Glaubenswege: Aufgeklärt - kritisch - zeitgemäß. Festschrift für Wolfgang Pauly 9783534404117, 9783534404131, 9783534404124

Die Festschrift für Wolfgang Pauly beitet Einblicke in das gesamte Spektrum seines akademischen Weges. Die Beiträge biet

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Glaubenswege: Aufgeklärt - kritisch - zeitgemäß. Festschrift für Wolfgang Pauly
 9783534404117, 9783534404131, 9783534404124

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Aufgeklärt
Gotthold Hasenhüttl: Das Fundament des Glaubens
Lenelotte Möller: Jakob Wimpfeling – Humanist und kritischer Geist am Vorabend der Reformation
Hans Mercker: Vom Krummstab zur Cocarde. Anmerkungen zu Leben und Werk des Enzyklopädisten Paul Thiry Baron von Holbach
Werner Simon: Joseph Anton Gall (1748–1807). Katechese im Kontext katholischer Aufklärung
Hans Ammerich: Paul Josef Nardini (1821–1862) – sein Lebenswerk und Glaubenszeugnis
Lothar Bluhm: „Der du von dem Himmel bist“. Vom ‚Atmen der Seele‘ in der Literatur
Werner Müller: Der Weg zu Gott führt – auch – durch die Küche. Ein Versuch
Kritisch
Karlheinz Ruhstorfer: „Nicht in Nordkorea“. Zur Lage der Kirche im März 2020
Lena Lassahn: Eva vorgestellt – eine feministische Lektüre von Gen 2-3
Stefan Meißner: Ein Aufbruch zum Segen für viele. Die Berufung Abrahams (1 Mose 12) im christlich-jüdischen Kontext
Wolfgang Grünstäudl: „… nicht gewalttätig polternd, so doch klar …“Karl Hermann Schelkles Zusage einer Mitarbeit an Herdersneutestamentlichem Kommentar
Markus Schiefer Ferrari: Jesus der Jude – Ein Essay von Lou Andreas-Salomé
Ulrich Wien: „Samaritergeist“ im Kontrast zum Nationalsozialismus. Eine homiletische Einrede von Viktor Glondys 1931
Roland Paul: Vom Schicksal jüdischer Kinder in Gurs
Rebecca Burkhart: Hans Jonas – Theodizee nach Auschwitz
Bettina Kruhöffer: Schöpfungstheologische Implikationen der Verantwortungsethik Hans Jonas’ – Kritische Anfragen und konstruktive Impulse
Zeitgemäß
Judith Distelrath/Matthias Böckel: „Unterwegs ad orientem“ – Biografische Notizen zu Edith Stein und ihrem Verhältnis zum Judentum
Christian Cebulj: Erinnern als religionsdidaktische Basiskategorie. Zur Bedeutung der Seelisberger Thesen für das jüdisch-christliche Lernen
Matthias Bahr: Unterwegs zum erwachsenen religiösen Lernen. Erinnerungsgeleitete Religionslehrer*innenbildung
Joachim Theis: Das Bildungspotential der Religionen für Erwachseneerschließen. Plädoyer für die Notwendigkeit einer religiösen Erwachsenenbildung
Birgitta Greif: „Himmlisch gut!“ Professor Dr. Wolfgang Pauly, ein Glücksfall für die Nachqualifikation im Fach Katholische Religionslehre
Wolfgang Urbany: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“
Bettina Reichmann/Stefan Schwarzmüller: Zwischen Ursprung und Heimatlosigkeit – Gedanken zur Kunst von Madeleine Dietz
Elżbieta Adamiak: „Der liebevolle Erzähler“. Ein Traum von Olga Tokarczuk
Wolfgang Pauly: Wissenschaftlicher Werdegang
Wolfgang Pauly: Literaturverzeichnis (in Auswahl)
Back Cover

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Elżbieta Adamiak/Judith Distelrath/Bettina Reichmann (Hg.)

Glaubenswege

Elżbieta Adamiak/Judith Distelrath/Bettina Reichmann (Hg.)

Glaubenswege Aufgeklärt – kritisch – zeitgemäß Festschrift für Wolfgang Pauly

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt Einleitung......................................................................................................................... 7 Aufgeklärt Gotthold Hasenhüttl: Das Fundament des Glaubens............................................... 14 Lenelotte Möller: Jakob Wimpfeling – Humanist und kritischer Geist am Vorabend der Reformation.................................................................................... 31 Hans Mercker: Vom Krummstab zur Cocarde. Anmerkungen zu Leben und Werk des Enzyklopädisten Paul Thiry Baron von Holbach............................. 53 Werner Simon: Joseph Anton Gall (1748–1807). Katechese im Kontext katholischer Aufklärung............................................................................................... 71 Hans Ammerich: Paul Josef Nardini (1821–1862) – sein Lebenswerk und Glaubenszeugnis............................................................................................................ 85 Lothar Bluhm: „Der du von dem Himmel bist“. Vom ‚Atmen der Seele‘ in der Literatur.............................................................................................................107 Werner Müller: Der Weg zu Gott führt – auch – durch die Küche. Ein Versuch..................................................................................................................122 Kritisch Karlheinz Ruhstorfer: „Nicht in Nordkorea“. Zur Lage der Kirche im März 2020.....................................................................................................................136 Lena Lassahn: Eva vorgestellt – eine feministische Lektüre von Gen 2-3...........150 Stefan Meißner: Ein Aufbruch zum Segen für viele. Die Berufung Abrahams (1 Mose 12) im christlich-jüdischen Kontext.......................................163 Wolfgang Grünstäudl: „… nicht gewalttätig polternd, so doch klar …“ Karl Hermann Schelkles Zusage einer Mitarbeit an Herders neutestamentlichem Kommentar..............................................................................173 Markus Schiefer Ferrari: Jesus der Jude – Ein Essay von Lou Andreas-Salomé........195 5

Ulrich Wien: „Samaritergeist“ im Kontrast zum Nationalsozialismus. Eine homiletische Einrede von Viktor Glondys 1931............................................210 Roland Paul: Vom Schicksal jüdischer Kinder in Gurs..........................................235 Rebecca Burkhart: Hans Jonas – Theodizee nach Auschwitz................................245 Bettina Kruhöffer: Schöpfungstheologische Implikationen der Verantwortungsethik Hans Jonas’ – Kritische Anfragen und konstruktive Impulse.........................................................................................................................260 Zeitgemäß Judith Distelrath/Matthias Böckel: „Unterwegs ad orientem“ – Biografische Notizen zu Edith Stein und ihrem Verhältnis zum Judentum........... 280 Christian Cebulj: Erinnern als religionsdidaktische Basiskategorie. Zur Bedeutung der Seelisberger Thesen für das jüdisch-christliche Lernen.......... 297 Matthias Bahr: Unterwegs zum erwachsenen religiösen Lernen. Erinnerungsgeleitete Religionslehrer*innenbildung.......................................................310 Joachim Theis: Das Bildungspotential der Religionen für Erwachsene erschließen. Plädoyer für die Notwendigkeit einer religiösen Erwachsenenbildung...................................................................................................328 Birgitta Greif: „Himmlisch gut!“ Professor Dr. Wolfgang Pauly, ein Glücksfall für die Nachqualifikation im Fach Katholische Religionslehre...........344 Wolfgang Urbany: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“...................................348 Bettina Reichmann/Stefan Schwarzmüller: Zwischen Ursprung und Heimatlosigkeit – Gedanken zur Kunst von Madeleine Dietz..............................356 Elżbieta Adamiak: „Der liebevolle Erzähler“. Ein Traum von Olga Tokarczuk................................................................................367 Wolfgang Pauly: Wissenschaftlicher Werdegang....................................................380 Wolfgang Pauly: Literaturverzeichnis (in Auswahl)...............................................382

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Einleitung Momentaufnahme März 2020: Geschlossene Kindergärten und Schulen, verwaiste Geschäfte in den Innenstädten, Lebensmitteleinkäufe unter enormen Sicherheitsvorkehrungen, Gottesdienste in leeren Kirchen, Ausgangsbeschränkungen in ganz Deutschland; auch an Universitäten geschlossene Hörsäle und Bibliotheken, geschlossene Sekretariate, Kontakte nur über E-Mail oder Telefon – ein neuartiges Virus hat die ganze Welt im Griff und wirkt sich auch auf unseren Alltag aus. So beendet Wolfgang Pauly seine Tätigkeit an der Universität Koblenz-Landau nahezu unbemerkt. Still und leise räumt er sein Büro in der Landauer Bürgerstraße. Wer ihn kennt, mag darüber trotz der widrigen Umstände schmunzeln – entspricht ein solch ruhiger, unaufgeregter, wenig Aufsehen erregender Start in den Ruhestand doch auch seiner Art. Mitten in dieser gesellschaftlichen Umbruchszeit – für Wolfgang Pauly auch persönlich eine solche – sind drei Theologinnen, Kolleginnen von Wolfgang Pauly in Landau, dabei, eine Festschrift für ihn herauszugeben: aus Anlass seines 65.  Geburtstages, seines 30-jährigen Dienstjubiläums und seiner Emeritierung. Denn er hat Spuren hinterlassen, nicht nur im Institut für Katholische Theologie und in anderen universitären Kontexten, sondern auch in den Biographien der Menschen, die ihm begegnet sind, durch sein reflektiert-theologisches Wissen, seine Lebensweisheit, seine Fähigkeit zum Lehren, Erzählen und Zuhören, seinen Umgang mit Studierenden, seine kollegiale Solidarität und freundschaftliche Zugewandtheit. Immer wieder haben sich die (Glaubens-)Wege gekreuzt, manchmal auch Weggemeinschaften gebildet, deshalb lautet der von uns gewählte Titel für diesen Band Glaubenswege. Aufgeklärt – kritisch – zeitgemäß. Dieser Titel drückt aus, was unserer Wahrnehmung nach nicht nur die wissenschaftliche Arbeit von Wolfgang Pauly ausmacht, sondern auch seinen persönlichen Werdegang. Beides will diese Festschrift in besonderer Weise würdigen. Aus unserer Sicht vertritt Wolfgang Pauly eine Theologie, die Lebenserfahrungen und Biographien mit unterschiedlichen Glaubensentwürfen zusammenbringt. Sein theologischer Ansatz schafft über Identifikationsfiguren der Vergangenheit eine Verbindung zu Fragen der Gegenwart und reflektiert den Glauben 7

im lebendigen Dialog mit der Philosophie. Dabei geht es ihm immer um den Menschen in seiner freien, reflektierten Beziehung zum Nächsten und zu Gott. Seine Theologie ist sich stets der jüdischen Wurzeln des Christentums sowie der sich aus der jüdisch-christlichen Vergangenheit ergebenden Konsequenzen bewusst. Aufgeklärt, kritisch und zeitgemäß sind drei wesentliche Aspekte im Werk Wolfgang Paulys. Drei Aspekte, die genauso für die Denkwege seiner Weggefährtinnen und -gefährten wichtig sind. An diesen Aspekten orientiert sich auch die Festschrift, wobei klar sein muss, dass es sich nicht um trennscharfe Kategorien handelt, sondern dass in den Beiträgen jeweils einer der Aspekte besonders im Vordergrund steht. Aufgeklärt bezieht sich zuerst auf eine philosophische Epoche, die die Vernunft als vorrangige oder einzige Erkenntnisquelle annimmt. Aufgeklärt bedeutet aber auch, rational und mit wissenschaftlicher Redlichkeit auf alle Phänomene einzugehen, auch und gerade auf solche, die vordergründig vielleicht irrational erscheinen: Glaube, Offenbarung, Gottesfrage. Das kritische Denken ergibt sich aus dem Anspruch der Aufklärung. In der jüdischen sowie der christlichen Theologie bedeutet Kritik konkret, das göttliche Wort im menschlichen Wort wahrzunehmen und seine scheinbare Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Es beinhaltet auch die Fähigkeit zur Selbstkritik und wiederholten Reflexion eigener Deutungsmuster, was gerade im wissenschaftlichen Diskurs eine bedeutende Rolle spielt. Eine zeitgemäße Theologie bemüht sich darum, Menschen unter den Bedingungen der gegenwärtigen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen die Botschaft des Evangeliums zugänglich zu machen. Die Initiative zu dieser Festschrift stieß auf ein breites Echo bei denjenigen Menschen, in deren (Glaubens-)Weg Wolfgang Pauly auf ganz unterschiedliche Weise eingeschrieben ist. Ihre Wege haben diejenigen von Wolfgang Pauly in verschiedenen Phasen seines Arbeitslebens gekreuzt. Zu Beginn seines wissenschaftlichen Weges war Wolfgang Pauly wissenschaftlicher Assistent bei Gotthold Hasenhüttl an der Universität des Saarlandes. Dieser Autor widmet seinem theologischen Schüler den programmatischen Aufsatz „Das Fundament des Glaubens“ und eröffnet damit dank seiner rational-kühnen theologischen Analyse biblischer, kirchenamtlicher und literarischer Texte einen weiten Horizont. 8

Die nächsten drei Beiträge stellen Denker, Theologen und Religionspädagogen der historischen Aufklärung vor: Die streitbaren Ideen Jakob Wimpfelings, übersetzt und kommentiert von Lenelotte Möller, geben Einblicke in die theologische Denkweise kurz vor der Reformation. Hans Mercker präsentiert Paul Thiry Baron von Holbach, einen radikalen Aufklärungsphilosophen, Enzyklopädisten, und geistigen Wegbereiter der französischen Revolution. Schließlich widmet der Religionspädagoge Werner Simon der Epoche der katholischen Aufklärung mit ihrem Vertreter Joseph Anton Gall einen Beitrag. Hans Ammerich stellt am konkreten Beispiel von Paul Josef Nardini, einem Priester und Sozialreformer des 19. Jahrhunderts, dar, wie das Gedankengut der Aufklärung weitergewirkt hat. Lothar Bluhms Beitrag, in dem er die Anbindung der Literatur an eine geistliche Tradition untersucht, zeigt die institutionelle Verankerung der Theologie in Landau in anderen Kultur- und Sozialwissenschaften. Eine einzigartige Komposition stellt Werner Müller zusammen. Er geht von der philosophischen Anthropologie Maurice Merleau-Pontys aus und entwickelt in Zusammenhang mit der christlichen Theologie des Mahls eine eigene „Gastro-Theologie“. Die kritisch-politische Funktion der Theologie veranschaulicht der Beitrag von Karlheinz Ruhstorfer anhand einer höchst aktuellen Diskussion über die Lage der Kirche im März 2020. Als Absolventin, die während ihres Studiums auch von Wolfgang Pauly zu kritisch-theologischem Denken angeleitet wurde, setzt sich Lena Lassahn mit politisch relevanten Fragestellungen auseinander, indem sie feministische Exegese betreibt. Wolfgang Grünstäudl zeigt am Beispiel des Exegeten Karl Hermann Schelkle, wie wichtig in der Theologie gerade auch der Mut und die Entschlossenheit einzelner Menschen sind. Mehrere Beiträge befassen sich mit den Aspekten des jüdisch-christlichen Dialogs. Stefan Meißners Betrachtung Abrahams als Monotheist berührt die zentrale Frage des Trialogs der abrahamitischen Religionen. Welche Bedeutung dem Judesein Jesu zuzuschreiben ist, überlegt Markus Schiefer Ferrari am Beispiel eines Essays der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé. Ulrich Wien stellt Viktor Glondys, einen kritischen Theologen, vor, der bereits 1931 darauf aufmerksam gemacht hat, dass eine nationalistische Ideologie nicht mit dem Christentum zu vereinbaren ist. Roland Paul erinnert in seinem Beitrag auf bewegende Weise an die Überlebenden der Deportation der jüdischen Bevölkerung in das Lager Gurs, 1940 – also vor 80 Jahren – allesamt noch Kinder. 9

Mit der Theologie Hans Jonas’ beschäftigen sich zwei Beiträge: Rebecca Burkhart setzt sich aus katholischer Perspektive mit der Theodizee nach Auschwitz dieses jüdischen Religionsphilosophen auseinander, Bettina Kruhöffer arbeitet aus evangelischer Sicht an den theologischen Implikationen seiner Verantwortungsethik und legt dabei Denkspuren für höchst aktuelle Fragen zur Bewahrung der Schöpfung frei. Konsequenzen für einen zeitgemäßen Umgang mit interreligiösen Fragestellungen ziehen Matthias Böckel und Judith Distelrath aus Edith Steins Verhältnis zum Judentum. Als Vater und Tochter bringen sie damit auch eine intergenerationelle Perspektive ein. Die folgenden Beiträge schließen an den Gedanken der Weitergabe des dialogischen Gedankengutes von Generation zu Generation an und nehmen einen religionspädagogischen Blickwinkel ein. Christian Cebulj zeigt das Potenzial der Seelisberger Thesen von 1947 zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Versöhnung zwischen Judentum und Christentum für den heutigen Religionsunterricht auf. Matthias Bahr bedenkt ausgehend von aktuellen Menschenrechtsbildungskonzepten die Frage, wie man durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die eigene Gegenwart und Zukunft in einer Demokratie gestalten kann. Joachim Theis plädiert in seinem Beitrag engagiert für eine neue, zeitgemäße religiöse Erwachsenenbildung. Birgitta Greif lässt Lehrerinnen und Lehrer zu Wort kommen, die Wolfgang Pauly während ihrer berufsbegleitenden Nachqualifikation im Fach Katholische Religionslehre kennengelernt haben. Eine doppelte Perspektive nimmt Wolfgang Urbany ein: Als ehemaliger Student Wolfgang Paulys stellt er nun als Dozent nicht nur den Philosophen Martin Buber und dessen faszinierende Ideen dar, sondern beschreibt auch, wie „sein Professor“ ihm darin Vorbild ist, Bubers Ideen in eine Lebenspraxis umzuwandeln. Wie aktuelle Werke aus Kunst und Kultur Inspiration für theologisches Nachdenken sein können, zeigen die beiden letzten Beiträge: Bettina Reichmann und Stefan Schwarzmüller lassen sich durch die Kunst von Madeleine Dietz berühren, die im Geborenwerden und Sterbenmüssen immer ein Transzendentes aufblitzen sieht und das Daraufverwiesensein auszudrücken sucht. Daraus formulieren sie spirituelle und theologische Inspirationen. Elżbieta Adamiak legt ihrer theologischen Interpretation den Roman Taghaus, Nachthaus der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk zugrunde. Zwei Gedanken dieses Romans kommen ihrer 10

Meinung nach Wolfang Paulys Verständnis von Theologie sehr nahe: Grenzüberschreitungen und die Kraft der Erzählung. Danke, Wolfgang! Elżbieta Adamiak Judith Distelrath Bettina Reichmann Ludwigshafen – Rülzheim – Römerberg, Ostern 2020

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Aufgeklärt

Gotthold Hasenhüttl

Das Fundament des Glaubens 1. Einführung Selten finden wir einen Theologen, der sich so intensiv um den Dialog zwischen Christen und Juden bemüht, wie Wolfgang Pauly. Er führt den Weg fort, den Edith Stein (1891–1942) in ihrem Werk begonnen hatte. Sie gilt als Brückenbauerin zwischen Christen und Juden. Nach ihrer Konversion zum katholischen Glauben fühlte sie sich weiterhin zum jüdischen Volk gehörend. Als sie von der Gestapo mit ihrer Schwester zusammen verhaftet wurde, um in Auschwitz vergast zu werden (9. August1942), ist eines ihrer letzten überlieferten Worte zu ihr: „Komm, wir gehen für unser Volk“1. Ihr Bemühen, dass Papst Pius XI. 1933 gegen die Judenverfolgung protestiert, blieb erfolglos. Sie schrieb: „Seit Wochen […] hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland […] darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebt […] (wir) fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält“2. Die Kirche schwieg weiter! Es ging Edith Stein primär, wie sie selbst sagte, nicht um die Institution Kirche und ihre Dogmen, sondern um die Menschlichkeit, der sie ohne Unterschied der Rassen und Nationen dienen wollte. Ein Zeugnis dafür ist ihr freiwilliger Rot-KreuzDienst im Lazarett in Mährisch-Weißkirchen (1915), wo sie, nach Angaben des

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So lautet die Aussage der Augenzeugin und Nachbarin des Echter Karmels Marike Delsing, die die Geschwister Stein zum Polizeiauto begleitete. Vgl. dazu Müller, Andreas/​ Neyer, Maria Amata: Edith Stein. Das Leben einer ungewöhnlichen Frau. Düsseldorf 2002, S. 279, Anm. 26. Einen guten ersten Überblick zu Edith Stein bietet auch [https://​ de.wikipedia.org/​wiki/​Edith_​Stein] (Zugriff: 23. März 2020). Der Text des Briefes von Edith Stein, des Begleitschreibens von Erzabt Raphael Walzer (Beuron), der den Brief nach Rom gebracht hat, und die Antwort des Staatssekretärs Eugenio Kardinal Pacelli finden sich bei Neyer, Maria Amata: Der Brief Edith Steins an Papst Pius XI. In: Edith Stein Jahrbuch 10 (2004), S. 18–22. 14

berühmten Spirituals des Germanikums, Pater Klein (1889–1996), der mit einem Kopfschuss eingeliefert wurde, gesund pflegte. Ihre menschliche Haltung bezog sie nicht aus einem bestimmten religiösen Vorverständnis, auch nicht aus einem Glauben an ein vorgefertigtes Gottesbild. „Ich habe mir das Beten ganz bewusst und aus freien Entschlüssen abgewöhnt“3. Es war die Krise ihres Glaubens, den sie später als Wissenschaftlerin bejahend so umschreibt: „Meine Sehnsucht nach der Wahrheit ist mein einziges Gebet“4. Was ist die Wahrheit des Glaubens, ist ihre Frage. Fast alle Religionen sprechen vom Glauben. Was ist damit gemeint? Gibt es einen Brückenschlag zwischen Christen und Juden in der Bedeutung des Glaubens, der eine Verständigungsmöglichkeit eröffnet?

2. Was ist unter Glaube zu verstehen? Ich gehe vom christlichen Glaubensverständnis aus, das m. E. eine Nähe zum jüdischen zeigt. a.) Das Wort „Glaube“ bezeichnet nicht ein unsicheres Wissen, sondern wird für ein Beziehungsgeschehen gebraucht, das nicht die Selbstzerstörung durch Zweifel, Gewissensbisse und Ängstlichkeit hervorruft, sondern die Selbstbejahung unserer Existenz. Sie ist nämlich die Grundlage für die Achtung vor dem Anderen. Wer sich selbst verachtet, schätzt auch den Anderen gering. Darum heißt der Auftrag Jesu: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Dieser Hinweis findet sich im Alten Testament wie im Neuen Testament gleichermaßen. Er wurde auch von den Pharisäern gelehrt. Dieses „wie dich selbst“ meint, dass die rechte Selbstliebe, ohne in einen Egoismus zu verfallen, die Bedingung der Bejahung des Mitmenschen ist. Nur so lässt sich auch ein Vertrauensverhältnis (auf Gegenseitigkeit) aufbauen: Vertraue, glaube an meine Liebe! Es geht hier nicht um ein unsicheres Wissen, das 3

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Harbecke, Heike: Wer war Edith Stein? In: Kirche+Leben Lexikon Netz. Das katholische Online-Magazin [https://​www.kirche-und-leben.de/​artikel/​wer-war-edith-stein/​] (Zugriff: 23. März 2020). Dieses Zitat von Edith Stein findet sich in: Sonntagsgruß, 6. Januar 2019. Erscheinung des Herrn. 94. Jahrgang. Nr.  1 [http://​ www.doncamillo.de/​ fileadmin/​ doncamillo/​ Download/​Sonntagsgruß/​2019/​SoG_​01_​-_​06._​Januar_​2019.pdf] (Zugriff: 23.  März 2020). 15

auf einen Nachweis wartet. Wer einen Beweis für Vertrauen und Liebe verlangt, hat bereits die Beziehung zerstört. Sicher können das Vertrauen wie das technische Wissen missbraucht werden, aber die Nächstenliebe gilt auch dann, wenn sie verweigert wird und den Liebenden zutiefst enttäuscht. Der Missbrauch des Vertrauens trifft die Person entscheidend. Beim Wissensmissbrauch werden Dinge zweckentfremdet und fügen äußeren Schaden zu. Vertrauensmissbrauch zerstört personale Beziehung und Existenzweise. Menschen hingegen, die einander vertrauen können, glauben aneinander und können aufeinander zählen. Glaube meint hier eine Beziehung, die sich durch dick und dünn bewährt. Sie gibt Sinn und Halt im Leben und macht gerade dadurch das Leben lebenswert. Ohne ein Minimum an Vertrauen und Glaube ist menschliches Leben nicht möglich. Wenn ich aus meiner Wohnung trete, vertraue ich darauf, dass ich nicht überfallen oder getötet werde. Wenn mir ein Unbekannter begegnet, glaube ich nicht, dass er Böses im Schilde führt und ich in Gefahr bin. Wenn ich in einer Stadt jemanden nach dem Weg frage, glaube ich nicht, dass er mich belügt oder in die Irre führt. Ich glaube und vertraue ihm. b.) Dieser Wortgebrauch führt uns jedoch auch in die Nähe des „religiösen“ Begriffs: Glaube. Glaube ist „Wissen mit dem Herzen“ und meint Vertrauen, Beziehungsaufnahme, ja, Glaube IST bereits Beziehung. Glaube ist in diesem Sinne mit der menschlichen Grundhaltung des Vertrauens identisch. Glaube ist Beziehung zwischen Personen. Er ist die Treue, die zwischen Menschen herrscht. Schon bei den alten Griechen gehört der Glaube zur Freundschaft und ist das höchste Gut, höher als aller Reichtum und Besitz (Gorgias, Xenophon). Glaube meint daher nicht bestimmte Inhalte oder Eigenschaften, sondern die Person, die konkrete Existenz (des Du). Wenn jemand sich von einem Menschen abwendet oder sich von ihm trennt, weil er schwer krank ist und keine Leistung mehr erbringt, der hat diesen Menschen nie in seiner Person angenommen, ist nie eine vertrauende Beziehung eingegangen, sondern hat sich nur seine Vorzüge zu eigen gemacht. Wer an einen Gott glaubt, der seinen Vorstellungen und Wünschen entsprechen muss, der hat an einen Götzen geglaubt, den er sich selbst gemacht hat. Glaube ist hingegen Beziehung, relatio, die meine und die Existenz des Anderen trifft. Er ist Bezug der Personen aufeinander in Treue und Vertrauen. Glaube betrifft primär nicht die Eigenschaften des Anderen, nicht die Vorstellungen, die ich von ihm habe, sondern Glaube ist Miteinanderdasein, ist existenziell, Existenzerhellung. 16

