen gethan, woraus hervorgeht, daß er ein eminenter Zeitgenosse war, worauf doch alles ankommt. Und haben denn alle Nationen seit ihm einen Dramatiker gehabt, der nur werth wäre, ihm die Pantoffeln zu reichen?“

Michael Schramm

Hermann und Kant: Philologie als (Kantische) Wissenschaft

Das Grundproblem einer wissenschaftstheoretischen Reflexion auf die Philologie besteht darin, sie als Wissenschaft im Kanon der Wissenschaften zu bestimmen. Oft wurde der Philologie die Wissenschaftlichkeit schlechthin bestritten, etwa von Hegel, der sie lediglich als unwissenschaftliches Disziplinen-„Aggregat“ ansah,1 oder von Nietzsche, der der Philologie unterstellte, „aus mehreren Wissenschaften gewissermaßen geborgt“ zu sein.2 Die zu Hermanns Zeiten am meisten profilierte wissenschaftstheoretische Position war Friedrich August Wolfs Konzeption einer „umfassenden, alle auf die alte Welt bezüglichen Einzeldisziplinen zu einer Einheit zusammenschließenden Altertumswissenschaft“.3 Seit 1785 hielt Wolf Vorlesungen über die ,Encyclopaedia philologica‘, doch um die „griechische und lateinische Philologie“ zur „Würde einer wohlgeordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben“, nannte er sie „Alterthumswissenschaft“ bzw. „Alterthumskunde“4 und gliederte sie in „Fundamentaltheile“ (Grammatik, Hermeneutik und Kritik) und „Haupttheile“ (Sachgebiete von der antiken Geographie bis zur Geschichte).5 Dieser Konzeption der Altertumswissenschaft, die systematisch besonders von August Boeckh, Wolfs Schüler und Hermanns Gegenspieler im sogenannten Methodenstreit zwischen Wort- und Sachphilologie, fortgeführt und entwickelt wurde, widersetzte sich Gottfried Hermann, wenn er etwa in seiner 1834 entstandenen Schrift De officio interpretis die Philologie ganz traditionell als „interpretatio atque emendatio veterum scriptorum“6 verstand. Dennoch war Hermann nicht nur der großartige Textkritiker und 1

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G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Theorie-Werkausgabe 8 (1970) 61; allgemein zu diesem Vorwurf vgl. A. H. L. Heeren, Geschichte des Studiums der classischen Litteratur seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften, Bd. 1 (1797), 1. F. Nietzsche, Homer und die klassische Philologie (1869), in: G. Colli/ M. Montinari (Hgg.), Nietzsche, Werke. Kritische Gesamt-Ausgabe II 1, 249 f. E. Vogt, Griechische Philologie in der Neuzeit, in: G. Nesselrath (Hg.), Einleitung in die griechische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, 125. F. A. Wolf, Vorlesungen über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft. Vorlesung über die Alterthumswissenschaft 1, hg. von J. D. Gürtler (1831), 1 ff., bes. 4 f. 10 ff. 13. 16; Darstellung der Alterthums-Wissenschaft (1807), in: Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache 2, hg. von G. Bernhardy (1869), 808 ff., bes. 811. 826. 895. Encyclopädie (wie Anm. 4) 22 ff.; Darstellung (wie Anm. 4) 894 f. Opuscula VII 99.

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Wortphilologe, als der er zumeist angesehen wird, sondern hatte auch von früh an ein Bedürfnis nach einer haltbaren Begründung der Philologie als Wissenschaft. Schon als Student hatte sich Hermann aus Interesse am Problem des Erhabenen7 auf Rat eines Freundes der selbständigen Lektüre der drei Kantischen Kritiken zugewandt mit dem Ziel, die ,Kritik der Urteilskraft‘8 und die dort verhandelte Bestimmung des Schönen und Erhabenen zu verstehen.9 Nach seiner Promotionsschrift De fundamento iuris puniendi, mit der er 1793 sein Jurastudium beendete, ging er nach Jena, um bei Karl Leonhard Reinhold, dem damals ersten und bekanntesten Kantianer, im Wintersemester 1793/94 Philosophie zu studieren. Nach seiner Habilitation 1794 mit der Abhandlung De poeseos generibus begann er im Sommersemester 1795 seine Lehrtätigkeit mit Vorlesungen über die Antigone – und eben über die ,Kritik der Urteilskraft‘. Der Einfluss Kants auf die Philologie Gottfried Hermanns wird immer wieder betont,10 jedoch nicht in seiner wirklichen Tragweite im Detail gezeigt. Die folgende Darstellung möchte dieses Defizit beheben und Hermanns Ästhetik, Poetik, Metrik, Grammatik und Hermeneutik im Ausgang von und in Auseinandersetzung mit Kant nachzeichnen. Es wird sich zeigen, dass Hermanns Philologie durch und durch kantisch ist und Kants Idee von Wissenschaft folgt. Eine Wissenschaft im Kantischen Sinne ist ein System nach einem Prinzip oder einem Zweck, aus dem Ordnung und Mannigfaltigkeit ihrer Teile abgeleitet sind. Durch diese apriorische Idee ergibt sich eine notwendige Einteilung und Ableitung und systematische Erkenntnis aller dieser Teile (KrV B 861 f.). Für alle genannten Teilgebiete der Philologie – mit Einschränkungen für die Grammatik – ist nach Hermann eine rationale, allein auf der Vernunft basierende Begründung möglich, die sich aus dem Begriff von Philologie als Kenntnis von Sprache und Literatur der Antike systematisch ergibt. Hermann entspricht in seiner Begründung und Einordnung der Philo7

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Gehört hatte Hermann zunächst bei Ernst Platner eine Vorlesung über Ästhetik (ein Auszug ist abgedruckt bei H. Köchly, Gottfried Hermann. Zu seinem hundertjährigen Geburtstage, Heidelberg 1874, 118–21); außerdem hatte er mit Christian D. Beck über den Begriff des Erhabenen bei Ps.-Longin ;1 μ bei den Griechen nicht nur die Zeitmessung angehe, sondern auch die Beschreibung von „Gegenständen, in wiefern sie im Raume vorgestellt werden“, und zwar als „regelmäßiges Verhältnis überhaupt“ (De metris 8, HdM § 2). Entsprechend sind die beiden Grundbegriffe der Elementa ,Rhythmus‘ (numerus) und ,Regelmäßigkeit‘ (symmetria).44 Jener ist definiert als ,geordnete Abfolge von Zeiten‘ („ordinata successio temporum“, El. I i 1; Ep. I 2), diese als ,geordneter Zusammenhang (Stetigkeit) von Räumen‘ („spatiorum ordinata continuitas“, El. I i 1; Ep. I 2). Beide Definitionen bestehen aus drei Begriffen (Ep. I 2): Raum bzw. Zeit, Kontinuität bzw. Sukzession sowie Ordnung (ordo, dispositio) oder Gesetz (lex). Dass Hermann die Raumkategorie in die Metrik einführt, ist zunächst etwas überraschend. Der Grund dafür liegt nicht allein in der Orientierung an der Kantischen Systematik. Kant hat in der ,Kritik der reinen Vernunft‘ das menschliche Erkenntnisvermögen in Anschauung und Begriffe eingeteilt, die er in seiner „transzendentalen Elementarlehre“ unter den Aspekten der 41

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W. Christ, Metrik der Griechen und Römer, Leipzig 21879. Das ,Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft‘ von 1901 bezeichnet Hermanns Elementa als „noch heute höchst wertvolles Werk“ und ihn selbst als den „Neubegründer einer wissenschaftlichen Metrik“ (H. Gleditsch, Metrik der Griechen und Römer mit einem Anhang über die Musik der Griechen, in: Rhetorik und Metrik der Griechen und Römer, Hdb. der klass. Altertumswiss. II 3, München 31901, 79). 21844, 31852, 41869. Der (Kantischen) Philosophie rechnet Hermann hier als Hauptverdienst an, dass er mit ihrer Hilfe die „allgemeine Theorie des Rhythmus“ in ihrer vollen Deutlichkeit dargestellt und a priori bewiesen habe (HdM viii). Zur deutschen Übersetzung von symmetria vgl. De poeseos generibus (wie Anm. 12) 30.

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„transzendentalen Ästhetik“ und der „transzendentalen Logik“ behandelt. Gegeben sind für Kant nicht die Dinge als solche, sondern nur Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit, in denen die Gegenstände für uns erscheinen, und die Begriffe, mit deren Hilfe unser Verstand die Erscheinungen ordnet und interpretiert. Mit dem bekannten Diktum zu reden: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV B 76). Begriffe sind „Regeln der Anschauungen“ (KrV A 106), wobei die Zeit „die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes“ ist (KrV B 49, A 33) und der Raum „die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“ (KrV B 42, A 26); gemeint ist die Anschauung äußerer Gegenstände im Raum und ihrer Eigenschaften wie Gestalt, Größe und Verhältnis zueinander (KrV B 37, A 22). Raum und Zeit sind für Kant komplementäre Formen der Anschauung und somit Bedingung der Möglichkeit unserer wahrnehmenden Rezeptivität. Bei Hermann indes besteht der Hauptgrund für die Berücksichtigung der Raumkategorie, die mit der Kantischen Ästhetik koinzidiert, vielmehr darin, dass für ihn die Rhythmik sowohl die Verskunst der dichterisch gebundenen Rede als auch Musik und Gesang umfasst. Schon der AristotelesSchüler Aristoxenos von Tarent hat im Anschluss an den aristotelischen Hylemorphismus zwischen dem Stoff, der durch den Rhythmus geformt wird ( >μ?μ), und der Form, die der Stoff durch den Rhythmus erhält, unterschieden (Elementa Rhythmica 17, 13–23 Pighi). Als Materie des Rhythmus nannte er das gesprochene Wort ( /@), Melodie (μ/ ) und die Körperbewegung (8 %μ #; Rhyth. 19, 15 f. P., vgl. Aristides Quint. I 13, 1–5). In der vollendeten Dichtung kamen diese drei Elemente zusammen, indem die Worte des Dichters unter Instrumentalbegleitung gesungen wurden und der Gesang von einer entsprechenden Körperbewegung oder vom Tanz begleitet wurde (Plat. Rep. 398 d, vgl. Aristid. I 13, 30 f.). Sprache, Musik und Tanz haben gemeinsam, dass sie Bewegungen sind und das Maß der Bewegung die Zeit ist.45 Indem Hermann ,Bewegung‘ immer als Bewegung bewegter Körper versteht, kann er ,Rhythmik‘ nicht nur im eingeschränkten Sinn der antiken Metriker als Zeit-Messkunst, sondern auch als Raum-Messkunst begreifen und auch Musik und Tanz in die Rhythmik integrieren.46 Damit knüpft er einerseits an die antike Tradition an, die die Musik innerhalb des Quadriviums durch Rekurs auf die fundamentaleren 45

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So hat Aristoxenos den Rhythmus auch als ,Ordnung von Zeiten‘ (2@ 6%) definiert (Rhyth. 18, 17–20 Pighi; Aristid. I 13, 5 f., Victorinus I 10, 3; vgl. Plat. Leg. 653 e) und den Rhythmus auf eine einfache Zeit (6 "3) zurückgeführt (Rhyth. 19, 21 f. P.; Aristid. I 14, 1 f.). Hermanns Beispiel für die Gleichheit des Rhythmus sind die Glockenschläge, mit denen an einer Turmuhr die Stunden gezählt werden, bzw. für die Gleichheit in der Regelmäßigkeit eine Reihe von nach Höhe, Gestalt und Abständen gleichen Bäumen oder Säulen (El. I ii 1; Ep. II 10).

Hermann und Kant

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mathematischen Wissenschaften Arithmetik und Geometrie fundiert, andererseits an Kant, für den die Zahlbegriffe „durch sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit“ (Prol. A 53) entstehen und die Gegenstände der Geometrie wie Punkte, Linien, Flächen auf apriorischen Konstruktionen in der Raumanschauung beruhen (KrV B 203 f.). Geometrische Eigenschaften wie Symmetrie oder Kontinuität sind demnach nicht als Körpereigenschaften zu fassen, sondern beziehen sich auf gewisse Begrenzungen der Räume, die von den Körpern angefüllt werden (vgl. El. I i 3). Neben der Reduktion der Rhythmik auf die Kantischen Anschauungsformen Raum und Zeit ist das allgemeine Gesetz des Rhythmus zentral für die Wissenschaftlichkeit der Rhythmik und der Metrik. Aufgrund dieses Gesetzes sei die Metrik „einer gewissen Vollendung fähig“, auch wenn sie als „Aufzählung und Erklärung aller Versarten“ nie vollendet sein könne, weil die Rhythmen „unendlich mannigfaltig“ sind und keine Regel existiert, wodurch ihre Zahl erschlossen werden kann (HdM ix f.; § 4). Es handelt sich bei dem Gesetz des Rhythmus um „ein objectives, ein formales, ein a priori bestimmtes Gesetz“ (HdM § 8).47 Das Gesetz ist objektiv, nicht subjektiv, weil es andernfalls „durch das Gefühl eines jeden bey der Wahrnehmung des Rhythmus bestimmt würde“ und „keine Notwendigkeit und Allgemeinheit haben“ würde (HdM § 5; El. I i 5; Ep. I 3). Es ist formal, nicht material, weil es nicht von dem „Realgrund des Zusammenhanges“, den „Sachen selbst“, d. h. von den Klängen, der Bewegung oder den Körpern abhängt, sondern vom Zeitunterschied und dem Verhältnis der Raumteile zueinander (HdM § 6; El. I i 6; Ep. I 4). Schließlich ist das Gesetz nicht empirisch, denn dann wäre es von der Meinung eines Menschen, eines Volkes oder Zeitalters abhängig; vielmehr ist es „angeboren“ (innata) oder „a priori gewiß“ (a priori certa), da es nicht durch Lernen, sondern „durch sich selbst“ (per se) bekannt ist und folglich nicht geändert oder aufgehoben werden kann (HdM § 7; El. I i 6; Ep. I 5). Der „objective Grund“ der Sukzession des Rhythmus und der Kontinuität der Symmetrie ist das Gesetz der Kausalität (HdM § 6; El. I i 9; Ep. I 6). Der Begriff der Kausalität ist nach Hermann „nur durch den Begriff der Wechselwirkung a priori bestimmbar“, da die Kausalität nur das Verhältnis von Ursache und Wirkung bestimmt, aber nicht a priori das „Verhältnis der Größe der Ursache und Wirkung untereinander“ wie die Wechselwirkung, d. i. die Gleichheit von Ursache und Wirkung (HdM § 12). Hermann rekurriert hier auf zwei von Kants Relationskategorien bzw. auf die zweite und dritte Kantische Analogie der Erfahrung. Eine „Analogie der Erfahrung“ ist „eine Regel“, „nach welcher aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung […] entspringen soll“ (KrV B 223, A 180). Substanzerhaltung, 47

Vgl. El. I i 8: „Quod si numeri symmetriaeque perceptio neque a sensu cuiusque regitur, neque ex rebus, in quibus numerus et symmetria cernitur, pendet, neque doctrina aliqua, quam quis ante didicerit, opus habet: lex ea, qua vel numerus vel symmetria definitur, non subiectiva, sed obiectiva, non materialis, sed formalis, non empirica, sed innata nobis sit necesse est.“

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Kausalität und Wechselwirkung sind für Kant die drei Analogien der Erfahrung oder Regeln des Verstandes, nach denen dieser alle unsere Wahrnehmungen interpretiert und zu einer einheitlichen Erfahrung synthetisiert. Hermann greift diese Analogien auf, um die Metrik als apriorisch begründete Erfahrungswissenschaft zu etablieren. Im Unterschied zu Kant, der die drei Analogien der Erfahrung unabhängig voneinander aus den Modi der Zeit erklärt (Verhältnis zu der Zeit, als einer Größe; Verhältnis in der Zeit, als einer Reihe; Verhältnis der Zeit in ihr selbst, als einem Inbegriff allen Daseins: KrV B 262, A 215), führt Hermann die Kausalität jedoch auf die Wechselwirkung als ihre Ermöglichungsbedingung zurück – ein Ansatz, für den es in der zeitgenössischen Philosophie, in der die Wechselwirkung ansonsten durchaus eine herausgehobene Stellung einnimmt (z. B. bei Fichte, Novalis oder Schelling), keine Parallele gibt. Schon Hermanns Lehrer Platner hat in seinen einflussreichen „Philosophischen Aphorismen“48 gegen Kants Ableitung der Analogien aus der Zeit moniert (§ 845): „Die innere Natur und der Ursprung dieser Begriffe [sc. Kausalität und Wechselwirkung] sind bey weitem nicht erschöpft durch die Vorstellungsart der Zeit: denn es liegt mehr in der Ursache, als das Vorangehen, mehr in der Wirkung, als das Nachfolgen, und mehr in der Gemeinschaft, als das Zugleichseyn“. In Anlehnung an Christian Wolff möchte er das Prädikat der ,Kraft‘ im Begriff der Ursache re-installieren und damit die wirkliche, nicht nur logische Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache erklären (Anm. zu § 845 und § 846).49 Hermann scheint dieser Kritik zu folgen

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E. Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig 1793 (Nachdruck in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Supplement zu: Nachgelassene Schriften Bd. 4 [Bd. II 4], Stuttgart/Bad Cannstatt 1977). Dieses bereits 1776 (1. Teil: Logik und Metaphysik) und 1782 (2. Teil: Moralphilosophie) erschienene Werk des Leipziger Medizinprofessors enthielt in seinen Neuauflagen (21784, 31793 [1. Teil], 31800 [2. Teil]) Überarbeitungen, die versuchten, die ursprünglich von der LeibnizWolffschen Schulphilosophie ausgehende Darstellung dem Gang der philosophischen Entwicklung, insbesondere durch die Schriften Kants, anzupassen (dazu A. Wreschner, Ernst Platners und Kants Erkenntnistheorie, 1891, und R. Palaia, Ernst Platner avversario della filosofia critica, 1985). Diese Schrift wurde zu ihrer Zeit vielerorts zur Grundlage von Vorlesungen zu Logik, Metaphysik oder Moralphilosophie, etwa 1788 von Platners späterem Gegner Reinhold (zur Auseinandersetzung zwischen Reinhold und Platner vgl. A. Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie: der ,philosophische Arzt‘ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989, 18–24) und recht häufig von Fichte (vgl. Košenina 33 f.). Der ideengeschichtliche Hintergrund für Hermanns Auszeichnung der Wechselwirkung vor der Kausalität könnte in Platners Grundposition des ,Influxionismus‘, d. h. der „Hypothese des physischen Einflusses“, liegen, wonach alle Substanzen eine „wirkliche ursachliche Verknüpfung und also Gemeinschaft“ eingehen (Philosophische Aphorismen [wie Anm. 48] §§ 830–32). Den Influxionismus unterscheidet Platner von Leibniz’ prästabilierter Harmonie, da die Monaden-Substanzen nur scheinbar Gemeinschaft miteinander haben, und von Descartes’ ,Okkasionalismus‘, wonach es aufgrund der Unmöglichkeit einer Gemeinschaft von geistiger und materieller Substanz eine dritte

Hermann und Kant

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und die transzendentallogische Begründung Kants50 mit einer vorkantischen mechanischen Begründung der Kausalität zu vermengen, wenn er den Vorrang der Wechselwirkung vor der Kausalität am Beispiel von mechanischen Kräften oder Bewegungen erläutert: Veränderung gebe es nur durch die Ungleichheit der Kräfte und Stillstand durch ihre Gleichheit (HdM § 20 f.); zur Annahme ungleicher Kräfte bzw. von Veränderung bedürfe es aber empirischer Gründe (HdM § 23, vgl. El. I i 11; Ep. I 8). Seine eigentliche Begründung für eine apriorische Bestimmbarkeit der Kausalität durch die Wechselwirkung folgt jedoch noch nicht diesen mechanischen Überlegungen, sondern argumentiert von den Begriffen Substanz und Akzidens aus: „Caussalität betrifft nicht das Unveränderliche in den Dingen, die Substanz, sondern das Veränderliche, die Accidenzen, die Art zu existieren, den Zustand“ (HdM § 13). Jedoch liege die Ursache der Veränderung nicht im Veränderlichen, da ein veränderlicher Zustand selbst Ursachen voraussetzt (ein regressus ad infinitum wäre gegeben, HdM § 14), und auch nicht im Unveränderlichen, denn dieses müsste, um verursachen zu können, selbst veränderlich werden (HdM § 15). Die Ursache der Veränderung ist also eine äußere Ursache (HdM § 16), und „äußere Ursachen sind nur durch Wechselwirkung gedenkbar“ (HdM § 17). Also ist nach Hermann bewiesen, dass Kausalität die Wechselwirkung benötigt. Auch wenn eine solche Begründung in der ,Kritik der reinen Vernunft‘ nicht steht und auch nicht denkbar ist, ist sie der Sache nach dennoch gut Kantisch. Denn nach Kant ist die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, das dritte Gesetz seiner Mechanik, aus dem Satz der allgemeinen Metaphysik abgeleitet, wonach „alle äußere Wirkung in der Welt Wechselwirkung sei“ (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft A 122 und 129). Nach dem zweiten Gesetz der Mechanik hat „alle Veränderung der Materie […] eine äußere Ursache“, da alle Materie nur ein Gegenstand äußerer Sinne und ohne innere Bestimmungen sei (ebd. A 120). Kant selbst verlangt also auf der Ebene der Mechanik, dass die Kausalität, insofern sie auf äußere Erscheinungen geht, in der Wechselwirkung oder der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung

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Substanz (Gott) braucht, die bewirkt, dass den Veränderungen in der einen Substanz angemessene Veränderungen in der anderen Substanz korrespondieren. Kant unterscheidet stets die Begründungsstrategie seiner ,Kritik der reinen Vernunft‘, da er die „Quellen der synthetischen Erkenntnis a priori“ aufdecken will, von Untersuchungen, die nur der „Erläuterung (nicht Erweiterung) der Begriffe“ dienen und einem künftigen „System der reinen Vernunft“ vorbehalten bleiben sollen (KrV B 249). ,Kraft‘ gehört für Kant nicht zu den Kategorien, d. h. den „wahren Stammbegriffe[n] des reinen Verstandes“, sondern zu den „reine[n] abgeleitete[n] Begriffe[n]“ oder „Prädikabilien des reinen Verstandes“ (KrV B 107 f.), insofern als die Kausalität „auf den Begriff der Handlung [sc. führe], diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz“ (KrV B 249). ,Kraft‘ ist also nur ein Folgebegriff aus dem Begriff der Kausalität (Prol. Vorr., KrV B 108), weil alle Kräfte bezogen sind auf empirische Substanzen im Raum (KrV B 322) und ihre Kenntnis „nur empirisch gegeben werden kann“ (KrV B 252).

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gegründet ist. Hermanns Leistung besteht darin, diese Abhängigkeit der Kausalität von der Wechselwirkung schon apriorisch aus dem Begriff von Substanz und Akzidens begründet zu haben. Die Schlussfolgerung, auf die seine Überlegungen zur Wechselwirkung abzielen, ist „das Grundgesetz alles Rhythmus, daß die Zeitabtheilungen einander durchgängig gleich seyen“ (HdM § 24); und „der vollständige Begriff des Rhythmus [ist] die durch bloße Zeit dargestellte Form der durch Wechselwirkung bestimmten Caussalität“ (HdM § 18).51 Diese Entwicklung der Metrik aus dem Gesetz der Wechselwirkung erschien schon Zeitgenossen als willkürlich.52 Jedoch stellte Hermann dadurch nicht den einzelnen Versfuß oder das Metrum in den Mittelpunkt seiner metrischen Analyse, sondern die Reihe – und wurde unter diesem Aspekt zu einem Wegbereiter der modernen Metrik, etwa bei Wilamowitz.53 Zugleich war seine metrische Analyse in ihrer Systematik von großer Genauigkeit. Eine Reihe ist ein längeres me51

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Auf die gleiche Weise gründet nach Hermann auch die Symmetrie in der Wechselwirkung. Denn das Gesetz der Symmetrie beruht auf der Kontinuität und diese wiederum auf der Kohärenz, dem gleichmäßigen Verhältnis von Raumteilen (El. I i 9). Daher hat die Kohärenz als Gemeinschaft der Raumteile etwas Gemeinsames, in allen Teilen Identisches. Sie beruht nämlich auf der Gleichheit von Räumen („cohaerentia … per aequalitatem spatiorum repraesentata“, Ep. I 8). Entsprechend wird der Rhythmus abschließend definiert als „imago seriei effectorum, expressa per aequalitatem temporum“ und die Symmetrie als „imago seriei cohaerentium partium, spatiorum aequalitate expressa“ (Ep. I 9). Eine ausführliche Kritik der Hermannschen Metrik findet sich bei W. Lange, Entwurf einer Fundamental-Metrik oder allgemeinen Theorie des griechischen und römischen Verses, nebst einer erläuternden Kritik der Hermannischen Grundlehre, Halle/Berlin 1820, bes. 78–182, und bei C. E. Geppert, Über das Verhältnis der Hermannschen Theorie der Metrik zur Überlieferung, Berlin 1835. Lange kritisiert Hermann insbesondere dafür, dass er die Metrik als allgemeine Theorie des Rhythmus und des Numerus ausgelegt und damit sowohl die Verhältnisse in Raum und Zeit als auch neben dem Sprach- den musikalischen Rhythmus in die Metrik integriert habe (vi). Die Wechselwirkung der Zeiten im Rhythmus sei nicht, wie Hermann behaupte, ein inneres, sondern ein äußeres Verhältnis, da die Regel für die Gestaltung der Zeitmomente im Rhythmus beim Dichter liege und nicht in der absoluten Ursache des Ictus (96 f.). Geppert bemängelt, dass nach Hermann der Rhythmus von einem formalen, apriorischen Gesetz unter Ausschluss der Empirie bestimmt werde, wo doch der Rhythmus wesentlich von der Materie, nämlich dem Wort und seiner Quantität, abhänge, und dass dieses in der Wechselwirkung qua Gleichheit der Zeiten liege, da die Wechselwirkung von Kräften und nicht von Zeiten gelte (2 f.). Ein Einfluss der Hermannschen Metrik ist spürbar bei F. H. Bothe (Grundzüge der Metrik, Berlin und Leipzig 1816), wenn er den Rhythmus als „Folge von Abtheilungen des Raumes und der Zeit nach dem Gesetze einer sinnlich klaren Ursachlichkeit (Causalität)“ bestimmt (9); er kritisiert ihn aber dafür, dass er iambische Verse als trochäische Verse mit Auftakt und anapästische als daktylische Verse mit Auftakt erklärt hatte (11; so auch Lange a. a. O. ix f.). A. Boeckh (De metris Pindari, Buttmanns Museum der Alterthumswissenschaft B 2. St. 2, Berlin 1810, 9) entgegnet Hermann, dass im Rhythmus weder Kausalität noch Wechselwirkung stattfinde, sondern dieser lediglich eine „Einheit mehrer Zeitartikel“ sei. Vgl. E. G. Schmidt (wie Anm. 10) 165.

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trisches System, gebildet aus Arsis und Thesis.54 In Anlehnung an Bentley führt Hermann das iktierende System weiter aus, wonach regelmäßig wiederkehrende Ikten nicht nur in Iamben und Trochäen, sondern auch in allen bekannten klassischen Versmaßen auftreten sollen.55 Aufgrund der Ableitung vom Gesetz der Wechselwirkung beginnt er seine Betrachtung mit der ,unendlichen‘ Reihe von Veränderungen – nicht weil ihre Zahl unbegrenzt wäre, sondern weil bei einer Reihe gleicher Glieder keine erste Ursache als Anfang der Reihe auszumachen ist (HdM § 25; Ep. II 10). Eine numerisch unendliche Reihe von Veränderungen lehnt er aus ästhetischen Erwägungen ab, denn in den schönen Künsten widersprächen sie sowohl dem Gesetze der Einheit als auch dem Gesetz der Mannigfaltigkeit; denn jedes künstlerische Werk müsse „eine Uebereinstimmung eines Mannigfaltigen zu einer, obgleich nicht durch Begriffe bestimmten, Einheit enthalten“ und dürfe nicht einförmig sein (HdM § 26 f.). Der Vers kann daher nur aus endlichen Reihen bestehen, an deren Anfang eine erste, „freye Ursache“ wirkt, nämlich der Ictus,56 der in der Arsis steht (HdM § 29. 31). Er ist das „Anheben aus eigener Kraft“ (HdM § 31) oder ,eine absolute Kraft‘ („vis aliqua absoluta“), ,durch die in einem einzigen beliebigen Teil des Rhythmus eine gewisse Kraft manifest wird, die den anderen Teilen abgeht‘ („quo manifesta fit in una aliqua numeri parte vis quaedam, quae a caeteris partibus abest“, El. I ii 6).57 Seine Freiheit liegt darin, eine Thesis hervorrufen zu können (HdM § 33), aber nicht zu müssen (El. I ii 7; Ep. II 14). Der Ictus ist als ,freie Ursache‘ die Ausnahme vom Gesetz der Wechselwirkung und die erste Ursache, aus der sich die einzelnen Verse und ihre Mischungen notwendig ergeben.

5. Grammatik Wenn es Hermann gelungen ist, die Metrik als Paradigma einer (Kantischen) Wissenschaft aus den Anschauungsformen Zeit und Raum sowie dem Verstandesbegriff der Wechselwirkung aufzubauen, so erscheint sein Versuch, in 54

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So die traditionellen Ausdrücke für Hebung und Senkung, die Hermann wie Bentley und Martianus Capella umgekehrt als die sonstige Tradition (Aristox. Rhyth. 26, 3 ff. Pighi; Aristid. I 13, 7 f., 13 f.) gebraucht (El. I ii 9; Ep. II 15), also Arsis für den starken (Senkung) und Thesis für den schwachen Taktteil (Hebung). Vgl. A. Kabell, Metrische Studien II. Antiker Form sich nähernd, Uppsala 1960, 229. In den Elementa gebraucht Hermann auch den Ausdruck ,absolute Ursache‘ („caussa absoluta“). Diese ist nicht in der Reihe selbst enthalten, sondern trifft ,von anderswoher‘ („aliunde“) auf eine Ursachenreihe (El. I ii 4). Hierin könnte Platners Definition der Substanz weiterwirken: Substanzen sind „Kräfte, welche, eben wiefern sie Kräfte sind, ein reales Prinzip der Kausalität enthalten und Accidenzen wirklich werden lassen“ (Philosophische Aphorismen [wie Anm. 48] § 839). Die Kraft ist dann „das beharrende, reale Prinzip der Kausalität“ (§ 842), wobei nur die Substanz Ursache ist, während Akzidenz eine Wirkung bezeichnet (§ 840 f.). Auch nach Kant wird die Kausalität einer Substanz ,Kraft‘ genannt (KrV B 676).

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der Schrift De emendanda ratione graecae grammaticae (1801) auch der Grammatik eine rationale Grundlage zu geben,58 weniger stringent und erfolgreich als jener in der Metrik. Die alten Grammatiker hätten, so Hermanns Kritik, ebenso wie in der Metrik auch in der Grammatik ,mit unangemessener Genauigkeit und fehlgeleiteter Gründlichkeit‘ („inepta diligentia et perversa subtilitate”) für Verwirrung und Dunkelheit gesorgt; wenn man sich jedoch an der Sache selbst orientiere, sei alles leicht, deutlich und klar („facilia, perspicua, clara“, De emendanda ratione vii).59 Um dies zu erreichen, seien zunächst die ,Grundbestandteile der Grammatik‘ („prima artis elementa“) zu bestimmen, aus denen die gesamte Kunst hervorgehe (ebd.). An zeitgenössischen Grammatiken bemängelt Hermann, dass sie ihre Fundamente entweder nur aus der Erfahrung („experientia“) oder ,aus schlecht angeleiteten Verstandesgründen‘ („e ratiocinationibus male institutis“) gewonnen hätten (ebd.). Die (nach Hermann) sieben Teile der griechischen Grammatik seien jedoch entweder durch Erfahrung oder durch Verstandesgründe bestimmt: Die ersten beiden Teile über Buchstaben und Silbenmaß gehen auf Erfahrung zurück, die nächsten beiden über Akzent und Versmaße auf den Verstand; bei den Redeteilen wirken Verstand und Erfahrung zusammen, während die Syntax (constructio) sich fast vollständig („prope tota“) durch Vernunftgründe aus der Natur der Redeteile ergebe, wobei indes auch grammatikalische Besonderheiten des Sprachgebrauchs berücksichtigt werden müssten.60 Die aus der Empirie geschöpfte Behandlung der griechischen Dialekte bildet zwar eigentlich keinen eigenen Teil der Grammatik, wird aber dennoch zum siebten und letzten Teil gezählt, weil die grammatischen Phänomene der sechs anderen Teile nicht unverändert vorkommen, sondern den sprachlichen Verschiedenheiten der einzelnen Stämme unterliegen, insbesondere was die Deklinationen und Konjugationen angeht. 58

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Vgl. De emendanda ratione vi: „Non enim haec [sc. der Versuch, die grammaticae ratio ad iustae disciplinae formam zu überführen] res auctoritatis et experientiae, sed rationis humanae et pervestigationis opus est“. Im Folgenden wird die Schrift mit ,ER‘ abgekürzt. Zur Sache vgl. vor allem den Beitrag von Eva Tichy im vorliegenden Band. ER ix: „Sequitur quinta pars, qua partes orationis tractantur. Ea quum in exprimendis cogitationum notis versetur, non potest non solius rationis pervestigatione explicari, ad quam deinde ea, quae experientia in cuiusque populi sermone suppeditat, accommodanda sunt. Sexta pars, quae est de constructione, quod ad summa capita attinet, ratiocinando e natura partium orationis prope tota colligitur. Sed plurima tamen in hoc genere occurunt, in quibus ab eo, quod usu et consuetudine firmatum est, ordiri debeat disputatio“. Und iv: „Ex his, quas dixi grammaticae partes esse, secunda pars, quae de partibus orationis agit, primarium locum obtinet. Hac enim conformatio ipsa cuiusque linguae et quasi corpus continetur: cuius quae ratio sit, maximam partem sine experientiae auxilio e communi linguarum natura explicari potest. Quae autem reliquae sunt partes grammaticae, longe sunt dignitate inferiores, quarum altera, quae de elementis est, tota e copiis experientiae est haurienda, altera, quae syntaxis vocatur, partim ratiocinando e primaria illa grammaticae parte elicitur, partim non minus, quam quae ad elementa pertinent, usu et experientia debet cognosci“.

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Die Schrift De emendanda ratione gliedert sich in zwei Teile, deren erster die elementa behandelt (Buchstaben und Akzente), der zweite die Redeteile (ER X ff.). Letztere sind ,Zeichen, durch welche wir die Teile der Begriffe in Sprache ausdrücken‘ („sunt enim partes orationis signa, quibus notitiarum partes in sermone exprimimus“, xi). Die Unterschiede in den einzelnen Sprachen ergäben sich aus der verschiedenen Bildung und dem verschiedenen Gebrauch der Redeteile.61 Jedoch seien die Redeteile weder von den griechischen Grammatikern noch von den Grammatikern anderer Sprachen klar verstanden worden, so dass Hermann meint, dass er, indem er diese für jede Sprache erklärt, zugleich auch die des Griechischen erklärt habe. Das dritte Buch über die Syntax, ,dem bei weitem allerschwierigsten Teil der griechischen Grammatik‘ („partem Graecae grammatices longe omnium difficillimam“, ER xiii), ist nicht mehr ausgeführt. Dafür sind vier Texte vorher noch nicht edierter griechischer Grammatiker angefügt. Verlangt wird vom Grammatiker nicht nur Sprachkenntnis, sondern ,er muss auch eine geeignete (begriffliche) Kenntnis der Philosophie, verbunden mit einem vorsichtigen, feinen Urteil, haben‘ („idem philosophiae quoque idoneam cognitionem, cauto iunctam subtilique iudicio, habeat necesse est“, ER 2). Seine Aufgabe ist, ,aus dem menschlichen Verstand selbst, gleichsam der Quelle jeder gesprochenen Sprache, die Natur und Beschaffenheit der Sprachen zu erklären‘ („ut ex ipsa ratione humana, veluti fonte omnis sermonis, linguarum naturam constitutionemque explicent“, ebd.). Die Tätigkeit der Grammatik ist an Nutzen und Wert nicht den zumeist höher eingeschätzten Studien der Realien nachzuordnen, denn indem sie das richtige Verständnis der gesprochenen Sprache ermöglicht und dazu anleitet, angemessen und klar zu sprechen, tradiert sie auch die ,Vorschriften des richtigen Denkens‘ („recte cogitandi praecepta“).62 Die Aufgabe des Grammatikers ist daher eine doppelte: Er muss verstehen, ,was die notwendigen, von Natur festgesetzten Teile einer beliebigen Sprache sind‘, und dann, ,aus welchem Grund die bestimmte Sprache, die er sich zu erklären vorgenommen hat, diese Teile gebraucht und sie bildet‘.63 Ein Jahrhundert vor Entwicklung der allgemeinen Sprachwissenschaft durch Ferdinand de Saussure formuliert Hermann eine allgemeine, auf Verstandesprinzipien beruhende Grammatik bzw. Sprachwissenschaft, die einer speziellen (hier der griechischen) Gram61

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ER xi: „Sunt enim partes orationis signa, quibus notitiarum partes in sermone exprimimus. Quare uti his nulla lingua carere potest, ita ex earum diversa conformatione diversoque usu plurimae maximaeque nascuntur linguarum differentiae“. ER 2: „Nam sive apte et perspicue dicere, sive, quae ab aliis dicta fuerint, recte intelligere doceant, quid agunt aliud, quam ut recte cogitandi praecepta tradant? Quamobrem non solum ipsarum peritia linguarum in grammatico requiritur, sed idem philosophiae quoque idoneam cognitionem, cauto iunctam subtilique iudicio, habeat necesse est“. ER 3: „Etenim duplex omnino grammatici officium est, alterum, ut, quae necessariae sint cuiuscumque linguae, et ab ipsa natura constitutae partes, bene intelligat, alterum, ut, qua ratione ea, quam explicandam sibi sumpsit, lingua istis partibus usa sit, easque conformarit, probe habeat perspectum“.

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matik als Grundlage dient. Auch die bekannte Saussuresche Unterscheidung von langue und parole scheint bei Hermann vorgeformt zu sein, wenn er zwischen lingua und sermo einen Unterschied macht. Die gesprochene Sprache, sermo, gilt ihm ,gleichsam als Abbild des menschlichen Verstandes, das, weil es zum Ausdruck von dessen Gedanken dient, notwendig dieselben Arten von Begriffen, dieselben Formen, Unterschiede und Gründe umfasst, nach denen die mannigfaltige Verschiedenheit der Gedanken unterschieden wird‘.64 Die Sprache als lingua hingegen kann nicht aus dem eingebürgerten Sprachgebrauch („e diuturno sermonis usu“) verstanden werden, sondern vom ,unversehrten, vollständigen Sprachgebrauch her‘ („de integro [sc. sermonis usu]“), d. h. von ihrer rationalen Grundlage aus (ER 1). Im ,Handbuch der Metrik‘ definiert Hermann die Sprache als „die Kunst Begriffe durch willkürliche Zeichen auszudrücken“ (xxix). Das ist ganz im Sinne Kants, der sich zwar nie eingehender mit der Sprache als symbolischem Zugang zur Welt und zu den Dingen, sondern lediglich mit den logischen Kategorien des Verstandesgebrauchs beschäftigt hat; doch unterscheidet auch Kant „willkürliche“ und „natürliche Zeichen“, z. B. Schrift- und Lautzeichen, und bestimmt Sprache als „Bezeichnung der Gedanken“ und als „größte[s] Mittel, sich selbst und andere zu verstehen“ (Anthr. BA 109 f.).65 Hermann geht darüber etwas hinaus, wenn er die Sprache als ,das lebendige Bild des Geistes eines Volkes‘ bestimmt: „Schon an sich ist die Sprache eines Volkes das, was als das lebendige Bild seines Geistes am meisten sein Wesen charakterisirt; noch wichtiger wird sie dadurch, daß durch sie erst alles übrige, was einem Volke eigen ist, begriffen und verstanden werden kann“.66 Die Auffassung, dass Sprache den Geist eines Volkes ausdrückt, dürfte auf Humboldt zurückgehen, nach dem in der Sprache die „Weltansicht“ einer Nation zum Ausdruck kommt.67 Allerdings 64

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ER I 1, 1: „Est enim sermo quasi imago quaedam humanae rationis, cuius quum exprimendis cogitationibus inserviat, eadem notitiarum genera, easdem formas, differentias, rationes complectatur necesse est, quibus cogitationum multiplex distinguitur varietas“. In seiner ,Anthropologie in pragmatischer Hinsicht‘ ist die Sprache subsumiert unter das „Bezeichnungsvermögen“, d. h. „das Vermögen der Erkenntnis des Gegenwärtigen, als Mittel der Verknüpfung der Vorstellung des Vorhergesehenen mit der des Vergangenen“ (Anthr. BA 106). Sprache wird von Kant also schon als Symbol oder Zeichen des Geistes und seiner Aktivität verstanden, doch setzt erst im Neukantianismus bei Ernst Cassirer eine eingehende Reflexion auf die Sprache als symbolische Form ein, mit der sich der Mensch als Symbolwesen die Welt erschließt (Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Zur Phänomenologie der sprachlichen Form, Darmstadt 101994). Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung der Griechischen Inschriften, Leipzig 1826, 4. 8. Vgl. z. B. W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, in: AkademieAusgabe Bd. V 433: „Jede Sprache, welche sie sein möge, trägt in jedem Zeitpunkt ihres Daseins den Ausdruck aller Begriffe, die sich jemals in der Nation entwickeln können, in ihrem Schoß. Jede ist ferner in dem jedesmaligen Zeitpunkte ihres Lebens genau dem jedesmaligen Gedankenumfang der Nation gleich. Jede endlich in jedem ihrer Zustände bildet das Ganze einer Weltansicht, indem sie Ausdruck für alle Vorstellungen enthält,

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verfällt Hermann nicht auf die Humboldtsche Identität oder Dialogizität von Denken und Sprechen, sondern bleibt wie Kant bei einer Repräsentationstheorie der Sprache stehen. Die Sprache drückt den Geist aus, bestimmt aber nicht seine Tätigkeit. Damit bleibt die Vernunft Herrin im eigenen Haus und tritt diesen Platz nicht an die Sprache ab wie bei Humboldt. Die von den antiken Grammatikern überlieferte Zahl von acht Redeteilen (partes orationis)68 reduziert Hermann auf drei, weil jede Sprache so viele Redeteile haben müsse, wie es Teile des Gedankens (cogitatio) gebe.69 Jeder Gedanke (Urteil/iudicium oder Aussage/enunciatio) bestehe aus drei Teilen: Subjekt („subiectum; quo significatur res, de qua quid dicitur“), Prädikat („praedicatum; quo indicatur id, quod de aliqua re dicitur“) und Kopula („copula; quo praedicati et subiecti exprimitur consocatio“). Die entsprechenden Redeteile sind Nomen (nomen), Partikel (particula) und Verb (verbum). Das Nomen bezeichnet den Gegenstand der Aussage („subiecti nota dicitur nomen, quo significatur res, de qua aliquid enunciari queat“), die Partikel die Beschaffenheit des durch das Nomen bzw. Subjekt ausgedrückten Gegenstands („praedicati nota particula est, qua indicatur conditio, quae per se nulla est, nisi si rei alicui assignetur“), und das Verb meint ausschließlich die Kopula, also eine konjugierte Form von ,sein‘, ,mit deren Hilfe ein Prädikat einem Subjekt zugeordnet wird und eine Beschaffenheit als Beschaffenheit eines Gegenstands verstanden wird‘ („copulae denique nota verbum vocatur, cuius ope praedicatum tribuitur subiecto, conditioque intelligitur esse rei alicuius conditio“). Im Griechischen und Lateinischen steht für die Partikel häufig ein Adjektiv (nomen adiectivum), z. B. equus bonus est, melior, optimus, während das Deutsche eher die Wahrheit und Einfachheit der Sache trifft, wenn es mit dem Adverb verbindet: ,das Pferd ist – gut, besser, am besten‘. Diese Zuordnung der Redeteile basiert auf der seit Aristoteles bekannten logischen Satzanalyse, wonach eine Aussage, die Verbindung aus Subjekt und Prädikat, reformuliert werden kann als Verbindung aus einem Subjekt, dem Prädikatsnomen und der die Verbindung anzeigenden Kopula.70 Her-

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welche die Nation sich von der Welt macht, und für alle Empfindungen, welche die Welt in ihr hervorbringt“. Acht Redeteile haben zuerst Aristarch von Samothrake und sein Schüler Dionysius Thrax unterschieden, nämlich Aμ , >μ , μ6#, C, D%μ8 , ", "8μ , 0 μ (Dion. Thrax 1, 23, 1 f. Uhlig), von der lateinischen Grammatik übernommen als: nomen, verbum, participium, articulus, pronomen, praepositio, adverbium, participium, wobei anstelle des griechischen Artikels die Interjektion, interiectio, steht (z. B. Donat, Ars Grammatica: Grammatici Latini 4, 372, 25–28). Zum Folgenden vgl. ER II 2, 127 f. Die antike Grammatik hat keine Lehre von den Satzteilen ausgearbeitet. Die Syntax galt als Lehre von der Zusammensetzung passender Wörter zu einem Satz. Vgl. Arist. Metaph. 5, 7. 1017 a 27–30. Vgl. auch E. Platner, Philosophische Aphorismen (wie Anm. 48) § 505: „Ein Urtheil ist die Einsicht des Verhältnisses zweyer gegen einander gehaltener Vorstellungen“. § 506: Bejahung und Verneinung ergeben sich aus der „Einstimmung“ oder dem „Widerstreit“ der beiden Vorstellungen. § 507: „Von den

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manns Beispiele folgen diesem Schema: Statt sol oritur könnte man auch sol oriens est sagen, statt vivo auch ego vivens sum. Der Vorteil dieser in der Alltagssprache ungebräuchlichen Umformulierung besteht darin, Sätze als Verbindung von Begriffen und von daher Schlüsse als Folgerungsbeziehungen von Begriffen klar zu machen. Kant rekurriert ebenso auf die Satzanalyse der Logiker,71 kritisiert sie aber dafür, dass sie nur kategorische und nicht auch hypothetische und disjunktive Urteile umfasse. Schließlich vertieft er sie transzendentalphilosophisch: Das Urteil sei „die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“, und das „Verhältniswörtchen ist“ ziele gerade darauf, zwischen objektiver und subjektiver Einheit zu unterscheiden, weil es die Beziehung der Vorstellung auf die zugrunde liegende Apperzeption bezeichne, bei der empirische Anschauungen nach objektiven Prinzipien zur objektiven Erkenntnis synthetisiert werden (KrV B 141 f.). Die Abtrennung der Kopula vom Prädikatsbegriff dient also dazu, nicht nur anzuzeigen, dass im Urteil zwei Begriffe zu einer Einheit verbunden sind, sondern auch dass die Verbindung eine bestimmte Synthesisleistung der Erkenntnis darstellt, die die Objektivität des Urteils gewährleistet. Mit dem Rekurs auf die Analyse der Logiker bleibt Hermann zugleich auf dem Boden einer traditionellen Urteilsanalyse und hält den Raum offen für deren vertiefende Interpretation durch Kant. Die Innovation Hermanns als Grammatiker besteht nun darin, dass er konsequent das, was die alten Grammatiker die ,Akzidentien‘ der Redeteile nannten,72 den Kantischen Kategorien zuordnet. Wenn Hermann an vielen Stellen seines Werkes nur die Kategorienklassen Quantität, Qualität, Relation und Modalität73 benutzt, ohne ihre weitere Unterteilung in drei Kategorien zu beachten,74 überträgt er hier die differenzierte Kategorieneinteilung75 auf

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zwey gegen einander gehaltenen Vorstellungen (505) heißt die, welche in der Ordnung des Denkens, (nicht der Rede), die erste ist, das Subjekt; die andere das Prädikat. […] Das Zeichen der Einstimmung, oder des Widerstreits (506) ist das bald ausgedrückte, bald verschwiegene Bindewort, (copula)“. Nach der Erklärung der Logiker sei das Urteil „die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen“ (KrV B 140) bzw. „die Vorstellung der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen, oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, so fern sie einen Begriff ausmachen“, also von Subjekt und Prädikat (Logik A 156). Griechisch " "μ (z. B. Dion. Thrax 1, 24, 6; 1, 46, 5; 1, 60, 3; 1, 62, 1; 1, 64, 1 Uhlig), lateinisch accidentia (z. B. Priscian Inst. Gramm. 2, 83, 18; 2, 553, 22; 2, 554, 6 Keil). Die Quantität ist bei Kant weiter in die Kategorien Einheit, Vielheit, Allheit unterteilt; die Qualität in Realität, Negation, Limitation; die Relation in Inhärenz, Kausalität, Gemeinschaft; und die Modalität in Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit. Dabei ergibt sich die je dritte Kategorie aus der Verbindung der zweiten und der ersten der jeweiligen Kategorienklasse (KrV B 106. 111). Eine Ausnahme ist die Unterteilung der Tropen und Figuren in der Schrift De differentia prosae et poeticae orationis (wie Anm. 38) 97–100. 105–10. Nach ER II 3, 129 kann jedes Subjekt auf vier Weisen bestimmt werden anhand der vier Kantischen Kategorieneinteilungen Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Quantität bedeutet: Art der Existenz des Gegenstands, ,wodurch feststeht, was das ist, wor-

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die drei Redeteile und ordnet den Kategorien Quantität, Qualität, Relation und Modalität beim Nomen Numerus, Genus, Kasus und Person (ER II 6, 133 ff.), bei den Partikeln Interjektion, Adverb, Präposition und Konjunktion (ER II 10, 149 ff.) und beim Verbum Numerus, Genus, Tempus und Modi (ER II 17, 177 ff.) zu und interpretiert diese dann nach den Unterkategorien. Diese Zuordnung und ihre Begründung sollen nun im Einzelnen vorgeführt werden, da sie zeigen, wie Hermann die grammatikalischen Phänomene einer Kantischen Begriffslogik unterwirft – an manchen Stellen zum Nachteil der sprachlichen Phänomene. (a) Nomen (ER II 4 ff.) Da im Subjekt die ,Menge der Gedanken‘ („quantitatem cogitationum“) oder die ,Materie‘ liegt,76 können auch die verschiedenen Arten von Nomina nach den Kategorien der Quantität differenziert werden: in die Eigennamen (nomina propria), die einem einzigen, bestimmten Gegenstand zukommen (z. B. Cicero oder die Ciceronen), in Adjektive (nomina adiectiva), die einer unbestimmten Menge zukommen (z. B. utile, utilia), und in Gattungs- oder Artterme (nomina appellativa), die eine Vielzahl von Dingen ausdrücken, die unter eine einzige Gattung oder Art fallen („quae multas res in unum genus collectas significent“, z. B. scriptor, scriptores: ER II 4, 131 f.). Die Quantität im engeren Sinne zeigt der Numerus des Nomens an, wobei Vielheit und Allheit sprachlich zunächst nur durch den Plural ausgedrückt werden können und letztere genauer durch den Zusatz bestimmter Wörter wie omnia gekennzeichnet wird. Der griechische Dual drückt eine absolute, durch die Einheit verstandene Vielheit aus und entspricht damit der Kantischen Bestimmung der Allheit, insofern als jene „nichts anderes als die Vielheit als Einheit betrachtet“ (KrV B 111) ist; jedoch ist die Zweiheit nur ,verkrüppelt‘ (mancus) die Allheit, weil sie nicht alles, sondern nur eine begrenzte Vielheit umfasst (ER II 6, 133 ff.). Die Qualität in den genera nominis kommt nach Hermann durch eine ursprünglich nicht vorhandene und eigentlich überflüssige Übertragung der natürlichen Geschlechterdifferenz auf die Sprache zustande. Dabei steht das Männliche für die Bejahung (accessio = affirmatio), das Weibliche für die Verneinung (detractio = negatio) und das Neutrum für die Einschränkung (limitatio, ER II 7, 135 ff.).

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über wir sprechen‘ („quantitatem autem intelligimus, qua quid sit id, de quo loquimur, constet“), Qualität bedeutet Realität/Existenz oder Negation/Nicht-Existenz („qualitatem, qua cognoscamus, utrum sit, an non sit“), Relation meint Ursache und Wirkung – ,ob die Natur des Gegenstands von einem anderen abhängt‘ („relationem, qua discamus, an aliunde eius natura pendeat“) –, Modalität Möglichkeit oder Notwendigkeit („modalitatem denique, qua vere illud animadvertimus, aut ut possibile ponimus, aut ut necessarium agnoscimus“). Das Prädikat drückt die conditio aus, eine Bestimmung des Subjekts. Auch hier wirkt eine Unterscheidung von Form und Materie nach.

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Die Relation bedeutet allgemein das ,Verhältnis, durch das Begriffe untereinander verknüpft und verbunden sind‘ („rationem, qua notiones inter se copulatae sunt atque consociatae“, ER II 8, 138). Hermann wendet dies auf das Kasussystem an und gewinnt damit die Grundlage für eine Syntax des einfachen Satzes. Dabei behält er die antike Unterscheidung von casus rectus und casus obliquus bei, wenn er erklärt, dass der Nominativ ,frei von jeder Relation‘ („omnis rationis expers“) sei, nur den Begriff des Nomens anzeige (139) und daher nicht flektiert werde, im Unterschied zu den übrigen Kasus (143). Der Vokativ drückt eine subjektive Relation aus, da er ,nichts als den Sinn des Sprechenden bezeichnet, der durch das Denken eines bestimmten Begriffs bewegt ist‘ („quo nihil significatur praeter sensum quemdam loquentis notione aliqua cogitanda commotum“, 139). Die anderen Kasus drücken eine objektive Relation aus: (1) Der Genitiv bezeichnet die Substanz, von der ein Akzidens ausgesagt wird (z. B. bei Atheniensium respublica bezeichnet der Genitiv Atheniensium die Athener als Substanz, deren Akzidens die respublica ist); d. h. durch den Genitiv wird eine Sache so ausgedrückt, ,dass von ihr eine andere Sache als etwas Hinzukommendes abhängt, sie selbst aber von keiner Sache abhängt, sondern allein für sich besteht‘ („ … semper res ita cogitatur, ut ex ea pendeat alia res tamquam aliquid accessorium, ipsa autem ex nulla re pendeat, sed sola per se constet“, 140).77 (2) Das Verhältnis von Akzidentien zu einer Substanz gibt hingegen der Akkusativ an (z. B. teneo librum: der liber ist Akzidens dessen, der ihn hält). Durch den Akkusativ wird eine Sache so gedacht, ,dass sie in keiner eigenen Hinsicht frei ist und aufgrund keiner eigenen Kraft und Macht besteht, sondern vollkommen von einer anderen Sache abhängt‘ („ ... ut nulla sui parte libera sit et suapte quadam vi ac potestate constet, sed penitus atque omnino pendeat ex alia re“).78 (3) Der Ablativ bezeichnet die Ursache – z. B. occidere ferro: das Schwert ist Ursache (caussa) und Werkzeug (instrumentum), ,durch dessen Kraft jemand gtötet wird‘ („cuius vi aliquis occidatur“). (4) Der Dativ bezeichnet die 77

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Auch in Fällen wie Philippi filius Alexander, wo der Genitiv Philippi eher die Ursache als die Substanz des Sohn-Seins Alexanders ausdrückt, soll diese Bestimmung des Genitivs gelten. Denn der Ausdruck creatum Philippo würde ausdrücken, dass Philipp die Ursache sei, deretwegen Alexander entstanden sei, während Philippi filius eher meint, dass Alexander zu den Gegenständen zählt, die zu Philipp als Akzidentien gehören (139 f.). Im Gespräch (sermo) komme es nicht so sehr darauf an, die natura oder Beschaffenheit (conditio) einer Sache anzuzeigen, sondern eher das Verhältnis (ratio) der Begriffe. Das gilt auch für den Akkusativ: „Neque enim res ipsa, de qua quis loquitur, qualis sit, quaerimus, sed quo pacto cogitetur“ (140). Z. B. (a) donare alicui aliquid und (b) donare aliquem aliqua re bedeuten der Sache nach das gleiche. Das Begriffsverhältnis ist jedoch ein anderes: bei a hängt der Beschenkte vom Schenkenden ab; zugleich wird er ,beim Geschäft des Beschenkt-Werdens als frei vom fremden Willen gedacht‘ („in ipso illo donandi negotio ut liber ab alieno arbitrio cogitatur“). Bei b beschenkt jemand jemanden mit einer Sache, d. h. der Beschenkte wird ,als ein vollständig dem Willen des Schenkenden Unterworfener gedacht‘ („penitus fingitur huius arbitrio et voluntati subiectus“).

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Wirkung (effectus) – z. B. scribere alicui: der dem geschrieben wird, erfährt eine Wirkung des Schreibenden. Dativ und Ablativ bezeichnen nicht Ursache und Effekt an sich, sondern nur das Begriffsverhältnis, ,wodurch etwas ge-schieht und in welcher Sache etwas geschieht‘ („ ... qua aliquid fiat, aut in qua aliquid fiat“, 142 f.). Der Genitiv hat den Begriff der Substanz ,unversehrt‘ (integra), der Ablativ bewahrt den Teil einer Substanz, ,inwiefern durch sie etwas bewirkt wird, und der Dativ zeigt die Substanz an, inwiefern sie etwas erleidet‘.79 Die Modalität wird durch die Personenunterscheidung ausgedrückt, die nicht nur den Verben, sondern auch den Nomina zukommt. Dabei steht – wie auch bei den Pronomina – die dritte Person für Wahrheit, die zweite für Möglichkeit und die erste für Notwendigkeit, da jedes Nomen neben der ausgesagten Sache auch das Verhältnis ausdrückt, das der Sprecher zur Wahrheit, Möglichkeit oder Notwendigkeit der Aussage einnimmt.80 Doch sind die erste und zweite Person nicht an sich in den Nomen enthalten, weil mit dem Denken eines Subjekts nicht notwendigerweise das Hinzudenken irgendeines Prädikats oder auch nur dessen Möglichkeit gegeben ist. Übrig bleibt also nur die dritte Person, denn wenn wir ,im Geist den Begriff eines Nomens begreifen, tun wir das auch in Wirklichkeit, wenn wir es tun‘ („nam cuiuscumque nominis notitiam animo concipiamus, id quum facimus, vere facimus“). So ist bei jedem Nomen auch das Pronomen der 3. Person impliziert (z. B. Alexander = aliquis Alexander, rex = aliquis rex), und wir setzen den Begriff Alexander so, ,dass dieser irgendetwas auch unabhängig von unserem Denken ist‘ („ut ea sit aliquid etiam sine cogitatione nostra“, ER II 9, 148 f.).81 (b) Partikeln (ER II 10 ff.) Unter ,Partikeln‘ haben die Grammatiker traditionell vier Formen verstanden: Interjektion (in der lateinischen Grammatik Ersatz für den griechischen

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ER II 8, 144: „Nam tres illi casus, quos dixi, eiusmodi sunt, ut substantiae notionem aut integram habent, ut genitivus, aut eius partem certe aliquam conservent, ut ablativus, quo substantiam, quatenus eius vi aliquid efficitur, et dativus, quo substantiam, quatenus aliquid perpetitur, indicamus“. ER II 9, 148: „Nam quum omnia nomina praeter alicuius conditionis notationem simul subiectum aliquod significent, non potest illud subiectum non aliquam habere rationem ad animum cogitantis. Ea vero ratio nihil est aliud nisi personae notatio, aut vere exstantis, aut possibilis, aut necessariae“. Bei anderen Pronomina setzen wir die Person anders: Wenn wir ,du‘ sagen, ist das nur möglich, wenn es jemanden gibt, der angesprochen werden kann, also von uns zumindest als möglich gedacht wird und der damit wenigstens als Gedachtes existiert. Die erste Person entspricht der Notwendigkeit, da wir das ,ich‘ nicht denken könnten, wenn es nicht existieren würde (ER II 3, 130; 9, 149); denn mit Kant ist die Notwendigkeit „nichts anderes, als die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist“ (KrV B 111). Die Pronomina werden von Hermann weiter so eingeteilt: Die Quantität zeigen die Zahlpronomina an (z. B. unus, duo, tres), die Qualität Pronomina wie aliquis und nemo und die Relation solche wie idem, qui, ipse (ER II 3, 129 f.).