3. Glaube als Unterwerfung Nun begegnet uns in der Kirche, vor allem seit dem 1. Vatikanischen Konzil, ein völlig anderer Glaubensbegriff, obwohl nie definiert wurde, was Glaube wirklich bedeutet. Gegen die Autonomie der menschlichen Vernunft wird erklärt, dass der Glaube von Gott befohlen (imperari), verordnet wird.5 Glaube bedeutet Unterwerfung. Im Katechismus der katholischen Kirche von 1993 heißt es: „Durch den Glauben ordnet der Mensch seinen Verstand und Willen völlig Gott unter“ (Nr. 143). Benedikt XVI. denkt ähnlich, indem er lehrt: Glaube ist der Gehorsam, den der Mensch Gott und der Kirche gegenüber leistet.6 Der Glaube ist also nicht nur an Gott, sondern auch an die hierarchische Institution Kirche gebunden, die als „Lehrmeisterin“ bezeichnet wird. Gott und Kirche werden zu formalen Autoritäten, denen sich der Mensch im „Glaubensgehorsam“ zu unterwerfen hat. Dies widerspricht dem jesuanischen Gedankengut. Zu Recht spricht schon Gregor von Nazianz (335–390) vom Glauben: „Der Glaube geht in die Brüche, wenn er als Deckmantel für die ehrgeizige Rechthaberei […] dienen muss“7. Während der paulinische Begriff des „Glaubensgehorsams“ sich auf das Hören der Botschaft bezieht, durch die Menschen die Erfahrung der Nähe Gottes machen können, wird kirchlicherseits mit diesem Begriff ein Herr-Knecht-Verhältnis errichtet. Aus dem Hinhören wird Hörigkeit. Ignatius von Loyola formuliert in seinem Exerzitienbuch (Nr. 365) diese Haltung, die er für richtig hält, treffend: „Wir müssen […] immer festhalten: Ich glaube, dass das Weiß, das ich sehe, schwarz ist, wenn die Hierarchische Kirche es so definiert“, denn Gott und die Kirche sprechen im gleichen Hl. Geist. [Bei einer solchen Behauptung wird einem buchstäblich schwarz vor Augen. Eine solche Autoritätshörigkeit führt zum blinden Gehorsam, zum Unterwerfungsgehorsam, der schließlich zum „Eichmanngehorsam“ der NS-Zeit führt, der Menschen um einer Ideologie willen vernichtete.] 5

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Vgl. Denzinger, Heinrich: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen/​Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei. Freiburg i. Br./​Rom/​Basel u. a. 1991, Nr. 3031. Kompendium zum Katechismus der Katholischen Kirche, München 2005, Nr.  25 [http://​www.vatican.va/​archive/​compendium_​ccc/​documents/​archive_​2005_​compendium-ccc_​ge.html] (Zugriff: 23. März 2020). Brief an Basilius. In: Schott I, hrsg. von den Benediktinern der Erzabtei Beuron, Freiburg i. Br. 1984, S. 1484. 17

Der Jakobusbrief (2,19) lehnt dieses Glaubensverständnis ab und bezeichnet es als dämonisch. Menschen behaupten, an Gott zu glauben, und sagen: Es gibt nur einen Gott. Das mag richtig sein, aber: „Die Dämonen glauben es auch und zittern“. Ein vorgeschriebener, verordneter Glaube ist ein dämonischer, teuflischer Glaube. Er führt nicht zum Heil. Glaube besteht hier nicht in der Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und Verstehens, sondern in absoluter Unterwerfung; das aber ist Entmenschlichung. Sie liegt nicht nur an der Autoritätshörigkeit selbst, sondern auch an den inhaltlichen Bestimmungen. Die Unterwerfungsautorität ist nämlich nicht nur formal, sondern hat feste Inhalte, die anzunehmen und zu glauben sind. Im erwähnten Katechismus ist zu lesen: „Wir glauben alles, was im geschriebenen und überlieferten Wort Gottes enthalten ist und was die Kirche als von Gott geoffenbarte Wahrheiten zu glauben vorlegt“ (Nr. 182), denn der Glaube „ist ein kirchlicher Akt“ (Nr. 181). Durch die Kirche kommen wir zum Glauben und darum müssen wir alles glauben, was die Kirche als Offenbarung lehrt. Glaube ist Ja-sagen zu allen Sätzen, die die Autorität zu glauben vorlegt. Sie betreffen die Glaubens- und Sittenlehre. Wille und Verstand haben sich diesen unterzuordnen. Da alles, was der Mensch ist und hat, von Gott kommt, kann es im kirchlichen Verständnis gar keinen Widerspruch zwischen Vernunft und Glaube geben.8 Der Glaube geht über alles Verstehen hinaus und ist daher Geheimnis. Glaubenssätze sind ein Mysterium. Vielleicht werden sie deshalb auch oft als mysteriös empfunden? Hingegen wird festgehalten, dass der Glaube nur die Vernunft vollendet. Der Glaube steht über der Vernunft und kann nicht irren, weil er ein freies Geschenk Gottes ist. Daher steht auch die Philosophie „unter der Autorität des Lehramtes“9. Der Glaube ist immer an Satzwahrheiten gebunden, die „immerwährende Gültigkeit“10 besitzen. Hinter den Lehrsätzen der Kirche ist kein Fragezeichen gestattet. Die Kirche, die mit göttlicher Autorität lehrt, kann nicht irren, sie ist unfehlbar. Soweit ging nicht einmal im Mittelalter Thomas von Aquin11. Der Glaubensvollzug, lehrte er, richtet sich nicht auf Satzwahrheiten, sondern auf das Wahrheitsge-

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Vgl. Johannes Paul II.: Enzyklika Fides et ratio. Vatikan 1998, Kap. I, 8–9 [http://​www. vatican.va/​content/​john-paul-ii/​de/​encyclicals/​documents/​hf_​jp-ii_​enc_​14091998_​ fides-et-ratio.html] (Zugriff: 23. März 2020). Ebd., Kap. VI, 77. Ebd., Kap. VII, 96. Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II/​II, 1.2 ad 2. 18

schehen selbst, wie auch Edith Stein meinte. Die verordneten Dogmen sind nicht das Entscheidende, wie auch Karl Rahner immer wieder behauptete. Sie können nur als Leitplanken oder Verkehrszeichen dienen, die auf Gefahren aufmerksam machen. Ein Glaube, der Kadavergehorsam ist, der meint, an Sätzen den rechten Weg festmachen zu können, ist ein toter, ja tötender Glaube. Die selbst verantwortete Lebensgestaltung wird ausgeschlossen. Der Glaube wird zu einem Tanz des Nasenbären vor dem Dresseur. Die unbedingte Autorität des Glaubensinhaltes ist das Fundament. Der Glaube hingegen, den Jesus meinte, der in der Liebe wirkt, ist Vertrauen, der das Herr-Knecht-Verhältnis überwindet. Hier gilt der Satz des Paulus (1  Kor  13): „Und hätte ich einen Glauben, der Berge versetzt, hätte aber die Liebe nicht, ich wäre nichts und verloren.“ Wenn der Gedanke der Menschwerdung (Menschlichwerdung) Gottes in Jesus einen Sinn hat, dann kann sich der Glaube niemals gegen Menschen wenden und seien sie sogenannte „Ungläubige“, sondern er hebt alle Unmenschlichkeit auf. Nur ein Glaube, der nicht autoritätsfixiert ist, kann die unantastbare Würde des Menschen achten und zur Dialogfähigkeit führen. Glaube verweist auf eine andere Dimension des Menschseins, wie sie sich etwa in Kunst, Literatur und besonders in Freundschaft und Güte, in Vertrauen und Liebe ausdrückt. In allen autoritären Systemen werden sie unterdrückt.

4. Der Glaube in der Bibel Werfen wir einen Blick auf das Alte Testament. Auffallend ist, dass schon im Alten Testament, wenn vom Glauben gesprochen wird, eine bestimmte Inhaltsangabe fast immer fehlt. Der Mensch macht verschiedene Erfahrungen in seinem Leben. Wenn er diese mit der Gegenwart Gottes, d. h. mit einer Gotteserfahrung verbindet, sagt er mit seiner ganzen Existenz: Amen, und das heißt: Ich glaube. Gotteserfahrung erweckt im Menschen Vertrauen. Im gläubigen Vertrauen hat er einen neuen Zugang zur Wirklichkeit. Er baut nicht mehr auf Besitz, Macht und Autorität. Auf alles, was er haben kann, ist kein Verlass. Eine andere Wirklichkeitsdimension eröffnet sich ihm. Jesaias (7,9) tadelt den König, weil er sich auf seine Streitmacht verlässt und von ihr die politische Rettung erhofft und nicht im Vertrauen glaubt, dass ihm Heil geschenkt wird. Die eigene Leistung begründet kein Vertrauen, keinen Glauben. Der Glaube ist eine andere Existenzform, 19

der die Möglichkeit der Gotteserfahrung im eigenen Leben ernst nimmt. Glaube heißt im Alten Testament im Wesentlichen nicht an die Existenz eines Gottes (Jahwe, El) glauben, sondern in geschichtlichen Ereignissen Gottes Gegenwart erfahren. Abraham gilt als Vater des Glaubens. Dabei richtet er sich nicht auf das Vorhandensein Gottes, sondern auf zukünftige Erfahrungen. So ist der Glaube auch nicht auf etwas „Übernatürliches“ ausgerichtet, sondern auf geschichtliche Zukunft, auf ein Geschehen, das Zukunft verheißt. Das ist Abrahams Glaubensgerechtigkeit. Es wird auch keine personale Beziehung zu einem transzendenten Wesen dadurch geschaffen. Wenn der Mensch sieht, dass nicht alles von innerweltlichen Kausalitätszusammenhängen bestimmt ist, sondern vielmehr vertraut, dass die Wirklichkeit darüber hinausgeht, dann lebt er im Glauben. Vertrauenserweckende Erfahrungen bedeuten dann für ihn Gottes Gegenwart. Diese schließen jedoch negative Erfahrungen nicht aus, wie an Hiob abzulesen ist, der seine Gesundheit und all seinen Besitz verloren hatte. Auch die namenlosen Kranken und Leidenden sind nicht verlassen, selbst wenn sie Gottes Wirklichkeit in Frage stellen. Heilserfahrung ist auch in verzweifelter Situation möglich. Keine Situation ist zum Verzweifeln – das meint Glaube. Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von „Seinsvertrauen“, das dem Menschen zukommt. Menschen sind nicht nur auf Gegenstände fixiert, nicht nur auf Umwelt, wie die Tiere, sondern auf Welt, auf das ungegenständlich Ganze, auf das Sein selbst. Nicht Haben, sondern Sein heißt die Überlebenschance für die Menschheit, für die menschliche Personengemeinschaft, damit sie nicht zu einem allein triebgesteuerten Lebewesen herabsinkt. Menschsein konstituiert sich in der Beziehung der Freundschaft, der Güte und des Vertrauens. Nur davon kann der Mensch leben, ohne dass seine Freiheit vom tierischen Instinkt oder autoritären Herrschern in Ketten gelegt wird. Eine ganz ähnliche Grundstruktur des Glaubens finden wir auch im Neuen Testament. Der Glaube ist nicht objektgebunden, wird nicht an einen bestimmten inhaltlichen Gegenstand geknüpft. So verstanden wird nicht vom Glauben AN Gott gesprochen. Über 200 Mal wird im Neuen Testament vom Glauben gesprochen, aber nie wird er mit einem bestimmten Objekt verbunden. Das Verhältnis zu Gott wird nicht mit „ich glaube an Gott“ bezeichnet. Für die synoptische Tradition ist es charakteristisch, dass der Glaubensbegriff immer absolut verwendet wird. Nie spricht Jesus nach einer (Wunder)heilung: „Dein Glaube an Gott hat dir geholfen“, 20

aber auch nie: „Deine Treue zum Gesetz, zu Gottes Vorschriften und Weisungen hat das Heil erwirkt.“ Aber auch Jesus wird nicht zu einer formalen Autorität, sodass der Glaube an Jesus zu einem Heilsglauben hochstilisiert wird. Immer heißt es nach einer Wunderheilung, nach einer Sündenvergebung, nach einer seelischen Gesundung: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Der heidnische Hauptmann (Mt 8), der sich für seinen kranken Sklaven einsetzt und sicher nicht zimperlich mit seinen untergebenen Soldaten oder gar Feinden umgegangen ist – der weder an den jüdischen Gott Jahwe noch an seine Gesetze geglaubt hat –, setzt sein Vertrauen auf die Hilfe durch Jesus. Indem er für einen völlig rechtlosen Menschen bittet, geschieht in dieser Beziehung das Wunder durch Jesus. Nicht einmal der Krankenbesuch ist notwendig, das Wort Jesu genügt ihm, um an das Heilsgeschehen zu glauben. Sei es ein Blinder oder Gelähmter, eine Sünderin oder Hure, immer wird die vertrauende Beziehung, der Glaube als Heilsursache angesehen. Aber es gibt auch genau das Gegenteil. Jesus kommt nach Nazareth (Mk 6,5f.). Es gibt viele leidende Menschen in seiner Heimatstadt. Aber es heißt: Jesus KONNTE dort keine Wunder tun, keine einzige Heilstat (dynamis) vollbringen. Er war ohnmächtig wegen ihres Unglaubens (apistia). Wenn Maria hört, dass der Engel ihr sagt: „Bei Gott ist alles möglich“ (Lk 1,37), dann ist das keine allmächtige Zauberkraft, die tun kann, was sie will, sondern sie gilt nur für den Glaubenden. Nur die vertrauende Beziehung kennt keine Grenzen, sie allein eröffnet einen unbegrenzten Freiraum. Dem Menschen, der sich vor Vertrauen und Liebe verschließt, kann nicht geholfen werden. Die Liebe, Jesus, der Mensch für andere, sind völlig machtlos und Gotteserfahrung wird unmöglich. Darum der Ruf Jesu zur Umkehr, denn nur in der Haltung des Vertrauens kann der Bereich Gottes den Menschen nahe sein. Auch wenn wir in einer hoffnungslosen Situation beziehungsbereit sind, wenn wir trotz aller Enttäuschung an den Menschen glauben, dann ist Rettendes nahe. Sicher, Vertrauen wird nicht immer belohnt, ja es kann sogar, wie wir an Jesus Christus ablesen können, tödlich sein. Aber Vertrauen und Glaube machen den menschlichen Menschen aus. Jesu Aufruf zum Glauben fordert uns auf, angstfreie, beziehungsfähige Menschen zu werden. Der Glaube orientiert sich an der Lebensform Jesu. Sie kann man nicht „haben“, sondern nur im eigenen Leben verwirklichen und vollziehen. Darum sieht Paulus den Glauben und die Werke als scharfe Gegensätze. Werke sind Handlungen, die unsere Leistungen messen. Menschliches Leben aber wird 21

nicht durch Leistungen sinnvoll, sondern nur in der vertrauenden Beziehung, in der wir uns auf den Anderen und die Welt einlassen. Glaube wird nicht in der Askese oder durch Kasteiungen aller Art offenbar (wie z. B. durch Fastengebote u. a.), sondern in der vertrauensvollen Verantwortung für den Mitmenschen. Andersdenkende Menschen zur Ehre Gottes zu verfolgen, wie es Paulus glaubte, tun zu müssen, ist Misstrauen und Unglaube, weil menschenverachtend. Paulus verweist bei der Glaubensfrage auf Abraham. Weil er glaubte, erkannte er, dass Gott niemals ein Menschenopfer verlangt, obwohl die religiöse Forderung der Erstgeburtstötung dagegenstand. Dieser Glaube machte ihn zum Gerechten. Die Beschneidung und alle Gesetzesgerechtigkeit sind keine Heilswege. Weder ein religiöser Inhalt noch eine Autorität von Gottes Gnaden kann Leben schenken, sondern nur der Glaube und d. h. die vertrauende Beziehung auf den Mitmenschen. Das Gelingen dieser Relation ist jedoch nicht das Kriterium, denn dadurch würde der Glaube wieder zu einem Werk, zu einer „guten Tat“ und verlöre den Beziehungscharakter. Glaube heißt Sinngebung durch Beziehung.

5. Glaube als mitmenschliche Beziehung Was das bedeuten kann, versucht Victor Hugo in seinen Roman Les Misérables12 darzustellen. (Bezeichnenderweise setzte die katholische Kirche diesen Roman auf den Index.) Der notleidende Jean (Valjean) wird bei einem Brotdiebstahl – er bricht in eine Bäckerei ein – ertappt. Er wird vom Richter zur Galeerenstrafe verurteilt. Weil er einen Fluchtversuch unternimmt, kommt er erst nach 19 Jahren frei. Victor Hugo notiert: Als er in die Galeere kam, war er noch gut, dort wurde er böse und gottlos. Endlich in Freiheit, sucht er ein Nachtquartier. Kein christlicher Wirt nimmt ihn auf. Die Dorfbewohner verriegeln ihre Türen und Herzen. Allein der Bischof des Ortes gewährt ihm Einlass und Nachtlager. In der Nacht stiehlt Jean das gesamte Silberbesteck des Bischofs und macht sich damit auf und davon. Die Polizei greift ihn jedoch auf und bringt ihn zum Bischof zurück. Wie würden Sie auf diese Undankbarkeit, auf diesen Vertrauensbruch reagieren? Um den Dieb der sog. „Gerechtigkeit“ zu entziehen und vor ihr zu schützen, lügt nun der Bischof: „Ich hatte Ihnen doch auch die silbernen Leuchter geschenkt, 12

Hugo, Victor: Die Elenden. Berlin o. J. 22

warum nahmen Sie sie nicht mit dem Silberzeug mit?“13. Der Bischof wusste nicht, was dieses Verhalten bewirkt, ob der Dieb sich dadurch ändern wird oder nicht, aber er will das Böse durch das Gute besiegen, er will ihm trotz allem vertrauen, er will an den Menschen glauben. Er macht mit der Botschaft Jesu ernst. Nachdem die Polizei sein Haus verlassen hatte, sagt der Bischof zum Abschied zu Jean: „Wenden Sie das Geld gut an, um ein guter Mensch zu werden. Hier nehmen Sie die Leuchter.“14 In der Erzählung ist es wichtig, dass sich Jean keineswegs durch das Verhalten des Bischofs sofort zum Guten verändert. Erst als er auch noch einem kleinen Jungen, der ein Vierzig-Sous-Stück versehentlich fallen lässt, dieses wegnimmt und stiehlt, sieht er sein Unrecht ein und findet zur Umkehr. Er will ab jetzt nicht nur gut sein, sondern sich für eine bessere Welt einsetzen. Die sogenannte „Gerechtigkeit“ durch Vertrauen und Glauben, der in der Liebe wirkt, zu überbieten, ist und bleibt ein Wagnis. Dieses lohnt sich aber auch dann, wenn dadurch Unrecht nicht überwunden wird. Nicht die Leistung und der Erfolg, sondern die Beziehung zählt, d. h. der Glaube. Im Vorwort zu diesem Roman meint Victor Hugo: Eine Gesellschaft, die das Elend, eine Religion, die die Hölle, eine Humanität, die den Krieg zulässt, ist keine Gesellschaft, keine Religion und keine Menschlichkeit. Nicht die Gerechtigkeit, auch nicht die Barmherzigkeit, sondern nur der vertrauende Glaube kann das Elend der Menschheit überwinden. Glaube ist Aufnahme des Anderen als Anderen ohne Wenn und Aber. Die Beziehung und nicht der Besitz zählt. Das Johannesevangelium stellt deshalb zwei Existenzweisen gegenüber: Glaube und Sehen. Selig, die glauben und nicht sehen! (Joh  20,29). Unter „sehen“ versteht der Evangelist ein gegenständliches Wahrnehmen, ein Betastenkönnen, das eine Art der Besitzergreifung ist. Glaube ist daher kein Festhalten an der Habe, kein Wissen, das man sich zu eigen macht, keine Lehre, die ein „Für-wahr-halten“ ist, sondern Vertrauen, das Wahrheit verstehen und erkennen lässt. Biblisch ist Glaube vom „Erkennen“ (gignooskein) nicht zu trennen. Im liebenden Vertrauen „erkennen“ sich Mann und Frau. Glaube ist Erkennen der Beziehungswahrheit (Joh 8,32).

13 14

Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. 23

Was Glaube und Vertrauen in der Menschheit bewirken können, wie dadurch Recht und Ordnung gesprengt werden und der Gerechtigkeitswahn „Aug um Aug“ versiegt, wird beinahe ins Absurde durch die Erzählung des Obstgärtners von Antonin Tschechow gesteigert. In einer Stadt, so erzählt er, ließ sich ein Mensch nieder, der andere heilte. Ja, er liebte die Menschen und grenzte sich dadurch von allem Bösen ab. Eines Tages wurde er ermordet. Der Mörder war bald gefunden und er sollte zum Tode verurteilt werden. Mit Schweiß auf der Stirn rief der Richter: Nein! Wenn ich ungerecht urteile, so mag Gott mich strafen, aber ich schwöre, er ist unschuldig! Ich kann den Gedanken nicht zulassen, dass sich ein Mensch finden konnte, der es wagte, unseren Freund zu töten. Ein Mensch ist nicht imstande, so tief zu sinken! … Einen solchen Menschen gibt es nicht … Und die Menge rief: Lasst ihn frei!15 Der Mörder wurde freigelassen und kein Mensch bezichtigte den Richter der Ungerechtigkeit. „Und Gott, so sagte meine Großmutter, verzieh um dieses Glaubens an den Menschen willen allen Bewohnern des Städtchens ihre Sünden.“16 Tschechow schließt die Erzählung: „Mag der Freispruch den Bewohnern des Städtchens Schaden bringen, aber urteilen Sie selbst, welchen wohltuenden Einfluss dieser Glaube an den Menschen auf sie hatte. Der Glaube bleibt doch nicht tot, er fördert echte Gefühle in uns und veranlasst uns, jeden Menschen zu lieben und zu achten. Jeden! Und das ist wichtig“.17 Der Glaube überwindet den Vergeltungsgedanken, denn, wie es biblisch heißt: „Gott lässt die Sonne aufgehen über Böse und Gute“ (Mt 5,45). Von Tertullian über Pascal bis Kierkegaard wird immer wieder der Satz verwendet: „Credo, quia absurdum“. Ich glaube, weil bzw. obwohl es absurd ist. So heißt es wiederholt nach einer wundersamen Heilung durch Jesus: Wir haben etwas Paradoxes, Unglaubliches, Absurdes gesehen. Das Absurde des Glaubens liegt aber nicht in einer unverständlichen Aussage oder Begebenheit, an die zu glauben ist, sondern in einer „normal menschlichen“ Unverständlichkeit des absoluten Vertrauens. Ein solcher Glaube trotzt der Möglichkeit des Scheiterns, des Missbrauchs und des eigenen Nachteils. Ob sich der Mörder in der Erzäh15

16 17

Tschechow, Antonin: Die Erzählung des Obstgärtners. In: Ders.: Weiberwirtschaft, Späte Erzählungen. Genf o. J., S. 208–213. Ebd. Ebd. 24

lung geändert hat oder nicht, bleibt offen (anders als bei Victor Hugo), aber darauf kommt es primär nicht an, sondern allein auf die vertrauende Beziehung, auch wenn der Glaube keine Berge des Unrechts versetzen kann und das Tal der Tränen bleibt. Ein solcher Glaube ist jedoch die einzige Hoffnung auf ein solidarisches Zusammenleben, durch das Gotteserfahrung möglich werden kann. Darum ermutigt uns Jesus immer wieder zu einem Glauben, der die Angst vertreibt. Glaube ist Kraft der Vergebung und nicht der Vergeltung. Glaube verurteilt nicht, ist niemals Zwang und Gewalt, sondern befreiend. Der Glaube achtet die Würde jedes Menschen. Freiheit und Gleichheit folgen daraus. Auf politischer Ebene heißt er soziale Gerechtigkeit. Die schließt nicht aus, dass in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen Personen vor zerstörerischen Menschen geschützt werden. Hingegen sind in weltlichen Diktaturen sowie in fundamentalistischen Religionen und religiösen Systemen Menschen den Machthabern schutzlos ausgeliefert. Wenn Religionen zur Ehre Gottes Menschen töten, weil sie einen anderen Glauben haben, sei es die Inquisition oder der IS, zeigt dieses Verhalten, dass Religion und Glaube einander widersprechen. Ein Glaube, der mordet, ist ganz und gar Unglaube und teuflisch. Eine solche Religion zerstört die grundlegende Dimension des Menschseins, das Vertrauen. Glaube ist nur Glaube, wenn er Leben und nicht Mord bewirkt. Daher ist der Glaube ein Beziehungsgeschehen der Geschwisterlichkeit und Verzicht auf jede Herrschaft über andere.

6. Was kann ich glauben? Nun wird man vielleicht einwenden: Es mag ja gut und richtig sein, dass der Glaube sich in Solidarität und Zwischenmenschlichkeit erweist und keinem die Menschenwürde abspricht, aber ist das alles? Jeder Glaube hat doch bestimmte Inhalte, die von göttlicher Autorität festgelegt sind. Jede Religion betet doch ihr Glaubensbekenntnis! Es ist richtig, aber auf lateinisch heißt das Glaubensbekenntnis symbolum fidei, Glaubenssymbol! Ein Symbol macht auf eine Sache aufmerksam, gibt einen Hinweis auf etwas Wichtiges, aber ist nicht die Sache, der Gegenstand selbst. Es soll das Zusammenleben der Glaubenden erleichtern, aber darf nicht zu einer Bürde oder zu einem Spaltpilz werden. Aussagen können den Glaubensvollzug verdeutlichen, aber dürfen nie mit dem Glauben selbst 25

identifiziert werden. Alle Glaubensinhalte sind relativ, bezogen auf Zeit und Geschichte und situationsgebunden. Daher kann sich der Glaube durchaus mit verschiedenen, auch unterschiedlichen Aussagen verbinden, ohne sich dadurch selbst zu zerstören. Wenn er jedoch die liebende Beziehung zum Mitmenschen zerstört oder gar vernichtet, ist der Glaube ein leeres Wort, eine, wie Paulus sagt, „klingelnde Schelle“ (1 Kor 13,1). Aber es gibt doch die Autorität, die zum Gehorsam verpflichtet. Treffend sagt Hannah Arendt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“18 Blinder Gehorsam zerstört. Glaube und Vertrauen sind niemals einer Befehlsgewalt unterstellt, können nie befohlen werden. Autoritätshörigkeit ist Missbrauch des Glaubens, ist dialogfeindlich und kappt die Beziehung auf gleicher Ebene. Der Satz Jesu wird umgekehrt: Nicht mehr Knechte nenne ich euch, sondern Freunde (Joh 15,15). Er heißt dann: Sklaven seid ihr und wenn ihr Befohlenes nicht tut, seid ihr Feinde, die ausgeschlossen oder gar ausgerottet werden. Wird der Glaube ohne Autoritätshörigkeit beliebig? Ist seine Freiheit ohne sie vielleicht nur Willkür? Keineswegs! Es gibt einen ganz bestimmten Inhalt des Glaubens: Im christlichen Verständnis ist er die Nächsten- und Feindesliebe. Glaube ist nur heilend, wenn er sich in Liebe vollzieht. Sie treibt auch die Furcht aus, d. h. die Angst vor einer Autorität, die Gehorsam verlangt. „Auf der Angst ruht die Macht, das Reich des Bösen […] über die Angst hinaus vermag es seine Grenzen nicht auszudehnen“.19 Wer Angst hat, ist nach dem Evangelisten Johannes im Glauben schwach, er zweifelt an seinen Entscheidungen, die er in Verantwortung gefällt hat, und ist in der Liebe nicht vollkommen. Glaube als vertrauende Beziehung hat nur in der Liebe seinen Inhalt. Sie erlangt daher grundlegende Bedeutung für das Leben, wenn es glücken soll. Wie steht es jedoch mit dem Gehorsam einer göttlichen Autorität gegenüber? Fast alle Religionen (eine Ausnahme bildet z. B. der Buddhismus) erkennen eine Gottheit als Autorität an. Die Gottheit wird so zum Inhalt des Glaubens und zwar als autoritärer Herrscher, da die Autorität Gottes bzw. der Gottheit zu einer rein 18

19

Radio-Gespräch Hannah Arendt mit Joachim Fest [https://​ www.youtube.com/​ watch?v=jF_​UvHhbZIA] (Zugriff: 23. März 2020); vgl. auch Salzberger, Florian: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Hannah Arendts Philosophie des Umgangs im Anschluss an die Narrativitätskonzeption ihres Spätwerkes. Freiburg i. Br. 2016. Reinhold Schneider, zitiert nach Schott I, hrsg. von den Benediktinern der Erzabtei Beuron, Freiburg i. Br. 1984, S. 751. 26

formalen Autorität wird, die Lohn oder Strafe verspricht, je nachdem ob ihre Gesetze und Gebote eingehalten werden oder nicht. Gegen diesen „Richtergott“ spricht sich im Judentum Jesaias aus: „Seht euer Gott. Die Rache wird kommen, die Vergeltung Gottes“. Und wie stellt sich diese „Rache Gottes“ dar? „Ich selbst werde kommen und euch retten“ (Jes 35,4). Auf diese Weise wird Gott nicht zu einem zweideutigen seienden Wesen, das überdies durch menschliche oder noch häufiger durch unmenschliche Autoritäten spricht. Durch Anpassung an sie wird fälschlicherweise den Menschen ein sinnvolles Leben versprochen: Wenn du tust, was wir sagen, was in heiligen Büchern festgelegt ist, wird dir Heil durch Gott geschenkt. Nun ist aber Gott in der christlichen Botschaft keine autoritäre Macht, sondern Liebe und nur sie! Die Autorität Gottes ist nicht die eines barmherzigen Wohltäters, sondern die Autorität der Liebe und sonst nichts. Daher fällt der Inhalt des Glaubens mit der „Autorität“ des Glaubens zusammen. Theologisch gesprochen sind Formalobjekt und Materialobjekt ein und dasselbe. Gott ist Liebe und zeigt sich in uns durch die Nächsten- und Feindesliebe. Darum sagt auch Augustinus: Die Nächstenliebe ist nicht nur aus Gott, sondern ist Gott selbst.20 Aber in der Nächsten- und Feindesliebe, im Mitgefühl für den Anderen, wird Gott gegenwärtig und erfahrbar, denn ubi caritas et amor, ibi Deus est. Wo die Güte und die Liebe ist, da ist Gott, da ereignet er sich und nur dort. Dabei wird nicht der Mitmensch zu Gott (wie Feuerbach meint: homo homini Deus), sondern in der glaubenden und liebenden Beziehung wird Gotteserfahrung möglich. Dies gibt Hoffnung und die Kraft und Möglichkeit, nicht abzulassen von der Mitmenschlichkeit. Glaube ist nur im Beziehungsgeschehen und ohne dieses ist er tot. Das ist auch der Grund, warum der Glaube als Geschenk bezeichnet wird. Er ist nicht zu kaufen, er ist nicht an einer Universität zu erwerben und ich selbst kann ihn nicht produzieren. Ich kann mich nur auf ihn einlassen. Theologisch spricht man vom Glauben als einem Geschenk der Gnade. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob Gott großzügig wäre und sich uns in einer Geschenklaune als gütig und barmherzig erweise, sondern in einem dialogisch-solidarischen Leben dürfen wir die Gotteserfahrung als Geschenk verstehen. In diesem Sinne bezieht sich der Glaube 20

Augustinus: De trinitate VII, 8,12 [http://​www.unifr.ch/​bkv/​bucha205.htm] (Zugriff: 23. März 2020). 27

nie direkt auf Gott (die Liebe), sondern immer auf Menschen. Es ist wie bei der Lichtquelle, der Sonne. Wer auf sie starrt, wird blind, aber durch sie werden die Gegenstände erhellt und erkennbar. Am Mitmenschen wird die Liebe allein sichtbar. Darum ist auch Gott keine unkontrollierbare Macht, an die der Glaubende sich ausliefert, sondern Macht der Liebe, wie wir an Jesus Christus ablesen können. Norm und Inhalt findet so der Christ paradigmatisch in Jesus Christus, in einer Lebensform, die auch den unsympathischen Menschen liebend annimmt. Für jede Religion sollte dies gelten. Nicht der Inhalt der Aussagen entscheidet, sondern die liebende Beziehung. „Liebe und tue, was du willst, aus der Wurzel der Liebe kann nichts entspringen, was nicht gut ist.“21 Echter Glaube ist leben im Vertrauen und in der Hoffnung, dass Liebe besser ist als alles andere, als Hass, Macht und Habgier, besser auch als der Anspruch, die Wahrheit (den „wahren“ Glauben) allein zu besitzen. Die Liebe ist das letzte Wort über unser Leben. Denn glaubhaft ist nur Liebe.

7. Schlussfolgerung Darin sehe ich einen Anknüpfungspunkt für den Dialog zwischen Christentum und Judentum. Die Glaubenserfahrung ist im Alten Testament bestimmend. Sie geschieht in geschichtlichen Ereignissen, die mit Gott in Beziehung gebracht werden. „Ich werde dasein, als der ich dasein werde“ oder „Ich bin da“ (Ex 3,15) – ein geschichtlicher Zuspruch, der die Verheißung beinhaltet, dass Gott sein Volk nicht verlässt. Wenn wir jedoch nicht den Glaubensvollzug, sondern den Inhalt betrachten, dann werden wir zwischen Christen und Juden Widersprüche feststellen können. Die Wahrheitsfrage wird dann gestellt: Welcher Inhalt des Glaubens ist wahr, welcher falsch? Ist es die Halacha (die Gesamtheit der Gesetze, seien sie schriftlich oder mündlich überliefert) oder sind es die Gebote, Dogmen und Gesetze der Kirche? Es beginnt der Streit über den Wahrheitsgehalt der Aussagen. Die Perspektivität der Wahrheit wird nicht in ihrer Relativität gesehen. Wenn z. B. behauptet wird, dass der Messias in der Gestalt Jesu gekommen sei, andererseits der Jude 21

Augustinus: In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8 [https://​www.augustinus. it/​latino/​commento_​lsg/​omelia_​07_​testo.htm] (Zugriff: 23. März 2020). 28

noch auf den Messias wartet, dann wird darin ein Widerspruch gesehen, so dass kein Brückenschlag beider Religionen möglich ist. Wenn jedoch die Christen auf die Wiederkunft Christi warten, wird die Perspektive verändert. Beide warten auf das Kommen des Herrn, beide sind auf eine geschichtliche Zukunft ausgerichtet. Die Wahrheit wird von einem zeitlich unterschiedlichen Ausgangspunkt gesehen. Sie ist nicht eine unumstößliche Wahrheit, sondern wird im Dialog selbst zur relativen Wahrheit. Wenn ich aber die einzelnen Glaubensaussagen ungeschichtlich absolut setze und alle anderen Glaubensinhalte für Häresien oder gar für Teufelswerk halte, wird die Abgrenzung zur roten Linie. Keine Brücke führt über diese tiefe Schlucht. Was ist dann noch das Gemeinsame? Jesus polemisiert gegen die Gesetzesgerechtigkeit der Pharisäer – genau das Gleiche gilt heute für die Gesetzesgerechtigkeit der Christen. Der Glaube muss durch die Liebe inhaltlich entleert werden. Denn nur der Glaube, der in der Liebe wirkt, ist ein echter Glaube. Darum hängen das ganze Gesetz und die Propheten an dem einen Gebot: Der Gottes- und Nächstenliebe (Mt  22,34f.). Beide Gebote sind so ineinander verflochten, dass der Pharisäer Paulus (Röm 13,8) schreiben wird: „Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.“ Gottesliebe zeigt sich in der Nächstenliebe. Nur dort, sonst nirgends! Ausdrücklich bejaht dies der Schriftgelehrte im Neuen Testament: „Den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und andere Opfer“ (Mk  12,28ff.), also als alle Gesetzeserfüllung, denn diese ist hohl, wenn die Liebe fehlt. Jesus lobt den Schriftgelehrten und sagt ihm zu, dass er nicht fern vom Reich Gottes ist. Im Alten Testament wird dieses Grundgebot ausdrücklich bestätigt (Lev 18,18; Dt 6,4). Also: Alle anderen einzelnen Vorschriften und Gesetze haben ihr Fundament in der Nächstenliebe. Und umgekehrt: Wo ein Gesetz gegen die Nächstenliebe verstößt, ist es kein Glaubensgesetz mehr, weil es sich gegen das Grundgebot stellt. Wenn sich Christen und Juden an das gemeinsame Grundgebot halten würden, gäbe es keine fundamentale Differenz mehr, denn alle Gebote sind für den Menschen da. Ausformungen und Lebensstil sind dann sekundär und können gelebt werden, wenn Menschen dadurch nicht bedrückt, sondern zur Freiheit der Liebe befreit werden. Dann gilt: Amor omnia. 29

Zum Autor (geb. 1933) Dr. phil., Dr. theol., war von 1974 bis 2002 Professor für Systematische Theologie an der Universität des Saarlandes und setzt sich für die gemeinsame Abendmahlsfeier von Christen unterschiedlicher Konfessionen und die Aufhebung des Zölibatszwangs ein. Diese Forderungen sowie weitere Kritik an der starren, fundamentalistisch orientierten Institution der röm.-kath. Kirche brachten ihn in schwere Konflikte mit der Hierarchie. Er wurde 2004 als Priester suspendiert, 2006 folgte der Entzug der Lehrerlaubnis. 2010 trat Hasenhüttl aus der röm.-kath. Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts, nicht aus der Glaubensgemeinschaft, aus. Weitere Informationen: http://www.uni-saarland.de/fak3/hasenhuettl

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Lenelotte Möller

Jakob Wimpfeling – Humanist und kritischer Geist am Vorabend der Reformation Melchior Adams Darstellung und ihre Quellen Eine noch nicht hinreichend untersuchte und ausgeschöpfte Quelle zur Geschichte der Reformationszeit ist die von Melchior Adam verfasste Sammlung von 546 Gelehrtenbiographien vorwiegend des 16. Jahrhunderts. Als eine der wichtigsten Forschungsaufgaben im Bezug auf Adams Werk bezeichnete Robert Seidel „die Erschließung und Analyse des wissenschaftlichen Gebrauchswertes der Vitae“, vor allem in Abhängigkeit von der Zuverlässigkeit der genannten Quellen und der Methode ihrer Verwendung.1 Dies für das ganze Werk zu untersuchen, wie Seidel es für wünschenswert hält, kann zwar der vorliegende Aufsatz nicht leisten, soll es aber wenigstens anhand der Biografie eines Mannes tun, der als kritischer Geist mit einem keineswegs geradlinigen Lebens- und Berufsweg dem Thema der Festschrift für Wolfgang Pauly Rechnung trägt. Nach der Kurzbiographie des beschriebenen Jakob Wimpfeling und des Verfassers Melchior Adam folgt daher der Text der Biographie mit deutscher Übersetzung und Erläuterungen. Diese erklären einerseits die Hintergründe des Textes, andererseits geben sie an, in welchen der von Adam genannten Quellen die jeweilige Information enthalten ist.2

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Seidel, Robert: Melchior Adams Vitae (1615–1620) und die Tradition frühneuzeitlicher Gelehrtenbiographik. In: Kosellek, Gerhard (Hg.): Oberschlesische Dichter und Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien, Bd. 8). Bielefeld 2000, S. 179–204, hier S. 203. Folgende Quellen nennt Adam am Ende der Biographie: 1. Davidis Chytraei Chronicon Saxoniae et vicinarum aliquot gentium: ab anno Christi 1500 usque ad M. D. XCIII. Leipzig 1593, S. 91 bzw. Davidis Chytraei Newe Sachssen Chronica: vom Jahr Christi 1500 biß auffs XCVII. Aus dem vermehrten 31

In einem Fazit werden die Feststellungen zur Quellennutzung und zu den Quellenangaben Adams zusammengefasst.

Jakob Wimpfeling Jakob Wimpfeling wurde am 25. Juli 1450 als Sohn des Sattlers Nicolaus Wimpfeling in Schlettstadt geboren.3 Er besuchte die Lateinschule in Schlettstadt, wo Rektor Ludwig Dringenberg (1410–1477), Begründer der berühmten Humanistenbibliothek, sein Lehrer war. Wimpfelings Mitschüler war Jodocus Gallus aus Ruffach (1459–1517). Während seiner Ausbildung wurde er von Pfarrer Ulrich Wimpfeling († 1478), dem Bruder seines Vaters, unterstützt, der ihn gerne als eigenen Nachfolger auf der Pfarrstelle in Sulz gesehen hätte. Er schickte ihn an die Universität Freiburg und nach Erfurt. 1469 immatrikulierte sich Wimpfeling in Heidelberg. Zu seinen Lehrern dort gehörte der aus Neustadt an der Haardt stammende Pallas Spangel (1445–1512). Dort gewann er Kontakt zum Kreis der Heidelberger Humanisten, darunter Matthias von Kemnath (1430–1476), in dessen Chro-

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letzten Lateinischen Exemplar vom Autore selbst mit fleis reuidirt vnd vbersehen. Leipzig 1597, S. 116, 2. Trithemius, Epistolae. In: Johannes Trithemius: Opera Historica. Hrsg. von Marquard Freher. Frankfurt 1601, Teil II, S. 418–574, hier der Brief Nr. 38, Trithemius an Wimpheling (1507), S.  550 [tatsächlich schreibt Trithemius über Wimpfeling aber auch in seinem Catalogus illustrium virorum. In: ebd., Teil I, S.  121–183, S. 175 und im Catalogus Scriptorum ecclesiasticorum, ebd., S. 184–412, S. 391], 3. Erasmus von Rotterdam: Epistolae, Buch XXIII, Brief an Johannes Vlaten. Der maßgebliche Brief vom 24. Januar 1529 wird hier zitiert nach der Ausgabe Desiderii Erasmi Epistolae … ordine temporum … Pars posterior. Leiden 1706, S. 1140– 1142, 4. Caspar Hedio: Chronica der alten christlichen Kirchen. Straßburg 1545, Buch XIII [richtig: Buch XII, S. 484]. Die kurze Vorstellung Wimpfelings folgt, soweit nicht anders angegeben: Mertens, Dieter: Wimpfeling (Wimpheling, -ius, Sletstattinus), Jacob. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von Franz Josef Worstbrock, Bd. 2: L-Z. Berlin/​Boston 2013, Sp. 1289–1375 und ders.: Jakob Wimpfeling (1450–1528). Pädagogischer Humanismus. In: Schmidt, Paul Gerhard (Hg.): Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Sigmaringen 1993, S. 35–57. 32

nik4 einige Gedichte Wimpfelings enthalten sind. Ebenso konnte Wimpfeling Bekanntschaft schließen mit Johann von Dalberg (1455–1503), dem späteren Wormser Bischof und Kanzler der Universität Heidelberg, schließlich sogar mit dem Haus Kurfürst Philipps des Aufrichtigen (1448–1508), dem er seine frühe Dichtung widmete. Spätestens 1474 wurde Wimpfeling zum Priester geweiht, 1481/​82 war er Rektor der Universität. 1484 ging Jakob Wimpfeling als Domprediger nach Speyer, 1487 wurde er Domvikar. Hier beschäftigten ihn besonders die Themen Reform des Klerus, das Schulwesen sowie der Buchdruck. Als Ausgangspunkt für eine Reform der Kirche sah Wimpfeling eine Reform der Kindererziehung, und er begann mit der Abfassung von Lehrbüchern. In Speyer entstanden auch einige seiner größeren Dichtungen. Berühmt ist sein Lobgedicht auf den Dom zu Speyer.5 In dieser Zeit plagte ihn aber auch der Zweifel an seiner bisherigen geistlichen Lebensform, und er fasste den Plan, sich in eine einsame Priestergemeinschaft zurückzuziehen. Er gab seine Pfründe auf, doch als sein Gesinnungsgenosse Christoph von Utenheim (1450–1527) zum Bischof von Basel berufen wurde, zerschlug sich dieser Plan. Auf Umwegen kehrte Wimpfeling nach Heidelberg zurück und wurde Magister an der Artistenfakultät. 1501 begab er sich nach Straßburg und war hier vor allem wieder als Autor tätig. Wimpfeling erwies sich als sehr streitbar. In einer Auseinandersetzung mit dem Franziskaner Thomas Murner (1475–1535) um seine Schrift Germania6 verlor Murner aufgrund seiner in aggressivem Ton abgefassten Entgegnung die Zustimmung der Straßburger Gelehrten und Ratsmitglieder, ebenso sprach ihn Papst Julius II. 1507 nach einer Anklage der Augustinereremiten in Rom frei. Wimpfeling hatte in seiner Schrift De integritate7 behauptet, dass Augustinus kein Mönch gewesen sei. Dies verärgerte vor allem die Augustinereremiten, die ihn bei der Kurie verklagten. Im weiteren Verlauf der Auseinander-

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Erste Edition durch Conrad Hoffmann, München 1862. Düchting, Reinhard/​Kohnle, Antje: Jakob Wimpfeling: Lob des Speyerer Doms. – Laudes ecclesiae Spirensis. Faksimile der Inkunabel  … Edition, Übersetzung und Kommentar. Wiesbaden 1999. Wimpheling, Jakob: Germania, angefertigt 1501, erstmals gedruckt Straßburg 1502. Straßburg 1505. 33

setzung kritisierte Wimpfeling vor allem die Missstände in den nichtreformierten Bettelorden.8 Seinen Lebensabend verbrachte er bei seiner Schwester in Schlettstadt. 1521 zeigte er zunächst Sympathie für Luthers Auftreten, aber nur bis 1523, dann entschied er sich für die damals sogenannte alte Lehre. Jakob Wimpfeling starb am 15. November 1528 in seinem Geburtsort Schlettstadt.

Der Biograph: Melchior Adam Melchior Adam wurde um 1575 als Sohn von Caspar Adam bei Grottkau in Schlesien geboren.9 Er besuchte die Gymnasien in Brieg und Liegnitz und begab sich 1598 nach Heidelberg. Hier wurde er Magister an der Artistenfakultät. Die Ausbildung Adams unterstützte der Adlige Joachim von Bergk (1526–1602). Von Paul Schede Melissus (1539–1602) erhielt Adam die Dichterkrönung. Er disputierte bei David Pareus (1548–1622) und war wie dieser und z. B. auch Zacharias Ursinus (1534–1583) Anhänger der reformierten Lehre. 1613 bis zu seinem Tod am 26. Dezember 1622 war Adam Rektor am Pädagogium zu Heidelberg, wo er auch starb. Sein Hauptwerk sind die Vitae, Lebensbeschreibungen von in- und ausländischen Theologen, von Medizinern, von Juristen und von Philosophen. Insgesamt sind darin 546 Männer beschrieben. Die Einzelbände erschienen erstmals 1615– 1620.

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Herding, Otto/​Mertens, Dieter (Hg.): Jakob Wimpheling: Briefwechsel. 2 Bde. München 1990, Brief Nr. 188. Die Zusammenfassung folgt, soweit nicht anders angegeben: Seidel, Robert: Adam, Melchior (Melior). In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann u. a., Bd. 1: Aal, Johannes – Chytraeus, Nathan. Berlin/​Boston 2011, S. 26–31. 34

Text und Übersetzung IACOBUS WIMPFELINGUS.

JAKOB WIMPFELING

Selestadii in Alsatia, Jacobus Wimpfelingus nascitur, anno Christi millesimo, quadringentesimo, undequinquagesimo.10

In Schlettstadt im Elsaß wurde Jakob Wimpfeling geboren im Jahr 1442.

A puero optimis literis primum in patria, a Ludovico Dringebergio Westphalo,11 studiorum scholae Selestadiensis rectore, informatus; postea Friburgum abiit; atque inde Basileam, Erfordiam, ac Haidelbergam:12

Von Kindheit an wurde er bestens in den Wissenschaften unterwiesen, zuerst in seiner Heimatstadt von Ludwig Dringeberg aus Westfalen, dem Rektor der Schule zu Schlettstadt;13 dann begab er sich nach Freiburg, von dort nach Basel, Erfurt und schließlich nach Heidelberg.

ubi Pontificii iuris cognitionem cum Theologiae scientia feliciter coniunxit.14

Dort verband er glücklich die Kenntnis des päpstlichen Rechts mit der theologischen Wissenschaft.

Itaque et bonarum artium Doctor, et S. Theologiae Licentiatus, sollenni Academiarum more, est renuntiatus.

Daher wurde er nach feierlicher Sitte der Universität sowohl zum Doktor der schönen Künste als auch zum Lizentiaten der Theologie ernannt.15

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Die Herkunft aus Schlettstadt erwähnen Trithemius und Erasmus, das Geburtsjahr stammt aus einer anderen Quelle. Diese Stelle stammt (ohne Jahreszahl) von Erasmus. Erasmus erwähnt nur die Stationen Freiburg und Heidelberg, Erfurt steht in dem von Adam allerdings nicht als Quelle angegebenen Artikel von Trithemius im Catalogus Illustrium virorum, S. 175 und im Catalogus scriptorum ecclesiasticorum, S. 391. Das Gründungsjahr ist unbekannt, dürfte aber nicht weit vor dem Schulbesuch Wimpfelings liegen, vgl. Röhrig, Timotheus Wilhelm: Die Schule zu Schlettstadt, eine Vorläuferin der Kirchenverbesserung. In: Zeitschrift für die historische Theologie 4 (1834), S. 199–218, S. 202. Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen. Die Erlangung der Grade Doktor und Lizentiat steht nicht in den von Adam genannten Quellen. 35

Quod ad eloquentiam attinet; tantum praestitit tum in carmine, tum in oratione soluta; quantum vel a Theologo, vel ab illorum temporum homine, possit requiri.16

Was die Beredsamkeit anbelangt, so glänzte er in Dichtung und Prosa so, wie man es von einem Theologen bzw. von einem Menschen jener Zeit verlangen kann.

Spiram itaque sub annum millesimum, quadringentesimum, nonagesimum quartum accitus, Ecclesiastae munus non sine laude aliquot annis gestit.17 Praeter literarum enim eruditionem insigni fuit praeditus pietate.18

Als er daher 149419 nach Speyer gekommen war, führte er für einige Jahre das Amt des Dompredigers aus, nicht ohne Anerkennung zu gewinnen. Außer seiner wissenschaftlichen Bildung zeichnete ihn auch eine besondere Frömmigkeit aus.

[S. 22] Ardens ergo amore rerum caelestium, eoque pertaesus saeculi, quod, teste apostolo, totum in malitia positum est, de secessu cogitavit.20

Indem er aber vor Liebe für die himmlischen Dinge brannte und von allem Irdischen angewidert war, welches nach dem Zeugnis des Apostels ganz der Schlechtigkeit verfallen ist,21 dachte er über seinen Rückzug nach.

Eius propositi consortem habuit Christ- Als Gesinnungsgenossen bei diesem ophorum ab Utenheim, doctum pariter, Vorhaben hatte er Christoph von et castissimae integritatis virum.22 Utenheim, einen gleichermaßen gelehrten Mann von höchster Reinheit.

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Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen, die Jahreszahl allerdings nennt Erasmus nicht. Die besondere Frömmigkeit erwähnt Chytraeus. Tatsächlich 1484. Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen, der allerdings auch noch den Evangelisten nennt. 1. Johannesbrief, Kap. 5, V. 19. Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen. 36

Atque ut nudus ad nudum Christum confugeret; quod erat Ecclesiastci census, erat autem quod ad vitae mundiciem sufficeret, resignavit.23

Und er würde als Nackter zum nackten Christus fliehen. Und auf seine Pfründe als Domprediger – sie waren aber das, was er zum weltlichen Leben benötigte – verzichtete er.

Verum consilium hoc Utenheimius abrupit, ad Episcopi munus Basileam retractus, amicis ita suadentibus; futurum, ut, si ad mentem tam piam accessisset auctoritas, plures Christo lucrisaceret, quam si se abdidisset.24

Diesen Plan durchkreuzte aber Utenheim, der in das Amt des Bischofs von Basel berufen wurde, indem ihn die Freunde davon überzeugten, dass er, wenn er das Ansehen eines so frommen Geistes erlangt habe, mehr für Christus gewinnen könnte, als wenn er sich von der Welt zurückzöge.

Wimpfelingus tamen sua paupertate laetus, perrexit, quod instituerat, agere: rursusque Haidelbergae sacros auctores enarravit, et in his Hieronymum.25

Dennoch froh in seiner Armut, führte Wimpfeling vollends aus, was er geplant hatte: wieder in Heidelberg zurück, erklärte er die Kirchenväter, darunter auch Hieronymus.26

Ad haec libellis editis et adolescentiam instituit: atque sacerdotes ad pietatis castimoniaeque studium excitavit.27

Dazu belehrte er in kleinen veröffentlichten Büchlein die Jugend. Und er stachelte die Priester zum Eifer in Frömmigkeit und Keuschheit an.

Nec gravatus ibi est, amore pietatis, Und es machte ihm gar nichts aus, wegen agere paedagogum, aliquot magnae spei seiner Liebe zur Frömmigkeit, als Erzieadolescentum:28 her29 zu wirken, dabei wurde er eine der großen Hoffnungen der jungen Leute.

23 24 25 26 27 28 29

Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Statt als Domprediger oder Universitätslehrer. 37

inter quos Wolfgangus comes a Levenstein,30 Ludovici filius, cui Adolescentiam31 dedicavit, Iacobus Sturmius Argentinensis, postea inter nobiles doctrina, consilio, prudentia in toto Imperio clarissimus,32 cui de Integritate animi et corporis tuenda, libellum inscripsit;33

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Unter diesen befanden sich auch Wolfgang von Löwenstein,34 Ludwigs35 Sohn, dem er seine Adolescentia36 widmete, ferner der Straßburger Jakob Sturm,37 der später zu den Großen der Stadt gehörte und aufgrund seines wissenschaftlichen Ranges, seines Rates und seiner Klugheit im ganzen Reich hoch berühmt war, dem Wimpfeling das Büchlein De Integritate animi et corporis tuenda widmete.

Bei Chytraeus: VVolfgangus comes a Levvenstein, Ludolci filius. Dieses Buch erwähnt dagegen Chytraeus. Diese Stelle hat Chytraeus zur Vorlage. Erasmus schreibt: […], quorum praecipuus nunc inter nobiles, doctrina, sinceritate, candore, prudentia nobilissimus Jacobus Sturmius. – „von denen der herausragendste nun zu den Großen gehört, der durch Gelehrtheit, Aufrichtigkeit, Glanz und Klugheit Vornehmste: Jakob Sturm.“ Nicht von Erasmus stammt die Erwähnung Löwensteins und der Schrift Adolescentia, dagegen lässt Melchior Adam Sturms Verdienste um Straßburg und das Hl. Römische Reich weg. Allerdings erhält Sturm eine eigene Biographie in Adams Sammlung. So bei Chytraeus. Wolfgang von Löwenstein-Scharfeneck (1493–1512), Sohn Ludwigs I. von Löwenstein; letzterem wurde vom Kurfürsten die Grafschaft Löwenstein verliehen. Ludwig von Löwenstein war Sohn des Adoptivvaters Kurfürst Philipps des Aufrichtigen. Adolescentia, Straßburg 1500, ist eine von Wimpfeling kunstvoll zusammengestellte und kommentierte Sammlung von Zitaten von der heidnischen Antike bis zu Wimpfelings Gegenwart zur Erziehung junger Menschen und zur richtigen Lebensführung. Jakob (Jacques) Sturm (von Sturmeck) (1489–1553), Stettmeister (Bürgermeister) von Straßburg, war Schüler Wimpfelings, der seinem Lehrer die Absicht mitgeteilt hatte, Priester zu werden. Er studierte in Heidelberg und Freiburg Rechtswissenschaften und bestimmte später die Geschicke Straßburgs in der Reformationszeit maßgeblich mit; vgl. Brady, Thomas: Sturm (von Sturmeck), Jacob. In: Fédération des Sociétés d’Histoire et d’Archéologie d’Alsace (Hg.): Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Bd. VIII, 36. Lieferung: St à Ta. Brüssel/​Straßburg 2000, S. 3817– 3819. 38

et ex sorore Wimpfelingi Magdalena nepotes Iacobus Spigelius, qui Lexicon Iuris postea edidit, et Ioannes Maius D D. qui ambo Caroli et Ferdinandi Impp. consiliarii praecipui fuerunt.38

Und von seiner Schwester Magdalena hatte Wimpfeling die Neffen Jacob Spiegel,39 der später ein Rechtslexikon herausgab, und Johannes Maier,40 die beide wichtige Räte der beiden Kaiser, Karl [V.] und Ferdinand, waren.