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Artikel), Adverb, Präposition und Konjunktion. Nach Hermann drücken sie allgemein eine ,Beschaffenheit‘ (conditio) der Sache aus. Partikeln nach der Quantität sind die Interjektionen, weil ,mit der Anzeige der Beschaffenheit zugleich die Sache selbst angezeigt wird, deren Beschaffenheit sie ist‘, d. h. Sache und Zustand sind identisch;82 das ist besonders bei Ausrufen der Fall, die Affektionen der menschlichen Seele unmittelbar, d. h. ,ohne Ausdruck eines bestimmten Begriffs‘ („sine explicata quapiam notione“), wiedergeben und daher aus sich heraus verstanden werden können. Die Qualität drücken die Adverbien aus, die die ,Beschaffenheit von Prädikaten‘ („praedicatorum conditionem“) bezeichnen. Präpositionen, der Relation zugeordnet, stehen für ,den Grund, aus dem verschiedene Begriffe untereinander zusammenhängen‘ („rationem […] qua diversae notitiae inter se cohaereant“), und zwar so, dass diese Begriffsverbindung objektiv den Sachen selbst und nicht subjektiv der Seele zukommt, die die Begriffe verbindet. Die Modalität drücken Konjunktionen aus, ,durch die das Verhältnis angezeigt wird, das zwischen den Gedanken und der Seele des Denkenden besteht‘ („quibus ratio indicatur inter cogitationes et animum cogitantis intercedens“). Diese ,Verbindung der Begriffe, die der Geist durch das Denken herstellt‘ („ad consociationem notionum eam, quam mens cogitando instituit“), ist entweder ,wahr‘ (vera), ,möglich‘ (probabilia) oder ,notwendig‘ (necessaria). (c) Verbum (ER II, 15 ff.) Das Verb, der dritte Redeteil, ist in erster Linie die Kopula esse, die anzeigt, ,dass ein Prädikat einem Subjekt zukommt und sich verbindet‘ (ut praedicatum subiecto tribuat atque adiungat). Die übrigen Verben werden gebildet aus esse und einer mit diesem ,verbundenen Bezeichnung eines Prädikats‘ („adiunctam […] praedicati alicuius notationem“, ER II 15, 173). Das Verb ist konjugiert und hat zwei Sonderformen: das Partizip, das ein Nomen ist, weil es ein Subjekt anzeigt, und zugleich ein Verb, weil es die genera verbi und die Zeiten anzeigt; und den Infinitiv, der ,an sich und als einziger den Begriff des Verbs enthält und nichts anderes bezeichnet, als jenes Prädikat selbst, das mit der Bezeichnung von Aktiv und Passiv und der Zeiten versehen ist‘.83 Der Infinitiv ist – wie der Nominativ für die Nomina – die Grundform des Verbs84 und wird unter die Adverbien gerechnet.85 Von den anderen Adver82

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ER II 10, 149: „Nam si vocabula conditionem alicuius quantitatis significant, id patet non posse aliam vim habere, nisi hanc, ut conditione indicanda simul res ipsa indicetur, cuius ea conditio sit. Atqui id non potest aliter fieri, nisi si ea res ipsa sit aliqua conditio“. ER II 15, 174: „Infinitivus ipsam continet ac solam verbi notionem, nihilque aliud notat, quam ipsum illud agendi patiendique et temporum significatione instructum praedicatum, quod possit nominibus adiungi“. Vgl. ER II 17, 176 ff. und Apollonios Dyskolos Constr. 2, 324, 10–325, 12 Uhlig. Dies erklärt vielleicht auch die merkwürdige grammatikalische Bestimmung des Prädikatsnomens in Sätzen wie ego vivens sum oder equus currens est. Diese werden von Hermann unter die Partikeln gerechnet, insofern als sie vom Infinitiv gebildet sind und dieser unter die Adverbien gezählt wird.

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bien unterscheidet er sich dadurch, dass diese nur die bloße Beschaffenheit anzeigen, während der Infinitiv neben der Beschaffenheit, die in der Verbalbedeutung liegt, auch die Beschaffenheit, jene andere Beschaffenheit aufzuweisen, umfasst, so dass im Infinitiv schon die Kopula enthalten ist.86 Ist die Quantität des Verbs einfach durch den Numerus gegeben, insofern Singular und Plural auf die Nomina bezogen sind (ER II 17, 177), so ist die Qualität durch die genera verbi bestimmt (II 18, 177 ff.). Während die Kopula esse nichts dergleichen hat, gehört die Diathese zum Begriff des Prädikats, da die durch das Prädikat ausgedrückte conditio entweder eine Ursache oder eine Wirkung ist. Der Ursache entspricht ein ,positives Prädikat‘ – die betreffenden Verben heißen nach Hermann ,aktiv‘. Ein ,negatives Prädikat‘ ist eines, das die Wirkungen äußerer Kräfte auf eine Sache ausdrückt – seine Verben werden ,passiv‘ genannt. ,Eingeschränkte Prädikate‘ bezeichnen ,eine Beschaffenheit‘ in der Weise, ,dass Wirkungen auf die Sache selbst zurückgehen und die Sache dadurch zugleich etwas bewirkt und erleidet‘ („conditionem […], ita ut effectus in ipsam rem redeant, eoque res simul et efficiat aliquid et patiatur“); die entsprechenden Verben werden ,medial‘ genannt. Jedes Verb hat eine innere Relation zu den Zeiten, welche nach SubstanzAkzidens, Ursache-Wirkung und Gemeinschaft der Teile bestimmt ist (ER II 19, 180), während die Modalität durch die Modi des Verbs ausgedrückt wird (II 20, 204 ff.): Der Indikativ bezeichnet die Wahrheit, der Konjunktiv die Möglichkeit87 und der Imperativ die Notwendigkeit.

6. Hermeneutik Die Sprache, die hinsichtlich ihrer technischen Seite in den ,mechanischen‘ Künsten der Grammatik und der Metrik zu untersuchen ist, ist das wichtigste Organon des Philologen zur Erschließung der Sachen, und für den Klassischen Philologen Hermann sind dies die klassischen Sprachen als Zugang zum Altertum: „Gesetzt auch, die Sachkenntniß umfaßte alles, was man Sachen zu nennen beliebt, so bleibt sie doch noch Einseitigkeit, so lange sie gerade das, was den Schlüssel zu jedem ihrer Theile enthält, die Sprachkenntniß vernachläßigt, oder gar mit geringschätzigen Augen betrachtet. Die

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ER II 15, 174: „Differt autem a caeteris adverbiis eo, quod haec nudam tantummodo conditionem indicant, infinitivus autem praeter hanc conditionem, quae verbi cuiusque significatione continetur, etiam conditionem habendi illam alteram conditionem complectitur“. Im Griechischen gibt es die Aufteilung in den eigentlichen Konjunktiv, der die objektive Möglichkeit ausdrückt, ,wenn etwas durch die Beschaffenheit der Dinge selbst geschehen kann‘ („quum quid per ipsarum rerum conditionem fieri potest“), und den Optativ, der die subjektive Möglichkeit ausdrückt, ,wenn der bloße Gedanke an irgendeinen Gegenstand nicht in sich widersprüchlich ist, gleichgültig, ob das, was gedacht wird, wirklich geschehen kann oder nicht‘ („quum sola rei alicuius cogitatio sibi ipsa non repugnat, sive reipsa fieri possit id, quod cogitatur, sive non possit“).

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wahren Philologen dagegen, wohl wissend, daß man im Fluge zwar schnell zu einer Höhe gelangen könne, wo man in der Vogelperspective sehr vieles übersieht, aber nichts recht unterscheiden kann, gehen einen andern Weg, und, indem sie die Geisteswerke der Alten für das vornehmste und wichtigste halten, sehen sie die Sprache als die schwerzuersteigenden Propyläen zu dem gesammten Alterthume an“.88 In Anlehnung an die Kantische Dichotomie von Begriff und Anschauung betont Hermann in der Schrift De officio interpretis, dass die einzige Quelle zur Kenntnis der Sachen des Altertums in den Texten liege, nicht nur wegen deren großer Zahl, sondern auch ,weil sie allein sprechen und das übrige erklären, das ohne sie beinahe blind und unnütz ist‘.89 In Abwandlung von Kants berühmtem Diktum ließe sich sagen: Sprachkenntnis ohne Sachkenntnis ist leer, aber Sachkenntnis ohne Sprachkenntnis ist blind. Daraus folgt freilich keine einseitige Bevorzugung der Sprach-Wissenschaft, sondern eine moderate Verbindung von Text- und Sachphilologie: „Daher sie [sc. die wahren Philologen], an Schwierigkeiten gewöhnt, und eben deßwegen bescheidner, auch die Sachkenntniß in Ehren halten, aber beides nur als Mittel zu dem Zwecke betrachten, den das klassische Alterthum schon durch diese seine Benennung ankündigt, als Quelle mancher Wissenschaft, und als Muster der Bildung und des Geschmacks zu dienen“.90 Das bedeutet, dass die erste Aufgabe des Altertumswissenschaftlers die Erklärung und Interpretation der antiken Schriften ist, wozu allererst eine genaue Kenntnis der alten Sprachen nötig ist; dies schließt das Erkennen von Korruptelen und die mögliche Verbesserung (emendatio) der Texte ein.91 Ziel und Zweck der Interpretation ist für Hermann ganz traditionell das Erfassen der Autorintention: „[…] interpretari dicimus efficere, ut is, qui audiat legatve, verba mentemque scriptoris sic, uti eum oportet, intelligat“ (De officio interpretis 100). Der Zusatz, die Worte und die Intention des Autors seien so

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Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung … (wie Anm. 66) 8. De officio interpretis, Opuscula VII 98 f.: „Antiquitatem Graecorum et Romanorum cognoscere volentibus […] non solum potissimus atque uberrimus, sed propemodum unicus fons, ex quo illarum rerum cognitionem hauriant, in scriptis est antiquorum propositus. Haec enim ex omni genere monumentorum, quae non temporis diuturnitate interierunt, non modo et numero plurima sunt et integritate praestant, verum etiam sola loquuntur, declarantque caetera, quae sine iis fere caeca sunt atque inutilia. Ex quo apertum est, lectionem atque intelligentiam eorum, quae scripta ab antiquis habemus, fundamentum esse universae antiquitatis scientiae“. Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung … (wie Anm. 66) 8. De officio interpretis (wie Anm. 89) 99: „Consequitur ergo, ut illa scripta explicare atque interpretari id sit, in quo praecipue elaborare oporteat eos, qui recte cognoscere antiquitatem voluerint. In quo multos errare animadvertimus, qui leviter et non penitus cognitis veterum linguis satis ducunt, si sententiam scriptorum quodammodo intelligere sibi videantur. […] tum multa in scriptis antiquorum mendosa sunt, quae si quis aut non videat corrupta esse aut emendare nesciat, saepe accidat necesse est, ut vel aliud vel etiam contrarium eius quod illi scriptores dixerunt, dictum ab iis esse credatur“.

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zu verstehen, ,wie es sich gehört‘, ist nicht trivial,92 denn Hermann will nicht im Vorgriff auf Nietzsche einem Interpretationsperspektivismus das Wort reden. Vielmehr möchte er gerade die Vielheit voneinander verschiedener Interpretationsweisen abwehren, die durch das unterschiedliche Fassungsvermögen und Vorwissen der verschiedenen Interpreten, ihre Unterschiede in Alter, Bildungsstand und Interpretationsabsicht (ob historisch, philosophisch, rhetorisch, poetisch orientiert) oder hermeneutischem Schwerpunkt (lexikalisch-grammatische Wort- und Satzanalyse, Wortgebrauch und Stil eines Autors, Aufbau und Gesamtplan eines Werkes, Vorzüge und Mängel ihrer Ausführung) ausgelöst werden.93 Auch wenn Kant sich nirgendwo über die Interpretation von Texten geäußert hat, formuliert Hermann mit seinen officia interpretis eine an Kant angelehnte, rationalistische Interpretationstheorie. Demnach hat der wahre Philologe auf drei Dinge zu achten: ,dass er nichts davon, was nötig ist, weglässt; dass nichts hinzugefügt wird, was nicht nötig ist; dass das, was ans Licht gebracht wird, richtig dargelegt wird‘.94 Die letzte, schwierigste Forderung bedeutet, ,bestimmt, geordnet, einfach und angemessen‘ zu interpretieren.95 Die begriffliche Distinktion (bene distinguere) und Klarheit (perspicuitas) wird erreicht durch eine Kürze (brevitas), die Überflüssiges und Sachfremdes vermeidet, und durch die richtige Definition der Verstandesbegriffe, auf denen die Argumentation beruht. Die richtige Anordnung (ordo) bedeutet insbesondere, Auslassungen und Wiederholungen in der Argumentation zu vermeiden. Die Einfachheit (simplicitas) wiederum meint Deutlichkeit und Kürze; dazu gehört auch, einen häufigen Fehler zu vermeiden, nämlich den Kenntnisstand der eigenen Zeit den antiken Autoren zu unterstellen. Schließlich erlaubt die Sachangemessenheit („apte explicare; quod rei cuique accommodatum est“) die richtige innere Wahrnehmung der Sache, die zum großen Teil nicht durch Argumente, sondern durch den didaktischen Fingerzeig und den Wunsch nach Nachahmung eines in den antiken Schriften besonders versierten Gelehrten vermittelt wird.96 Diese Kunstregeln der richtigen Interpretation (perspicuitas, ordo, simplicitas, apte) scheinen den Forderungen der klassischen Rhetorik an eine gelungene Argumentation im schlichten Stil zu entsprechen. In Wirklichkeit gehen sie jedoch – und das noch 1834 – auf die Kantische Kategorientafel und die 92

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Hermann weist in einer Fußnote darauf hin, dass Böckh gegen diesen Definitionszusatz eingewandt habe, dass er nichts besage. Er verteidigt sich gegen diesen Vorwurf mit dem Argument, dass damit verhindert werden solle, dass jeder nach seinem Fassungsvermögen interpretiere („pro suo captu“, 100 Anm. 2). „[…] denique interpres vel de verbis et sententiis, vel de usu et consuetudine scriptoris, vel de consilio, quo quis scripserit, operisque cohaerentia, vel de virtutibus et vitiis scripti potest exponere“ (De officio interpretis [wie Anm. 89] 100). „[…] ut eorum, quibus opus est, nihil desit; ut nihil afferatur, quo non sit opus; ut, quae promuntur, recte exponantur“ (De officio interpretis [wie Anm. 89] 101). „Est autem recte nihil aliud quam distincte, ordinate, simpliciter, apte“ (De officio interpretis [wie Anm. 89] 102). Vgl. De officio interpretis (wie Anm. 89) 102–04.

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darauf gegründete Logik der Argumentation zurück. Nach ihr folgen Ordnung und Einfachheit aus der richtigen Definition der Verstandesbegriffe und der auf diesen beruhenden Klarheit und Deutlichkeit, und die Sachangemessenheit ergibt sich daraus, dass die richtigen Allgemeinbegriffe im konkreten Einzelfall angewandt werden. Das bedeutet schließlich nichts anderes als die geglückte Anwendung der auf der Erfahrung des Gelehrten beruhenden Urteilskraft – auch dies ein Kantisches Motiv. Nach Kant ist die Urteilskraft „das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel […] stehe oder nicht“ (KrV B 172), oder „das Vermögen, das Besondere, sofern es ein Fall dieser Regel ist [sc. die durch Verstandesbegriffe gegeben ist], aufzufinden“ (Anthr. BA 120). Urteilskraft ist ein „Talent […], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“ (KrV B 172), keine Sache der Bildung oder Gelehrsamkeit, sondern eine Naturgabe, gelernte Regeln im konkreten Einzelfall richtig anzuwenden. Den Mangel an Urteilskraft bezeichnet Kant als „Dummheit“ (KrV 173), ihr Vorhandensein wäre – mit Aristoteles – phronesis, eine Klugheit, die durch Beispiele und Erfahrung ausgebildet worden ist. In diesem Sinne empfiehlt Hermann in der Rezension von Bentleys Terenz-Ausgabe diesen weniger inhaltlich als methodisch zur Nachahmung. Bentley sei ein ,Mann von unendlicher Gelehrsamkeit, geistvollstem Gefühl und scharfsinnigstem Urteil‘ („vir infinitae doctrinae, acutissimi sensus, acerrimi iudicii“) gewesen.97 In seiner Trias doctrina, sensus, iudicium oder ,Gelehrsamkeit, Gefühl und Urteilskraft‘ kehrt die Kantische Trias der theoretischen Seelenvermögen Begriff, Anschauung und Urteilskraft wieder, angewandt auf die sprachlich-ästhetische Kritik der Philologie. An erster Stelle steht für Hermann die Gelehrsamkeit (doctrina oder scientia antiquitatis), weil sie das Gefühl nährt und ausbildet und der Urteilskraft den Stoff liefert. Als Naturanlage des Menschen kommt das Gefühl oder der Geschmack (sensus) dessen hinzu, ,was an einer Sache wahr, angemessen, schicklich, reizvoll ist‘ („quid quaque in re verum, aptum, decorum, venustum sit“). Es muss als notwendige Voraussetzung vorhanden sein, damit die Bildung in den Altertümern (cultus antiquitatis) überhaupt greifen kann. Auf dem Feld der Naturanlage kann man nach Hermann am ehesten von ,Genie‘ (ingenium) sprechen, da man auch nur mittels des Gefühls ,aufs glücklichste‘ (felicissime) in der ,kritischen Kunst‘, vor allem der Konjekturalkritik, zu überzeugenden Ergebnissen kommen kann. Allerdings fehlt hier das systematische Wissen um die Gründe und die Urteilskraft, die zur Erforschung der Ursachen und zu ihrer Erklärung nötig ist. Sie ist die herausragendste Tugend des Philologen, aber auch die am stärksten vom Missbrauch bedrohte, weil sich gerade diejenigen, die eine scharfe Urteilskraft besitzen, allein auf diese verlassen und die Ausbildung ihrer Gelehrsamkeit und das Gefühl vernachlässigen. Eine Sache der Urteilskraft ist auch die ars nesciendi, die vielerorts be97

De R. Bentleio eiusque editione Terentii dissertatio, Opuscula II 264–67.

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kannteste Hinterlassenschaft Hermanns, die wiederum auf die Kantische Unterscheidung von Glauben und Wissen zurückgeht. So bestimmt Kant das Glauben als nur subjektiv zureichendes, aber objektiv unzureichendes Fürwahrhalten, Wissen hingegen als „das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten“ (KrV B 851).98 In diesem Sinne sagt Hermann (vgl. Köchly [Anm. 7] 11): „Glauben ist Nicht-Wissen; Wissen aber heisst nicht, zufällige Kenntnisse im Gedächtnis haben, es ist vielmehr Erkenntniss von Wesen, Grund und Ziel jeglichen Dinges einerseits und klare Entwicklung dieser Erkenntniss durch das Wort andererseits; wo dasselbe aufhört, da beginnt das Gebiet des Glaubens, welches eben so berechtigt ist, als das des Wissens, aber nur als das subjective Gebiet des Einzelnen, während das Wissen objectiv sicher sein oder werden muss“. Daraus folgt die ars nesciendi als eigene philologische Kunst, die darin besteht, nur das Wissbare zu verfolgen und das Nicht-Wissbare außer acht zu lassen und es eher dem Gebiet des subjektiven Glaubens zu überlassen.99

7. Zusammenfassung 1. Eine Philologie, die als Wissenschaft auftreten kann, basiert für Hermann auf den von Kant klassifizierten Erkenntnisvermögen. Die Umkehrung von den Ausdrucksmitteln zu den Arten des Vorstellungsvermögens, wie Hermann sie bei der Einteilung der schönen Künste und bei der allgemeinen Bestimmung der Schönheit vornimmt, entspricht Kants Umkehrung der Betrachtungsweise von den Gegenständen der Erkenntnis zur Konstitution der Erkenntnis selbst und kann in Analogie dazu als ,kopernikanische Wende‘ der Philologie bezeichnet werden. Damit ist auch dem Übergang von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik in der Philologie ein Weg gebahnt. Nicht die unendliche Mannigfaltigkeit des Ausdrucks erklärt das Phänomen von Sprache und Dichtung, sondern die gleichsam transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit liegt im Vorstellungsvermögen bzw. in den durch seine Unterarten vollständig bestimmbaren Rezeptionsformen. 2. Der spezifische Gegenstand der Klassischen Philologie ist die Sprache und Literatur des Altertums. Von diesem Prinzip oder Zweck des Wissens 98

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In seiner Logik führt Kant die „Unwissenheit“ als Gegenbegriff zur „logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses“ ein und unterscheidet eine objektive, auf Mangel an Kenntnissen beruhende Unwissenheit von einer subjektiven. Diese ist „gemein“, wenn sie sich nicht um „die Gründe von den Grenzen der Unwissenheit“ kümmert, oder „gelehrt“, wenn jemand die Schranken der Erkenntnis einsieht und die Gründe dafür sucht: „Denn man kann sich seine Unwissenheit niemals anders vorstellen als durch die Wissenschaft, so wie ein Blinder sich die Finsternis nicht vorstellen kann, als bis er sehend geworden. Die Kenntnis seiner Unwissenheit setzt also Wissenschaft voraus, und macht zugleich bescheiden, dagegen das eingebildete Wissen aufbläht. So war Sokrates’ Nichtwissen eine rühmliche Unwissenheit; eigentlich ein Wissen des Nichtwissens nach seinem eigenen Geständnisse“ (Jäsche-Logik A 59 f.). Vgl. De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli, Opuscula II 280.

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lassen sich im Kantischen Sinne die verschiedenen Teile der Philologie als systematische Wissenschaft ableiten, wobei Kants Dichotomie der Zwecke in äußere, objektive und subjektive, innere Zwecke die Integration der verschiedenen Disziplinen, die sich mit der Sprache und Literatur des Altertums beschäftigen, in ein geordnetes, systematisches Ganzes erst ermöglicht. Jede Teildisziplin, die einen objektiven Zweck verfolgt, hat einen spezifischen Gegenstand, der von seiner faktischen, anschaulichen Seite wie auch nach seiner begrifflichen, ursächlichen Seite durchdrungen werden muss, paradigmatisch etwa in der Metrik, aber auch in der Grammatik, da die Begriffe einer allgemeinen Sprachwissenschaft den Faktenbestand einer konkreten Sprache interpretieren und strukturieren. Die literarische Teildisziplin, die einen subjektiven Zweck hat wie die Dichtung, hat ihren Gegenstand in der Schönheit, die sich als zweckfreies Spiel der produktiven Einbildungskraft und in der Übereinstimmung des Subjekts mit sich selbst in der Subjektivität des Geschmacksurteils zeigt. Epos und Prosa zielen hingegen auf Wahrheit oder Überzeugung und gehen auf eine objektive Verbindung der Begriffe und nicht auf ein zweckfreies Spiel der Einbildungskraft zurück. 3. Die Hauptaufgabe der Philologie ist die Interpretation des Sinns der antiken Texte, sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht. Dabei gilt es ganz im traditionellen Sinne, die Autorintention, ,wie es sich gehört‘, zu verstehen, d. h. ohne subjektive Zutat des Interpreten und lediglich objektiv als Darstellung von Begriffen. Wo in der Prosa ein einziger objektiver Sinn als Verhältnis von Begriffen für das begriffliche Erkenntnisvermögen festliegt, gibt es in der Dichtung, die dem „ästhetischen Verhältnis der Begriffe für das Gefühl“ (HdM xxx) gewidmet ist, eine gewisse Freiheit für das subjektive Geschmacksurteil des Interpreten. Jedoch ist dieses nicht beliebig, sondern wird im Sinne Kants mit dem Anspruch auf ein allgemeines, intersubjektiv konsensfähiges Wohlgefallen verbunden. 4. Die Interpretation der alten Schriften setzt Sprachkenntnis und begrifflich-philosophische Schulung voraus – wie sie Hermann in seiner Ausbildung selbst erfahren hatte. Die Klassische Philologie zerfällt nach Hermann nicht wie die Wolfsche Altertumswissenschaft in Fundamentalteile und sachliche Teile, hat aber ihrerseits einen klaren, rationalen Aufbau: Grammatik und Metrik als mechanische Künste mit einem objektiven Zweck folgen rationalen Prinzipien und bilden die Werkzeuge der philologischen Gelehrsamkeit aus, und die Textinterpretation berücksichtigt die literarischen Gattungen, deren Einteilung sich logisch aus den zugrunde liegenden sachlichen Begriffsverhältnissen ergibt. Die konkrete Interpretation und die möglicherweise erforderliche kritische Verbesserung des Texts benutzen diese Werkzeuge nach Maßgabe der Urteilskraft des Gelehrten. 5. Die Grenze der wissenschaftlich-begrifflichen Durchdringung der Sprache und der Texte ist das Gebiet des Nicht-Wissbaren sowie das auf Urteilskraft und Erfahrung beruhende, nicht weiter methodisch rationalisierbare persönliche Wissen des Gelehrten. Dabei ist das erste klar begrenzt

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durch die Begrifflichkeit der Wissenschaft, und das letztere ist zwar individuell verschieden, jedoch objektiv nachprüfbar. Philologie als Kantische Wissenschaft ist für Hermann als rationale Interpretationsmethode möglich, wenn sie sowohl um die innere, begriffliche Gestalt ihres Gegenstands als auch um ihre eigenen Grenzen weiß.

Eva Tichy

Hermann als Grammatiker Seine Ideen, ob falsch oder richtig, sind zum Sauerteig der modernen Syntax geworden … (Karl Koppin 1877, 16) Zwanzig Jahre zu früh: Gottfried Hermann und die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft (1). – De emendanda ratione Graecae grammaticae: Die Grundstruktur des einfachen Satzes (2). – Modussystem (3). – De particula : Zukunftsweisendes zum Konjunktiv (4) und zum Optativ (5).

1. Wenn ein Indogermanist den Namen Hermann hört, denkt er – jedenfalls gilt das für meine Generation – spontan an Eduard Hermann (1869-1950), den Verfasser der Bücher ,Die Nebensätze in den griechischen Dialektinschriften‘ (1912), ,Silbenbildung im Griechischen und in den anderen indogermanischen Sprachen‘ (1923), ,Lautgesetz und Analogie‘ (1931) und ,Aspekt und Aktionsart‘ (1933), aber z. B. auch eines ,Sprachwissenschaftlichen Kommentars zu ausgewählten Stücken aus Homer’ (1914), der die phonetischen und phonologischen Grundlagen der griechischen Metrik, d. h. die Lehre von den Silbenquantitäten, in klassischer und nach wie vor empfehlenswerter Weise darlegt. Gottfried Hermann gehört dagegen, wenn man die sprachwissenschaftliche Zunft befragt, schon seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr zu den Autoritäten, die man je nach Sachlage zur eigenen Unterstützung anführt oder als Gegner zitiert.1 Einer der größten Indogermanisten, Jacob Wackernagel, hatte ihn immerhin noch gelesen und setzte ihm im ersten Band seiner ,Vorlesungen über Syntax‘ (Basel 1920, 2. Abdruck 1926) ein letztes, unverhohlen karikierendes Denkmal2 – offenbar deshalb, 1

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In der aktuellen wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung von Anna Morpurgo Davies (1998, s. den Index S. 420) erscheint G. Hermann hauptsächlich in Fußnoten, im Haupttext tritt er nur als Lehrer oder Gegner anderer auf. Wackernagel 1926, 27–30 (mit dem Text der 1. Auflage identisch). Vgl., auch zum Stil der Darstellung, 29 f.: „In der Kasuslehre ist charakteristisch der Satz, den wir auf Seite 137 [138, E.T.] lesen, dass jene ,veri praesagitio‘, von der überall in der Bildung der Sprachen Spuren sichtbar seien, sich vor allem zeige in der Erfindung der Kasus, sintemal nicht mehr als sechs Kasus existieren und es nicht weniger als sechs geben dürfe. Durchaus steht Hermann hier auf dem Boden der Scholastik: das Latein ist auch für ihn die Sprache. Er sieht in den verschiedenen Kasusformen die Ausdrücke für die drei Modalitäten: Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit. Der Nominativ gebe die Modalität der Wirklichkeit, der Vokativ die der Möglichkeit und die andern Kasus die der Notwendigkeit, wobei dann durch Genetiv und Akkusativ das Verhältnis der Inhärenz und durch Ablativ und Dativ das Kausalverhältnis ausgedrückt werde. Freilich in Zeiten unvollkommenen Denkens habe man Ursache und Wirkung und daher Ablativ und Dativ zusammengeworfen, und so sei im Griechischen der Ablativ verschwunden. Das

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weil er seine Hörer im Basler Seminar für Klassische Philologie davon abhalten wollte, dem Grammatiker mit gleicher Verehrung zu begegnen wie dem Textphilologen und Metriker. Hat der Grammatiker Gottfried Hermann dem 21. Jahrhundert also noch etwas zu sagen, das nach 200 Jahren Wissenschaftsgeschichte nicht entweder längst rezipiert oder abschließend widerlegt ist? Viel bleibt wohl nicht. Den Hauptzweck, dem seine grammatischen Arbeiten dienen, hat Hermann noch im 19. Jahrhundert erreicht: aus genauester Beobachtung und Textkenntnis heraus den Sprachgebrauch so differenziert und flexibel zu beschreiben, dass die griechische Textkritik seitdem eine verlässliche Grundlage hat und einhellig Überliefertes sich im Normalfall auch als regelhaft und sprachlich korrekt erweist.3 Von der Fülle seiner treffenden grammatischen Detailbeobachtungen, zum Beispiel in Ad Vigerum (1802) oder De particula  (1826/27), leben die entsprechenden Paragraphen der großen griechischen Grammatiken, auch wenn diese mit dem Fortschreiten des neunzehnten, dann zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend aufeinander aufbauen und schließlich nur noch die neueren, oft ausgezeichneten Abhandlungen nennen, die zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg in großer Zahl verfasst wurden, in der Mehrzahl von Lehrern an preußischen Gymnasien. Aus heutiger Sicht kann man es nicht genug bedauern: Gottfried Hermann hatte das historische Pech, mit seiner grundsätzlichen Abhandlung von 1801, De emendanda ratione Graecae grammaticae, schlicht zwanzig Jahre zu früh zu kommen. 1816 veröffentlichte Franz Bopp, ab 1821 Berliner Kollege, sein ,Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache‘, das die deutsche Indogermanistik begründet hat (im internationalen Rahmen ist 1814 das Gründungsdatum und der erste Vertreter Rasmus Rask). Ab 1818 wird in Deutschland altindische Philologie betrieben und gelehrt, das Fach Indologie existierte damals aber schon länger, und Bopp selbst hatte es in London studiert.4 In De emendanda ratione stellt sich der achtundzwanzigjährige Hermann nicht nur auf den Boden der Kantischen Philosophie und operiert mit deren Begriffsinventar, sondern zieht auch immer wieder Vergleichssprachen her-

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alles steht in grellem Widerspruch zu den sprachlichen Tatsachen: wir wissen, dass Griechisch und Latein auf einen Sprachzustand zurückgehen, wo es sieben oder acht Kasus gab. […] Hermann hat übrigens auch positive Verdienste“, indem er lehrte, „dass man Zeiten und Stilarten unterscheiden müsse“ (30). Dass sich Spätere an Hermanns Regeln reiben konnten, war nur die natürliche Konsequenz. Siehe Lepschy 1998 (Vol. III), 212 ff., und vor allem Morpurgo Davies 1998, 59–82. Diese charakterisiert nicht zuletzt das Deutschland der Goethezeit, wenn sie feststellt (64): „The beauty and interest of the Sanskrit texts (in translation) conquered the European intelligentsia; the language remained unknown“.

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an: selbstverständlich (und meist unausgesprochen) Latein, gern aber auch das moderne Deutsche oder Englische,5 bei Gelegenheit auch etwa Finnisch oder Ungarisch.6 Hätte er seinerzeit gewusst, dass das Sanskrit sieben, mit dem Lokativ sogar acht Kasus hat und das Verbalsystem des Sanskrit mit dem griechischen weitestgehend identisch ist, und hätte er seine Abhandlung bereits in diesem Wissen verfasst, so sähe heute manches anders aus – zum einen Hermanns Abhandlung, die dann nicht schon nach zwanzig Jahren zu großen Teilen überholt gewesen wäre, vor allem jedoch das Verhältnis der Klassischen Philologie in Deutschland zur Sprachwissenschaft und insbesondere zur sanskritkundigen, den Veda studierenden Konkurrenz, die es nicht lassen kann, das Griechische mit einer Sprache zu vergleichen, zu der man keinen fachinternen Zugang hat.7 Fassen Sie es bitte nicht als Provokation auf, wenn ich sage: Die Indogermanistik hatte, gerade wegen ihrer indologischen Verankerung, entscheidende Startvorteile, mit denen sie die griechisch-lateinische Gramma5

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Vgl. das Konzept der ,Partikel‘, unten unter 2; Anleihen an das Deutsche oder Englische macht Hermann sonst vor allem in der Phonologie. 1801, 64 heißt es zur gekürzten (!) Pänultima in C%", aber auch zu kurzvokalischen Konjunktiven wie hom. +μ: „Hinc fit ut istam syllabam acuenda ea, quae precedit, correptius pronunciaverint, eodem modo, qui in Germanica lingua obtinet, ut in his, únschuldig, únrichtig, vórsehen, et similibus. […] Itaque C%" parum recedit ab eo, quod esset C", sed mediam tamen productiorem ultima habet“. – Ebd. 53 argumentiert Hermann (im Prinzip zu Recht, vgl. Schwyzer 1939, 191 unter 5. und 191 ff.) für monophthongische Geltung des Digraphen , da lateinische Lehnwörter und der innergriechische Wechsel mit ,  oder  gegen die Aussprache „plena voce, ut Germanicum ei aut Britannorum i longum“ sprächen: „Ex quibus merito colligi videtur, diphthongi  sonum fuisse medium inter  et , eodem modo ut in quibusdam Germaniae regionibus ei pronunciatur“. Für einen Monophthong stehe aber auch  („qui sonus propius accedit ad e productum, nisi quod clarior est, quam , cuius sonus est obscurior“, 51), ebenso offenbar auslautendes -, wenn die Silbe als kurz gilt („propius accessisse ad Latinorum oe videtur“, 52). Wie  und 6 bezeichne auch  einen Frikativ: „Id hodierni Graeci, pariter ac Britanni suum th, lingua ad dentes appellente pronunciant, ut medium sit inter t et s“ (54). – Über die Hintergründe dieser Aussagen und ihre Bedeutung für die Unterrichtspraxis informiert Köchly (1874, 24): „Aber erst bei den griechischen Dichtern offenbarte sich Hermann die ganze Herrlichkeit der antiken Rhythmen, und charakteristisch ist’s, dass er damit begann, an die Stelle der damals allgemein herrschenden Reuchlinischen Aussprache, welche sich mit dem rhythmischen Vortrage nicht vertragen wollte und konnte, sich eine eigene der Erasmischen verwandte Aussprache zu bilden, welche er dann wissenschaftlich begründet und sein Leben lang beibehalten hat“. Der Rezitation des Originaltexts fiel eine wesentliche Rolle zu (74 ff.). Zitiert 1801, 135 als Beispiele für Sprachen ohne grammatisches Genus. Zu den Vorbehalten Klassischer Philologen gegen die neue Entwicklung am Anfang des 19. Jahrhunderts s. Morpurgo Davies 1998, 153, die nicht ohne Grund hervorhebt: „Gottfried Hermann (1772-1848), the main exponent of the grammatical and critical approach of the period, was often hostile“. Vgl. auch Haug 2005, 53–56. – Die beiden Fächer treffen sich erst gegen 1840 in Person und Werk von Heinrich Ludolf Ahrens, Theodor Benfey und Georg Curtius (Morpurgo Davies 1998, 153 f. mit 180 Anm. 8, dort auch zur Rolle August Boeckhs).

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tiktradition auf weiten Strecken mühelos, weil ohne viel eigenen Aufwand hinter sich ließ. Das waren: – Einmal das kategorienreichste indogermanische Sprachsystem als Ausgangspunkt – beim Nomen besitzt das Altindische zwei Kasus mehr als das Lateinische, beim Verbum werden Konjunktiv und Optativ in gleicher Weise unterschieden wie im Griechischen. – Dann die phonologische und, als Folge davon, auch morphologische Durchsichtigkeit dieser Sprache. Normalerweise ist eindeutig zu erkennen, aus welchen Elementen ein Wort besteht und wo deren Grenzen liegen: Wurzel, Suffix und Endung. Die einzelnen Elemente sind nicht selten invariabel und kehren stets in gleicher Weise wieder; in anderen Fällen gibt es zwei oder drei Varianten, deren Form und Verteilung klar geregelt ist. – Schließlich und nicht zu vergessen: Die altindische Grammatik musste in Europa nicht erst in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen erschlossen werden, sie wurde gleich schon mit der Sprache und den Texten mitgeliefert. Es war eine Grammatik eigener und völlig neuer Art, ein vielfältig vernetztes Regelwerk, das eine detaillierte, exakte und widerspruchsfreie, auch heute übrigens noch gültige Beschreibung bot und seine Logik in sich trug. Dem lateinischen Ablativ entsprechen in Pninis Grammatik der dritte, fünfte und siebte Kasus, die nach ihrer Funktion auch Instrumental, Ablativ und Lokativ heißen – wie man die korrespondierenden indischen Termini8 in hiesige Wissenschaftssprache übersetzt hat; mehr brauchte es erst einmal nicht. Die traditionelle altindische Grammatik konzentriert sich auf die korrekte Bildung und Verwendung grammatischer Formen, also die Morphologie und Morphosyntax, wie man heute sagt, bzw. den Bereich, den Hermann in der Tradition der philosophischen Grammatik unter partes orationis fasst. Den partes orationis ist das ganze zweite Buch und damit der Hauptteil9 von De emendanda ratione Graecae grammaticae gewidmet, in dem die ratio der griechischen Grammatik, d. h. das System der grammatischen Kategorien und seine logische Verankerung in der Kantischen Kategorienlehre,10 haupt8

9

10

Die altindischen Termini bezeichnen allerdings weder Kasus noch charakteristische Kasusfunktionen, sondern stehen für primäre syntaktische Operatoren (krakas), die erst im zweiten Schritt den Kasus zugeordnet werden. Den drei genannten Kasus entsprechen karan'am ,Instrument‘ (teilweise auch kart ,Agens‘), apdnam ,Wegnahme‘ und adhikaran'am ,Bezug‘; vgl. zum Ganzen Delbrück 1893, 173 ff. Eine ähnlich zentrale Stellung nehmen die „Arten der Wörter, unter den von den Sprachlehrern gemeiniglich angenommenen Redetheilen“ z. B. auch bei James Harris ein (dt. 1788, 21–234). Morphologie und Syntax (nicht Phonologie) beruhen für Hermann überwiegend auf den drei modalen Kategorien Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, als vierte kommt bei Bedarf die Kategorie Relation hinzu. Dahinter steht die Kategorientafel in Kants ,Kritik der reinen Vernunft‘ (B 102–06 = 1956, 116–19) und letztlich Aristoteles, auf den sich Kant bezieht (vgl. B 105. 107 = 1956, 118 f.). Zu einem Rückgriff auf die vorkantische Universalgrammatik, die ebenfalls an Aristoteles anknüpft, siehe unten im Text. Für die Quellennachweise aus Kant und Aristoteles (unten in Anm. 14) danke ich

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sächlich expliziert wird. Fügt man beides zusammen, so zeichnet sich ab, zu welchen Themen man Hermann vielleicht auch heute noch mit Gewinn nachlesen könnte, nicht nur mit dem wohlfeilen Amusement der Nachgeborenen.11 Es werden wohl am ehesten diejenigen Themen sein, zu denen das Altindische nichts beiträgt oder zu denen Pninis Grammatik schweigt, so dass die Indogermanistik unter den gleichen Voraussetzungen antreten und ebenso um logisch schlüssige Aussagen ringen musste wie Hermann und sein Fach, soweit sich dieses für die grammatische Beschreibung des Griechischen zuständig fühlte. Zwei solche Themen möchte ich nun herausgreifen: die Theorie der Satzstruktur und, wenigstens zum Teil, die Moduslehre. Hierbei stütze ich mich zunächst auf die genannte Schrift von 1801 und danach, um die späteren Schriften zur griechischen Syntax und Stilistik nicht zu Unrecht auszuklammern, auch noch auf Abschnitte aus De particula  von 1826/27.12 2. Zunächst also zur Grundstruktur des einfachen Satzes. Dieser Punkt verdient, wie mir scheint, auch heute noch ein wissenschaftliches und nicht nur wissenschaftsgeschichtliches Interesse, wenn auch nicht deshalb, weil hier ,Richtiges‘ speziell zum Griechischen gesagt wäre. Die Herangehensweise und ihr Ergebnis sind aber einerseits für Hermann charakteristisch, andererseits wirken sie aus heutiger Sicht noch origineller als seinerzeit und sind, wenn man sie nur auf den passenden Sprachtyp bezieht, auch nicht falsch oder überholt. Die ratio der Grammatik, in diesem Fall der partes orationis, beruht unmittelbar auf der ratio des menschlichen Denkens und der zwischenmenschlichen Verständigung – dieser Prämisse wird man sich gern anschließen. Jede Denkoperation, ob Urteil oder Aussage, ist notwendigerweise dreiteilig: der Gegenstand, von dem etwas gesagt wird (subiectum), das von diesem Gesagte (praedicatum) und die Verknüpfung beider (copula). Den drei partes cogitationis entsprechen logisch und formal drei partes orationis.13 Das gilt auch für scheinbar zweigliedrige oder sogar eingliedrige Aussagen wie sol oritur (in

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Henrik Udvari, Freiburg. – Zum Thema ,Hermann und Kant‘ siehe jetzt bes. auch den Beitrag von Michael Schramm im vorliegenden Band. Siehe oben Anm. 2 zu Wackernagel. Hermanns komplizierter, mit drei Aoristen und insgesamt zwölf Kategorien rechnender Entwurf des Tempussystems (1801, 180–204; vgl. Wackernagel 1926, 29) geht nach seiner eigenen Angabe (180) auf Reiz 1766 und letztlich die Stoiker zurück, findet sich aber auch bei James Harris (dt. 1788, 99–115); dazu Haug 2005, 46 ff. – Friedrich August Wolf, der sich in seinen Anmerkungen zu Harris jeder eigenen Stellungnahme enthält, entwickelte später eine eigene Konzeption des griechischen Tempus-/Aspektsystems, siehe Haug 48 ff. Einen Überblick über Hermanns Schriften zur Grammatik findet man bei Köchly 1874, 27–31. Hermann 1801, 127 f., bes. 127 unten: „Scilicet quum omne linguarum officium eo contineatur, ut animi cogitationes signis quibusdam declarentur, totidem quaeque lingua signorum formas habeat necesse est, quot sunt partes cogitationum”.

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expliziter Form: sol oriens est) und vivo (= ego vivens sum). Bis hierher befinden wir uns auf dem Boden der philosophischen Universalgrammatik und letztlich der Port-Royal-Grammatik, in der die drei fundamentalen Redeteile als Nomen, Attribut und Kopula bezeichnet werden.14 Hermann geht nun allerdings einen Schritt über die europäische Tradition hinaus und ersetzt den Terminus ,Attribut‘ durch ,Partikel‘.15 Denn dieser Redeteil ist für ihn kein (flektiertes) Adjektiv, wie der Terminus ,Attribut‘ es meint oder als Normalfall impliziert,16 sondern ein flexionsloses Adverb, was man am klarsten im Deutschen sehe (1801, 128): „das pferd ist gut, besser, am besten, plane, ut rei natura postulat, simplici conditionis nota [,einer reinen Zustandsangabe‘] cum subiecto copulata“.17 Bemerkenswert ist hieran aus heutiger Sicht, dass Hermann nicht nur inhaltlich, wie seine Vorgänger, sondern auch formal von einer originär

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Arnauld 1676, 27 ff., bes. 29: „Ainsi toute proposition enferme necessairement deux termes: l’un appellé sujet, qui est ce dont on affirme, comme terre; & l’autre appellé attribut, qui est ce qu’on affirme, comme ronde; & de plus la liaison entre ces deux termes, est“ (hier begründet mit den drei intellektuellen Tätigkeiten concevoir, juger, raisonner). Ebd. 94–97: Bei allen Verben außer ,sein‘ sind Attribut und Kopula der Kürze halber kombiniert (96 f.: Pierre vit = Pierre est vivant, vivo ~ Je suis vivant, sedeo ~ Je suis assis). Siehe dazu Lepschy 1998 (Vol. III), 167. – Die Lehre von der dreiteiligen Inhaltsstruktur aller Sätze, auch der Verbalsätze, stützt sich auf Aristoteles und dessen Beispiele in Metaphysik F 7. 1017 a 27:  ,  /  C%" '  8% 1 G  C%" '  8,    C%" $ 8?% 1 G /μ%  C%" $ 8? G /μ (das zweite Beispiel auch in De interpretatione 12. 21 b 9; zur Rolle der Kopula dort 2. 16 b 19–25 und 10. 19 b 19 f.). Terminus und Konzeption der Partikel sind, wie Wackernagel (1926, 28 f.) richtig bemerkt, der arabischen Grammatik entnommen, die für triliterale Wörter – Pronomina usw. bleiben damit außer Betracht – zwischen Nomen (gekennzeichnet durch die nominale Endungsallomorphie), Verbum (gekennzeichet durch die verbale Präfix- bzw. Endungsallomorphie) und Partikel (harf, Pl. hurf, ohne Endungsallomorphie) unterscheidet. Das prädikative Adjektiv ist im Arabischen endungslos, so dass die Wortart ,Partikel‘ mit diesem gleichgesetzt werden kann. Hermanns Quelle war wohl David Ilgen, der bis 1802 „als Professor der morgenländischen Litteratur in Jena lebte“ (Köchly 1874, 18). – Dem Verbum ,sein‘ wird in der arabischen Grammatik übrigens keine Sonderstellung eingeräumt, da Nominalsätze in der Regel ohne Kopula auftreten. Gerade Sätze vom Typ ,Die Erde (ist) rund‘ – vgl. die vorhergehende Anmerkung – sind im Arabischen also zweigliedrig. Vgl. Harris 1788, 72: „Attributiva (Bestimmungswörter) sind alle diejenigen Hauptwörter, die Bestimmungen, als solche, bezeichnen. Desgleichen sind z. B. die Wörter: Schwarz, Weiß, Groß, Klein, Beredt, Schreibt, Schrieb, Schreibend, u. d. gl.“. Ungewöhnlich ist hier die Einbeziehung des finiten Verbs. In der begründenden Anmerkung heißt es dazu, dass die genannten Wörter „alle ihrer Natur nach die Praedicate in einem Satz ausmachen, (denn sie werden alle einem Subject oder einer Substanz beygelegt: Der Schnee ist weiß, Cicero schreibt, u. d. gl.)“. Das Verhältnis zwischen Verb, Partizip und Adjektiv wird ebd. 76 ff. näher erläutert. Den Terminus ,Partikel‘ ersetzt Hermann später durch praedicatum, vgl. 1808, 157, wo es unter anderem heißt: „Omne enim verbum, praeter verbum esse, nisi ubi id exstare significat, ex praedicato et copula compositum est“.

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dreigliedrigen Satzstruktur ausgeht, im Gegensatz zur zweiteiligen SubjektPrädikat-Struktur der lateinischen Schulgrammatik oder zum Prinzip der fortgesetzten binären Verzweigung, mit dem sich die Generative Grammatik von vornherein für das Computerzeitalter empfohlen hat. Vergessen wir also die philosophische Begründung und betrachten allein die von Hermann zugrunde gelegte Satzstruktur, die sich schematisch wie folgt darstellt (Hermann selbst braucht keine solchen Schemata): pars cogitationis (Satzglied) pars orationis (Wortart) Inhalt/Funktion

subiectum

praedicatum

copula

nomen

particula (i.e. indeclinabile), unselbständig conditio (Zustand)

verbum (nur ,sein‘)

Gegenstand der Aussage

Verknüpfung

Indogermanische Sprachen machen Hermann nun allerdings einen Strich durch die Rechnung, weil sie praedicata jeder Art, im allgemeinen auch Adverbien, mit Flexionsendungen ausstatten. Der Verweis auf das Deutsche, in dem ein prädikatives Adjektiv wie dessen endungslose Form aussieht, löste das Problem nur scheinbar und für kurze Zeit, da sich dieser Fall von veritas atque simplicitas einer Einzelsprache18 im historischen Sprachvergleich als Folge lautgesetzlichen Endungsschwunds beim starken Adjektiv erwiesen hat – auch hier kam Hermann ungefähr zwanzig Jahre zu früh, um durch Jacob Grimms ,Deutsche Grammatik‘ (1. Band, 1819) eine sprachhistorisch korrekte Auskunft erhalten zu können.19 Das heißt aber nicht, dass das dreigliedrige Satzmodell, in dem die Kopula ,sein‘ das einzige flektierte Verbum darstellt, als solches von der Hand zu weisen wäre. Zumindest eine Sprachfamilie, die Turksprachen oder das Türkische im weiteren Sinne, verhält sich in Satzsyntax und Formenbildung tatsächlich nach dem Hermannschen Modell. Wenn ein Satz nicht in der 3. Person Indikativ steht oder ein pronominales Subjekt hat – in solchen Fällen wird keine Kopula benötigt, wie man das auch aus anderen Sprachfamilien kennt –, enthält er in der Regel eine Form des Verbums ,sein‘.20 Das voraus18

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Hermann 1801, 128: „Id quod clarissime e Germanica lingua cognoscitur, cuius in hac quidem re admirabilis veritas est atque simplicitas“. Siehe Grimm 1819, 250 Anm. 1, wo zu diesem Punkt das Nötige gesagt ist: „Daß aber, z. B. in der Redensart: der Stein ist hart, der Mann ist schön, dieses hart, schön: kein Adv. (wie Adelung annimmt), sondern ein eigentliches Adj. sey, lehrt eine historische Betrachtung sehr bald, denn im Althochdeutschen dürfte lediglich stehen: herti, sconi und nicht: harto, scono, wie das Adv. heißt“. Die Personalendungen türkeitürk. -(y)im ,ich (bin)‘, -(y)iz ,wir (sind)‘ usw. lassen sich entweder als enklitische, in die Vokalharmonie einbezogene Formen der Kopula iverstehen, wie es der Einfachheit halber in den folgenden Beispielen geschieht, oder als die reinen suffigierten Personalpronomina. In jedem Fall gibt es aber türkeitürkische

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gehende Element kann im modernen Türkeitürkischen ein prädikatives Substantiv wie örenci ,Schüler‘ (Nom. Pl. örenci-ler), die Satznegation deil, ein Adverb wie burada ,hier‘ oder ein Adjektiv – zugleich Adverb21 – wie iyi ,gut‘ sein, aber auch ein Verbalstamm wie gel-ir- ,kommen‘ (im unbestimmten Präsens) oder ein als Verbalstamm fungierendes Partizip wie z.B. gel-mi(-) ,gekommen‘ im sog. Perfekt: örenci-ler-iz ,wir sind Schüler‘, verneint örenci-ler deil-iz ,wir sind nicht Schüler‘; burada-yz ,wir sind hier‘; iyi-yiz ,wir sind gut‘; ev-e gel-ir-iz ,wir kommen nach Hause‘ (Infinitiv gel-mek); ev-e gel-mi-iz ,wir sind (angeblich) nach Hause gekommen‘, mit Interrogativmorphem gel-mi mi-yiz ,wir sollen gekommen sein?‘

Türkische Sätze und türkische Verbalformen haben also die Struktur, die Hermann für griechische Sätze und wohl auch, ohne es als Hypothese auszusprechen, für griechische Formen wie 0=% < ,"/%‘, μ8 < ,μ8‘ oder 8μ < ,/μ‘ angenommen hat.22 Für das Griechische und für die indogermanischen Sprachen allgemein, auch deren erschließbare Vorgeschichte, ist seine Ansicht unzutreffend und wird teils durch innergriechische Argumente, teils durch den Vergleich mit dem Altindischen, Lateinischen und anderen Sprachen mit aller Deutlichkeit ausgeschlossen. Immerhin: Bevor jemand in Gefahr kommt, türkische Sätze und Formen entweder traditionell nach der lateinischen Schulgrammatik oder, inzwischen auch schon traditionell, nach der Generativen Grammatik zu beschreiben, sollte er wissen, dass dieser Sprachtyp schon einmal in denselben Rang erhoben wurde wie der des Lateinischen oder des modernen Englischen, wenn auch in einer anderen Zeit und ohne Kenntnis der Sprache. Und bevor man das generative Satzmodell zur universalen syntaktischen Grundstruktur erklärt, besinnt man sich besser darauf, dass Gottfried Hermann mit einem anderen Modell und dem gleichen universellen Anspruch vor zwei Jahrhunderten gescheitert ist.

21

22

Verbalformen, deren Suffix die Kopula i- enthält; vgl. zum Ganzen Göksel-Kerslake 2005, 84-90. Sicher ohne Kopula gebildet sind die Ausgänge des einfachen Präteritums auf -di- (1. Pl. gel-di-k), das sich in sprachhistorischer Perspektive aus einem Verbalabstraktum auf *-d in Verbindung mit den Possessivsuffixen zusammensetzt, siehe v. Gabain 1974, §§ 217, 193; Erdal 2004, 237 f. Adverb und Adjektiv lassen sich in diesem Sprachtyp zu einer Wortart zusammenfassen. 1801, 230 f. 237 f. setzt Hermann die Verbalendungen /%   und μ an, die erste mit Synkope z. B. in 0=% < ,"/%‘, die letzte mit Kontraktion in μ8 < ,μ8‘ und 8μ < ,/μ‘. Im historischen Sprachvergleich entsprechen den ,kontrahierten‘ Formen Hermanns freilich u. a. vedisch ásmi und dádhmi, die für das Griechische die Vorformen *ehmi < *esmi und *thithmi < *dhidhmi sichern. Als urindogermanische Grundformen rekonstruiert man heute *h1és-mi und *dhé-dhoh1-mi, letzteres u. a. wegen des Vokalismus von dt. tun.

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3. Für den Rest der Zeit verbleiben wir in der indogermanischen Sprachfamilie und wenden uns jetzt den Modi zu.23 Als Ausgangspunkt in De emendanda ratione (1801, 204–20, bes. 205 ff.) dienen – und hier versteht es sich bei Hermann von selbst – die Kantischen Modalitäten Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit.24 Im Lateinischen, aber unter anderem auch im Deutschen ist jede der drei Modalitäten durch einen dafür zuständigen Modus vertreten; wie der Indikativ als Ausdruck der Wirklichkeit, lässt sich in solchen Sprachen der Konjunktiv (oder Subjunktiv) als Ausdruck der Möglichkeit und der Imperativ als Ausdruck der Notwendigkeit verstehen. Damit dieses logische Grundkonzept aufs Griechische übertragen werden kann, muss dessen zusätzlicher vierter Modus in das Dreiersystem integriert werden. Die formale und inhaltliche Kategorie, die im Griechischen Optativ heißt, stimmt dabei, grob gesprochen, zum Konjunktiv der anderen Sprachen, der griechische Konjunktiv weicht in der Verwendung stärker ab. Hermann löst das Problem in einer Weise, die der wissenschaftlichen Diskussion der nächsten 200 Jahre nicht nur die Richtung weist, sondern sie vor allem einengt. Die Modalität der Möglichkeit ist nach ihm im Griechischen doppelt vertreten, durch Konjunktiv und Optativ, die die weitere Forschungsgeschichte nun als ein unzertrennliches Geschwisterpaar durchlaufen, obwohl der Konjunktiv, wie nicht zuletzt bei Hermann deutlich wird, dem griechischen Futur viel näher steht. veritas possibilitas

necessitas

objektiv, abhängig von einer realen Bedingung im Kontext (wenn scheinbar fehlend, Ellipse) subjektiv oder objektiv, bezeichnet Gedachtes, das realisierbar ist oder nicht subjektiv objektiv

indicativus modus coniunctivus

optativus imperativus adiectiva verbalia

Bei der Unterscheidung des Konjunktivs vom Optativ hält sich Hermann – wie viele andere auch – an den antiken Terminus und die dahinterstehende Auffassung, der Konjunktiv sei der Modus der Abhängigkeit und dementsprechend in seiner Verwendung prinzipiell auf Nebensätze beschränkt.25 (Dass dies nur für die zweiten und dritten Personen gilt, und auch für diese erst in nachhomerischer Zeit, fällt dabei unter den Tisch; die Systematisierung erfolgt nicht auf der Basis philologischer Beobachtung, sondern auf der Grundlage der antiken Grammatiktradition und unter Berufung auf Apollo-

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24 25

Einen kritischen Überblick über Hermanns Moduslehre und ihre Entwicklung gibt Koppin 1877, 16–20. Quellennachweis oben in Anm. 10. Siehe Koppin 1877, 21–25, und Tichy 2006, 44–47.

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nios Dyskolos.26) Hermanns funktionale Charakterisierungen sind allerdings, aufs Ganze gesehen, treffend. Der Konjunktiv wird insofern ,objektiv‘ verwendet, als die Realisierung des Sachverhalts hier von einer realen Bedingung abhängt, etwa in dem Sinne, dass man dunkle Wolken aufziehen sieht und es demnach wohl regnen wird. Wenn die reale Bedingung nicht im unmittelbaren Kontext genannt ist, lässt sie sich in der Regel leicht erschließen. Anders beim Optativ: Dieser bringt zum Ausdruck, dass etwas subjektiv oder objektiv möglich ist, und bezeichnet Gedachtes, ohne eine Aussage über die Realisierung oder Realisierbarkeit damit zu verbinden: es könnten Wolken aufziehen und Regen bringen, oder vielleicht auch nicht.27 Im Großen und Ganzen verfehlt ist in diesem Abschnitt nur ein Punkt, für den Hermann in der Sprachwissenschaft des späteren 19. Jahrhunderts mit Vorliebe gerügt oder belächelt wird: die Lehre von den Ellipsen beim Konjunktiv, die sich aus dem Postulat (mehr ist es nicht) der Beschränkung auf Nebensätze ergibt. Im klassischen Konversationsattisch gibt es die unabhängigen Sätze mit μ# oder  μ# und allen drei Personen des Konjunktivs, die man traditionell mit der Ellipse eines Hauptsatzprädikats erklärt und die sich in der Tat auch schlecht anders erklären lassen. Unter Hermanns Beispielen (1801, 207) gehört hierher der Fall  μ +"% ,ich werde bestimmt nicht sagen‘, was man sich mit Hilfe eines Belegs bei Xenophon28 als verkürztes  $ μ +"% zurechtlegen kann.29 So weit, so gut. Der Versuch, auch die normalgriechischen Hauptsätze mit hortativ und dubitativ verwendeten 1. Personen des Konjunktivs als ursprüngliche Nebensätze anzusehen,30 verbietet sich von selbst, wenn man – schon wieder! – einen Blick in die altindische Grammatik wirft. Pnini ordnet, dem Sprachgebrauch seiner Zeit entsprechend, die 1. Personen des Konjunktivs dem Imperativ zu. In dieser Sprache hat der Imperativ also ein vollständiges Paradigma, dessen 1. Personen man auf englisch z. B. mit ,let me go!‘ und ,let us go!‘ übersetzt, auf deutsch am besten mit ,geh ich!‘ oder (unter zweien) ,lass mich gehen‘, in 26

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Wobei Apollonios, Synt. 254 b–258 a die ersten Personen aus gutem Grund nicht dem Konjunktiv ('" #) zuweist, sondern einem eigenen Modus ,Suggestiv‘ ('"#). Dazu Tichy 2006, 5 ff., gestützt auf Householder 1981, 194 f. (,suggestive’ mood). Die Unterscheidung zwischen objektiver (Konjunktiv) und subjektiver Möglichkeit (Optativ) behält Hermann auch später bei, vgl. 1812, 19 ff. X. Mem. 2, 1, 25 , … /  …,  $ μ#  D 2 % "1  "   1 

"%  I Jμ   1 K =6K   "8? , angeführt bei Kühner-Gerth 1904, 221. Hermann selbst ergänzt hier anders: ,  /, μ +"%. Entsprechende Beispiele mit Ergänzungen Hermanns: 1801, 207 (C , L ) +%μ; (#μ vel  O ,) 8 3; hom. (6μ’) P (Q"%) Rμ#% / T %μ . – 1802, II 731, Nr. 149 (nescio, vel dubito, vel dic mihi) U8 / %/8 3. – 1808, 158 f. (Q , Q"%) μ 2& 2 ; 207 f. ($0 ) 06 0%. – 1826/27, 79 (Dμ$3, ) +%; 88 (nescio aut nescio an, vel simile quid) 8 3. – Nach Hermanns späterer Ansicht (1808, 207; 1812, 29; vgl. auch 1826/27, 79) liegt in Fällen wie +%, +%μ eigentlich („proprie“) der dubitative Konjunktiv vor, was auch erkläre, warum die hortative Nebenfunktion nur in den ersten Personen auftritt.