Cum talis Wimpfelingus tantusque esset; non tamen sancta hominis libertas invidia caruit.41

Obwohl Wimpfeling nun so geartet war und einen solchen Charakter hatte, so erregte die heilige Freiheit dieses Mannes dennoch Missgunst.

Nam Augustinensium monachorum opera homo, senio et hernia aggravatus, Romam citatus est eo, quod, aliquorum monachorum malitia et ignavia commotus, alicubi scripsisset:

Denn auf Veranlassung des Augustinerordens wurde der Mann, schon beschwert durch Alter und Gebrechlichkeit, nach Rom zitiert, weil er, durch die Schlechtigkeit und Feigheit einiger Mönche veranlasst, an einer Stelle geschrieben hatte,42

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Hier kommen Erasmus und Chytraeus als Quelle in Frage. Jacob Spiegel, Sohn des Bäckers Jacob Spiegel und der Magdalena geb. Wimpfeling, geb. in Schlettstadt 1483, besuchte die Lateinschule in Schlettstadt, dann die Domschule in Speyer, schließlich die Universität Heidelberg, wo er sich den Rechtswissenschaften zuwandte. Von da ging er nach Freiburg, später immatrikulierte er sich in Tübingen. Er wurde nach einigen weiteren Stationen kaiserlicher Rat Karls V. und dann Ferdinands I. Wie sein Onkel verbrachte er seinen Lebensabend in Schlettstadt, wirkte aber gelegentlich noch in kaiserlichem Auftrag beim Reichstag sowie für die elsässische Dekapolis. Vgl. Burmeister, Karl Heinz: Spiegel (de Speculis, Specularis, Spegellius, Spigelius, Spi-, auch Wimpfeling junior), Jacob. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von Franz Josef Worstbrock, Bd. 2: L–Z. Berlin/​Boston 2013, Sp. 936–948. Johannes Meyer (1502–1536) war der Halbbruder Jacobs, denn er war der Sohn von dessen Mutter und ihrem zweiten Mann Hans Meyer. Johannes wurde Nachfolger seines Bruders Jacob. Vgl. Burmeister, Karl Heinz: Spiegel (de Speculis, Specularis, Spegellius, Spigelius, Spi-, auch Wimpfeling junior), Jakob. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von Franz Josef Worstbrock, Bd.  2: L-Z. Berlin/​ Boston 2013, Sp. 936–948. Der zweite Teil des Satzes steht so bei Erasmus. In De integritate, Straßburg 1505, sowie in der älteren aber später erschienenen Apologetica declaratio, Pforzheim 1506. 39

sanctum Augustinum non fuisse monachum, aut certe non talem, quales iam habentur Augustinenses: cum illimet exhibeant eum, in tabulis et libellis, promissa barba, nigra cuculla, et zona coriacea.43

dass der hl. Augustinus kein Mönch gewesen sei, gewiss aber kein solcher, wie ihn die Augustiner heute darstellten auf ihren Bildern und in ihren Büchern, mit langem Bart, schwarzer Kapuze und einem Ledergürtel.

Quod factum reprehendit in ipso Trithemius quadam epistola: eumque monet: promptulus ne sit (verba sunt Trithemii) in antea negotiis et rebus se occupare claustralium:44

Diese Aussage tadelt an ihm Trithemius in einem Brief: Er ermahnt ihn, „sich nicht allzu bereitwillig“ (so die Worte des Trithemius), „in frühere klösterliche Angelegenheiten und Dinge einzumischen,

quia (inquit) quod extra te et conditionem status tui, nihil ad te. Quid enim ad te. Augustinus cucullatus fuerit, an togatus?

denn“, so sagt er, „außerhalb von dir selbst und deines Zustandes geht nichts dich etwas an.

Defenderunt autem Wimpfelingum ad Papam Iulium, et arbitri constituti fuerunt, Conrad Peutinger Augustanus, et Iacobus Spigelius tandemque incendium Iulii secundi pressit auctoritas, idque bonorum omnium applausu.45

Bei Papst Julius [II.]46 aber verteidigten Wimpfeling und standen ihm als Zeugen bei Conrad Peutinger,47 ein Augustiner, und Jacob Spiegel, und schließlich besiegte die Autorität des Papstes Julius die Aufregung, und dies mit dem Beifall aller anständigen Leute.

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Wieso nämlich sollte es dich interessieren, ob Augustinus eine Kapuze trug oder eine Toga?“

Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen. Statt dem bei Adam folgenden Bericht über Trithemius’ Tadel schreibt Erasmus: Hoc incendium ex minima scintilla latius evagaturum Julii secundi pressit auctoritas. – „Diesen Brand, der aus dem kleinsten Funken emporwuchs, auszuweiten, belastete das Ansehen Papst Julius II“. Dieser und der nächste Satz aus dem Brief von Trithemius an Wimpfeling: (1507) in der zitierten Ausgabe von Freher, S. 550, Brief Nr. 38. Ab dem Wort incendium wörtlich von Erasmus. Papst 1503–1513. Der Humanist Conrad Peutinger (1465–1547) aus Augsburg stand die meiste Zeit seines Lebens im Dienst seiner Heimatstadt und leitete deren Verwaltung. Peutinger 40

Praeter alias adversitates, quibus hominis virtus exercitata fuit, fatale illud totius Ecclesiae dissidium ipsum vehementer afflixit, ac tantum non ad vitae taedium adegit.48

Außer anderen Widrigkeiten, die den tugendhaften Mann aufregten, setzte ihm heftig die Uneinigkeit der ganzen Kirche zu, und brachte ihm nicht geringen Überdruss am Leben.

Nam ex una parte, sacrarum literarum veritatem; ex altera, Eccle[S. 23]siae auctoritatem; et inveteratam consuetudinem consideravit.

Denn auf der einen Seite betrachtete er die Wahrheit der heiligen Schriften, auf der anderen Seite die Autorität der Kirche und die in die Jahre gekommene Gewohnheit.

Itaque solitudinem ac secessum frustra tentatum, ingravescentibus annis, egit Selestadij in aedibus Magdalenae sororis, ex qua duos reliquit nepotes: quos paterno semper affectu complexus est. moribus ac literis eleganter institutos.49

Nachdem er so die Einsamkeit und den Rückzug vergeblich erneut ausprobiert hatte, verbrachte er die schweren Jahre des Alters im Haus seiner Schwester Magdalena in Schlettstadt, von der er zwei Neffen hinterließ: diesen war er stets in väterlicher Liebe zugeneigt. Sie waren in Wissenschaften und Sitten bestens erzogen und gelehrt.

Horum, uti diximus, Iacobus Spigelius iuris prudentia clarus, primo Maximiliano Caesari, deinde regi Ferdinando fuit a consiliis: alter vero Ioannes Maius, minor natu, postea in fratris defuncti locum successit.50

Von diesen war, wie ich schon gesagt habe, Jacob Spiegel ein berühmter Rechtsgelehrter, der zuerst Kaiser Maximilians, dann König Ferdinands Rat war, der andere, jüngere aber folgte später dem verstorbenen Bruder nach.

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gehörte zu den engen Beratern Kaiser Maximilians I., für den er wie zuvor schon für Augsburg diplomatische Missionen wahrnahm. Im Jahr seines Todes wurde er von Kaiser Karl V. geadelt. Vgl.: Künast, Hans-Jörg/​Müller, Jan-Dirk: Peutinger, Conrad. In: NDB 20 (2001), S. 282–284. Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist nahezu wörtlich von Erasmus übernommen. Das folgende lässt Adam weg: aulae primoribus indolis elegantia, ac dexteritate morum optimo jure gratissimus. Nondum tamen statui, utrum Wimphelingi mors gratulatione dignior sit, an deploratione. – „Den Vornehmen des Hofes war er durch die feine Art seines Charakters und die 41

Annum attigit pene octogesimum, diutius etiam victurus, si corpusculi deficientis rationem ullam habere voluisset:51

[Wimpfeling] erreichte fast das 80. Lebensjahr, und er hätte noch länger gelebt, wenn er denn irgendeine Rücksicht auf seinen schwachen Körper hätte nehmen wollen:

et subductus est saeculo, quo nihil fingi potest inquinatius;52 anno millesimo, quingentesimo, vicesimo octavo, die decimo septimo Novembris, aetatis suae septuagesimo nono inchoato, Selestadii, ubi et honorisice sepultus cum monumento eiusmodi, a Beato Rhenano conscripto:

Und er wurde aus der Welt gerufen, im Vergleich zu der nichts Unreineres erdacht werden kann, im Jahr 1528 am 19. November in seinem 79. Lebensjahr in Schlettstadt, wo er ehrenvoll bestattet wurde und ein Grabmal erhielt, das von Beatus Rhenanus53 so beschrieben wurde:

Iacobo Wimpfelingo Sletstadiensi, viro clarissimo, et unico puerilis institutionis ac profectus circa literas amatori, exhortatori, patrono.

„Für Jakob Wimpfeling aus Schlettstadt, einen hochberühmten Mann, einen einzigartigen Förderer der Erziehung der Jugend und Liebhaber der Wissenschaften und ermunterndes Vorbild für andere.

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Rechtschaffenheit seiner Sitten zu Recht überaus willkommen. Dennoch habe ich noch nicht festgestellt, ob man Wimpfelings Tod eher mit Glückwunsch oder mit Trauer begegnen soll.“ Diese Stelle ist wörtlich von Erasmus übernommen. Diese Stelle ist bis hierher wörtlich von Erasmus übernommen. Das Folgende lässt Adam weg: Postremo nihil addubito, quin vitae innocenter actae praemiis jam fruatur apud coelites.  –  „Schließlich zweifle ich in keiner Weise, dass er, nachdem er so anständig durch das Leben gegangen war, bereits den Lohn dafür im Himmel erhält.“ Beatus Rhenanus (1485–1547), Humanist aus Schlettstadt wie Wimpfeling und ebenfalls Schüler der dortigen Lateinschule, studierte in Paris. Dann kehrte er zurück nach Schlettstadt, begab sich nach Straßburg und Basel, um seinen Lebensabend wiederum in Schlettstadt zu verbringen. Er trat vor allem als Herausgeber antiker, mittelalterlicher und zeitgenössischer Autoren hervor, darunter Erasmus von Rotterdam. Vgl.: Muhlack, Ulrich: Rhenanus, Beatus. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von Franz Josef Worstbrock, Bd. 2: L-Z. Berlin/​Boston 2013, Sp. 656–710. 42

Cuius rei argumentum nobis exhibent, non solum aeditus liber Adolescentiae nomine, et quem εἴσυδον [isidoneus] inscripsit, ac elegantiarum linguae Latinae compendium, praeter libellos hoc genus alios, verumetiam ipsae scholae eruditis hominibus huius consilio passim commissae.

Einen Beweis dieser Tatsache gibt uns nicht nur das Büchlein mit dem Titel Adolescentia,54 welches er auch Isidoneus55 überschrieb, sowie ein Kompendium der Feinheiten der lateinischen Sprache56 neben anderen Büchern dieser Art, die von den gelehrten Menschen der Schule selbst allenthalben zu Rate gezogen werden.

Qui quam capitaliter luxum, avaritiam, et ambitionem oderit, frugalissime acta vita docet, et splendida saepe fortuna contempta, parvo semper contentus animus, sed et adversus illa vitia graves libelli et ad oppositas virtutes inflammantia scripta, apud posteros quoque testabuntur.

Wie sehr er Schwelgerei, Begierde und Ehrgeiz hasste, lehrte er überaus deutlich durch das Leben, das er führte, und indem sein Sinn stets das schillernde Glück verachtete, stets mit dem Kleinen zufrieden war, aber er verfasste auch bedeutende Bücher gegen diese Laster57 und Schriften, die mit Feuer füllen für die dagegen zu setzenden Tugenden, wie die Nachwelt58 bezeugt.

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Die kommentierte Zitatensammlung Adolescentia verfasste Wimpfeling, als er zum zweiten Mal in Heidelberg lebte, als Unterrichtwerk für Lateinschulen. Sie erschien 1500 in Straßburg. Im Isidoneus germanicus, gedruckt in Speyer 1497, entwirft Wimpfeling einen neuen Plan für Lateinschulen, der auf die flüssige mündliche Beherrschung des Lateinischen zielte. Als Vorbild dienten die Schulen in Italien. Das Buch war für Lehrer geschrieben. Elegantiae, nämlich Elegantiae medulla, erschienen Speyer 1493, und Elegantiae maiores, erschienen u. a. Tübingen 1499, befasst sich mit der lateinischen Rhetorik auf der Grundlage von Lorenzo Vallas Elegantiarum linguae latinae. Hier könnte auf eine Rede Wimpfelings angespielt sein: De annuntiatione dominica, eine Tugendlehre, auf die Agatharchia, eine Art Fürstenspiegel, oder die Oratio vulgi ad Deum, die kirchliche Missstände anprangert, vielleicht auch die Schrift De integritate, die sich unter anderem gegen das Gewinnstreben der Bettelorden richtet. Trithemius, der Wimpfeling noch zu dessen Lebzeiten in den beiden oben genannten Werken beschrieb, kann mit Nachwelt nicht gemeint sein. Von den drei anderen Quellen nennt vor allem Chytraeus einige Werke. 43

Religionis Christianae pius cultor, quemadmodum theologum et presbyterum inprimis decebat, bonos viros etiam in coenobiis degentes familiariter dilexit.

Selbst frommer Verehrer der christlichen Religion, wie es einem Theologen und Priester besonders ziemt, war er vertraut und verbunden mit guten Männern, auch Ordensmännern.

Apud Spiram Nemetum in Regio illo templo aliquot annis munere contionatoris functus est, Primus sane inter cives suos, qui carmine et oratione prosa atque aeditorum voluminum numero in omni pene scripti genere apud eruditos laudem meruerit.

Bei Speyer genoss er in jenem königlichen Dom einige Jahre das Amt des Predigers, als erster unter seinen Mitbürgern, der in Dichtung und Prosa sowie in der Zahl der herausgegebenen Bände in fast jeder Art von Schriften das Lob der Gelehrten verdiente.59

Nam Hugonis veteris Theologi, praeter commentarios rerum sacrarum, et alterius Ioannis, praeter Ethicorum Aristotelicorum expositionem, nihil hodie exstat.

Denn von dem Theologen Hugo dem Älteren60 ist außer dem Kommentar zu den Sakramenten (?) und von dem anderen Johannes61 außer der Einleitung in die Ethik des Aristoteles, nichts mehr übrig.“

Iacobus Spigelius Iureconsultus, et Ioannes Maius fratres, Rcgii Secretarii utrique Avunculo. B. M. statuerunt.

Der Rechtsgelehrte Jacob Spiegel und sein Bruder Johannes Maier, die königlichen Sekretäre haben ihrem um sie sehr verdienten Onkel dieses Denkmal aufgestellt:

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Eine Gesamtliste der Werke Wimpfelings bei Mertens, Dieter: Wimpfeling. In: Deutscher Humanismus, ab Sp. 1296; Mertens ist auch Mitherausgeber einer Auswahl der Werke Wimpfelings: Jacobi Wimpfelingi opera selecta. Erschienen sind 3 in 5 Bänden 1965–1990. Welcher Autor mit welchem Werk hier gemeint ist, konnte nicht ermittelt werden. Welcher Autor mit welchem Werk hier gemeint ist, konnte nicht ermittelt werden. 44

Vixit annos LXXVIII. Menses III. Dies XXI. obiit anno M. D. XXVIII. decimo quinto Calendarum Decemb. Magdalenam matrem, feminam plane Christianae patientiae, quam difficili morbo oppressa non modico tempore praestitit, eodem sepulcro (id quod viva optaverat ob amorem fratris) iidem filii paulo post collocaverunt.62

„Er lebte 78 Jahre, 3 Monate und 21 Tage und starb im Jahre 1528 am 15. Dezember.

[S. 24] Ianus autem Cornarius his epigrammatis eum ornavit:

Ianus Cornarius63 aber ehrte ihn mit dem folgenden Gedicht:

Hic Wimphlinge iaces, longae post tempora vitae,

„Hier liegst Du, Wimpfeling, nach einer langen Lebenszeit,

Unsere Mutter Magdalena, eine Frau voll christlicher Duldsamkeit, welche von einer schweren Krankheit betroffen war, hat er lange Zeit versorgt, in demselben Grab haben diese (wie sie zu Lebzeiten wegen der Liebe zum Bruder gewünscht hatte) dieselben Söhne wenig später beigesetzt.“

Felix in patria contumulatus humo.

glücklich in der Heimaterde bestattet.

Inter avos tenerae qui dulcia munera linguae

Unter den Vorfahren, der du die süßen Geschenke deiner zarten Sprache

Ornabas Latio sedulus eloquio.

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eifrig gepriesen hast in lateinischen Gedichten.

Dieses und die beiden folgenden zitierten Grabgedichte auf Wimpfeling sind abgedruckt bei Desiderius Erasmus: De recta Latini Graecique sermonis pronuntiatione … dialogus. Basel 1529 [UB Basel, Sign. Frey.Gryn. N VI 31:2], vgl. [https://​www.ub.unibas.ch/​cmsdata/​spezialkataloge/​poeba/​poeba-002936183.html] (Zugriff: 1.  März 2020). Ianus Cornarius (1500–1558) aus Zwickau war Humanist, Arzt und Sprachwissenschaftler. Er studierte in Leipzig und Wittenberg und wurde 1521 Professor für Griechisch und Latein. Verdient machte er sich mit Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische. Die nächste Phase seines Lebens verbrachte er mit Reisen in viele bedeutende Universitätsstädte, was ihm Zugriff auf bedeutende medizinische Schriften brachte. In Marburg wurde er Professor für Medizin. Vgl. Hirsch, August: Cornarius, Janus. In: ADB 4 (1876), S. 481. 45

Addebas morum reverenda exempla piorum:

Ehrwürdige Beispiele für Frömmigkeit fügtest du hinzu:

Quam nihil absque illis lingua diserta valet!

Wie doch nichts ohne jene die wohlgefügte Sprache vermag!

Nomine sic morum, linguae et pro aetate politae

Niemand hatte einen solchen Ruf in Sitten, in Schönheit in dieser alten Sprache,

Nullus Teutonico notior orbe fuit.

Niemand war bekannter in Deutschland.

Ipse senex tandem senibus sua munera mystis

Selbst schon ein alter Mann erklärst du alten Priestern ihre Ämter,

Tradis, quae pietas relligioque docent.

welche die Frömmigkeit und den Glauben lehren.

Hunc patrem ereptum genitrix fecunda virorum

Um diesen geraubten Vater weinst du, fruchtbare Hervorbringerin

Doctorum urbs merito Sletstadiana gemis.

gelehrter Männer, Schlettstadt, zu Recht.“

Et hoc:

Und das folgende:

Μειρακίων γλώσσας λειαίνων ἐνθάδε κεῖται64

„Hier liegt, der Stimme der jungen Männer schärfte,

Βίµϕλιγγοç, ζαθέον θάυμα μέγ‘ ἐυσεβίης.

Wimpfeling, ein großes Wunder hochheiliger Frömmigkeit,

Τόν γε θανόντα στενεῖ κλειὼ καὶ ϕοῖβος Απόλλων.

diesen Verstorbenen hegt und beweint der glänzende Apoll,

Für wertvolle Hinweise zur Übersetzung aus dem Griechischen ergeht herzlicher Dank an Herrn Stefan Schacht.

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Γνωμονικῶν ᾀνδρῶν Σλεδστάδιοντε πατρίς.

[einen] der angesehensten Männer seiner Heimat Schlettstadt.“65

Fuit vir integer vitae, sceleris purus, nulliusque honestae disciplinae rudis.

Er war ein Mann, tadellos in seinem Leben, frei von jeder Untat, keine ehrenvolle Wissenschaft war ihm fremd.

Frequenter repetiit precationem, quam Caspar Hedio in bibliotheca Keisersbergiana, manu Wimpfelingi descriptam, reperisse se testatur, quae ita habet:66

Regelmäßig sprach er das Gebet, das nach eigenem Bericht Caspar Hedio67 in der Bibliothek zu Kaiserberg, von Wimpfelings Hand geschrieben, gefunden hat, das so lautet:

Du miltter Iesus

Esto, Iesu, propitius mihi

biss gnadig mir armem sunder

licet impio;

der ich des gemeinen nutzens

rei pub.

der einigkeit der Christen

tamen Christianorum concordiae,

der heiligen geschrifft

sacrarum literarum et

und das die Iugendt recht ausserzogen

probae puerorum institutionis

ein liebhaber bin.

amatori!

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Ungenauigkeiten und Abweichungen von der Vorlage sind möglicherweise eher den Setzern zuzuschreiben als Adam. Das Gebet steht so bei Caspar Hedio. Caspar Hedio (1494–1552) aus Ettlingen, studierte in Freiburg und Basel, später in Mainz, wurde mit Capito und Bucer Reformator in Straßburg, wobei ihm besonders das Schulwesen am Herzen lag. Hedio betätigte sich auch als Historiker. Vgl. Goerlitz, Uta: Hedio (Seiler [?]; auch Hedius, H(a)edion, Aedion, Funarius, Funificis), Caspar. In: Frühe Neuzeit in Deutschland. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann u. a., Bd. 3: Glarea, Heinrich – Krüger, Bartholomäus. Berlin/​ Boston 2014, Sp. 203–211. 47

hoc est:

[Melchior Adam fertigte eine lateinische Fassung des Gebetes an, die in dieser Ausgabe oben links neben der deutschen steht.]

Scripsit Philippicam, hoc est, dialogos pro institutione filiorum Philippi Electoris Palatini: ubi agit de studiis principum, de bello Turcico, de laudibus Philippi Electoris.68

Er schrieb eine Philippica,69 also einen Dialog für die Unterweisung der Söhne des Kurfürsten Philipp von der Pfalz,70 wo er vom Studium des Fürsten, vom Türkenkrieg und vom Lob Philipps handelt.

Eos curavit recitandos in palatio arcis Haidelbergensis septimo Idus Octobris Anno 1498.

Er ließ dies vortragen im Festsaal des Schlosses zu Heidelberg am 9. Oktober 1498.71

Philippo Comite Palatino attentissime auscultante, coram nobilissimis filiis, ac Alberto Argentinensi Episcopo, aliisque multis praestantibus viris.

Dabei befragte ihn Pfalzgraf Philipp aufmerksam in Anwesenheit der vornehmsten Söhne sowie Bischof Alberts von Straßburg72 und anderen höchst bedeutenden Männern.

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Die hier und im folgenden erwähnten Buchtitel kann Adam aus persönlicher Anschauung kennen, nach Seidel war er Benutzer der in der Bibliotheca Palatina. Bei den Philippica handelt es sich um sechs Prosadialoge an Kurfürst Philipp, den zweiten Sohn Philipps des Aufrichtigen. Darin hebt Wimpfeling die Bedeutung der lateinischen Sprache und des in ihr niedergelegten Wissens auch für künftige Fürsten hervor. Gedruckt erstmals 1498 in Straßburg. Kurfürst Philipp der Aufrichtige (1448–1508) Kurfürst 1476, hatte neun Söhne – die ältesten waren sein Nachfolger Kurfürst Ludwig V. (1478–1544), Philipp (1480–1541), Ruprecht (1481–1504), Kurfürst Friedrich II. (1482–1666) – und fünf Töchter. Und zwar durch den Kurfürsten, seine Söhne und weitere Schüler; vgl. Mertens: Wimpheling im Verfasserlexikon, Sp. 1332. Bischof Albert bzw. Albrecht von Straßburg (1440–1506), Bischof ab 1479, war Sohn des Pfalzgrafen Otto von Mosbach. Vgl. Rapp, Francis: Albrecht Pfalzgraf bei Rhein. In: Gatz, Erwin (Hg.): Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448–1648. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1996, S. 16–17. 48

Huic submisit Agatarchiam, hoc est, epitomen conditionum boni principis, ad Ludovicum Philippi primogenitum, qui, cum illi dialogi recitarentur, abfuerat, comitatus sororem Elisabetham nuptui elocatam Guilielmo Hassiae Landgravio.

Diesem schickte er außerdem den Agatarchia,73 das ist ein Versuch über die Merkmale eines guten Fürsten, Philipps Erstgeborenem Ludwig gewidmet, der, als diese Dialoge vorgetragen wurden, abwesend war, da er seine Schwester Elisabeth74 zur Hochzeit mit Landgraf Wilhelm von Hessen begleitete.

Sunt in eo libello sententiae graves, elegantes, ac piae:

In diesem Büchlein stehen wichtige, feine und fromme Sätze.

unde et animus eius aestimandus. Anno quingentesimo edidit Adolescentiam, quo libello ad literas et [S. 25] omnes virtutes studiose colendas et fugienda vitia ex omni genere scriptorum et Poetarum collectis insignibus sententiis, et exemplis, adolescentes cohortatus est.

So war auch sein Sinn einzuschätzen. Als er 50 Jahre alt war, gab er die Adolescentia heraus. In diesem Büchlein ermahnt er zur Wissenschaft, alle Tugenden eifrig zu pflegen, Laster zu meiden, indem er dazu die bedeutendsten Aussprüche jeder Art von Schriften und Dichter gesammelt hatte, und durch Beispiele ermunterte er die Jugend.

Eodem anno millesimo quingentesimo orationem de mirando f[o]edere duarum in Christo naturarum, die annuntiationis Angelicae habitam,75 et de Germania libellum ad Senatum Argentinensem emisit.76

Im selben Jahr 1500 gab er eine Rede heraus über das wunderbare Bündnis der zwei Naturen in Christus,77 die er am Tag der Verkündigung an Maria hielt, sowie ein Büchlein über Germanien,78 das er dem Rat von Straßburg widmete.

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In der Agatarchia behandelt Wimpfeling die Aufgaben und Tugenden eines Fürsten, eine Art Fürstenspiegel. Gedruckt in Straßburg 1498. Elisabeth (1483–1522), Tochter Kurfürst Philipps, heiratete 1498 Landgraf Wilhelm III. von Hessen (1471–1500). Diese Information steht bei Chytraeus. Diese Information steht ebenfalls bei Chytraeus De annuntiatione dominica oratio, gedruckt Straßburg 1501. Aus der Inkarnationslehre entwickelt Wimpfeling eine Tugendlehre aufbauend auf den Haltungen humilitas, caritas und zelus animarum. Dieses Buch und die folgende Germania erwähnt Chytraeus. In der Germania fordert Wimpfeling die Einrichtung eines Gymnasiums in Straßburg und spricht sich für die Zugehörigkeit des Elsasses zum Heiligen Römischen Reich aus. 49

Elucubravit et alia multa prosa et versu, quae in bibliothecis recensentur; inter quae liber est De vita et moribus Episcoporum aliorumque Praelatorum et Principum Epistolas idem multas scripsit nomine Palatini Comitis, Episcopi Spirensis et aliorum, quae alibi videantur.

Er beleuchtete noch viel mehr Themen in Prosa und Dichtung, was in Bibliotheken gelesen wird, worunter sich auch ein Buch befindet mit dem Titel „Briefe über Leben und Sitten der Bischöfe und anderer Prälaten und Fürsten“,79 ebenso schrieb er vieles im Auftrag des Pfalzgrafen und des Bischofs von Speyer und anderer, was man andernorts sehen kann.

Atque haec de Wimpfelingo ex Chytraei Soviel von Wimpfeling, und zwar nach: Saxon. l. 3. Trithemii epistolis: Erasmi Roterod. epist. lib. 23. ad Ioann. Vlate- Chytraeus, Chronicon Saxoniae, Buch III num: Casp. Hedionis hist. ecclesiast. l. 13. cap. 19. Trithemius, Briefe Erasmus von Rotterdam, Briefe Buch XIII (an Johannes Vlaten) Caspar Hedio, Historia Ecclesiastica, Buch XIII, Kap. 19

Fazit In der Lebensbeschreibung stützt sich Adam insbesondere auf die Mitteilungen von Erasmus von Rotterdam. Diese sind zwar unter dem Eindruck der Todesnachricht entstanden,80 und es steht daher zu erwarten, dass sie eher panegyrisch ausfallen, doch liegt in der Vorlage und in Adams Version kaum eine übertriebene Verklärung Wimpfelings vor, erst recht nicht, wenn man die Gepflogenheiten der Entstehungszeit in Rechnung stellt. Stellen, an denen Erasmus Wimpfeling Lob ausspricht, lässt Adam weg. Stattdessen nimmt er den Tadel auf, den Wimpfeling

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Gedruckt Straßburg 1501. Durch diese Schrift geriet Wimpfeling in den heftigen Streit mit Thomas Murner. An Wilhelm von Honstein, Bischof von Straßburg, gedruckt Straßburg 1512. Mit diesem Hinweis leitet er die kurze Lebensbeschreibung im Brief selbst ein. 50

von Trithemius wegen seiner Äußerung über die Augustiner erhielt. Ebenfalls verzichtet Adam auf Informationen über andere Personen und auf Wertungen, die er in der Vorlage findet. Aus Chytraeus’ Sachsengeschichte lässt Adam einige Detailinformationen wie z. B. Namen in seine Darstellung einfließen. Die Grabgedichte werden wörtlich zitiert und als Grabgedichte gekennzeichnet, sodass keine versteckte Lesermanipulation als Sachinformation verpackt wird. Dass in Adams Artikel die drei selben Gedichte wiedergegeben werden, die in dem oben zitierten Druck des Erasmus auftauchen, legt eine Abhängigkeit nahe. Das Gebet, das aus Caspar Hedios Kirchengeschichte entnommen wurde, wird von Adam ebenfalls als das ausgegeben, was er in der Quelle vorgefunden hat. Gedichte und Gebet reiht er ohne eigenen Kommentar aneinander und überlässt somit dem Leser das Urteil darüber. Beim Textvergleich ist festzuhalten, dass Adam in Formulierungen eng an den von ihm genannten Vorlagen bleibt, aber im ersten Teil, den er selbst verantwortet, zur Versachlichung neigt und Einzelinformationen ergänzt. Nur sehr wenige Gedanken lässt er einfließen, die er von anderen Stellen haben muss. An das Ende des Artikels stellt Adam eine Aufzählung von Werken Wimpfelings, die weder vollständig ist noch besonders präzise Beschreibungen bzw. Stichworte zu den Schriften enthält. Als Nutzer der Bibliotheca Palatina81 könnte er sie in der Hand gehabt haben. Aus den erwähnten Quellen stammen sie nicht. Mit den vier Werken, die er angibt, nennt Adam die Vorlage für fast alle seine Mitteilungen. Gebet und Grabschriften gibt er wörtlich unter Nennung der Autoren wieder, Erasmus kürzt er im Sinne einer Versachlichung und einer Konzentration auf die beschriebene Person. Auf den Brief von Erasmus mag er sich erstens deshalb gestützt haben, weil die Informationen von einer Wimpfeling nahestehenden Person stammen und sehr dicht zusammengefasst sind. Die Selbstzeugnisse in Wimpfelings Werken waren – das zeigt die Auflistung der Bücher im Artikel – für Adam nicht alle greifbar, gehört doch Wimpfeling auch zu den frühesten beschriebenen Personen mit dem größten zeitlichen Abstand zu Adam. Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände hat Adam – sieht man von kleineren Mängeln wie der falschen Jahreszahl bei Wimpfelings Wechsel nach Speyer, ab – einen mindestens für seine Zeit sehr zuverlässigen Lexikonartikel geschaffen.

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Seidel: Adam, S. 179. 51

Zur Autorin Stammt aus Speyer; Studium: Latein, Geschichte und ev. Theologie in Saarbrücken, Basel und Mainz; 2000 Promotion bei Peter-Claus Hartmann in Mainz. Unterrichtstätigkeit: Edith-Stein-Gymnasium Speyer und Paul-von-Denis-Gymnasium Schifferstadt, Lehrauftrag im Fach Latein an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau 2009 bis 2015, seit 2016 Leiterin des Kurfürst-Ruprecht-Gymnasiums Neustadt, seit 2013 Präsidentin der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Tätigkeit als Autorin, Übersetzerin und Herausgeberin: Lateinische Texte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit, Bücher und Aufsätze zur allgemeinen, pfälzischen und ruandischen Geschichte.

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Hans Mercker

Vom Krummstab zur Cocarde. Anmerkungen zu Leben und Werk des Enzyklopädisten Paul Thiry Baron von Holbach Paul Thiry Baron von Holbach, geb. 1723 in Edesheim, gest. 1789 in Paris, gilt als der radikalste Geist der Aufklärungsphilosophie und als einer der bedeutenden geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution. Als lebenslanger Freund der fast übermächtigen Leitfigur Diderot hat er das Jahrhundertwerk der damals entstehenden 42-bändigen Encyclopédie sowohl finanziell als auch durch eine Fülle von Beiträgen unterstützt. Holbachs Pariser Salon war der Treffpunkt der europäischen Geisteswelt. Neben Übersetzungen religionskritischer Schriften aus England war er auch der Autor umfangreicher Publikationen, als deren berühmteste sein Système de la nature gilt. Hierin vertritt er einen radikalen Materialismus und konsequenten Atheismus, der den Deismus und Kirchenhass eines Voltaire bei weitem übersteigt. Zunächst versucht der Beitrag die biographischen Aspekte Holbachs zu beleuchten – auch unter Einbeziehung seines Onkels und Förderers Franz Adam von Holbach, der es in Paris durch Aktienspekulationen zu großem Reichtum brachte und so den Lebensstil seines Neffen als Privatgelehrten im ‚siècle de lumière‘ ermöglichte.

Adam Holbach, der reiche Onkel Der Edesheimer Onkel des späteren Philosophen ist um 1675 in Edesheim geboren. Das Dorf lag seit Ende des 15. Jahrhundert im weltlichen Besitz des Hochstifts Speyer. Dort wuchs er als Sohn des dortigen Zollbeamten auf, wo Kardinal Hugo Damian von Schönborn als geistliches und weltliches Oberhaupt residierte. Es war unmittelbar nach dem Ende des von Louis XIV. angezettelten Pfälzischen Erbfolgekriegs, als der junge Edesheimer als Angestellter eines in Landau ansässigen Pariser Bankhauses nach Paris wechselte, als dieses seine Aktivitäten wieder in die französische Hauptstadt verlegte. Dort brachte er es infolge höchst riskanter 53

Aktienspekulationen aufgrund seines Insiderwissens zu einem riesigen Vermögen von 20 Millionen franz. Livres.1 Um den staatspolitischen Folgen des Börsenkrachs zu entgehen, zog er es vor, sich ins Deutsche Reich abzusetzen, wo es ihm gelang, beim Kaiserhof in Wien Zug um Zug (1719–1723) den Adelsrang eines Reichsfreiherrn (Baron) zu erwerben.2 Dieser Titel schaffte ihm die juristische Grundlage zum Erwerb adeliger Güter in den Dimensionen seiner finanziellen Möglichkeiten. In Edesheim selbst errichtete er ein repräsentatives elegantes Herrenhaus, worin er – selbst ehelos – den begabten Sohn einer seiner Schwestern, den jungen Paul Thiry, von einem französischen Privatlehrer, dem Geistlichen Francois, erziehen ließ. Der Pfarrgemeinde stiftete er ein steinernes Kruzifix für die Dorfmitte, der Kirche einen aus Gold und Silber getriebenen Kelch, sowie Paramente und ein zweihundertjähriges Messstipendium für sich und seine Verwandtschaft.3 Drei vom Baron noch erhaltene Ölportraits zeigen einen eher bäuerlichen Typus in edler Gewandung, eine unverbrauchte Statur aus der Provinz mit Sinn fürs Geschäftliche, im Wissen, wie die Dinge des Lebens laufen. Geistige Interessen lagen ihm wohl eher fern. Weltanschaulich dürfte er den üblichen Rahmen des kirchlichen Glaubens nie überschritten haben. Er gehörte wohl zu jenem naiven naturwüchsigen Typus, für den Geld und Glaube, Frömmigkeit und Finanzen in nie hinterfragter Selbstverständlichkeit nebeneinander bestehen können. Zu Religion wie Reichtum hatte er offenbar ein gleichermaßen handwerkliches Verhältnis. So setzte er unbekümmert da, wo es nötig war, Geld für seine Ziele ein, und war wohl gleichzeitig überzeugt, zum Besten des Staates und der Kirche und nicht zuletzt auch für sein eigenes Seelenheil honorig gehandelt zu haben. „Sollen die Räder des Pferdekarrens flott dahinrollen, darfst

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Unter geschickter Ausnützung des von dem Schotten John Law neu eingeführten Finanzsystems zur Sanierung des beim Tod Ludwigs  XIV. zerrütteten Staatshaushalts. Vgl. hierzu Lüthy, Herbert: Les Mississipiens de Steckborn et la fortune des barons d’Holbach. In: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 13 (1955), S. 143–163. Holbach, Paul (Heinrich) Thiry Baron von. In: Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. VI. Gütersloh 1990, S. 39f.; Nobilitierungsakte (mit Wappen): Österreichisches Hauptstaatsarchiv (Abschrift). Wien 1731, S. 22. Vgl. Pfarrgedenkbuch Edesheim, hrsg. v. Heimat- und Kulturverein Edesheim, S. 264 u. a. 54

du die Schmierbüchse nicht vergessen“, weiß der Neffe noch später von ihm zu berichten.4 Der Familiensinn des Baron hatte schon Jahre zuvor auch eine Nichte, die Tochter einer anderen seiner Schwestern in geistlichen Mädchen-Internaten in Metz und Paris erziehen lassen und sie adelig verheiratet. Doch der Edesheimer Pfarrer misstraute dem in seiner unmittelbaren Nähe tätigen Privatlehrer des Neffen und zeigte ihn 1731 beim Speyerer Fürstbischof Hugo Damian von Schönborn als Anhänger der in Frankreich kursierenden „Jansenistischen“ Irrlehren an. (Jansenius hatte in einer rigoristischen, scheinbar an Augustinus orientierten Lehre von der Gnade die unentrinnbare göttliche Vorherbestimmung des menschlichen Schicksals so sehr radikalisiert, dass sie in die Nähe der evangelisch-reformatorischen Thesen eines Calvin kam.) Ludwig Stamer, Verfasser der fünfbändigen Kirchengeschichte der Pfalz, hat die Anzeige im Badischen Landesarchiv Karlsruhe entdeckt und im Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte5 publiziert: Es kam zu einer Hausdurchsuchung mit Beschlagnahmung der Bibliothek des Privatlehrers. Er selbst konnte ins benachbarte, zu Baden-Durlacher Herrschaft gehörende protestantische Dorf Rhodt fliehen und sich so einer Verhaftung entziehen. Der Baron selbst behielt die Contenance und bewirtete die Untersuchungskommission mit einer Morgensuppe. Allerdings sah er ein, dass es für die Förderung seines mittlerweile achtjährigen Neffen in der provinziellen Enge keine Zukunft gab und verlegte dessen Erziehung nach Frankreich, wo inzwischen wegen des Börsenskandals eine Amnestie erlassen worden war. Seitdem hat der Neffe sein Heimatdorf nicht mehr gesehen und ist vollständig in die französische Gesellschaft und Kultur hineinverwachsen. Ludwig Stamer schloss wegen des Vorfalls der Hausdurchsuchung nicht aus, dass die Behandlung des geliebten Lehrers bei dessen Schüler möglicherweise Spuren hinterlassen habe, die bis in die radikale, religionskritische Wende des späteren Philosophen mit hineingewirkt haben könnten.6

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Vgl. zum Folgenden: Schröter, Hans: Der „Kupperwolf “ in Edesheim (Über Franz Adam von Holbach, den Erbauer und die Baugeschichte des Edesheimer Holbach-Schlösschens). In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 36 (1984), S. 115–149. Stamer, Ludwig: Zur Herkunft des Philosophen Paul Thiry Baron von Holbach. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 9 (1957), S. 279–282. Ebd., S. 282. 55

Über die anschließende Zeit der Erziehung des Neffen ist nichts bekannt. Sein Name erscheint erst wieder 1744 als „Paulus Holbach Baro Palatinatus“ in den Immatrikulationslisten der Universität Leyden.7 Auch später unterzeichnet er Briefe und Dokumente nur noch als „D’Holbach“8. Offenbar wurde er zwischenzeitlich vom Onkel und Förderer adoptiert und nahm dessen Namen an. Naturwissenschaften und Recht waren die Schwerpunkte seines dortigen Studiums. Das holländische Leyden war liberal und weltläufig und gleichsam der Spiegel einer auch kosmopolitisch eingestellten, weltoffenen Seefahrernation. Sie hat den Horizont des jungen Studenten auch in weltanschaulicher Sicht zweifellos erweitert. Hinzu kamen die zahlreichen Kontakte mit Kommilitonen aus aller Herren Länder, wie aus Briefen und Besuchen während der Semesterferien in Heeze, im damaligen Brabant gelegen, hervorgeht, wo der Onkel ebenfalls Besitzer eines Schlosses mit zugehöriger Herrschaft über zwei Dörfer war. Als Paul nach vier Jahren an der Universität Leyden im Jahre 1748 nach Paris zurückkehrte, traf er dort wieder auf den Onkel. Darüber hinaus fand der frisch gebackene Akademiker im Hauswesen seiner Cousine, die inzwischen zwei heiratsfähige Töchter hatte, familiären Anschluss. Der Onkel sah es gern, als sich der Neffe alsbald in eine seiner beiden Großnichten verliebt hatte. Er spekulierte wohl darauf, dass bei einer Heirat sein Vermögen, das dereinst hälftig an Paul und seine Cousine übergehen sollte, auf diese Weise zusammenblieb. Die Ehe mit Basile Geneviève kam 1750 tatsächlich zustande. Paul Baron von Holbach gehörte durch diese Heirat nun auch dem französischen Adel an und war auf diese Weise fest in der besseren französischen Gesellschaft verankert. Der 1753 gestorbene durfte als Quasi-Großvater gerade noch die Geburt eines Enkels erleben. Cousin und Cousine, die aufgrund seiner Heirat nun auch gleichzeitig seine Schwiegermutter war, wurden zu Erben des gemeinsamen Onkels. Um die Zeit seiner Heirat, also bald nach seiner Rückkehr aus dem Studium in Leyden traf Paul mit Denis Diderot zusammen, der mit D’Alembert als Redakteur und Autor am ersten der auf 42 Bände angelegten Grande Encyclopédie arbeitete,

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Sauter, Hermann: Der pfälzische Baron Paul Thiry von Holbach. Eine Zentralfigur der französischen Aufklärung. Sondergabe des literarischen Vereins der Pfalz. Landau 1972. Sauter, Hermann (Hg): Paul Thiry Baron von Holbach. Die gesamte erhaltene Korrespondenz. Stuttgart 1986. 56

jenem gewaltigen Monumentalwerk, welches als Weltneuheit das gesamte Wissen der damaligen Zeit lexikalisch zusammenfassen und aufbereiten wollte. Der Anspruch dieses Jahrhundertwerks spiegelt sich bereits im Titel wieder: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Also ein nach eigenem Bekunden wissenschaftliches Werk, das nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern neben Kunst und Kultur auch den Stand der Naturwissenschaft sowie Technik und Handwerk umfassen wollte. Hierfür brauchte es Mitarbeiter, Förderer, Mäzene und einflussreiche Persönlichkeiten, die das Werk – nicht zuletzt durch die Widrigkeiten und Unwägbarkeiten der mächtigen und allgegenwärtigen Zensur zu steuern vermochten. Mehrere Male stockte das Werk aus finanziellen, aber auch weltanschaulichen Gründen, insbesondere die Jesuiten sahen darin, nicht ganz zu Unrecht, die Kriegsmaschine einer gefährlichen, weil unkirchlichen, ja ungläubigen Aufklärung. Und es bedurfte mehr als einmal der diskreten Hand der Madame de Pompadour, um die Unternehmung am Laufen zu halten. Gerade Diderot hat für seine lockeren Essays zweimal das Gefängnis in Vincennes von innen betrachten müssen und kam nur durch gute Beziehungen vorzeitig wieder auf freien Fuß. In seinem Vorwort zum zweiten Band der Encyclopédie kündigt Diderot9 voll Freude einen deutschstämmigen neuen und fähigen Mitarbeiter an, mit dem, wiewohl ohne direkte Namensnennung, nur Holbach gemeint sein konnte. Aufgrund seiner Deutschkenntnisse und seiner naturwissenschaftlichen Interessenlage übersetzte er etliche deutschsprachige Veröffentlichungen über Chemie, Metallurgie und Glasherstellung ins Französische. Deutschland war damals nämlich in diesen chemischen Verfahrenstechniken führend. Auszüge aus diesen Übersetzungen verarbeitete er dann zu Artikeln für das Lexikon. Seine Beiträge sollen mindestens 400 Artikel, nach anderen Vermutungen sogar bis zu 1100 Artikel umfassen. So führte Holbach in Paris das Leben eines Privatgelehrten, der ohne finanzielle Sorgen vom Erbe des Onkels seinen wissenschaftlichen Neigungen frönen konnte. In einem repräsentativen Pariser Stadthaus, in der Rue Royale St. Roche mitten im vornehmen 1. Arrondissement, in der Nähe der Rochus-Kirche, – die er dann später, zusammen mit Diderot, zu seiner Grablege bestimmt hatte – unterhielt er einen großen literarischen Salon, zu welchem sich jeweils an den Donnerstag9

Diderot, Denis: Vorwort. In: Ders.: Grande Encyclopédie, Bd. II. Paris 1752, S. 22. 57

nachmittagen führende Persönlichkeiten des Kultur- und Geisteslebens zusammenfanden und auch illustre Durchreisende willkommen waren. Bei opulenten Tafelfreuden und dem damals noch sündhaft teuren Kaffee diskutierte man über Politik, Literatur, und Philosophie. Der Gastgeber war in jenen Kreises alsbald unter dem anerkennendem Namen „Hotelier de la philosophie“ und sein Haus unter der Bezeichnung „Café de l’Europe“ bekannt. Im Jahr 1756 Jahr stirbt in Edesheim auch Holbachs leiblicher Vater, Jakob Thiry.10 Damit brechen auch die letzten Verbindungen mit Edesheim für immer ab. Im Landauer Anzeiger11 erschien 1925 aus der Feder eines jüdischen Rechtsanwalts eine fiktive Novelle in fünf Fortsetzungen. Darin ist von einer gemeinsamen Sommerfrische die Rede, welche Holbach und Voltaire angeblich auf dem Edesheimer Herrenhaus verbracht hätten. Die Idylle ist zu schön, um wahr zu sein, verständlich nur als Illusion und Tagtraum der Provinz, die freilich allzu gerne einen kleinen Zipfel vom rauschenden Mantel des großen Weltgeschehens auch für sich erhaschen möchte. Holbach ist mit Voltaire nachweislich erst in dessen Todesjahr im Jahre 1778 in Paris kurz zusammengekommen. Inzwischen war Paul Henry Baron d’Holbach zum korrespondierenden Mitglied der renommierten Berliner Akademie der Wissenschaften12 geworden; weitere ehrenvolle Ernennungen folgten 1766 zum Mitglied der gleichnamigen Akademie in Mannheim und schließlich 1780 als Mitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften. Letztere Ehrung geht möglicherweise auf die Vermittlung Diderots zurück, der 1773 von der Zarin Katharina  II. nach Russland eingeladen wurde. Holbachs naturwissenschaftliche Mitarbeit an der Encyclopédie dürfte die ersten zehn bis fünfzehn Jahre ausgefüllt haben. 10 11

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Vgl. Sauter: Der pfälzische Baron Paul Thiry von Holbach. Goldberg, Julius: Der Besuch in Edesheim. In: Landauer Anzeiger, Nr. 213–217, 12.– 17.  September 1925. (Es handelt sich um eine Novelle in fünf Folgen. Der Autor J. Goldberg war ein in Landau tätiger Rechtsanwalt jüdischer Herkunft. Er emigrierte 1938 nach New York, wo er lt. Mitteilung des Stadtarchivs Landau im gleichen Jahr verstarb.) Autograph des Dankschreibens in: Harthausen, Hartmut/​ Mercker, Hans/​ Schröter, Hans (Hg.): Paul Thiry von Holbach. Philosoph der Aufklärung 1723–1789. Katalog zur Ausstellung v. 11.  Juni–2.  Juli 1989 auf dem Hambacher Schloss (Pfälzische Arbeiten zum Buch- und Bibliothekswesen und zur Bibliographie, Bd. 15). Speyer 1989, S. 78. 58

„Système de la Nature“ Langsam scheint sich der Schwerpunkt seiner Interessen jedoch in Richtung auf die Philosophie verlagert zu haben. In der Mitte der 60er-Jahre erscheinen Werke kleineren Umfangs, die sich kritisch mit Glaube und mit Religion überhaupt auseinandersetzen. Bissig und scharf nehmen sie die Rolle der Kirche in der Gesellschaft aufs Korn. Allein schon die Titel der Publikationen wirken wie Fanfarenstöße, die das 1770 erschienene Hauptwerk Système de la nature vorab anzukündigen scheinen: Das Erstlingswerk dieser Schriften nennt sich: Le christianisme dévoilé ou examen des principes et des effets de la religion chrétienne13 (Das entschleierte Christentum oder Prüfung der Prinzipien und Wirkungen der christlichen Religion). Das Werk ist eine einzige Streitschrift gegen die Kirche als Verbreiterin des Aberglaubens, als Kumpanin und Stütze ungerechter staatlicher Verhältnisse, als Institution, die aus wohlverstandenem Eigeninteresse die Unwissenheit des Volkes fördere, statt abzubauen. Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt das kurz darauf auf dem grauen Markt käufliche Werk mit dem Titel: Lettres à Eugenie ou préservatif contre les préjugés14 (Briefe an Eugenie oder Vorsichtsmaßnahme gegenüber den Vorurteilen). In zwölf literarischen Briefen sollen allzu leichtgläubige Frauenzimmer zur Kritik erzogen und gegen die Scheinwahrheiten des Christentums gewappnet werden. Die Titel formulieren also bereits das Programm. Entsprechend liest man auf dem Deckblatt der dritten von Holbachs Frühschriften: La contagion sacrée ou la histoire naturelle de la superstition (Die heilige Seuche oder die Entstehungsgeschichte des Aberglaubens). Der Paukenschlag erfolgte jedoch 1770, als sein umfängliches Hauptwerk, Système de la nature, mit dem Untertitel: des lois du monde physique et du monde moral15 (System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und morali13

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Boulanger: Le christianisme dévoilé ou examen des principes et des effets de la religion chrétienne. Londres 1767. „Boulanger“ ist ein Pseudonym. Der Verlagsort „Londres“ ist wahrscheinlich Nancy oder Amsterdam. Zu den bibliographischen Besonderheiten bzgl. der fingierten Druckorte und Autorschaft vgl. Harthausen/​Mercker/​Schröter: Paul Thiry Holbach, Nr. 36–44, S. 82–85. Um die Zensur irrezuführen, wurden – wie bei allen Veröffentlichungen Holbachs – sowohl der Name des Autors als auch der Druckort verschleiert: M. Mirabaud, seit zehn Jahren verstorbenes Mitglied der „Academie francaise“, und „Londres“ statt Amster59

schen Welt), erschien. Es ist mit Abstand das Werk, welches die materialistische und atheistische Weltanschauung auf exzessivste Weise zum Ausdruck brachte. Gleich beim Erscheinen entfachte es einen Sturm der Entrüstung. Die Hüter von Recht und Ordnung griffen zu allen Maßnahmen, die ihnen zu Gebote standen. Es wurde vom „Parlement“, dem obersten Gerichtshof, geächtet und öffentlich verbrannt. Der Verkauf wurde unter strengste Sanktionen gestellt. Nachweislich wurden einige Erwerber ausgepeitscht, eingekerkert oder auf die Galeeren geschickt. Trotzdem verbreitete es sich rasend schnell. Im Gepäck des Adels, den es zwei Jahrzehnte später den Kopf kosten sollte, und dem der Diplomaten, das schon damals nicht kontrolliert werden durfte, wurde das Buch ins Land geschleust und auch wieder hinaus. Ein Jahr später erschien bereits von kirchlicher Seite eine geharnischte Widerlegung. 1783 erschien die erste von mehreren deutschen Übersetzungen, ebenfalls um es zu widerlegen, was freilich, wie auch heute, den Bekanntheitsgrad nur noch förderte. Die radikalen Thesen verschreckten sogar einen Voltaire, der wenigstens noch an einem allgemeinen, wenngleich rationalistisch ausgedünnten Gottesglauben festhalten wollte. Auch der Gedanke, dass das Volk an die Bildung heranzuführen sei, damit es sein ökonomisches und gesellschaftliches Geschick selbst bestimmen könne, erschien ihm utopisch. Goethe, der das Werk möglicherweise schon als Student in Straßburg las, nannte es „grau“ und „tot“. Vor allem war er grenzenlos enttäuscht, weil es die Erwartungen seiner Naturverehrung und seine Schwärmerei von deren All-Güte und der ihr innewohnenden Geheimnistiefe nicht erfüllte. Auch Friedrich der Große lehnte es heftig ab, weniger weil es darin gegen Religion und Klerus ging, sondern den Despotismus der Fürsten geißelte.16 In Système de la nature, das von der Polemik ‚Codex des Atheismus‘ genannt wurde, formuliert Holbach sein Anliegen in unmissverständlicher Deutlichkeit: –– Sinn des Lebens ist das Streben nach irdischem Glück. –– Zu dessen Erreichen muss man aber gleichzeitig auch das Glück des Mitmenschen wollen. –– Letztere bedarf keiner religiösen Unterbauung.

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dam. Abb. des Titelblatts von Système de la nature in: Harthausen/​Mercker/​Schröter: Paul Thiry Holbach, S. 79. Vgl. Voltaires Briefwechsel mit Friedrich II von Preußen (Voltaire ahnte zwar das geistige Umfeld des Système de la nature, aber der wirkliche Autor blieb ihm verborgen). 60

–– Das Leben ist endlich. Die Seele ist ebenso materiell wie der Leib und vergeht auch mit diesem. –– Bildung für alle ist zur Selbstbestimmung unabdingbar. –– Die Gesellschaft der Zukunft muss vom Bürgertum getragen werden. Ihr Ziel ist die allgemeine Wohlfahrt. –– Alle Formen der Religion sind zu eliminieren. Denn sie sind die Hauptquelle der Unwissenheit sowie Angst und das bisher wirkungsvollste Instrument von absichtsvoller Irreführung aus Machtinteressen heraus. –– Die Priester sind durch Ärzte zu ersetzen.