Hermann als Grammatiker

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der 1. Plural mit ,gehen wir‘ oder ,lass uns gehen‘; bei mehreren Adressaten heißt es ,lasst mich, lasst uns‘. Die gleiche Übersetzungsweise empfiehlt sich auch für 1. Personen des griechischen Konjunktivs wie +%, +%μ, mit oder ohne einleitendes C  oder /. Da wir schon einmal beim Imperativ sind: Auch die Modalität der Notwendigkeit ist nach Hermann im Griechischen doppelt vertreten, durch den Imperativ als Ausdruck des subjektiv Notwendigen und die deontischen Verbaladjektiva als Ausdruck des objektiv Notwendigen (1801, 214 ff.). Die Einbeziehung der Verbaladjektiva in das Modussystem ist vollauf gerechtfertigt, wenn semantisch oder pragmatisch argumentiert wird; ich würde heute genauso vorgehen.31 Es trifft auch zu, dass die Verwendung des Imperativs subjektiv, also an die Person des Sprechers und die Sprechsituation gebunden ist, worin er sich nicht zuletzt vom präskriptiven32 Optativ unterscheidet. Und vor dem Hintergrund einer Grammatiker- und philosophischen Tradition, die Selbstaufforderungen des Sprechers logisch ausschließen zu können meint, ist es ein echter Fortschritt, dass Hermann im Prinzip auch erste Personen des Imperativs zulässt. Wenn also in einer griechischen Textschicht solche Formen aufgetaucht und zweifelsfrei bestimmbar gewesen wären,33 hätte Hermann daran keinen Anstoß nehmen müssen; die emendata ratio seiner Grammatik war dafür offen und flexibel genug und sollte das wohl auch sein. 4. Wie es scheint, bewegt sich Hermann auch später als Textphilologe und Grammatiker in dem theoretischen Rahmen, den er in De emendanda ratione Graecae grammaticae für sich abgesteckt hat. Aussagen zur griechischen Syntax werden philologisch vertieft und müssen sich am Textmaterial bewähren; zurückgenommen werden aber wohl nur Einzelheiten, nichts Grundsätzliches. Werktitel können allerdings täuschen oder zumindest kräftig untertreiben. So würde man nicht vermuten und wird auch durch keinen Literaturhinweis darauf aufmerksam gemacht, dass gleich zu Anfang der Abhandlung De praeceptis quibusdam Atticistarum (1810, 270–75, bes. 271) die heute kanonische Unterscheidung zwischen Inhibitivsätzen (μ# mit Imperativ Präsens) und Präventivsätzen (μ# mit Konjunktiv Aorist) vorweggenommen und an übersetzten Beispielen mit aller Klarheit demonstriert ist: Soph. Ai. 1154 C%", μ V 9    3 „sic est dictum, ut

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33

Vgl. Tichy 2004, 96 unter 13.2. Hermann nennt die präskriptive Funktion des Optativs später (1826/27, 154) in einer Reihe mit dessen anderen Funktionen, vgl. das Zitat in Anm. 50 („est … iubentis“). Etwa nach einer kategoriellen Verselbständigung der hortativen ersten Personen des Konjunktivs, s. oben im Text.

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significetur, desine mortuos iniuria afficere“;  263 "/ μ μ/W μ/ , μ ’ "0&, „noli celare, de quo interrogavero“.34 Unter dem Titel De particula  (1826/27) wird in detaillierter Form und mit einer Fülle von Belegmaterial die gesamte griechische Moduslehre behandelt, einschließlich des Gebrauchs der Modi ohne C, was mich nicht wenig überrascht hat. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich im Folgenden auf meiner eigenen Forschung zum Konjunktiv und seinen Nachbarkategorien aufbaue, die mir auch einigen Einblick in die Forschungsgeschichte verschafft hat, wenn auch mit Ausnahme von Gottfried Hermann, den ich erst jetzt – vielleicht – zu würdigen weiß. Mitten in der Einleitung des zweiten Buches von De particula  steht, von der umgebenden Argumentation nicht abgesetzt, ein Passus, der Indikativ, Konjunktiv und Optativ einander kurz und treffend gegenüberstellt. Die Distinktionen aus De emendanda ratione sind am Kapitelanfang nochmals expliziert und sollen auch an dieser Stelle gelten, doch werden sie jetzt – bei Hermann kommt das unerwartet – aus der Sprecherperspektive dargestellt (77 f.). Ich paraphrasiere: 35 ,So setzt der Indikativ einen wissenden Sprecher voraus, der von der Wirklichkeit des Sachverhalts überzeugt ist; der Konjunktiv einen, der sieht, dass etwas eintreten muss oder soll, und deshalb erwartet, dass es eintritt; der Optativ einen, der denkt, etwas trete ein, doch ohne zu fragen, ob es eintreten wird oder überhaupt eintreten kann‘.

Nach einem Zwischensatz heißt es speziell zum Konjunktiv, ihm hafte überall futurische Bedeutung an, ,denn er bezeichnet den Eintritt oder das Eingetretensein36 von etwas, jedoch in der Weise, dass abzuwarten bleibt, bis 34

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Dem ersten Beispiel stellt Hermann ein konstruiertes, dem zweiten zwei belegte Opposita gegenüber,  168 μ ’ "8 „neque amplius cela“ und  548 μ  9   „desine celare“; auf zahlreiche andere Belegstellen wird verwiesen. Vgl. Kühner-Gerth 1898, 190 mit μ $# Pl. Ap. 20 e gegenüber μ $5 ib. 30 c (angeführt unter ,Imperativ‘ als einziges Beispiel dieser Art, im übrigen siehe 220. 237 f.). Richtig beurteilt ist bei Hermann auch die Verwendung der 1. und 3. Person (1812, 273): „saepe sic usurpatur, ut admonitio ad secundam spectet“. Über die weitere Forschung zum Thema Prohibitivsätze berichtet Hoffmann 1967, 43 ff.; eine Zusammenfassung seiner eigenen Ergebnisse auf S. 266. 1826/27, 77 f.: „Itaque indicativus est scientis, persuasique de veritate rei; coniunctivus debere quid fieri intelligentis, ac propterea expectantis quid eveniat, optativus cogitantis quid fieri, sed neque an fiat, neque an possit fieri quaerentis“. – August Matthiä baut schon in der ersten Auflage seiner Grammatik entschieden auf den Sprecherbezug (1807, 718): „Beyde [sc. Conjunctiv und Optativ] stellen eine Handlung nicht im Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern vielmehr in ihrer Beziehung auf die Gedanken des Redenden vor; nur drückt der Conjunctiv dieses bestimmter und als gewisser aus, als der Optativ, so daß Indikativ, Conjunctiv, Optativ eine vollständige Abstufung in der Bestimmtheit des Gesagten dem Grade nach enthalten“. Zur 2. Auflage, in der diese Formulierung ersetzt ist, siehe unten mit Anm. 43. Letzteres beim Konj. Aorist (bzw. coniunctivus aoristi praeteriti, entsprechend lat. fuerit): hier kommt Hermanns Tempuslehre ins Spiel, vgl. oben Anm. 11.

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der Sachverhalt durch Erfahrung bestätigt wird‘.37 Der Konjunktiv lässt sich also, unter anderem, auch mit dem charakteristischen Merkmal vom Indikativ und Optativ abgrenzen, dass er die Erwartung des Sprechers bezeichnet. Zur Abgrenzung vom griechischen Futur heißt es zwei Seiten später unter der Voraussetzung, dass dieses offenkundig ein Indikativ sei („siquidem futurum aperte est indicativus“, 79): 38 ,Wenn man einfach nur sagen wollte, etwas liege in der Zukunft, verwendete man nach der Herausbildung des Futurs deshalb diese neue Kategorie; den Konjunktiv39 behielt man nur für die Fälle bei, in denen eine Art von Überlegung stattzufinden schien. Im Ergebnis bezeichnet der Konjunktiv eine Vermutung über das, was eintreten muss oder soll. Deswegen kann man ihn auf deutsch auch gut mit sollen übersetzen. Im Futur liegt nichts dergleichen‘.

Danach folgen drei homerische Beispiele, die dem Benutzer der großen griechischen Grammatiken von Kühner-Gerth und Schwyzer-Debrunner vertraut sind und in der Forschungsgeschichte, wie es wohl vorkommt, ein Eigenleben entfaltet haben.40 A 262  2 "% 8 +  D/    + %μ  … „[…] Nos id accommodate ad Graeca dicemus, noch soll ich sie sehen: quo significamus, non expectandum id esse“. Vgl. Kühner 1835, 101: „noch läßt mich die Gegenwart erwarten, daß …“; Schwyzer-Debrunner 1950, 210: „noch ist es künftig zu erwarten, wahrscheinlich, noch komme ich in den Fall“. Z 459 (u. ö.)  8 "/  +"& … „Non dicet aliquis, neque dicat opinor, ut si 5 vel +" dixisset, sed, expectandum est, ut quis dicat: da soll wohl einer sagen“. Vgl. Kühner 1835, a. a. O.: „da läßt es sich erwarten, daß ...“; Kühner-Gerth 1898, 218 „ich erwarte (hoffe, fürchte), dass einer sagt“; dagegen Schwyzer-Debrunner a. a. O.: „es könnte (dürfte, möchte) einer sagen“.41  437  ’ X D#,  ’  ,   /  … „Non est, neque erit, neque fuisse reperiatur: es ist keiner, noch wird einer seyn, noch soll wohl einer gewesen seyn. Nam si explicatius vim coniunctivi declarari voles,

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1826/27, 78: „Et coniunctivo quidem ubique significatio adhaeret futuri. Nam indicat ille quidem fieri aliquid, factumve esse, sed ita indicat, ut expectari postulet, donec experientia rem comprobet“. 1826/27, 80: „Itaque eo [sc. ipso modo deliberativo] sunt usi, donec futuro invento, ubi quid simpliciter futurum dicere vellent, futuri formam usurpare coeperunt, coniunctivum autem ibi tantum servarunt, ubi aliqua deliberatio locum habere videretur. Ea vero illuc redit, ut per coniunctivum coniectura aliqua de eo, quod debeat fieri, indicetur. Vnde fere Germanice ista verbo sollen licet exprimere. Cuiusmodi nihil inest in ipso futuro“. Hermann betrachtet ihn zu Recht als älter. Vgl. Tichy 2006, 20 f., wo Hermann fehlt. Unzutreffend, siehe Hermann a. a. O. („Non … dicat opinor“).

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haec erit, non esse expectandum, ut fuisse aliquem reperias”.42 Vgl. KühnerGerth a. a. O.: „nicht existiert, auch wird nicht existieren, auch nicht geboren werden (vgl. die Redensart ,der soll erst noch geboren werden‘)“; SchwyzerDebrunner a. a. O. zu  201: „noch ist zu erwarten, daß er es (wieder) wird“.

Es ist nicht einfach, die eben vorgeführten Aussagen und Beispiele gerecht zu bewerten. Nach dem Grammatiker Gottfried Hermann klingen sie eigentlich nicht, sie verraten eher den Textphilologen. Die drei homerischen Hauptsätze passen auch nicht so recht zu der grundsätzlichen, hier noch einmal dezidiert vorgetragenen Aussage, der Konjunktiv sei in jedem Fall inhaltlich und syntaktisch abhängig, ggf. mit Ellipse eines übergeordneten Prädikats (79): „Coniunctivus igitur eo differt ab indicativo futuri, quod non potest per se solus intelligi, sed, ut ipsum nomen indicat, aliunde pendere debet.“ Für den Grammatiker Hermann ist der futurische Konjunktiv aus dem dubitativen Konjunktiv im Nebensatz hervorgegangen (daher das Festhalten an ,soll‘), was den Philologen Hermann aber nicht vom rechten Textverständnis abhält; seine Interpretation der Homerstellen als Ausdruck der Erwartung wird deshalb eher dem Original gerecht, als dass sie zur argumentativen Umgebung passt. Die Frage des "3 '#, die sich nun stellt, lässt sich wohl nicht mit Sicherheit beantworten. Dass der Konjunktiv etwas bezeichne, „das sich als von äußern Umständen abhängig mit einiger Bestimmtheit erwarten lässt“, konnte man im gleichen Jahr 1827 auch in der zweiten Auflage der ,Ausführlichen griechischen Grammatik‘ von August Matthiä lesen, der dafür auf niemanden verweist.43 Die drei Beispiele für den Konjunktiv der Erwartung präsentiert Hermann jedoch in gleicher Weise wie die Beispiele für Inhibitivund Präventivsätze von 1810 (siehe oben); demnach bricht sich hier offenbar sein ausgereiftes Textverständnis Bahn. Wie dem auch sei – mit der sprecherbezogenen Funktionsbeschreibung, in der sich Hermann und Matthiä treffen, und Hermanns homerischen Beispielen beginnt eine Tradition der griechischen Grammatik, die sich in der Unterrichtspraxis der preußischen 42

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Letzteres Beispiel verwendet Hermann schon 1812, 29 f., mit der Übersetzung „der ist nicht, und wird nicht seyn, und soll nicht seyn“ und dem unbestimmten Hinweis, der Konjunktiv habe hier wie oft „fortiorem quamdam vim ac futurum, ita ut etiam a futuro distinguatur“. Im Kontext geht es um die dubitative und hortative Verwendung des Konjunktivs, s. oben Anm. 30. Die ,Erwartung des Sprechers‘ hat Hermann hier noch nicht im Blick, sucht aber bereits nach dem passenden Begriff. Matthiä 1827, 974: „Beide [Modi] stellen eine Handlung nicht als etwas Wirkliches, sondern vielmehr als etwas bloß Gedachtes vor. Das Gedachte aber ist entweder etwas bloß mögliches, wahrscheinliches, wünschenswerthes, also ungewiß, oder etwas, das sich als von äußern Umständen abhängig mit einiger Bestimmtheit erwarten läßt. Das erstere wird durch den Optativ, das zweite durch den Conj. bezeichnet“. Hermann ist in der an Literaturangaben reichen 2. Auflage viel zitiert, De particula  lag aber offensichtlich noch nicht vor. – In der ersten Auflage von 1807, 724, spricht Matthiä noch nicht von ,Erwartung‘, aber auch nicht von ,Abhängigkeit‘, worin sich jedenfalls der Einfluss Hermanns zeigt; vgl. das Zitat in Anm. 35.

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und Hannoverschen Gymnasien verselbständigt und dann, ganz ohne angreifbare logische Begründung, ab 1835 die Darstellung der großen Grammatiken prägt: Kühner,44 Kühner-Gerth,45 schließlich auch Abschnitte bei Schwyzer-Debrunner.46 Wäre es bei dieser Tradition geblieben, so hätte sich die Sprachwissenschaft einen großen Umweg erspart. Nach Hermann war es aber eben eine Tradition, die ihren Ort in der Homerlektüre an Gymnasien und in den wissenschaftlichen Beilagen zu deren Jahresprogrammen hatte, in der universitären Lehre und Forschung dagegen offensichtlich keine Rolle spielte. Die Indogermanistik war von Anfang an ein reines Universitätsfach und betrachtete Hermann verständlicherweise nicht als Autorität, ebensowenig aber grammatikschreibende Pädagogen wie August Matthiä oder Raphael Kühner. Ihr syntaktischer Hauptvertreter Berthold Delbrück begründete daher 1871, mit neunundzwanzig Jahren, eine eigene Tradition, die vom Altindischen und speziell von dessen ältester Schicht, der Sprache des Rigveda, ausging. Das Delbrücksche Modell der Modusfunktionen hat, wenn auch erst in Wackernagelscher Fassung, im 20. Jahrhundert kanonische Geltung erlangt, in meiner Generation auch außerhalb des deutschen Sprachbereichs. Von Delbrücks ursprünglicher Konzeption unterscheidet es sich durch eine schematische Vereinfachung: Während dieser für Konjunktiv und Optativ jeweils eine Grundfunktion, Wunsch und Wille, und daran anschließend eine Skala ,abgeschwächter‘ Verwendungsweisen ansetzte, unterscheidet Wacker44

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Kühner 1835, 100: „Der Konjunktiv bezeichnet ein Zukünftiges, dessen Entscheidung, von der gegenwärtigen Lage der Dinge aus betrachtet, erwartet wird, und unterscheidet sich demnach von dem Futur, welches die Entscheidung des Zukünftigen nicht erst auf die durch die gegenwärtige Lage der Dinge gegebene Erwartung des Sprechenden bezieht, sondern das Zukünftige schlechtweg als ein Gewisses und Zuverlässiges ausdrückt“. – Kühner 1870, 183: „Der Konjunktiv […] bezeichnet im Griechischen das Vorgestellte stäts als ein Zukünftiges […]. Der Konjunktiv unterscheidet sich aber von dem Indikative des Futurs dadurch, dass er die Verwirklichung der zukünftigen Handlung bloss als eine erwartete bezeichnet, während dieser dieselbe als eine Erscheinung, als etwas wirklich Eintretendes voraussetzt“. Kühner-Gerth 1898, 201: „Der Konjunktiv ist der Modus der Erwartung: der Redende deutet an, dass er die Verwirklichung einer Handlung erwartet. Der Optativ ist der Modus der Vorstellung: der Redende stellt etwas als blosse Vorstellung, als subjektiven Gedanken hin. […] Konjunktiv und Optativ sind von den ältesten Zeiten her sowohl als Ausdruck der einfachen Aussage, wie als Ausdruck des Begehrens verwandt worden und erscheinen dementsprechend in doppelter Funktion: der Konjunktiv teils in futurischem Sinne, wenn schlechthin die Erwartung der Verwirklichung ausgesprochen wird, teils in voluntativem Sinne, wenn das Erwartete zugleich als von dem Redenden gewollt erscheint; der Optativ teils in potentialem Sinne als Ausdruck des rein Gedachten, teils in wünschendem Sinne, wenn das Gedachte zugleich als von dem Redenden gewünscht erscheint“. Schwyzer-Debrunner 1950, 310: „Der prospektive Konjunktiv […] bezeichnet eine subjektive Erwartung des Sprechenden, während der Ind. Fut. zunächst etwas als nach der Auffassung des Sprechenden in der Zukunft bestimmt eintretend bezeichnet“.

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nagels erfolgreiche Variante auf beiden Seiten zwei Funktionen. Vorauszuschicken ist übrigens noch, dass die Indogermanistik sich in diesem Fall nicht wie gewohnt auf Pnini stützen konnte. Aus seiner eigenen Sprache kannte dieser nur noch die 1. Personen, die er wie schon erwähnt dem Imperativ zuschlägt; zur älteren Literatursprache merkt er an, der Konjunktiv werde „im Sinne des Optativs“ gebraucht, was für die funktionale Unterscheidung wenig hilfreich war. voluntativer Konjunktiv [ k u p i t i v e r ]47 O p t a t i v bezeichnet den Wunsch des Sprechers: bezeichnet den Willen des Sprechers: ,ich will, dass er kommt‘  ,ich wünsche, dass er kommt‘ ,er soll kommen‘ potentialer Optativ futurischer Konjunktiv bezeichnet die Möglichkeit: bezeichnet die Zukunft: ,er könnte kommen‘ ,er wird kommen‘

Vergleicht man dieses indogermanistische Modell mit der Tradition der griechischen Sprachwissenschaft, wie sie am klarsten in Kühners Grammatik niedergelegt ist, so könnte der Unterschied kaum größer sein. An mangelnden Griechischkenntnissen liegt es nicht, wohl aber an einer allzu selbstbewussten Abgrenzung. Delbrück will es, wie er 1871 (10 f.) sagt, „zum ersten Male unternehmen, eine vergleichende Darstellung der Moduslehre zu liefern“, und fährt fort: „Wir haben uns desshalb für berechtigt gehalten, von einer ausdrücklichen Rücksichtnahme auf unsere Vorgänger abzusehen, und zwar um so mehr, als es uns darauf ankommen musste, die ohnehin verschlungenen Pfade der Untersuchung durch abseits führende Polemik nicht noch verschlungener zu machen“. Das wäre zur Not hinzunehmen, wenn die philologische Tradition nicht doch etwas hätte beitragen können. Denn eigentlich konnte man damals längst nicht mehr behaupten, der futurische Konjunktiv bezeichne schlechthin die Zukunft – im Delbrückschen Modell ist aber nichts anderes vorgesehen. Dem Siegeszug des Modells tat dies keinen Abbruch. Bernhard Gerth nimmt 1898 darauf Rücksicht, ohne eine der Kühnerschen Positionen aufzugeben; Schwyzer-Debrunner verhalten sich schwankend oder, wie man in solchen Fällen wohl sagt, fein ausgewogen. Damit war der Fall scheinbar geklärt – oder wäre jedenfalls geklärt gewesen, wenn Delbrück Recht behalten hätte. Ich mache es kurz. Die Aussagen Delbrücks und das Delbrücksche Modell stimmen zwar dem Anschein nach zu der Verwendung des Konjunktivs im Rigveda, widersprechen aber dem sehr viel klareren und leichter fassbaren Befund der sich daran anschließenden Ritualprosa. Der Konjunktivgebrauch der vedischen Prosa ähnelt wiederum dem griechischen, ja ist damit in den Grundzügen identisch. Festgestellt und schonungslos ausge47

Der Terminus ,kupitiv‘ ist neueren Datums.

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sprochen hat das bereits 1877 der französische Indologe Abel Bergaigne,48 dessen Stimme jedoch nicht gehört wurde. Strenggenommen war die berühmte Schrift also schon sechs Jahre nach Erscheinen überholt; man wusste es nur nicht oder nahm es eben nicht zur Kenntnis. Gelehrte wie Brugmann und Thumb verhalten sich aber ohnehin nach beiden Seiten skeptisch, auch gegenüber den Ergebnissen der regen, um nicht zu sagen hitzigen Debatte unter zeitgenössischen Pädagogen. Dieser Diskussion entspringt schließlich 1908 eine Monographie Carl Mutzbauers mit dem Ergebnis, bei Homer bezeichne der Konjunktiv „immer“ die Erwartung des Sprechers, wenn nicht einer anderen Person. Meine eigene, von der vedischen Prosa ausgehende Untersuchung von 2006 bestätigt in mehreren Durchgängen anhand verschiedenen Materials, dass die Skepsis und der Widerspruch gegen Delbrücks Moduslehre Punkt für Punkt berechtigt war. Letzten Endes liegt meine Position nahe bei der von Kühner-Gerth.49 5. Um das Bild abzurunden, noch ein paar Worte zum Optativ. Im dritten Buch von De particula  heißt es dazu, wieder paraphrasiert: 50 ,Mit diesem Modus bringen wir unsere eigenen Gedanken in der Weise zum Ausdruck, dass Denken und Sprechen zusammenfällt. Der bloße Optativ, ohne die Partikel C, hat vier Funktionen: die kupitive, die präskriptive, die der höflichen Bitte und die potentiale. Der Wunsch ist aber seiner Natur nach nichts anderes als das Sich-Vorstellen eines Sachverhalts, nach dem es uns verlangt, weil er nicht Realität ist. Die Partikel C kann nicht dabei stehen, weil wir das Gewünschte um so weniger einer einschränkenden Bedingung unterwerfen wollen, als es für uns 48 49

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Bergaigne 1877, 58 ff., wiederabgedruckt in Tichy 2006, 37 ff. Hauptergebnisse von Tichy 2006: Der Konjunktiv hat einheitlich expektative Funktion und bezeichnet die subjektive oder intersubjektive Erwartung des Sprechers (,ich erwarte, dass …‘ oder ,es ist aus meiner Sicht zu erwarten, dass …‘). Die Einbeziehung des Gesprächspartners (,ich erwarte von dir/von euch, dass …‘) führt kontextabhängig zu interaktiven Verwendungsweisen und hortativen Illokutionen (RμY% ,lasst mich … nennen‘ im Sinne von ,ich erwarte, dass ich mit eurem Einverständnis sprechen werde und ihr mir eure Aufmerksamkeit schenken werdet‘). Auf diese Weise erklärt sich auch die – schon grundsprachliche – hortative Zweitfunktion der 1. Personen (+%μ ~ ai. áyma, vgl. lat. emus, ,lasst uns gehen‘, ,gehen wir‘). Die Annahme von ,Personenverschiebung‘ erübrigt sich; abweichender Gebrauch in Nebensätzen resultiert aus der sprachhistorischen Verfestigung einzelner Satztypen, d. h. aus Grammatikalisierungsprozessen. Hermann 1826/27, 154: „… eo [sc. optativo] nostra ipsorum cogitata sic enunciamus, ut non distinguamus cogitantem ab loquente. Habet is autem ipse per se sine particula C quattuor formas: nam vel optantis est, vel iubentis, vel volentis, vel opinantis. [Absatz] Atque optatio natura sua nihil est nisi cogitatio rei, quam, quum non sit, esse cupimus. Ea necessario caret particula C, quia quod optamus tantum abest ut conditione aliqua restringi velimus, ut ipsum habeamus pro conditione, qua impleta bene nobis fore speremus. Vnde multae optationes etiam cum particula conditionali proferuntur: + μ @8 / μ5 , Z" [   \ %  %  "2%: i. e. si id fiat, bene mihi sit“.

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schon selbst eine Bedingung darstellt, die erfüllt sein muss, damit es uns so gut geht wie erhofft. Daher kommt es, dass viele Wünsche eine konditionale Konjunktion enthalten: + μ @8 … μ5 [,wenn doch die Moira mit mir wäre …‘, Soph. OT 863], das heißt: wenn der Sachverhalt einträte, wäre ich gut daran‘.

Durch Verselbständigung konditionaler Nebensätze konnte der kupitive Optativ noch im Griechischen aus dem potentialen Optativ hervorgehen, und auf diese oder ähnliche Weise erklärt sich die kupitive Funktion auch insgesamt als Ableger der potentialen. Das Belegmaterial der indogermanischen Sprachen wurde allerdings noch nie unter diesem Gesichtspunkt untersucht und dargestellt, denn die Indogermanistik hielt sich auch hier strikt an das Delbrücksche Modell. Delbrück selbst gestand zwar 1888 ein, dass es ihm nicht gelungen sei, den potentialen Optativ durch ,Abschwächung‘ aus dem Ausdruck des Sprecherwunsches herzuleiten.51 Mehr als das nahm er von der Moduslehre, die er in jungen Jahren mit großem Erfolg publiziert hatte, zeitlebens nicht zurück – und auch diese Selbstkritik war nicht von Dauer. Gottfried Hermann und Berthold Delbrück, der Heros der griechischen und der Heros der indogermanischen Syntax, haben bei allem Antipodentum eines gemeinsam: Beide veröffentlichten mit noch nicht dreißig Jahren eine grundlegende Abhandlung, die viel gelesen wurde, große Zustimmung fand und schnell berühmt wurde. Ihr späteres Werk war dadurch auf Grundannahmen festgelegt, bei denen sie fortan blieben und ihren überzeugten Lesern, Schülern und Anhängern zuliebe wohl auch bleiben mussten, selbst wenn sie gern noch einmal frei entschieden hätten. Aber das ist wohl die Schwäche der Heroen, die beizeiten zu wissenschaftlichem Ruhm gekommen sind, und auch der Preis, den sie – und mit ihnen die Wissenschaft – dafür zu zahlen haben.

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Delbrück 1888, 302: „Jetzt gebe ich zu, dass es mir nicht gelungen ist, überzeugend darzuthun, wie der potentiale Optativ sich aus dem wünschenden entwickelt, und halte es also für vorsichtiger, als indogermanisch die beiden Typen des wünschenden und des potentialen Optativs anzusehen“. Wieder zurückgenommen 1902, 328 ff.

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Zur Idee der Philologie. Der Streit zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh

Als 1825 die Kontroverse1 mit Gottfried Hermann offen ausbrach, sah sich August Boeckh mit diesem in dem „sonderbaren Verhältniss einer durch wechselseitige Befehdungen unterhaltenen Freundschaft“2 stehen, und ich möchte dieses ,sonderbare Verhältniss‘ analysieren und versuchen, hinter das Schlagwort von der Auseinandersetzung zwischen ,Wort- und Sachphilologie‘ zu blicken, unter dem der Boeckh-Hermann-Streit in den Annalen der Philologie für gewöhnlich rubriziert wird. Ja, ich halte die Interpretation des Gegensatzes zwischen Hermann und Boeckh als eines Widerstreits von Wort- und Sachphilologie – wiewohl sie sich zum Teil auf den Wortgebrauch der Kontrahenten stützt – für irreführend, um nicht zu sagen für absurd, weil weder Boeckh dem Klischee des Sachphilologen noch Hermann dem des Wortphilologen entsprach. Als „widersinnig und durchaus unwissenschaftlich aufgebracht“ hat etwa auch schon Körte in seiner 1833 publizierten Biographie von Friedrich August Wolf 3 den damals noch aktuellen Kampf zwischen ,Wort- und Sachphilologie‘ bezeichnet. Im Folgenden soll es daher um zwei leicht modifizierte Fragen gehen: 1. Woraus ist der Konflikt faktisch entstanden? 2. Worum ging es eigentlich, bzw. worum hätte es gegangen sein können, wenn die beiden Kontrahenten sich all ihrer Motive tatsächlich bewusst gewesen wären? Denn – dies sei vorweg entschuldigend angemerkt – auch Größen wie Boeckh und Hermann konnten nicht aus ihrer Haut, aus ihren Charakteren, aus ihrer Epoche ausbrechen, und es hat auch heute noch etwas Verstörendes, würdige Familienväter, umsichtige Universitätspolitiker und bewährte Akademiemitglieder mit einer Verbissenheit gegeneinander vorgehen zu sehen, die an die Verblendung antiker Heroen grenzt. 1 2

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Zu dieser Kontroverse siehe v. a. Lehmann 1964; Vogt 1979; Nippel 1997. Aus Boeckhs ,Antikritik‘: Boeckh 1858 ff., Bd. 7, (255–61) 255; abgedruckt in: Hermann 1826, (66–73) 66. Körte 1833, I 197 f.: „In den späteren Vorträgen der philologischen Encyklopädie hatte Wolf nur zu viel Veranlassung, den widersinnig und durchaus unwissenschaftlich aufgebrachten Unterschied zwischen Sach-Philologen, als welche sich bei’m Studium des classischen Alterthums ausschliesslich nur mit dem beschäftigen, was sie Sachen nennen, – und den Sprach-Philologen, als die dabei ausschliesslich nur der Sprache ihr Augenmerk widmen – nicht ohne beissenden Witz zu beseitigen“.

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Dabei hatte alles ganz anders angefangen. Der junge August Boeckh, der nach seiner 1806 in Halle erfolgten Promotion soeben mit 23 Jahren zum Extraordinarius in Heidelberg berufen worden war,4 widmete 1808 dem ihm persönlich nicht bekannten, doch weithin angesehenen Leipziger Philologen Gottfried Hermann5 sein Buch über die griechischen Tragiker mit einem gut zehnseitigen lateinischen Vorwort,6 dessen huldigender Ton fast schon an Lobhudelei grenzt. Hermann nahm, wie wir aus einem erhaltenen Brieffragment7 wissen, die Widmung an, doch wenn man den Passus genau liest, stößt man auf erste Anhaltspunkte für das, was kommen sollte: „Ich selbst habe nächst so vielem, was ich daraus gelernt habe, noch den Vortheil davon, daß ich mancher Untersuchung, die ich noch vornehmen wollte und die nun von Ihnen vollendet ist, überhoben sein kann“. Im Lob Hermanns versteckt sich auch schon ganz offensichtlich die Konkurrenzsituation, denn der Fluch eines hochspezialisierten Faches ist es ja, dass meist in denjenigen, die eine Leistung am kompetentesten beurteilen können, zugleich auch schon die Rivalen warten. Boeckh brach mit seinem Buch über die attischen Tragiker – daran kann auch die Widmung nichts ändern – in Hermanns bisherige Domäne ein. Und ganz harmlos war Boeckh – nach eigener Einschätzung – auch schon als junger Philologe nicht, sondern vielmehr „geneigt zu Spott und strengen Urteilen“.8 Eine noch folgenreichere Grenzüberschreitung war Boeckhs nächste Arbeit über die Metrik Pindars,9 denn Metrik war Hermanns ureigenstes Reich, das er schon mit zwei Handbüchern gleichsam befestigt hatte, auf die zwei weitere folgen sollten.10 Auch in diesem Fall spart Boeckh zunächst nicht mit Lob: „Nach Aloys Mingarelli hat insbesondere der treffliche Hermann die wahre Abtheilung der Verse ausfindig zu machen gesucht, und die Gründe derselben theils in der Commentatio de metris Pindari, theils vollständiger hernach in dem Handbuche der Metrik, B. III, C. 4 entwickelt“.11 Im entscheidenden Kapitel V (,Beweis, daß in den Pindarischen Gedichten keine Bre4

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Zur Vita Boeckhs siehe Stark 1869; Stark 1875; Hoffmann 1901; Reiter 1902; Schneider 1989; Poiss 2009. Zur Vita Hermanns siehe Rainer Kößling im vorliegenden Band. Daneben: Jahn 1869; Köchly 1874; Schmidt 1990. Boeckh 1808, v–xvi. Hoffmann 1901, 22 Anm. 2. Bei Boeckh 1808, xv liest man: „ipse, quos refutavi, ad solam causam intentus, non invidiose nec maligno dente carpsi, quamvis natura pronus ad irrisionem ac severa iudicia“ (Kursivierung Th. P.). August Boeckh, Über die Versmaße des Pindaros, Berlin 1809. Hermann 1796; 1799; 1816; 1818. Boeckh 1809, 25. Bei der im Zitat erwähnten Passage bei Hermann handelt es sich um Hermann 1799, Buch III, Kap. 4, 231–68: ,Von den strophischen Versen‘. Hermann zählt dort (§§ 416 ff.) sechs Kriterien zum Auffinden der Versabteilung auf: 1. bekannte Verse aufsuchen; 2. Interpunktion, Zusammenhang der Worte; 3. Endigung eines Wortes mit dem Ende des Verses („meist sehr unsicher“); 4. Maaß der Endsilbe („der sicherste Abtheilungsgrund“); 5. Hiatus; 6. der Rhythmus des [sc. gebrochenen] Einzelwortes.

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chung der Wörter statt finde‘)12 schlägt der dreiundzwanzigjährige Boeckh dann allerdings einen Ton an, welcher den Triumph über den Metriker Hermann überdeutlich durchklingen lässt, der das Prinzip der Wortgrenze nie ganz anerkannte. In der ,Nachschrift‘ von Boeckhs Buch kann man denn auch lesen, dass es schon zwischen der Abfassung des Textes als Aufsatz und dessen Drucklegung als Buch im August 1809 zur ersten Auseinandersetzung mit Hermann gekommen war, die sich aber noch leidlich beilegen ließ.13 Ganz klar wird die Schärfe des Konflikts, als schließlich im ersten Band von Boeckhs Pindarausgabe 1811 auch die Pindarmetrik definitiv erscheinen sollte.14 Boeckh ging im Vorwort des gesamten Bandes auf Hermann nur mehr kurz ein,15 ehe er sich selbst als ersten stilisiert, der die griechische Metrik wieder restituiert habe.16 Boeckh war sich seiner Sache ganz sicher: dass er als erster mit dem Prinzip ,jede Versgrenze gleich einer Pause‘17 ein Kriterium gefunden hatte, in unübersichtliche metrische Sequenzen trennscharfe Grenzen einzuziehen. Hermann beherrschte das gesamte übrige Material, aber die unterscheidende Definition von Kolon und Vers findet sich so nicht bei ihm,18 auch nicht in seinen Elementa doctrinae metricae von 181619 und auch nicht in den metrischen Beigaben der dritten Auflage von Heynes Pindar aus dem Jahre 1817.20 Hermann nahm Boeckhs Einsicht nicht zur 12

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Boeckh 1809, 41–99. Er führt dort an Pyth. 4, Olymp. 1 und 2 den Beweis für seine Methode, dass durch Beobachtung von Hiat, Syllaba anceps und Responsion im Verein mit dem Kriterium des Wortendes sicher die Versgrenzen gefunden werden können und Wortbrechungen allenfalls in Kompositionsfugen von Komposita auftreten. Boeckh 1809, 185–97. Boeckh hatte den Text schon im November 1808 als Aufsatz eingereicht (erschienen im Museum der Alterthumswissenschaft 2, 1810, 167–332) und brieflich bei Hermann angekündigt, der sich daraufhin den Text von der Redaktion mitteilen ließ und mit Boeckh darüber offenbar heftig korrespondierte. – Boeckh berichtet davon kurz in einem Brief an Welcker (Heidelberg, 4. April 1809: Hoffmann 1901, 154), und Hoffmann (1901, 23 Anm. 1) erwähnt, dass ein „ausführlicher Briefwechsel zwischen Boeckh und Hermann, die Metrik betreffend, aus den Jahren 1808-1812, 1814 und 1815“ existiert habe. Boeckh 1811 ff., Bd. 1. 2, 1–340. Boeckh 1811 ff., Bd. 1. 1, xxix–xxxi; dazu der Angriff auf Hermanns kantische MetrikGrundlage, das Prinzip des Rhythmus bestehe in der „causarum et effectuum mutua cohaerentia“: 1. 2, 8 f. Boeckh 1811 ff., Bd. 1. 1, xxix. Boeckh 1811 ff., Bd. 1. 2, 82: „versum (86) dicimus aut unum ordinem sive perfectum sive catalecticum, qui absolutus est neque aliis connexus, aut plures sibi connexos, ab aliis autem distinctos ordines: quae quidem distinctio fit silentio“. Die Kriterien wiederum hierfür gibt Boeckh 308 ff. Vgl. den Beitrag von Gauthier Liberman im vorliegenden Band. Hermann 1816, 664–70, v. a. 666. Die Wortgrenze wird von Hermann 1799 nur in § 421 als Kriterium erwähnt, aber durch den Zusatz „meistens sehr unsicherer Abtheilungsgrund“ sofort entwertet. Hermann spricht weiterhin explizit von Silben aus der Wortmitte, die am Versende stehen, und erläutert dies (1817, 189) am Beispiel von Olymp. 3, 16 Boeckh = 3, 28 Heyne: „sedulo cu-

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Kenntnis,21 sondern tadelte Boeckh und bezichtigte ihn der Flüchtigkeit.22 Als kurz danach Boeckh (1819) die Pindarscholien herausbrachte, kostete er seinen Triumph im Vorwort weidlich aus: Er inszeniert ein Gespräch mit Unbekannten, die ihn auffordern, seine Pindarerkenntnisse gegen den „schärfsten und unversöhnlichsten Feind und Widersacher“23 zu verteidigen. Wer das wohl sei? Boeckh lässt genüsslich eine Reihe von Namen passieren, darunter auch jenen von Friedrich Thiersch, einem Schüler Hermanns, mit dem aber der Streit beigelegt sei und der anerkenne, dass Boeckh einen „Goldtopf“24 gefunden habe. Also könne es sich nur um den Streit allein mit Hermann handeln, „homine et amplissimo et mihi ita favente ut ego ipsi faveo“. Besser und böser als Boeckh kann man das ,seltsame Verhältniss‘ wirklich kaum formulieren. Hermann behaupte nun, so Boeckh, er habe denselben Schatz schon lange gefunden, müsse aber nun feststellen, dass er statt Gold nur Kohlen gefunden habe. Und dann geht Boeckh auf drei Seiten ins Persönliche und Physiognomische der Wissenschaft: Hermann bilde sich ein, er habe zusammen mit seinen Schülern ein Reich mit festen, abgeschlossenen Grenzen errichtet, außerhalb dessen niemand sonst Entdeckungen machen könne. Während doch in Hermanns Elementa doctrinae metricae Gedanken Boeckhs eingegangen seien, auf die er von selbst nie gekommen wäre! 25 Hermann muss vor Wut geplatzt sein, als er das las, zumal ja auch noch die Sache mit seinem Schüler Thiersch stimmte. Im Vorwort von dessen 1820 erschienener Pindarübersetzung, die erstmals ganz ,in den pindarischen Versmaaßen‘ abgefasst war, weist Thiersch darauf hin, dass er sich „sowohl in den Lesarten als in den Versabtheilungen“ an den Text von Boeckh gehalten habe (mit der Implikation: nicht an den Text von Heyne und Hermann), und fügt sogar noch unmissverständlich hinzu: „Weit genauer, wie dem Texte von Böckh, folgt diese Arbeit seiner metrischen Anordnung des pindarischen Gesanges. Nur in wenig Stellen schien es dringend, die böckhischen Versabtheilungen abzuändern, vor allem aber den Grundsatz festzuhalten, daß mit jedem Vers auch das Wort zu Ende gehe und jede Brechung vermieden werde“.26 Und Boeckh bezog einen Gutteil seines Selbstbewusstseins aus dieser Sache. Als er 1820-22 in der Berliner Akademie seine Abhandlungen ,Über die kritische Behandlung der Pindarischen Gedichte‘ las, heißt es dort: 27 „So ist das Gesagte [sc. dass so gut als niemals ein Versende in die Wortmitte fällt] so erwiesen, dass ich überzeugt bin, diejenigen, welche

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rarunt poetae, ut mediae vocabulorum syllabae, quum in fines versuum incidunt, omni carerent ambiguitate“. Vgl. Hermann 1818, 15 (§§ 40 und 41) und 238 (§ 566). Hermann 1816, xvii. Boeckh 1811 ff., Bd. 2. 1, xxxvii: „acerrimum tuum et implacabilem inimicum et adversarium“. Boeckh 1811 ff., Bd. 2. 1, xxxvii: „ollam auri“; der Ausdruck stammt von Thiersch. Boeckh 1811 ff., Bd. 2. 1, xxxx. Die beiden Zitate bei Thiersch 1820, Bd. 1, 23 und 24. Boeckh 1858 ff., Bd. 5, 248–396; das Zitat dort 256.

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strenge Beweise würdigen können, ich meine die Mathematiker oder welche mathematisch gebildet sind, müssen es zugeben ...“. Dass Boeckhs und nicht Hermanns Prinzipien zu Beginn einer modernen Metrik genannt werden,28 dass Pindar-Verse heute nach Boeckh, und nicht nach Heyne/Hermann gezählt werden, gibt ihm darin recht – auch wenn die Eingeweihten wissen, wie ungerecht dies gegenüber Hermann ist, der schließlich nach Boeckhs eigenen Worten für die antike Metrik geleistet hat, was Kant für die Philosophie!29 Überblickt man die Boeckh-Hermann-Kontroverse in ihrem dokumentierten Verlauf, so ist sie im Kern als eine tief ins Persönliche gehende Metrikerfehde entstanden, bei der es um den Ruhm des ersten Wiederherstellers der antiken Metrik ging, sofern dieser Titel in der Philologie zu vergeben ist. Das mag aus heutiger Perspektive, wo Metrik meist als subtile Randdisziplin abgetan wird, skurril erscheinen, doch lässt sich z. B. aus Wilhelm von Humboldt erkennen, dass Metrik zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Königsweg zum innersten Nationalcharakter der Griechen angesehen werden konnte: 30 Der Metriker versteht die Griechen nicht nur, sondern er allein fühlt sie unmittelbar. Daneben mag eine kleinere Rolle gespielt haben, dass Hermann, der geborene und überzeugte Leipziger von Leipzig aus mitansehen musste, wie ein dreizehn Jahre jüngerer Mann, den man äußerlich noch mit einem Studenten verwechseln konnte,31 in Berlin eine märchenhafte Karriere machte, indem er schon mit 25 Jahren Professor poeseos et eloquentiae war, und in das 28 29

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West 1982, 5. Boeckh 1811 ff., Bd. 2. 1, 12: „Neque male mihi dixisse videor, si Hermannum in hoc metrico et grammatico genere id antiquis litteris praestitisse dixero, quod in philosophia praestitit Kantius: nam ut ab hoc in philosophia, ita ab illo in arte grammatica et metrica coeptum est ratione agi, quum antea nostrates ex arbitrio philosopharentur et de numeris ac sermone Graeco statuerunt plerumque. Haec non potui non publice profiteri; nunc pergo ad alia.“ Dass im Vergleich mit Kant auch eine Spitze gegen den deduktiv-logischen, skeptischen, sozusagen ,kritischen Philologen‘ Hermann gesehen werde konnte, ist Dissen nicht entgangen; in einem Brief vom 14. Feb. 1823 sagt er (Boeckh–Dissen 1907, 122): „Die Vergleichung Hermanns mit Kant ist höchst treffend, auch wenn man die Kehrseite betrachtet, woran Sie dort natürlich nicht gedacht wissen wollen, ich aber unwillkürlich auch dachte“. – Zu Hermann als Metriker siehe im vorliegenden Band den Beitrag von Libermann, zu Hermann und Kant denjenigen von Michael Schramm. Humboldt 1909, 135 f.: „Der Rhythmus, wie er in den Griechischen Dichtern, und vorzüglich in den dramatischen, denen keine Versart fremd bleibt, waltet, ist gewissermassen eine Welt für sich, auch abgesondert vom Gedanken und der von Melodie begleiteten Musik. Er stellt das dunkle Wogen der Empfindung und des Gemüthes dar, ehe es sich in Worte ergiesst […]. Die Griechen sind das einzige Volk, von dem wir Kunde haben, dem ein solcher Rhythmus eigen war, und dies ist, meines Erachtens, das, was sie am meisten charakterisiert und bezeichnet“ (aus dem Vorwort der AgamemnonÜbersetzung, Leipzig 1816). Twesten 1889, 161 f.: „Heute abend (= 30. 3. 1811) war ich in Gesellschaft bei Wolf, wo ich unter andern auch […] Böckh sah. Dieser ist noch sehr jung und hat noch das Ansehn eines Studenten, wofür ich ihn auch anfangs hielt“.

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personelle Macht-Vakuum vorstieß, das der durch zickige Allüren alle Menschen verprellende und sich so ins Abseits manövrierende Wolf in Berlin eröffnete.32 Und zwar auf einem Posten, den Hermann hätte einnehmen können. Höchstwahrscheinlich wäre er wohl nie aus Leipzig weggegangen, doch aus Briefen wissen wir, dass er mit Humboldt hoch um eine Berliner Professur verhandelt hat: Während das Normalgehalt eines Professors in Berlin 1500 Taler betrug, forderte und erhielt Hermann 2000 Taler auch zugesagt, dazu noch Reitpferd und Dekanat. Trotzdem sagte er ab, und nur fünf Tage später nahm Boeckh den Ruf nach Berlin an.33 Aber dies nur der Vollständigkeit halber, denn unmittelbar bevor der Streit durch Hermanns Rezension des ersten Faszikels des Corpus Inscriptionum Graecarum im Herbst 1825 endgültig eskalierte, gab es noch einmal einen kurzen, heftigen Schlagabtausch in Sachen Metrik. Hermann publizierte 1824 De epitritis Doriis, und Boeckh ließ keine Zeit verstreichen und antwortete unmittelbar mit De Doriis epitritis im Vorwort des Vorlesungsverzeichnisses zum Sommer 1825.34 Hermanns Aufsatz nimmt direkt Bezug auf das Vorwort der Scholien-Ausgabe und stürzt sich in den metrischen Kleinkampf um die Binnenstruktur der Epitriten; Boeckh bleibt ihm nichts schuldig.35 Im Sommer 1825, also im aufgeheizten Klima dieser akuten Epitriten-Diskussion, erscheint der erste Faszikel des Corpus Inscriptionum, an dem Boeckh seit mehr als zehn Jahren gearbeitet hat – und dann schlägt Hermann richtig zu. Er hat diese Rezension in einem Brief vorab angekündigt.36 Boeckh hat darauf noch vor Erscheinen der Rezension geantwortet,37 aber es war nichts 32 33

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Zu Wolfs Desaster in Berlin vgl. Ph. Mattson im Vorwort zu: Humboldt 1990, 5–8. Die betreffenden Briefe Hermanns an Wilhelm v. Humboldt sind abgedruckt bei Lenz 1910, Bd. 4, 118–21; zum Professorengehalt: Lenz, Bd. 2. 1, 408 f. Hermann 1828 ff., Bd. 3, 83–97; Boeckh 1858 ff., Bd. 4, 213–27. Es geht um jenen zweiten Teil der sog. Daktyloepitriten, der meist durch drei lange und eine kurze Silbe realisiert wird. Hermann analysiert dies als Dipodie aus Trochäus und Spondeus, während Boeckh sich, gestützt auf antike Musiktheorie, für eine einheitliche, wenn auch irrational (3 : 4) gewichtete rhythmische Entität entscheidet. Boeckh–Müller 1883, 173 f. (,Gottfr. Hermann an Aug. Böckh‘, datiert vom 6. Sept. 1825). Hermann eröffnet höflich – „Unglücklicherweise fand ich, dass ich mehr, als ich gewünscht hätte, mich gegen Sie erklären musste“ –, bekennt sich aber zur Wahrheit als einzigem Maß und versucht verbindlich zu enden: „Wie wenig Ihnen also auch meine Recension Ihres Buches gefallen wird, so werden Sie doch daraus, dass ich mich im Voraus dazu bekenne, abnehmen können, dass, was ich über Ihre Behauptungen und Ihre Art diese Materie zu behandeln sage, keinen Einfluss auf meine persönlichen Gesinnungen gegen Sie hat“. Freilich folgt dann nur noch eine trockene Empfehlung an Buttmann und ein freundlicher Scherz über Bekker. „Der Ihrige Hermann“. Boeckh–Müller 1883, 174–76 (,Aug. Böckh an G. Hermann‘, datiert vom 24. Sept. 1825). Boeckh antwortet verbindlich, aber bestimmt mit einem seinerseitigen Bekenntnis zur Wahrheit und der Versicherung: „Bei meiner grossen Achtung für Ihr Wissen thut es mir leid, gerade mit Ihnen immer tiefer verwickelt zu werden; aber ich glaube in dem, was ich gegen Sie schreibe, die persönliche Achtung nicht zu verletzten“. Boeckhs Brief baut auch schon vor: „Ich bin völlig überzeugt, wenn wir an Einem Orte lebten, und mündliche Mittheilungen zwischen uns stattfänden, würden wir uns aussprechen, ehe

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mehr aufzuhalten. Hermanns Angriff ging wirklich ad personam, weil er schon kaum mehr auf das zu rezensierende Werk zielte, dessen Konzept und Aufbau man der Rezension kaum entnehmen kann, sondern Boeckh sollte durch Einzelinterpretation als jemand ruiniert werden, der nicht Griechisch kann, verknüpft mit der zwietrachtsäenden Bemerkung, einem Bekker, der mit Buttmann zu den engsten Berliner Philologenfreunden Boeckhs zählte, wären solche Fehler nicht unterlaufen.38 Die Schärfe des Tons und die Enge der Stellenauswahl sind, bei aller sachlich berechtigten Kritik, maßlos. Selbst Hermanns Schüler Fr. Thiersch schreibt darüber an Dissen, was dieser unmittelbar an Boeckh berichtet:39 „Gestern erhielt ich einen Brief von Thiersch, worin steht: Hermann ist über Böckhs großes und vortreffliches Inschriftenwerk mit einer Härte und Schamlosigkeit hergefallen, die ich seiner Rachsucht nicht zugetraut hätte. Es ist offenbar die Antwort auf Böckhs Vorrede zu den Scholien des Pindar und soll eine Retorsion sein. Ich wünsche daß Böckh sich nichts anfechten läßt. Dieses Wesen und Unwesen wird spurlos vergehen, sein Werk und sein Name auf die Nachwelt gehen“. Ganz so einfach sollte es nicht werden, denn die Fehde währte Jahrzehnte. Sie wurde erst spät, d. h. in den 1840er-Jahren beigelegt, wohl – wie Wilfried Nippel plausibel macht40 – auch unter dem Rechtfertigungsdruck, unter den die Klassische Philologie allmählich geriet. Boeckh selbst replizierte 1825 zunächst nur kurz,41 die Hauptverteidigung übernahm sein Schüler Moritz Meier, der Hermanns Kritik einer ausführlichen ,Analyse‘ unterwarf, dabei aber leichtfertigerweise zum Schluss auch noch Hermann wegen dessen Ausgabe des Oidipus auf Kolonos angriff, was nun wirklich nichts zur Sache tat.42 Hermann ließ alles zusammen 1826 in dem Band ,Über Herrn Böckhs Behandlung der griechischen Inschriften‘ drucken, worin er seinerseits Meiers Kritik mit 248 Fußnoten versah: Selten lässt sich die Verbissenheit eines Streits schon allein aus dem Druckbild so gut entnehmen wie bei diesem Buch, das den Gegner im Vorwort, in Rezensionen und Erwiderungen, in Appendizes und auch aus den Gräben des Seitenfußes heraus angreift. Boeckh seinerseits replizierte auf die zusätzlichen Angriffe Hermanns, die in den Anhängen des die Polemiken zusammenfassenden Bandes enthalten waren, im ersten Band des ,Rheinischen Museum‘ von 1827 mit

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der eine gegen den anderen die Feder eintauchte. Da dies aber nicht so ist, so führen wir beständige Fehde, obgleich ich der Polemik längst müde bin. So sehe ich denn auch Ihrer Recension mit der Aussicht entgegen vielleicht gegen dieselbe schreiben zu müssen, wenn die Sache so angethan ist, dass ich nicht dazu schweigen kann“. Die Schlussformel lautet in feiner Ambivalenz: „Nun bis auf Weiteres nehmen Sie von mir ein herzliches Lebewohl. Bh.“. Hermann 1826, 19 (und 18). Boeckh–Dissen 1907, 191 (Brief Dissens, vermutlich vom 18. Oktober 1825). Nippel 1997, 248–50. Vgl. Hoffmann 1901, 48–62, insbes. 60–62. Hermann 1826, 66–73; der Text erschien zuerst im Oktober 1825 in der Hallischen Allgemeinen Litteratur Zeitung. Hermann 1826, 78–180.

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einem Aufsatz zu den ,Logisten und Euthynen‘,43 und hob eine weitere Antwort für die Publikation des gesamten Inschriften-Bandes auf.44 Am interessantesten an diesem Band ist das Vorwort Hermanns, da es eine seiner wenigen größeren programmatischen Äußerungen ist. Zunächst werden die Sachphilologen abgekanzelt, die „mit dem Vorgeben, wichtigere Dinge, Sachen zu betreiben, den Mangel des Fleißes, den sie zuvörderst auf die Sprache hätten verwenden sollen, bedecken zu können wähnen“, indes: „Die wahren Philologen dagegen, wohl wissend, daß man im Fluge zwar schnell zu einer Höhe gelangen könne, wo man in der Vogelperspective sehr vieles übersieht, aber nichts recht unterscheiden kann, gehen einen andern Weg, und, indem sie die Geisteswerke der Alten für das vornehmste und wichtigste halten, sehen sie die Sprache als die schwerzuersteigenden Propyläen zu dem gesammten Alterthume an“.45 ,Wahre Philologie‘ im Sinne Hermanns ersteigt also die Sprache als die Propyläen – als Eingangsbereich wozu eigentlich? Ja, zum gesamten Altertum, aber über dieses erfahren wir von Hermann herzlich wenig. Das Schlagwort von der wahren, auf die Sprache konzentrierten Philologie erweist sich als ebenso leer wie der gegen Boeckh und die Seinen gerichtete Vorwurf der Sachphilologie. Das Leitwort vom ,gesammten Alterthume‘ weist aber auf eine wichtige Spur. Denn eigentlich hat ja doch Boeckh den Streit vom Metrischen ins Grundsätzliche gewendet – an einer Stelle, die Hermann nie explizit zitiert und die, soweit ich in der Literatur sehen kann, auch kaum entsprechend gewürdigt worden ist: 46 In der Einleitung zur ,Staatshaushaltung der Athener‘ zieht Boeckh gegen die Wortphilologen los:47 „Ein Entwurf des Ganzen, mit wissenschaftlichem Geiste und umfassenden Ansichten gearbeitet, und nach festen Begriffen geordnet, nicht wie die bisherigen ein roher und unzusammenhängender Wust, nicht von einem Zusammenträger, sondern einem Forscher und Kenner, ist umso mehr Bedürfnis des gegenwärtigen Zeitalters, je mehr sich die Masse der Alterthumsgelehrten, der jüngeren vorzüglich, in einer an sich keineswegs verächtlichen, aber meist auf das Geringfügigste gerichteten Sprachforschung und kaum mehr Wort-, sondern Silben- und Buchstabenkritik selbstgenügsam gefällt, bei welcher die echten Philologen früherer Jahrhunderte ihre Beruhigung nicht gefunden hatten und wodurch diejenigen, die ihrem Namen zufolge Nachfolger des Eratosthenes, im Besitz der ausgebreiteten Kunde sein sollten, in der Form untergehend zu vornehmen Grammatisten einschrumpfen und unsere Wissenschaft dem Leben und dem jetzigen Standpunkte der Gelehrsamkeit immer mehr entfremden“. 43

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Boeckh 1858 ff., Bd. 7, 262–328 (= RhM 1, 1827, 39–107) als Antwort auf Hermann 1826, 220–38. Boeckh 1828, 869–76 (zur Sigeischen Inschrift) als Antwort auf Hermann 1826, 190–219. Hermann 1826, 8. Nur Nippel 1997, 245 zitiert die Stelle in voller Erkenntnis ihres Gewichts. Boeckh 1817, Bd. 1, v–vi.

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Das war schon deutlich, und man kann verstehen, dass sich ein Philologe wie Hermann, der zwar nicht mehr zu den ,Jüngeren‘ gehörte, über solche Anmaßung geärgert haben muss. Aber dennoch ist auch dies nur reine Polemik ohne Tiefe. Denn weder hätte Boeckh zugegeben, dass ihn die Sprache nicht interessiere oder er sie nicht perfekt beherrsche – schließlich hatte er eine maßstabsetzende Pindarausgabe veranstaltet und man erwartete eine Platonausgabe oder zumindest eine Ausgabe des Timaios von ihm48 – noch hätte Hermann je zugegeben, dass ihn die Sachen nicht interessierten oder er sie nicht beherrsche. Es ist ihm sogar ein Vergnügen, gegen Müller Realien zum Theater auszuspielen,49 und in der Vorrede zu seiner 200seitigen Kritik von Müllers Eumeniden steht auch das schönste Gleichnis, das den Streit zwischen Sach- und Wortphilologie vollends als Chimäre entlarvt: 50 „Wie das Gehen durch wechselseitiges Fortschreiten eines Fusses vor den anderen bewerkstelligt wird, so pflegen auch die Wissenschaften theilweise abwechselnd fortzuschreiten. Hätte jeder Fuß sein besonderes Bewußtseyn, so wäre es lächerlich, wenn der jedesmal vorausgeschrittene sich darauf etwas einbilden, und den zurückgebliebenen verachten wollte, auf den er sich doch stützen musste, um voraus zu kommen, und sogleich ihm wieder voraus seyn wird; noch lächerlicher aber, wenn er, ausgestreckt, ohne Boden unter sich zu haben, sich seines Fortgeschrittenseyns rühmte. Die Gelehrten vergessen es manchmal, dass sie gleichsam die Füsse sind, auf denen die Wissenschaft fortschreitet“. Nimmt man dieses Gleichnis ernst, so bekennt sich Hermann damit zur wechselseitigen Bezogenheit zweier philologischer Richtungen, denn er selbst ordnet anschließend die Philologiegeschichte Englands, Hollands und Deutschlands nach diesem Schrittmodell als eine Abfolge von Phasen eher sprach- oder sachorientierter Forschung. Allerdings stürzt er sich zwei Seiten später auf Müller mit dem Argument, dass der Gegensatz zum „Philologen von Profession“ nicht, wie Müller meine, der Archäologe, sondern der „Dilettant“ sei. Und schon geht die Balgerei – ganz offensichtlich wider besseres Wissen – in die nächste Runde. Ich halte es daher für fruchtlos, die Auseinandersetzungen auf dieser Ebene analysieren zu wollen, zumal wenn man sieht, dass die Beteiligten es insgeheim ja selbst besser wussten bzw. hätten wissen können: Es war ja nach Boeckh eine durch „wechselseitige Befehdungen geführte Freundschaft“. Aus heutiger Sicht wanderten die beiden unkoordinierten ,Füße‘ doch erstaunlich weit in dieselbe Richtung der systematischen Erschließung von Forschungsgebieten, der Textedition, der Stil- und Gattungsgeschichte. Denn schließlich bewegten sich beide im Rahmen der Klassischen Philologie als Altertumswissenschaft, wie Friedrich August Wolf sie in seiner folgen-

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Vgl. Boeckh 1858 ff., Bd. 3, 181–203: Specimen editionis Timaei Platonis dialogi (Orig. 1807). Vor allem im zweiten Teil der Rezension von Müllers Eumeniden-Ausgabe: Hermann 1827 ff., Bd. 6. 2, 126–212. Hermann 1827 ff., Bd. 6. 2, 9.

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reichen Programmschrift von 1807 konzipiert hatte: 51 ein riesiges Feld von 24 sachlichen Teilgebieten, zu denen eben auch die Grammatik gehörte.52 Und letztlich teilten Boeckh und Hermann sogar weitgehend einen heiklen Punkt: Boeckh bekennt im 1827 verfassten Vorwort des 1. CIG-Bandes, dass er erst spät53 die Sprache auch zu den Sachen, d. h. zu den zu untersuchenden Gegenständen gezählt habe (in seiner ,Encyklopädie‘ tauchen Literatur und Sprache tatsächlich erst ganz am Ende auf!) – und auch Hermann stellt im Vorwort des polemischen Bandes ,Über die Behandlung der Griechischen Inschriften durch Herrn Prof. Böckh‘ fest:54 „Die alten Sprachen gehören aber nicht nur überhaupt, wie alle im Gegensatze gegen sie so genannten Sachen, zu den Sachen des Alterthums, sondern sie sind von allen gerade die wichtigste und vorzüglichste“. Daraus geht klar hervor, dass der Gegensatz von Sach- versus Sprachphilologie bei beiden Kontrahenten nie ein absoluter gewesen war, sondern es nur um den Stellenwert der Sprache in der Systematik des Faches ging. Boeckh hat dies in der ,Encyklopädie‘ auch klar ausgesprochen.55 Die Sprache gehört einerseits zu den Voraussetzungen des Verstehens, andererseits gilt: „Das Sprachliche ist selber Object der Betrachtung; die Grammatik ist erst Product der philologischen Thätigkeit und gehört deshalb nicht zum formalen Theil. Die Alten Sprachen sind ein Erzeugniss des Alterthums, welches von der Philologie reconstruiert werden soll; sie liegen im Alterthum in den zu erkennenden Völkern selbst, sind also für den Philologen Material seiner Thätigkeit“. Das, was – abgesehen von Eitelkeiten und Animositäten – Boeckh und Hermann trennte, war die Anerkennung des hermeneutischen Zirkels, eine 51

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Wolf 1807. Zur Genese seiner Enzyklopädie-Vorlesung siehe Körte 1833, Bd. 1, 179–97; publiziert wurde diese erst postum: Wolf 1831. Ihren Literaturzitaten nach zu schließen beruht die nicht näher erläuterte Ausgabe auf Aufzeichnungen bald nach 1800. Hermanns ,Handbuch der Metrik‘ von 1799 ist einer der spätesten erwähnten Titel. In Wolfs postumer ,Encyklopädie‘ (1831) gehört die Grammatik noch mit Hermeneutik und Kritik zu den drei „Fundamentaltheilen“ und nimmt von insgesamt 498 Seiten – nach Abzug des Literaturverzeichnisses – beinahe die Hälfte des Raumes ein: 47–270! Boeckh 1828, viii Anm. 1 (vgl. Bernhardy 53: „Jenes sogenannte Organon [d. h. Grammatik und Rhetorik, Th.P.] ist mit der Epigraphik von Böckh anders gewürdigt“). Konkret verweist Boeckh auf die Akademieabhandlungen zu Pindar von 1820-22: Boeckh 1858 ff., Bd. 5, 248 ff. Insbesondere 251-53 erläutert er dort seine Methode unter explizitem Verweis auf Schleiermacher, von dem er die Bewusstheit der philologischen Tätigkeit gelernt habe. Hermann 1826, 4; er fährt dann fort: „Schon an sich ist die Sprache eines Volkes das, was als das lebendige Bild seines Geistes am meisten sein Wesen charakterisiert; noch wichtiger wird sie dadurch, daß durch sie erst alles übrige, was einem Volke eigen ist, begriffen und verstanden werden kann; und wenn vollends ein Volk solche Schriften aufzuweisen hat, die wegen ihres Inhalts höchst wichtig, und wegen ihrer Form für alle Zeit musterhaft sind, dann ist doch wohl seine Sprache von allem, was wir von ihm haben, das wesentlichste“. Boeckh 1877, 54 f.

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geistige Grundentscheidung, die auch heute noch relevant ist und in jedes Konzept, in jede denkbare ,Idee der Philologie‘ eingehen muss. Von Wolf hat die Philologie nämlich eine gewaltige Aufgabe aufgebürdet bekommen. Das Ziel der Altertumswissenschaft „ist kein anderes als die Kenntniß der alterthümlichen Menschheit selbst, welche Kenntniß aus der durch das Studium der alten Ueberreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht“, wobei ,Kenntniß der Menschheit‘ rasch zur Kenntnis der griechischen Völker und Staaten präzisiert wird.56 In Hermanns Wendung vom ,gesamten Alterthum‘ ist diese Konzeption hörbar präsent, aber auch Boeckhs Tun lässt sich primär aus diesem Programm herleiten. Boeckh war ja nicht von vornherein darauf festgelegt, Staatsaltertümer und Inschriften zu untersuchen. Das waren eigentlich nur verschlungene und ihn letztlich verschlingende Seitenpfade des Projekts ,Hellen‘: In Boeckhs frühen Schriften und Briefen begegnet der Plan, eine Geistes- und Kulturgeschichte des griechischen Volkes nach Stämmen zu schreiben, d. h. das gesamte Leben der Griechen zu rekonstruieren.57 Boeckh ist bei den Vorarbeiten dazu steckengeblieben58 und so in den Ruf gekommen, ein Pragmatiker, Historiker, Rechner und Wirtschaftsprüfer zu sein.59 Hätte man ihn gefragt, als was er sich selbst sah, hätte er mit großer Sicherheit gesagt: Ich bin Platoniker.60 Vielleicht sollte man aber Boeckh als einen ,historistischen Romantiker‘ bezeichnen. Mit Romantik sind dabei nicht seine bekannten Beziehungen zu von Arnim, Görres und Brentano in Heidelberg61 gemeint, sondern der Einfluss Schleiermachers, hinter dem noch ein weiterer Name steht, der in der gesamten Boeckh-Literatur und auch in der Geschichte der Klassischen Philologie nicht gebührend vorkommt. Das, was Boeckh von Hermann trennt, ist die hermeneutische Erfahrung, die Einsicht, dass das Verstehen selbst problematisch ist. Für Hermann hingegen ist, nach seinem zentralen Aufsatz De offcio interpretis von 1834 zu schließen, das Erkennen an sich kein Problem. Philologie ist für ihn ein rationales Durchdringen des Altertums, insonderheit und vor allem der poetischen Texte in ihrer logischen Stringenz. Der Interpret muss 56 57

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Wolf 1807, 132. Etwa in Boeckh 1809, 10 Anm. 7 liest man: „Die Eigenthümlichkeiten der Hellenischen Stämme nach allen Seiten hin zu entwickeln, ist gewiß eine der interessantesten, aber auch der subtilsten Studien. Ich werde es künftig in einem Werke, Hellen betitelt, zu thun versuchen“. Der klarste Umriss des ungeschriebenen Werkes ,Hellen‘ findet sich bei Hoffmann 1901, 35 bequem aus einem Brief an von Reitzenstein von 20. Oktober 1815 zitiert, also aus einer Zeit, da Boeckh schon sah, dass er über den ,Staatsalterthümern‘ und den ,Griechischen Inschriften‘, die als Vorarbeiten unternommen worden waren, nie mehr zur Ausführung gelangen sollte. Wilamowitz-Moellendorff 1921, 54: „Messen, wägen, rechnen war ihm [sc. Boeckh] willkommen.“ Zu Boeckh als Platoniker siehe Horstmann 1992, aber auch noch Bratuscheck 1869. Siehe dazu Ziolkowski 1995.

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sie daher nur verstehen, wie man sie verstehen soll: „interpretari dicimus efficere, ut is, qui audiat legatve, verba mentemque scriptoris sic, uti eum oportet, intelligat“.62 Boeckh, der Hermanns 28 Seiten umfassenden Aufsatz eine dreimal so lange Rezension widmete,63 hat den springenden Punkt sofort gesehen und bemerkt, dass die Problematik verschiedener Verstehensweisen gar nicht erkannt ist. Demgegenüber hatte Boeckh in Halle 1805 beim jungen Friedrich Schleiermacher genau in der Zeit exegetische Vorlesungen gehört, als dieser seine Hermeneutik zum ersten Mal entwickelte,64 und er war daher mit Schleiermachers Hermeneutik unmittelbar vertraut.65 Hermann hingegen konnte Schleiermachers Hermeneutik aufgrund von deren postumer Publikation eigentlich kaum kennen, auch wenn er dies gewollt hätte, doch Boeckh hatte im schon erwähnten Eingang der Akademieabhandlungen über Pindar einen klaren Hinweis auf die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang mit Platon gegeben.66 Aber auch das Interesse für Platon ist etwas Trennendes zwischen Boeckh und Hermann, denn dieser hielt bezeichnenderweise in seiner langen Lehrtätigkeit nur im Wintersemester 1822/23 ein einziges Interpretatorium zu Platons Kratylos,67 während Boeckh in kurzen Intervallen über Platon las.68 An der wechselseitigen Bedingtheit der Erkenntnisse vom Besonderen und Allgemeinem, am unlösbaren Zusammenhang von Hermeneutik und Kritik, an der Zirkularität des Erkennens hat Boeckh ein Leben lang gearbeitet, während Hermann gleich im Eingang seines zur Eröffnung des Leipziger philologischen Seminars gehaltenen Vortrages De officio interpretis eine für ihn offenbar fraglose Trennung vornimmt: Kritik wird in der Griechischen Gesellschaft geübt, Interpretation im Seminar.69 Für Hermann war und blieb Philologie eine rationale Praxis, basierend auf Prinzipien und – im Rahmen des Wissbaren, also in den Grenzen der nesciendi ars et scientia70 – auch lösbare Aufgabe. Man sollte diese nüchterne Sicht71 respektieren, auch wenn Boeckh darin natürlich Hermanns „außer-

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Ähnlich schlicht definiert auch Wolf 1831, 271: „Die Hermeneutik oder die Erklärungskunst wird als die Kunst genommen, Schriftsteller, folglich geschriebene oder auch blos mündlich vorgetragene Gedanken eines Andern eben so zu fassen, wie er sie gefasst haben will“. Boeckh 1858 ff., Bd. 7, 404–77. Patsch 1966, Virmond 1985. Vgl. Boeckh 1877, 75. Boeckh 1858 ff., Bd. 7, 249 und 251. Koechly 1874, 192–96 gibt eine Liste sämtlicher Lehrveranstaltungen, und auch in seiner Auswertung (195) taucht Platon nur dieses eine Mal auf. Hoffmann 1901, 467–69 gibt ebenfalls eine Liste sämtlicher Lehrveranstaltungen. Hermann 1828 ff, Bd. 7, 97. Hermann 1828 ff., Bd. 2, 288. Die Nüchternheit Hermanns hat auch eine methodologische Pointe im Streit mit Boeckh, auf die noch weiter unten im Zusammenhang mit dem im Aufsatz De officio interpretis näher eingegangen wird.

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ordentliche Unfähigkeit der Combination“ sehen zu dürfen meinte.72 Hermanns Nüchternheit schärft den Blick dafür, dass Boeckh das Haus der Philologie eigentlich viel zu groß errichtet hat. Denn die Wissenschaft, von der er spricht, eine Philosophie und Geschichte umfassende Metawissenschaft,73 die zugleich auch eine Kunst sein soll,74 war und ist allen zu groß. Sie soll „die Erkenntnis eines Volkes“ leisten, ja: „Die Philologie des Alterthums enthält also als Stoff der Erkenntnis die gesamte Erscheinung des Alterthums.“75 Niemand, auch nicht Boeckh konnte dies je ausfüllen. Was Boeckh propagierte, ist aber auch noch aus heutiger Sicht hinreißend – hinreißend, wie eben nur eine romantische Idee es sein kann. Ein Satz wie „Gerade in der Unendlichkeit liegt das Wesen der Wissenschaft“76 erinnert an die „unendliche Aufgabe“ in der Übersetzungskonzeption Friedrich Schlegels,77 die sich wiederum als das Verstehen einer „durch eine unendliche Anzahl von Verhältnissen“ bedingten „individuellen Äusserung“ durch „unendliche Approximation“ verstehen lässt.78 Ja, der überdimensionierte Bau der ,Enzyklopädie und Methodenlehre‘ ist, wie schon Josef Körner sah, in Keim und Kern aus Gedanken Friedrich Schlegels entfaltet.79 Wie kam Boeckh dazu? Das ist und bleibt vorläufig ein Rätsel.80 Zwar hat er seine eigene Hermeneutik als untrennbar von den Gedanken Schleiermachers bezeichnet,81 doch enthalten Boeckhs Ausführungen darüber hinaus 72 73

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Hoffmann 1901, 171 (Zitat aus einem Brief Boeckhs an Welcker vom 3. März 1827). So schon in der Einleitung zum CIG (Boeckh 1828, vii): Philologie ist „antiquitatis cognitio historica et philosopha“. Boeckh 1877, 55: „Die Hermeneutik und die Kritik entwickeln natürlich nur die Grundsätze des Verstehens; die Ausübung und Realisierung derselben ist die philologische Kunst.“ Boeckh 1877, 55 f. Boeckh 1877, 15. Körner 1928, 42 = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 60. – Übersetzung als „unbestimmte, unendliche Aufgabe“ kehrt wieder in Schleiermachers Erläuterung zur ,Auslegung als Kunst‘ (1974, 78): „Denn überall ist Construction eines endlichen bestimmten aus dem unendlichen unbestimmten“. Vgl. 84 – zur Erläuterung der Maxime: „die Rede zuerst eben so gut und dann besser verstehen als ihr Urheber“ –: „Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen“. Boeckh 1877, 86. Boeckhs Credo (1877, 11), „dass die Philologie in der That eine der ersten Bedingungen des Lebens, ein Element ist, welches in der tiefsten Menschennatur und in der Kette der Cultur als ein ursprüngliches aufgefunden wird“, geht zurück auf Schlegel (Körner 1928, 28; Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 45): „Die Philologie ist [...] eine nothwendige Aufgabe der Menschheit“. Es gibt leider keine historisch-kritische Ausgabe von Boeckhs ,Encyklopädie‘. Die Fassung von 1877 gibt weitgehend ein (Re-) Konstrukt des Herausgebers Bratuscheck wieder: siehe Bratuscheck in Boeckh 1877, iv f. Vgl. dazu Hackl (2006), 21 f. Boeckh 1877, 75. Zu Schleiermachers ,Hermeneutik und Kritik‘ (1838 herausgegeben von Friedrich Lücke) heißt es: „Ein vollständiges, von Meisterhand entworfenes System. In meiner Darstellung sind Schleiermacher’s Ideen nicht aus dieser Schrift (Hermeneutik

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Gedanken, die sich in Schleiermachers Aufzeichnungen zur Hermeneutik82 nicht finden, sehr wohl aber in Schlegels erstmals 1928 publizierten Aufzeichnungen zur ,Philosophie der Philologie‘.83 Allerdings war Schleiermacher unmittelbar zugegen, als Schlegel die Philologie in diesem Sinne entwarf. Denn Schleiermacher traf Friedrich Schlegel sogleich nach dessen Einzug in Berlin am 25. 7. 1797, empfand die Begegnung mit Schlegel als epochal, war entzückt, lebte in „geistiger Ehe“ und bald auch in derselben Wohnung mit Schlegel – und die Hefte zur ,Philosophie der Philologie‘ werden vom Herausgeber Eichner genau in dieses Halbjahr 1797 datiert.84 Worin bestehen nun die Parallelen zwischen Boeckh und Schlegel? Es ist ja nicht so, dass Boeckh in seiner ,Encyklopädie‘ die vierundzwanzig von Wolf rhapsodisch aneinandergereihten Teilgebiete der Philologie, an deren fehlender Systematik Boeckh von frühester Zeit an Anstoß genommen hatte,85 nun bloß nach dem von Schleiermacher übernommenen Prinzip umgeordnet hätte,86 obwohl auch dies schon eine Leistung darstellte, mit der die Klassische Philologie allen anderen historischen Wissenschaften87 weit voraus gewesen wäre. Boeckh geht vielmehr aufs Ganze der Wissenschaft. Die Schlegel-Herausgeber Körner und Eichner haben einige Parallelen zwischen Boeckh und Schlegel zusammengetragen,88 die sich beliebig vermehren lassen. Entscheidend scheinen aber zwei Gesichtspunkte zu sein: Boeckh erwähnt, sein Konzept der (Klassischen) Philologie sei ein letztlich willkürlich aus dem Gesamtgebiet der Philologie herausgegriffener Bereich89 – aber

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und Kritik 1838), sondern aus früheren Mittheilungen benutzt, doch so, dass ich nicht mehr im Stande bin das Eigene und das Fremde zu unterscheiden“. Ich zitiere den 1838 erstmals publizierten Text nach Schleiermacher 1974, 1977 und 1985. Die ,Vorlesungen über Hermeneutik und Kritik‘ fehlen leider noch in der kritischen Gesamtausgabe. Das Erscheinen des Bandes (KGS II 4) ist auf der Homepage der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften für 2010 in Aussicht gestellt. Körner 1928; Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 33–81. Schlegel 1979 ff., Bd. 16, xvi–xviii. Anschaulich nachlesen lässt sich diese Lebensform eines symphilosophischen Contuberniums, das schließlich zu Schleiermachers PlatonÜbersetzung führte, in der Schleiermacher-Biographie von Kurt Nowak (2002, 82–97; 131–38). Vernichtend spöttisch die Kritik in Boeckh 1877, 39–44. Dies ist im großen und ganzen der Stand von Rodi 1990, Horstmann 1992, Cambiano 1997, auf deren Einsichten zu Boeckhs Hermeneutik alle weiteren Forschungen beruhen. Aber der Name Schlegel kommt in diesen Arbeiten ebenso wenig vor wie in dem einschlägigen Sammelband zur Genese der Hermeneutik: Laks/Henschke 1990. Zum Zusammenhang von Droysens ,Historik‘ mit Boeckhs ,Encyklopädie‘ s. Hackl 2006. Josef Körner 1928, Anm. 66–72; Hans Eichner, in: Schlegel 1979 ff., Bd. 16, xvii–xix. Boeckh 1877, 21: „Die Philologie des klassischen Alterthums bildet ausserdem wieder eine naturgemässe Abtheilung, weil das Klassische vorzüglich wissenswerth und die Cultur der Griechen und Römer die Grundlage unserer gesammten Bildung ist. Indem wir nun ausdrücklich die übrigen Zweige der Philologie als gleichberechtigt anerkennen, nehmen wir für die folgende Betrachtung die aus äusseren Gründen gerechtfertigte, aber an sich zufällige Beschränkung auf das klassische Alterthum, und zwar mit Bewußtsein und Beschränkung an“.

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eigentlich gab es diese anderen Philologien und jene allgemeine Philologie vor Schlegel noch gar nicht, während Schlegel den Zusammenhang vorwegnahm.90 Und: Das enge Verhältnis von Philologie zu Philosophie und Geschichte, wie es für Boeckhs Konzept zentral ist, findet sich nicht bei Schleiermacher, sondern bei Schlegel. Der Satz: „Philologie und Philosophie bedingen einander wechselseitig“,91 hat seine Wurzeln weder in der Philologie noch bei Schleiermacher, sondern in Schlegels paradoxem Diktum: „Der Philolog muß Philosoph sein“.92 Ja sogar die Überschrift von Boeckhs Einleitung der ,Encyklopädie‘ stammt von Schlegel: „Die Idee der Philologie oder ihr Begriff, Umfang und höchster Zweck“ geht zurück auf Schlegel: „Idee der Philologie? Besser ihr Begriff“,93 ebenso die Kritik am bisherigen ,Aggregat‘-Charakter der Philologie.94 Und der „Zweck der Philologie ist“ nach Schlegel „die Historie“,95 nach Boeckh liegt der „höhere Zweck“ der Philologie „in der historischen Construction des ganzen Erkennens und seiner Theile“ bzw. „ist die Philologie – oder, was dasselbe sagt, die Geschichte Erkenntnis des Erkannten“.96 Boeckh erläutert diese berühmte Formel folgendermaßen: 97 „Allein die Philologie verzichtet nicht auf alles eigene Denken, wenn ihr Ziel die Erkenntnis von Ideen sein soll; denn fremde Ideen sind für mich keine. Es ist also zunächst die Forderung diese, das Fremde als Eigenwerdendes zu reproduzieren, so dass es zugleich nichts Äußerliches bleibe, wodurch aber auch der Aggregatzustand der Philologie aufgehoben wird“. Im „Entwurf unseres Planes“ wird als das Verfahren zur Aufhebung der einzelnen Disziplinen als „begriffsloser Aggregate“ das hermeneutische ,Verstehen‘ genannt: 98 „Nach dem von uns aufgefundenen Begriff ist die Philologie die Erkenntnis des Erkannten, also eine Wiedererkenntnis eines gegebenen Erkennens; ein Erkanntes wiedererkennen heißt aber es verstehen“. Dass beim Verstehen die Tätigkeiten des Hermeneuten und des Kritikers untrennbar und zirkulär verbunden sind, ist ein Grundgedanke Schleiermachers, der bei Schlegel auftaucht99 und von Boeckh explizit ausformuliert wird, unmittelbar im Anschluss an die Feststellung, dass darin auch der ent-

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Körner 1928, 31 f. = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 48: „Die Philologie besonders die alte ist gleichsam die Klassik, das Urbild für die Behandlung jeder besonderen nazionalen, modernen Litteratur.“ Boeckh 1877, 17. Körner 1928, 17 = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 35. Boeckh 1877, 3; Körner 1928, 26 = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 43. Boeckh 1877, 3; Körner 1928, 22 = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 40. Körner 1928, 19 = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 37. Boeckh 1877, 14 und 11. Boeckh 1877, 20. Boeckh 1877, 53. Körner 1928, 21 = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 39; Schleiermacher z. B. 1974, 75: „Hermeneutik und Kritik nacheinander als verwandt, so nämlich daß die Ausübung einer jeden die andere voraussetzt“.

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scheidende Unterschied von den logischen Postulaten Hermanns liege! 100 Sieht man sich daraufhin noch einmal näher an, was Hermann in De officio interpretis von philologischer Interpretation und Erkenntnis sagt, so wird der prinzipielle Abgrund erkennbar, der Boeckh und Hermann trennte. Hermann hebt in seinem knappen Aufsatz vier Aspekte richtigen Interpretierens hervor: Es habe differenziert (distincte), geordnet (ordinate), einfach (simpliciter) und passend (apte) vonstattenzugehen.101 Die ersten beiden Charakteristika zielen dabei auf klare Begrifflichkeit und schlüssige Bündigkeit, das Schwergewicht von Hermanns Ausführungen liegt auf der simplicitas, denn zum richtigen Verständnis des Autors führt auch der kürzeste Weg.102 Man ist schon ein wenig verblüfft, dass der Editor und Interpret des Aischylos ausgerechnet die simplicitas als Königsweg der Interpretation ansieht, doch die schlichte Knappheit ist Hermanns demonstratives Stilmittel gegen das Feindbild einer „den Anschein geschliffener Bildung vor sich hertragenden eitlen Geschwätzigkeit“.103 Dazu passt die ebenso schlichte Darlegung des Begriffes apte:104 „Der Interpret muss genau jene Art der Darlegung heranziehen, die einer jeden Sache angemessen ist“. Schlichter kann man es nicht formulieren, aber, betrachtet aus der hermeneutischen Sicht nach Schleiermacher, wischt Hermann die hermeneutische Fragestellung einfach beiseite. Boeckh hat in seiner Antwort105 auf Hermanns Schrift nicht mit Kritik an der Tautologie von apte und accomodatum gespart,106 zuvor aber auch schon die in Hermanns Definition der Aufgabe enthaltene Wendung „sic, uti eum oportet, intelligat“ analysiert: 107 „man erwartete also, das ‚sic, uti eum oportet’ sei zugesetzt, weil es verschiedene Arten zu verstehen gebe. Allein vom Verstehen 100 101

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Boeckh 1877, 178 und 177. Hermann 1827 ff., Bd. 7, 102: „Difficilius autem est tertium, quod posui, ut recte exponantur, quae promat interpres. Est autem recte nihil alius quam distincte, ordinate, simpliciter, apte“. Hermann 1827ff., Bd. 7, 103: „Maxime vero etiam simplicitati operam dare convenit, non solum in dicendo scribendoque, sed etiam in interpretatione ipsa. Nam quum id velimus interpretando effici, ut id ipsum quod scripsit scriptor, eoque ipso modo intelligatur quo ille voluit intelligi: certissima ad id consequendum ea via est, quae est planissima, et, quia recta porrigitur, brevissima“. Hermann 1827ff., Bd. 7, 100: „elegantis eruditionis speciem prae se ferens vana loquacitas“. Hermann 1827ff., Bd. 7, 103: „Postremo quum exigimus, ut etiam apte explicet interpres, hoc volumus, ut ille eo genere expositionis utatur, quod rei cuique accomodatum est“. Boeckh 1858 ff., Bd. 7, 404–72. Die Einleitung zu diesem Text enthält wunderbare Dokumente für das ,sonderbare Verhältniss‘, etwa 406 f.: „Denn die Ausdrücke, in welchen der Verf. [sc. Hermann] vom Ref. spricht, sind so anerkennend, dass deshalb der Schein verschwindet, als ob wir irgendwie gereizt die folgende ausführliche Analyse und Kritik der kleinen Schrift unternommen hätten. Auch die in letzterer etliche Male erscheinende Wendung, der Verf. wundere sich, wie Böckh das Wahre nicht gefunden habe, ist wahrhaft ein verbindlicher Ausdruck; der Hr. Verf. wird es also eben auch nur als eine seinen grossen Verdiensten dargebrachte Huldigung ansehen, wenn Ref. bisweilen ebenfalls sich verwundern sollte“. Boeckh 1858 ff., Bd. 7, 409 f. Boeckh 1858 ff., Bd. 7, 406.

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ist im Wesentlichen weiter nicht die Rede. Und doch ist das Verstehen der einzige Begriff, von welchem aus hermeneutisch-methodische Vorschriften entworfen werden können“. Hermann entziehe sich der methodologischen Diskussion sofort durch die anschließend einsetzende Interpretation von Pindargedichten. Hermann hat diese Kritik Boeckhs seinerseits beim Wiederabdruck (1839) von De officio interpretis (1834) in den ,Opuscula‘ in einer Fußnote kommentiert und sich erneut zu seinem eigenen Verfahren bekannt.108 Es ist ja geradezu die methodische Pointe des De officio interpretis-Textes, die gegnerische Methode nicht durch eine eigene zu ersetzen, sondern jene durch richtigere Ergebnisse zu widerlegen. Ausgesprochen hat Hermann dieses Verfahren 1835 in einer Rezension von Schriften Karl Otfried Müllers: 109 „Die Richtung dieser Secte geht auf allseitige, d. h. historisch-antiquarischarchäologisch-philosophisch-ästhetische Erklärung des Alterthums. Da dies kein Verständiger tadeln wird, so kann der Widerspruch, zu dem sie so vielfache Veranlassung gibt, nur die ermittelten Ergebnisse betreffen“. Hermann stellt zunächst110 in De officio das Pindar-Fragment 81 (Snell-Maehler) gegen Boeckh so her, wie es auch heute noch in den Ausgaben steht,111 und stürzt sich dann in die Interpretation der ersten und der zweiten Pythie, um seine Leitlinien – distincte, ordinate, simpliciter, apte – im Kontext des jeweiligen Gedichtes zu zeigen. Vieles davon ist schlüssig und verzichtet auf historische Zirkelkonstrukte Boeckhs und Dissens; andererseits entledigt sich Hermann auch dadurch, dass er den Mythos zu bloßem Schmuck erklärt,112 zugleich der anspruchsvollsten Interpretationsaufgabe. Hermann entwickelt seine Interpretation aus einer vorweg gestellten, durch kursorische Lektüre gewonnenen, paraphrasierenden Zusammenfassung, um in der vertiefenden Einzelinterpretation die wichtigsten Fragen zu klären. De facto wendet also auch Hermann eine zyklische Leseweise an, wie sie für das hermeneutische Verfahren charakteristisch ist,113 doch verschließt sich Hermann der zugehörigen Theorie und meidet jede große Synthese. Blickt man auf die Effizienz der beiden Haltungen, so muss man feststellen, dass Hermann mit erstaunlicher Konstanz Werk um Werk publizierte, während Boeckh zwar viele Jahre hindurch regelmäßig seine große theoretische Vorlesung hielt, doch außer der Weiterarbeit an den Inschriften, der ,Metrologie‘ und der Antigone-Übersetzung114 relativ wenig publizierte und hauptsächlich in der Universitäts108

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Hermann 1827 ff., Bd. 7, 103 Anm. 4: „His verbis nihil explicari queritur Boeckhius, sed cognosci debere, quid dicere voluerim ex exemplis. Ita est: nolebam enim signatius notare eos, qui euge ubique clamant, vel arcani cuiusdam nexus mysteria iactarent, vel loculos laboriose figuris quibusdam descriptos monstrarent“. Hermann 1827 ff., Bd. 7, 25–64; das Zitat dort 26. Hermann 1827 ff., Bd. 7, 105 f. Pindarus, Pars II. Fragmenta. Indices, post B. Snell ed. H. Maehler, Leipzig 1989, 77. Hermann 1827 ff., Bd. 7, 111: „fabulae autem ornandi tantum caussae insertae“. Boeckh 1877, 156 f.; Körner 1928, 50 (vgl. 50 f.) = Schlegel 1979 ff., Bd. 16, 67 (67 f.): „Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität ist cyklisch“. Boeckh 1838, 1843.

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administration aufging – und nie mehr seinen für die Klassische Philologie erhobenen Anspruch einlösen konnte. Trotzdem: In einer Zeit, in der Hans-Ulrich Gumbrecht ,die Macht der Philologie‘ erneut in die Theoriedebatte zurückgeholt hat,115 empfiehlt es sich für Klassische Philologen, hinter die Fassade der Boeckh-Hermann-Kontroverse zurückzugehen, und zu fragen, ob die intellektuellen Auslöser des Streits, die Hermeneuten Schlegel und Schleiermacher, nicht einen festen Platz in der Fachgeschichte und im Curriculum bekommen sollten. Boeckhs Maxime: „dort wo die Unendlichkeit aufhört, ist auch die Wissenschaft zu Ende“, und der romantische Appell, Wissen in „unendlicher Approximation“116 zu gewinnen, gelten noch immer – auch wenn sich die Idee der Philologie sehr oft in streitbaren Individuen realisiert, die sich unversehens im höchst „sonderbaren Verhältniss einer durch wechselseitige Befehdungen unterhaltenen Freundschaft“ finden.

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Gottfried Hermann und August Boeckh

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Glenn W. Most

Hermann gegen Creuzer über die Mythologie

Als der liebe Gott 1772 Gottfried Hermann schuf, dachte er dabei an Vieles – an die griechische Metrik und Grammatik, an die Textkritik der griechischen Tragiker und Lyriker, an Plautus und Terenz, womöglich auch an das Pferdereiten – aber ganz bestimmt dachte er nicht an die griechische Mythologie und Religionsgeschichte. Dennoch hat Hermann eine wichtige Rolle gespielt bei einer der folgenreichsten und bittersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die die Entwicklung der deutschen Altertumswissenschaft in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kennzeichneten und die die Zukunft dieser Disziplin tief prägten,1 und zwar beim Kampf um Friedrich Creuzers Symbolik.2 Dass Hermann August Boeckhs Auffassungen über Pindar und über die Edition der griechischen Inschriften oder K. O. Müllers Buch über die Eumeniden heftig angriff, nimmt wenig wunder, da die dort in Frage kommenden Problemkomplexe dem Zentrum von Hermanns eigenen Arbeiten näher standen und da inzwischen die Forschungsrichtungen Boeckhs und Müllers einerseits und Hermanns andererseits immer mehr als miteinander konkurrierende und unverträgliche Schulen missverstanden wurden.3 Aber Hermann und die Mythologie? Nicht nur Hermanns Gegner, auch seine Freunde und Bewunderer attestierten ihm eine grundsätzlich rationelle Verstandesart und eine kühl kalkulierende Intelligenz,4 die ihn als den denkbar unpassendsten Interpreten der griechischen Mythen erscheinen ließen. Wie kam dann Hermann zu den Mythen? Nicht ganz wie die Jungfrau zum Kind – aber fast. Die Geschichte lässt sich relativ gut rekonstruieren, und deren Hintergründe und Folgen zu untersuchen, wirft ein interessantes Licht auf die Strukturen und Grenzen der wissenschaftlichen Forschung – nicht nur der damaligen. Die eigentliche Geschichte beginnt 1806 mit Hermanns in Leipzig erschienener Ausgabe der Homerischen Hymnen und Epigramme.5 Schon im Jahr zuvor hatte Hermann in seiner Orphiker-Ausgabe seinen Lieblingsbereich, die antike Lyrik und Bühnendichtung, vorübergehend verlassen, um

1 2

3

4 5

Zu diesen Auseinandersetzungen siehe im allgemeinen Most 1997. Auswahl und Überblick liefert Howald 1926; siehe jetzt für eine sorgfältige Darstellung besonders Fornaro 2008. Zur Auseinandersetzung zwischen Müller und Hermann siehe Most 1998, und vgl. dazu Degani 1999, besonders S. 311, und Canfora 2002. Vgl. etwa Preller in Howald 1926, 147. Hermann 1806.

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sich mit dem griechischen Epos zu befassen.6 Aber obwohl er sich dort mit den angeblichen Zeugnissen der frühesten griechischen Religiosität auseinandersetzen musste, galt sein Augenmerk hauptsächlich gerade nicht der Rekonstruktion der orphischen Mysterien und dem Glauben der archaischen Hellenen, die er eher nebenbei behandelte, sondern vielmehr den dem Orpheus zugeschriebenen griechischen dichterischen Texten, die er mit seinem gewohnten philologischen Scharfsinn aus textkritischer, metrischer und linguistischer Perspektive analysierte. Es ist kein Zufall, dass das wenige, was Hermann dabei zur griechischen Religion vermerkte, völlig in Vergessenheit geraten ist, während der lange Anhang, in dem er aufgrund metrischer und linguistischer Indizien gegen jeden möglichen Zweifel bewies, dass die orphischen Argonautika – weit davon entfernt, eines der ältesten Denkmäler der griechischen Dichtung überhaupt zu sein – vielmehr ein Produkt der Spätantike und zwischen Quintus Smyrnaeus und Nonnos zu datieren seien,7 als eine der größten Leistungen der Klassischen Philologie nach Bentley gefeiert wurde und als ein Meilenstein der Gräzistik in Erinnerung geblieben ist.8 Nicht anders geartet, wenn auch weniger spektakulär, war seine Homeriden-Ausgabe von 1806. Hermanns feines analytisches Sensorium hatte sich seit eh und je wund gerieben an den zahllosen metrischen, sprachlichen und logischen Inkonzinnitäten des frühgriechischen Epos – Phänomene, die viele von uns seit Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum gewohnt sind nicht nur als Verderbnisse der Textüberlieferung, wie sie bei allen antiken Schriftstellern zu finden sind, zu deuten und daher textkritisch womöglich beheben zu wollen, sondern auch als wertvolle Zeugnisse der mündlichen Entstehung, Komposition und Rezitation der homerischen Epen über viele Jahrhunderte zu verstehen und zu schätzen. Nun ging auch Hermann ausdrücklich von Wolfs Einsichten aus,9 aber er kam zu ganz anderen Ergebnissen. Er betonte nicht die lange mündliche Entstehung der Epen vor Homer, die Wolf postuliert hatte, sondern deren lange mündliche Rezitationstradition nach Homer, auf die Wolf ebenfalls hingewiesen hatte, und er leitete daraus den Schluss ab, dass die uns vorliegenden epischen Texte das Ergebnis wilder Interpolationen späterer Dichter seien, die die schönen ursprünglichen Texte neu gestaltet und dabei verunstaltet hatten. Wo frühere Textkritiker gewöhnliche Verderbnisse witterten und diese durch Konjektur oder Athetese zu heilen versuchten, meinte Hermann die Spuren eben dieser spätarchaischen Versionen erkennen zu können, die er rekonstruieren wollte. So nahm er zum Beispiel die von vielen empfundene Unklarheit der Gedankenführung im Prooimion von Hesiods Theogonie zum Anlass, in diesen 115 Versen nicht weniger als sieben verschiedene Rhapsodenprooimien zu 6 7 8 9

Hermann 1805. De aetate scriptoris Argonauticorum dissertatio: Hermann 1805, 673–826. Vgl. z. B. Lehrs 1837, 255; Wilamowitz 1921, 49. Hermann 1806, vi–vii.

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unterscheiden, die alle mit dem überlieferten Vers 1, )2% ^ %2 % D6Jμ’ D8 , anfingen, um dann mit einem jeweils anderen Abschnitt des erhaltenen Prooimions fortzufahren.10 Alle sieben waren echt und alt, und daher im Ganzen nicht textkritisch zu sanieren, aber sie waren Werke nicht Hesiods, sondern seiner späteren Rezitatoren und konnten fast restlos durch einfaches Schneiden und Zusammenkleben wiedergewonnen werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass Hermann die neue Wolfsche Historisierung der antiken Textüberlieferung als eine Rechtfertigung benutzte, um die viel traditionellere Beschäftigung mit logischen Unstimmigkeiten weiterhin zu betreiben und mit neuen Methoden zu verfeinern und dass er dabei in diesem Band eines der frühesten Beispiele, ja vielleicht sogar das früheste Beispiel schlechthin der für die Gräzistik des 19. Jahrhunderts so typischen Homeranalyse lieferte. Für Hermann waren die Homerischen Hymnen, die er edierte, in erster Linie griechische dichterische Texte, Beispiele der klassischen Literatur, und nicht so sehr Ausdrucksformen griechischer Religiosität, Zeugnisse von Kulthandlungen und Volksglauben; und so auch der damals erst seit wenigen Jahrzehnten fast vollständig vorliegende Demeter-Hymnus, der doch für uns auch eine der wichtigsten Quellen überhaupt für die eleusinischen Mysterien darstellt.11 Auch in diesem Fall meinte Hermann mit seinem neuen Ansatz in dem einen überlieferten Hymnus zwei verschiedene Rezensionen unterscheiden zu können, eine frühere echte, die er aufgrund der Beibehaltung von homerischer Sprache und homerischem Stil dem homerischen Zeitalter zuschrieb, und eine zweite hineininterpolierte, das Werk eines späteren und nicht besonders begabten Rhapsoden.12 Aber dabei verzichtete er keineswegs vollständig auf die gewohnten Techniken der traditionellen Textkritik, sondern setzte auch diese gelegentlich ein, zum Beispiel in den Versen 265–67, einer Stelle, die seinen Vorgängern viel Kopfzerbrechen verursacht hatte. In diesen Versen schimpft Demeter nämlich über die Dummheit der Metaneira, die in Unkenntnis der fürsorglichen Absichten der Göttin ihren Sohn Demophon aus dem heiligenden Feuer retten wollte und ihn dadurch zum normalen Todeslos jedes Sterblichen verurteilte. Aber dem Demophon selbst verspricht die Göttin nichtsdestotrotz ewige Ehren und fügt hinzu: _ ’ C 3  "" μ/%  3 " 5  ` 8% " μ  1 0 " 

  D

#  2@’ aμ  "2 . Diesem also, mit den Jahreszeiten, wenn die Jahre kreisen, werden die Söhne der Eleusinier Krieg und schlimmen Streit gegeneinander jedes Mal für alle Tage führen.

10 11 12

Hermann 1806, x–xix. Editio princeps: Ruhnken 1780. Hermann 1806, xcv–cxiii.

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Zur Zeit Hermanns verstanden alle Erklärer die Worte " μ  1 0 "

Yals einen buchstäblichen Hinweis auf wirkliche Kriege und kamen dadurch in größte Schwierigkeiten, mit der Stelle überhaupt etwas anfangen zu können. Denn kein Bürgerkrieg war je für Eleusis bezeugt, und wie sollte ein solcher Hinweis sich in diesen ehrenden Kontext überhaupt einfügen, und was sollte das für ein Bürgerkrieg sein, der mit den Jahreszeiten stattfand und ewig dauerte? Hermanns Schulpforta-Lehrer Ilgen (dem Hermann seine eigene Ausgabe widmete) athetierte einfach die drei lästigen Verse als eine Interpolation, die in den Text eingedrungen sei, als es irgendwann tatsächlich Bürgerkriege in Eleusis gab13 – aber solche Kriege blieben nach wie vor gänzlich unbezeugt und der Sinn und Zweck einer solchen Interpolation war völlig rätselhaft. So konjizierte Matthiae `* 8 für das überlieferte  D

# , um den anstößigen Bürgerkrieg in einen Krieg gegen Athen zu verwandeln14 – eine paläographisch überhaupt nicht einleuchtende Konjektur, die dem Kontext auch gar nicht gerecht wird. Hermann dagegen versuchte, den Problemen dadurch zu begegnen, dass er den Ausfall einiger Verse nach 267 postulierte, in denen der Tod Demophons in diesen Bürgerkriegen prophezeit wurde.15 Es ist sofort klar, dass auch seine elegantere und ökonomischere Lösung in Wahrheit alle Grundprobleme dieser Stelle völlig unberührt lässt. 1810 begann Friedrich Creuzers ,Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen‘ zu erscheinen, übrigens ebenfalls in Leipzig,16 und 1812 erschien dort der vierte Band, in dem Creuzer die Mythen von Demeter und Persephone und die eleusinischen Mysterien behandelte. Bekanntlich witterte Creuzer Symbole und Mysterien überall, und so überrascht es nicht, dass er als erster überhaupt diese schwierige Stelle anders auffasste – nicht buchstäblich, sondern metaphorisch, als einen Hinweis nicht auf wirkliche Kriege, sondern auf jährlich stattfindende, in Kultfesten ausgeführte rituelle agonale Handlungen.17 Creuzer untermauerte diese Deutung mit zwei Parallelstellen aus Artemidor und Porphyrius, die von einem solchen Fest sprachen oder die eventuell so gedeutet werden konnten.18 Creuzers Interpretation ließ mit einem Schlag alle Schwierigkeiten dieser Textstelle verschwinden und markierte zweifellos einen entscheidenden Fortschritt in deren Verständnis – ja im nachhinein kann man kaum glauben, dass große Gräzisten vom Rang eines Ruhnken oder eines Hermann einen so 13 14 15 16

17 18

Ilgen 1796. Matthiae 1805. Hermann 1806, 132. Creuzer 1810-12. Die Bibliographie zu Creuzers Symbolik ist sehr groß und wird immer größer; siehe insbesondere die neueren italienischen Arbeiten von Moretti 1995, Marelli 2000 und Fornaro 2001 und 2008. Creuzer 1810-12, Bd. 4, 282–92. Artemidor 1, 8; Porphyrius apud Procl. in Tim. 51 b.

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elementaren Denkfehler dabei begingen. Heutzutage verstehen alle Erklärer diese Verse als einen Hinweis auf rituelle Agone in Creuzers Sinn;19 sogar der Creuzer noch unbekannte Name dieser kultischen Scheinkriege, $

0, konnte aus Parallelen in anderen, ihm offenbar ebenfalls unbekannten Stellen ermittelt werden20 – die beiden Parallelstellen, die Creuzer selbst als ausschlaggebend ansah, sind seit langem als irrelevant aus der Diskussion herausgefallen. Zwar ist Creuzer selbst, ganz charakteristisch, viel zu weit in der eigenen Interpretation dieser Passage gegangen – er hat erstens eine für Orakel in typischer Weise missverständliche, bedrohliche Metapher zu einem mysterienartigen, geheimnisvollen Symbol hochstilisiert, zweitens Porphyrius’ neuplatonische Deutung, es handle sich bei diesen Kriegen um den „Kampf des Geistes mit dem Fleische, der Vernunft mit der Sinnlichkeit“,21 sich zu eigen gemacht und drittens diese Deutung in die Absicht des Hymnendichters selbst zurückprojiziert, da er ja dem völlig irrigen Prinzip stets treu blieb, die gleichen Zeichen müssten immer die gleiche Bedeutung haben. Aber das ist alles nebensächlich: Für die Deutung dieser Stelle ist Creuzers Einfall einfach schlagend. Er muss das selbst gefühlt haben, weil er sicher genug war, Recht zu haben, um die Frage der Deutung dieser Stelle zum Anlass zu nehmen, einen Brief an Hermann zu schreiben, in dem er um dessen Meinung dazu bat. Inzwischen waren die ersten Gefechte des Kampfes um die Symbolik ausgebrochen – zwei anonyme Verrisse, gewitzt, bösartig und nicht völlig ungerecht, waren 1811 und 1812 in der Allgemeinen Jenaischen LitteraturZeitung unter den Initialen G. St. erschienen.22 Vermutlich wollte Creuzer sich Rückendeckung holen und wandte sich deshalb an den ein Jahr jüngeren und schon zu den Koryphäen zählenden – und vor allem eine völlig andere, höchst respektable Forschungsrichtung vertretenden – Gottfried Hermann. Wusste oder ahnte Creuzer, dass der anonyme Rezensent, der sich hinter den Initialen verbarg, tatsächlich ein Schüler Hermanns war, Christian August Lobeck? Wollte er etwa über dessen Kopf hinweg mit dessen Chef direkt reden? Lobeck war nämlich damals Gymnasiallehrer, Creuzer und Hermann dagegen beide Universitätsprofessoren. Oder war es einfach Zufall? Jedenfalls schrieb Creuzer an Hermann über diese Stelle, und daraus entwickelte sich ein ausführlicher Briefwechsel. Da die Briefe schon früh einen programmatischen, quasi-öffentlichen Charakter annahmen, entschied sich Creuzer mit Hermanns Erlaubnis, sie zusammen zu veröffentlichen. Die ,Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie‘ erschienen 1818 in Heidelberg (nicht in Leipzig) mit Angabe beider Autorschaft 19

20

21 22

So z. B. Allen–Halliday–Sikes 1936, 161; Richardson 1974, 245–47; Càssola 1981, 478; Foley 1994, 52; West 2003, 53. Die Identifizierung des Ritus geht auf Welcker 1857-62, Bd. 3, 133–36 zurück: vgl. Fornaro 2008, Anm. 20. Creuzer 1810-12, Bd. 4, 289 (Hervorhebungen von Creuzer). Auszüge: Howald 1926, 77–81. 83–89.

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(wobei Hermanns Name an erster Stelle stand, vielleicht nicht nur aus Höflichkeit).23 Allerdings verfasste Creuzer allein das Vorwort, entschied selbst, was er aus seinen und Hermanns Briefen publizieren wollte, versah den dritten und letzten Brief Hermanns mit eigenen Anmerkungen, die die Argumente Hermanns entkräften sollten, und fügte als einen letzten, angeblich sechsten, eigenen Brief eine längere Abhandlung (sie macht fast zwei Drittel des ganzen Buchs aus) hinzu, auf die natürlich Hermann nicht mehr in diesem Buch antworten konnte. So musste Hermann seine Antwort – ein deutscher Professor antwortet immer – als ein eigenes Büchlein publizieren, ,Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer‘, das 1819, selbstverständlich in Leipzig, erschien.24 Aus den Briefen in der gemeinsamen Publikation, aus dem eigenen Büchlein und aus zwei Aufsätzen – De mythologia Graecorum antiquissima dissertatio von 181725 und De historiae Graecae primordiis dissertatio von 181826 – sind Hermanns Ansichten über die griechische Mythologie zu gewinnen. Am Anfang der ,Briefe über Homer und Hesiodus‘ zeigt sich nicht nur Creuzer, sondern auch Hermann sichtlich darum bemüht, das Gemeinsame ihrer Ansichten zu betonen und die Differenzen herunterzuspielen – zumindest in denjenigen Textpartien, die der Herausgeber Creuzer der Öffentlichkeit vorgelegt hat. So fängt der erste Auszug aus dem ersten Brief Hermanns auf der ersten Seite nach der editorischen Vorrede mit dessen anerkennenden Worten an: „Im Ganzen hat Ihre Erklärung der schwierigen Stelle im Homerischen Hymnus auf die Ceres V. 265–267 völlig meinen Beyfall. Es ist ein überaus glücklicher Gedanke, diese Verse von festlichen Spielen zu verstehen, und er löst mit einem Male die Hauptschwierigkeit, die ohne dieses Auskunftsmittel schwerlich je beseitigt werden könnte“,27 wodurch das Buch mit einem triumphalen Paukenschlag zu Gunsten des nicht gerade als Textphilologe berühmten Creuzer anhebt. Aber im Verlaufe des Briefwechsels ist es vor allem Creuzer, der neben dem die beiden Ansichten Trennenden auch immer wieder versucht, das ihnen Gemeinsame aufzuzählen, während Hermann zunehmend die Unterschiede zwischen beiden betont. In der Tat ist das, was beide verbindet, nicht besonders viel: die Auslegung eben dieser Stelle des Homerischen Hymnus (wobei die Differenzen unübersehbar werden, sobald man die Ebene des unmittelbaren Textverständnisses verlässt), eine sehr allgemeine Auffassung von der Wanderung der Kultur von Asien nach Griechenland (wobei die Deutungen der beiden von dem Inhalt dieser Kultur und die Folgen, die sie für die Geschichte Griechenlands daraus ziehen, diametral entgegengesetzt sind) 23 24 25 26 27

Hermann–Creuzer 1818. Hermann 1819. Zitiert nach Hermann 1827, 167–94. Zitiert nach Hermann 1827, 195–216. Hermann–Creuzer 1818, 1.

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und eine allegorische Interpretation der Handlung der frühen griechischen Epen (wobei beide völlig konträre Auffassungen von Allegorie hegen und daraus ganz verschiedene Konsequenzen für die Deutung dieser Gedichte ziehen). Dagegen fällt zunächst einmal vor allem die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der beiden Wissenschaftler und der beiden Wissenschaften auf. Schon auf der Ebene der Persönlichkeit sind die Unterschiede unübersehbar. Ich meine hier nicht so sehr den Kontrast zwischen dem eher kühlen, ja frostigen, manchmal pointiert schneidenden, fast ritterlichen Hermann und dem hitzigen, ja überhitzten, wild um sich schießenden, gesellschaftlich etwas niedriger plazierten Creuzer, obwohl solche Charakterunterschiede durchaus auch ein Teil dieser Geschichte sind. Wäre Hermann, gerade auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, weniger vornehm gewesen, dann hätte Creuzer sich wohl nicht so produktiv auf ihn eingelassen, zumal andere, besonders Voß, die Symbolik mit fast erschreckender Bösartigkeit in diesen Jahren angriffen; und wäre Creuzer weniger eitel, verletzbar und inkonsequent gewesen, dann hätte der Kontakt mit Hermann letztendlich viel produktiver ausfallen können. Unter der Oberfläche dieser zum Teil unangenehmen Charaktereigenschaften aber gab es einen grundsätzlichen Unterschied der Wesensart der beiden Männer, der sich in allen Bereichen ihres Wirkens ausdrückte. Hermann nämlich suchte immer zu unterscheiden, zu präzisieren, auseinanderzulegen; wenn er zwei Phänomene sah, z. B. ein griechisches Gedicht und eine moderne Interpretation davon, führte ihn sein Instinkt dazu, immer auf die eventuelle Diskrepanz zwischen den beiden zu achten und diese zu benennen, zu ermessen und zu vergrößern. Hermann war der Geist, der stets verneint. Creuzer dagegen suchte immer das Ähnliche im Verschiedenen, er sprang assoziativ von einem Merkmal zu einem anderen, einigermaßen ähnlich gearteten und konnte nicht ruhen, bis er die Identität der beiden doch nur ähnlichen Phänomene zu seiner eigenen Zufriedenheit herausgearbeitet hatte. Setzte Hermann die eigene Identität in den Unterschied zwischen sich selbst und dem anderen, suchte Creuzer seine eigene vielmehr in der Gleichheit der verschiedenen Objekte, die alle von demselben Subjekt wahrgenommen wurden, letztlich in derjenigen der verschiedenen wahrnehmenden Subjekte. Er ist der Geist, der alles vermengt. So schreibt Creuzer z. B. in der Symbolik:28 Der Mythus ist wild gewachsen, die Natur aber trennt und unterscheidet nicht, wie der Begriff und Reflexion sondert und unterscheidet. Daher durchdringen jene mythischen Elemente eines das andere, im Großen wie im Kleinen. Jene Aeste und Zweige haben ihre Verastungen und Verzweigungen und das Ganze steht vor uns als ein einziger großer Baum, aus einer Wurzel erwachsen, aber nach allen Seiten hin verbreitet mit unzähligen Blättern, Blüten und Früchten.

28

Zitiert nach Howald 1926, 75.

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Vor einen solchen wilden Drang zur ununterschiedenen, ununterscheidbaren Einheit gestellt, schrak Hermann entsetzt zurück und pochte stattdessen auf Klarheit und Unterschiedlichkeit. Immer wieder warnte er im Briefwechsel mit Creuzer vor „Verwirrung“ und „Unordnung“,29 und er protestierte: Es „vermischen sich die Mythen aller Völker, aller Orte, aller Zeiten so untereinander, dass keine Unterscheidung mehr möglich bleibt“.30 In diesem Sinn war das Ergebnis der Auseinandersetzung, Differenz statt Versöhnung, ein Sieg für Hermanns Wesensart. Ein weiterer Unterschied betraf den Gegenstand, dem die beiden sich vorzüglich widmeten. Hermann liebte die Texte der griechischen Dichter und sah seine Aufgabe als den Dienst am klassischen Text. Für ihn nahm die Antike die Form einer Bibliothek an, deren unschätzbar teure Bestände im Laufe der Zeit beschädigt worden waren und wieder in ihrer ursprünglichen Vollendung und Makellosigkeit hergestellt werden konnten und mussten. Creuzer dagegen liebte die Seelen der griechischen Menschen und sah seine Aufgabe in der wiederbelebenden Teilnahme an der schönen antiken Seele. Für ihn war die Antike eine Versammlung gleichgesinnter, mit ihm seelisch zutiefst verwandter Menschen, die ihn aus seiner schmerzlichen Einsamkeit durch liebevolle Zuwendung und Verständnis retten konnten. Um ein wenig zu übertreiben: Hermann interessiert sich für die griechische Religion nur, weil und insofern als diese sich zum Verständnis der Texte als nützlich erweist; Creuzer interessiert sich für die griechischen Texte nur, weil und insofern als diese sich als nützlich zum Verständnis der Religion erweisen. Es ist kennzeichnend, dass sich hinter dem ganz allgemeinen Titel von Hermanns De mythologia Graecorum antiquissima dissertatio nichts anderes als ein detaillierter Kommentar zur Theogonie Hesiods verbirgt, der mit dem ersten Vers nach den Prooimien anfängt und sich bis zum Ende des Gedichts erstreckt. Creuzer selbst hat zwar früher und später Texte herausgegeben, namentlich die Fragmente der griechischen Historiker,31 Herodot32 und Plotin33 (in dieser letztgenannten Ausgabe gelang ihm übrigens auf glänzende Weise etwas, das Hermann in seinem ganzen Leben nie ernsthaft zu tun versuchte: eine kritische Ausgabe auf der Grundlage einer stemmatischen Untersuchung der Handschriften herzustellen); aber diese Editionen standen immer im Dienste seiner religiösen und religionsgeschichtlichen Interessen. Deshalb hatte Creuzer keine Bedenken, Griechisches mit Orientalischem zu verbinden, da das, was er suchte, nur zufällig mit dem Griechischen zusammenfiel – ja die Tatsache, dass die orientalischen Religionen noch viel schlechter als die griechischen bezeugt waren, ließ ihm Asien und Ägypten 29 30 31 32 33

Vgl. z. B. Howald 1926, 119. 123. Zitiert nach Howald 1926, 119. Creuzer 1806. Siehe dazu Momigliano 1955. Creuzer 1830-35. Creuzer 1835.

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viel interessanter werden, weil sein Drang zur Projizierung und Identifizierung dort weniger durch unliebsame Tatsachen behindert werden konnte. Auch Hermann nahm an, wie alle seine Zeitgenossen, dass die Kultur aus Asien nach Griechenland gewandert war, aber seine Vorliebe für die griechische Sprache und Dichtung ließ ihn die Griechen gegen die Gefahr einer wissenschaftlichen Asiatisierung dadurch schützen, dass er, wie viele seiner Zeitgenossen, annahm, dass die Griechen alles, was sie von den Barbaren übernommen hatten, in etwas echt Griechisches verwandelt hätten.34 Daher erschien es Hermann letztlich nutzlos, Asiatisches mit Griechischem mühselig zu vergleichen: Um die Griechen zu verstehen, durfte man sich ruhig auf griechische Denkmäler beschränken. Daraus ergibt sich, dass die Auseinandersetzung zwischen Creuzer und Hermann für Creuzer ein Heimspiel, für Hermann dagegen ein Gastspiel war: Denn sie fand in einem Wissenschaftsbereich statt, in dem das Zentrum der Interessen Creuzers lag, der aber von den Forschungen und der eigentlichen Kompetenz Hermanns eher entfernt war. So versteht man, dass die griechische Religion nur eine relativ kurze Episode in der wissenschaftlichen Karriere Hermanns ausmachte, während sie Creuzers gesamtes Œuvre bestimmte. Hermanns Arbeiten zu diesem Thema gehören alle den drei Jahren 1817 bis 1819 an; nachher kehrt er nie wieder dazu zurück. Charakteristisch ist seine Behandlung von Hesiods Theogonie gegen Ende seines Lebens in dem 1844 erschienenen Aufsatz De Hesiodi Theogoniae forma antiquissima.35 Denn hier verliert er fast kein Wort über die religiösen Inhalte des Gedichts, sondern greift wieder auf seinen 1806 durchgeführten Beweis von der Vielfalt der interpolierten Fassungen des Prooimions zurück, als wäre in den dazwischen liegenden fast vier Jahrzehnten gar nichts geschehen, um dann zu versuchen, den Bau des ursprünglichen Gedichts aus fünfzeiligen Strophen zu erweisen. Insofern blieb für Hermann die Auseinandersetzung mit Creuzer fast folgenlos – es sei denn, dass Hermann in der Folge eingesehen hat, dass er sich nie wieder mit so etwas wie griechischer Religionsgeschichte befassen wollte. Für Creuzer scheint die Auseinandersetzung etwas folgenreicher gewesen zu sein. Hermann zwang ihn dazu, seine Ideen klarer darzustellen und zu versuchen, deren Konsequenzen gegen eventuelle Missverständnisse besser zu immunisieren. So bekennt Creuzer z. B. erst in Erwiderung auf Hermann, dass die griechische Urreligion für ihn ein (stark an das Christentum erinnernder) Monotheismus sei: 36 Es ist dieser erste Typus eine reinere Urreligion, die Monotheismus war, und die, so sehr sie auch durch den eingerissenen Polytheismus öffentlich zersplittert und verfälscht worden, dennoch zu keiner Zeit ganz untergegangen,

34 35 36

Siehe dazu im allgemeinen Most 2003. Hermann 1877, 47–67. Hermann–Creuzer 1818, 96.

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sondern selbst bis mitten unter das anthropomorphistische Griechenthum durch Priestertradition und Mysterien im Wesentlichen ist erhalten worden.

Darüber hinaus ermunterte Creuzer die Tatsache, dass jemand wie Hermann ihn ernst genug nahm, um ihn respektvoll zu kritisieren, und dies muss Creuzer nicht nur Trost, sondern auch den Ansporn zur Weiterarbeit gegeben haben, zumal in den schwierigen Jahren des Kampfes mit Voß. Ob wir diese unbeabsichtigte Ermunterung Creuzers als Hermanns Verdienst oder eher als Hermanns Schuld verstehen sollen, sei dahingestellt. In Anbetracht aller dieser Unterschiede werden die Gemeinsamkeiten der Ansätze beider Wissenschaftler um so frappierender. Vor allem handelt es sich dabei um die spätestens seit Christian Gottlob Heyne immer wieder totgesagte Allegorese, die bei ihnen beiden eine erstaunliche Neubelebung erfährt.37 Beide retten den griechischen Mythos dadurch, dass sie in ihm einen ursprünglichen, allgemeinen gedanklichen Inhalt feststellen, der durch die Unkenntnis und die Missverständnisse späterer Generationen allmählich zur Fabelei und zu dichterischen Lügenmärchen verkommen war. Der Unterschied zwischen beiden besteht lediglich darin, dass Creuzer der neuplatonischen Allegorese verpflichtet ist, Hermann dagegen der stoischen. Dass Creuzer mit den Neuplatonikern gemeinsame Sache machte, war schon für seine Zeitgenossen evident, und seine Tendenz, Archaisches mit Neuplatonischem unkritisch zu vermengen, hat Lobeck veranlasst, im Gegenzug mit seinem Aglaophamus von 1829 einen Meilenstein der kritischen Quellenforschung vorzulegen.38 So pochte Creuzer für seine Deutung der Stelle im Homerischen Hymnus auf den Beleg, den er bei Porphyrius zu finden meinte; so setzte er in jeder Neuausgabe der Symbolik immer mehr Parallelstellen aus Iamblichus, Porphyrius, Proclus und anderen Neuplatonikern hinzu; so edierte er schließlich Plotin. Für ihn war die Ähnlichkeit zwischen dem, was er in den Neuplatonikern fand, und dem, was er in den ältesten Mythen zu finden meinte, geradezu ein schlagender Beweis für die Richtigkeit seiner Auffassung, der echte philosophische Inhalt der frühesten Mythen werde durch geheime Kanäle bis an das Ende der Antike tradiert und habe sich dadurch unversehrt erhalten; für uns ist es eher der Beweis dafür, dass er neuplatonisches Gedankengut allegorisierend in die Mythen zurückprojizierte. Erstaunlicher und weniger bekannt ist die enge Beziehung zwischen Hermanns Ansicht über die griechische Mythologie und der Tradition der stoischen Allegorese. Genau wie die Stoiker nimmt er die Eigennamen in den Mythen als alleinige Träger der ursprünglich in sie hineingelegten Weisheit an und versucht, aus diesen Namen jene Weisheit durch abenteuerliche Etymologien herauszuspinnen; und der Inhalt, der dadurch gewonnen wird, entpuppt sich immer wieder, genauso wie bei den Stoikern, als eine Reihe 37 38

Siehe dazu im allgemeinen Most 1999. Lobeck 1829.