Hass auf den Klerus und die Kirche Holbachs Polemik gegen Kirche und Klerus basierte sicherlich auf seiner Beobachtung, wie Kirche und Staat ineinander verfilzt waren, wie die Kirche den Staat ideologisch stützte und dabei auch ihre Eigeninteressen im Blick hatte und ihr eigenes Süppchen kochte. Viele empfingen nur deshalb kirchliche Weihen, liefen in der Soutane umher und ließen sich Abbé nennen, um sich einträgliche Kirchenpfründe anzueignen, ohne wirklich den damit verbundenen Pflichten nachzukommen. Oder man denke an die Politik der Kardinäle Richelieu unter Ludwig XIV. und Mazarin unter Ludwig XV., und später, unter Napoleon, an Talleyrand, vormals Erzbischof von Autin, der privat wie amtlich von keinerlei moralischen Skrupeln geplagt war. Aber auch persönlich untadelige Männer, wie der Kanzelredner Bossuet, unterstützte die eigenmächtige staatliche Kirchenpolitik und verkündete dem Volk, der Thron des Königs sei der auf Erden sichtbare Thron Gottes selber, und Gehorsam gegenüber dem König sei dasselbe wie Gottesdienst. Schließlich ein über alle Zweifel erhabener Bischof, wie der fromme Fenelon, der viele erbauliche Schriften mit geistlichen Betrachtungen hinterließ, war so abgehoben, und so weit von der Realität des Volkes entfernt, dass auch von ihm für die Linderung der sozialen Nöte nichts zu erwarten war. Aus seiner gesellschaftlichen Perspektive sah Holbach vornehmlich diese höheren Ränge der Geistlichkeit. Was er nicht sah, was aber um der Gerechtigkeit willen ebenso gesagt werden muss, waren die mildtätigen, aber nicht hinreichenden Armenküchen und Hospitale sowie die Tausenden von frommen und eifrigen 61

Priestern auf dem flachen Land, die vorbildliche Seelsorger waren, und denen es sozial nicht viel besser ging als ihren anvertrauten Schäfchen. Holbachs Schriften sind – gerade wegen ihres atheistischen Ansatzes – alle von einem hohen moralischen Anspruch getragen. Der Mensch ist allein. Kein Gott wird ihm helfen. Mit seiner Schuld und seinem Streben nach Glück, das auch den Nebenmenschen mit einzuschließen hat, muss er alleine fertig werden. Er ist für sich und den Mitmenschen verantwortlich und rechenschaftspflichtig. Selbst Rousseau, der gegenüber Holbach zeitlebens seine Ressentiments pflegte („Sie sind mir zu reich.“), sagte immerhin von ihm, dass er zwar atheistisch gedacht, aber dennoch wie ein Christ gehandelt habe. Die erotischen Frivolitäten seines Zeitalters hat Holbach amüsiert zur Kenntnis genommen, aber sein eigenes Familien- und Privatleben soll vorbildlich gewesen sein, wie auch der lebenslange Freund Diderot in seinem „Briefen an Sophie Volland“ mehrfach bezeugt.17

Holbachs Arbeits- und Publikationsweise Holbach selbst blieb als Autor der brandgefährlichen Schrift unerkannt, da er, wie bei allen seinen religionskritischen Werken, durch fingierte Angaben zu Autorschaft und Druckort die Zensur irreführte. Die Zuweisung einiger Werke, die eben zitierten ausgenommen – ist deshalb bis heute nicht ganz geklärt, zumal heimlich umlaufende religionskritische Werke aus Frankreich aber auch entsprechende Literatur aus England ebenfalls in Holbachs Werkstatt bearbeitet, übersetzt und zum Druck befördert wurden.18 Die ungeklärte Autorschaft mancher Schriften, die hier nicht näher aufgeführt werden sollen, ist freilich der Preis für sein Inkognito. In der Pariser Gesellschaft war er der etwas dickleibige, joviale und gastfreundliche Privatgelehrte, der nicht gern reiste, dafür ein offenes Haus führte und allseits beliebt war. Aber Holbachs missionarischer Eifer, in dessen Dienst er auch sein Vermögen stellt, kümmert 17

18

Vgl. Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2010, S. 212–218. Unter Berufung auf Diderot, Denis: Briefe an Sophie Volland. Leipzig 1986 (hier bes. Briefe v. 18. Juli und 31. Juli 1762). Besthorn, Rudolf: Textkritische Studien zum Werk Holbachs (Kritische Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd.  34). Berlin (Ost) 1969; Vercruysse, Jeroom: Bibliographie descriptive des écrits du baron d’Holbach. Paris 1971. 62

sich nicht um die Eitelkeiten der Autorschaft. Vielmehr geht es ihm um die wirksame Verbreitung der Ideen der Aufklärung. Die Sorge um den Nachruhm ist ihm gleichgültig. Zur taktischen Verschleierung seiner publizistischen Aktivitäten gab es neben Holbachs Pariser Salon noch eine andere Lokalität, wo ein eingeschworener, absolut diskreter, enger Mitarbeiterkreis agierte. Aus der Erbschaft vom Schwiegervater hatte Holbach eine kleine Sommerfrische, ein Landschlösschen bei der Marnemündung, westlich von Paris, namens Grandval. Dort unterhielt Holbach ein Büro mit Übersetzern, Redakteuren und Schreibgehilfen. Nichts drang nach außen. Engste Vertraute waren unter anderem Diderot und dessen langjähriger Sekretär Naigeon. (Dieser war es auch, der die Privatbibliothek Holbachs von verdächtigem Material reinigte, bevor sie seine Witwe kurz nach dessen Tod verkaufte.) Abbé Galiani, einer der Eingeweihten und gleichzeitig geistvollsten Mitarbeiter in dieser ‚Synagoge des Unglaubens‘ genannten Geheimwerkstatt formulierte seine Besorgnis über die prekäre Situation zwischen literarischer Produktion und schleichender Angst vor Entdeckung in einem seiner unnachahmlichen Trinksprüche, wobei ihn selbst hier sein Esprit nicht verließ: „Die Kriegserklärung der Geistlichkeit an das ‚Système der Natur‘ ergreift mein Herz mit Schrecken: Gott bewahre die Atheisten vor behördlicher Verfolgung!“19 Die moralische Seite des Versteckspiels und der Doppelexistenz zwischen Sein und Schein hat später freilich Robespierre, der „Unbestechliche“ angeprangert: dass nämlich die Enzyklopädisten zwar gegen Religion und Feudalismus gekämpft, aber im bestehenden System einträgliche Posten bekleidet und bei den Mächtigen liebedienerisch antichambriert hätten. Diderot starb 1784, Holbach am 21. Januar 1789, auf den Tag genau vier Jahre vor der Hinrichtung Ludwigs XVI. Die Straße, die vom Temple, dem berüchtigten Gefängnis der Revolutionsgegner zur Place de la Concorde führte, wo die Guillotine stand, machte bei der großen Freitreppe vor der Kirchenfront von St. Roch, dem größten Gotteshaus nach Notre Dame, einen scharfen Knick. Auf dieser Plattform konzentrierte sich die johlende Menge, wenn die Leiterwagen mit 19

Gruber, H.: Art. Liberalismus. In: Wetzler und Welte’s Kirchenlexikon. Freiburg i. Br. 1886–1901 [http://​kathenzyklo.bplaced.net/​artikel.php?artikel=liberalismus] (Zugriff: 30. März 2020). 63

den Verurteilten zur Hinrichtung rollten. Und unten in der kühlen Krypta ruhten zwei bedeutende Wegbereiter einer neu heraufziehenden Zeit, von deren Geburtswehen sie durch einen gerade noch rechtzeitigen Tod gnädig verschont blieben.

Wirkungsgeschichte und kritische Würdigung Die in Holbachs Schriften angesprochenen materialistischen und religionskritischen Themen bewegen sich durchaus auf der Linie einer damals auch sonst weit verbreiteten Literatur. Was sein System der Natur von diesen jedoch unterscheidet, ist die Systematik und kompromisslose Radikalisierung, mit der diese seit langem umlaufenden Gedanken dargeboten werden. Die Vorläufer Holbachs haben Stein um Stein aus dem alten Denkgebäude herausgebrochen. Holbach hat das zerstreute Material gesammelt und ein in sich geschlossenes Gebäude errichtet. Hierauf beruht der Eklat, den es auslöste. Indem bei Holbach nun die verschiedensten Denkansätze zusammenlaufen, sich gleichsam brennpunktartig verdichten und konsequent zu Ende gedacht werden, wird in diesem Resumée das ganze Ausmaß des neuen Bildes vom Menschen und der Welt schlaglichtartig sichtbar.20 Holbach will von einer ‚maßvollen‘, vieles in der Schwebe lassenden und im letzten unentschiedenen Aufklärung nichts wissen. Die geistvolle Unverbindlichkeit von Gedankenspielen ist nicht seine Sache. Seine auf der Materie als alleinigem Prinzip aufbauenden Weltanschauung formt sich bei ihm zu einer bekenntnishaften Überzeugung. Ein gleichzeitiges halbherziges Festhalten an einem wenn auch rationalistisch ausgedünnten allgemeinen Gottesglauben à la Voltaire lehnt er ab. Dieser unbedingte Ernst hat ihm verschiedentlich den Vorwurf etwas düsterer Humorlosigkeit eingetragen. Vielleicht zeigt sich im unerbittlichen Durchstoßen auf den Grund und im Willen zum klaren System ein charakteristischer Zug seiner deutschen Mentalität. Holbach schiebt die bislang geltenden metaphysischen Voraussetzungen bewusst zur Seite und versucht jenseits dieser Vorurteile, wie er sie nennt, alles aus der Materie als der letzten Grundgröße zu erklären. 20

Naumann, Manfred: D’Holbach und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung. (Einführung). In: Holbach, Paul Thiry: System der Natur. Berlin (Ost) 1960. 64

Obgleich er jedoch weiß, dass „unsere Kenntnisse noch zu begrenzt sind, um die Totalität des Seienden zu umfassen“, und es „äußerster Zurückhaltung bedürfte, wenn es sich darum handelt, in der Naturwissenschaft allgemeine Regeln aufzustellen“21 , macht er aber dennoch den Versuch, in entschlossenem Vorgriff eine solche allgemeine Gesetzlichkeit aufzustellen, bevor die Wissenschaften ausreichend Material hierzu geliefert hatten. Eine Voreiligkeit freilich, aber auch eine Kühnheit der Argumentation, trotz des beschränkten naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes, die Welt in einem umfassenden Sinn materialistisch zu deuten. Freilich bezahlt er diese Kühnheit nun selber mit jenem Fehler, den er der alten Philosophie mit ihren unbewiesenen apriorischen Begriffen vorwarf. Denn Holbachs ‚Materie‘ und ‚Natur‘ werden von ihm just mit jenen Merkmalen ausgestattet, die man bislang als Attribute des göttlichen Wesens kannte: unerschaffen, ewig, selbstbewegend, unveränderlich. Die Bewegung erfolgt nach den ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Materie. Sie ist das Ganze, außerhalb dessen nichts existieren kann. In diesem geschlossenen Kreislauf gibt es nur Verschiebungen, Zusammenfügungen und Trennungen. Aber alles vollzieht sich innerhalb des Ganzen, das als solches immer gleich bleibt. Die Bewegung und die durch Anziehung und Repulsion (Abstoßung) hervorgerufenen Veränderungen bleiben systemimmanent. Die Summe innerhalb dieses ewigen Kreislaufes bleibt also immer gleich. Es ist wohl kaum verständlich zu machen, wo in diesem Determinismus, der nur Notwendigkeiten kennt, Fortschritt und Entwicklung möglich sein sollen. Denn auch der Mensch, der unter den Bestimmungen unwandelbarer Gesetzmäßigkeiten existiert, wäre dann ja auch immer nur Objekt und Spielball dieser mechanischen Bewegung der Elemente. Wo ist da Platz für Freiheit, Ethik, Fortschritt und Geschichte? Um die Vorurteile der alten religiösen Weltsicht zu bekämpfen, musste Holbach – darin liegt eine gewisse Tragik –zu einer ebensolchen Abstraktion, nämlich der ewigen Materie Zuflucht nehmen, die empirisch sein soll, in Wirklichkeit aber genauso metaphysisch und statisch ist wie die unbeweisbaren Axiome der Religion. Im Grunde verwirft Holbach das überkommene, spekulative, unkontrollierbare Denkgebäude der Religion, um es durch ein ebenso fragwürdiges zu ersetzen.

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D’Holbach: System der Natur. Berlin (Ost) 1960, Vorwort. 65

Die Materie wird nun unversehens zum Träger jener Eigenschaften, die früher Gott vorbehalten waren, nämlich Unerschaffenheit, Ewigkeit, Unwandelbarkeit. So entpuppt sich Holbachs Materialismus als eine Art Religiosität des absoluten Diesseits. So ist er, genau besehen, auf seine Art ein Theologe, oder genauer ein Theologe mit negativem Vorzeichen, weil er nicht anders kann, als die Materie doch wieder mit quasi religiösen Eigenschaften auszustatten. Freilich mit einem Unterschied. Die Materie selber ist kein wirkliches Du, kein personaler Ansprechpartner, zu dem man anrufend in Kontakt treten könnte. Irgendwie ist sie ein bloßes blindes Es. Ihr Wirken vollzieht sich nach unwandelbaren, ewigen Gesetzen. Der Mensch soll sie erforschen und aus diesen Erkenntnissen sein Dasein ausrichten. Glaube ist deshalb für Holbach keine Grundkategorie des Daseins, kein existentieller Wesenszug des Geschöpfes, wie in der überlieferten Religion, sondern nur eine vorläufige Hilfskonstruktion des Denkens, die durch naturwissenschaftliche Erforschung allmählich in immer klarere Erkenntnis überführt und so nach und nach durch sicheres Wissen abgelöst wird. Sein Materialismus ist daher ebenso bekenntnishaft wie die Religion. Auch er muss letztlich behaupten, obgleich er doch beweisen wollte. So ist er eigentlich eher Theologe mit negativem Vorzeichen statt reiner Materialist. Es bleibt ihm nichts übrig, als in Ähnlichkeit mit den verhassten Vertretern der Religion seinen Materialismus gleichsam von der Kanzel zu predigen. Holbach will die Menschen vom abergläubischen Joch eines schicksalsergebenen göttlichen Heilsplans befreien, um ihn infolge der Notwendigkeit der ewigen Materie und ihrer unwandelbaren Gesetze erneut in Fesseln zu schlagen. Sein Werk bleibt trotz allem ein Meilenstein der Geistesgeschichte. Gerade in seinem entschiedenen radikalen Materialismus hat er den Neuaufbruch der Aufklärung mitbestimmt. Trotz seiner Widersprüche ist sein Werk ein eindrucksvolles Dokument der Emanzipation und Autonomie des Denkens, das die alten Antworten nicht mehr fraglos hinnimmt, sondern zu den Sachen selbst vordringen will, wenngleich er selbst noch weithin spekulativem Prinzipiendenken verhaftet bleibt. Aber seine optimistische Vision von einer neuen Zeit strahlt noch weit ins 19. Jahrhundert hinein. Was Nietzsche im Blick auf die Glaubensantworten der Kirche sagt, könnte auch von Holbach stammen, nämlich dass „mancher nur des66

halb kein Denker wird, weil sein Gedächtnis zu gut ist“22, will besagen, dass die Religion aus ihrem reichen Traditionsschatz für alle Fragen schon immer eine Antwort bereithalte und im Sinne ihres Machterhalts schöpferische Neuaufbrüche des Denkens lähme und für bereits erledigt erklären wolle. Die Aufklärung ist die Zeit, die sich mit überkommenen Antworten nicht zufriedengibt und sich auf das Wagnis des autonomen Denkens einlässt. Holbach versucht, den Menschen aus sich selbst heraus zu erklären und ihm seine Lebensgestaltung als Individuum und gesellschaftliches Wesen sowie deren Sinn in die eigenen Hände zu legen. Es gibt keinen Himmel, der ihm falschen Trost suggeriert. Er hat nur sich selbst und muss selber seines Glückes Schmied sein. Die Weltgeschichte ist selber schon das Weltgericht, wird Hegel ein Jahrhundert später sagen. Und Feuerbach, der unmittelbare Vorgänger von Marx, verkündet, dass der Mensch für den Menschen ein Gott sein müsse. Auch Marx verweist den Menschen ganz auf sich selber: statt die Hände zu falten und passiv auf ein jenseitiges Glück zu starren, soll er lieber die Ärmel hochkrempeln und auf die Verbesserung der innerweltlichen Strukturen hinarbeiten. (Holbachs Werke sind in den sozialistischen Ländern bis ins letzte Jahrhundert weit verbreitet und werden auch in Frankreich bis heute immer wieder aufgelegt). Und Sartre, nicht mehr so optimistisch, aber bei aller existentialistisch-nihilistischen Grundstimmung deshalb nicht weniger trotzig, will lieber das dunkle sinnlose Grauen des Nichts aushalten, als sich zu einem illusionären Gott zu flüchten. Die Freiheit beginnt für ihn jenseits der Verzweiflung. Leider hat uns die jüngere deutsche Vergangenheit gelehrt, welche grauenvolle Konsequenzen die von Feuerbach noch optimistisch verkündete These haben kann, wenn der Mensch für den Menschen zum Gott wird. Denn in der äußersten Not seiner Schändung und Vernichtung kann der in den Staub getretene Mensch nicht einmal mehr protestierend zu einer höheren Instanz flüchten, weil ja über den Menschen hinaus keine Berufung auf einen letztverbindlichen Maßstab mehr möglich ist. Gleichwohl ist die Theologie als Glaubens-Wissenschaft der Aufklärung in mancherlei Hinsicht verpflichtet. Gerade in Bezug auf die von Holbach scharf attackierte Religion hat die Theologie durch die Auseinandersetzung mit der Religionskritik der Aufklärung und in deren Folge mit den Theorien von Feuerbach, Marx und Freud Reinigung und bleibende Einsichten erfahren: 22

Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 2. München 1954, S. 122. 67

–– Die Überwindung der leidvollen und unseligen Verstrickung von Religion und Gesellschaft ist in der Trennung von Staat und Kirche verwirklicht worden und hat damit beiden ein je neues eigenständiges Selbstverständnis ermöglicht. –– Nicht zuletzt ist auch eine Reinigung des vielfach instrumentalisierten Gottesbildes angestoßen worden. –– Die wissenschaftliche Erforschung der Bibel führte zur historisch-kritischen Exegese, die durch Einblick in die zeitbedingten Dimensionen der Hl. Schrift den Kern der Glaubensaussage neu zum Bewusstsein brachte. –– Die Unterscheidung von Glaube und Wissen, von heilig und profan, von naturwissenschaftlicher Methode und Glaubenserkenntnis hat den Blick für die ungeheure Wucht der Welt und ihre ernstzunehmende Eigenbedeutung neu geschärft und damit einem wirklichen Ernstnehmen der Schöpfung vorgearbeitet, die nun nicht mehr nur als (zumindest halb) dualistisches Tränental der Pilgerschaft fungiert, vielmehr dem Menschen als Arbeitsfeld seiner Daseinsverwirklichung aufgetragen ist. Das Heil besteht nun nicht mehr in einseitiger Weltüberwindung, es erwacht vielmehr ein Gespür für die Kostbarkeit und das Eigengewicht des Daseins als Aufgabe und Lebensraum. Damit ist ein wirkliches Ja zur Welt möglich, wenn der Mensch weiß, dass im Gewebe seines Daseins mit den Fäden von Gnade und Schicksal auch jener der schöpferischen Freiheit eingewoben ist.

Schluss Holbach, und mit ihm die Aufklärung, wollten die Befreiung des Denkens aus den Zwängen der ihnen übermächtig scheinenden Vorherrschaft der überkommenen Autoritäten, vor allem der Religion, die sie als den Kerkermeister des Geistes ansahen. In der Entdeckung der Materie, auf die er das Ganze des Daseins glaubte zurückführen zu können, meinte er jenen unabhängigen Standpunkt gefunden zu haben, der ihm erlaubte, jede religiös verursachte Knechtung des Denkens aushebeln zu können. Dass er mit seiner Lehre von der unentrinnbaren Geltung der Naturgesetze den Menschen, den er doch befreien wollte, nun in neue Fesseln schlug, war ihm nicht bewusst. Sein Fehler war, im Glück der Entdeckerfreude einen richtigen Gedanken überhöht und zum alleinigen Erklärungsgrund, gleich68

sam zur Weltformel erhoben zu haben. Damit freilich steht er nicht allein. Manchen Großen des Geistes ist es so ergangen. Der Religionskritiker Ludwig Feuerbach hat aufgrund unseres von menschlichen Vorstellungsbildern geprägten Gottesbildes gemeint, dass Gott und Religion deshalb überhaupt nur ein Erzeugnis des menschlichen Geistes seien. Weil wir über Gott nur mit menschlichen Begriffen sprechen können, reden wir in der Religion eigentlich nur von uns selbst. Theologie sei deshalb nichts anderes als menschliche Selbsterkenntnis in fromm-religioser Verkleidung. Theologie sei nichts anderes als indirekte Anthropologie. Indem die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf hinfällig wird, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Gott und Welt, zwischen oben und unten, zwischen heilig und profan, zwischen Natur und Übernatur, keine Distanz mehr zwischen Materie und Geist. Natürlich ist auch die Unterscheidung von Leib und Seele hinfällig. Alle bisher gewohnten Gegensätze verschmelzen zu einer ungeschiedenen Einheit. Holbachs Materialismus ähnelt dem Pantheismus, wie er aus der Religions- und Theologiegeschichte bekannt ist: Gott geht gleichsam seiner Weltenthobenheit verlustig und wird in die Welt hereingezogen, in sie eingeschmolzen; er wird sozusagen selber zur Welt. Was man früher Gott nannte, wird jetzt zur unergründlichen Geheimnistiefe der Welt selber. Es gibt weder Hölle noch Himmel. Gott und Welt fallen gleichsam in eins. Sobald also ein neues Gebiet entdeckt ist, besteht im ersten Entwurf, welcher die Komplexheit des Phänomens noch nicht überblickt, die Gefahr von vorschnellen und damit allzu vereinfachenden Lösungen. Dennoch haben diese großen Geister Meilensteine auf dem Weg des Denkens und der menschlichen Selbsterkenntnis errichtet, und ihr Verdienst behält trotz der Sackgassen, Kurzschlüsse und Irrwege einen ausgezeichneten Rang. So ist auch bei Holbach manches im Einzelnen wie im Wesentlichen höchst problematisch. Aber er stellt die Frühform eines neuen Denkweges dar, an dem sich die Kritik entzünden kann, die dann ihrerseits wieder das Denken vorantreibt. Man wird solchen Persönlichkeiten wie ihm nur gerecht, wenn man trotz aller Vorbehalte im Einzelnen ihre Leistungen als Ausdruck ihrer geistesgeschichtlichen Einbindung würdigt und so erst deren Größe und Grenze angemessen einschätzen kann. Johannes von Salisbury, ein gelehrter Mönch des 12.  Jahrhundert (später Bischof von Chartres) bringt diesen Sachverhalt in einem eindrucksvollen Bild auf 69

den Punkt: „Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen, weshalb wir mehr sehen als diese.“23 Und von Hieronymus stammt die Überzeugung: „Keineswegs wollen wir die Alten abtun. Nach erfolgtem Studium der Vorläufer wollen wir uns im Hause des Herrn nach Kräften abmühen“24.

Zum Autor (geb. 1940 in Edenkoben, Rheinpfalz) verh. mit Birgitta, geb. Bauch, 3 Kinder; Abitur am Altspr. Gymn., Neustadt (Weinstr.); Studium der Philosophie und Kath. Theologie in Eichstätt, Frankfurt und München; 1970 Promotion Uni München; dort Wiss. Assistent; 1972–1986 Assist.-Prof. an der Univ. Landau. Nach der Habilitation in München seit 1986 Prof. für Kath. Theologie (Systematik und Religionsphil.) im Rahmen d. Lehrerbildung an der Uni Landau. Emeritierung 2005. In der Katholischen Akademie in Bayern (München) Betreuung des literarischen Nachlasses des Religionsphilosophen Romano Guardini: Bibliographie, Aufbau des Archivs (München) sowie Neuausgabe des Gesamtwerks und Editionen aus dem ungedruckten Nachlass. Publikationen zur Theologie des Mittelalters und zu Romano Guardini; Beiträge zur Philos. d. Aufklärung und zur Regionalgeschichte.

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„… nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre …“ (Johannes von Salisbury, Metalogicon 3,4, S. 47–50). „Quid ergo, damnamus veteres? Minime! Sed post priorum studia in domo Domini quod possumus laboramus“ (Hieronymus, Apologia adversus Rufinum II (Patrologia Latina 23, 470), S. 25. 70

Werner Simon

Joseph Anton Gall (1748–1807). Katechese im Kontext katholischer Aufklärung Joseph Anton Gall zählt nicht zu den Klassikern der katholischen Religionspädagogik. In den repräsentativen religionspädagogischen Lexika findet sein Name keine Erwähnung. Dieses Schicksal teilt er mit weiteren katholischen Religionspädagogen, die in der Epoche der Katholischen Aufklärung wichtige Impulse für eine Reform der Katechese und des Religionsunterrichts setzten und die es verdienen, dass man sich ihrer auch heute erinnert. Siegfried Rudolf Pichl typisiert Gall in seiner im Jahr 2006 an der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg eingereichten Dissertation als „Josephiner“1, als Sympathisanten und Unterstützer der von Joseph  II. (1741–1790) angestoßenen und vom Geist der Aufklärung getragenen staats- und religionspolitischen Reformen. Als solcher fiel Gall in den „strengkirchlichen“ Kreisen des 19.  Jahrhunderts unter das Verdikt, Vertreter einer „staatskirchlichen“ Position zu sein, ein Verdikt, das seinen Ruf bei aller Anerkennung seiner persönlichen Integrität und seines glaubwürdigen Lebenswandels nachhaltig belastete. Die neuzeitliche Aufklärung war auch in den katholischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches nicht zuletzt eine Bildungsbewegung. Der folgende Beitrag wird daher nach den Motiven sowie den inhaltlichen und methodischen Prämissen fragen, von denen her Gall maßgebliche Impulse für die von ihm angestrebte Reform der religiösen Bildung gewinnt und die ihn als einem repräsentativen Vertreter einer aufgeklärten katholischen Religionspädagogik und Katechetik erweisen.