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ziemlich banaler, entweder physikalischer Kenntnisse oder moralischer Lehrsätze oder historischer Begebenheiten. So nimmt es nicht wunder, dass Hermann gleich am Anfang seines 1844 erschienenen Hesiod-Aufsatzes ausdrücklich Zenos stoische Allegorese von Hesiod, so wie sie von Cicero referiert ist, billigt;39 und auch nicht, dass seine im Briefwechsel mit Creuzer aufgestellte Behauptung, Hesiod habe die ursprüngliche Weisheit der von ihm erzählten Mythen selbst nicht mehr verstanden und durch eigene Zusätze und Missverständnisse verunstaltet, fast eine wörtliche Übersetzung einer ähnlichen Feststellung des stoischen Allegorikers Cornutus ist.40 Sowohl Hermann als auch Creuzer meinen, die Oberflächenhandlungen in den Epen Homers und Hesiods seien das Ergebnis von deren Missverständnissen der ursprünglich in den Mythen ausgedrückten theologischen Lehrsätze – nur dass Hermann daraus den Schluss zieht, dass die Epen ohne Kenntnis jener Theologeme interpretierbar seien und wir uns nicht um sie zu kümmern brauchten, da Homer und Hesiod sie auch nicht verstanden hätten, während Creuzer den entgegengesetzten Schluss zieht, dass die wahre griechische Mythologie vor Homer und Hesiod gesucht werden muss, da diese sie nicht mehr verstanden und entweder verschwiegen oder verzerrt hätten. Hermanns eigene Allegorese der griechischen Mythen ist nicht gut bekannt, und es ist wohl besser so für seinen Ruf.41 Niemand kann die beiden Dissertationen Hermanns aus den Jahren 1817 und 1818 heutzutage lesen, ohne über deren merkwürdige Mischung aus sturer Willkür und gelehrter Borniertheit zu erschrecken; man fragt sich, wie viele der Bewunderer Hermanns (zu denen ich mich gern zähle) diese beiden Aufsätze je sorgfältig gelesen haben. Den Namen ,Io‘ z. B. deutet Hermann als ,die Gehende‘, und er identifiziert die Heroine mit den Wassern des Nils; Argos ist ein Damm aus Lehm mit vielen Löchern, der irgendwann vom Wasser weggeschwemmt wird; die fünfzig Töchter des Danaus sind fünfzig Schiffe, die von fünfzig Piraten gekapert werden; alle erleiden Schiffbruch bis auf eines, das von einem Sturm in den Hafen zurückgedrängt wird.42 Weniger aus Platzgründen als aus Respekt vor Hermann übergehe ich die vielen weiteren Beispiele, die sich anführen ließen. Mit Recht sind sie völlig folgenlos in der weiteren wissenschaftlichen Erforschung der griechischen Religionsgeschichte geblieben. Sehr merkwürdig bleibt die Tatsache, dass Hermann zu Beginn und zu Ende beider Aufsätze die Frage ausdrücklich aufwirft und nie eindeutig beantwortet, ob sie ein lusus oder iocus oder aber ernst gemeint seien.43 Wie sind diese seltsamen Bemerkungen zu deuten? Vielleicht reagiert Hermann 39 40 41

42 43

Hermann 1877, 47 f.. Vgl. Hermann–Creuzer 1818, 3 mit Cornutus Theol. gr. 17 (31, 12–17 Lang). Vgl. Wilamowitz 1921, 49: „Von seiner Mythologie hat glücklicherweise niemand Notiz genommen“. Hermann 1827, 201–03. Hermann 1827, 167 Anm. („ut lusum“), 194 („ludere …ludet“), 195 („ioco“), 216 („ioco“).

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damit auf Zweifel und Widerstand unter seinen Freunden; aber warum reagiert er ausgerechnet auf diese Weise? Sicherlich handelt es sich um eine gelehrte Anspielung an eine Stelle im Cratylus von Platon, in der Sokrates die eigene spielerische Art, Etymologien aufzustellen, von einer anderen, ernsthaften unterscheidet und ironisch rechtfertigt und exemplifiziert.44 Aber weder Platons Ironie noch Hermanns ist in ihrem genauen Sinn und in ihrer Reichweite leicht zu verstehen. Ein lusus braucht nicht unbedingt komisch zu sein oder als bloßer Witz verstanden zu werden; und über einen Witz, der fünfzig Seiten lang in gelehrtem Latein mit Hunderten von Quellenangaben erzählt wird, geht einem irgendwann das Lachen aus. So ist es wohl besser, Hermann so zu verstehen, dass er damit gut kantianisch auf den bloß hypothetischen Charakter seiner Argumente hinweisen will: In diesem jenseits aller möglichen Erfahrung liegenden Bereich gebe es keine Gewissheit, nur Mutmaßungen, somit wird neben dem Gedächtnis und dem Verstand vor allem die in Kants dritter Kritik als spielerisch bezeichnete Phantasie beansprucht.45 Aber dass Hermann sich ausdrücklich, wenn auch nur halbherzig, von diesen Arbeiten distanziert, ist ebenso deutlich wie ungewöhnlich innerhalb seines Œuvres. Vermutlich fühlte er sich durch Creuzers Arbeiten dazu angeregt, sich selbst auf diesem ihm fremden Gebiet zu versuchen – und fühlte sich dabei nie ganz wohl, mit gutem Grund. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hermann der letzte große deutsche Philologe der Aufklärung war und Creuzer einer der ersten wichtigen deutschen Philologen der Romantik. Noch 1819 beruft sich Hermann auf Heyne und Kant, deren größte Arbeiten beinahe drei Jahrzehnte zurückliegen, als ob es niemals einen Schlegel, Fichte, Schelling oder Hegel gegeben hätte. Er setzt auf das Aufklärungsprinzip der Vernunft als des allen Menschen Gemeinsamen und erkennt nicht, dass sein eigener Ansatz tatsächlich ästhetisch und elitär ist. Creuzer dagegen verpönt die Aufklärung und begrüßt ausdrücklich die Entwicklungen der jüngsten Jahre; er pocht auf das Gefühl als das, was allein die Trennungen zwischen allen Menschen überwindet, und gibt sich gern als Mystiker aus, ausgestattet mit einem eingeborenen und nicht durch Unterricht zu erlangenden Vermögen zum intuitiven und sympathetischen Auffassen des im Mythos Gemeinten. In Creuzer sehen wir jemanden, der sich darum bemüht, die deutsche Altertumswissenschaft in das 19. Jahrhundert hineinzubringen, und in Hermann jemanden, der mit allen Kräften darum ringt, sie in das 18. Jahrhundert zurückzuholen. Über ihre Einzelcharaktere und -schicksale hinaus sehen wir aber auch in 44

45

Platon Crat. 406b-c: D

,  ,  1 " 8% #μ ( " 3 Rμ2% 0 5 5  1 "  3.  μ b " 8 C

 , J ,   "     % 0  5c  " 8μ ,  1 d 8. Ich danke K. Sier für den Hinweis. Kant, Kritik der Urteilskraft § 12, A 36 = B 36; § 15, A 47 = B 47 (1975, 301. 309); vgl. schon Baumgarten 1757, 205 (§ 576). Zu Kants Einfluss auf Hermann siehe La Penna 1982 und den Beitrag von Michael Schramm im vorliegenden Band.

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ihrer strengen, leidenschaftlichen, traurigen Auseinandersetzung ein Symptom der Schwierigkeiten, die die deutsche Altertumswissenschaft in den ersten Jahrzehnten nach Friedrich August Wolfs Erneuerung erlebte. Denn Wolf hatte klargestellt, dass eine Altertumswissenschaft nur dann wirklich wissenschaftlich sein konnte, wenn sie allumfassend war: Da die Antike selbst eine einzelne, außerordentlich komplexe Totalität sei, so könne keine Einzelwissenschaft allein sie völlig erfolgreich erfassen. Wie war aber die erforderliche Multidisziplinarität zu verwirklichen? Die ersten Jahrzehnte der deutschen Altertumswissenschaft nach Wolf sind von heftigen Querelen gekennzeichnet, in denen Gelehrte erbarmungslos gegeneinander polemisierten in dem Versuch, die Wissenschaftlichkeit der eigenen Wissenschaft dadurch eindeutig und endgültig zu definieren. Warum konnten sie bloß nicht gemeinsam miteinander forschen, anstatt gegeneinander zu kämpfen? Dafür gab es verschiedene Gründe, aber einer war sicherlich die Meinung vieler, dass jeder als Einzelwissenschaftler alle relevanten Einzelwissenschaften beherrschen und erfolgreich anwenden können müsse, um zu guten Ergebnissen zu kommen. So fühlten sie sich dazu herausgefordert, aus dem Bereich ihrer eigenen Kompetenzen herauszugehen, und gerieten dadurch zwangsläufig in Konflikt mit anderen. Selbstverständlich hatte es seit eh und je wissenschaftliche Querelen und Fehden gegeben – schon in der Geburtsstunde des zweiten Philologen kam das odium philologicum mit auf die Welt. Aber vor dem Ende des 18. Jahrhunderts tendierten solche Auseinandersetzungen meistens dazu, persönlicher Natur zu sein und sich in ihren Auswirkungen auf den individuellen Bereich zu beschränken, da sie nicht so sehr bestimmten wissenschaftlichen Dynamiken oder strukturellen organisatorischen Faktoren entsprangen, sondern den zwei menschlichen Grundleidenschaften, Eitelkeit und Neid. Erst mit der durch Wolf und seine Schüler vorangetriebenen Professionalisierung und Institutionalisierung konnte es dazu kommen, dass alle Aspekte der Altertumswissenschaft, auch solche Kämpfe, mitprofessionalisiert und -institutionalisiert wurden. Nach Wolf fühlte ein Creuzer sich verpflichtet, seine Arbeiten über Religionsgeschichte mit Textphilologie zu untermauern; nach Wolf kam ein Hermann in die Versuchung, sich nicht nur in der Textphilologie zu betätigen, sondern auch zu sehen, ob er über die griechische Mythologie etwas mehr oder weniger Ernsthaftes zu sagen vermochte. Vielleicht hätten beide fünfzig Jahre früher sich eher mit dem zufrieden geben können, was sie wirklich gut konnten. Denn wenn der liebe Gott uns erschafft, gibt er uns niemals vollen Anteil an allen seinen eigenen unendlichen Gaben, sondern er gibt jedem von uns dieses oder jenes Vermögen und behält den Rest für sich selbst und für unsere Schwiegermütter und Rezensenten. Die Altertumswissenschaft kann nicht in einem Einzelwissenschaftler, sei er auch noch so genial, verkörpert werden, sondern nur in der sich gegenseitig ergänzenden Zusammenarbeit vieler einzelner. Jeder Wissenschaftsstreit in den ersten Jahrzehnten des

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19. Jahrhunderts war eine verlorene Gelegenheit zur freundlichen Zusammenarbeit. Offensichtlich hatten viele Professoren es damals nicht leicht, einzusehen, dass sie nur gemeinsam ihr Ziel erreichen konnten. Damals – und auch heute.

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Hermann gegen Creuzer über die Mythologie

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Gottfried Hermann und die Homerforschung

Wenn im vorliegenden Beitrag das Verhältnis Gottfried Hermanns zur Homerforschung und nicht sein Status als Homerforscher in den Mittelpunkt gestellt wird, so hat das sowohl wissenschaftsgeschichtliche als auch spezifische, auf Hermann selbst zentrierte Gründe, die vorab kurz erörtert werden sollen. Die allgemeine Fragestellung gilt der Homerforschung schlechthin. Die traditionelle Linie der philologischen Homerforschung befindet sich heute im deutschen Sprachraum auf einem Tiefpunkt. Derzeit ist nur ein einziger Lehrstuhl für Klassische Philologie mit einer Person besetzt, die Homer als aktuellen Forschungsschwerpunkt bezeichnen könnte. Auch ausgewiesene Spezialisten publizieren seit ihrer Promotion kaum mehr zu Homer. Anstelle dessen schreiben Forscher und Forscherinnen aus einer Außenperspektive, d. h. unter Ausklammerung der alten ,Homerischen Frage‘, über Homer,1 betonen dies gelegentlich mit Stolz2 und signalisieren damit, dass die von F. A. Wolfs Prolegomena ausgehende deutsche, aber auch die von Milman Parry initiierte amerikanische Tradition der Homerforschung, d. h. die Beschäftigung mit der ‚alten‘ wie auch der ‚neuen‘ Homerischen Frage, überwunden sei und ignoriert werden könne.3 Auf der anderen Seite haben in den letzten Jahren homerische Fragestellungen die deutsche Öffentlichkeit in einem Ausmaß erregt, wie man das kaum für möglich gehalten hätte: Zunächst wurde im so genannten ‚Neuen Streit um Troia‘4 anlässlich der Interpretation der jüngsten Grabungsbefunde von Troia um die Frage der Historizität des Trojanischen Krieges mit einer Erbitterung gestritten, als ginge es um die Identität des deutschen Volkes höchstpersönlich, wobei sich die Protagonisten der wissenschaftlichen Debatte in diversen Medien mit aller Schärfe bekämpften.5 Zuletzt hat Raoul 1

2 3 4

5

J. Grethlein, Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspektive, Göttingen 2006. G. A. Seeck, Homer. Eine Einführung, Stuttgart 2004. G. Radke, Die poetische Souveränität des homerischen Erzählers, RhM 150 (2007) 8–66. Vgl. dazu C. Ulf (Hrsg.), Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz, München 2003. Der Titel erinnert an frühere spezifisch ‚deutsche‘ Erregungen, zunächst um die Existenz oder Nicht-Existenz des Dichters Homer, ausgelöst durch Wolfs Prolegomena, und dann um die Historizität des Trojanischen Krieges, ausgelöst durch Schliemanns Ausgrabung von Troia. Für die Protagonisten (den Troia-Ausgräber Manfred Korfmann und den Althistoriker Frank Kolb) ergriffen jeweils zahlreiche deutsche Archäologen und Althistoriker Partei. Die philologische Seite der Debatte wurde von Joachim Latacz und Wolfgang Kullmann

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Schrott mit seinem Buch ,Homers Heimat‘6 bzw. mit dem im Vorfeld der Publikation inszenierten Medien-Spektakel ein breites öffentliches Interesse an einer Fragestellung hervorgerufen, die ebenfalls spezifisch ‚deutsch‘ erscheint: Ist Homer der autonome, autarke Begründer der abendländischen Kultur aus dem griechischen (das heißt: indogermanischen) Geist, oder ist das alles bereits aus dem (nicht-indogermanischen, ja zum Teil semitischen) Orient übernommen? Wieder ist damit eine Frage berührt, die im Zentrum des zweihundertjährigen, vor allem deutschen Ringens um die Homerische Frage steht: Wie kann man sich angesichts ihrer stupenden Alterität vorstellen, dass die homerischen Gedichte entstanden sind? 7 Die Diskussion um die Homerische Frage wird also derzeit in der deutschen Öffentlichkeit nicht von den Homerforschern, jedenfalls nicht den Philologen geführt. Trotzdem ist und bleibt es eine Diskussion um die Homerforschung, weil sie weiterhin um jene Fragen kreist, die die Homerforschung der letzten 200 Jahre definiert haben. Mit Korfmanns (und Latacz‘) Thesen zur Historizität des Trojanischen Krieges, aber auch mit Schrotts Idee eines assyrischen Schreibers Homer in Kilikien wird die Tragfähigkeit (deutscher) Homerforschung schlechthin zur Diskussion gestellt. Diese Situation mag somit ein willkommener Anlass sein, um die Frage nach dem Verhältnis Gottfried Hermanns zu der zeitgenössischen Homerforschung, die sich damals eben als wissenschaftliche Disziplin formierte, neu zu verhandeln und damit auch die aktuelle Erregung unter einem weiter gefassten historischen Gesichtspunkt zu betrachten. Der spezifische Grund für die Einschränkung der Thematik ist leichter zu bestimmen: Gottfried Hermann war kein Homerforscher. Nur wenige seiner Arbeiten gelten ausdrücklich Homer bzw. dem frühgriechischen Epos, und auch von diesen kreisen etliche um Detailprobleme der homerischen Sprache oder Fragen des griechischen Mythos. Weitere Bemerkungen zu Homer liegen vor allem in Schriften zu Sprache, Metrik und Mythos versteckt, doch handelt es sich dann nicht um Gegenstände der Homerischen Frage, auch wenn sie gelegentlich Relevanz für diese aufweisen können. Ein spezifischer Grund für Hermanns auffällige Enthaltsamkeit in homerischen Fragen ist in seinem Verhältnis zu Friedrich August Wolf zu orten. 1795, in dem Jahr, als Wolfs Prolegomena ad Homerum den Beginn der modernen wissenschaftlichen Homerforschung einläuten, ist Hermann gerade

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mit ähnlicher Schärfe geführt, blieb aber eine weniger beachtete Nebenfront. So findet sich in dem Band von Ulf (wie Anm. 4) kein Beitrag von philologischer Seite. R. Schrott, Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe, München 2008. Jenes Argument, das die Homerische Frage seit ihren Ursprüngen im 18. Jahrhundert vorangetrieben hat (die Herleitung Homers aus einer mündlichen Sangestradition in einer illiteraten Gesellschaft) ist bei Schrott einfach beiseite geschoben, wenn er Homer zu einem Schreiber am assyrischen Königshof erklärt und vor allem mit schriftlichen Quellen operieren lässt.

Gottfried Hermann und die Homerforschung

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23 Jahre alt.8 Die Prolegomena werden sofort zum Gegenstand des öffentlichen Interesses und der teilweise polemisch, ja bösartig geführten Kontroverse, definieren aber ein für alle Mal jenen Bereich, der für lange Zeit für Fragen der Homerforschung als allein relevant zu erachten sei. Wolfs umstrittene Autorität wird bis zu seinem Tod im Jahr 1824 die öffentliche Debatte prägen und die Philologen in Anhänger und Gegner Wolfs spalten. Es ist nun offensichtlich, dass Hermann zu Lebzeiten Wolfs der Konfrontation ausweicht. Er bezieht von Anfang an ausdrücklich Partei für Wolf und bekennt sich zu dessen Grundposition, auch dort, wo er in der Ausführung von seinen Thesen abweicht. Doch nimmt er vor 1801, soweit ich sehe, überhaupt nicht und zwischen 1801 und 1830 nur wenige Male dezidiert Stellung zu dieser Debatte, und das an verstreuten Orten, ja gelegentlich regelrecht getarnt. In der späteren Literatur werden nur zwei kurze Abhandlungen – erschienen 1832 und 1840, also in deutlichem Abstand zu Wolfs Tod (1824) – regelmäßig als die Stellungnahmen Hermanns zur Homerischen Frage zitiert. Diese wenigen Seiten gelten später als wegweisend, als programmatisch, ja man gewinnt den Eindruck, dass Hermann damit ex post für eine bestimmte prominente Schnittstelle innerhalb der Entwicklung der Homerforschung regelrecht vereinnahmt worden sei. Worauf das beruht, dem soll hier näher nachgegangen werden. In seinen umfangreichen frühen metrischen Schriften, publiziert ab 1796, unmittelbar nach Wolfs Prolegomena,9 geht Hermann bei der Behandlung des Hexameters mit keinem Wort auf die Problematik der Entstehung der homerischen Gedichte ein. Hermann bespricht die Regeln der inneren Metrik des Hexameters von Homer bis Nonnos summarisch, ohne Rücksicht auf chronologische Entwicklungslinien.10 Es dauert ein paar Jahre, bis sich ein Hinweis darauf findet, dass Hermann darüber nachdenkt, wie man Wolfs Erkenntnisse mit philologischen, nicht historischen Methoden in die Praxis umsetzen kann: In der Schrift De emendanda ratione (1801) weist Hermann darauf hin, dass seine rein sprachlichen Beobachtungen zur Verteilung kontrahierter Formen im homerischen Corpus die Thesen Wolfs bestätigen.11 Schon hier zeichnet sich allerdings 8

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Hermann hat sich 1794 in Leipzig habilitiert, tritt 1796 mit seiner ersten großen Schrift zur Metrik hervor und wird 1797 in Leipzig zum außerordentlichen Professor ernannt. De metris poetarum Graecorum et Romanorum, Leipzig 1796; Handbuch der Metrik, Leipzig 1799. Hermann wird diese Darstellungsweise auch in späteren Präsentationen beibehalten: Elementa doctrinae metricae, Leipzig 1816; Epitome doctrinae metricae, Leipzig 1818. Hier findet sich jedoch das erste Bekenntnis zu Wolf: „Vir patriae, non saeculi more acer et strenuus, dum Homerum nobis eripuit, restituit“ (De metris [wie Anm. 9] 92). De emendanda ratione Graecae grammaticae, Leipzig 1801, 38: „Quippe uterque locus in iis est, qui Wolfii opinionem de carminibus Homericis egregie confirmant. Non enim ista contractio antiquissimae illius aetatis est, cui maxima pars Iliadis assignari debet. Ac septimus quidem atque octavus Iliadis liber plurimas ob caussas recentiori nec sane summo poetae tribuendi videntur“.

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Hermanns spätere Position ab (ältere und jüngere Schichten innerhalb der Ilias), die mit Wolfs Hauptthese (späte Kompilation alter Einzellieder) nicht exakt übereinstimmt.12 Erst zehn Jahre nach dem Erscheinen der Prolegomena steht die historische Entwicklung des Hexameters im Zentrum der Argumentation.13 Hermann dokumentiert die sprachlich-metrische Entwicklung des Hexameters von Homer bis Nonnos als Basis für seinen von Zeitgenossen als philologische Großtat gewürdigten Nachweis der Spätdatierung der orphischen Schriften. Homer bildet dabei den Ausgangs- und Bezugspunkt für eine Stufenabfolge, die von Wolfs historischem Modell inspiriert ist,14 sich aber auch mit jüngeren oralistischen Modellen vergleichen ließe (G. S. Kirk, A. Hoekstra): Auf eine erste (rein mündliche) Phase (,Homer‘) folgt die Periode der Homeriden bzw. Rhapsoden (,sub-epic stage‘), sodann eine dritte Phase, in der die Anbindung an die mündliche Tradition bereits verloren geht (Hermeshymnus), auf welche in allmählichem Übergang die lange Phase der rein literarischen Epik einsetzt, die Hermann bei den hellenistischen Dichtern beginnen und erst mit Nonnos enden lässt, der völlig neue Kriterien entwickelt und von dem alle Späteren abhängen.15 In der voran geschickten knappen Erörterung Homers formuliert Hermann unter ausdrücklicher Berufung auf „praestantissima illa Wolfii prolegomena“, dass man auch innerhalb der homerischen Epen mit chronologischen Schichten operieren müsse.16 Er verweist darauf, dass Teile von Ilias und Odyssee eher der zweiten als der ersten Phase der HexameterEntwicklung angehören (688 f.), klammert aber das Problem elegant aus der weiteren Diskussion aus (687): „Sed istas dissensiones qui excitavit, idem, ut speramus atque optamus, componet“. Somit haben wir auf knappstem Raum Hermanns Position zu Wolf klar umrissen: uneingeschränkte Anerkennung von Wolfs Grundthese, jedoch eine deutliche Erinnerung daran, dass Wolf den angekündigten zweiten Teil der Prolegomena schuldig geblieben ist, und ein trockener Hinweis darauf, dass für eine seriöse Behandlung der aufgeworfenen Fragen man präzise philologische Methoden anwenden müsse, wie sie die Beobachtung metrischer Differenzen innerhalb des homerischen Corpus darstelle. 12

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Wolf selbst zitiert die Stelle als Zustimmung Hermanns: h)ijhk ;i. Homeri et Homeridarum opera et reliquiae, vol. I, pars I. Homeri Ilias, Leipzig 1804, xxxii f. Orphica, Leipzig 1805. Wolf (Prolegomena, Kap. VII) unterteilt die Geschichte des homerischen Texts in sechs Perioden, vom Beginn der ionischen Dichtung (ca. 950 v. Chr.) bis zur Gegenwart. Orphica 687–92, gefolgt von einer ausführlichen Dokumentation zu einzelnen sprachlichmetrischen Erscheinungen (Zäsur, Hiat, Correptio, Digamma, l, 8: 692–811). All dies liefert die Grundlage für die Beweisführung ,de dictione Orphei‘ (811–26). Orphica 687: „Interim hoc iure nostro sumere nobis videmur, nec scriptoris unius, neque aetatis eiusdem esse carmina ista, e quibus conflatae sunt Ilias et Odyssea“. Hermann erwähnt hier, dass das 13. und das 23. Buch der Ilias sich metrisch voneinander unterschieden, führt dies aber nicht aus und bleibt den Nachweis auch später schuldig.

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Nach dieser recusatio folgt ein Jahr später die erste ausführliche Auseinandersetzung mit der Homerischen Frage im engeren Sinn.17 Es handelt sich um eine Textausgabe der Homerischen Hymnen mit einem apparatus criticus, in dem Hermann eine ausführliche Argumentation zu Überlieferung und Textkonstitution liefert sowie zahlreiche Emendationen und Konjekturen bespricht. Hier zeigt sich Hermann bereits als jener Meister der Textkritik, als der er vor allem für seine Textausgaben der Tragiker berühmt geworden ist: Selbst wenn man nur die längeren Hymnen berücksichtigt, so führt Càssola im Apparat seiner jüngsten kritischen Ausgabe18 nicht weniger als 64 Texteingriffe von Hermann an, die er selbst in den Text aufgenommen hat, und zitiert weitere 44. Hermann hat der Edition eine Einleitung von 120 Seiten vorangestellt, in der es nicht um die simple Textkonstitution geht, sondern um eine Erklärung, wie es zu dem uns vorliegenden Textzustand gekommen sei.19 Hermann erklärt den überlieferten Text, vor allem jenen der langen Hymnen, rundheraus als Konflation unterschiedlicher Versionen aus der Hand (bzw. dem Mund) unterschiedlicher, d. h. konkurrierender Sänger. Als ‚Beweis‘ für die Tragfähigkeit dieser These, die keineswegs eins zu eins aus Wolfs Modell der Entstehung der homerischen Epen abgeleitet ist, analysiert Hermann Hesiods Theogonie-Proömium als Resultat von nicht weniger als sieben unterschiedlichen Varianten, die jeweils einen anderen Teilbestand des überlieferten Textmaterials enthalten hätten und erst in einem späten, sekundären Prozess zu einer gemeinsamen Einheit verknüpft worden seien, und schreibt diese Varianten (von denen jede für sich den gesamten ‚Grundgedanken‘ des Proömiums enthält) „experimenti caussa“ aus.20 Dabei räumt er zuletzt offen ein, man könne leicht erkennen, dass bei dieser Art von Rekonstruktion „quaedam etiam aliter constitui posse“(xix): Am Endprodukt lasse sich zwar die Methode der Entstehung ablesen, die Rekonstruktion der einzelnen Entwicklungsschritte müsse jedoch hypothetisch bleiben. Hermann versucht in der Folge jedoch nicht, die an der Theogonie demonstrierte Methode der Rekonstruktion systematisch auf die Hymnen zu übertragen, sondern führt in der Praefatio nur eine Auswahl an Beispielen an, auf die seine Methode besonders fruchtbar angewendet werden könne. Auch in Text und kritischem Apparat markiert er zwar zahlreiche Lücken und scheidet suspekte Verse aus, doch bleibt seine Analyse im Detail destruktiv ausgerichtet: Die Texte strotzen in Hermanns Interpretation von unerträglichen Doppelungen, Widersprüchen, sprachlichen Ungereimtheiten und inhaltlichen Obskuritäten (xx): „in his enim carminibus omnibus alia temere repeti, alia sibi repugnare, alia denique diverso dictionis genere 17 18 19

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Homeri Hymni et Epigrammata, Leipzig 1806. Inni omerici, a cura di F. Càssola, Milano 1975. Vgl. das Referat bei R. Volkmann, Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena zu Homer. Ein Beitrag zur Geschichte der Homerischen Frage, Leipzig 1874, 103–06. Homeri Hymni xi–xix. Vgl. xix: „… qualia experimenti caussa descripsi”.

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exponi quis neget?“ Die Ursache für dieses Ergebnis sieht Hermann in derselben wie bei Homer und knüpft damit scheinbar an Wolfs Prolegomena an: Die nachhomerischen Rhapsoden bzw. Homeriden hätten die ursprünglichen Texte Homers verändert, und zwar durch Imitation, Erweiterung und Interpolation. Hier fällt zum ersten Mal der Begriff der Interpolation, der für Hermanns Homerstudien später noch wichtig werden wird. Hermann definiert ihn ,im Sinne der Alten‘ nicht einfach als glatte Hinzufügung von Versen, sondern als jede Art redigierende und/oder erweiternde Überarbeitung eines Textes (viii). Glatte Schnitte sind dabei die Ausnahme, hingegen kann es auch zur kontaminierenden Einarbeitung von bereits (mündlich) vorliegenden älteren Gedichten kommen. Worauf das alles basiert, legt Hermann bereitwillig offen: Nachdem er in einer Art methodischem Vorspruch den Versuch unternommen hat, die Prinzipien der Textkritik zu umreißen – womit er eine übertrumpfende, weil präzisere und klarere Variation auf den Eingang von Wolfs Prolegomena liefert21 – nennt er Wolf selbst beim Namen (vi): „Ex quo vir summus, Fr. Aug. Wolfius, Homerum nobis […] restituit …“. Tatsächlich bleibt Hermann in seiner Epistola editoris (formal ein Widmungsbrief an seinen ehemaligen Lehrer Carl David Ilgen) dem Anschein nach ganz auf der Linie von Wolf und unternimmt nicht den Versuch eines Gegenentwurfs. In der Sache jedoch zeichnet sich schon hier ab, dass Hermann ein differenzierteres und doch klareres Bild von der Entstehung der homerischen Epen vor Augen hat, als es Wolf bei all seiner Verbosität und Rhetorik zu Papier bringen konnte. Hermann arbeitet sich in seinen Prolegomena an der Wolfschen Vorlage ab, um Kriterien für die unmittelbare praktische Umsetzung in einer Textedition zu entwickeln und umfassend zu dokumentieren: Bekanntlich hat Wolf weder den angekündigten zweiten Teil der Prolegomena noch die versprochene kritisch-exegetische Edition der Ilias je folgen lassen.22 Hermann hingegen leistet diese Umsetzung für die 21

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Nach den persönlichen Erklärungen an Ilgen setzt die fachliche Auseinandersetzung mit den Worten ein: „Consilium certe non idem habui, quod alii editores. Nam emendare quidem haec carmina studuimus omnes …“ (iv–v). Wolfs Prolegomena beginnen bekanntlich so: „Duplex in primis genus est emendationis …“ (3). Die zwei Arten der Emendation tauchen bei Hermann erst nach einer weiteren ganzen Druckseite auf, um die entscheidende Pointe zu liefern. Während es bei Wolf heißt: „(duplex genus …) alterum plus negoti et, paene dixerim, aerumnae habet; alterum plus otiosae delectationis: utrumque, recte si adhibetur, utile est; at alterum utilius“, führt Hermann aus: „Duae vero sunt aliae viae, a quibus meliorem fructum sperari posse existimo. Utrumque iam aliis locis indicavi, unam olim et clare, sed frustra, alteram nuper, sed obscurius“ (v–vi). Sowohl in der Homer-Ausgabe von 1795 als auch in der zweiten Auflage von 1804, in deren ausführlicher Praefatio (xxix–xcvi) Wolf auf Kritik an den Prolegomena reagiert und seine Editionsprinzipien an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, verzichtet Wolf auf die Beifügung eines kritischen Apparats.

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Hymnen: Seine Hymnen-Edition ist eine permanente intensive Diskussion zur Textüberlieferung, geduldig, Vers für Vers. Die methodischen Prämissen zur Rekonstruktion der Textgenese sind vorangestellt: die Vergegenwärtigung, um welche Art von Text es sich eigentlich handele, der da ediert werden solle, bzw. die Frage, welcher Text nun eigentlich ediert werden solle; doch was wirklich zählt, ist die Arbeit am Text selbst. Bei diesem ersten Versuch Hermanns, die Entstehungsgeschichte der erhaltenen Texte der frühgriechischen Epik zu klären, wird ein Problem sichtbar, das auch sonst auffällt: Während Hermann in seinen Abhandlungen die dargestellten Thesen auf eine logisch stringente Argumentation ausrichtet, wird das Thema in seinen Briefen eher umkreist bzw. assoziativ erklärt. Dies tritt besonders deutlich im Briefwechsel mit Ilgen zu Tage. Da es sich auch bei der Einleitung zur Hymnen-Edition formal gesehen um einen Geleit- oder Widmungsbrief an Ilgen handelt, mag man vermuten, dass Hermann hier Thesen zum Druck bringt, die er mit Ilgen in ‚privaten Briefen‘ schon zuvor erörtert hatte. Diese Vermutung könnte die Form der vorliegenden Argumentation erklären: Hermann kreist um die Aussage, dass der Text der Hymnen, wie er uns überliefert sei, nicht identisch mit dem Originalzustand sein könne; er demonstriert dies an etlichen Stellen, wo die Abweichung vom postulierten Originalzustand manifest nachgewiesen werden könne; dabei präsentiert er aber keine systematische These dafür, wie die ‚Abweichung‘ tatsächlich zustande gekommen sei bzw. welchen Status im Vergleich zu dem langen Erweiterungs- und Umarbeitungsprozess der ‚Originalzustand‘ eigentlich gehabt habe. Seine Analyse des Theogonie-Proömiums entspricht nicht dem Modell von Wolf, wonach zahllose Einzellieder unverbunden im Raum schwirren und erst spät zu einer künstlichen Einheit verbunden werden.23 Bei Hermann zeichnen sich vielmehr nicht weniger als sieben alternative, d. h. zueinander in Konkurrenz stehende, sich aber auch überschneidende Parallelversionen ab, die von diversen Rhapsoden vorgetragen und erst in einer späteren Phase miteinander kombiniert worden seien. Das mit diesem Versuch einer Rekonstruktion gewonnene Modell deckt sich durchaus mit Erfahrungen, die man im 20. Jahrhundert mit mündlicher Epik gemacht hat: Nicht nur unterschiedliche Sänger, sondern sogar ein und derselbe Sänger kann den exakten Wortlaut und vor allem den Versbestand seines Liedes bei unterschiedlichen Vorträgen fast nach Belieben variieren.24 Wenn Hermann jedoch davon ausgehend versucht, die diversen ‚konkurrierenden Varianten‘ exakt zu rekonstruieren, so erinnert sein Modell eher an jenen Ansatz, den noch in jüngerer Zeit Helmut van Thiel als völlig neuen 23

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Man mag sich hier an Wolfs beiläufige Äußerung erinnern, wonach Peisistratos selbst bereits die einzelnen Rhapsodien in unterschiedlichen Varianten vorgefunden habe. Bekanntlich beruht Parrys Modell der oral poetry als extemporierender Gesang auf den Beobachtungen Mathias Murkos an bosnischen Sängern, die gar nicht imstande waren, den Wortlaut eines Liedes ein zweites Mal exakt zu reproduzieren.

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Ansatz präsentiert hat: Es gebe zunächst eine Ilias A (aus der Hand des Dichters A); in einem zweiten Anlauf trete eine Ilias B (von einem Dichter B) in Konkurrenz zur Ilias A, indem sie exakt denselben Handlungsverlauf mit völlig divergierenden Details bestreite. Und schließlich trete ein Redaktor auf den Plan, der die beiden Versionen A und B mechanisch ineinanderfüge wie ein Puzzle und zu diesem Zweck nur dort, wo dies unbedingt nötig sei, verbindende Verse hinzufüge.25 In Hermanns konkreter Textarbeit an den Hymnen spielt sein eigenes theoretisches Modell jedoch fast gar keine Rolle mehr: Hier geht es nur um eine für den findigen Philologen oft wieder herstellbare Urversion, die durch Interpolationen überschichtet sei. Es wird dieser Weg sein, der von der ‚klassischen‘ Homer-Analyse im 19. Jahrhundert in zahllosen Varianten angewendet wird. Für Hermann steht die Ursache, warum die Textgeschichte in der von ihm rekonstruierten Weise abgelaufen sein soll, außer Frage: Wir befinden uns noch in der Phase der reinen Mündlichkeit; die Dichter der Hymnen, aber auch die folgenden Zudichter bzw. Interpolatoren kennen die Schrift noch nicht. Hermann schließt sich damit eng an Wolf an, führt aber ebenso wie Wolf nicht präzise aus, wie diese Art von mündlicher Überlieferung sowie deren Verschriftlichung in der Praxis funktioniert habe. Das wird bei allen Äußerungen Hermanns zur Homerischen Frage ein wunder Punkt bleiben. In den nächsten Jahren kommt Hermann nur scheinbar öfters auf Homer zurück, berührt aber die zentralen Probleme der ‚Homerischen Frage‘ nicht: Die zwei nächsten Beiträge sind rein grammatischer Natur;26 und die Briefe mit Creuzer gelten ausschließlich der Erörterung von Fragen zu Wesen und Entwicklung des griechischen Mythos.27 Auch in den Editionen von Ilias und Odyssee (1825) findet sich weder in der Textgestaltung noch in den kurzen, ganz für die Zwecke einer Schulausgabe konzipierten Praefationes ein Hinweis auf die Einarbeitung theoretischer Erkenntnisse.28 Trotzdem mag bezeichnend sein, dass diese Ausgaben erst im Jahr nach Wolfs Tod erscheinen. Wolf hat sich nach der letzten Überarbeitung seiner Textedition (1804) nicht 25

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H. van Thiel, Iliaden und Ilias, Basel 1982. Van Thiel hat dieselbe Methode später auch auf die Odyssee angewendet: Odysseen, Basel 1988. De legibus quibusdam subtilioribus sermonis Homerici dissertatio prima/secunda, Leipzig 1812/1813 (= Opuscula II, Leipzig 1827, 18–39/40–58). Hermann verweist hier auf Wolfs verdienstvolle Edition von 1804 (Opuscula II 19: „… orationem poetae, nuper eximia Wolfii sollertia a plerisque sordibus purgatam …“), behandelt aber im Text die Moduslehre Homers als die eines einheitlichen Corpus. Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie von Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer … (Mit besonderer Hinsicht auf des Ersteren Dissertatio de Mythologia Graeca antiquissima und auf des Letzteren Symbolik und Mythologie der Griechen), Heidelberg 1818; Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer, Leipzig 1819. Abgedruckt als: Praefatio ad Homeri Iliadem/Odysseam, Opuscula III, Leipzig 1828, 74–82.

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mehr zur Homerischen Frage geäußert; die letzte Ausgabe wurde nach 1804 unverändert nachgedruckt. Wir kommen also erst 1831, nach 25 Jahren – Hermann ist zu diesem Zeitpunkt immerhin schon 59 Jahre alt – zur nächsten Äußerung zur Homerischen Frage.29 Man erhält den Eindruck, dass Hermann mit dieser Stellungnahme bewusst auf das Ableben Wolfs gewartet habe. Ich halte es auch für keinen Zufall, dass es sich auch hier um keine selbstständige Abhandlung, sondern um eine Rezension handelt: Der Aufhänger für Hermanns späte Neuaufnahme der Homer-Debatte ist die Herausgabe von Ilias und Odyssee durch Payne Knight (1820),30 die Hermann in polemischer Manier für rundweg verfehlt erklärt und in Bausch und Bogen verwirft, ehe er beginnt, seine eigenen Gedanken auszubreiten. Hermann leitet seine Ausführungen mit dem bezeichnenden Satz ein (Opuscula VI 75): „Es liegt in der Natur der Sache, dass es kaum eine schwierigere Aufgabe geben könne, als eine sichere Homerische Kritik“. Er führt dann aus, dass man bei einer Textedition Homers zunächst fragen müsse, welchen Text man eigentlich ediere, flüchtet sich jedoch in die resignierende Feststellung, dass man zwei verschiedene Arten von Homer edieren könne: einerseits den ‚ursprünglichen‘, andererseits den durch die Tradition überlieferten.31 Er spricht von Vorhomerischem, Homerischem und Nachhomerischem und kommt kreisend zur Frage zurück (81): „Wie aber, wenn von allen diesen eigentlich nichts das Wahre wäre, und wir, indem wir von Homer sprachen, im Grunde nicht einmal wussten, wovon wir redeten?“ Es folgen die seit Wolfs Prolegomena unvermeidlichen Eckpunkte der Homeranalyse, wie wir sie schon aus Hermanns frühen Arbeiten kennen: Der Text enthalte Einschiebsel, Widersprüche, stilistische Unterschiede. Dies sei auf die mündliche Überlieferung zurückzuführen, innerhalb derer die Homeriden mühelos im Hexameter improvisieren und daher ihren Text skrupellos abändern konnten. All das ist 1831 längst Standard und geht über Wolf nicht hinaus. Erst auf den letzten fünf Seiten blitzt plötzlich eine eigene Idee durch. 29

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Über die Behandlung der griechischen Dichter bei den Engländern nebst Bemerkungen über Homer und die Fragmente der Sappho, Wiener Jahrbücher 54, 1831 (= Opuscula VI, Leipzig 1835, 70–141). Carmina Homerica. Ilias et Odyssea. A rhapsodorum interpolationibus repurgata, cum notis ac prolegomenis et studio Richardi Payne Knight, London 1820. Auch der große zeitliche Abstand zum Erscheinen der Edition, deren erste Auflage schon 1808 erschienen war, deutet darauf hin, dass Hermann der Fragestellung vor dem Tode Wolfs ausgewichen ist. Diese Erkenntnis ist in den zwei jüngsten Textausgaben der Ilias exakt abgebildet: Während Helmut van Thiel (1996) sich darauf beschränkt, den Text der durch Aristarch initiierten Vulgata wiederzugeben, erhebt Martin West (1998/2000) den Anspruch, (zumindest im Idealfall) zu den ipsissima verba des Dichters Homer vorstoßen und diese von den (vergleichsweise spärlichen) späteren Zutaten und Verunstaltungen befreien zu können.

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Hier erhalten wir in nuce die Skizze einer These, die Hermann im folgenden Jahr in seiner ersten vollwertigen Abhandlung, die er der Homerischen Frage widmet, breiter ausführen wird, während sie hier noch nicht wesentlich vertieft wird. Diese These ist es, für die Hermann später in die Annalen der Geschichte der Homeranalyse eingehen wird und die in der einen oder anderen Formulierung in jeder Darstellung der Geschichte der Homerischen Frage nachzulesen ist. Die damit vertretene Position wurde so zusammengefasst: 32 Enger noch an Wolf und Herder […] schloß sich Gottfried Hermanns „Kernoder Erweiterungstheorie“ (1832/40), wonach eine Urilias (Achilleis) und eine Urodyssee (Nostos) des Homer in stetiger Erweiterung durch jüngere Dichter allmählich zu dem Umfange angewachsen seien, den sie bei ihrer Niederschrift unter Peisistratos gewonnen hätten.

Hermann bleibt auch hier in seiner Argumentation kreisend, sprunghaft und assoziativ und drückt seine Schwierigkeit bei der Präzisierung der These so aus (Opuscula VI 88 f.): „In dichtem Nebel liegt das graue Altertum eingehüllt, und die Fackel der Vermuthung wird verdunkelt, wenn sie sich hinein wagt. Dennoch muss gewagt werden, wo schwer zu hoffen ist, dass der Nebel sich je vertheile“. Der eigentliche Anlass für Hermanns erstmaliges explizites Eingehen auf die Homerische Frage ist die Auseinandersetzung mit den jüngsten Thesen von Gregor Wilhelm Nitzsch zur Entstehung der Ilias.33 Auch Nitzsch setzt im Gefolge Wolfs eine lange Entstehungsgeschichte der Ilias an, die im wesentlichen durch ein beständiges Akkumulieren und Anwachsen von Textmasse ausgezeichnet sei. Doch steht bei Nitzsch im Gegensatz zu Wolf am Ende die gewollte künstlerische Einheit der beiden Epen durch den Dichter-Sänger Homer, der viel Älteres aufgehoben und sinnvoll vereinnahmt und koordiniert habe. Gegen diese These – die er mit Respekt bespricht – setzt Hermann sein Gegenmodell: Die Einheit der Ilias sei in ihrem ursprünglichen Kern zu suchen, der ein sinnvoll komponiertes Ganzes von geringem Umfang gewesen sei. Danach hätten sukzessive umfangreiche Erweiterungen durch Zudichter eingesetzt, die mit Abänderungen, Anpassungen, Umstellungen und Weglassungen einhergegangen seien, wie es in der Phase der rein mündlichen Überlieferung nicht anders zu erwarten sei. Mündlichkeit impliziere sowohl, dass die Sänger die Gesänge auswendig gelernt und aus dem Gedächtnis im Vortrag reproduziert hätten, als auch, dass sie über die Fähigkeit der mühelosen Improvisation verfügt hätten und somit ihre Änderungen auch spontan in der Situation des Vortrags vornehmen konnten. Trotz aller Bewunderung 32

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E. Drerup, Das Homerproblem in der Gegenwart. Prinzipien und Methoden der Homererklärung, Würzburg 1921, 15f. G. W. Nitzsch, De historia Homeri, maximeque de scriptorum carminum aetate meletemata, Fasc. prior, Hannover 1830, 112.

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für die Ilias in ihrer überlieferten monumentalen Gestalt überwiegt daher bei Hermann die Kritik an der unorganischen Vielfalt in der ganz oberflächlichen Einheit. Homer sei anzusprechen als der "3 '#, und zwar nicht nur der epischen Grundmotive vom ‚Zorn des Achill‘ und der ‚Heimkehr des Odysseus‘, sondern der Gattung der narrativen Heldendichtung überhaupt, da es vor Homer nur didaktische Hexameter-Dichtung im Stile eines Hesiod gegeben habe. Bei beiden Epen habe es sich ursprünglich um kurze Gesänge gehandelt, die nur ihr Grundmotiv straff erfasst hätten; erst spätere Generationen hätten dieses Grundmotiv fast nach Belieben erweitert und modifiziert, allerdings aus Respekt vor dem "3 '# Homer den zugrunde liegenden Handlungskern nicht angetastet. Diese kurze Skizze lässt erkennen, dass die Vereinnahmung Hermanns für die ‚Kern- bzw. Erweiterungsthese‘ durch die spätere Analyse nicht den Punkt trifft: Für Hermann lässt sich die ‚Ur-Ilias‘ nicht rekonstruieren, weil es im Wesen mündlicher Dichtung liege, dass jeglicher frühere Textbestand in jeder späteren Phase weiter interpoliert wird, und das heißt nicht nur erweitert, sondern auch in jeder möglichen Weise verändert, manipuliert, dupliziert oder auch verkürzt. Man könne also zwar ,experimenti caussa‘ spätere Schichten abgraben und frühere freilegen, doch nur, wenn man auf den Anspruch verzichte, damit auch einen ursprünglichen Wortlaut zu gewinnen; dieser sei im Prozess der mündlichen Weiterdichtung unwiderruflich verloren gegangen. Das Bild ändert sich mit der Schrift vom folgenden Jahr, in der Hermann seine These in der ‚seriösen‘ Form eines lateinischen Aufsatzes wiederholt und breiter ausführt.34 Was das theoretische Fundament betrifft, bleibt Hermann bei Homer als Begründer des narrativen Epos und bei der schrittweisen Erweiterung und Adaptation über mehrere Jahrhunderte. Hier führt er jedoch erstmals ausführlich vor, wie man Interpolationen identifizieren könne: Das im Proömium angekündigte Thema der Ilias, der Zorn Achills und der Plan des Zeus, werde von der Ausführung nicht eingelöst, da sie weit über dieses hinausschreite.35 Aber auch innerhalb der drei ersten Schlachttage fänden sich umfangreiche Partien, die nicht zwingend aus der μ abgeleitet seien (Opuscula V 58): „cohaerent haec quidem aliquo modo, sed tam male, ut […] nemo non aegre ferret fieri, quae cur fiant non appareat“. Nach einer kurzen Aufzählung überflüssiger Elemente (Zweikampf Paris gegen Menelaos, Schiffskatalog) und der Skizzierung von ‚logischeren‘ Alternativ-Szenarien (Zeus schickt den Traum an Hektor; die Griechen errichten die Mauer um das Schiffslager nach der gescheiterten Gesandtschaft an Achill) führt Hermann drei Nachweise breit aus: Die Verwundung Machaons sei ein nachträglicher Einschub in einen ursprünglichen Zusammen34 35

De interpolationibus Homeri dissertatio, Leipzig 1832 (= Opuscula V, Leipzig 1834, 52–77). Hermann knüpft damit an Wolf an, der behauptet, dass das Proömium nur die ersten achtzehn Gesänge abdecke (Prolegomena, Kap. XXVII).

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hang; Nestor sei zu Beginn des 14. Buches ursprünglich nicht aus seinem Zelt, sondern direkt vom Schlachtfeld gekommen; und schließlich habe der Anfang des 13. Buchs ursprünglich direkt auf die Anfangsszene des 8. Buchs gefolgt.36 Obwohl Hermann in diesen Fällen die interpolierten Partien sorgfältig herausschält und abgrenzt, wiederholt er als Ursache für diesen Endzustand der Ilias zunächst, dass das ursprüngliche Konzept Homers (eine vom Umfang geringe ‚Ur-Ilias‘) von den Rhapsoden erweitert, abgeändert, und verbessert worden sei. Dabei könne man auch damit rechnen, dass Homer selbst einzelne Partien ursprünglich als Einzellieder konzipiert habe, wie z. B. die Aristie des Agamemnon. Der zentrale Gegenstand der Homerischen Frage müsse lauten, wann und durch wen die dem Homer zugeschriebenen verstreuten Gedichte zu der heutigen Einheit von Ilias und Odyssee zusammengefügt worden seien. Mit diesem Resümee landet Hermann jedoch exakt wieder bei der Fragestellung Wolfs, da er damit letztlich wieder auf eine anonyme, nicht entstrickbare Masse von einzelnen Liedern zurückfällt. Beurteilt man diesen Versuch Hermanns, so fällt auf, dass er bei der Beweisführung ausschließlich mit inneren Widersprüchen oder Schwächen der Erzähllogik operiert. Seine frühen Andeutungen, dass man durch sorgfältige Beobachtung sprachlicher und metrischer Differenzen ältere und jüngere Schichten der Ilias und der Odyssee voneinander trennen könne, sind stillschweigend fallengelassen, ohne dass Hermann daraus auf den AmalgamCharakter der homerischen Sprache schließen würde. Hermanns Ansatz fand im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche Nachfolger, die jedoch ausschließlich die Methode der Herausschälung früherer und späterer Schichten praktizierten und sein theoretisches Fundament (das mit seiner Rekonstruktionsmethode eigentlich inkompatibel ist) vernachlässigten, mit dem Resultat, dass bald nur mehr von Dichtern die Rede war, die schriftlich vorliegende Vorlagen weiter bearbeiteten. In diesem Sinn ist es berechtigt, Hermann tatsächlich als den oder zumindest einen der Begründer der ‚SchichtenAnalyse‘ zu bezeichnen. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen methodischem Rahmen und konkreter Ausführung der Untersuchung finden wir in Hermanns letztem Beitrag zur Homerischen Frage, der dem Phänomen der Wiederholungen gewidmet ist.37 Hermann beginnt wieder mit theoretischen Vorüberlegungen: Mehrere Merkmale von Stil, Sprache und Metrum ließen erkennen, dass die epische Sprache auf den mündlichen Vortrag vor Zuhörern zugeschnitten sei und die Sänger die Texte leicht im Vortrag improvisieren, aber auch leicht im Ge36

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Hier irrt Hermann, wenn er kritisiert, dass Zeus sich zu Beginn des 13. Buches auf dem Ida befinde, obwohl er zuletzt in 8, 438 f. vom Ida auf den Olymp zurückgekehrt sei: Zeus hat sich zu Beginn des dritten Schlachttags wieder vom Olymp auf den Ida begeben (11, 183 f.) und agiert von dort aus schon während des Kampfes um die Mauer (12, 252 f.). De iteratis apud Homerum, Leipzig 1840 (= Opuscula VIII, Leipzig 1877, 11–23).

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dächtnis behalten konnten. Eine logische Konsequenz dieses Kompositionsstils seien unter anderem die häufigen epischen Wiederholungen. Damit ist Hermann bei seinem eigentlichen Thema angelangt, das die einleitenden Bemerkungen als Präludium entlarvt: Auch wenn viele Wiederholungen Ausfluss mündlichen Stils seien, gebe es Wiederholungen anderer Art, die sich in zwei Kategorien teilen ließen: Entlehnungen aus anderen Gedichten oder von anderen Dichtern; und Wiederholungen als Kitt disparater Teile infolge der redigierenden Arbeit der letzten Bearbeiter. Hermann bespricht vor allem diese Arten ‚nicht-mündlicher’ Wiederholung, und es ist klar, dass er damit das Prinzip der sprachlichen, ja auch der thematischinhaltlichen Wiederholung als ein weiteres Kriterium zur Identifizierung von Interpolationen etablieren will.38 Diesen Beitrag Hermanns hat Joachim Latacz in seinem Sammelband zur ,Geschichte der Oral poetry-Theorie‘39 zum Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Mündlichkeit der epischen Sprache erklärt: Hermann habe als erster Vorläufer Milman Parrys das Phänomen der Mündlichkeit des Stils analysiert und wissenschaftlich begründet, indem er das Zusammenspiel von Sprache und Metrum als Frucht der Improvisation entlarvt habe.40 Diese Zuweisung durch Latacz wurde zu Recht kritisiert, da es Hermann in seiner Schrift gar nicht darum geht, die Funktionsweise mündlich-improvisierenden Dichtens näher zu ergründen.41 Vor allem Latacz‘ Versuch, Hermann einen entscheidenden Erkenntnisgewinn gegenüber Wolf zuzuschreiben, erweist sich bei näherem Hinsehen als nichtig: Sämtliche bei Hermann genannten Aspekte der Mündlichkeit des Stils finden sich schon

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Hermann wird damit zum Urvater einer Variante der Homeranalyse, die Ernst Heitsch und seine Schüler noch in jüngster Zeit verfochten haben (zuletzt P. Csajkas, Die singulären Iterata der Ilias. Bücher 11–15, Leipzig 2002). J. Latacz, Tradition und Neuerung in der Homerforschung. Zur Geschichte der Oral poetry-Theorie, in: ders., Homer. Tradition und Neuerung, Darmstadt 1979, 25–44. Latacz’ vereinnahmende Herleitung erscheint in nochmals verkürzender Form in Wikipedia, s. v. Homerische Frage (Abfrage: 11. 9. 2008): „Die so genannte Oral-PoetryForschung […] begann bereits im 19. Jahrhundert […] mit dem Leipziger Professor Gottfried Hermann […], der 1840 als erster die Mündlichkeit der Ependiktion aus ihrer Textstruktur ableitete (was Wolf lediglich theoretisch gemacht hatte, wofür er oft kritisiert wurde), die Füllselfunktion der Epitheta ornantia […] erkannte und die Improvisationstechnik der Aoidoí mit der daraus folgenden Sprachform (wie beispielsweise der Formelhaftigkeit) beschrieb. Die von Hermann aufgestellte Mündlichkeitstheorie setzte sich in den Studien des Amerikaners Milman Parry […] fort, der den Begriff der Oral Poetry prägte.“ Vgl. Z. Dukat, Homersko pitanje, Zagreb 1987, 238 (kroatisch; meine Übersetzung): „… Latacz [hebt] das hervor, was in der Homerforschung längst existiert hatte, z. B. den Begriff der Mündlichkeit, Improvisation, Versgebundenheit des Ausdrucks, etc., aber unterdrückt jene Aspekte, für die Parry und Lord zu Recht einmalig und interessant sind. Denn welcher Nutzen besteht im Nachweis, dass schon G. Hermann den Begriff Improvisation oder Mündlichkeit gebraucht hat, wenn das in einem völlig anderen Kontext geschah?“

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bei Wolf, der sie als im 18. Jahrhundert weit verbreitete Gemeinplätze übernommen hat.42 Ich zitiere dafür ein Zeugnis aus demselben Jahr wie Wolfs Prolegomena, aber wohl unabhängig von diesen: Christoph Martin Wieland tadelt die Voss’sche Homerübersetzung wegen der exakten Wiedergabe der Epitheta ornantia und führt dann aus:43 … ich kann mir, was diesen Punkt betrifft, nicht aus dem Kopfe bringen, daß eine Hauptursache der Beiwörter, die hier gemeint sind, darin zu suchen sei, daß Homer und die übrigen Aoiden seiner Zeit ihre Gedichte nicht schrieben, sondern (so ziemlich nach der Weise der geschicktesten Improvisatori in Italien) aus dem Stegreif sangen, und daß diese Beiwörter hauptsächlich Hilfsmittel waren, die fortschreitende Bewegung des Gesangs bald aufzuhalten, bald zu beschleunigen und die Bildung und Abrundung der Verse zu fördern, auch wol (tranchons le mot!) dem Dichter selbst fortzuhelfen, der (wie ein großes Genie er auch sei, und wie viel die Muse, die ihn begeistert, auch für ihn thue!) doch, sobald er improvisiert, dergleichen Behelfe nicht wohl ent– behren kann …

Wieland gibt hier die im 18. Jahrhundert allgemein geteilte Überzeugung wieder, wonach die homerische Dichtung einem ‚ursprünglichen‘ mündlichen Milieu entstamme, das auch bei anderen Völkern zu ähnlichen Formen der Epik geführt habe. Solche mündlichen Traditionen konnte man im 18. Jahrhundert allerdings nur postulieren, da entsprechende Zeugnisse überhaupt nicht bekannt waren: die südslawische Tradition war noch nicht dokumentiert, und man musste sich der Fiktion eines Ossian als Parallele zu Homer bedienen. Als Hermann hingegen 1840 seinen letzten Beitrag zur Homerischen Frage schrieb, hatte sich die Beleglage längst geändert: Seit 1814 hatte Vuk Karadži seine Sammlung der ,Serbischen Volkslieder‘ herausgegeben, die bei deutschen Intellektuellen (Grimm, Goethe) auf größtes Interesse stieß und ab 1825 in der Übersetzung von Talvj auch weiteren Kreisen bekannt wurde. Hier hätte man erstmals an einer gut dokumentierten mündlichen Tradition die Wesenszüge einer mündlich-improvisierenden Epensprache studieren können; doch war das Interesse an diesem Aspekt ‚naiver Volksdichtung‘ inzwischen offenbar erloschen. Hermann war zu Beginn seiner Karriere von der argumentativen Kraft der Prolegomena (1795) fasziniert und hielt bis zu seinem Lebensende am scheinbar objektiven ‚historischen Beweis‘ der Mündlichkeit Homers und der daraus abgeleiteten komplexen Entstehungsgeschichte der Epen fest. In seinen frühen Schriften (1801, 1805) vermutete er noch, den philologischen Nachweis für die chronologische Schichtung der Epen mit ebenfalls objektivierbaren Mitteln (Sprachentwicklung, Metrum) erbringen zu können. 42 43

Vgl. Volkmann (wie Anm. 19, passim) zu Wolfs Vorläufern, vor allem Wood. C. M. Wieland, Briefe über die Vossische Uebersetzung des Homer’s, Teutscher Merkur 1795, II. 105–11, III. 400–36; zitiert nach: Wielands Werke, 37. Theil, Berlin o. J. (Verlag G. Hempel), 95–121, hier: 107.

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Dieses Vorhaben hat er jedoch spätestens mit der Hymnen-Edition (1806) stillschweigend fallengelassen und durch die – subjektive – Argumentation mit ästhetischen Kriterien, zumeist die Kritik an der Erzähllogik, ersetzt. Diesen Regress auf das subjektive Urteil untermauert Hermann auch in seinen späten Versuchen (1831, 1832, 1840) immer mit dem Verweis auf die mit den Prolegomena gegebene ‚objektive‘ historische Grundlage. Das Festhalten an Wolfs Hauptthese, der Mündlichkeit Homers, erweist sich damit als ein Vorwand, um das Unbehagen des ‚rationalen‘ Philologen Hermann an seiner eigenen ästhetisierenden Methode zu überdecken. Die von Hermann entscheidend mitentwickelte ‚Schichtenanalyse‘ hat sich aus heutiger Sicht auch aufgrund ihrer ästhetisierenden Grundlage als ein langer, zäher Irrweg der Homerforschung erwiesen, der erst durch Milman Parrys Grundlegung einer rationalen Analyse des epischen Sprachstils durchbrochen werden konnte und zum Ausgangspunkt der Homerischen Frage – zur Suche nach dem Prinzip der Mündlichkeit – zurückführte. Dieses Resümee zu Gottfried Hermanns Verhältnis zur Homerforschung lässt sich mühelos auf die gegenwärtigen Homer-Debatten übertragen. Sowohl im ‚Neuen Streit um Troia‘, in dem es wesentlich auch um die Möglichkeit historischer Überlieferung in einer mündlichen Tradition ging, als auch in der Diskussion um Raoul Schrotts Thesen zu Homer als kilikischem Schreiber wurde die Frage nach der Funktionsweise einer mündlichen Epentradition ungebührlich verkürzt bzw. völlig ausgeblendet. Im Gegensatz zu Wolf bzw. zur naiv-romantischen Überzeugung des 18. Jahrhunderts von einem ‚mündlichen Homer‘ können wir es heute aufgrund der reichen Fülle an Vergleichsmaterial aus authentischen mündlichen Traditionen besser wissen. Der Weg dahin kann allerdings nicht über historische Thesenbildung wie bei Wolf, Latacz oder Schrott führen, sondern nur über geduldige philologische Arbeit an den Texten Homers und z. B. der südslawischen Tradition, wie es Parry exemplarisch vorgeführt hat.

Gauthier Liberman

Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh Révolution et contre-révolution en métrique

On attribue souvent à Aristophane de Byzance (né entre 258 et 255 et mort vers 180 avant J.-C.) ou à lui-même et à son école la colométrie de la poésie lyrique grecque1 telle que sont censés la reproduire, avec une fidélité plus ou moins grande, les papyrus égyptiens postérieurs à Aristophane et les manuscrits du Moyen Âge byzantin. Les textes de poésie lyrique sont réputés avoir été, avant Aristophane, écrits comme de la prose et, après Aristophane, avoir été débités en côla ou membres écrits chacun sur une ligne. Toutefois, pour prendre l’exemple publié le plus récemment (2005),2 un document pré-aristophanien du début du IIIe siècle avant notre ère, P. Köln inv. 21351 + 21376, dispose deux poèmes consécutifs de Sappho composés par distiques dans un vers de quatorze syllabes, un hipponactéen acéphale avec expansion interne de deux choriambes, de la même manière qu’on les trouvait dans l’édition alexandrine de Sappho due à Aristophane de Byzance, à savoir non comme de la prose, mais avec une ligne pour chaque vers, avec paragraphoi indiquant les distiques et coronis.3 Il convient peut-être, il est vrai, de différencier la colométrie très simple de poèmes composés par distiques de la colométrie complexe des odes pindariques. Admettons que ces odes se soient, avant Aristophane,4 présentées comme de la prose, d’une manière analogue au poème 1

2 3 4

Voir par exemple, outre Irigoin 1952 et 1958, Boeckh 1819, x et xxxi; Boeckh 1825, 301 = 1871, 290; Christ 1868, 160 (envisage, s’il y eut colométrie avant Aristophane, des tentatives inabouties); Christ 1896, xiv–xvi; Schroeder 1929, 30–31; Pfeiffer 1973, 296 ss.; Liberman 1999, xli–xlii; Parker 2001, 31 ss.; Prauscello 2006, 7 ss. Tessier 1995, qui examine les témoignages dans son premier chapitre ‹L’inuentio colometrica›, conclut d’une manière sceptique sur le rôle d’Aristophane comme ‹premier inventeur› de la colométrie et sur le fait que les textes de poésie lyrique anté-aristophaniens se soient présentés comme de la prose. Son second chapitre ‹L’evidenza della colometria papiracea› relativise la continuité de la colométrie de la tradition hellénistique à la tradition byzantine pré-triclinienne. Mais dans quelle mesure nos papyrus reflètent-ils fidèlement la colométrie de l’édition dont ils dérivent ? L’impression de continuité entre les deux traditions évoquées étant dominante, je parlerai de ‹colométrie traditionnelle› ou ‹transmise› pour désigner la colométrie héritée par l’érudition byzantine antérieure à Triclinius. Parker 2001, 31 évoque les précédents. Voir par exemple Liberman 2007, 50–52. Le meilleur argument en faveur de l’attribution de la colométrie à Aristophane est peutêtre le fait qu’il est censé, d’après une scholie, avoir athétisé le côlon surnuméraire 48 a de l’Olympique II,  :  )5 : cf. Boeckh 1810, xxxi; Irigoin 1958, 18. Son interpolation, observe Irigoin, «n’a pu se produire qu’en un temps où le texte, écrit comme de la

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de Timothée Les Perses dans un célèbre papyrus de la seconde moitié du IVe siècle (P. Berol. 9865, publié en 1903), où le texte est débité par grands morceaux – «grossen Abschnitten des Sinnes, die dann auch dasselbe für den Vers sind», selon Wilamowitz 1903, 7 – que distinguent l’alinéation et la paragraphos, sans qu’apparaisse aucune répartition en vers.5 Admettons donc l’introduction par Aristophane de Byzance de la colométrie dans les odes pindariques. Jusqu’à une quinzaine d’années,6 l’opinion s’était pratiquement imposée, à la suite de travaux révolutionnaires7 d’August Boeckh remontant au premier quart du XIXe siècle, que la colométrie alexandrine de la lyrique grecque reflète inexactement la façon dont les poètes composaient. Aujourd’ hui, un débat oppose les tenants de cette opinion au mouvement ‹contrerévolutionnaire› de ceux qui croient que, pour établir la colométrie de la poésie lyrique, l’érudition alexandrine a recouru à la musique originale des poèmes et que la colométrie alexandrine reflète donc, selon des modalités qui

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prose, n’était plus [je me contenterais de ‹pas›] accompagné de sa partition musicale». «L’argomento», selon Tessier 1995, 24, «non è tuttavia forte, perché, come si è opportunamente obiettato, Aristofane potrebbe naturalmente essere intervenuto segnalando un errore di responsione in un testo già ripartito per cola». Pour ma part, je crois qu’Irigoin a raison de dire que «si la colométrie était antérieure à Aristophane de Byzance, l’interpolation aurait été décelée avant lui». Dans ce cas, l’identification de l’interpolation serait attribuée à un autre, à Zénodote, auteur d’une édition mal connue antérieure à celle d’Aristophane, ou anonymement à une catégorie de témoins tels que ‹les manuscrits de base› invoqués dans telles scholies (cf. Liberman 2004, 19). «J’ai peine à croire que rien ne distinguait les systèmes et leurs constituants, la strophe, l’antistrophe et l’épode. Le travail alexandrin de colométrisation serait alors, me semblet-il, inconcevable» (Liberman 2004, 36). Fleming–Kopff 1992 (à propos des parties lyriques de la tragédie). On trouvera l’énumération des travaux suscités par celui-là chez Gentili–Lomiento 2003, Prauscello 2006 et Tessier 2007-2008. L’hypothèse émise par Fleming–Kopff pour les parties lyriques de la tragédie a naturellement été étendue à d’autres domaines de la poésie lyrique. Pour Pindare, voir Lomiento 1998 et 1999; Gentili 1999; Marino 1999. Tessier 1995, 17–18 n. 17 (cf. Tessier 2007-2008, 3) accorde à Fleming–Kopff 1992, 759 que «a differenza di taluni post-boeckhiani “Boeckh did not view his departures as revolutionary”, pensando di limitarsi a ristabilire “the ancient understanding of lyric meter”». Boeckh affirme pourtant avoir fait une découverte (cf. plus bas n. 25). Ce n’est pas parce qu’il ne dit pas avoir révolutionné la métrique (le dire expressis verbis eût été bien immodeste) qu’il ne pense pas l’avoir fait. Une révolution ne cesse pas d’être une révolution parce qu’elle invoque un retour plus ou moins fictif au passé. La redécouverte (réelle ou prétendue) d’un fait oublié peut être révolutionnaire. S’il fallait une preuve de cela, la (re)découverte du vers lyrique par Boeckh en serait une. Boeckh 1843, 110 intitule «Versmasse der lyrischen Theile nach der Urschrift» sa colométrie des parties lyriques de l’Antigone de Sophocle, que Hermann avait plusieurs fois éditée. De fait, Boeckh restitue les vers des parties lyriques, tandis que certains éditeurs récents de l’Antigone se contentent encore de disposer, à la manière alexandrine, les côla l’un après l’autre sans même décaler à droite le côlon qui forme avec le précédent un vers unique. Comparer la colométrie du célèbre hymne à Éros chez Boeckh 1843 (v. 758–69), d’une part, et, d’autre part, chez Lloyd-Jones/Wilson 1990 et Griffith 1999 (v. 781–800).

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restent à déterminer, la composition rythmico-musicale due aux poètes.8 Ce débat donne une actualité particulière à celui qui opposa jadis Gottfried Hermann et August Boeckh à propos de la répartition en vers des odes pindariques en particulier et de la poésie lyrique grecque plus généralement. Toutefois, la question du lien entre colométrie alexandrine et musique originale des poèmes semble avoir été étrangère à Hermann et à Boeckh.9 Je suppose même qu’ils auraient été l’un comme l’autre bien surpris qu’on puisse arguer que la colométrie transmise dans les manuscrits médiévaux de Pindare doit être prise pour argent comptant parce que ceux qui l’ont établi auraient pour cela utilisé la documentation musicale transmise par voie écrite ou orale. Le désaccord entre ces deux géants de l’érudition classique eut pour objet le degré auquel la colométrie transmise s’écarte de la véritable composition métrique et les outils d’analyse de cette composition, notamment la notion de vers, qui est au cœur du litige scientifique. Or comment penser qu’une colométrie qui n’est pas exacte suit la composition rythmico-musicale d’une ode? Cette question illustre l’intérêt, pour le débat actuel, du débat ancien qui vit s’affronter Boeckh et Hermann à propos de la colométrie pindarique et d’une notion aussi cardinale que celle de vers. Un autre aspect de l’intérêt du débat ancien pour le débat moderne met en jeu la critique textuelle, car (nous le verrons en étudiant un exemple précis) la défense de la colométrie traditionnelle amène à défendre des fautes de texte probables ou certaines. Or là Hermann peut encore donner une leçon. Voici, sous forme de tableau, les publications des deux philologues qui jalonnèrent le débat. À une exception près,10 je ne tiens pas compte, faute de la 8

9

10

Prauscello 2006 examine les arguments présentés par les tenants de cette hypothèse et, comme Parker 2001, 35–38 avant elle, conclut de façon très sceptique (cf. le compte rendu de Liana Lomiento, tenant de l’hypothèse critiquée, dans Bryn Mawr Classical Review 2007.04.57). Prauscello, 54–58 discute la scholie byzantine à Denys le Thrace que fit imparfaitement connaître pour la première fois I. Bekker (Anecdota Graeca II, 751 note) et qui semble dire que le vers (stichos) se prolonge en quelque sorte au delà du dernier mot avec les sons de la lyre qui s’ajoutent à chaque bref côlon pindarique. Voir, sur ce curieux témoignage, les réflexions hardies de Graf 1889, 68–70, qui y voit un souvenir de la ‹synaphie› liant par la musique instrumentale les vers les uns aux autres (pour Blass–Süss 1912, xxxiv n. 1, il s’agit véritablement des côla). Elle ne l’était pas pour Henri Weil, élève de Hermann, ainsi qu’il apparaît dans une publication remontant à 1872, où il explique qu’il n’y a pas de différence de fond entre colométrie traditionnelle et colométrie Boeckhienne, la première opérant une répartition par côla et la seconde par vers (1902, 189; cf. Liberman 2004, 219 n. 2). Weil (162) supposait déjà que le fameux signe «semblable à Z ponctué» du papyrus musical de l’Oreste a pour fonction de séparer des côla. Irigoin 1958, 34 envisageait que «pour quelques odes, la conservation de la partition musicale ait pu assurer l’exactitude des divisions», mais, ajoutait-il, «ce serait une erreur grave que de lui [le système colométrique alexandrin] attribuer, lorsqu’il s’écarte nettement de la répartition en vers admise par Boeckh, une valeur authentique». Christ 1896, xv–xvi reprochait vivement à Aristophane de Byzance de n’avoir pas, dans son travail de ‹côliste›, utilisé les documents musicaux à sa disposition. Voir p. 206, n. 25.

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connaître, de la correspondance échangée par les deux hommes: «… ein ausführlicher Briefwechsel zwischen Hermann und Boeckh, die Metrik betreffend, aus den Jahren 1808-1812, 1814 und 1815 ist in Boeckhs Nachlass erhalten, auch spätere Briefe Hermanns» (Hoffmann 1901, 23 n. 1). HERMANN 1772-1848

BOECKH 1785-1867

1796 De metris poetarum Graecorum et Romanorum libri III, Leipzig 1798 Commentatio de metris Pindari, dans: Chr. Gottl. Heyne, Pindari carmina III I, Göttingen, 177–351 (seconde édition de Heyne) 1799 Handbuch der Metrik, Leipzig 1809 Über die Versmaße des Pindaros, Berlin 1810 Euripidis Hercules furens (Prae- 1810 Republication de l’ouvrage précéfatio), Leipzig dent dans Museum der Altertumswissenschaft, II, Berlin, 167–362 1811 De metris Pindari libri tres et Notae criticae in Pindari epinicia (comprenant les schémas métriques de chaque ode), respectivement p. 1–340 et 341–578 de la seconde partie du premier volume des ‹Pindari opera quae supersunt›, Leipzig. La praefatio editoris, I 1, xxviii–xxxii, répond à Hermann 1810. 1815 De metrorum quorumdam mensura rhythmica dissertatio (= Opuscula II, Leipzig 1827, 105–23) 1816 Elementa doctrinae metricae, Leipzig

1817 Dissertationes Pindaricae, dans: Chr. Gottl. Heyne, Pindari Carmina III 1, Leipzig, 181–410 (quatrième édition; elle fut réimprimée à Londres, 1824, avec des coquilles et une pagination différente); Diss. I: De metris Pindari,

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201

183–229; Diss. II: De metrorum quorumdam mensura rythmica, 230–49; Diss. III: De dialecto Pindari, 250–75 (~ De dialecto Pindari observationes, 1809 = Opuscula I, Leipzig 1827, 245–68); Diss. IV: Notae ad Pindarum, 276-410 (comprenant les schémas métriques de chaque ode). 1818 Epitome doctrinae metricae, Leipzig 1819 Praefatio de l’édition des scholies de Pindare, xxxvii–lii (II 1; le commentaire, II 2, paraît en 1821). 1820-22 Über die kritische Behandlung der Pindarischen Gedichte (Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 3. Februar 1820, 13. Juli 1821 und 7. März 1822), Abhandlungen der historischphilologischen Klasse der Königlichen Akad. der Wiss. zu Berlin, Aus den Jahren 1822 und 1823, Berlin 1825, 261– 400 = Gesammelte Kleine Schriften V, Leipzig 1871, 248–396. 1844 Epitome doctrinae metricae, editio altera recognita, Leipzig 1847 Emendationes quinque carminum Olympiorum Pindari, Leipzig (= Opuscula VIII, Leipzig, 1877, 110–28, spécialement 110–11, 114–15)

Aux yeux des ‹contre-révolutionnaires› aujourd’hui opposés à la réforme de Boeckh, les côla de la colométrie transmise dans les manuscrits byzantins et réputée relativement conforme à la colométrie alexandrine ne représentent pas les vers utilisés par Pindare pour former ses strophes mais les éléments qui, dégagés par l’analyse alexandrine, entrent dans la composition de ces vers. C’est ce qu’ils matérialisent typographiquement en décalant par rapport à un premier côlon le côlon ou les côla suivants. Ainsi, ils disposent les côla 3, 4, 5 de la première épode de la Néméenne VII de cette manière:11 D "6\   m " , Vμ : . 11

Voir Gentili 1999.

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202  n  " :`  "μ .

Pour eux, ces trois côla forment un vers. Il en allait ainsi également pour le ‹côliste›12 alexandrin, bien que ce dernier – les papyrus le confirment, si je ne m’abuse – n’ait pas procédé au décalage indiquant que les côla en succession forment un vers. L’ambiguïté du mot 3  ne permet pas de penser que % o? exclut une répartition par vers,13 μ: , o6.14 On peut noter à ce sujet que les Modernes n’emploient pas plus précisément le mot ‹colométrie›, qui, chez eux, désignent la distribution tantôt en côla tantôt en vers: ainsi, on parle de la colométrie Boeckhienne alors que Boeckh distribue la strophe pindarique en vers et non en côla. De même que la terminologie présumée alexandrine est ambiguë, de même la mise en page de nos papyrus et de nos manuscrits fut source de confusion: on sait que même bien après la réforme de Boeckh beaucoup de lettrés ont cru imiter la métrique de Pindare en recourant à des vers courts. Hermann a-t-il été une des nombreuses victimes de cette ambiguïté ‹typographique› et a-t-il lui aussi pris pour des vers les côla dégagés par l’analyse alexandrine? Cela semblerait indiqué par le fait qu’il admet, contre l’axiome "V μ: (‹vers›)   o  "    :@,15 qu’un mot se partage entre deux vers (versus) et précise les conditions de recevabilité d’un tel partage (car il n’accepte pas tels quels tous les partages de mots sur deux vers qu’il trouve dans la colométrie traditionnelle). Les 12

13 14

15

Le latin colista est utilisé par Blass–Süss 1912, xlvi («Alexandrinorum […] colistarum diligentia in colis seiungendis si non consilio aut ratione at certe re ita versata est, ut redderent quae vellet poetae [scil. Bacchylide] elegantia subintellegi discrimina») et Parker 2001, tandis que Schroeder 1929, 30 emploie % μ\, mais je ne sache pas qu’aucun de ces mots soit attesté, contrairement à % o?. % μo est dans la Souda E 3394 (cf. Tessier 1995, 27 n. 45; Gentili–Lomiento 2003, 7 n. 25). Sur ce point, voir Tessier 1995, 17; Gentili–Lomiento 2003, 38. Pour la terminologie antique, voir par exemple Westphal–Gleditsch 1887, 177–89, les rubriques pertinentes de Schroeder 1929 et celles du chapitre III de Gentili–Lomiento 2003 consacré à la nomenclature. De ce que ‹côlon› fut un terme de musique et de rythmique avant d’être un terme de rhétorique, de grammaire et aussi de librairie (mise en page), il ne suit pas nécessairement que le côlon de la colométrie alexandrine soit rythmico-musical. Je désapprouve l’utilisation du terme de stichométrie (ainsi Tessier 1995 et 2007-2008 d’après Korzeniewski 1968, 9) pour désigner la distribution des poèmes en stiques; cela ne peut que créer la confusion avec l’acception ordinaire de ce néologisme (dénombrement des lignes). Héphestion, Manuel 4, 6 p. 14, 22 Consbruch (cf. Westphal–Gleditsch 1887, 133). «Es ist ein Glück», remarque Westphal dans Westphal–Gleditsch 1887, xii–xiii, «dass Boeckh seiner Ansicht von der Werthlosigkeit der metrischen Tradition wenigstens einmal inconsequent geworden ist, denn dieser Inconsequenz verdankt die moderne Wissenschaft der Metrik einen der schönsten Fortschritte, den sie gemacht hat. […] Gottfried Hermann ist in seiner Geringschätzung der Metriker leider consequenter als Boeckh und will jenen Satz vom Versende ebenso wenig, wie der gesammten übrigen metrischen Tradition irgend welche Autorität zuerkennen, aber seine Polemik gegen die darauf basirte Versabtheilung Boeckhs hat sich als fruchtlos erwiesen». Sur Héphestion et la colométrie alexandrine, voir Itsumi 2007.

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203

schémas métriques qu’il dresse pour l’édition Heyne de 1798 indiquent les variations de quantité dues à l’indifférence de la syllabe finale des vers. Hermann est conscient de l’importance de cette indifférence quantitative pour indiquer la fin d’un vers,16 mais, s’il relève les variations quantitatives dues à cette indifférence, il ne pense pas, au contraire de Boeckh, que toute syllabe finale d’un vers est quantitativement indifférente. Que telle n’est pas son opinion, c’est ce qui résulte du seul fait qu’il admet le partage d’un mot entre deux vers: «wird hingegen ein Wort am Ende des Verses gebrochen, so ist das Maaß der letzten Sylbe des Verses nicht mehr unbestimmt, sondern dasselbe muß sich genau nach der Vorschrift des Rhythmus richten» (Hermann 1799, 239 § 424). Les symboles qu’il utilise pour noter la variation quantitative due à l’indifférence de la syllabe finale du vers ne sont pas spécifiques et ne diffèrent pas de ceux qu’il utilise pour noter les variations quantitatives intervenant à l’intérieur d’un vers, par exemple au temps faible du premier pied d’une dipodie iambique: dans les deux cas, il utilise le symbole X lorsque la syllabe en question est le plus souvent longue et le symbole inverse lorsqu’elle est le plus souvent brève. Boeckh 1811 utilise les mêmes symboles que Hermann et de la même manière que lui,17 mais considère l’indifférence de la syllabe finale comme constitutive du vers. Hermann, qui, dans les schémas métriques de l’édition de Heyne 1798, ne décale pas à droite le ‹vers› lié au précédent par la synaphie verbale,18 opère ce décalage quand, à l’occasion, il reproduit le texte grec de ces vers. Il y a là une incohérence révélatrice du flou qui s’attache dans l’esprit de Hermann à ces ‹vers› liés. On relève dans les schémas métriques de l’édition Heyne de 1817 de nombreux décalages à droite absents de l’édition Heyne de 1798. Ainsi, le schéma des côla 6 et 7 de la colométrie transmise de la première épode de Néméenne VII se présente dans l’édition Heyne de 1798 de la manière qui suit (je ne reproduis pas l’indication des temps marqués): XXX—XX—X— XXX—XX—X—X—X

6 \  7 ,

`h / G "m   7 " :` qhμ.

Dans l’édition de 1817, en revanche, le côlon 7 est décalé à droite. Or dans la colométrie de Boeckh 1811 les deux côla sont réunis en un vers figurant sur une ligne. Hermann veut-il indiquer par le décalage du second élément que les deux éléments forment un vers ? Alors, il s’agirait de simples côla liés par la synaphie prosodique (fin de mots – sans pause – entre les deux côla dans les épodes $ ) ou par la synaphie verbale (le premier côlon ‹mord› sur le second dans l’épode ). Et de fait, après les travaux de Boeckh, Hermann 16 17

18

Voir Hermann 1798, 184 ss. Le premier à inventer un symbole spécifique semble avoir été Paul Maas en 1927 (voir Maas–Ghiselli 1979, 39 § 34). Sur la notion de synaphie, voir Irigoin 1967 et Rossi 1978.

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établit la distinction entre versus nexi et non nexi, qu’il n’abandonnera jamais (cf. Hermann 1844, 238 § 566). Les versus non nexi, proches du vers tel que le conçoit Boeckh, se terminent par une pause ou «fin de mot correspondant à la fin du dernier élément rythmique du vers» (Irigoin 1958, 19) et souvent confirmée par l’hiatus et/ou par l’indifférence de la syllabe finale.19 Quant aux versus nexi, ils correspondraient à nos côla liés par synaphie prosodique ou par synaphie verbale. La distinction entre versus nexi et versus non nexi semble d’une certaine manière mettre Hermann d’accord avec Boeckh. Mais la différence qui subsiste entre les deux métriciens n’est cependant pas seulement de nature terminologique (versus nexi/versus non nexi ~ côla/vers) ou, comme Hermann 1810, x (cité par Boeckh 1811, xxx–xxxi et Köchly 1874, 147148) tendrait à le faire croire, typographique, Boeckh faisant figurer sur une ligne un vers qui, chez Hermann, en occupe plusieurs avec décalage après le premier membre. «Versus erit», écrit Hermann 1816, 666, «numerus unus et integer, qui uno spiritu pronunciari possit»; puis, plus loin (p. 670), en un sarcasme adressé à son collègue: «laudabo, qui sine magistro talem versum recte recitaverit [Néméennes III 17–18, épode ]: "  o \ W·  μ % :%  " V C '    $ ": W gμ:r  

o :.

Piget vel verbum addere».20 19

20

Gentili–Lomiento 2003, 8–9 me semblent fausser la pensée de Boeckh en lui attribuant, si je les ai bien compris, l’idée qu’il doit y avoir fin de vers là où il y a hiatus ou brevis in longo – expression inconnue de Boeckh et dont Gentili–Lomiento font un emploi différent de celui voulu par l’inventeur de l’expression, Paul Maas, pour qui elle caractérise l’indifférence de la syllabe finale lorsqu’à la place de la longue attendue il y a une brève. Quant à la pause, on notera que Boeckh (cf. 1811, 77) n’ignore pas le phénomène des ‹catalexes intérieures›. Sur la question des pauses intérieures, cf. Bergk 1886, 743 n° 42 (publié en 1870); 1878, xii–xiv; Weil 1902, 159–60; Winnington-Ingram 1955, 81–84; Parker 1976, 20–25. Voir aussi Hermann, Opuscula VIII, 111 (1847): «Quod si quae mihi numerorum complexiones etiam longiores receptis faciendae erunt, quamquam et legenti et recitanti incommodum est tota systemata uno sesquipedali versu perscribi, tamen, quoniam in hoc salutem poetarum verti hodie [1847] plerique credunt, obsequar eorum religioni. Regnat enim in hoc quoque genere antiqua novicio nomine dea Moda: Graeci μ o  dixere». Opposer Boeckh 1825, 274 n. 1 = 1871, 261–62 n. 1: «wer da glaubt, die Verse wären zu lang, um in einem Athem gelesen zu werden, vergisst, dass sie für den Gesang geschrieben wurden, oder muss sich vorstellen, die Hellenischen Sänger, die gewiss eine gute Brust hatten, wären schwindsüchtig gewesen». Cf. Blass 1900, xxx: «Boeckhiani versus, qui eam quoque mensuram [sc. periodi] saepe excedant, aegre et intelleguntur et recitantur, neque omnino eius stropharum divisionis ratio satis apparet»; Wilamowitz 1921, 83. Dans ses editiones minores de Pindare (1908, 1914, 1930), Otto Schroeder fait apparaître par un décalage à droite les côla résultant de son incertaine analyse. On trouve un successeur de Hermann en Willett 2002, selon qui les longs vers dégagés par l’analyse Boeckhienne excèdent les capacités de la ‹working memory›. Willett suppose que le vers de la ‹tradition européenne› ne dépasse pas 16 syllabes. Je crains que la quantification normale du vers ‹européen› ne soit pas plus légitime que celle de la

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De fait, Boeckh 1811, 517 voit là un seul vers de 36 syllabes, tandis que Hermann 1798 en voyait trois:21 "  o \ %·  μ % :%  " V C '    $ ": % gμ:   

o :.

Hermann 1817 et les éditeurs postérieurs y voient deux vers distincts, ce que permet la fin de mot généralisée (épodes $ ): "  o \ %·  μ % :%  " V C '    $ ": % gμ:   

o :.

On a là, soit dit en passant, un très bon exemple de la difficulté à distinguer des éléments constitutifs de l’épode, par définition moins bien représentée que la strophe/antistrophe, et présentant une fin de mot généralisée non accompagnée d’hiatus ou de brevis in longo: il est impossible d’exclure qu’on ait à faire à deux côla en synaphie prosodique et non à deux vers. Mais la règle de limitation du vers à la longueur correspondant à la prononciation en un seul souffle (uno spiritu) est arbitraire et problématique. Hermann 1817 semble admettre le long vers 4 (24 syllabes) de la Néménne II, poème monostrophique: glyconique (avec base faite de trois brèves) | glyconique | phérécratien __,22 le plus long premier vers (27 syllabes) de la strophe de la Néméenne V: 2 dipodies iambiques | 2 dipodies trochaïques | hémiépes masculin et dipodie iambique __,23 et l’encore plus long sixième vers (30 syllabes) de la strophe de la Pythique I: hémiépes masculin et dipodie trochaïque | hémièpes féminin | hémiépes masculin et dipodie trochaïque __.24 Dans ces trois cas, Hermann

21

22 23 24

mémoire opérationnelle de l’homme ‹européen› ou de l’homme tout court. La fixation d’un canon se heurte, me semble-t-il, à la variabilité culturelle. Dans quelle culture européenne trouve-t-on l’équivalent de la lyrique grecque dite chorale? Ce qui, s’il s’agit de trois vers et non de trois côla, est impossible, car la distribution en trois vers désolidarise l’enclitique  (v. 60, épode ) du mot sur lequel il s’appuie. Noter que Boeckh 1811, 517 lui-même ne s’est pas avisé de la difficulté, puisqu’il déclare possible la répartition en trois vers (versus). Il est intéressant, à ce sujet, de remarquer que ni Hermann ni Boeckh n’ont vu que les troisième et quatrième ‹vers› des strophes sapphique et alcaïque, entre lesquels il y a synaphie, forment un seul vers (cf. Liberman 2005, n. 40; Schroeder 1908, 45 rappelle que le caractère tristique de la strophe alcaïque a été découvert par H. L. Ahrens en 1868). Boeckh 1811, 313 est donc amené à penser que la pratique pindarique du vers lyrique se distingue par là de celle d’Alcée et Sappho, tandis que Hermann 1816, 703 a pu croire confirmée par la pratique d’Alcée et Sappho l’idée que ‹Wortbrechung› et vers ne sont pas incompatibles. La défense de certains cas plus que douteux de ‹Wortbrechung› chez Pindare montrerait presque en Young 1966, 9–15 un disciple inattendu de Hermann. Il reste qu’il arrive à Pindare de scinder sur deux vers le groupe préposition + régime (cf. Liberman 2004, 233) ou une conjonction et la proposition qu’elle introduit (cf. Liberman 2004, 247). Synaphie verbale généralisée entre les segments dégagés par Hermann! Synaphie verbale partielle. Synaphie verbale partielle.

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1817 opère le décalage à droite des deux derniers côla, alors qu’il ne recourt pas à un tel décalage pour Ném. 3, 17–18. Les éléments liés ne sont-ils que des côla, auquel cas Hermann admet des vers longs, ou sont-ils des vers à part entière, auquel cas Hermann n’admet pas de vers long ? On retrouve ici l’ambiguïté de la métrique lyrique de Hermann: les versus nexi sont-ils des vers au même titre que les versus non nexi?25 Il est en tout cas clair que les vers longs lui répugnent. Il craint aussi que ces vers se distinguent insuffisamment des ‹systèmes› (Hermann 1816, 665): si systemata a versibus sola longitudine differunt, quem terminum constituemus, intra quem versus appellatione, ultra quem autem systematis nomine utendum sit? Strophas vero eas, quae uno systemate constant, cur omnino strophas vocabimus, quum, quo a versibus vel systematis discrepent, non habeamus? Nam strophae quidem definitio, quam posuit Boeckhius, quum versus, ex quibus constet, unam compagem efficere dixit, aut ita ambigua est, ut etiam in versus ipsos quadret, aut ita distincta, ut, si plures versus, plurave systemata stropham efficere debent, uni systemati vel versui non conveniat nomen strophae.

Ce raisonnement terminologique serré est d’un formalisme excessif et vain: 25

Cette ambiguïté se traduit aussi d’une façon anecdotique. Selon Boeckh 1819, xxxvii, «Hermann modo eundem se thesaurum [la nouvelle analyse du vers lyrique] dudum invenisse perhibet, modo pro auro carbones inventos decernit». Boeckh 1810, 353–354 cite, avec l’accord de Hermann, ce passage d’une lettre du 22/11/1808 que ce dernier lui envoya après lecture de son mémoire: «Ich habe ihre Abhandlung gelesen, und ich schreibe Ihnen sogleich offenherzig meine Gedanken darüber, in der Erwartung, dass Sie dieselbe Gesinnung, die ich gegen meinen Gegner habe, auch gegen mich hegen werden. Die Abtheilung der Verse ist das einzige, worin Ich Ihnen recht gebe, oder vielmehr, worin Sie mit mir einig sind. Denn hier, theuerster Herr Professor, haben Sie bloss mit einem Schatten gefochten. Glauben Sie nicht, dass ich mir eine fremde Erfindung zueignen will. Nein, ich kann Ihnen dokumentieren, dass mir das gar nicht fremd war. Als ich zuerst von dem Daseyn und dem Inhalt Ihrer Abhandlung gehört hatte, war ich in meinen Vorlesungen noch bei den Prolegomenen. Als ich auf die Metra kam, kündigte ich im Voraus ihre Abhandlung, und dass sie die Verse ohne Wortbrechung abtheilen wollten, an, und setzte hinzu: entweder hätten Sie, was ich ihrem Scharfsinn und ihrer Gründlichkeit nicht zutraute, Unrecht; dann könnte ich ihre Meinung nicht vorhersagen, weil der Irrwege viele wären: oder Sie hätten Recht, und dann müssten Sie, weil das Wahre nur eines wäre, dieses sagen, was Sie auch, wie ich nun sehe, wirklich gesagt haben [coupure effectuée par Boeckh]. Ich habe diese Regel schon seit langer Zeit befolgt und sie ist in meiner Schule gar nichts Neues mehr». Comparer Boeckh 1811, 327: «Godofredo quoque Hermanno hanc carminum describendorum legem cognitam fuisse, ipse mihi significavit litteris et professus sum in appendice dissertationis Germanicae ; nihilque lite hac de amicitia nostra firmissima deminutum est, nec deminuetur unquam, sed ut decet homines honestos, dum per litteras de rebus metricis controversabantur, auctae vires, aucta artis cognitio. Sunt et alii, qui quod palam effari non audent, in circulis amicorum atque in scholis cautius tectiusque significant, se quoque quod verum sit in sententia nostra, nosse dudum. Quippe quum Columbus fractum ovum stabilisset, hoc se quoque non ignorasse fatebantur inimici; nunc postquam fracta vocabula restitui integra, multi clamant idem sese perspectum habuisse».

Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh

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ne dirait-on pas, mutatis mutandis, un extrait de la traduction latine d’un passage ingrat de la ‹Critique de la raison pure›? La différence qui sépare Hermann de Boeckh ne saurait être réduite à une question de terminologie, quoi qu’en dise Hermann lui-même (1816, 669): apertum est, versu ita, ut nos fecimus, definito, nihil in hac quaestione aut ambiguitatis aut obscuritatis relinqui, litemque illam, quam quidam nobis intendunt, non in re, sed in verbis versari. Nam qui versus nexos negant versus vocandos esse, sed systematis, quae ex illis versibus constant, nomen versuum tribui volunt, quid aliud, quam in sola versus definitione ab nobis discedunt, pausam, quae in fine numeri sit, ad versum pertinere iudicantes?

Tandis que les côla de Boeckh s’intègrent dans son vers, qui forme l’unité supérieure au côlon et inférieure à la strophe,26 la distinction hermannienne ‹versus nexi – versus non nexi› amène à considérer la strophe lyrique comme bâtie avec deux types de vers, et même (selon Hermann 1816, 667) trois, puisqu’il y ajoute (ibid. 666) les «versus seminexi, qui, ut libitum est, vel continuato vel per pausam interrupto numero sunt», vers qu’il appelle aussi asynarteti et dont il admet l’existence chez Pindare.27 On se souvient que les versus non nexi correspondent à ce que nous appelons «vers», les versus nexi à nos côla liés par la synaphie prosodique ou verbale. La distinction de Hermann entre versus nexi et versus non nexi neutralise la pause en tant que caractéristique du vers (ibid. 669–70): «Quid enim? Num hos versus Sophoclis in Oed. Col. 1215. "1 "

, μ d μ  1 7μ:   : Y,

quia continuari numerum hiatus prohibet, duos versus esse contendemus, hos autem, qui statim sequuntur,

s"   :%· , :" `  P +  Q",

quia in media voce finiri versus nequeat, negabimus esse duos, et in unum coniungemus? Mihi quidem hoc valde absonum videtur». Les versus nexi semblent être pour Hermann tantôt des sortes de côla unis pour former un 26

27

Entre le vers et la strophe il convient peut-être d’ajouter la période, définie non comme long vers, ce qui se rapproche d’une acception antique (mesure supérieure au stique, cf. Gentili–Lomiento 2003, 45–46), mais comme groupe de vers. Le décompte des temps marqués peut mettre en évidence les périodes: voir les exemples (pour Pindare, Olympique III et Pythique IX) analysés par Irigoin 2002. Cf. Opuscula VIII, 115 (1847): «illos [scil. veteres] nescivisse quid esset versus asynartetus ipse docui, ostendique hoc nomen iis convenire versibus qui sicut placeret poetae nunc cohaerentibus numeris decurrerent, nunc ex duobus constarent non continuatis numeris». Dans son analyse de la strophe/antistrophe de l’Olympique IX, Hermann (ibid., cf. Hermann 1817, 198; Schroeder 1900, 137–38) rappelle que la synaphie verbale est incompatible avec les vers asynartètes.

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vers et ils sont alors répartis de telle manière que le premier côlon soit suivi d’un ou de deux côla décalés à droite, tantôt des vers au même titre que les versus non nexi. On voit à quelle confusion aboutissent une conception trop étendue du vers,28 l’absence de hiérarchisation des unités métriques et surtout la méconnaissance de la spécificité permanente du vers lyrique, court29 ou long (Wilamowitz 1921, 82–83): Sehr wichtig war […], daß Boeckh, dem darin Lachmann30 folgte, auf die Schlüsse der Perioden31 streng achtete, die sich durch Hiatus oder syllaba anceps (Brachykatalexie32) verraten. Das geschieht in der überlieferten Versabteilung nicht, und Hermann hat zu wenig Gewicht darauf gelegt. Es hat lange Zeit gebraucht, bis die Wahrheit durchdrang, daß die Handschriften mit ihrer Versabteilung unverbindlich sind. Erst die Entdeckung von Gedichten, die auf Stein und Papier in den Zeiten der Dichter geschrieben sind, hat den Widerspruch der Unbelehrbaren verstummen lassen.

Un passage que Tessier 2007-08, 4 (renvoyant à Medda 2006, 23 ss.) attribue à Hermann 1798, 227, semble autoriser à en faire un précurseur inattendu de Boeckh (Hermann 1817, 228): Singulare est necdum animadversum ab iis, qui Pindari aliorumve poetarum numeros tractarunt, interdum medios numeros interrumpi, pausa facta. Quae res quum haud dubie ex musicis rationibus repetenda sit, quas dolendum est densis adhuc tenebris circumfusas iacere, mira oritur metrorum et rhythmorum repugnantia. Qui enim ex musicis legibus cohaerent rhythmi et unum quid constituunt, interdum ex metricis rationibus in diversos versus distrahendi sunt, ne hiatus syllabaeque ancipites in iis metrorum locis conspiciantur, a quibus aliena est haec licentia.

En réalité, comme l’a aimablement vérifié pour moi J.-F. Nardelli, ce passage ne se trouve pas dans Hermann 1798 mais dans Hermann 1817, 227 et fait partie du chapitre XIX ‹De interruptione numeri›, lequel est absent de Hermann 1798! Il n’y a donc pas là une sorte d’anticipation de Boeckh par Hermann, mais une critique acerbe adressée par le second au premier. Voici 28

29

30 31

32

Hermann 1816, 25: «Versus numerus est ex uno vel pluribus ordinibus factus. Grammatici parum utili subtilitate versum non paucioribus quam tribus, nec pluribus quam senis syzygiis concludi volunt. Minores tribus syzygiis partes: si integrae sint syzygiae, 3 ; sin minus, \μμ  dici volunt. Quamquam minime in hoc usu sibi constant». Boeckh n’a pas ignoré les vers courts, mais le mérite revient à Hermann d’avoir en 1834 (Opuscula VII, 152–53) identifié le petit vers 7 a de la strophe/antistrophe de la Pythique V et d’avoir cherché à le justifier sur le plan métrique, rythmique et stylistique: voir Liberman 2004, 236. Le mérite est d’autant plus grand que les éditeurs récents passent à côté. C’est l’occasion de dire qu’il y a encore à puiser dans les travaux de Hermann des améliorations de la colométrie Boeckhienne. Voir Lachmann 1819, 14. Boeckh n’emploie pas ce terme, sur lequel on verra Westphal–Gleditsch 1887, 185–89; Schroeder 1908, 9–17; Wilamowitz 1921, 46–47. Cas bien particulier (réduction de la dipodie finale à un pied, cf. Héphestion, Manuel 4, 3 p. 13, 18–14, 3 Consbruch).

Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh

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en effet ce qu’on lit à la fin du chapitre (Hermann 1817, 228): Est haec observatio ex iis, ex quibus spes est insignem olim lucem rei metricae et rhythmicae affusum iri, si ii ea utentur, qui non tantum diligentiam ad haec studia, sed etiam cautum iudicium afferre, temeritatem autem abstinere didicerint.

Loin d’avoir vu avant Boeckh en certains accidents métriques (‹hiatus syllabaeque ancipites›) intervenant à l’intérieur du vers des preuves de la fausseté de la colométrie transmise, Hermann 1817 a réduit une partie des accidents corrigés par Boeckh à des désaccords prétendus entre ‹musique› ou ‹rythmique›, du point de vue desquels la colométrie transmise serait correcte, et ‹métrique›, du point de vue de laquelle la colométrie transmise est incorrecte. En attribuant aux mystères de la musique ou de la rythmique des accidents de la colométrie transmise, Hermann 1817 est le précurseur des ‹contre-révolutionnaires› d’aujourd’hui opposés à la métrique Boeckhienne. Comment s’expliquer la confusion persistante du système ‹post-Boeckhien› de Hermann? Les résultats des travaux de Boeckh de 1809 et 1811 désignaient clairement à Hermann la véritable nature des unités dégagées par la colométrie traditionnelle: ce sont des côla qui s’unissent pour former des vers. Mais au lieu d’adopter l’analyse Boeckhienne, Hermann cherche à l’adapter au système métrique qu’il avait antérieurement élaboré et qui distingue insuffisamment côla et vers: de là vient que les versus nexi tiennent à la fois des uns et des autres. Leur statut est bâtard; il permet à Hermann de diviser les longs vers de Boeckh en unités qui ne soient néanmoins pas elles-mêmes des vers comme l’entend Boeckh. Comment délimiter les vers lyriques, si l’absence de synaphie verbale ou prosodique ne les caractérise pas? En réalité, le vers lyrique se dissout dans la conception à la fois trop floue (eu égard à la caractérisation de la fin de vers) et trop bornée (eu égard à la longueur du vers) qu’en a Hermann. Ce dernier ne s’est pas rallié à la définition Boeckhienne du vers lyrique, dont, si grand connaisseur de la poésie antique fût-il, la nature paraît lui avoir véritablement échappé. La rivalité avec Boeckh, son cadet de treize années, ne facilitait pas le ralliement, qui impliquait la reconnaissance par Hermann de son erreur. Bien que certains de ses propos (cf. par exemple Hermann 1810, x) puissent faire croire le contraire, l’éminent philologue de Leipzig ne s’est, semble-t-il, jamais complètement dégagé de l’ambiguïté de la typographie de la colométrie traditionnelle, qui ne permet pas de distinguer côla et vers. Son manque d’intérêt pour la musique antique l’oppose à Boeckh, qui y consacre une partie de son traité De metris Pindari. Cet intérêt semble avoir sensibilisé Boeckh à la question de la fin de vers (1811, 82): «in versus fine aliquid semper est silentii (vernacula lingua appellat Haltung), quod observabat vetus musica, non nostra». À la différence de certains ‹contre-révolutionnaires› d’aujourd’hui, Hermann n’accepte pas en bloc la colométrie traditionnelle. Mais il refuse de la rejeter au delà d’une cer-

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taine limite (1817, 208): «haec vero [il parle de son enseignement au livre III des Elementa doctrinae metricae] si quis bene memoria teneat, iudiciique aliquam alacritatem et exercitationis usum adjungat, fieri non poterit, quin et grammaticorum barbariem effugiat, et a critica temeritate, qua nihil turpius est, sibi temperet». Il prend donc appui sur la colométrie transmise comme un élément traditionnel qui permet de comprendre la composition métrique de Pindare. Il ne semble jamais s’être expliqué sur cette continuité entre Pindare et la colométrie traditionnelle ; c’est que, pour lui, elle a le même statut que le texte de Pindare: il contient des fautes, certes, mais il ne saurait être récusé sans limite. Cette attitude s’oppose à celle de Boeckh, qui place la colométrie dans son contexte historique, celui de l’érudition alexandrine, et la désolidarise du texte lui-même, ôtant ainsi toute autorité à la colométrie, vue comme une construction réalisée à partir de principes erronés. Comme Hermann prend ses distances vis-à-vis du texte transmis de Pindare, de même il s’écarte de la colométrie traditionnelle. Dans les deux cas, la distanciation est due à son esprit critique; outre sa connaissance étendue de la poésie antique, qui compense son ignorance de la véritable nature du vers lyrique, son excellence comme Textkritiker le sert dans l’examen de la colométrie transmise. Il y a dans cette attitude critique un enseignement à tirer pour ceux qui sont tentés aujourd’hui d’adhérer en bloc à la colométrie traditionnelle. Étudions l’exemple des côla 3, 4, 5 de l’épode de la Néméenne VII dans la colométrie et le texte transmis: Épode :

3 D

{} "6\   m Vμ : . 5  n  " :`  "μ . 4 " ,

Épode $:

3  \

d : . 46  " : ` Dm % [sic D,33 : ` C % B] U- [U%- BD] 5 t  Do%· 4 \,

Épode :

3 @5\

μ·  D":6% <  _ 5 >, o   [sic B, u D] C ` C % 4 =\ .

Épode :

3 v6V.

$    3 m"  P \5  :μ μV [μV D,  μV B] 4 ":"

33

Gentili 1999 trouve que Dm % «portare su» convient mieux ici que C % et il compare «soprattutto» Ném. 11, 35, qui est bien différent, puisque, selon un usage connu (cf. DGE s. v. Dm % A I 2), il s’y agit de conduire une armée quelque part en lui faisant franchir la mer. La variante : ` Dm % semble être une conflation des leçons : ` C % et : ` C % (*g, écrit au dessus de *U, aura été par la suite inséré après *U, donnant wU*U*g*xfg). «Accusativi forma :  hoc solo loco testata», remarque Schroeder 1900. Au pluriel, seul le datif m()() est attesté, sauf ici et chez Eustathe.

Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh Épode :

211

3 D\"

g"\ μ y "·  , 5  1 m [m BD] ` Dμ" 5. 4 s 

Gentili 1999 défend cette colométrie, si ce n’est que, décalant les côla 4 et 5, il considère que les trois côla forment un vers unique (cf. l’hiatus entre le dernier côlon de l’épode et le vers suivant, qui commence par R"o). Il admet la responsion suivante dans le côlon 4, laquelle résulte de la colométrie traditionnelle et, à très peu près, du texte transmis par les mss. B et D:

$ 

XX—XX—X X— XXXX—X X X — X X — X 34 X— —XX—X X—X—X—X

Des anomalies de responsion aussi graves, qu’aucune analyse métrique35 ne peut réduire et qui s’opposent à la régularité de la responsion dans les autres éléments de l’épode, sans parler de la strophe/antistrophe, amènent naturellement à mettre en doute la colométrie dont elles résultent. Le mérite revient à Hermann 1798 d’avoir vu que la solution du problème passait par une rectification de la colométrie, acceptée par Boeckh 1811 et ses disciples: Épode :

{} "6\   m " , [gl XX cr] 4–5 Vμ : .  n  " :`  "μ  [gl XX cr ($–: XX gl XX cr)]

Épode $:

3  \

3 D

d : . 46  " \, C % [B, : ` Dm % D] Ut  Do%·

4–5 : `

Épode :

3 @5\

μ·  D":6% =\ . _ >, o   C ` C %

4–5 < 

Épode :

3 v6V.

$    3 ":" P \  :μ μV

4–5 m" 

Épode :

3 D\"

g"\ μ y s   ,  1 m ` Dμ" 5.

4–5 "{}·

34

35

Plutôt X X X X X — X, selon la prosodie naturelle du mot < % généralement observée en poésie lyrique, la syllabe initiale longue par allongement métrique se trouvant, à côté de la prosodie normale, dans la poésie épique (détails chez Schulze 1892, 438 ss.). m"  dactylique fait aussi difficulté dans la colométrie défendue par Gentili, qui remet en selle la vieille étymologie par V ‹terre‹, sans pouvoir expliquer d’une manière convaincante pourquoi m"  est un tribraque partout ailleurs – sauf ici, selon Gentili, et dans le texte transmis de Prométhée Enchaîné 829, où une faute pour m"  est si probable: voir Hermann 1859, II 127 ad loc. «pher (~ 2 ia ^)» selon Gentili 1999. Va pour le phérécratien, mais quid de la dipodie iambique catalectique? Ce n’est plus là du polyschématisme, mais de l’amorphisme.

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Restent les difficultés suivantes, remarquées par Hermann: (1) Vμ (épode , côlon 4) introduit une anomalie dans la responsion et une difficulté de sens, «le riche et le pauvre passent le long du tombeau de la mort» n’étant pas satisfaisant (c’est peu dire). La solution du problème est due à Fr. Wieseler (chez Schneidewin 1843, 205): ":  [μ , «le riche et le pauvre se dirigent l’un comme l’autre vers le terme de la mort» (cf. Olymp. 2, 31 ":  …  m): d " s  1 d ": (μo%  3 (scholie); "6  1 D |μ [μ "m (Jean Tzetzès, Chiliades 4, 776, d’après notre passage et Isthm. 7, 42); aequo mendicus atque ille opulentissumus | censetur censu ad Acheruntem mortuos (Plaute, Trin. 493–94). On est d’autant plus sensible au mérite du diagnostic de Hermann 1817 qu’on trouve le texte transmis chez Snell–Maehler 1987 et Race 1997, qui, certes, indiquent la conjecture de Wieseler, adoptée par Schroeder 1900 et Turyn 1952, entre autres. On voit, hélas!, Wilamowitz 1908, 333 défendre le texte transmis contre la correction de Wieseler avec l’argument que les pires critiques opposent aux meilleures conjectures: «gewiß sinnreich, […] aber die Notwendigkeit der Änderung leuchtet nicht ein». Il écarte toutefois lui-même l’objection qu’on pourrait faire à [μ pris au sens non de simul, mais de pariter (cf. DGE s. v. A I 3). Le point de départ de la faute est la mécoupure de ;j*~*)* en ;j* ~*)*, qui entraîna naturellement " ,.36 Noter que cette mécoupure ne se serait pas produite dans un texte distribué selon une colométrie juste. Je ne sais si l’emploi du mot [μ par Jean Tzetzès montre qu’il a eu accès à un texte non fautif, antérieur au modèle des deux mss. autorisés (on considère comme probable37 qu’il a utilisé, entre autres, un exemplaire complet d’Hipponax, dont l’œuvre ne survit aujourd’hui que par la tradition indirecte et une tradition papyrologique fragmentaire). De ces deux manuscrits, l’un (B, fin du XIIe s.) est à peu près contemporain de Tzetzès, l’autre (D) est du début du XIVe siècle. Irigoin (1952, 159) envisage de faire de Tzetzès le possesseur du modèle de B et D et il suggère (165) que B résulte du travail philologique de Tzetzès. Si cela est juste, il ne paraît pas très plausible que Tzetzès ait connu la leçon non fautive par un témoin antérieur au modèle de B et D. Quoi qu’il en soit, l’indispensable correction de Wieseler accroît les difficultés métriques que pose la colométrie traditionnelle, en donnant au côlon la forme X X X X X — X. Loin que la colométrie transmise confirme le texte transmis, la difficulté du texte transmis confirme 36

37

Une faute semblable défigure peut-être ou probablement une réplique de Créon dans l’Antigone de Sophocle 1096–97: \ `  5 , \, Dm : | C " m@  μ  3 "m . Jebb 1900 et à sa suite Griffith 1999 se battent les flancs en vain, me semble-t-il, pour défendre l’amphigourique  3 "m . La conjecture  ":

(Musgrave et Martin) me paraît offrir une progression rhétorique impeccable et une expression entièrement satisfaisante et bien attestée (cf. Schneidewin–Nauck 1886, 133 et 169); le mot qui précédait  fut-il b (pour  … b cf. Ant. 1070, fr. 199, 1 et fr. dub. 1131, 6 Radt)? Blaydes 1859, 600 en avait déjà fait l’hypothèse. Voir par exemple Wilson 1990, 303; Liberman 1999, lxiv n. 223.

Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh

213

celle de la colométrie transmise. (2) :μ μV (épode , côlon 5) introduit une anomalie de responsion (cf. Tessier 1995, 95–98). Wilamowitz (1921, 407), Young (1966, 21) et Maas–Ghiselli (1979, 7–8 § 6)38 défendent la responsion -μ μV ~ -`  "μ , mais Hermann 1798, généralement suivi par les éditeurs modernes, a raison de préférer comme plus plausible la substitution de 7μ:  (plus correctement vμ: 39) à μV D/ μV B. Cette leçon de B conserve peutêtre la trace de l’hyperdorisme 7μ: , que l’on trouve transmis ailleurs chez Pindare.40 Mais le  reste à expliquer, et je n’exclus pas l’hypothèse de Christ 1891, 40–43, qui voit dans μV la trace de la notation originelle H)j* = vμ: ().41 La variante  μV est-elle une conflation de μV et de 7μ: ? Cette unique attestation littéraire de l’adjectif simple μ\, censé signifier μ\,42 provient peut-être de deux fautes de translittération.43 De vμ:  | R"o, Hermann rapproche très justement v6V v. 82 à propos de la mise en branle de l’hymne. Metzger 1880 oppose v6V à D:  v. 76.44 Fennell 1883 fait à propos de v6V cette remarque: «contrast this language with reference to an Aeolian ode sung to the lyre with that of Nem. III. (v. 67 [$, … ":"]) which was song to flutes». Christ 189645 rapporte les deux caractérisations v6V et vμ:  au mode lydien.46 Les deux mots convergent d’une manière à la fois manifeste et, pour nous, obscure. 38

39 40 41

42

43

44 45

46

En s’appuyant sur une explication métrique de la scholie (substitution d’un choriambe à la dipodie iambique) dont Maas–Ghiselli surestiment, à mon avis, la valeur. L’équivalence choriambe/dipodie iambique n’est pas problématique, mais la dipodie iambique telle que la voit le scholiaste paraît imaginaire: le vers semble être un glyconique avec base trochaïque dont le premier élément long est résolu quatre fois sur cinq (l’exception figure dans la première épode: ‹licentia primi systematis›, cf. Liberman 2004, 221) et dont la longue finale est partout résolue. À ce glyconique est associé un crétique, c’est-à-dire une dipodie iambique syncopée, le temps manquant étant complété par une longue de la valeur de trois temps. «Si les scholies permettent parfois de retrouver des leçons vraies non attestées dans la tradition manuscrite, elles ne peuvent par elles-mêmes ‹confirmer› une leçon suspecte de cette tradition» (Liberman 2004, 253). Autrement dit, le texte sur lequel s’appuient les scholies n’est pas nécessairement dépourvu de faute. Correction du valeureux éditeur Jean Benoît, ‹Benedictus› (Saumur 1620). Cf. Henry 2005, 74 à Ném. 8, 3. Sur la forme de l’eta, voir Boeckh 1825, 307 = 1871, 296, dans une belle étude sur la notation utilisée par Pindare, et Jeffery 1990, 28–29. Voir le dictionnaire de Chantraine s. v. μ:. Chantraine s’égare sur l’accentuation des mss. de Pindare. Sur le metagrammatismos des poèmes de Pindare, cf. (outre Christ 1891 et Boeckh 1825 = 1871) Herzog 1912, 77–87 et Irigoin 1952, 22–28. Ni l’un ni l’autre ne mentionne l’hypothèse de Christ 1891. Comparer Sophocle, Antigone 1089  1 3 :  3  v6%: . Tessier 1995, 97 relève que Wilamowitz 1908, 341 n. 1 répond à Christ 1891 et 1896, sans le citer. L’argumentation de Wilamowitz 1908 me paraît faible: le rapprochement de Prométhée Enchaîné 134 , μ3"  3 n’est pas probant et le facile sarcasme: «Hatte Pindar wie ein Tier oder wie ein Barbar gebrüllt?», dirigé contre vμ: , porte à faux. Sur ce mode et son utilisation par Pindare, cf. West 1992, 181–82.

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Ces exemples indiquent combien la faculté critique, dont Hermann était si richement doté, est déterminante dans l’évaluation de la colométrie traditionnelle.47 Ils montrent le prix qu’il faut payer quand on renonce à l’exercice de cette faculté en s’arrimant à une tradition douteuse comme à une certitude d’autant plus inébranlable que son fondement est mystérieux. Si le maintien de la colométrie transmise au nom d’un lien obscur de cette colométrie avec la composition rythmico-musicale amène à défendre l’indéfendable, l’attitude scientifique me semble consister à mettre en doute le postulat initial. Et si le «côliste» antique a commis des erreurs aussi fondamentales que celle que nous avons étudiée,48 si un côlon délimité par lui dans cinq épodes peut contenir en son sein la fin d’un vers et le début d’un autre, quel rapport sa colométrie peut-elle encore entretenir avec la musique composée par le poète ou avec une partition fondée sur celle-ci?49 Ou arguera-t-on qu’à chaque fois 47

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«A doctrine», écrit Parker (2001, 52), «of Alexandrian infallibility might be welcome to some prospective editors, who would thus at a stroke win exemption from the irksome task of studying metre, together with a pleasant sense of superiority to those who have studied it». Pour l’instant, plus d’un ‹contre-révolutionnaire› est un métricien professionnel. En revanche, ce n’est pas un hasard si les ‹contre-révolutionnaires› sont tous, sauf erreur, des Textkritiker conservateurs et même parfois ultra-conservateurs. L’adhésion en bloc à la colométrie traditionnelle et celle au texte transmis sont l’avers et le revers d’une même pièce. Quelle aubaine pour un éditeur peu compétent: il suffit de reproduire la colométrie et le texte alexandrins (que fait bien sûr connaître l’accord unanime des mss.), l’un et l’autre se corroborant mutuellement! Le fait que, selon les calculs d’Irigoin 1958, 21, la colométrie traditionnelle coïncide plus souvent avec la répartition en vers établie d’après les principes de Boeckh qu’elle n’en diffère ne veut pas dire qu’elle est fondée sur des principes métriques justes. «Es ist doch wohl Zufall», dit Maas 1904, 307–08 à propos de Bacchylide, «daß die ‹rhythmisch› schließenden Kurzzeilen der Alexandriner in den meisten Fällen zugleich die des Dichters sind: wenigstens hat man die Perioden Pindars, die das gar nicht vertragen, ebenso zerschnitten». Si aux côla traditionnels correspondent, dans la colométrie Boeckhienne, tantôt des vers, tantôt des côla, tantôt ni les uns ni les autres, c’est ou que la colométrie d’inspiration Boeckhienne est fondamentalement fausse, ce que je ne crois pas, ou que les connaissances métriques du ‹côliste› antique sont insuffisantes. Ce ‹côliste› n’a pas su bien délimiter les vers; comment ne se serait-il pas trompé pour les côla, moins aisés à dégager que les vers? Certes, la répartition en côla évitait les inconvénients qu’eût créés la répartition en vers trop longs pour figurer sur une ligne et pour rendre aisée la vérification de la responsion et de l’authenticité du texte. Les côla courts permettent de vite repérer le membre intrus: ainsi le fameux côlon 48 a de l’Olympique II,  :  )5 , censé athétisé par Aristophane de Byzance. Maas 1904 attirait déjà l’attention sur la volonté de limiter les cas de ‹Wortbrechung› et sur la recherche d’une certaine régularité dans la longueur des côla (entre cinq et quinze syllabes), recherche préjudiciable à la valeur métrique de la descriptio (voir Parker 2001, 49 et ailleurs). Même si la partition distinguait des côla de la même manière «que nous mettons des barres en écrivant la musique sans tenir compte des membres de phrase mélodiques» (Weil 1902, 189), peut-on croire que cette partition ait pu faire un côlon de la fin d’un vers et du début du suivant sans trahir la composition du poète musicien? Or si la partition trahit la composition de Pindare, on n’est plus lié par elle pour déterminer la façon dont il compose ses vers.

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que la colométrie transmise par les manuscrits médiévaux ou par les papyrus antiques est erronée un copiste reproduit mal son modèle50 ou que le ‹côliste› sacrifie le respect de la musique à des motifs rhétoriques ou grammaticaux, ou encore que le ‹côliste› s’est trompé en passant de la partition musicale au texte sans notes?51 Dans tous les cas, on n’a aucun moyen de vérifier l’adéquation de la colométrie à la musique. Si l’on dit qu’il y a adéquation lorsque la colométrie est correcte, l’argumentation est purement circulaire, puisque la colométrie est correcte dans la mesure où elle est censée suivre la musique. L’idée que la colométrie traditionnelle est justifiée par la musique est donc un article de foi; dès que le croyant met en doute une partie de la colométrie (en dehors de bévues ponctuelles), c’est tout l’édifice qui s’écroule. Le métricien ‹contre-révolutionnaire› est pour ainsi dire fatalement amené à défendre l’indéfendable en matière de métrique ou de critique textuelle, contre quoi seul le jugement peut le prémunir. Le repérage d’irrégularités métriques associé à l’examen de problèmes textuels a conduit Hermann dès qu’il s’est occupé de la métrique de Pindare à corriger la colométrie transmise. Le processus de correction ne pouvait aboutir qu’avec la mise en évidence du vers lyrique. Elle est due à Boeckh, non à Hermann, qui n’a jamais pris complètement acte de la découverte de son collègue et rival. Il a dû entrer là, à côté de raisons de fond, un aspect d’amour-propre. Mais la révolution Boeckhienne de 1809 et 1811 aurait-elle été possible sans les travaux antérieurs de Hermann? Il ne faut pas oublier que c’est Hermann qui a, le premier, su résoudre concrètement des problèmes de la colométrie traditionnelle, de façon, je crois, à pouvoir mettre, avec J. H. Voss,52 Boeckh53 sur la voie d’une découverte dont l’état présent de la recherche montre qu’elle est une conquête fragile.

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Le cas se produit (cf. Maas 1904 et Parker 2001), mais l’erreur est circonscrite: l’explication par la faute de copie ne peut concerner une erreur répétée à chaque fois que revient un élément d’une strophe/antistrophe ou d’une épode. Voir sur ce dernier point Prauscello 2006, 84 répondant à Marino 1999, 22. Boeckh n’a pas manqué de signaler qu’il connaissait l’affirmation de J. H. Voss (Zeitmessung der Deutschen Sprache, Königsberg 1802, 243) selon laquelle une plus juste présentation des odes pindariques ferait disparaître bien des cas de ‹Wortbrechung› entre vers. Voir le chapitre XXIV du livre III du De metris Pindari intitulé: «Narratur historia litis de vocabulis inter duos versus non dividendis motae nuperrime». «Non contemnendam», dit avec condescendance Boeckh (1811, XXIX), «salutem Pindaro attulere Godofredi Hermanni commentationes metricae, quibus ad inveniendos poetae numeros munivit viam, non tamen sublato pravo more integra vocabula inter duos versus distrahendi». Boeckh veut dire que Hermann a contribué à identifier les côla plus que les vers. Dans ce sens, on peut voir l’appréciation de Schröder 1908, 136–38 sur les mérites respectifs de Hermann et de Boeckh comme pionniers de la métrique lyrique. «Hermann», remarque-t-il, «war ohne Zweifel der feinste Metriker unter den dreien [scil. Hermann, Boeckh et Lachmann]».