1

Pichl, Siegfried Rudolf: Joseph Anton Gall. Josephiner auf dem Bischofsstuhl (Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1038). Frankfurt a. M./​Bern/​Berlin u. a. 2007. 71

Zur Person2 Joseph Anton Gall wurde am 27. März 1748 als Sohn des Tuchhändlers und Tabakfabrikanten Anton Gall (1715–1791) in der schwäbischen Reichsstadt Weil der Stadt geboren, die kirchlich zum Bistum Speyer gehörte. Seine humanistischen sowie philosophischen Studien absolvierte Gall am Gymnasium der Jesuiten in Rottenburg und am Lyzeum des Jesuitenkollegs St. Salvator in Augsburg, das Studium der Philosophie und der Theologie an der kurpfälzischen Universität Heidelberg3. Nach Abschluss dieses Studiums trat er in das 1724 neu errichtete fürstbischöfliche Priesterseminar in Bruchsal, der Residenzstadt der Speyerer Bischöfe, ein. Hier erfuhr er eine entscheidende Prägung durch den damaligen Regens und späteren Weihbischof Andreas Seelmann (1732–1789)4, der Galls Interesse an der Katechese weckte und ihn mit der neuen Unterrichtsmethode des schlesischen Abtes Johann Ignaz Felbiger (1724–1788)5 bekannt machte. 1772 wurde Gall in

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Vgl. Hollerweger, Hans: Joseph Anton Gall. In: Zinnhobler, Rudolf (Hg.): Die Bischöfe von Linz. Linz 1985, S. 32–57; Zinnhobler, Rudolf: Art. Gall. In: Gatz, Erwin (Hg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/​1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1983, S.  228–229; Ferihumer, Heinrich: Art.  Gall. In: NDB 6 (1964), S.  42–43; Werner, Karl: Art. Gall. In: ADB 8 (1878), S. 317–318. Ausführlich und detailreich würdigt Franz Joseph Freindaller in einem Nekrolog Person, Lebensweg und Wirken Galls: Freindaller, Franz Joseph: Biographische Nachrichten von dem weiland hochwürdigsten, am 18. Junius 1807 verstorbenen Bischof von Linz, J. A. Gall. In: Neue theologisch-praktische Monathschrift zunächst für Seelsorger 5/​II (1807), S. 253–295. Die theologische Fakultät der Universität Heidelberg hatte seit 1706 einen protestantischen (reformierten) und einen katholischen Fakultätsteil. Der katholische Fakultätsteil wurde 1807 an die Universität Freiburg transferiert und in die dortige theologische Fakultät integriert. Vgl. Jung, Norbert: Der Speyerer Weihbischof Andreas Seelmann (1732–1789) im Spannungsfeld von „nachgeholter“ Aufklärung und „vorgezogener“ Restauration (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd.  103). Mainz 2002. Vgl. Krömer, Ulrich: Johann Ignaz von Felbiger. Leben und Werk (Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge, Bd. 22). Freiburg i. Br. 1966. Ferner: Simon, Werner: Benedikt Strauch (1724–1803) – Reform der Schule und Reform der Katechese in Schlesien in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts. In: Bendel, Rainer/​Spannenberger, Norbert (Hg.): Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittelund Südosteuropa (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 48). Köln/​Weimar/​Wien 2015, S. 267–295. 72

Bruchsal zum Priester geweiht. Bereits im darauffolgenden Jahr reiste er nach Wien, um dort bei Felbiger, den Maria Theresia (1717–1780) im gleichen Jahr nach Wien berufen und mit der Reform des österreichischen Schulwesens beauftragt hatte, die „Normalschulmethode“ zu studieren. Aufgrund einer Empfehlung Felbigers wurde Gall 1774 die Stelle eines Katecheten an der Normalschule bei St. Anna in Wien übertragen. Von der Diözese Speyer freigestellt, wechselte er gleichzeitig in den Diözesanverband der Erzdiözese Wien. 1778 wurde Gall zum Hofkaplan, 1779 zum Pfarrer der landesfürstlichen Pfarrei Burgschleinitz in Niederösterreich ernannt. 1784 erneut nach Wien berufen, übertrug ihm Joseph II. das Amt des Oberaufsehers der niederösterreichischen deutschen Schulen und damit die Verantwortung für die Durchführung der angestoßenen Schulreformen (Verbesserung der Lehrmethode und der Schulbücher, Errichtung neuer Schulen, Visitation des Unterrichts, Reform der Lehrerausbildung).6 Aufgrund eines 1787 erlassenen Gesetzes, demgemäß an allen Kathedralkirchen die Stelle des Domscholasters dem Oberaufseher der Schulen verliehen werden soll, wurde Gall im gleichen Jahr Domscholaster des Metropolitankapitels bei St.  Stephan in Wien. Nur ein Jahr später nominierte ihn Joseph II. „in Rücksicht der sich sowohl um die Seelsorge als die Normalschullehre besonders erworbenen Verdienste“7 als Nachfolger des verstorbenen ersten Bischofs der im Rahmen der österreichischen Diözesanregulierung 1783 neu errichteten Diözese Linz. Galls Nominierung war die erste Nominierung eines bürgerlichen Bischofs in Österreich seit 1648. Der päpstlichen Konfirmation mit Breve Piusʼ  VI. (1775–1799) vom 5.  Dezember 17888 folgten am 8. Februar 1789 die Konsekration in Wien durch den Wiener Erzbischof Christoph Anton Kardinal von Migazzi (1714–1803) sowie am 1. März 1789 die Inthronisation in Linz. Schwerpunkte des bischöflichen Wirkens lagen in 6

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Vgl. auch: Seebauer, Renate: Lehrerbildung in Porträts. Von der Normalschule bis zur Gegenwart (Schul- und Hochschulgeschichte, Bd. 2). Wien/​Berlin 2011, S. 35–44. Schreiben des Kanzlers Leopold von Kolowrat-Krakowsky vom 9. Mai 1788. – zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 59. Das päpstliche Konfirmationsschreiben bestätigt die Eignung Galls für das in Aussicht genommene Bischofsamt: „So haben wir aus Sorgfalt, damit die Diözese nicht unerledigt bleibe, unser Augenmerk auf dich gerichtet, in der Speyrischen Diözese geboren, über 40 Jahre alt, durch 16 Jahre Priester, bei der Metropolitankirche in Wien als Domscholastiker angestellt, die Seelsorge durch mehrere Jahre mit Ruhm ausgeübet, das Predigtamt und die geistlichen Ämter klug und nützlich verwaltet.“ – zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 61. 73

den beiden folgenden Jahrzehnten vor allem in dem Bemühen um die äußere Festigung und den weiteren inneren Ausbau der noch jungen Diözese sowie auf der Umsetzung der angestoßenen Kirchenreformen. Die besondere Aufmerksamkeit Galls galt dabei der Aus- und Fortbildung des Seelsorgeklerus. Nach Aufhebung der Generalseminarien durch Kaiser Leopold II. (1747–1792) eröffnete Gall 1794 in Linz die neu errichtete „K.K. Studienanstalt für Theologie sowohl für angehende Welt- als auch Ordenspriester“, 1806 das ebenfalls neu errichtete diözesane Priesterseminar. Auf eine Initiative Galls geht auch die von Franz Joseph Freindaller (1753–1825) begründete und seit 1802 in Linz erscheinende Theologisch-praktische Monathschrift zunächst für Seelsorger zurück.9 Joseph Anton Gall starb am 18. Juni 1807 in Linz im Alter von 59 Jahren. In seinem Testament hatte er das Linzer Priesterseminar zum Universalerben eingesetzt.

Schriften Gall veröffentlichte zwischen 1778 und 1797 verschiedene katechetische Schriften, die zum Teil mehrere Auflagen erfuhren. Sie entstanden im Zusammenhang seines katechetischen Wirkens an der Wiener Normalschule und als Pfarrer in Burgschleinitz sowie im Zusammenhang der von ihm als Oberaufseher des deutschen Schulwesens und als Bischof von Linz wahrgenommenen Amtspflichten. Sie spiegeln zugleich die Reformanliegen einer im Kontext der Katholischen Aufklärung profilierten Katechetik. Am Beginn stehen zwei in Musterdialogen verfasste Einführungen in die Lehren und Wahrheiten der christlichen Religion. Die Vorstellung der liebreichen Anstalten und Ordnung Gottes, die Menschen gut und glücklich zu machen10 wendet sich dabei primär an Jugendliche, die bereits den Religionsunterricht besucht haben. Sie dient der Erinnerung und Auffrischung von bereits Gelerntem. Die Einleitung zum Religionsunterrichte in Gesprächen der Mutter mit dem Kinde11 adres9

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Vgl. Kagerer, Josef: Franz Joseph Freindaller (1753–1825). Gründer der „Theologisch-praktischen Monathschrift“. Diss. Linz 1991. Wien: im Verlag der deutschen Schulanstalt 1778. Wien: im Verlag der deutschen Schulanstalt 1779. 74

siert Mütter als Erzieherinnen ihrer Kinder und will ihnen Hilfen bereitstellen für die Vermittlung eines ersten Verständnisses der zentralen Wahrheiten der christlichen Religion. Die religiöse Unterweisung in der Familie dient dabei zugleich der Vorbereitung für den späteren Religionsunterricht in der Schule. Katechetische Auslegungen der sonn- und festtäglichen Evangelien veröffentlicht Gall in einer Sammlung der in Burgschleinitz gehaltenen „Frühlehren“.12 Eine seelsorgliche „Aufklärung“ des „Volkes“ spiegeln schließlich die literarisch fingierten, aus konkreten seelsorglichen Gelegenheiten erwachsenden Unterredungen eines Dorfpfarrers mit seinen Pfarrangehörigen, die Gall pseudonym unter dem Titel Sokrates unter den Christen in der Person eines Dorfpfarrers13 im Druck erscheinen lässt. Gleich im ersten Jahr seines Amtsantritts als Bischof von Linz erlässt Gall eine Anweisung, wie die Kirchenkatechisationen künftig gehalten werden sollen14, in der er die maßgeblichen didaktischen Grundsätze und die methodischen Grundlinien der als Kirchenkatechese organisierten Christenlehre für die nicht schulpflichtige Jugend entfaltet. Eine im gleichen Jahr veröffentlichte Musterkatechese15 veranschaulicht die programmatischen Ausführungen durch ein konkretes Beispiel. Weitere katechetische Schriften werden im Verlag des k.k. SchulbücherVerschleißes bei St.  Anna in Wien veröffentlicht. Es handelt sich dabei um die noch in Galls Zeit als Oberaufseher verfasste und für den Religionsunterricht in den Dorfschulen bestimmte Anleitung zur Kenntniß und Verehrung Gottes für die Kinder auf dem Lande16, ferner die ebenfalls als Belehrungsschrift für Kinder und Jugendliche konzipierte Anweisung zur Glückseligkeit nach dem Leben und der Lehre Jesu17 sowie die als Hausbuch zum Vorlesen in den Familien gedachten Parabeln oder Gleichnißreden für Junge und Alte18. Darüber hinaus veröffentlicht Gall ein Frühwerk liturgiekatechetischer Unterweisung: Andachtsübungen, Gebräuche 12

13 14 15

16 17 18

Sonn- und Festtägliche Evangelien der Dorfgemeine zu Burgschleinitz unter der Frühmesse vorgetragen von ihrem dermaligen Pfarrer Joseph Anton Gall. 2 Bände, Wien: Ghelen 1782–1784. Wien: Ghelen 1783–1784 (3 Bände). Pseudonym: Johan[n] Leopold Stangl. Linz: Trattner 1789. Muster einer Christenlehre nach der Anweisung für die Kirchenkatecheten der Linzer Diözese. Nebst einer Nacherinnerung, Linz: Rohrmoser und Bergmeister 1789. Wien 1793. Wien 1793. Wien 1797 (3 Bände). 75

und Ceremonien unserer heiligen katholischen Kirche, recht faßlich und lehrreich erkläret zur Beförderung der wahren Andacht und Ordnung des Gottesdienstes19.

Katechese im Kontext katholischer Aufklärung In den angeführten Schriften entfaltet Gall das Konzept einer Katechese, in dem Motive der zeitgenössischen katholischen Aufklärung eine zentrale Bedeutung erlangen.

„Aufklärung“ Gall teilt Positionen der katholischen Aufklärung und ihre Kritik an Aberglauben und Fehlformen des Glaubens. Seine Kritik zielt dabei positiv auf ein nach den Maßstäben der Vernunft auf das Wesentliche ausgerichtetes Christentum. Aufklärung heißt, in einem jeden Stande dasjenige lernen, was wahr und gut und nützlich zu wissen ist und für den Stand gehöret. [So soll] der Christ seine Religion gut und nach der Wahrheit lernen, damit er wisse, wie er recht zu glauben, was er hoffen und wie er leben soll, Gott zu gefallen und sich selbst und seine Nächsten zu lieben. Wenn er das gut und nach der Wahrheit lernet, so ist er aufgekläret. So wird von Jesus gesaget, daß er das Licht sey, die Welt zu erleuchten, Finsternisse, Aberglauben, Irrthümer, Unwahrheit zu zerstreuen – Das heißt nichts anderes als aufklären.20

19

20

Wien 1796–1799 (3 Bände). – Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Kluger, Florian: Liturgische Bildung in der Neuzeit. Taufe, Firmung und Eucharistie bei P. Nicolaus Cusanus, Bischof Johann Anton Gall und Pastor Konrad Jakobs (Studien zur Pastoralliturgie, Bd. 43). Regensburg 2019; Hirt, Bruno: Die liturgischen Ansichten und Bestrebungen von Joseph Anton Gall als Bischof von Linz (1789–1807). Diplomarbeit zur Erlangung des theologischen Magisteriums an der Katholisch-Theologischen Hochschule Linz. Linz 1983. Brief Galls an seinen Bruder Johann Baptist vom 17. Oktober 1790. – zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 213. Vgl. auch: Geiger, Anton J.: Joseph Anton Gall und die Aufklärung. Diplomarbeit zur Erlangung des theologischen Magisteriums an der Katholisch-Theologischen Hochschule Linz. Linz 1983. 76

Die biblische Licht-Metaphorik aufgreifend, spricht Gall dem christlichen Glauben selbst eine ihm eigene aufklärende Kraft zu.

„Glückseligkeit“ Auch das für die Aufklärung zentrale Motiv der Berufung des Menschen zur Glückseligkeit konvergiert mit der schöpfungstheologisch und soteriologisch entfalteten Bestimmung des Menschen in der Absicht Gottes: Gott will, dass die Menschen glückselig werden – sowohl in diesem als auch im jenseitigen Leben. Das Leben nach den Geboten Gottes zielt auf diese Glückseligkeit. Es zielt in seinen Folgen zugleich auf die allgemeine Wohlfahrt und auf Nutzen für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen. Ja wir haben wahrhaft an unserm Gott einen höchst gütigen Vater, dessen wir uns über alles erfreuen müssen, wenn wir ihn nur recht kennen. Seine göttliche Absicht mit uns Menschen ist, dass wir gut und glückselig werden. Alle Anstalten, die er von jeher unsertwegen getroffen hat, zielen dahin, uns zu belehren, wie wir gut, ihm wohlgefällig und glückselig werden können. Wenn wir Menschen so beschaffen sind, so denken, wollen und handeln, wie Gott es haben will, so befördern wir schon in diesem Leben nicht allein unsere innere Zufriedenheit, sondern auch unser zeitliches Glück; und dann wird er uns als seine guten Kinder, zu unserm Lohne, im andern Leben unaufhörlich glückselig machen.21

Das „Wesen der christlichen Religion“ Programmatisch pointiert Gall in seiner Antrittsansprache bei der Amtseinführung als Bischof von Linz die „Hauptabsicht“ der christlichen Religion, die in der Gottesliebe und der Nächstenliebe besteht. In der Gottesliebe und Nächstenliebe wurzeln wahre Frömmigkeit und tugendhaftes Leben. Gall sieht daher den Schwerpunkt seiner Aufgaben als Bischof darin,

21

[Joseph Anton Gall]: Liebreiche Anstalten, die Menschen gut und glückselig zu machen. Wien 1808, S. 3f. 77

wahre Gottesverehrung zu verbreiten, wie sie reinen und würdigen Begriffen von der Gottheit angemessen ist; durch diese unser anvertrautes Volk zum Wesentlichen des Christenthums zu leiten – Gott über alles, und den Nebenmenschen zu lieben, wie uns selbst. Wenn wir den höchsten Gott vorstellen, wie er liebreich die Dinge in der Natur zur Nothdorft und Annehmlichkeit unseres Lebens veranstaltet, wie alle seine Vorschriften und Lehren der Religion dahin abzielen, uns zu trösten und zu bessern, gut und glückselig zu machen: so lernen wir daraus ihn, als unseren himmlischen Vater, und uns selbst, als seine Kinder, ansehen und einander lieben. Und dieses ist das Hauptanliegen der Religion; dahin müssen ihre Sakramente, ihre Gebether, Andachten und Zeremonien zielen, und darnach fleißig erkläret werden, weil Liebe die Erfüllung des Gesetzes und das Wesen der christlichen Religion ist.22

Seelsorgliche Aufklärung des Dorfvolkes In Sokrates unter den Christen in der Person eines Dorfpfarrers wählt Gall die Form des „sokratischen Gesprächs“23, um so zu einer durch eigene Einsicht erlangten „Aufklärung“ des „Dorfvolkes“ beizutragen. Der Pfarrer, von dem die folgenden Gespräche herrühren, hatte beobachtet, daß Mißbräuche, Vorurtheile und Aberglaube unsere heilige Religion entehren. Diese suchte er, wo sich ihm Gelegenheit anbot, auszureuten und richtige Begriffe an ihre Stelle zu setzen: es mochte bei Erwachsenen oder bei Kindern seyn. Dann richtete er seine Gespräche nach der Fassung der Personen ein.24

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23

24

Antrittsansprache Galls beim Amtsantritt als Bischof in Linz am 1. März 1789, zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 63. Vgl. auch: Simon, Werner: „Sokratische Methode“ als Lernweg religiöser Bildung. (Religions-)Pädagogik im Kontext der Katholischen Aufklärung. In: Heller, Thomas (Hg.): Religion und Bildung – interdisziplinär (FS Michael Wermke) (Studien zur Religiösen Bildung, Bd. 17). Leipzig 2018, S. 143–156. Gall 1783 (Bd. 1), S. 7. 78

Die Unterredungen greifen Themen auf, die klassische Kritikpunkte der Katholischen Aufklärung widerspiegeln: die Kritik an unangemessenen Gottesvorstellungen, an gedankenlosem Gebet, an veräußerlichten Frömmigkeitsformen (Wallfahrten, Fasten), übertriebener Heiligenverehrung und konfessioneller Unduldsamkeit sowie die Polemik gegen klösterlichen Müßiggang und den päpstlichen Anspruch auf eine den Bischöfen übergeordnete Autorität. Sie zielen auf eine verinnerlichte Religion und Frömmigkeit sowie auf praktizierte Nächstenliebe und Duldsamkeit.

Kritik am mangelhaften „Begriff von Gott und seiner Heilsanstalt“ In einer Denkschrift an Kaiser Leopold II. (1747–1792) vom 2. Juni 1790 weist Gall auf den mangelhaften Zustand der Religion hin. Die Ursache der vorgefundenen Missstände sieht er dabei vor allem in einer unzulänglichen religiösen Bildung, die einen mangelhaften „Begriff “ von Religion und Glaube zur Folge hat. Der Begriff, den sich das Volk – auch wohl manche Geistliche, von Gott und seiner Heilsanstalt durch Jesum machet, ist sehr niedrig, mangelhaft, unzusammenhängend, theils sogar widersprechend und ungereimt. Die Verehrung Gottes bestehet meistens in einer Art Furcht, die ihn nicht verherrlicht – in überwiegendem Vertrauen auf seine Geschöpfe – in äußerlichen Andachtsübungen, Gebetsformeln und Zeremonien, welche das Volk nicht mit der gehörigen Vorstellung begleitet, deren Bedeutung es nicht oder unrichtig denkt, die es meistens mechanisch, oder höchstens mit einem dunkeln, öfters abergläubischem Gefühle verrichtet, das kaum den Nahmen Andacht verdienet. Insofern die Religion hierauf eingeschränkt ist, hat sie weder Einfluß auf die innere Glückseligkeit, welche die Lehre Jesu erzielt, noch auf die Rechtschaffenheit des Lebens. Der Werktag, die häusliche Sorgfalt, Pflege und Erziehung der Kinder, die Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, überhaupt die gewöhnlichen, häuslichen, gesellschaftlichen und bürgerlichen Pflichten, werden nicht zum Gottesdienste gezählt.25 25

Denkschrift Galls an Kaiser Leopold II. vom 2. Juni 1790. – zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 91f. 79

Um diesen Missständen abzuhelfen, schlägt Gall die Herausgabe von geeigneten katechetischen Leitfäden, Predigtvorlagen, Erbauungs- und Liederbüchern vor sowie die Sicherstellung eines einheitlich geordneten katechetischen Unterrichts. Die Hauptabsicht dabei müßte sein, uns Gott und seine Anstalt durch Jesum so kennen zu lehren, daß sie durchaus eine Anweisung zur Tugend und Glückseligkeit sei, daß alle ihre Lehren zu unserer Erleuchtung, Besserung, Trost, Beruhigung für dieses und das künftige Leben abzielen, folglich Gott bei seiner Verehrung wie die Verherrlichung seiner unendlichen Güte und Erbarmniß, also auf [auch?] unsere selbsteigene Vervollkommnung und Ausbildung zu den Pflichten und dem Glücke dieses wie zur Glückseligkeit jenes Lebens zur Pflicht habe.26

Reform der Katechese Bereits während seiner Zeit als Oberaufseher der deutschen Schulen hatte Gall die „sokratische Methode“ als Methode eines das eigenständige Nachdenken der Schüler fördernden, fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs empfohlen. Die Anweisung, wie die Kirchenkatechisationen künftig gehalten werden sollen, folgt diesem Grundsatz und macht ihn für die als nachmittägliche Kirchenkatechesen organisierten sonn- und festtäglichen Christenlehren fruchtbar. Glaubens- und Sittenlehren sollen nicht nur memoriert werden, vielmehr wird ein durch einsichtiges eigenes Nachdenken erworbenes Verständnis der Lehren angestrebt, das zugleich den alltagsweltlichen praktischen Lebensbezug als einen für das Verständnis der Glaubens- und Sittenlehren wesentliches Moment begreift. Pichl fasst die in der Anweisung für die Glaubenslehren geforderte katechetische Vorgangsweise knapp zusammen: 1) Zuerst ist der Schrifttext, die Begebenheit oder Geschichte anzuführen, die zum Beweis der Lehre dient, gefolgt von einer kurzen und simplen Erklärung, deren Verständnis sogleich durch Nachfragen überprüft wird. 2) Die darin erhaltene Lehre wird gezeigt bzw. nachgefragt. 26

Ebd. – zitiert nach Hollerweger: Joseph Anton Gall, S. 38f. 80

3) Die praktische Anwendung der Lehre – was für eine Verheißung, Trost und Beruhigung sie gebe – wird gezeigt bzw. nachgefragt. 4) Der Lehrer erklärt, wie gut es Gott mit der Offenbarung dieser Lehre gemeint hat, welches Trostes wir ohne sie beraubt wären, und daß man sich also mit Freuden an sie halten solle. Er fragt die Schüler über diese Bemerkung aus. 5) Schließlich läßt er die Schüler Beispiele nennen, in welchen Fällen sich diese Lehre im Alltag anwenden läßt. 6) Der letzte Punkt betrifft die Wiederholung des Vorausgehenden, wobei der Lehrer die Schüler nochmals über das Gelernte befragt.27

Dass die Darlegung der Glaubenslehre ihren Ausgang bei der in der Heiligen Schrift bezeugten Geschichte nimmt, findet sich mit vergleichbarer Akzentuierung bereits in den 1782 veröffentlichten „Frühlehren“. Gall distanziert sich dort vom Ansatz einer „mystischen“ Schriftauslegung und vertritt den Ansatz einer „historischen“ Auslegung: Ich folgte in der Abhandlung dieser Evangelien der historischen Erklärung. Sie, glaubte ich, sage eigentlich aus, was die Sache in der evangelischen Lage war. Die mystische hingegen, suchet sich selber ihren Verstand, den sie, mit Hilfe des natürlichen Witzes, leicht erfindet.28

Die katechetische Behandlung der Sittenlehren zeigt eine ähnliche Vorgehensweise wie die Behandlung der Glaubenslehren: 1) Zunächst wird das Beispiel oder der Ausspruch Jesu angeführt, erklärt und sogleich nachgefragt, ob das Beispiel verstanden wurde. 2) Der Lehrer fragt nach, was den Schülern an dem Beispiele gut gefallen habe und warum? Ob ihnen auch das Gegenteil gefallen würde und warum nicht? 3) Es wird wiederum die praktische Anwendung der Lehre gezeigt, die Schüler sollen selbst recht viele Beispiele nennen. 27 28

Pichl: Joseph Anton Gall, S. 197. Gall 1782 (Bd. 1), Vorwort. – zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 18. 81

4) Es wird gefragt, welchen Nutzen diese Lehre bringe, und wie es wohl ohne sie unter den Menschen herginge? 5) Der Lehrer erklärt, daß Gott uns dieses Gebot zu unserem eigenen Besten gab, die Schüler sollen Gott als gütigen Vater lieben lernen und ihm gerne gehorchen. 6) Zuletzt weist sie der Katechet nochmals an, wo und wie die Lehre anzuwenden sei. Wichtig ist die praktische Übung der Lehre. 7) Wenn es die Zeit erlaubt, soll alles nochmals wiederholt werden.29

Auch im Bereich der Sittenlehre erinnert Gall an den bereits erwähnten Grundsatz der Ausrichtung am Wesentlichen, das er für die Sittenlehre in der „Goldenen Regel“ gegeben sieht: Es ist gewiß besser weniger, und dieß recht nützlich zu lernen. Ein einfältiger Mensch, der für das gesellschaftliche Leben, die einzige Regel inne hätte: Was du nicht willst, was dir geschehe, das thue auch keinem andern: und alles, was du willst, daß dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch: – wer diese einzige Regel recht innehätte, ihre Wahrheit und ihren Werth innig fühlte, sie sich zum Grundsatze aller seiner geselligen Handlungen machte, und sie auf alle Fälle der gesellschaftlichen Pflichten und ihre Kollisionen fertig anzuwenden wüsste – ein solcher Mensch wäre zuverläßig besser, als einer, der ein ganzes System von tausend Regeln der Nächstenliebe symbolisch besäße.30

Die Bedeutung von Beispielen und Beispielerzählungen für die religiöse Bildung unterstreicht Gall mit Verweis auf das Vorbild der Gleichnisreden Jesu in seinen Parabeln und Gleichnißreden für Junge und Alte. Als Hausbuch sind sie für die häusliche Lektüre gedacht: Setzet euch an Sonn- und Feyertagen Abends zusammen, mit euern Weibern und Kindern, Dienstbothen und Nachbarn. Da lese einer, der gut lesen kann, etwas vor; alle übrigen hören zu. Hernach rathet und sprechet ei29 30

Pichl: Joseph Anton Gall, S. 197f. Gall 1789, 17f. – zitiert nach Pichl: Joseph Anton Gall, S. 199f. 82

nander darüber. Ihr werdet finden, daß alles gar lehrreich, gut und fromm ist.31

Erst nach eigenem Nachdenken und gemeinsamem Austausch soll dann die gefundene Auslegung mit der Auslegung Galls verglichen werden: Ihr findet hernach am Ende meine Auslegung. Da könnet ihr sehen, ob ihr alles so recht getroffen habet, und euch darüber freuen. Hättet ihr es etwa nicht getroffen, so bitte ich euch, daß ihr hinten nach die Erzählung noch einmahl durchleset. Ihr urtheilet dann gewiß, daß meine Auslegung recht gut zur Erzählung passe, und daß die schönen Lehren, die ich darüber gegeben habe, ganz richtig daraus folgen.32

Eine in der „katholischen Aufklärung“ verortete „zeitgemäße“ und „kritische“ Religionspädagogik Gall teilt das optimistische Menschenbild der Aufklärung und ihr Bildungsinteresse. In seinen katechetischen Schriften konvergieren Motive der Aufklärung und Motive einer seelsorglich orientierten Theologie, in der die vom Schöpfer intendierte Bestimmung des Menschen zur „Glückseligkeit“ eine fundamental theologische und zugleich fundamental anthropologische Bedeutung gewinnt. Die im Programm der Aufklärung intendierte ‚Erziehung des Menschen‘ geht von der Bildsamkeit des Menschen aus, setzt seine Bildungsfähigkeit voraus und hat den gebildeten Menschen zum Ziel, der sein eigenes Leben und das Leben der Gesellschaft vernunftgemäß gestaltet und so durch ein tugendhaftes Leben individuelles Glück und allgemeines Wohl mehrt und befördert. Gall partizipiert in seinen katechetischen Entwürfen an dieser pädagogischen Zuversicht. Sie motiviert eine Katechese, die Selbstdenken anregen und eigene Einsicht ermöglichen will. In diesem Sinn ist Gall ein repräsentativer Vertreter einer in der „katholischen Aufklärung“ verorteten „zeitgemäßen“ und „kritischen“ Religionspädagogik.