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Enrico Medda

quid sit illud, quod regulam dicimus: Hermann e la critica inglese Jam loca, quae huic doctrinae adversantur, tam pauca sunt, tam facilia emendatu pleraque, ut, si unus et alter forte supersint, quibus nos mederi nequeamus, non idcirco sana judicanda sint. (Porson, Praef. ad Eur. Hec. iv) Nulla enim in Attica poësi essent grammaticae regulae, si nihil pro corrupto habendum esset. (Elmsley ad Eur. Ba. 1132) Nostrum est quidem, quum artem quandam doctrinamque harum rerum condimus, ubique regulas et leges circumspicere: sed qui obliviscuntur, totum hoc genus in eo versari, quod placeat ipsumque se auribus commendet, non animadvertunt, dum morosas regulas excogitant, plus se scire velle, quam ipsi poëtae sciebant. (Hermann, Elementa doctr. metr. 48)

È noto che fin dagli anni della sua formazione universitaria Gottfried Hermann concepì grande ammirazione per il genio filologico di Richard Bentley, al cui esempio già nella prima opera di vasto respiro, il trattato De metris poetarum Graecorum et Romanorum del 1796, dichiarò di voler ispirare le proprie ricerche. Bentley aveva mostrato a quali risultati poteva portare l’applicazione di rigorosi principi razionali alle questioni filologiche, e l’intelligente maestro di Hermann, Friedrich Wolfgang Reiz, aveva saputo trasmettere all’allievo il suo profondo rispetto per colui che aveva insegnato ai filologi che i dati della tradizione non possono essere accolti passivamente, ma devono passare attraverso il lucido vaglio della ragione. Trentacinque anni più tardi, nella prefazione alla seconda edizione dell’Ecuba di Euripide, l’ormai celebre maestro di Lipsia riconosce ancora affettuosamente quel debito (Hermann 1831 a, vi): a qua ratione [i. e. il dipendere passivamente da ciò che è tramandato] ego quum meapte natura abhorreo, tum ut magis abhorream debeo magistro meo Fr. Volg. Reizio, admirationique qua is me adolescentem implevit R. Bentleii. Nam philologorum quoque similis disiunctio est ut theologorum, quorum alii toti ex auctoritate eorum quae scripta esse vel vident vel se credunt videre pendent, alii contra etiam rationi aliquid tribuendum existimant, quae data sit homini ut ea utatur, non ut abiectam contemnat.

Era naturale dunque che il giovane Hermann guardasse con grande attenzione agli eredi di quell’illustre tradizione di studi, e in particolare a colui

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che, negli ultimi anni del XVIII secolo, ne era considerato il più autorevole rappresentante, il trentasettenne Richard Porson, dal 1792 Regius Professor di Greco a Cambridge. A lui Hermann inviò fiduciosamente una copia del De metris poetarum Graecorum et Romanorum, accompagnata da una rispettosa lettera nella quale metteva in evidenza l’ispirazione bentleyana dei suoi progetti filologici.1 L’inizio sembrava promettente, ma le cose presero presto una piega diversa. Nel 1797 Porson pubblicò l’edizione commentata dell’Ecuba di Euripide, un libro di cui già prima dell’uscita si diceva che avrebbe apportato grandi novità in campo metrico. È comprensibile che Hermann lo attendesse con ansia: ma quello che vi trovò non corrispose alle sue attese, anzi lo indusse a elaborare, nella sua Hecuba del 1800, un attacco su vasta scala destinato a suscitare nei suoi confronti il risentimento di Porson, finché visse, e la fiera ostilità dei giovani studiosi a lui più vicini (in particolare James Henry Monk, che a Porson succedette sulla cattedra di Cambridge, e Charles James Blomfield), ed inoltre ad alienargli le simpatie di larga parte del mondo filologico inglese. Alla lunga controversia che ne seguì prese parte in modo attivo anche Peter Elmsley, da molti ritenuto il miglior grecista della sua generazione,2 oxoniense di formazione e dunque estraneo alla ristretta cerchia dei seguaci di Porson, ma continuatore di alcuni aspetti importanti del suo metodo.3 1

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La lettera, del 28 novembre 1796, è pubblicata in Luard 1867, 62–63 con il n. xxvi (l’originale è conservato al Trinity College di Cambridge). Hermann, dopo aver elogiato Porson per l’Eschilo pubblicato l’anno precedente, dichiara di voler dedicare le sue energie all’edizione di Plauto, nell’intento di emulare ciò che Bentley aveva fatto per Terenzio (“quum enim iam inde ab aliquot annis Richardi Bentleii exemplum mira Plauti edendi cupiditate me incendisset”), e chiede di essere aiutato a ottenere accesso ai codici conservati nelle biblioteche inglesi. La più ricca testimonianza sull’attività scientifica e sul carattere di Peter Elmsley resta l’affettuosa rievocazione fattane da Burton 1827 nella recensione ai suoi ‘Scholia in Sophoclis Tragoedias septem’. La recensione uscì anonima, ma può essere attribuita con certezza a Edward Burton, Old Westminster e Student of Christ Church, cf. Finglass 2007, 101–02, n. 3. Al lavoro di Finglass rimando per ulteriori indicazioni bibliografiche su Elmsley. Sulla presunta appartenenza di Elmsley alla ‘scuola porsoniana’, cui non pochi hanno dato credito, il giudizio più nitido resta quello di Page 1959, 230: “Elmsley, a genial generous man, admired Porson and presumably learnt something from him: but it is very obvious that Elmsley’s work would have been what it is, whatever Porson might do or not do”. Poche righe più avanti, però, Page riconosce che Porson apparteneva a una categoria superiore: “Elmsley had talent; Porson had genius”. È vero comunque che, chiarita la spiacevole vicenda delle congetture ad Ateneo che era stato accusato di aver rubato a Porson, Elmsley andò progressivamente accostandosi a Monk e Blomfield, come documentano le lettere pubblicate da Horsfall 1974, 455–61. Horsfall ricostruisce in dettaglio la vicenda delle congetture, a partire dall’articolo anonimo (scritto da Monk) che propalò l’accusa contro Elmsley, e giunge alla conclusione che le responsabilità di Elmsley furono assai meno gravi di quanto i suoi detrattori vollero far apparire (così già Page 1959, 230; sull’argomento si veda anche Clarke 1945, 227–28).

Hermann e la critica inglese

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Le polemiche si prolungarono per circa un quindicennio dopo la morte di Porson (1808), e dovettero fare i conti con la difficile situazione politica dell’ Europa del tempo, scossa da eventi bellici che rallentarono (anzi, in alcuni periodi ridussero a zero) le comunicazioni scientifiche fra i due paesi.4 I momenti più intensi dello scontro sono rappresentati, per la parte inglese, da questi scritti: (a) il celebre Supplementum alla prefazione della seconda edizione dell’ Hecuba di Porson (1802), nel quale gli argomenti di Hermann sono confutati senza mai menzionarlo direttamente;5 (b) la nota di Porson a Eur. Med. 675, che contiene un feroce sarcasmo nei confronti del celebrato orecchio musicale del professore di Lipsia (Porson 1822 [1801], 52–53): “ideoque Hermannum haec secum loqui fingamus: ‘nos Germani, qui multo melius Anglis syllabarum quantitatem callemus, nos omnia loca, ubi i  : pro epitrito tertio apud Euripidem occurrit, emendabimus’.6 Et sex loca, hoc morbo scilicet laborantia, corrigit, si hoc est corrigere, morbum fingere, ut tuae medicinae peritiam ostentes”;7 (c) la dotta recensione di Elmsley 1811 alla terza edizione dell’Hecuba di Porson (1808); (d) le recensioni di Elmsley all’Hercules Furens e alle Supplices di Hermann (Elmsley 1813 a e 1813 b); 4

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Sulle difficoltà incontrate dagli studiosi inglesi nel procurarsi opere dei colleghi tedeschi, e sui loro tentativi di inviare plichi con i loro libri a Hermann e ad altri in Germania per vie talora avventurose, si vedano i passi delle lettere di Blomfield a Elmsley (24 febbraio 1813; 30 aprile 1813; 7 dicembre 1813; 8 giugno 1814; 13 dicembre 1814) e di Monk a Elmsley (18 giugno 1813) riprodotti da Horsfall 1974, 469–70. Le sole due volte che Hermann viene citato nel Supplementum è a proposito di suggerimenti che vengono accolti: cf. Porson 1822 (1802), xvi e xxiii (per le citazioni dall’Hecuba utilizzo la raccolta di Porson 1822, che include sia la prefazione del 1799 sia il Supplementum). Il riferimento è a Hermann 1800, 115–16, dove egli nega che la seconda sillaba del nome i  : possa essere scandita come lunga nei giambi. Sulla nota porsoniana si vedano anche gli Addenda ad Medeam in Porson–Kidd 1815, 205: “Attico lepore verba tribuit Germaniae Prisciano rei metricae peritissimos spolianti, mutilanti, laceranti, qualia eum secum loqui fingeremus”. Sono inoltre numerose le testimonianze orali dei feroci sarcasmi che Porson riservava a Hermann ogni volta che aveva occasione di menzionarlo. Hermann accusò il colpo, come si capisce da quanto scrisse tre anni dopo negli Orphica, citando Laberio (1805, 698): “De quo libro [i. e. Hermann 1796] quoniam diversissime viros doctos sentire cognovi, semel ad haec respondebo, sed sic ut neminem domi suae secum loquentem introducam. Domum revertar mimus?” Ma, pur ammettendo errori e debolezze, l’impianto del trattato gli pareva ancora pienamente valido: “Sed quae tum posui doctrinae metricae fundamenta, quasque his fundamenta superstruxi singulorum metrorum descriptiones, tantum abest, ut labefactatas a quoquam viderim, ut magis vel aliorum vel mei ipsius observationibus confirmatas esse laeter. His ego fretus, quae tum feci piacula, data opportunitate expiabo”. In Porson–Kidd 1815, 205 il passo degli Orphica è citato maliziosamente, unendo e ricombinando le frasi dei due brani citati (separati da sette righe nel testo originale) in modo tale da far sembrare che Hermann avesse fatto marcia indietro assai più di quanto egli non avesse realmente inteso dire.

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(e) la recensione anonima alle Baccanti di Elmsley e alle Baccanti di Hermann comparsa nell’ottavo fascicolo della rivista Museum Criticum (Anonimo 1826).8 L’animosità dei porsoniani traspare anche in alcune lettere private. Scrive ad esempio Monk a Elmsley il 30 dicembre 1814 a proposito delle Annotationes in Medeam che quest’ultimo stava per pubblicare sul fascicolo n. 5 di Museum Criticum: “I enjoy the anticipation of the feelings of the Germans when they see this article – they little suspected this other Golden bough which was to replace Porson …”.9 Dopo la morte prematura di Porson le due parti continuarono a contrapporsi alternando brusche fiammate polemiche a reciproci riconoscimenti di valore, ma complessivamente con un lento, progressivo stemperarsi dei toni. Hermann, che già negli Orphica aveva riconosciuto al rivale di aver fatto molto progredire la conoscenza dei giambi e degli anapesti tragici,10 nella prefazione all’Hercules furens, del 1810, espresse sincero cordoglio per la sua scomparsa e gli attribuì – pur con una seria riserva relativa alla metrica – un ruolo preminente fra gli studiosi di Euripide.11 Un altro apprezzamento delle sue qualità era contenuto in una lettera a Blomfield del 1814;12 ma è soprattutto nella prefazione agli Elementa doctrinae metricae che Hermann tributa all’avversario un cavalleresco omaggio, individuando in lui uno dei rari studiosi in grado di “reserare claustra, et monstrare viam […] ut longius alii procedant” (Hermann 1816, xv–xvi). Nel frattempo i contatti con gli inglesi, che si erano adoperati per fargli pervenire alcuni loro scritti, erano andati consolidandosi, e anche Hermann aveva inviato a Blomfield, che lavorava su Eschilo, alcuni suoi scritti (ad esempio la dissertazione De Aeschyli Persis del 1812, che lo studioso inglese cita

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La rivista ‘Museum Criticum’, fondata da un gruppo di studiosi di Cambridge (oltre a Monk e Blomfield, il fratello di quest’ultimo, Edward, Thomas Rennell e John Kaye) uscì dal 1814 al 1826 in modo piuttosto irregolare. L’incerta cronologia degli otto fascicoli pubblicati è stata utilmente ricostruita da Stray 2004, 298 sulla base della corrispondenza tra Monk e Blomfield. I primi quattro fascicoli furono poi raccolti in volume nel 1814, e gli altri quattro nel 1826: a queste due raccolte faccio riferimento per le citazioni. Il brano è pubblicato da Horsfall 1974, 455. Dello scontro fra Monk e Hermann a proposito dell’Alcesti dirò qualcosa più avanti. “In tragicorum iambis et anapaestis, de quibus unus omnium optime meritus est Richardus Porsonus …” (Hermann 1805, 698). “Porsonus quidem, cuius morte ingentem omnes, qui his studiis dediti sumus, semperque dolendam iacturam fecimus, omnes implevisset numeros, si metrorum eandem habuisset, quam caeterarum grammaticae partium peritiam” (Hermann 1810 b, v). L’edizione dell’Hercules furens rimase però a lungo inaccessibile agli studiosi inglesi. Il 18 giugno 1813 Monk scrive a Elmsley che l’unica copia di cui aveva notizia in Inghilterra era nelle mani di Peter Dobree (cf. Horsfall 1974, 469). Blomfield accenna alle parole di Hermann in una sua lettera a Elmsley del 13 dicembre 1814, cf. Horsfall 1974, 470.

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ampiamente e con toni rispettosi nella sua edizione dei Persiani del 1814).13 In questo clima, il 9 marzo 1817 Hermann indirizzò a Blomfield una lunga lettera nella quale rivendicava la propria onestà intellettuale, negando di aver inteso attaccare personalmente Porson e i porsoniani e rintuzzando l’eccessiva aggressività dei filologi inglesi contro i tedeschi:14 Unde vero ista in Germanos ferocia et superbia? Nempe contenditis nobiscum de principatu. At utri utris praestent, judicari neutros decet. Neque vero arbitros habemus alios; quum Gallos Italosque ambo recusemus; Batavi propemodum conticuerint; Helvetii et Dani Suevique nobis adnumerentur; cetera autem barbara sint. Est autem contentio illa quidem honestissima; sed nos securi arbitrium posteris permittimus, vos autem (ignosce, vir humanissime, si dicam, quod vellem non esse dicendum) vestro ipsorum judicio principes agitis, et insultatis nobis […]. Et quid est quo freti ita feroces estis? Porsonum uno ore omnes nominatis. Quod nobis perinde videtur esse, ut quum Galli quod Napoleonem habebant, sese primos omnium hominum esse existimabant.

La lettera, che lascia trasparire l’orgogliosa consapevolezza del primato culturale delle due nazioni, rappresenta un prezioso documento di una delicata fase in cui, per ragioni diverse, sia l’Inghilterra sia la Germania potevano legittimamente rivendicare a sé il compito di traghettare la filologia in una nuova fase ‘scientifica’. Non era ovviamente prevedibile allora la fase di stallo che gli studi classici avrebbero vissuto in Inghilterra dopo il 1825, e il conseguente prevalere della filologia tedesca nella seconda metà dell’Ottocento. Hermann riconosce che fra i seguaci di Porson vi sono eccellenti ingegni, in grado di eguagliare o superare il maestro, ma ne critica l’atteggiamento di eccessiva superstitio nei confronti della venerata figura, e li invita a por fine alle inutili controversie: “vellem desinerent tandem simultates istas 13

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Cf. Blomfield 1814, iii, ix, x. La prefazione si conclude con queste parole, che testimoniano l’intento di instaurare rapporti meno conflittuali (xxx–xxxi): “Quod vix operae pretium fuisset observare, nisi animadvertissem haud paucos veterum poetarum interpretes hac chorda oberrasse, qui solent auctorum verba et sententias nimis curiose premere, et saepissime faciunt nae intelligendo ut nihil intelligant. Hoc dictum puta, non tantum in Hermannum, cujus equidem doctrinam suspicere soleo, quam in quosdam minorum gentium criticos, qui, dum in poetis interpretandis philosophari volunt, haud raro fluctus in simpulo movent, et in luce meridiana caecutiunt” (il passo rimase immutato nelle successive edizioni del 1818 e del 1823). Per la critica mossa da Hermann alle teorie di Blomfield sul numero dei coreuti in Eschilo rimando a Medda 2006, 126–27. La lettera è pubblicata in Blomfield 1863, I 32–34; i passi citati sono alle pp. 33–34. In molti scritti di Hermann, fino al termine della sua vita, continueranno ad affiorare spunti polemici contro i populares di Porson, sempre pronti a seguirlo ciecamente: si vedano i passi che ho citato in Medda 2006, 58 n. 62, 105 n. 15, 170. Sull’altro versante, è interessante una lettera di Gaisford a Elmsley del 9 settembre 1819, nella quale si ammette che le critiche di Hermann sono comunque vantaggiose per chi le riceve (cf. Horsfall 1974, 455 n. 23). Anche Kidd, che definisce Hermann “homo neque meo iudicio stultus, et suo valde sapiens”, gli dà atto di aver reso giustizia “in his lecture-room” al Supplementum di Porson (Porson–Kidd 1815, lxxiii nota).

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parum laetabiles: quod efficere vestrum est, non nostrum, qui non laedimus vos, sed monemus ne laedatis, nec metu tacemus, sed quia, quos Porsoni vultus non terruerit, multo minus persona ejus, quam qui non sunt Porsoni induerunt, terrere potest”. Cinque anni più tardi, il rapporto con Blomfield si era fatto abbastanza buono da permettere a Hermann di intervenire come mediatore nella polemica che opponeva lo studioso inglese a Edmund H. Barker a proposito dell’edizione che questi aveva curato del Thesaurus Graecae Linguae dello Stephanus. In una lettera del 15 maggio 1822, Hermann invita Blomfield ad ammettere che il tono della recensione che aveva scritto su Quarterly Review nel 1820 era eccessivamente aggressivo. Nella stessa missiva egli chiede anche che vengano esaminate per la pubblicazione su Museum Criticum le sue note alle Baccanti, nelle quali discuteva su larga scala l’edizione della stessa tragedia pubblicata da Elmsley l’anno prima. L’articolo era inizialmente destinato al Classical Journal dell’editore Valpy, ma era stato ritirato dall’autore in considerazione della bassa qualità tipografica di quella rivista.15 Si trattava di un evidente gesto distensivo, e il lavoro fu accettato. Purtroppo, un ritardo della lettera che ne comunicava l’accoglimento fece ritenere a Hermann che Blomfield e Monk avessero delle obiezioni alla pubblicazione, con la conseguenza che egli preferì far uscire le Baccanti in volume a Lipsia.16 Seguì una passeggera recrudescenza della polemica, sul versante inglese con la recensione anonima delle Baccanti hermanniane uscita su Museum Criticum nel 1826, e su quello tedesco con la pubblicazione da parte di Hermann di una riedizione dell’Alcesti di Monk (uscita a Cambridge nel 1816 e ristampata nel 1818) corredata di una selezione delle note originali e di una serie di ‘emendationes‘, nelle quali comparivano giudizi molto severi nei confronti dell’editore inglese (Monk–Hermann 1824).17 Nel frattempo anche tra Hermann ed Elmsley, nonostante i molti dissensi, si era andato instaurarando un rapporto improntato a reciproca stima. Le edizioni euripidee di Elmsley (Heraclidae 1813; Medea 1819; Bacchae 1821) furono apprezzate dal lipsiense, che concluse la lunga recensione alla Medea con un inequivocabile elogio (Hermann 1819-1820, 407 = Opuscula III 261): 15 16

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Cf. Blomfield 1863, I 35–36. Hermann 1823. La vicenda della mancata pubblicazione delle note hermanniane su Museum Criticum è ricostruita in termini sostanzialmente coincidenti in Hermann 1823, ii–iv e in Anonimo 1826, 643. Monk, assorbito dai molti impegni del suo ruolo ecclesiastico (nel 1822 fu nominato Dean of Peterborough e dal 1830 divenne Vescovo di Gloucester), rispose, anni più tardi, nella prefazione alla quinta edizione emendata dell’Alcesti, stigmatizzando l’acerbitas del rivale, che sembrava “Editorem potius insectari, quam Poetae prodesse, sibi propositum habuisse” e dolendosi del fatto che uno studioso di quel livello avesse fatto suo l’“inhumanum maledicendi morem, vetus illud harum litterarum dedecus” (Monk 1844 [1837], iv). La polemica con Monk, che Hermann stimava assai meno di Blomfield ed Elmsley (cf. Hermann 1831 b, 236 = Opuscula VI 1, 96), fu meno rilevante delle altre sul piano del metodo, e resterà pertanto a margine della presente discussione.

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“Est enim P. Elmsleius, si quis alius, vir natus augendae accuratiori Graecae linguae cognitioni, ut cuius eximia ac plane singularis in pervestigandis rebus grammaticis diligentia regatur praeclaro ingenio, mente ab auctoritatibus libera, animo veri amantissimo, neque aut superbia, aut gloriae studio, aut obtrectandi cupiditate praepedito”.18 Anche nei confronti delle Baccanti Hermann ebbe parole di elogio, dichiarando che la propria edizione della tragedia doveva essere utilizzata dai lettori in parallelo al lavoro di Elmsley, del quale costituiva una sorta di supplemento.19 All’inizio degli anni ’30, dopo che la prematura scomparsa di Elmsley (1825) e gli impegni ecclesiastici di Blomfield (Vescovo di Chester dal 1824 e di Londra dal 1828) avevano ormai chiuso la fase attiva della controversia, Hermann poté tornare a mente fredda sulla vicenda, elaborando una valutazione globale dai toni meno polemici, di cui sono documento soprattutto la praefatio alla nuova edizione dell’Hecuba (Hermann 1831 a)20 e l’articolo “Über die Behandlung der griechischen Dichter bei den Engländern” (Hermann 1831b). In quegli scritti egli menziona Samuel Parr, Thomas Gaisford ed Elmsley come i suoi interlocutori più moderati, che non avevano vissuto la contesa come un fatto personale ed erano stati mossi da sincero amore per la verità.21 Questi, in sintesi, i fatti. Non è mia intenzione smuovere le ceneri di quella lontana polemica per ripercorrerne i non sempre simpatici risvolti personali, né per distribuire ragioni e torti o impostare paragoni che risulterebbero 18

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Il giudizio di Hermann è ricordato con soddisfazione da Burton 1827, 290, nel quadro di un’equilibrata ricostruzione della polemica con Elmsley: “every syllable of it gave us pleasure as we read it; and we could hardly have thought that any person could have done such justice to Dr. Elmsley’s character, who had not known him intimately, and lived with him as a friend”. L’elogio a Elmsley è ripetuto in Hermann 1831b, 236 (= Opuscula VI 1, 95–96), con l’aggiunta del rammarico per la sua morte prematura: “ein Mann, der nicht bloss wegen seiner gründlichen Gelehrsamkeit, sondern auch wegen seiner unparteiischen Gerechtigkeit und strengen Wahrheitsliebe höchst ehrenwerth ist. Sein viel zu früh erfolgter Tod ist für die Wissenschaft wie für den Ruhm seines Vaterlandes ein unersetzlicher Verlust. Seinem unermüdlichen Fleisse und seiner grossen Genauigkeit verdanken wir einen reichen Schatz trefflicher Beobachtungen über Sprache und Dialekt der Attiker”. Finglass 2007, 115–16 ricorda anche l’esistenza di una cortese lettera di Hermann a Elmsley del 10 ottobre 1820 (MS. Clar. Press d. 55, fol. 67 verso). “Ita ut qui uti hac editione volent, Elmsleii editione, cuius ea quasi supplementum est, carere nequeant” (Hermann 1823, V). L’Hecuba aveva già avuto una seconda edizione a cura di W. Lange, che aveva reso le note più adatte all’uso da parte degli studenti (Hermann–Lange 1806). Solo nel 1831, però, uscì l’edizione riveduta con nuova prefazione di Hermann, cui faccio qui riferimento. In Hermann 1831 b è inclusa una dettagliata recensione degli studi dedicati da Blomfield a Saffo, e in particolare dell’edizione del 1823. Per ragioni di spazio non tratterò di questa parte dello scritto hermanniano, focalizzata su questioni specifiche meno rilevanti sul piano del metodo.

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inevitabilmente impropri.22 Vorrei invece concentrare l’attenzione sul fatto che lo scontro si intrecciò inestricabilmente con lo sviluppo di una riflessione essenziale per il percorso intellettuale di Hermann: quella sul valore scientifico dei procedimenti critici da applicare all’interpretazione e all’emendazione dei testi antichi. Il fuoco della polemica offrì a Hermann l’occasione per maturare alcuni capisaldi del suo pensiero, in un lungo processo che culmina attorno al 1820, quando egli diede alle stampe alcuni lavori nei quali le sue idee sui fini e i metodi della filologia si delineano compiutamente proprio nel serrato confronto con la tradizione filologica inglese, culminando in una lucida lettura critica del metodo di Bentley. Poiché tale lettura risente non poco delle controversie che negli anni precedenti avevano opposto Hermann a Porson ed Elmsley, riserverò alla parte finale del mio intervento la trattazione di questo argomento. Torniamo dunque al punto di partenza, alla fine del Settecento. Dobbiamo innanzitutto chiederci che cosa indusse il ventiseienne Hermann ad attaccare con tanta veemenza un’autorità del calibro di Porson. Non è un caso che il terreno di scontro principale sia stata la metrica, e cioè il settore nel quale Hermann, grazie alla vasta riflessione critico-filosofica che aveva posto in atto nel De metris poetarum Graecorum et Romanorum, riteneva di aver aperto una nuova strada e probabilmente si aspettava più attenzione da parte di Porson. È necessario ricordare che fra i contributi più innovativi della prima Hecuba porsoniana spiccava la confutazione della dottrina che, sulla scia di Efestione, ammetteva la presenza dell’anapesto, sia pure raramente, in tutte le sedi del trimetro giambico, e che Hermann, seguendo Brunck, aveva accolto nel suo trattato. L’impatto della trattazione di Porson fu tale che Elmsley 1811 poté definire “antediluvian” il passo del De metris poetarum Graecorum et Romanorum dedicato all’argomento, paragonando chi ancora ammetteva l’anapesto in tutte le sedi a coloro che “deny the motion of the earth, or the circulation of the blood”.23 Nel commento erano inoltre

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Anche in questo caso faccio riferimento al lucido giudizio di Denys Page (1959, 229–30): “A comparison of Porson with Hermann seems positively unfair. Only thirteen years divide the dates of their births: but Hermann lived forty years beyond Porson, and dominated the great era of classical scholarship, the first half of the nineteenth century, especially in Germany. The stream of Hermann’s learning is so wide and deep, with so many tributaries; within Porson’s chosen fields of Tragedy the contribution of Hermann is equal in quality, enormously greater in quantity”. Elmsley 1811, 65. Elmsley cita alla lettera l’intero paragrafo di Hermann 1796, 150, dove si menzionavano i casi di Soph. OC 371, 1169, Phil. 491, a suo tempo difesi da Brunck, e Aesch. PV 353-54. Alla pagina seguente l’ironia si volge soprattutto contro Brunck, definito “a strenuous defender of anapests which he seems to have regarded with compassion, as innocent and persecuted beings”. Quel sarcasmo fu ritorto contro Elmsley e gli inglesi da J. F. Boissonade, autore di un’edizione di Eschilo non a caso dedicata a Hermann e preceduta da un Editoris monitum che così comincia: “Rem feci hac aetate novam, incredibilem ‘antediluvianam’, timiditatis plenam vel audaciae […], sed aequam tamen atque legitimam. Anapestum, pedem innocentissimum, criticis eruditae factionis

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accennate, in forma molto rapida, alcune norme relative alla collocazione delle fini di parola nel trimetro, come il divieto di far appartenere il terzo e il quarto piede a una sola parola (ad Hec. 728 = 740); e soprattutto, nella nota al v. 343 (= 341), si leggeva la sibillina formulazione “paucissimos apud tragicos graecos versus occurrere similes Ionis initio”, che sottintendeva l’individuazione del celebre ‘canone’ che avrebbe preso il nome del suo scopritore.24 Si trattava indubbiamente di risultati che scavalcavano di slancio le opinioni hermanniane sui metri giambici, ma certo non tali da giustificare una reazione così massiccia.25 Il vero punto di frizione stava più in profondità, e riguardava il processo critico che aveva prodotto quei risultati. Benché nella prima Hecuba affiorasse solo in minima parte il frutto dell’analisi estensiva cui Porson aveva sottoposto i metri dialogici del dramma, infatti, Hermann aveva colto nel suo metodo d’indagine un elemento di radicale conflitto con l’approccio ‘filosofico’ da lui teorizzato, grazie al quale riteneva di aver dato alla metrica dignità di scienza. Porson praticava un approccio fondato sulla sistematica observatio dei fenomeni documentati, a partire dalla quale cercava di individuare delle regulae che potessero descrivere nel modo più comprensivo possibile i fatti osservati. Si trattava di un procedimento induttivo fondato sugli exempla, nel quale la natura vincolante delle tendenze individuate appariva tanto più forte quanto più ridotto risultava il numero delle eccezioni accertabili. Per converso, l’individuazione di quelle tendenze generava un dubbio sistematico nei confronti delle apparenti eccezioni, che proprio per il loro numero ristretto si candidavano alla correzione regolarizzante, soprattutto quando questa apparisse facilmente praticabile.26

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manibus e sedis avitis per vim tractum, jure postliminii restitui, codicibus quidem conspirantibus” (Boissonade 1825, I vii). L’osservazione era stata fatta da Porson per difendere la lezione tràdita μ"

contro la correzione Zμ"

 dell’Aldina. Allo stesso ‘canone’ egli fece un rapido cenno anche due anni dopo, nella nota a Eur. Ph. 1464 (= 1450: Porson 1822 [1799], 81). Anzi, col tempo Hermann avrebbe finito per riconoscere la validità di molte delle osservazioni fatte da Porson. Nello ‘Handbuch der Metrik‘ (1799, 72) il paragrafo sull’anapesto all’interno del trimetro giambico resta nella sostanza identico a quello ‘antediluvian’ del 1796, ma già in Hermann 1800, lxiv si ammette che Porson in molti casi ha ragione. E benché nel 1815 Kidd scrivesse che “it has been hinted that this indefatigable editor had in contemplation a defence of the anapest in the third place” (Porson–Kidd 1815, lxxiii), sia in Hermann 1816, 119–20 sia in Hermann 1818, 53 le restrizioni introdotte da Porson appaiono largamente accolte, con un’apertura a qualche anapesto isolato nei trimetri lirici. Va detto per chiarezza che Porson era cosciente dei limiti del suo procedere, e non intese attribuire, né nella prima edizione dell’Hecuba né nel Supplementum, valore di leggi assolute alle sue osservazioni, ivi compreso il canone relativo al quinto piede. Furono semmai altri dopo di lui ad accentuarne il valore prescrittivo trasformando il ‘Porson’s canon’ in ‘Porson’s law’. Si veda in proposito Schein 1979, 55 che opportunamente ricorda le parole di Porson 1822 (1802), xxxii: “satis ostendi, ut opinor, quod promisi, paucissimos Tragicorum esse versus similes Ionis initio. Sed non ausim dicere nullos esse”.

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Questo metodo di indagine confliggeva inevitabilmente con la matrice kantiana del sistema metrico di Hermann, che dopo il De metris poetarum Graecorum et Romanorum si era ulteriormente definito nelle Observationes de metris Pindari del 1798 e nello ‘Handbuch der Metrik’ del 1799. Anche Hermann, naturalmente, aveva messo in atto su vasta scala l’observatio dei fenomeni attestati nei testi poetici, ma a questa pratica aveva assegnato un significato ben diverso. Egli aveva recepito dal Kant della ‘Kritik der reinen Vernunft’ l’idea che la conoscenza dei dati derivanti dall’esperienza è possibile solo in quanto questi vengono organizzati attraverso le categorie a priori della ragione, e l’aveva applicata allo studio della metrica, elaborando la convinzione che prima di procedere alla valutazione dei dati verificabili empiricamente fosse necessario comprendere la legge generale che governa il ritmo: una legge che non può derivare dall’experientia, bensì dev’essere a priori e perciò universalmente valida e individuabile con l’uso della sola ragione. Solo quando si sia compresa per questa via la natura del numerus, inteso come successione di cause ed effetti nella dimensione del tempo,27 si può procedere all’observatio dell’uso dei poeti, dalla quale non potranno risultare dati che siano in aperta contraddizione con la legge generale. Ove questo si verifichi, il filologo avrà la prova della corruzione del passo o della natura erronea dell’analisi metrica datane fino a quel momento. L’obiettivo che Hermann si era proposto nel De metris era quello di superare i limiti di un approccio soggettivo o solamente intuitivo alla metrica e di combinare, in prospettiva kantiana, intuizione sensibile e procedimenti conoscitivi razionali. Nella sua visione infatti due erano i pilastri su cui si deve fondare la costruzione della metrica come disciplina scientifica: da una parte la dote innata dell’orecchio musicale, capace di cogliere la natura del ritmo e le sue alterazioni, dall’altra la capacità razionale di dimostrare e spiegare sul piano delle cause le impressioni colte per quella via, coinvolgendo categorie a priori che permettano di formulare giudizi validi non soltanto per il soggetto che li formula. Per questa via egli sentiva di essere riuscito a superare i limiti dei suoi predecessori, evitando che il giudizio critico si riducesse alla soggettiva contrapposizione del proprio orecchio a quello di un altro. Le generalizzazioni induttive di Porson gli apparivano dunque prive di valore scientifico: riposando esclusivamente sui dati provenienti dall’experientia, esse non potevano cogliere la vera legge del ritmo, e restavano esposte all’influsso di fattori casuali. Ma lo scontro non si limitava al piano teorico. I due grandi studiosi avevano infatti un obiettivo comune: fare della comprensione dei meccanismi 27

Si vedano soprattutto Hermann 1796, 7–12, dove la legge fondamentale del ritmo è così formulata: “numerus […] forma est successionis caussarum atque effectorum solis temporis dimensionibus determinata”, e Hermann 1799, 1–6, in particolare p. 4: “also ist das Gesetz des Rhythmus die durch Wechselwirkung bestimmte Zeitform der Caussalität”. Per una discussione più articolata dei principi fondanti della metrica hermanniana rimando a Medda 2006, 15–27.

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che presiedevano alla versificazione degli antichi il fondamento di una pratica emendatoria scientificamente fondata. E fu proprio questa affinità d’intenti che rese lo scontro più duro. Hermann non poteva ammettere che si mettesse mano al testo regolarizzandolo sulla base di norme che non avevano una base scientifica certa e si limitavano a descrivere i fenomeni, senza riuscire ad individuarne, più in profondità, le caussae. Prive del sostegno di argomentazioni razionali, le osservazioni di Porson sui presunti ‘errori’ ritmici non potevano che rimanere sul piano del giudizio soggettivo: “quis enim litem dirimat, ubi suas quisque aures cultissimas esse censet? […] ego in eo potissimum elaborandum duco, ut, si quid auribus displiceat, id quare fiat, rationibus atque argumentis ostendatur” (Hermann 1800, 69).28 Il difetto di argomentazione sul piano delle cause è oggetto del severo rimprovero mosso a Porson nella nota a Hec. 341 (Hermann 1800, 108): “Nimirum vere quidem monuit Porsonus, μ"

 numeros habere elegantiores, sed num, quare ita esset, tam difficile erat eruere, si vellet operam dare? Nam consulto se caussam, ut inventu facillimam, praeteriisse, non persuaserit nobis, qui eum in rebus omnibus, quae ad numerorum explicationem pertinent, idoneis rationibus destitui videamus”. Era un duro attacco, che metteva in dubbio la competenza metrica dell’avversario,29 insinuando che egli avesse fatto ricorso ad allusioni oscure e a un tono autoritario per mascherare la mancanza di argomenti. Non di meno, Hermann, la cui solida formazione filologica risaliva, tramite Reiz, proprio alla tradizione inglese, non era del tutto insensibile alla forza degli exempla porsoniani. Così, nel caso di Hec. 341 egli condivide la scelta testuale a favore di μ"

, pur preoccupandosi di declassare la portata teorica del principio che la motiva a semplice criterio orientativo nella scelta delle varianti (Hermann 1800, 112): “caeterum tota haec observatio non habet aliam vim, quam ne, duabus propositis lectionibus, eligamus eam, quae ad numeros deterior est, non ut expellamus propter duriorem numerum lectiones aliis de caussis probas”. Perché quel canone potesse essere considerato una lex sarebbe stato necessario integrare le osservazioni di Porson enunciando correttamente la causa del fenomeno: e proprio questo Hermann si propone di fare nella sua lunga nota al passo, osservando che la legge generale del ritmo vuole che nella parte finale del verso, quando l’energia del respiro si affievolisce, si evitino tutte le durezze ritmiche, e soprattutto la disposizione delle parole che stacca l’ultimo ordo del verso (il cretico finale, per intenderci) dal precedente con una pausa troppo 28

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La medesima convizione ritorna, sedici anni più tardi, negli Elementa doctrinae metricae: “Sensum enim nostrum, et quod in quoque loco aptissimum nobis videatur, si sequi volumus, nemo non videt quam id ambiguum et periculosum sit, quum, si aliis aliud placeat, non habeamus rationes, quibus ad nostram sententiam pertrahamus” (Hermann 1816, ix). La soluzione sta nel “confugere ad naturam numeri”: siamo al cuore della metrica hermanniana. Cf. anche Hermann 1800, xxxv: “Porsonus […] uti criticum acumen insigne, ita artis metricae non eam ostendit peritiam, quae ab Euripidis editore iure expectari poterat”.

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lunga. Ora, se l’ordine mediano del trimetro termina con una fine di parola, questo introduce già di per sé una pausa; se ad essa si aggiungesse anche la presenza di una lunga, la pausa diverrebbe eccessiva, spezzando il ritmo. Il problema non sussiste invece se la lunga cade all’interno di una parola, o se si tratta di un monosillabo.30 Le proccupazioni teoriche di Hermann, che affondavano le loro radici nell’aspetto più debole del suo sistema metrico, e cioè l’arbitrarietà delle premesse filosofiche,31 apparivano del tutto astratte agli occhi dei suoi avversari, che praticavano un solido approccio empirico e non si diedero cura di ribattere, se non con sferzante ironia, all’attacco sul versante della ricerca delle cause.32 Elmsley in particolare sfodera un sarcasmo graffiante (1811, 8182): Should the student be desirous of discovering the reasons which induced the tragic poets to observe the rules respecting the fifth foot of the senarius, which have been discovered and communicated to the world by Mr. Porson, we profess ourselves to be unable to give him better information than that which is delivered by the learned Hermann […]. It is by no mean necessary to have enacted the part of Mercury in the Ion of Euripides, in order to be sensible to the relief which is afforded to the ‘exhausted lungs’ of a corpulent performer by that variation of the verse in question which we have already proposed, €* , (  6

:  \.33

La linea che Porson ed Elmsley scelsero per rispondere all’attacco hermanniano fu quella di riproporre, su scala sempre più vasta e con maggior dettaglio, i risultati delle loro observationes, formulando ulteriori e più 30 31

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Hermann 1800, 109–10. I limiti della metrica hermanniana furono lucidamente colti da Boeckh e da altri contemporanei, e le severe critiche ricevute indussero Hermann ad attenuare i riferimenti diretti alla filosofia di Kant negli Elementa doctrinae metricae e nell’Epitome doctrinae metricae, pur senza modificare l’impianto generale: cf. Medda 2006, 56–61. Wilamowitz 1927, 49 esprime un giudizio severo: “auch in seiner Metrik ist das Lehrgebäude ganz abstrakt logisch aufgebaut und schon darum unhaltbar”, mentre in Wilamowitz 1921, 81–82 la critica all’impianto filosofico si mescola al riconoscimento dell’impronta indelebile impressa da Hermann sugli studi metrici: “unter seinem Einflusse wird die Metrik, nicht bloß die griechische, immer stehen, auch wenn niemand mehr nach seinen Büchern greifen wird”. A questo proposito sarebbe interessante indagare – ma questo travalica l’ambito di questo studio – se e in che misura Porson e Elmsley (che non danno spazio nei loro lavori a considerazioni di natura filosofica) recepissero sul piano epistemologico la critica al concetto di causa formulata attorno alla metà del Settecento da David Hume in ‘An Enquiry Concerning Human Understanding’ (1748), e più in generale quale tipo di relazione si possa individuare fra i procedimenti critici dei filologi inglesi dell’epoca e il pensiero dei British Empiricists a partire almeno da ‘An Essay Concerning Human Understanding’ di John Locke (1690). Elmsley richiama anche con ironia l’uso comico del μ \, una lunga sequenza pronunciata D"o (cf. Heph. Poëm. p. 73, 2 Consbr.), che secondo le idee di Hermann avrebbe spossato i polmoni dei malcapitati esecutori.

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articolati canoni ritmici34 e assumendo nei confronti delle anomalie l’atteggiamento pragmatico ben sintetizzato da questa osservazione di Porson a proposito delle eccezioni al canone del 3° e 4° piede (1822 [1802], xxviii): “tam rarae sunt, et tam sanatu faciles, ut putarem, neminem semel monitum, qui quidem aures haberet, non sponte emendaturum”. Sarebbe un errore però far leva sull’eccesso di astrattezza filosofica per liquidare troppo rapidamente le ragioni di Hermann. Il procedimento critico porsoniano, che portava a modificare per congettura un qualunque verso ritmicamente anomalo sulla base di un meccanico criterio esterno di ‘regolarità’, gli appariva viziato da un grave difetto di sensibilità nei confronti del valore poetico dei singoli passi. Grazie al suo approfondito studio giovanile della ‘Kritik der Urteilskraft’, Hermann aveva sviluppato una grande attenzione per il concetto di ‘idea poetica’,35 ed era convinto che solo riuscendo ad enucleare il fine poetico che l’autore persegue in ogni singolo caso si possa comprendere se un fenomeno che appare anomalo lo è veramente oppure trova la sua spiegazione in una dimensione che va al di là delle norme della lingua e del metro. Un nitido esempio del suo approccio è offerto dalla discussione sugli anapesti. Là dove Porson si preoccupa di liberare per quanto possibile i versi da quel ritmo irregolare, Hermann è interessato a capire quando e perché l’anapesto può essere tollerato. Egli non si accontenta dunque dell’osservazione di Porson che l’anapesto è ammesso con i nomi propri, perché, se questo accade, vuol dire che quel ritmo è ammissibile in linea generale, indipendentemente dal tipo di parola. Quel che bisogna capire è quale lex ne regola la presenza, e questa è la risposta: i poeti non ammettono l’anapesto “nisi magna quadam necessitate cogente”. Compito del critico è spiegare quale sia questa necessitas: Hermann la individua nel fatto che l’anapesto compare quando il poeta fa ricorso a parole che non può fare a meno di usare. Ora, queste parole non sono soltanto i nomi propri, ovviamente in-

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Il Supplementum prese di fatto il posto della trattazione dei metri tragici promessa alla fine della prefazione alla prima edizione (cf. Porson 1822 [1802], xiv). Porson si mantenne nel campo dei metri giambici, trocaici e anapestici, sviluppando una trattazione sistematica del canone che porta il suo nome e delle sue eccezioni e proponendo un’approfondita analisi delle cesure del trimetro. Il Supplementum definisce inoltre compiutamente le differenze fra il trattamento tragico e quello comico dei vari metri. A Elmsley 1811 e 1813 a si deve un considerevole arricchimento della casistica delle presunte violazioni del canone di Porson, molte delle quali vengono eliminate per correzione, e la precisazione delle osservazioni relative alla presenza dell’elisione o delle pospositive in unione alla cesura mediana. Elmsley analizza inoltre in dettaglio la questione dei piedi trisillabici nel tetrametro giambico dei comici, proseguendo l’attacco a Hermann già portato su questo terreno da Porson 1822 (1802), xliii (cf. Elmsley 1813 a, 418 n. 1). Di questo ho discusso in Medda 2006, 113–17. Del profondo influsso della filosofia di Kant sulle idee estetiche di Hermann e sulla sua concezione della filologia come scienza ha dato un ampio quadro nel corso del convegno la bella relazione del collega Michael Schramm, cui rimando per ulteriori approfondimenti.

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sostituibili, ma anche ogni altro verbum “quod a vi et virtute poetica eam habet commendationem, ut is ineptus fuerit poeta, qui numerorum elegantiam pluris, quam sententiae gravitatem, aestimaverit” (Hermann 1800, li). Nulla, neppure l’eleganza del ritmo, è più importante del valore poetico che una certa parola assume nel suo contesto, unico e irripetibile. Questo è il punto su cui Hermann si sente più lontano da Porson e dalla sua observatio troppo asettica. E poiché è la virtus poetica che dà a una certa parola il diritto di cittadinanza nel verso, di questo si deve tener conto quando si intende formulare una lex: “non quaero nunc, an huiusmodi exempla occurrant. Satis est, posse occurrere. Nam in stabiliendis legibus unice, quid possit fieri, spectandum est: quod qui improbant, quia factum non viderint, nihil usquam certi reperient” (Hermann 1800, li). Le leggi devono anche saper prevedere ciò che potrebbe essere avvenuto ma non è documentato: in altri termini, il filologo deve saper pensare come il poeta. Trent’anni e molte riflessioni più tardi, Hermann formulerà compiutamente questa idea nella prefazione alla seconda edizione dell’Hecuba (1831 a, xii): “non opus est quidem, mea sententia, ut ipse sit poeta, qui veteres poetas interpretari aggrediatur, sed illud tamen opus est, ut imaginem aliquam poetae animo suo informare et quomodo quis carmina condat cogitatione sciat comprehendere”. Come si vede, il fuoco della polemica con Porson verte sulla necessità di comprendere e rispettare la libertà creativa del poeta di genio, che, come Hermann aveva imparato dalla ‘Kritik der Urteilskraft’, sta al di sopra delle regole, anzi “detta le regole all’arte”. Questa esigenza si traduce in una valutazione diametralmente opposta, rispetto a quella data dagli inglesi, del rapporto fra le regole e le cosiddette ‘eccezioni’. Hermann legge infatti i fenomeni apparentemente anomali come una risposta a particolari necessità poetiche: e se l’interprete è in grado di comprenderle, lo scarto dalla normalità, invece di minare la validità della regula, permetterà di capirne i limiti e assumerà il valore di una conferma della regola stessa. Si fissa così un caposaldo della sua filologia, nel quale egli trent’anni dopo individuerà il tratto distintivo più importante dell’approccio ‘tedesco’ ai poeti rispetto a quello ‘induttivo’ degli inglesi (Hermann 1831 b, 233 = Opuscula VI 1, 92): “Nur die Einsicht in den Grund einer Regel giebt zugleich die Bestimmung der Grenzen derselben, wodurch die anscheinenden Ausnahmen sich wieder als Bestätigung der Regel, und nicht minder, denn die Regel selbst, als gesetzmässig zeigen”. A questa fondamentale convinzione si ispira la valutazione che ancora una volta egli esprime in quello scritto su Porson, individuando il limite principale dei suoi scritti nel fatto che “vermisst wird […] eine aus lebendiger Auffassung des Poetischen hervorgegangene Kritik, indem alles mehr von grossem Fleiss und kalter Prüfung zeugt” (ibid. 236 = 95).36

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Il disagio di Hermann verso questo aspetto della critica porsoniana fu condiviso anche da alcuni filologi inglesi: F. A. Paley, ad esempio, parlava dei commenti di Porson come “a somewhat dull and dry kind of annotation, useless to the mere beginner, often

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La necessità di rispettare la libertà creativa si spinge per Hermann fino a contemplare la possibilità che il poeta stesso compia qualche negligenza ritmica, rispetto alla quale l’interprete non deve erigersi a censore. Ad esempio, nel trimetro lirico di Aesch. Pe. 1038 o  o  "μ c " \μ ’ + una diversa collocazione delle parole avrebbe permesso di evitare l’anapesto in seconda sede. Ma l’interprete attento, osserva Hermann, vedrà che l’ordo verborum prescelto era assolutamente necessario per ragioni poetiche, perché le parole devono infatti essere atte “ad animum commovendum”, e cambiandone l’ordine si perderebbe ogni “vis et robur orationis”. Il doppio o  esprime adeguatamente il dolore di Serse ed è adatto alla natura dei barbari, i cui modi espressivi Eschilo trasferisce splendidamente nella lingua greca. Hermann coglie inoltre il parallelismo formale con il v. 1045 che si apre con l’anadiplosi ’   1 : ?’ μ 6m. Il testo di 1038 non può dunque essere toccato senza danno per il senso poetico.37 Anche l’editore moderno che accolga, credo giustamente, la scansione bisillabica del secondo ɁɜȽɇɋɂ, che Hermann rifiutava, dovrà comunque far tesoro della finezza di queste osservazioni. La grande sensibilità per i valori della dizione poetica è alla base dell’ulteriore polemica che Hermann conduce contro il suggerimento porsoniano di rimediare alle corruzioni tramite la modalità di intervento che gli pareva più semplice e sicura, e cioè la transpositio verborum.38 Hermann reagì con forza all’idea che si potesse alterare con tale confidenza un aspetto da cui dipende tanta parte della qualità poetica di un testo. Dopo un accenno nell’Hecuba, egli tornò a manifestare il suo dissenso nella prefazione all’Hercules furens (1810)39 e in alcune note all’Aiace (1817) e all’Elettra di Sofocle (1819), per approdare infine a una monografia sulla questione (De emendationibus per

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tiresome even to the advanced students, and fitted only for professed critics” (cito da Dawe 1990, 386–87). Cf. Hermann 1800, lxvii–lxix. Il verso non era stato per altro toccato da Porson nell’Editio glasguensis del 1795 e non lo fu neppure in (Porson) 1806. In Hermann 1852, II 261 il testo tràdito è ancora difeso, ma con un’interpretazione ritmica diversa e meno felice. Hermann sostiene infatti che sia il v. 1038 sia il v. 1045 erano pronunciati divisim, così da isolare il primo o  e il primo (). “Tutissima proinde corrigendi ratio est, vocularum, si opus est, transpositio” aveva scritto Porson 1822 (1797), xi, e poco prima, a proposito dell’anapesto in terza sede di Soph. Ai. 524: “cogitandum est an commoda transpositione metro succurri queat” (Porson 1822 [1797], viii, con proposta di tre diverse trasposizioni). Egli partiva dalla considerazione che la dislocazione di parole è frequente nei manoscritti, e che spesso la numerazione con cui gli scribi cercavano di rimediare all’errore veniva ignorata da chi copiava, perpetuando l’ordine erroneo. In seguito, attaccato da più parti, Porson cercò di ridimensionare la portata della sua affermazione, di cui molti avevano abusato: “When I said that trasposition was a very safe remedy, I did not mean that people might transpose as they liked” (Porson 1814 [1803], 334, citato in Porson–Kidd 1815, 191). “Nam, mea quidem sententia, ordo verborum non nisi magna cum cautione mutandus est, neque quidquam puto a Porsono periculosius dici potuisse, quam hanc esse emendationis rationem omnium facillimam” (Hermann 1810 b, viii–ix).

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transpositionem verborum, 1824). Discutendo de transponendi ratione, Hermann ragiona come sempre in termini di ricerca delle cause, anche se in questo caso la ricerca si volge a una direzione nuova, quella dello studio dei manoscritti, cui in quel periodo cominciava a dedicare attenzione.40 Emendare per trasposizione è cosa che non si può fare alla leggera, ma solo dopo aver compreso, sulla base dello studio dei codici, per quali cause e secondo quali tipologie le dislocazioni possono aver luogo (Hermann 1824, 4 = Opuscula III 99): “Non enim casu verba per chartas a scribentibus disperguntur, sed collocantur ordine quodam: qui sicubi pervertitur, esse aliquid necesse est, cur qui scribit a praescripto ordine discedat”. Avendone trattato altrove,41 non mi soffermerò ulteriormente su questo scritto, se non per ricordare la vigorosa confutazione della trasposizione di Porson in Aesch. Pe. 501,42 

" , "\   " (“hoc non est emendare, sed ipsum versum facere”: Hermann p. 9 = 105), e la formulazione con cui Hermann conclude le sue considerazioni, forse consumando una piccola vendetta a distanza sul sarcastico paragone medico fatto ventitré anni prima da Porson nella nota a Med. 675: “Nam ut in medicorum arte illud tantum, quod cuique morbo accommodatum est remedium, optimum habetur atque tutissimum, ita in arte critica qui transpositione pro panacea utetur, quid aliud quam medico similis erit, qui cuivis aegroto artus luxatos esse suspicans, dum reponere laboret, evellat potius ac distendat, morboque veteri superaddat novum?” (Hermann p. 15 = 110). Un’altra insidia che Hermann individuava nell’approccio porsoniano alla metrica era il rischio di dar valore di legge a fenomeni dipendenti dal caso: tali gli appaiono, ad esempio, la tendenza ad evitare che terzo e quarto piede appartengano a uno stesso vocabolo e il canone relativo alla cesura mediana accompagnata da elisione o da pospositiva. Nella nota a Hec. 725 (= 721) Porson, oltre a correggere R s& in s& all’inizio del verso, aveva suggerito lo stesso emendamento per ovviare a quel problema in Andr. 397 D, o  ’ R sμ e in Neophron TrGF 15 F 2, 5  1 " o  ’ R sμ  =6 μY; (  sμ  bis Porson). Hermann accetta la correzione in Hec. 721, ma rifiuta l’applicazione del principio negli altri due passi, che a suo giudizio non hanno nulla di criticabile, se non la mancanza di una cesura usuale. Il fatto che i tragici non compongano trimetri con terzo e quarto piede appartenenti alla stessa parola può infatti essere semplicemente dovuto al caso, visto che il fenomeno è impossibile nella stragrande maggioranza dei trimetri, che hanno la cesura semiquinaria o semisettenaria; inoltre, tra quelli che non hanno né l’una né l’altra, vanno esclusi i versi in cui un vocabolo che comincia nel secondo piede si prolunga oltre la prima parte del terzo. Nei 40

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Sull’acquisizione da parte di Hermann di conoscenze riguardo alla tradizione manoscritta di Eschilo rimando a quanto ho osservato in Medda 2006, 103–04. Medda 2006, 104–06. Cf. Porson 1822 (1802), xxviii–xxix.

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pochi versi che rimangono, osserva Hermann, quanti possono essere quelli in cui il senso richieda una parola abbastanza lunga da contenere entrambi i piedi 3 e 4, oppure la cui sintassi sia tale da richiedere che quella parola vada posta proprio lì e non, ad esempio, alla fine del verso?43 La discussione del risvolto statistico delle regulae coinvolse tuttavia, più che Porson, Elmsley, che nella recensione alle Supplici operò un’apertura nei confronti delle preoccupazioni hermanniane, affermando che quando ci si propone di formulare un canone, si deve tener conto non solo delle percentuali, ma anche del numero assoluto delle eccezioni. Se si tratta di un caso irregolare contro cento, lo si potrà normalizzare con fiducia; ma se i casi sono dieci contro mille, a parità di percentuale si dovrà procedere con molta più cautela, valutandoli singolarmente. Nonostante questo, Elmsley in quello stesso scritto ritenne di poter confermare, attraverso una vasta gamma di esempi, il canone individuato da Porson circa la cesura al terzo piede (ammettendo che Eschilo e Sofocle non lo rispettavano rigorosamente come Euripide).44 Analoga riconferma egli aveva espresso due anni prima per la regola del terzo e quarto piede (Elmsley 1811, 73-74): “When we consider how frequently the first and second, the second and third, the fourth and fifth, and the fifth and sixth feet of the senarius are included in the same word, we cannot agree with the learned Hermann in attributing to chance the non-occurrence, or at least the extreme rarity, of verses which exhibit the two middle feet similarly conjoined”. Hermann gli rispose negli Elementa doctrinae metricae, tenendo il punto (1816, 118): “Nempe tota ista observatio talis est, ut, qui sic omnes tragicorum versus per singulos pedes examinare volet, multa possit huiusmodi, quae casu facta sunt, pro regulis vendere”.45 A suo giudizio, il fatto che Eschilo e Sofocle non rispettassero il presunto canone ne decretava di fatto l’inesistenza, non essendo credibile che i due poeti fossero meno diligenti di Euripide, notoriamente il meno accurato dei tragici nella versificazione. I critici inglesi, prosegue Hermann in quello stesso passo degli Elementa, si affaticano nella ricerca di regole minute “opera maiore quam

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Hermann 1800, 140–42. Hermann ritiene di poter indicare un caso in cui il fenomeno che Porson giudica illecito è attestato, Aesch. Ag. 1252, che cita adottando all’inizio la correzione di Heath: ‚ m’ C  " \" 6μ3 μ3. L’esempio non è ben scelto: la variante dei codici G e F s. l. ɎȽɏɂɐɈɟɎɄɑ indirizzò poi Hartung alla giusta soluzione ɎȽɏɂɈɟɎɄɑ. Cf. Elmsley 1813 b, 428–32. Elmsley avanza qui l’ipotesi che molti dativi plurali in -  / - coincidenti con questa cesura debbano essere intesi come dativi lunghi in -  / - elisi. Sull’argomento si vedano le osservazioni di Basta Donzelli 1987, 139–42. A testimonianza dell’influsso di lungo termine delle riflessioni di Hermann, si possono ricordare le parole con cui Sebastiano Timpanaro, in una lettera a M. P. Pattoni, esprime riserve analoghe rimproverando alla filologia inglese del Novecento “la ricerca di leggi prosodico-metriche spesso inesistenti, o esistenti solo come tendenze che non escludono le eccezioni” (la lettera è pubblicata su ‘Il Ponte’ 57, 2001, 383–84).

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fructu”: meglio farebbero a rivolgere l’attenzione critica al vero criterio cui i poeti ispiravano il loro comporre, e cioè quel sensus “quem nos si indagare volumus, non eum profecto ex litteris et syllabis colligere poterimus, sed potius, ex fonte suo, orationis sententiaeque natura, haustus, deinde in his minutiis ultro se nobis offeret”. Nel condurre la polemica, Elmsley non fu tenero con i punti deboli di Hermann. Nella recensione all’Hercules furens il trattato metrico del 1796 è bollato con questo durissimo giudizio (Elmsley 1813 a, 199): “a book of which too much ill cannot easily be said and which contains a smaller quantity of useful and solid information, in proportion to its bulk, than any elementary treatise, on any subject, that we remember to have seen”. Tuttavia, il suo giudizio globale si dimostra equilibrato e aperto a cogliere i lati positivi del lavoro di uno studioso che si era da tempo imposto come il più grande grecista del continente e al quale i filologi inglesi, secondo Elmsley poco propensi a riconoscere i meriti degli stranieri e ancora risentiti per l’attacco a Porson, non avevano riservato l’attenzione che avrebbe meritato. Nella recensione, Elmsley censura lo stile “too concise and jejune” del commento all’Eracle e la tendenza a esprimersi in modo oracolare, senza spiegare adeguatamente quale sia l’interpretazione dei passi; esprime invece approvazione per l’approccio moderato al testo che Hermann mostra nelle parti dialogate, difendendo spesso il testo tràdito dove altri emendano. La critica si fa durissima quando il recensore passa al trattamento delle parti liriche antistrofiche, alla cui corretta restituzione Hermann aveva dedicato ampia parte della prefazione (Elmsley 1813 a, 201): “his tenderness toward the received text instantaneously deserts him, when he hears the sound of the lyre, or sees the chorus preparing to cut capers in the orchestra”. Elmsley ironizza pesantemente sulle manie antistrofiche dei circoli dell’Alta e Bassa Sassonia che avevano messo al bando la parola ‘monostrofico’ dalla scena attica, e propone un’urticante parodia delle analisi hermanniane, affermando che con un po’ di buona volontà, a forza di congetture, espunzioni e individuazioni di proodi, mesodi ed epodi, si può ricostruire uno schema antistrofico anche in un brano di Platone o Demostene.46 L’attacco di Elmsley all’artificiosità del trattamento delle parti antistrofiche costituiva un tentativo di ribattere in qualche modo alla seconda e più solida linea di attacco che Hermann aveva seguito nell’Hecuba, che evidenziava la debolezza del trattamento riservato da Porson alle parti liriche. Hermann tra il 1796 e il 1799 aveva raggiunto risultati notevoli nell’individuazione dei criteri che indicano la fine di verso,47 e aveva pertanto buone 46

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Ricordando quella pagina, Burton 1827, 290 osserva che “it is impossible to read [that] pungent and galling sarcasm […] without seeing at once that Hermann must have felt extremely sore”. Di questo ho trattato diffusamente in Medda 2006, 23–27. Colgo qui l’occasione per correggere una svista sfuggitami a p. 34 di quello scritto a proposito dell’interpretazione metrica di Aesch. Ag. 114–15 ~ 131–33 data da Hermann 1796, 266–67. Nei due cola in

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ragioni per sentirsi superiore in questo al rivale, “vir doctissimus, sed rei metricae non ultra notissima metra peritus” (Hermann 1816, 701). Ai suoi occhi Porson aveva tenuto un atteggiamento rinunciatario nei confronti delle sezioni liriche, e i criteri che aveva seguito (cf. Porson 1822 [1797], x: “ut quodque carmen ad nota et lyricis poëtis usitata […] versuum genera redigeretur” e “ut eadem aut similis versuum species quam saepissime recurreret”) apparivano del tutto inadeguati. La ricerca di metra usitata, infatti, per quanto ben intenzionata, secondo Hermann non poteva che portare a peggiorare i testi, perché assumeva come base le limitate conoscenze che si avevano in materia, senza tener conto che la maggior parte dei versi lirici erano ancora di fatto sconosciuti proprio a causa dell’ignoranza delle leggi che regolano la fine di verso. Quanto all’individuazione di metri omogenei, essa non poteva essere assunta come criterio di analisi, ma solo eventualmente essere accettata se risultante dall’individuazione corretta delle fini di verso (Hermann 1800, lxx–lxxi).48 Benché la critica alle ricostruzioni hermanniane fosse più che giustificata, dunque, le armi dei filologi inglesi in questo settore non erano affilate come nel campo dei versi recitati,49 e agli argomenti di Hermann sul piano dei princìpi generali essi non poterono ribattere in modo efficace. Ancora una volta, infatti il lipsiense poneva l’esigenza di andare più a fondo: capire cioè le leges della responsione strofica, che, per quanto particolarmente complesse nel caso di Euripide, dovevano assolutamente essere individuate per poter dare edizioni accettabili dei suoi canti (Hermann 1810 b, xxiv): “Multum enim praestat, etiam magni laboris exiguum fructum reportare, quam non explorato fundamento superstruere, quae levi impulsu ruitura praevideas”. La questione che Hermann sollevava era sensata, ma all’atto pratico egli non seppe tradurla in scelte editoriali corrispondenti ai princìpi di saggia prudenza cui si ispiravano le formulazioni teoriche. I suoi eccessi in questo campo sono noti, e non c’è bisogno di rievocarli in questa sede. Qui interessa piuttosto mettere in luce alcune pagine che mostrano come, al di là delle forzature nelle singole ricostruzioni, la riflessione sul rapporto fra l’individuazione di regulae e il rispetto della libertà creativa degli antichi fosse ormai saldamente al centro della sua concezione della filologia.50 Particolarmente

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responsione %3 $ -( s) ~ O μY  C-( ) è ovvio che Hermann non considera lunga la seconda sillaba di $  s, come scrivevo, ma breve la prima sillaba di C . Anni dopo, negli Elementa doctrinae metricae, Hermann se la prende con gli imitatori di Porson, che hanno applicato con zelo eccessivo i criteri indicati dal maestro (1816, 704): “Nam etsi bona Porsoni admonitio, curandum esse, ut eadem metri species quam saepissime recurrat, tamen neque ipse Porsonus satis caute ea usus est, et imitatores eius, ut solent, qui toti ex alieno ore pendent, multo gravius in hoc genere peccarunt”. Cf. Wilamowitz 1921, 80, a proposito di Porson: “den Chören stand er noch hilflos gegenüber”. Nello scritto De usu antistrophicorum, del 1810, egli si era già posto il problema della possibilità di esagerare, in un senso o nell’altro: “aliter enim verendum foret, ne criticorum quo quis circumspectior ac timidior est, antistrophica, saepissime librariorum

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rilevante è un brano degli Elementa doctrinae metricae in cui il progresso stesso della filologia viene identificato con la capacità di liberarsi dalla tirannia delle regole che pure, in una prima fase, è stato necessario ricercare e comprendere (Hermann 1816, 740–41): Philologiae, ut omnium artium ac doctrinarum, hic semper et fuit cursus, et erit, ut in quaque parte primo nullae sint regulae, deinde omnia plena fiant regularum, postremo etiam de exceptionibus cogitetur. Initia enim scientiae rudi materia constant, cuius naturam dum cognoscere studet mens humana, comparandis similibus, secernendis dissimilibus regulas condit, quibus varietatem illam materiae regat atque in partes quasdam describat. In qua re non mirum est, modum solere excedi. Nam successu alacriores facti, nihil esse putamus, quod non possit ad regulam conformari, usque dum exceptionum vel multitudine vel firmitate moniti, fontibus regularum investigandis eo pervenimus, ut, quousque vis earum et usus pertineat, intelligamus. Hic igitur cursus quum ab ipsa natura praefinitus sit, non est, quod quemquam poeniteat, nimium aliquando tribuisse regulis, modo se postea liberaverit ab isto servitio.

Si nota in questa fase un accentuarsi dell’attenzione riservata da Hermann al sensus, inteso sia come il gusto che guidava gli antichi nel comporre, sia come la sensibilità che permette al critico di cogliere e restituire al lettore quell’aspetto essenziale della creazione poetica (ibid. 48): Nostrum est quidem, quum artem quandam doctrinamque harum rerum condimus, ubique regulas et leges circumspicere: sed qui obliviscuntur, totum hoc genus in eo versari, quod placeat ipsumque se auribus commendet, non animadvertunt, dum morosas regulas excogitant, plus se scire velle, quam ipsi poëtae sciebant, risuri profecto, si viderent, quam obscura eos et inutili diligentia usos putamus, dum nihil nisi sensum suum sequebantur, aliquando etiam aliquid, quod non satis placeret, sibi indulgentes.

Il confronto più importante con Elmsley, tuttavia, non avvenne sul terreno della metrica, che questi aveva coltivato prevalentemente sulla scia di Porson. Elmsley era interessato soprattutto allo studio della lingua e della grammatica, e mirava alla ricostruzione dei tratti peculiari del dialetto attico aberrationibus obscurata, restituere propter Aristotelis testimonium formidaturus esset; quo quis autem animosior atque audacior, frequentem usum antistrophicorum praetexens, ideoque constare sibi tragicos debere opinatus, etiam haec, quae non sunt antistrophica, violentius in responsionis proportionem coacturus” (Hermann 1810 a, iv–v). Il passo prosegue con un esempio: “Et in hanc equidem partem nunc a quibusdam peccari videmus: in alteram magis antehac peccabatur, et saepe a praestantissimis criticis, ut ab novissimo editore Euripidis, R. Porson, qui cum aliis in locis aperta non vidit antistrophica, tum in Or. 1347–1359 (= 1353–1365) quibus respondent 1551–1564 (1537–1548) et in Phoenissis ubi quum parum caute v. 682. 683 (= 672–673) ordinem verborum mutaverit, si id paullo post faciendum advertisset, manifesta deprehendisset antistrophica”. Il match con Porson, nella circostanza, è pari: Hermann aveva ragione sull’Oreste, ma sbagliava sulle Fenicie, dove la responsione è restaurata a colpi di integrazioni ed espunzioni (così sarà ancora in Hermann 1840, n. ad v. 676).

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(D  lo definì Burton 1827, 282). Tale linea di ricerca si manifestò nelle sue edizioni dei tragici, e in particolare nella Medea (1818), nella cui prefazione egli prese anche con delicatezza le distanze dall’approccio porsoniano al testo. Là dove Porson aveva dedicato le sue energie soprattutto all’emendatio, lasciando in ombra l’interpretatio, egli sceglieva invece di concentrarsi sulla sententiarum explicatio, dichiarando inoltre che avrebbe colto tutte le occasioni offerte dal testo “ut […] alia vel ejus vel aliorum loca emendare aut explicare conarer, regulas grammaticas novas proponerem, aut antiquas confirmarem” (Elmsley 1818, 3-4). Hermann riconobbe l’alta qualità di quell’edizione, cui dedicò una lunga recensione pubblicata a più riprese sul Classical Journal tra il giugno 1819 e il dicembre 1820. Del suo giudizio globalmente positivo su Elmsley si è già detto in precedenza, per cui focalizzo qui l’attenzione solo sui punti di dissenso. Le riserve di Hermann riguardano la tendenza a includere nelle note di commento troppo materiale superfluo (ed è notevole che Hermann prenda qui polemicamente come termine di confronto la concisione di Porson, “qui quum plurima dare posset, tamen ea tantum, quae ad rem pertinerent, afferenda iudicavit: unde quis est, qui eius adnotationes non maxima cum voluptate legat?”: Hermann 1819-1820, 269 = Opuscula III 145) e a spiegare anche fenomeni ben noti, ancora con riferimento per contrasto a Porson (ibid. 289 = 170: “quem nos quidem saepe, etiam ubi tacet, aliquid dicere animadvertimus. Magna enim ars est,  V ’ Q" 5,  1 :  ,  o ”).51 Il cuore del confronto, tuttavia, è rappresentato ancora una volta dal concetto di regula grammaticale e dalla riflessione sui requisiti necessari perché essa abbia validità scientifica, così da giustificare eventuali emendamenti compiuti in suo nome (ibid. 269 = 145–46): rationem illam, qua in inveniendis et constituendis regulis grammaticis uti consuevit [scil. Elmsley], nullo pacto probamus, immo, ut libere profiteamur, tanto censemus damnosiorem et perniciosiorem esse, quod iam esse quosdam videmus, qui quod non ita pridem in Porsono faciebant, ut, quidquid is dixisset, ipsa veritate verius haberent, id nunc idem in Elmsleio facere incipiant.52 Leges habere 51

52

Secondo Burton 1827, 290 Hermann operava così una ritorsione contro l’accusa elmsleyana di essere stato troppo “concise and jejune” nel commento all’Hercules furens. Questa affermazione fu interpretata in malam partem da Gaisford in una lettera a Elmsley del 9 settembre 1819 (cito da Horsfall 1974, 455 n. 23): “Hermann seems determined that no man shall make or discover a canon but himself. To this I attribute his wrath against Porson, who being now dead and gone & no longer in said Hermann’s way, is no longer thought worthy of censure: he now fears lest your critical observations should attract too strongly the notice of students in the German universities”. Più equilibrata la lettura datane da Burton 1827, 289: “Professor Herman (sic) has alarmed himself with thinking that the English nation was proceeding to pay the same homage to Elmsley which it had paid to Porson, and to receive his dicta as law with an oboedience equally servile”. Secondo Burton, Hermann era ancora sotto l’influsso del risentimento accumulato a seguito dei pesanti sarcasmi di Porson nei suoi confronti, in parte rinnovati da Elmsley.

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Graecam linguam quis negabit? At non minus certum est, nullam esse linguam, quae liberior sit et maiorem in formandis vel ipsis verbis vel eorum constructionibus varietatem admittat. Quo maior iis, qui hanc tam infinitam copiam explicare student, cautio adhibenda est, ne regulas confingant, quas mox appareat non satis certo fundamento niti.

Elmsley è criticato per aver seguito il metodo degli antichi grammatici atticisti, che stabilivano sulla base di un esiguo numero di esempi norme che una più attenta indagine rivela false, o vere solo in particolari condizioni. L’errore è quello di non aver riflettuto a sufficienza su “quid sit illud, quod regulam dicimus: quae non est fortuita aliquot exemplorum consensio, sed necessaria parilitas”. La regolarità con cui appare un fenomeno, per poter assumere valore di norma, non solo deve essere costante, ma deve anche corrispondere a una necessitas. E necessario è solo ciò “quod habet certam rationem, quare sic sit, ut est, neque aliter” (ibid. 270 = 146). Anche in questo caso Hermann riversa nella discussione con Elmsley alcune riflessioni elaborate qualche anno prima, nella dissertazione del 1810 De praeceptis quibusdam atticistarum, all’inizio della quale scriveva (Hermann 1810 c, 3 = Opuscula I 269): Linguarum cognitio, quae pars est historiae, duos, ut omnino historia, fontes habet: unum, qui monumentorum testiumque auctoritate continetur; alterum, qui in ratione est atque intelligentia positus. Nam etsi, quid usitatum sit, quid non sit usitatum, non potest aliunde, quam ex monumentis ac testibus cognosci: tamen, quoniam et monumenta saepenumero corrupta sunt, et testes, grammaticos dico, sic demum aliquid probant, si probabilia dicunt, praecipua quaedam cura in eo ponenda est, ut ex cuiusque rei ratione cognoscatur, genuina an depravata sit scriptura, grammaticique recte an secus praecipiant.

La dissertazione invitava a maneggiare con prudenza le notizie fornite dagli atticisti, perché essi proponevano come norma i fenomeni che trovavano meglio attestati, a scapito degli usi più rari, che invitavano ad evitare in quanto negligentius scripta. Le conseguenze negative di quel criterio sono evidenti, in quanto esso non permette di apprezzare correttamente le rarità che possono essere giustificate dalla ricerca di un senso particolare. Le norme di cui parlano gli atticisti dovranno dunque essere considerate valide solo quando si possa individuare la ratio che le informa.53 La discussione nel campo della grammatica lasciava a Hermann margini di libertà più ampi rispetto alla metrica, perché, pur avendo preso le mosse anche in questo campo dalla convinzione che la lingua dovesse essere studiata a partire da un approccio filosofico che ne individuasse i principi a priori, già nel giovanile trattato De emendanda ratione graecae grammaticae egli aveva riconosciuto che solo alcune parti della grammatica sono dominio della ragione, mentre altre possono essere comprese solo sulla base degli exempla

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Cf. Hermann 1810 c, 3–4 = Opuscula I 270.

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(Hermann 1801, viii: “sed pro diversa partium grammaticae natura diversa est artis ac disciplinae ratio. Alia enim fontem habent rationem humanam, adiutricem autem experientiam, in aliis contra fons est experientia, ratio autem adiutrix”). In quel libro Hermann aveva anche intravisto, meglio che per la metrica, il pericolo insito nell’applicazione troppo meccanica delle categorie kantiane allo studio della lingua.54 Questo approccio più aperto alla valorizzazione dell’experientia si traduce in un’accresciuta attenzione per l’anomalia, sentita come manifestazione della libertà creativa che la lingua greca garantiva ai parlanti e – a maggior ragione – ai poeti. Certo, per Hermann anche il sistema linguistico è retto da leges, di cui il grammatico deve indagare la ratio quando essa risulti comprensibile sulla base dei significati delle parole e della loro disposizione. Questo significa verificare accuratamente tutti gli esempi nel loro specifico contesto, cercando di capire se vi sia una necessitas che spieghi perché una certa espressione poteva o non poteva essere usata; e se di questa necessitas non si riesce a dar conto, nulla può autorizzare l’interprete a correggere un’anomalia anche del tutto isolata (Hermann 1819-1820, 270 = Opuscula III 147): “Hoc enim nisi quis doceat, ne centena quidem exempla unum, quod illis repugnet, convellere poterunt”. Elmsley dunque è criticato per aver ceduto alle sirene della regolarizzazione analogica, e molte note della recensione sono dedicate alla difesa del testo tràdito contro emendamenti non necessari: un sano conservatorismo nel quale Hermann identifica la manifestazione della piena maturità filologica di ogni studioso.55 Pochi esempi basteranno a dare un’idea dell’approccio hermanniano. Nella nota a Eur. Med. 85 (86 delle edizioni moderne), splendida nella sua brevità, è difeso l’uso dell’espressione  ": al singolare, e si rimprovera a Elmsley di aver inteso correggere, oltre che il passo di Euripide, anche i paralleli forniti da Hdt. 3, 142 e Thuc. 1, 32: “talia emendare nihil profecto est aliud, quam docere velle eos, a quibus discere ipsi debemus” (Hermann 18191820, 288 = Opuscula III 170). La sensibilità alla specificità del dettato poetico si coglie nella bella difesa del singolare  μo al v. 552 (565) contro il più ‘logico’  μ5μ di Elmsley: “Nam qui est mos Graecorum, ut sine ambagibus dicant, quae hodie si quis dicat, rudis et parum elegans videatur, eo hic quoque Iasonem uti voluit poëta, idque tanto magis, ut ex ipsius oratione eluceret, eum sui ipsius maxime studiosum esse” (ibid. 405–06 = 200– 01). Quanto alla ricerca della ratio dei fenomeni, Hermann attinge all’im54

55

Si veda La Penna 1982, 439 a proposito delle critiche mosse da Hermann alla Grammatologia di J. Hasse, pubblicata nel 1792. Per una valutazione più generale dei limiti dell’approccio grammaticale hermanniano, cf. Wackernagel 1981 (1926), 28–30 e la relazione di EvaTichy, Hermann als Grammatiker, in questo volume 123-145. “Est enim haec communis sors eorum, qui arti criticae operam dant, ut initio nihil non corruptum esse suspicentur, ubi autem maturuit scientia, paullatim intelligant, multo minus corruptos ad nos pervenisse veteres scriptores, quam a criticis esse corruptos” (Hermann 1819-1820, 339 = Opuscula III 171).

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mensa riserva delle sue conoscenze linguistiche per stendere note che hanno il valore di piccole dissertazioni, come quella sulla discussa legittimità delle sequenze … Z e μY… μY in tragedia (ad vv. 4–5), o le pagine che delineano la ragione dell’impossibilità di usare "1 C con il congiuntivo dopo una frase affermativa (ad v. 215 [= 220]), o ancora la nota al v. 750 (767) sulla possibilità di costruire  "o e affini con l’infinito aoristo.56 Capita spesso in questi casi che Hermann concordi con Emsley nella scelta testuale, ed anche nell’individuazione di una lex, ma sia insoddisfatto della motivazione fornita dallo studioso inglese e ne fornisca una diversa, più atta secondo lui a render conto della necessitas intrinseca nelle parole. Dopo la recensione alla Medea le armi dei due contendenti tornarono a incrociarsi, sempre con toni pacati, a proposito della possibile omissione dell’aumento nelle parti dialogate della tragedia, sulla quale già Porson si era espresso negativamente nella prima Hecuba e nel Supplementum,57 mentre Hermann, negli Elementa doctrinae metricae, aveva accolto la posizione di A. Seidler, secondo il quale i casi di omissione ricorrono soprattutto nelle parti dei Messaggeri, più vicine allo stile epico.58 Elmsley trattò da par suo l’argomento nella lunga nota al v. 1132 delle Baccanti, riprendendo il suggerimento di Porson di escludere dal computo i casi di forme abitualmente usate in attico senza aumento, come  ?\μ o   , e procedendo a eliminare per congettura la maggior parte delle altre possibili occorrenze. Questa la sua conclusione (Elmsley 1821, 150): “Quae difficiliora sunt, mea quidem sententia librariis tribuenda sunt. Nulla enim in Attica poësi essent grammaticae regulae, si nihil pro corrupto habendum esset”. Hermann rispose dedicando alla questione quasi tutta la lunga prefazione delle sue Baccanti. Il problema è affrontato nei termini consueti, e cioè osservando che se anche un solo caso di omissione esiste, questo significa che la lingua tragica poteva ammettere il fenomeno, e dunque si deve indagare in quali condizioni e per quali motivi ciò poteva avvenire.59 La ricerca della ratio del fenomeno è sentita come essenziale: discutendo dell’atteggiamento critico di chi elimina per congettura le eccezioni, infatti, Hermann riconosce che non si può opporre ad esso il solo argomento che “raritas non est per se vitii documentum”. Ci vuole di più (Hermann 1823, xii): “In re tam ancipiti una tantum est via, quae medium inter inconsideratam temeritatem emendandi, et superstitiosam religionem tuendae librorum scripturae teneat: quae in eo est posita, ut quaeratur, an ea, quae propter raritatem suspecta sunt, certam aliquam rationem habeant”. In questa ricerca egli non si accontenta degli argomenti di Seidler e di K. C. Reisig (che collegava l’assenza dell’aumento alla narrazione di una qualche

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Cf. Hermann 1819-1820, 273–80, 344–46, 413–14 = Opuscula III 150–59, 179–81, 209–10. Cf. Porson 1822 (1797), iii; Porson 1822 (1802), xvi–xvii. Cf. Hermann 1816, 52. Cf. Hermann 1823, viii e xii.

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“res magna […] et gravis, aut admirabilis, vel nova”),60 ma indaga soprattutto l’interazione fra senso e ritmo (distinguendo fra numerus metri proprius e numerus orationis), nel tentativo di giustificare le rare omissioni dell’aumento con il particolare valore poetico che alcune parole assumono a seconda della loro collocazione all’interno della frase e del verso.61 Le argomentazioni con cui egli rigetta le congetture regolarizzanti accolte da Emsley non sono prive di sottigliezze e di qualche contraddizione, e su questi punti deboli si concentrò la critica dell’anonimo recensore che nel fascicolo num. 8 di Museum Criticum ripercorse in dettaglio tutta la questione schierandosi dalla parte di Elmsley e Porson.62 Ma si trattava ormai degli ultimi fuochi della controversia: la precoce scomparsa di Emsley mise infatti tristemente fine a quel fecondo confronto. Le considerazioni svolte sin qui hanno mostrato come la polemica con Porson ed Elmsley sia stata la fucina nella quale Hermann forgiò alcune sue idee essenziali, centrate attorno al tema che fin dai primi lavori aveva individuato come vitale per la scienza filologica, e cioè la possibilità di conciliare la ricerca di solidi strumenti di indagine razionale, capaci di assicurare al processo critico quel grado di scientificità che non aveva in precedenza, con la sensibilità al contenuto poetico dei singoli passi che sono di volta in volta oggetto d’indagine. E se nelle opere giovanili la sua energia si era indirizzata soprattutto alla comprensione delle leges linguistiche e metriche necessaria a trarre fuori i testi dall’oscurità in cui giacevano alla fine del Settecento, in seguito sempre più essa si rivolse all’obiettivo di definire quale ruolo debba svolgere nel lavoro del filologo il sensus, una qualità innata e difficile da definire, ma indispensabile al critico perché è la sola che permetta di instaurare una vera sintonia con il testo poetico antico. Come ho avuto modo di mostrare altrove, i primi segni di questa evoluzione si colgono già in scritti giovanili come l’introduzione alle Observationes criticae in quosdam locos Aeschyli et Euripidis del 1798 o la dissertazione De Aeschyli Persis (1812).63 Nel procedere dell’ indagine, Hermann andò ponendo sempre più lucidamente la questione di un potenziale conflitto fra iudicium e sensus nel lavoro dell’editore, soprattutto sul terreno delicato delle correzioni metri causa e del rapporto fra applicazione delle leggi metriche e rispetto dei valori poetici che sottostanno alla scelta e alla collocazione delle parole.64 Il complesso sus60

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Cito da Hermann 1823, x. L’affermazione era stata fatta da Reisig nei Coniectanea in Aristophanem, Lipsiae 1816, I 78 ss. Hermann 1823, xxv–lvi. Cf. Anonimo 1826, 643–55. Di questi testi che documentano il maturare della critica hermanniana ho discusso nel cap. 2 di Medda 2006. Su questo tema è eloquente soprattutto un paragrafo della prefazione all’edizione dell’Elettra di Sofocle (Hermann 1819 b, vii): “ordinem dico et collocationem verborum, quam vehementer errant qui solo metro apud poetas regi existimant. Sensus enim et

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seguirsi delle sue riflessioni giunse infine a maturazione in un opuscolo, il De Ricardo Bentleio eiusque editione Terenti (1819), nel quale il delicato tema del rapporto fra sensus e iudicium nel lavoro dell’editore di testi antichi viene sviluppato nella sua forma più nitida. In questo scritto Hermann si sente finalmente pronto a un confronto critico a tutto campo con il genio cui aveva ispirato il suo lavoro fin dagli anni universitari. Anche di quest’opera, di cui ho scritto altrove,65 metterò in luce soltanto un aspetto che merita particolare attenzione in relazione a ciò che si è venuti dicendo sin qui. L’analisi di Hermann muove dalla celebre formulazione (1819 a, 4–5 = Opuscula II 264–65): “erat Bentleius vir infinitae doctrinae, acutissimi sensus, acerrimi iudicii”, che riconosce al maestro di Cambridge il possesso di tutte e tre le qualità indispensabili al perfetto filologo. Il sensus consiste “in naturali quadam facultate statim animadvertendi, quid quaque in re verum, aptum, decorum, venustum sit: cui etsi, ut dixi, nutrimenta et cultum praebet antiquitatis pervestigatio, tamen procreare eum, si cui non est a natura datus, non potest” (ibidem). Esso ha bisogno però del saldo puntello di un acuto iudicium, cioè la capacità di argomentare le proprie convinzioni con gli strumenti della logica. Coloro che possiedano solo il sensus potranno infatti essere buoni critici del testo per quanto riguarda la coniectandi facilitas, ma “si res demonstratione indiget, neque ipsi sibi rationes reddere possunt, neque alios quo ad suam sententiam perducant, habent”. A sua volta però lo iudicium è “uti praestantissima in critico virtus, ita eadem etiam periculosissima”, perché porta con sé il rischio dell’eccesso di fiducia nelle possibilità del procedere logico (ibid. 5 = 265). Quello che mancò a Bentley, secondo Hermann, fu la capacità di mantenere in ogni circostanza l’equilibrio tra le due facoltà, a causa di un’indole impetuosa e troppo incline a lasciarsi sedurre dalla brillantezza dei disputandi artificia. Bentley dunque diede il meglio di sé quando si occupò di res historicae, “quae unice iudicio opus habeant”; ma altri testi, e soprattutto quelli dei poeti, richiedevano un diverso modo di procedere (ibid. 6 = 266): “quorum quum omnis oratio ad sensum magis, quam ad severas quasdam cogitandi regulas composita sit, non recte interpretabitur eos, qui verba eorum, tamquam si mathematici aut philosophi essent, ad amussim exigat, et non potius quid senserint, quam quid argutando ex singulis verbis elici possit, consideret”. Le severe leggi del pensiero non possono essere applicate al discorso poetico perché l’eccesso di razionalità intacca le ragioni della poesia, ovvero – in termini di critica testuale – corrompe i testi invece di emendarli. Bentley sbagliò molte volte perché non seppe ascoltare il raffinato sensus di cui era dotato, che gli avrebbe potuto facilmente mostrare “nullam esse emendandi necessitatem”. In materia di poesia Hermann avanza dunque una seria riserva nei con-

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consilium, quo quidque dicitur, quae recta et apta sit verborum collocatio, monstrare debet: poetae boni illud est, ea eligere verba, quae sic, uti debent, ordinari sine metri detrimento possint”. Cf. Medda 2006, 106–11.

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fronti di quell’applicazione della ragione alla critica che costituiva il maggior vanto di Bentley ed era stata il motivo per cui Reiz lo aveva esortato a prendere il Master di Trinity come modello.66 La critica di Hermann non si risolve però in un abbandono di quel modello, bensì nella forte valorizzazione di un altro aspetto del genio di Bentley, e cioè la sensibilità per il ritmo che aveva caratterizzato il suo approccio alla metrica di Terenzio (Hermann 1819 a, 7–8 = Opuscula II 267–68): Sed non est praetereunda una res, in qua Bentleius singulari cum fructu litterarum sensui omnia, iudicio prope nihil tribuit. Dico autem rem metricam, in qua luculentissime apparet divinum viri ingenium, qui non alio duce, quam sensu suo, spretis inanibus magistrorum commentis, nova nullique tentata via ad veritatem perruperit. […] Ita evenit, ut, quum iudicium ab his rebus procul haberet, solumque sensum sequeretur, non incideret in errores illos, a quibus aliter vereor ut immunis mansisset.67

Bentley era arrivato per un dono naturale a cogliere le leggi assolute del ritmo che Hermann sarebbe riuscito, settant’anni più tardi, a descrivere ‘scientificamente’; ma non avendo al suo tempo gli strumenti logico-filosofici per argomentare razionalmente le proprie intuizioni, aveva colto i risultati migliori quando aveva lasciato prevalere del tutto il sensus sullo iudicium.68 Questa lettura della filologia bentleyana fortemente orientata in direzione del sensus rispondeva a una duplice esigenza. Da una parte, essa consentiva a Hermann di presentare se stesso come il vero continuatore ‘scientifico’ delle grandi novità introdotte dal genio di Bentley; dall’altra – anche se questo non è detto in forma esplicita nella dissertazione del 1819 – metteva in discussione la possibilità di leggere i progressi fatti dai filologi inglesi delle 66

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Sull’ammirazione del giovane Hermann per la ‘rationale Sprachphilologie’ di Reiz ha posto opportunamente l’accento Degani 1999, 280. Sullo Schediasma de metris incluso in Bentley 1726 e sul ruolo che Bentley assegnava all’ictus si vedano Jebb 1882 (1901), 135–37, Brink 1985, 75 e la relazione di Marcus Deufert. Il giudizio espresso nel De Ricardo Bentleio riassume in sé e motiva sul piano metodico una serie di valutazioni espresse a più riprese da Hermann, che già a partire dal De metris poetarum Graecorum et Romanorum aveva lodato l’orecchio ritmico di Bentley, rimasto senza successori (Hermann 1796, 142): “atqui iam pridem docuerat Bentleius, quomodo legere versus oportet: quem qui sequerentur, non erat hercle opus, ut omnes aliqui Bentleii essent; id erat opus, ut aures haberent”; “factum est ut alter [i. e. Bentley] exemplo suo, quod non nisi par indoles recte sequeretur, parum prodesset” (ibid. 4–5). Cf. anche Hermann 1799, v: «Nur allein Bentley, der, erste unter den Kritikern, verstand den Rhythmus der Alten so gut, wie ihre Sprache: aber, wie ein Dichter, sagte er nur, was er fühlte, und überließ dieses Gefühl andern zu entwickeln. Keiner that es: denn keiner fühlte, wie Bentley”. Negli Elementa doctrinae metricae Bentley è descritto come “vir divini ingenii, nec servire cuiquam disciplinae, sed, quoquo se converteret, imperare sciens”, e gli viene riconosciuto il merito di aver intuito la necessità di risalire fino alle vere cause dei fenomeni, che non poté indagare per i limiti posti dalla cultura del suo tempo: “quum eas explicare non posset, quod non est mirum in illa, quae tum erat, conditione philosophiae, arcanam rationem musices obiectare satis habuit” (Hermann 1816, xii).

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generazioni seguenti, e in particolare da Porson e dai suoi, come una filiazione diretta delle idee del grande predecessore. Il cuneo che in questo modo Hermann insinuava tra Bentley e Porson prese poi corpo sul piano teorico nell’articolo “Über die Behandlung der griechischen Dichter bei den Engländern”, allargandosi a coinvolgere tutta la critica inglese che nella seconda metà del Settecento e nel primo venticinquennio dell’Ottocento si era occupata di testi poetici. In quelle pagine Hermann, pur riconoscendo a Porson qualità di prim’ordine (“gründliche Sprachkenntnisse, grosse Belesenheit, besonnene Vorsicht, und wohlüberlegtes Urtheil”), osservò che “die Genialität eines Bentley […] und die Freiheit des Geistes, welche mit Leichtigkeit den einfachen Process findet, durch den ein mannigfach gemischter Stoff in seine Elemente zersetzt werden kann, war ihm nicht eigen”.69 A suo giudizio, né Porson né gli altri filologi inglesi avevano saputo percorrere la via indicata da Bentley, soprattutto nel campo della metrica, che avevano affrontato in modo unilaterale e sbagliato, mantenendosi troppo attaccati agli exempla e omettendo di indagare il principio vitale della versificazione, e cioè il ritmo, “der sich nach der Rede und dem Sinne gestaltet”.70 Pienamente coerente con questa impostazione appare la scelta di indicare come capostipite della metodologia empirico-induttiva degli inglesi (con par69 70

Hermann 1831 b, 233–39 = Opuscula VI 1, 91–99. Hermann aveva già individuato un altro elemento di diversità fra i due grandi filologi inglesi nella citata lettera a Blomfield del 1817 (cf. supra n. 14), a proposito della capacità di Porson di attirare seguaci già in vita, cosa che non era riuscita a Bentley: “Porsonum qui ingenti doctrina, summaque circumspectione ubique solum, cui firmiter insisti posset, explorabat, nec sequi difficile erat, et ubi ipse constitisset tuto adiri posse apparebat. Hinc admiratores vivus consequutus est, et merito; idemque quum prae se alios omnes contemneret, tantum omnibus terrorem incussit, ut non nisi sub hujus clipeo tutos se esse arbitrarentur” (Blomfield 1863, I 33). In un importante studio, dal quale pure emergono con chiarezza i forti elementi di continuità fra il razionalismo bentleyano e la critica testuale di Porson, C. O. Brink ha riconosciuto la fondatezza di quel giudizio, osservando come l’impressione di genialità che indusse i contemporanei a considerare Porson un nuovo Bentley fosse fondata su un errore di prospettiva (Brink 1985, 111): “Porson prevailed, because he had something to teach which would inspire men of great talent, but which even those who had less of that commodity could understand and use. A renewed effect of Bentley’s genius required a wider intellectual horizon than Porson’s contemporaries could discern. To them Bentley seemed Porson magnified”. Brink (103) mostra come Porson abbia saputo seguire il modello di Bentley solo nel campo della critica testuale, lasciando cadere ogni approccio di più largo respiro alle questioni storiche e letterarie: “Porson was Bentleius redivivus only so far as textual criticism was concerned; that is, he was in fact Bentleius dimidiatus”. La lettura che Hermann dà del rapporto fra i due appare tanto più significativa quando si consideri che sul piano della critica testuale era comunque negli scritti di Porson che Hermann trovava tradotto in atto “il metodo innovativo di Bentley, fondato anzitutto sullo iudicium dell’interprete e sulla sua conoscenza della lingua” (Citti 2007, 81). Le sue critiche al tralignamento metodico di Porson rispetto a Bentley convissero sempre con una costante attenzione per i suoi emendamenti ai tragici, non di rado accolti e sempre discussi scrupolosamente da Hermann, a dimostrazione dell’importanza riconosciuta al lavoro del grande avversario (cf. Citti 2007, 81–84).

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ticolare riferimento allo studio dei poeti drammatici) non Bentley ma Richard Dawes, con i suoi Miscellanea critica del 1745. Attraverso una sistematica observatio dei fenomeni che ricorrono con regolarità, infatti, Dawes era stato in grado di individuare un certo numero di regole riguardanti la prosodia, i dialetti e la sintassi, mostrando una nuova strada agli studiosi della seconda metà del XVIII secolo. Secondo Hermann quel metodo non poteva portare a vera comprensione dei fenomeni, e chi dopo di lui ne aveva preso le difese contro le perplessità espresse dagli studiosi tedeschi aveva finito per trasformare la filologia in un calcolo quantitativo di ricorrenze, con grave danno per l’interpretazione.71 È significativo che Bentley sia lasciato fuori da questo quadro, nonostante gli evidenti elementi di continuità che si possono rintracciare fra le sue scoperte e il lavoro delle generazioni seguenti (Dawes, in particolare, pur non amando il suo predecessore, aveva indubbiamente costruito sulle fondamenta da lui gettate).72 Hermann, che intendeva tenerlo ben distinto, sul piano teorico, dagli esiti successivi della filologia ‘induttiva’, preferisce trattarlo a sé, nella sezione omerica dell’articolo, dove gli tributa l’alto riconoscimento di essere stato “auch wo er irrte, grossartig” (1831 b, 219 = Opuscula VI 1, 73).73 Particolarmente interessante in questo senso è il giudizio espresso sugli studi omerici di Bentley. La pur rilevante e celebrata scoperta del digamma non esprime secondo Hermann la vera grandezza del suo autore: ben altri contributi Bentley avrebbe potuto dare alla conoscenza dell’epica, se non fosse stato limitato dalla mancata conoscenza di una fonte importante come gli scolî del Venetus A. Questo significa che chi si era dedicato a ricostruire il testo omerico restaurando il digamma, “hielt den einen gefundenen Pfeiler des grossen Gebäudes für das Gebäude selbst” (ibid. 219–20 = 73). Ora, non sembra un caso che, tra i tanti meriti di Bentley, ad essere parzialmente ridimensionata sia proprio questa scoperta, che più dipendeva dall’observatio degli exempla e che avrebbe potuto pertanto portare acqua al mulino di chi volesse sottolineare la continuità tra Bentley e i filologi inglesi contemporanei di Hermann. Un analogo processo di tacita deminutio si può individuare, credo, nel limitato spazio che il lipsiense riserva nei suoi scritti metrici all’altra grande scoperta di Bentley riconducibile all’approccio induttivo, quella della sinafia nei sistemi anapestici. A questo proposito è significativo il mutamento di prospettiva per cui, mentre nel primo trattato metrico Hermann dedicava a questa gemma del repertorio bentleyano una mezza pagina, esprimendo consenso e proponendo di emendare due passi non notati da Bentley che sembrerebbero contraddire la norma,74 negli 71 72

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74

Cf. Hermann 1831 b, 233–34 = Opuscula VI 1, 91–92. Sulla continuità fra l’approccio critico di Dawes e il razionalismo bentleyano sono essenziali le osservazioni di Brink 1985, 89–92. Quindici anni prima, negli Elementa doctrinae metricae, Hermann aveva descritto le cadute di Bentley con la bella immagine omerica 5 μ:  μ

%o (Hermann 1816, xvi). Cf. Hermann 1796, 293.

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Elementa doctrinae metricae il criterio della sinafia è accolto, ma con qualche precisazione in direzione di possibili eccezioni (1816, 372): “verissima quidem est Bentleii observatio, sed concedendae tamen quaedam exceptiones sunt”.75 Il percorso critico compiuto sin qui ha mostrato come il rapporto non facile, ma sempre ricco di stimoli intellettuali, che Gottfried Hermann intrattenne con la filologia d’Oltremanica si sostanziò di temi vitali per un’epoca che sentiva con forza l’esigenza di collocare gli studi sull’antichità, e la stessa critica testuale, nella dimensione della conoscenza scientifica. Certo, l’attenzione di entrambe le parti restò limitata alla dimensione della costituzione e dell’interpretazione del testo, senza aperture verso le più vaste istanze di ricostruzione storica globale che di lì a poco sarebbero state avanzate in Germania dagli esponenti della scuola ‘archeologica’. Non di meno, a noi che guardiamo a quel dibattito con il distacco apportato dallo scorrere del tempo e con la consapevolezza degli sviluppi successivi della storia della filologia non può sfuggire la portata dei progressi che esso apportò sia sul piano della consapevolezza metodica sia nella dimensione concreta della Textkritik applicata ai testi poetici antichi. Hermann, Porson, Elmsley sono presenze vive nelle edizioni moderne dei tragici, non solo per il grande numero di miglioramenti apportati al testo, ma soprattutto perché è dalle polarità che essi seppero delineare così nitidamente (analogia vs. anomalia, regulae vs. libertà creativa, ratio vs. experientia, iudicium vs. sensus ecc.) che ancor oggi non può fare a meno di muovere la riflessione critica di ogni editore di poesia antica degno di questo nome.

Bibliografia Anonimo 1826: Anonimo, Review of P. Elmsley, Euripidis Bacchae, Oxonii 1821, and G. Hermann, Euripidis Bacchae, Lipsiae 1823: Museum Criticum 8, 1826 (= Museum Criticum, or Cambridge Classical Researches II, Cambridge 1826, 643–71). Basta Donzelli 1987: G. Basta Donzelli, Cesura mediana e trimetro euripideo, Hermes 115, 1987, 137–46. Bentley 1726: R. Bentley, Pub. Terentii Afri Comoediae, Cantabrigiae 1726. Blomfield 1814: C. J. Blomfield, Aeschyli Persae, Cantabrigiae 1814 (21818, Lipsiae 31823). 75

Hermann elenca qui alcuni passi nei quali lo iato o la sillaba ancipite fra un dimetro e l’altro risultano possibili “in fine versus, ubi vel personae mutatio, vel finis sententiae est”. Si veda anche l’analoga formulazione adottata nell’Epitome doctrinae metricae (Hermann 1818, 138).

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Blomfield 1823: Id., Sapphonis Alcaei et Stesichori fragmenta, London 1823. Blomfield 1863: A. Blomfield, A Memoir of Charles James Blomfield, D.D., Bishop of London, with Selections from his Correspondence, London 1863. Boeckh 1809: A. Boeckh, Über die Versmaße des Pindaros, Berlin 1809. Boissonade 1825: J. F. Boissonade, Aeschylus I–II, Parisiis 1825. Brink 1985: C. O. Brink, English Classical Scholarship. Historical Reflections on Bentley, Porson, and Housman, Cambridge/New York 1985. Burton 1827: Anonimo (E. Burton), Review of P. Elmsley, Scholia in Sophoclis Tragoedias Septem (Oxonii 1825) and Sophoclis Tragoediae Septem … (Oxford 1826): The British Critic. Quarterly Theological Review and Ecclesiastical Record 1, 1827, 281–320. Citti 2006: V. Citti, Some Remarks on Methods of Critics and Editors of Aeschylus from the Seventeenth to the Nineteenth Century, in: D. Cairns, V. Liapis (edd.), Dionysalexandros. Essays on Aeschylus and his fellow tragedians in honour of Alexander F. Garvie, Swansea 2006, 63–78. Citti 2007: Id., Filologia e filosofia tra Lipsia e Berlino, in: Con gli occhi degli antichi. Filologia e politica nelle stagioni della cultura europea, Atti del Convegno … Palermo-Agrigento, 27-29 settembre 2006, Palermo 2007, 73–93. Clarke 1945: M. L. Clarke, Greek Studies in England 1700-1830, Cambridge 1945. Dawe 1990: R. D. Dawe, Richard Porson, in: W. W. Briggs, W. M. Calder III (edd.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York/London 1990, 376–88. Dawes 1745: R. Dawes, Miscellanea critica, Cantabrigiae 1745 (21781). Degani 1999: E. Degani, Filologia e storia, Eikasmos 10, 1999, 279–314. Elmsley 1811: P. Elmsley, Review of R. Porson, Euripidis Hecuba, Londini 31808: Edinburgh Review 37, 1811, 64–95. Elmsley 1813a: Id., Review of Euripidis Hercules Furens, recensuit G. Hermannus, Lipsiae 1810: Classical Journal 8 (n. 15), 1813, 199–218. Elmsley 1813 b: Id., Review of Euripidis Supplices, recensuit G. Hermannus, Lipsiae 1811: Classical Journal 8 (n. 16), 1813, 417–40; 9 (n. 17), 1814, 49–64. Elmsley 1813 c: Id., Euripidis Heraclidae, Oxford 1813 (21828). Elmsley 1815: Id., Annotatio in Euripidis Medeam, Museum Criticum 5, 1815 (= Mus. Criticum, or Cambridge Classical Researches II, Cambridge 1826, 1–55). Elmsley 1818: Id., Euripidis Medea, Oxonii 1818. Elmsley 1821: Id., Euripidis Bacchae, Oxford 1821. Elmsley 1828: Id., Euripidis Heraclidae et Medea, Oxonii 1828. Elmsley–Hermann 1822: Euripidis Medea, recensuit et illustravit P. Elmsley, accedunt G. Hermanni adnotationes, Lipsiae 1822. Finglass 2007: P. J. Finglass, A Newly-discovered Edition of Sophocles by Peter Elmsley, GRBS 47, 2007, 101–16. Hermann 1796: G. Hermann, De metris poetarum Graecorum et Romanorum libri III, Lipsiae 1796. Hermann 1798 a: Id., Commentatio de metris Pindari, in: Pindari Carmina ed. C. G. Heyne, Gottingae 1798, vol. III, 177–356. Hermann 1798 b: Id., Observationes criticae in quosdam locos Aeschyli et Euripidis, Lipsiae 1798.

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Hermann 1800: Euripidis Hecuba, G. Hermanni ad eam et ad R. Porsoni notas animadversiones, Lipsiae 1800. Hermann 1801: Id., De emendanda ratione Graecae grammaticae, Lipsiae 1801. Hermann 1805: Id., Orphica, cum notis H. Stephani, Chr. Eschenbachii, I. M. Gesneri, Th. Tyrwhitti, Lipsiae 1805. Hermann 1810 a: Id., De usu antistrophicorum in Graecorum tragoediis, Lipsiae 1810. Hermann 1810 b: Id., Euripidis Hercules furens, Lipsiae 1810. Hermann 1810 c: Id., De praeceptis quibusdam atticistarum, Lipsiae 1810 (= Opuscula I 269–89). Hermann 1811: Id., Euripidis Supplices, Lipsiae 1811. Hermann 1816: Id., Elementa Doctrinae Metricae, Lipsiae 1816. Hermann 1817: Id., Sophoclis Ajax, Lipsiae 1817 (41851). Hermann 1818: Id., Epitome doctrinae metricae, Lipsiae 1818 (21844, 31852, 41869). Hermann 1819 a: Id., De Ricardo Bentleio eiusque editione Terenti dissertatio, Lipsiae 1819 (= Opuscula II 263-287). Hermann 1819 b: Id., Sophoclis Electra, Lipsiae 1819 (21825, 41864). Hermann 1819-1820: Id., Adnotationes ad Medeam ab Elmsleio editam, Classical Journal 19 (n. 38), 1819, 267–89; 21 (n. 42), 1820, 338–57; 22 (n. 44), 1820, 402–28 (ristampato prima in Elmsley–Hermann 1822 e poi in Opuscula III 143-261). Hermann 1823: Id., Euripidis Bacchae, Lipsiae 1823. Hermann 1824: Id., De emendationibus per transpositionem verborum, Lipsiae 1824 (= Opuscula III 98-112). Hermann 1831 a: Euripidis Hecuba, denuo recensuit G. Hermannus, Lipsiae 1831. Hermann 1831 b: Id., Über die Behandlung der griechischen Dichter bei den Engländern, nebst Bemerkungen über Homer und die Fragmente der Sappho, (Wiener) Jahrbücher der Literatur 59, 1832, 217–70 (= Opuscula VI 1, 70–141). Hermann 1840: Id., Euripidis Phoenissae, Lipsiae 1840. Hermann 1852: Id., Aeschyli Tragoediae, Lipsiae 1852 (21859). (Hermann) Opuscula: Godofredi Hermanni Opuscula I–II, Lipsiae 1827; III, 1828; IV, 1831; V, 1834; VI, 1835; VII, 1839; VIII, 1877 (ed. T. Fritzsche). Hermann–Lange 1806: Euripidis Hecuba, ex recensione G. Hermanni … tironum maxime in usum edidit G. Lange, Halis Saxonum 1806 (21828). Horsfall 1974: N. Horsfall, Classical Studies in England, 1810-1825, GRBS 15, 1974, 449–77. Jebb 1901 (1882): R. C. Jebb, Bentley, s. l. s. d. (1882; rist. New York/London 1901). La Penna 1982: A. La Penna, Sugli inizi della filologia ‘positivistica’ in Germania, in: Scienza e filosofia nella cultura positivistica, a cura di A. Santucci, Milano 1982, 427–45. Luard 1867: H. R. Luard (ed.), The Correspondence of Richard Porson, M.A., Formerly Regius Professor of Greek in the University of Cambridge, Cambridge 1867. Medda 2006: E. Medda, Sed nullus editorum vidit. La filologia di Gottfried Hermann e l’Agamennone di Eschilo, Amsterdam 2006. Monk 1816: J. H. Monk, Euripidis Alcestis, Cantabrigiae 1816 (21818, 31826, 41830). Monk 1844 (1837): Id., Euripidis Alcestis, editio quinta emendata, Londini 1837 (61844, 71852: ho utilizzato la sesta edizione, del 1844).

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Monk–Hermann 1824: Euripidis Alcestis, cum delectis annotationibus potissimum J. H. Monkii. Accedunt emendationes Godofredi Hermanni, Lipsiae 1824. Page 1959: D. Page, Richard Porson (1759-1808), Proceedings of the British Academy 1959, 221–36. (Porson) 1795: *d  *6s   W o  y"m, Glasguae in Aedibus Acad. 1795. Porson 1797: R. Porson, Euripidis Hecuba, Londini 1797. Porson 1798: Id., Euripidis Orestes, Londini 1798. Porson 1799: Id., Euripidis Phoenissae, Londini 1799. Porson 1801: Id., Euripidis Medea, Londini 1801. Porson 1802: Id., Euripidis Hecuba, Cantabrigiae 18022. (Porson) 1806: Aeschyli tragoediae septem cum versione Latina (Glasguae 1794), Londini et Oxoniae 1806. Porson 1814 (1803): R. Porson to A. Dalzel (Essex-Court Sep. 3, 1803), Museum Criticum 3, 1814 (= Museum Criticum, or Cambridge Classical Researches I, Cambridge 1814, 330–37). Porson-Kidd 1815: Tracts and miscellaneous criticisms of the late Richard Porson, collected and arranged by T. Kidd, London 1815. Porson 1822: R. Porson, Quattuor ex Euripidis tragoediis: Hecuba, Orestes, Phoenissae, Medea, editio correctior, cui tres indices accedunt, Londini 1822. Schein 1979: S. L. Schein, The Iambic Trimeter in Aeschylus and Sophocles: a Study in Metrical Form, Leiden 1979. Schmidt 1990: E. G. Schmidt, Gottfried Hermann, in W. W. Briggs, W. M. Calder III (edd.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York/London 1990, 160–75. Stray 2004: C. Stray, From one Museum to Another: the Museum Criticum (181326) and the Philological Museum (1831-33), Victorian Periodicals Review 37, 2004, 289–314. Wackernagel 1981 (1926): J. Wackernagel, Vorlesungen über Syntax, Erste Reihe, Basel 31981 (1926). Wilamowitz 1921: U. von Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst, Berlin 1921. Wilamowitz 1927: Id., Geschichte der Philologie, Leipzig 31927.

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Where to begin? Well, where better than with the most obvious place, the 1834 article which he wrote entitled De officio interpretis? Here, on p. 99, Hermann vigorously upheld the doctrine, unfashionable today, that any one who wishes to learn about Greek and Roman civilisation must give absolute priority to the study of ancient texts: as evidence they are our richest source, indeed virtually our sole source (“propemodum unicus fons”). They are the most durable of monuments without which the rest are undirected and useless (“caeca et inutilia”). Nor is a superficial knowledge of Greek and Latin enough, for the texts are often corrupt and so can lead to totally erroneous views in the fields of history and other disciplines. So what are we to bring to bear in our examination of these texts? Everything relevant, is the answer, everything that sheds light on the intentions of an author and the composition of his work, or illuminates the special virtues and vices of that work. It may seem that Hermann is guilty of stating the obvious when he says that there are three things that an editor must keep constantly in mind: nothing that is needed for full comprehension must be lacking; nothing should be included that is not so needed; and lastly that we should get it right (“recte exponantur”). The people that he regarded as especially guilty in these regards were those whose interests lay largely in the realms of archaeology, though the work which he singles out is Valckenaer‘s commentary on Theocritus’s Adoniazusae. He admires the wealth of learning, but declares that it is largely irrelevant to the understanding of the poem. Much should have been off-loaded into a separate monograph or monographs. As we contemplate a certain edition of Sophocles’s Antigone, a hundred and seventy-three years later, we may find ourselves sighing in agreement. Hermann remarks that if he were to illustrate with some examples the kind of thing he means about editors going beyond their brief, “in magnum volumen accresceret haec dissertatio”. After these generalities and strictures, Hermann, disappointingly for our purposes, launches into criticism of Boeckh. So much for Hermann’s aims, and later on we will look more closely at his practices. But since some of what needs to be said falls short of a paean of unmixed praise, it is only fair to make it clear at the outset that Greek tragedy owes more to Hermann than to any other single scholar, and by a wide margin. In his admirable piece on Hermann in the Biographical Encyclopaedia compiled by Briggs and Calder, Ernst Günther Schmidt calculated that in the Oxford Texts of tragedy Hermann’s name is cited nearly 900 times.

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Using a slightly different method of calculation I arrived, in the same volume, at a figure of 975. We do not need to quarrel over the difference: the plain fact is that Hermann towers over the rest: the next highest scorer on the list I compiled was Elmsley, with 561. Other great names, which I take purely at random, are Kirchhoff 255, Brunck 203, Meineke 93, Casaubon 58, Schneidewin 42, Reisig 32, Madvig 24. That shows the stature of the man; and in evaluating Hermann’s contribution we should also bear in mind what Schmidt so rightly said about the actual nature of Hermann’s emendations: “Hermann’s results in textual criticism were achieved without the fundamental manuscript studies that Elmsley, for example, undertook, and quite apart from the method of systematic recensio by which Lachmann revolutionised textual studies”, and Schmidt endorses Wilamowitz’s assessment: “while Elmsley applied the principle of analogy like a master, Hermann was able to grasp the completely individual nature of a given textual passage”. All of that is true, but there is a quite different criterion by which a scholar may be judged – his success rate. Posterity has been unkind to Blaydes because he advanced a huge number of emendations of which only a small percentage have found their way into modern editions, even though that small percentage is none the less a huge total – 317. Besides Hermann’s even huger total we have to consider what proportion of his proposals are taken seriously today, and whether, if he fails, he fails in an intelligent and illuminating way. If Blaydes can be accused of using a scatter-gun approach to textual problems, what of Hermann on Aesch. Suppl. 794? Here he begins by rejecting the solution of Porson, which stands today in the Oxford Text, " „ 6n '  , o   :, on the grounds that we want only a simple statement of height, not “ningere tali in loco potius quam pluere”. And so he suggests: 1. " Q` '  , o   : 6 or 2. "  ` ' Y ` † o   6Rr 3. " „ : ` ' Y ` † o   6.

But what appears in the posthumous edition is none of these, but an emendation of Dindorf’s. The comparison with Blaydes may be unflattering, but there is another comparison which can be made, which redresses the balance, and it is with, of all people, Isaac Newton. When asked what he did to solve the problems with which he was confronted, he replied that it was by keeping them constantly on his mind. Throughout his life Hermann did this, though it has to be said that his later thoughts were not always better than his earlier ones. Because Hermann is the textual critic par excellence, it is easy to overlook the true width of his interests in tragedy. If we read his article on Aeschylus’s Persians, for example, we shall find pure literary criticism of the kind that might well serve as an Introduction to a modern edition for undergraduates;

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and if that sounds slightly patronising, it is not meant to. This is pioneering work, and if what Hermann has to say sounds familiar, it is because the guide-lines that he laid down have been largely followed by his successors. Hermann sets out to show how well Aeschylus chose to do things, and in the course of his exposition he sets out a general principle of the highest importance. “I do not think”, he says, “that we should even inquire into the reasons why Atossa asks questions about things which she ought to know”. All poets have rightly taken the view that they are at liberty not to pass over things which are necessary for a full understanding of the matter in hand, even if it is scarcely credible that, in real life, those things would be spoken of now for the first time. A prime example is Oedipus telling Jocasta who his mother and father were. There is not much else by way of separate pieces of literary criticism, but there are quite a few places where Hermann occupied himself with the miseen-scene of various plays, and in particular he delved deeply into the question of the tragic chorus and the number of its constituents. Blomfield, a critic whom Hermann often mentions, had said that the number was variable, and that there were only three in Aeschylus’s Eumenides. The scholia on Oedipus at Colonus had said that there were two or three Furies, and the Suda names three: Alecto, Megaira, and Tisiphone. Hermann is able to deploy an impressive array of evidence to refute Blomfield, not least the fact that Sophocles was said to have raised the number of the chorus to fifteen from a previous twelve. Besides the question of number Hermann spends time discussing the way the chorus would have entered in the first production of Eumenides, "m , striking terror into the audience as they came into view in a seemingly inexhaustible stream. A second dissertation on Eumenides was prompted by one of Boeckh’s which had come out in the meantime. Again Hermann treats of the size of the chorus, but also goes into the number of visits Aeschylus made to Sicily, and the reason for them. Another example of Hermann as an exponent of tragedy with interests that ranged beyond the individual word or phrase comes in a place where he is attempting to refute K. O. Müller. Müller had divided Aesch. Agamemnon 475–89 between three speakers. This is the epode in which the chorus speculate on whether the message conveyed by the chain of beacons about the fall of Troy is true or false, and the possible credulity of its recipient. Müller had posited an R   μ\ to trigger off this ‘true or false?’ debate. Hermann by contrast looks into the psychology of the chorus and the position of Klytaimestra on stage, seeing the chorus’s words as quietly voiced doubts. We may take an even broader example, and one particularly valuable in that it shows how Hermann’s first thoughts were at times better than his second: he had suggested, rightly, that Aeschylus’s Septem was the third, not the second, play of the Theban trilogy. Later he was to write “I subsequently realised that that was scarcely defensible”.

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Before leaving Aeschylus we may take one or two more passages where Hermann can be seen at work, in order in this way to gain some insight into his mental processes and to assess the quality of his thought. Let us begin with one of his failures. Modern texts of Septem 762–63 read μ @9 ` C   Q ` R o % | o "s   Z. The text that Hermann had in front of him will probably have read μ @9 ` D , ` R o  | o "s   Z. His solution is to read what Burges conjectured, which he knew also from ‘Mosc. 2’, a manuscript known to modern science as Zf, namely D ,. We should not criticise Hermann for failing to anticipate Weil’s Q ` R o %. But we can criticise him for not realising the merits of Blomfield’s C   (1812), for altering Z to €* (though there is a vestige of manuscript support for this), and for the misplaced vigour of his language in assaulting the transmitted ‘width’. Listen to him:  Z, he says, is “frigidissime immo turpissime additum”. What he wishes to see is “in medio, i. e. inter urbem et ei imminentes fluctus, ad breve tempus munimentum tendit in bello turris”. Hermann says that his emendation is confirmed by the manuscript Par. B, known today as P, a document noted for its wide range of variant readings (though P actually has C not C . But every one today, confronted by that ‘in bello’, would surely cry, if their latin ran to it, ‘hoc est frigidissime, immo turpissime, additum’. A decidedly poor suggestion, but what we must always remember is that the Aeschylus edition (1852) was something entrusted to, and brought out by, M. Haupt, Hermann himself being by that time gravely ill. It is perhaps Haupt that we should be censuring. One could also use this passage out of hundreds of others to criticise Hermann for making no advance on his predecessors for the sporadic and unsystematic manner of citing manuscript evidence. We are not given a full and consistent picture, but things are taken ad libitum as if they were chocolates to be picked out of a box. Of course we do this even today, though to a much lesser extent. The two manuscripts we have just had to mention, Zf and P, are in the category ‘alii ad libitum citati’ in West’s edition, but these are only satellites. Today we expect major witnesses to the text to be reported evenly and steadily throughout. If we say that in this respect Hermann was not in advance of his time, we are in a way paying him a compliment, since we are unwittingly making it clear that from him we expect, albeit unreasonably, the highest standards in everything. So when we come to Agamemnon 7, D:  Q  o% D m  3,

which Valckenaer deleted, we applaud the argument that the omission of the line in a citation by Achilles Tatius means nothing because Achilles Tatius is notoriously corrupt (“non est emendatissimus”, Hermann tactfully says) and had just before omitted something from Aeschylus which ought to be there; but we do not applaud his argument “omisso enim, ut recte dicat excubitor se signa quae anni tempestates afferant contemplari, tamen hoc loco rectius

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addet observare se quando occidant atque oriantur”, because this means he is taking Q  as introducing an indirect question, which it cannot do. Fraenkel rightly insists on this in his commentary, but if we censure Hermann for his major mistake, we may also censure Fraenkel for a minor injustice: the argument that Achilles Tatius’s omission of v. 7 means nothing because he omits Prometheus 461 when transcribing 454–60 although it coheres closely with 460, is something which, says Fraenkel, Hermann (and Ahrens and Mazon) might have pointed out. But Hermann did point it out. Quite often Hermann’s logical brain seems to be working harder than is good for it. Take Septem 187–88: μY`   5 μY`  5 o  @s + 3  o% :.

Hermann objects to the article 3, remarking that M has the word without an accent. For :, o % Dppears in a Leipzig manuscript,    in Pd (to use the modern form of reference established by Turyn),  with   as a gloss in Ya, and .  in P. (There is not a whisper of all this in the modern editions.) Hermann does not allude to the possibility that  might have been written under the influence of the o  immediately above, but storms ahead to give us %  o% 3, a fancy way of saying ‘any woman’. Clever enough, but the superstructure of argument is built on two erroneous assumptions, for in fact the use of the definite article is entirely justified; and more worrying still, that accent is not missing at all, as any one may verify by looking at the facsimile – if he is not in the fortunate position of being able to consult the manuscript itself. But attention to real, as opposed to illusory, detail can bring its rewards. Take, for example, Agamemnon 617–18: ): %  "sμ   \μ\   1 %μ: "m  ‡ 9 'μ5.

Hermann saw that the  was wrong and had to be replaced by  His argument was characteristically short and to the point: “At non si quidem veniet dicit chorus, sed veniatne”. Paley had actually anticipated him (1846 as opposed to 1852): “Particulam sententiae minus accomodatam ipse mutavi”, but in his 1855 edition suppressed his own ill-defined note in favour of quoting Hermann’s verbatim. Quite a compliment from one great scholar to another, even greater, one. So one wrong, one right. Now let us take another example which we cannot put with the same confidence into either category, but one where Hermann’s logical brain must bring some uneasiness to the minds of those who have read what he has to say. It concerns Euripides Troades 702–05. Hecuba is speaking to Andromache. She is to ingratiate herself with her new

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260 master. If she does, she will bring cheer to all her friends,  1 " 5 \  "   :=  P Uo  μ:  ˆ: μ`, L` L "   \μ " 5  €e  "m   o   1 "\  :` .

’Since the words can be construed, the critics have patiently borne the most absurd utterance (Hic quoque quoniam construi verba possunt, patienter tulerunt critici dicta absurdissima).’ ‘Absurd’ is one of Hermann’s favourite words of criticism, and its frequent use in itself gives us a valuable insight into his mentality as he exercises his craft. His argument, which leaves no trace in the modern editions of Diggle and Kovacs, runs like this: (1) Hecuba would be speaking ‘perinepte’ (a variant for ‘very absurd’ but a word which has escaped the meshes of the Oxford Latin Dictionary) if she said "  \ without an μ go with it. (2) How can Astyanax be a ‘great help’ to Troy now that Troy has been destroyed? (3) Why name the ones who will reestablish Troy as Andromache’s grandchildren rather than Hektor’s?   is a silly correction by a grammarian. The Aldine was right with @ X. Actually @ X is in P.) Hermann’s solution is to write:  1 " 5 \  "  :=  C, Uo  μ:  ˆ: μ` „ ‚ ", @ X \μ " 5  `e o "\   o   1 "m  :` .

or else @ X \μ " 5