31 32

Gall 1797 (Bd. 1), S. 3f. Ebd., S. 7. 83

Zum Autor (geb. 1950 in Niederwalluf/​Rheingau) Studium der Fächer Katholische Theologie, Latein und Geschichte, Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien; Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschulassistent am Fachbereich Katholische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 1985–1991 Professor für Religionspädagogik und Didaktik der Katholischen Religionslehre am Seminar für Katholische Theologie und am Zentralinstitut für Curriculumentwicklung der Freien Universität Berlin; 1991–2015 Professor für Religionspädagogik, Katechetik und Fachdidaktik Religion an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Hans Ammerich

Paul Josef Nardini (1821–1862) – sein Lebenswerk und Glaubenszeugnis Mitte des 19.  Jahrhunderts entwickelte sich Pirmasens zu einem Zentrum der Schuhherstellung. Doch gleichzeitig waren Armut und Not weit verbreitet. Missernten führten zu einer Explosion der Lebensmittelpreise. Krankheit und Seuchen waren in Folge des Hungers allgegenwärtig. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren hart, Arbeitsschutz, Kranken- und Altersversorgung gab es noch nicht. Mehr schlecht als recht lebten viele Bewohner der Stadt vom Schuhhandwerk, das in den Familien oder Manufakturen angefertigt wurde. Die „Pirmasenser Schuhmädchen“ waren oft wochenlang unterwegs, um im Hausiererhandel die Schuhe zu verkaufen. Viele Männer mussten ihr Brot als Saison- oder Wanderarbeiter verdienen. Die Kinder blieben meist sich selbst überlassen und gingen betteln.1 In dieser Situation wandte sich der junge Pfarrer von Pirmasens, Paul Josef Nardini (1821-1862),2 an die Öffentlichkeit. Im Pirmasenser Wochenblatt veröffentlichte er am 30. November 1851 einen Artikel unter dem Titel „Aufruf zur Hülfe der Armen“: Der Unterzeichnete hat gelegentlich seines amtlichen Wirkens und Privatlebens in hiesiger Stadt bei so vielen braven Familien eine Armuth angetroffen, die ihm in der Seele wehe thut und jedes fühlende Menschenherz

1

2

Zur Situation in Pirmasens um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Karg, Klaus/​Ammerich, Hans: Paul Josef Nardini (1821–1862) und seine Zeit: die politischen, kirchlich-religiösen und sozialen Verhältnisse in Pirmasens und der bayerischen Pfalz. In: Historischer Verein Pirmasens, Jahrbuch 2017, S. 175–212. Zu Paul Josef Nardini: Schranz, Ludwig: Die Kongregation der Armen Franziskanerinnen von Mallersdorf (1855–1925). Regensburg 1925, S. 3–174; Bauer, M. Radegund: Dr. Paul Josef Nardini. Ein Lebensbild. Speyer 1990, 21995; Dies.: Paul Josef Nardini. Ein Leben für Benachteiligte. München 2006; Ammerich, Hans: Das Bistum Speyer und seine Geschichte, Heft 7: Paul Josef Nardini. Kehl 2006; Ders.: Paul Josef Nardini. In: Harthausen, Hartmut (Hg.): Pfälzer Lebensbilder, Bd. 7. Speyer 2007, S. 183–211. 85

zum Mitleide hinreißt und zur Hilfe auffordert […]. Obgleich er zunächst nur für das Seelenheil der Gemeinde zu sorgen hat, so kann er sich doch das leibliche Elend, von dem so viele Glieder der Gemeinde so hart gedrückt sind, nicht aus dem Sinne schlagen, muß vielmehr Tage und Nacht daran denken, wie unglücklich die Lage dieser Armen ist. Er könnte hier nie glücklich und zufrieden leben, wenn er sich nicht sagen könnte, das Seinige nach möglichster Kraft zur Linderung der Armuth beigetragen zu haben mit Rath und That. Auch sieht er wohl ein, daß diese leibliche Noth ein Hemmschuh und Hinderniß ist und bleiben wird gegen das gesegnete Gedeihen seiner geistigen Aussaat, der Religiosität und Sittlichkeit und besonders gegen die Heranbildung der Jugend zu einer frommen glücklichen Generation.3

Nardini erkannte, dass er sich der sozialen Missstände annehmen müsste, um seine seelsorgliche Aufgabe vollkommen zu erfüllen. Es müsse „unser so tief gesunkenes, armes Volk wieder getröstet, geistig erhoben, sittlich ermuntert werden,“ und „den Armen das Evangelium gepredigt werden, nicht bloß im Worte, sondern in der Kraft eines in Liebe tätigen und aus Liebe sich hinopfernden Glaubens“4. Nardinis Appelle markierten den Beginn seines überaus erfolgreichen sozialen Wirkens, das dem Priester schon zu Lebzeiten den Beinamen „Vater der Armen“5 einbrachte. Um gegen die Not und die Verelendung anzukämpfen, gründete er 1855 gegen viele Widerstände eine Schwesterngemeinschaft: die „Kongregation der Armen Franziskanerinnen von der Heiligen Familie“, heute bekannt als „Mallersdorfer Schwestern“ (so genannt nach dem späteren Mutterhaus in Mallersdorf/​Niederbayern). Seit 165 Jahren wirkt sie entsprechend ihrem Gründungsauftrag segensreich in der Armen- und Krankenpflege sowie in der Erziehungshilfe. Paul Josef Nardini verstarb am 27.  Januar 1862 im Alter von erst 40 Jahren an einer schweren Lungenentzündung. Die von ihm gegründete Schwesterngemein3

4 5

Pirmasenser Wochen-Blatt. Anzeige-Blatt für die Kantone Pirmasens, Dahn und Waldfischbach, Nr.  96, Sonntag, den 30.  November 1851; Schranz: Kongregation, S.  29f.; Bauer: Nardini, S. 60f. Der christliche Pilger, Nr. 7 vom 13. Februar 1852, Beilage zum christlichen Pilger. Rönn, Norbert: Josef Nardini (1821–1862). Vater der Armen und Verlassenen. In: Beaugrand, Günter (Hg.): Die neuen Heiligen. Große Christen auf dem Weg zur Heiligoder Seligsprechung. Augsburg 1991, S. 201–211. 86

schaft hatte damals 220 Schwestern in 36 Niederlassungen. Nardinis Lebenswerk und sein Glaubenszeugnis bleiben unvergessen. Am 22. Oktober 2006 erfolgte im Speyerer Dom seine Seligsprechung.6

Nardinis Weg zum Priester Am 25. Juli 1821 wurde Paul Josef Lichtenberger in der Festungsstadt Germersheim als uneheliches Kind geboren.7 Der Vater, ein österreichischer Militäringenieur, verließ Nardinis Mutter Margaretha Lichtenberger schon vor der Geburt seines Kindes. Eine Großtante, die mit dem Schuster Josef Anton Nardini, einem gebürtigen Norditaliener, verheiratet war, nahm 1823 den Zweijährigen an Kindes statt an. Von seinem Pflegevater erhielt er den Namen Nardini. Wie dieser sollte er später Schuhmacher werden. Seit 1834 durfte der begabte Junge die Lateinschule in Germersheim besuchen; von dort wechselte er 1838 auf das Speyerer Gymnasium. 1840 wurde er in das neu eröffnete Bischöfliche Konvikt aufgenommen. Er wollte Priester werden. Nach dem Abitur 1841 und dem philosophischen Studium in Speyer begab sich Nardini zum Theologiestudium nach München, wo er 1846 zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Am 22. August 1846 wurde er in Speyer zum Priester geweiht. Zwei Tage nach der Priesterweihe, am 24. August, wurde er zum Stadtkaplan von Frankenthal ernannt. Diese Stelle konnte er jedoch aufgrund gesundheitlicher Probleme erst am 3. Oktober antreten. Nur zwei Monate war er Kaplan in Frankenthal, denn am 1. Dezember wurde er zum Präfekten im Bischöflichen Konvikt in Speyer ernannt. Hier sollte er sich zunächst erholen und wieder zu Kräften kommen. Doch wollte er lieber in der Gemeinde tätig sein. So half er immer wieder in den umliegenden Pfarreien aus, wo er als ausgezeichneter Prediger begeisterte. „Jeden Tag bin ich mehr davon über6

7

Vgl. Rönn, Norbert/​Bauer, M. Radegund (Hg.): Paul Josef Nardini. Pfarrer, Sozialreformer, Ordensgründer. Bild- und Dokumentationsband zur Seligsprechung. Speyer 2006; Bauer: Nardini, S. 190–195. Zum Lebensweg Nardinis im Überblick: Ammerich, Hans: Nardini. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd.  6. Herzberg 1993, Sp. 461f.; Ders.: Nardini. In Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd.  18. Berlin 1997, S.  735f.; Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Bischöflichen Ordinariats Speyer (Hg.): Paul Josef Nardini 1821–1862. Sozialreformer, Seelsorger, Ordensgründer. Speyer 2006. 87

zeugt“, schrieb der Zwanzigjährige in sein Tagebuch, „welche Kraft das gesprochene Wort besitzt, wenn es eindringt in alle Herzen, sie bewegt, erschüttert […]. Immer lebendiger schwebt mir […] die Notwendigkeit vor Augen, dass ein Verkünden der […] wahren Religion in einer der Religion so abholden Zeit durch die äußere Form für den Inhalt gewinnen müsse“. Er bat Gott, dieser möge ihm die „Kraft der Sprache“ schenken, und versprach, „dieses Talent nur zu gebrauchen zu seiner Ehre, nur zur Verbreitung seines Ruhmes, seines Reiches“8. Bischof Nikolaus von Weis erkannte, dass Nardini sich besser für die Pfarrseelsorge als für die Erziehungs- und Lehraufgaben des Konvikts eignete. Deshalb übertrug er ihm am 11. April 1850 die Leitung der lange vernachlässigten Pfarrei Geinsheim. Nach seiner Ankunft in Geinsheim berichtete Nardini dem Bischof, „dass es nur einer gewissenhaften, umsichtigen“ Seelsorge, „einem rastlosen Eifer und einer vollen männlichen Geistes- und Leibeskraft gelingen könnte, die in vieler Beziehung in einen solchen verwahrlosten Zustand gebrachte“ Pfarrei „wieder nach Jahren in einen annehmbaren normalen Zustand zu erheben“9. Kaum zeichneten sich dort erste Erfolge in der Seelsorge ab, wurde Nardini Mitte Februar 1851 gegen den Willen der Geinsheimer Katholiken zum Pfarrverweser von Pirmasens bestellt. Alle Bemühungen, den Bischof umzustimmen, waren vergebens. So verließ Nardini die Pfarrei Geinsheim nach kaum einem Jahr und ging am 7. Mai 1851 nach Pirmasens.10

Sozialer Kämpfer für die Armen Pirmasens war damals eine der schwierigsten Pfarreien in der Diözese.11 Von den ca. 8000 Einwohnern waren nur 1800 Katholiken; davon lebten 800 in umliegenden 22 Orten und Gehöften. Zu den großen räumlichen Entfernungen kamen 8

9 10 11

Nardini, Paul Josef: Tagebuch. Autograph. Original in zwei Teilen im Archiv des Klosters Mallersdorf. Das Tagebuch umfasst die Zeit vom 5. Januar 1841 bis zum 19. Februar 1843. Es enthält viele Nachrichten von seinem Schulleben, so die Beschreibung einzelner Unterrichtsstunden, und vom Alltag im Bischöflichen Konvikt in Speyer; Bauer: Nardini, S. 23. Ebd., S. 52; Ammerich: Nardini, S. 186. Vgl. Bauer: Nardini, S. 54f.; Ammerich: Nardini, S. 186f. Vgl. Bauer: Nardini, S. 56–61; Ammerich: Nardini, S. 186–188. 88

weitere Probleme: Insbesondere Spannungen und Feindseligkeiten zwischen den Glaubensgemeinschaften erschwerten Nardinis Arbeit. Die schwierigen seelsorglichen Verhältnisse in seiner Pfarrei forderten ihn ebenso wie das Problem, damalige Missstände zu beheben. Damals verdiente die Bevölkerung der Stadt Pirmasens ihren Lebensunterhalt vornehmlich mit der Schuhfabrikation. Auch mit billigen Bildern und anderen Gegenständen wurde gehandelt. Unter den Männern war Saisonarbeit verbreitet. Die infolge fehlender Qualität niedrigen Preise der Schuhe bewirkten, dass die Löhne relativ gering blieben. Ihnen standen jedoch vergleichsweise hohe Mieten gegenüber, obwohl die Wohnungen zumeist in schlechtem Zustand waren. Die häufige Abwesenheit der Eltern machte ein geordnetes Familienleben unmöglich. Vielfach waren die Kinder auf sich allein gestellt und auf Straßenbetteln angewiesen.12 Nardini, der in seiner Kindheit Einsamkeit und Entbehrung erfahren hatte, suchte nach Wegen, der Not in seiner Pfarrei zu begegnen. Dabei konnte er seine vielseitige Begabung und seine hervorragenden Fähigkeiten einsetzen und entfalten; er wurde zum sozialen Vorkämpfer seiner Zeit. Er erkannte die elende Lage der Bevölkerung seiner Stadt, die Armut und das Problem der elternlosen und verwahrlosten Kinder; er sah, dass die kommunalen und staatlichen Stellen nicht in der Lage waren, die Not zu bewältigen. Als Seelsorger nutzte er jede Gelegenheit, um die Gläubigen aus ihrer Trägheit aufzurütteln. Um die Gläubigkeit und die religiöse Praxis der Pirmasenser war es schlecht bestellt: „Nicht minder groß als die leibliche Armut und eine Mitursache jener, ist die geistige Armut im lebendigen christlichen Glauben“, schrieb Nardini 1852.13 Zunächst wollte er Jesuiten in die Stadt holen, die dort eine Volksmission abhalten sollten. Weil man wohl Einwände von Protestanten befürchtete, wurde die Volksmission jedoch von der Regierung nicht erlaubt, was Nardinis Pläne einer Glaubenserneuerung erschwerte. 1853 trat Nardini in Oggersheim dem „Dritten Orden des heiligen Franziskus“ bei und nahm den Namen „Franziskus“ an.14 Er lebte arm und bedürfnislos und war nur darauf bedacht, die Armut und die Not in Pirmasens zu lindern. Dazu wollte er die „Töchter des allerheiligsten Erlösers“, die Niederbronner Schwestern, nach Pirmasens holen, deren Hauptziel „die Fürsorge für die Armen, Kranken 12 13 14

Vgl. Karg/​Ammerich: Nardini, S. 180f. Ebd., S. 188. Vgl. Bauer: Nardini, S. 82. 89

und Kinder“ war, wie es in der Ordensregel heißt. Er reiste im Oktober 1851 ins nordelsässische Niederbronn und bekam die Erlaubnis der Ordensoberen, bis Februar 1852 vier bis sechs Schwestern nach Pirmasens kommen zu lassen. Wenig begeistert von diesem Vorhaben war der Bischof. Er erteilte zwar seine Zustimmung, dennoch mahnte er zur Vorsicht: es dürfe nichts übereilt werden.15 Nardini musste sich nun um die finanzielle Grundlage kümmern, da die Ordensleitung in Niederbronn nur unter der Bedingung ihre Zustimmung erteilt hatte, dass er den Schwestern Wohnung und Unterhalt zur Verfügung stellen würde. Hierzu erhoffte er sich vom Stadtrat finanzielle Unterstützung, da eine solche Niederlassung den Armen der Stadt zu Gute kommen sollte. Doch der Stadtrat befürchtete, dass durch Ordensschwestern der Friede in der überwiegend evangelischen Bevölkerung gestört werden könne. Nachdem Nardini jedoch schon früher bei einer Audienz beim Regierungspräsidenten der Pfalz, Gustav von Hohe, im Januar 1852 von diesem das gewünschte Verständnis und die Zustimmung erhalten hatte,16 erklärte der Stadtrat einstimmig, er wünsche keine Niederbronner Schwestern in Pirmasens.17 Er intervenierte bei der Regierung, bei der sich dann ein Stimmungswechsel gegen Nardini vollzog. Auch der evangelische Pfarrer lehnte Nardinis Vorhaben ab. Nun bemühte sich Nardini darum, dass die Jesuiten in Pirmasens doch noch eine Volksmission abhalten durften. Sie fand im Januar 1853 statt und wurde ein Erfolg. Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten wurden beigelegt, alte Vorurteile beseitigt.18 Jetzt musste Nardini weiterhin versuchen, die finanzielle Grundlage für die Schwestern zu schaffen. Deshalb gründete er am 22. März 1853 einen Vinzentiusverein, um die Mittel zur Einrichtung einer Filiale der Niederbronner Schwestern zur Verfügung stellen zu können und alles für ihre Ankunft

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Bauer, M. Radegund/​Ammerich, Hans (Hg.): „Ihr ergebenster Pfarrer Nardini“. Der Briefwechsel zwischen Paul Josef Nardini und Bischof Nicolaus von Weis – ein Blick in die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. München 2008, S. 19–23; Bauer: Nardini, S. 62f.; Ammerich: Nardini, S. 188. – Zu den „Niederbronner Schwestern“: Schranz: Kongregation, S. 27f. Vgl. Bauer: Nardini, S. 63f.; Ammerich: Nardini, S. 188. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 32; Bauer: Nardini, S. 64; Ammerich: Nardini, S. 188. Vgl. Bericht über die Volksmission in Pirmasens (16.–30.  Januar 1853) im „Christlichen Pilger“, Nr. 8, 1853; Schranz: Kongregation, S. 37–39; Bauer: Nardini, S. 66f. 90

vorzubereiten.19 Am 13. Juni 1853 trafen die ersten drei Niederbronner Schwestern in Pirmasens ein, wo sie eine Zweizimmerwohnung, die neben dem Pfarrhaus für sie angemietet wurde, bezogen.20 Im harten Winter 1853/​54 wurden die Schwestern durch eine Hungersnot und die darauffolgende Typhusepidemie bis über ihre Grenzen hinaus belastet. Sie versuchten, die ärgste Not zu lindern, strapazierten sich über Gebühr, und drei von ihnen erkrankten auch an Typhus, eine vierte an Lungenentzündung.21 Als die Generaloberin in Niederbronn von der schwierigen Situation ihrer Schwestern in Pirmasens erfuhr, teilte sie Nardini mit, dass sie die Schwestern niemals geschickt hätte, wenn sie von diesen Zuständen in Pirmasens gewusst hätte. Sie ließ ihn weiterhin wissen, dass sie die Schwestern besuchen und vielleicht wieder nach Niederbronn zurückbringen wolle.22 Im Dezember 1854 traf ein Schreiben der Staatsregierung in Pirmasens ein, das den Schwestern die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit untersagte und sie aufforderte, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Gegner Nardinis hatten bei der Regierung interveniert, bis diese ein Verbot der Niederlassung der Niederbronner Schwestern in der Pfalz erwirkte. Da sich ihr Mutterhaus im Elsass befand, galten sie als „Ausländerinnen“, als „Französinnen“.23 Dies bedeutete einen harten Rückschlag für Nardinis Arbeit. Durch Briefe und Artikel in Zeitungen machte er auf die Lage in Pirmasens aufmerksam. Bischof Nikolaus von Weis, alle Pfarrer der Pfalz und viele Katholiken in Deutschland setzten sich für das Bleiben der Niederbronner Schwestern in Pirmasens ein. Einige katholische Abgeordnete in München nahmen sich dieses Problems an, ebenso der päpstliche Nuntius de Lucca, bis König Max II. am 29. Januar 1855 den Ausweisungsbefehl zurücknahm.24

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Vgl. Bauer: Nardini, S.  67f.; Ammerich: Nardini, S.  188f.  –  Zum Vinzentiusverein: Schranz: Kongregation, S. 26f. Vgl. Bericht im „Christlichen Pilger“, Nr. 24 vom 13. Juni 1853; Schranz: Kongregation, S. 39f.; Bauer: Nardini, S. 68; Ammerich: Nardini, S. 189. Vgl. Bauer: Nardini, S. 69; Ammerich: Nardini, S. 189. Vgl. Bauer: Nardini, S. 69f.; Ammerich: Nardini, S. 189. Vgl. Bauer: Nardini, S. 73; Ammerich: Nardini, S. 189. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 49f.; Bauer: Nardini, S. 74; Ammerich: Nardini, S. 189. 91

Gründer einer Schwesterngemeinschaft Dennoch war sich Nardini im Klaren, dass es so nicht weitergehen konnte, denn ein weiterer Umschwung der Regierungsmeinung würde seine Arbeit erneut in Gefahr bringen. In dieser Lage sah er nur zwei Möglichkeiten: Entweder musste er seine Niederlassung von Niederbronn lösen und selbstständig machen oder eine neue Schwesternschaft gründen.25 Der Bischof war von keinem der beiden Vorschläge begeistert. Er mahnte zu Vorsicht und Behutsamkeit und konnte sich nicht für die Gründung einer neuen Schwesterngemeinschaft erwärmen.26 Er schlug vielmehr einen Mittelweg vor: Die Pirmasenser Filiale der Niederbronner Schwestern sollte auch Pfälzerinnen aufnehmen und sich allmählich von Niederbronn lösen. Dort wollte man aber einer Ablösung vom Mutterhaus auf keinen Fall zustimmen und eher die Schwestern abberufen. Nun versuchte Nardini in Speyer, den Bischof doch noch von der Notwendigkeit einer neuen Ordensgründung zu überzeugen. Es kam jedoch zu keiner Entscheidung.27 Indessen eskalierten die Ereignisse. In Pirmasens war 1855 wieder eine Typhusepidemie ausgebrochen, und die Generaloberin der Niederbronner Schwestern hatte eine der vier Schwestern aus Pirmasens abgezogen.28 In dieser schwierigen Lage fragte Nardini in Niederbronn an, ob nicht zwei junge Frauen aus dem III. Orden des heiligen Franziskus, die gerade zum vierzigstündigen Gebet in Pirmasens weilten, ins Schwesternhaus aufgenommen werden könnten.29 Doch er wartete die Antwort nicht ab, sondern gründete am 2. März 1855 eine neue Gemeinschaft, die „Armen Franziskanerinnen, Töchter der Heiligen Familie“, kleidete die Schwestern ein und gab ihnen neue Ordensnamen. Er übertrug ihnen die Aufgabe der Armen- und Krankenpflege in seiner Pfarrei.30 Im Niederbronner Mutterhaus war man bestürzt und beorderte die verbliebenen drei Schwestern 25

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Vgl. Schranz: Kongregation, S.  51–54; Bauer: Nardini, S.  75; Ammerich: Nardini, S. 189. Vgl. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 8, S. 39–41; Bauer: Nardini, S. 76; Ammerich: Nardini, S. 189. Vgl. Bauer: Nardini, S. 78; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Bauer: Nardini, S. 78; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Bauer: Nardini, S. 78; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Schranz: Kongregation, S.  59–61; Bauer: Nardini, S.  79; Ammerich: Nardini, S. 190. 92

zurück. Damit war die Loslösung von Niederbronn vollzogen.31 Am 1. Mai zogen die Schwestern mit den inzwischen aufgenommenen Waisenkindern in das „Armenkinderhaus“ ein, das zum Mutterhaus der neuen Gemeinschaft wurde.32 Der Bischof war durch Nardinis eigenmächtiges Vorgehen im höchsten Grade verärgert; er hatte sich die Loslösung von Niederbronn anders vorgestellt.33 In den angespannten politischen Verhältnissen der damaligen Zeit wollte er Auseinandersetzungen mit den Behörden vermeiden und betrachtete deshalb schon die Tatsache, dass die Niederbronner Schwestern in der Diözese Speyer bleiben durften, als Erfolg. So tadelte er Nardini und ließ dessen Briefe über ein halbes Jahr unbeantwortet.34 Als er am 7. September 1855 wieder an Nardini schrieb, meinte er: „Gott gebe, dass nichts Schlimmeres aus Ihrem eigenmächtigen Vorgehen entstehe, sondern dass durch seinen Segen Gutes auf kirchlichem Boden erwachse“35. Auch der Staat war gegen die Vorgehensweise Nardinis, weil er ohne Einvernehmen mit dem Stadtrat den Armen ein Haus gekauft hatte und offenbar nun eine neue Gemeinschaft gründen wollte.36 Doch Nardini sah durch dieses mutige Vorgehen seine Arbeit für die nächste Zeit gesichert. Um die Menschen in seiner Gemeinde stärker in das Leben der Schwestern einzubeziehen, ließ er sie an allen wichtigen Ereignissen der neuen Schwesternschaft teilhaben. So strömten zum Portiunkula-Fest am 2. August 1855 auch Menschen aus der Umgegend zusammen, um mitzufeiern. Dabei wurden drei junge Frauen feierlich in die Schwesterngemeinschaft aufgenommen.37 Die Freude hierüber war jedoch nur von kurzer Dauer. Die Polizei war auf die Schwesterngemeinschaft aufmerksam geworden, und nach wenigen Tagen er31

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Vgl. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 10, S. 48–50; Bauer: Nardini, S. 79; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Schranz: Kongregation, S.  62–67; Bauer: Nardini, S.  82; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Bauer: Nardini, S. 81; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Bauer: Nardini, S. 81; Ammerich: Nardini, S. 190. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 17, S. 67f.; Bauer: Nardini, S. 84; Ammerich: Nardini, S. 190. Vgl. Bauer: Nardini, S. 84f.; Ammerich: Nardini, S. 190f. Vgl. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 15, S. 61–63; Bauer: Nardini, S. 84; Ammerich: Nardini, S. 191. 93

reichte ein Protestbrief der Regierung das Bischöfliche Ordinariat. Nardini hätte, so heißt es darin, zur Gründung einer Gemeinschaft die Zustimmung der kirchlichen und weltlichen Behörden einholen müssen; er habe aber versäumt, dies zu tun.38 Nun versagte ihm auch das Bischöfliche Ordinariat die förmliche Anerkennung. Es verlangte am 24.  Oktober 1855, dass die Schwestern ihr Ordenskleid ablegen sollten und dass in der Pfarrkirche kein franziskanisches Fest mehr gefeiert werden dürfe.39 Nardini befahl nun den Schwestern, nur Gürtel und Rosenkranz als eigentliche Zeichen ihres geistlichen Standes abzulegen, Kleid, Haube und Kragen aber beizubehalten.40 Am 26. Oktober bat er den Bischof um Hilfe.41 Der Bischof schickte Dekan Storck (Heltersberg) nach Pirmasens, der Nardini zunächst ablehnend gegenüberstand. Er sollte untersuchen, ob sich der junge Geistliche an die bischöflichen Weisungen halte. Der Dekan machte aus seiner Bewunderung für Nardini beim Bischof nach seiner Rückkehr keinen Hehl und wurde zum Fürsprecher des jungen Geistlichen in Speyer.42 Indessen breitete sich Nardinis Schwesterngemeinschaft weiter aus. Immer mehr Gemeinden verlangten nach „Pirmasenser Schwestern“. Im Mai 1856 schickte der Bischof Domkapitular Köstler, der Nardini keinesfalls freundlich gewogen war, als offiziellen Visitator. Köstler überprüfte die inneren und äußeren Verhältnisse des Instituts, sprach mit jeder Schwester und legte am 19. Mai einen detaillierten Bericht mit den Aussagen der Schwestern vor. Von Nardinis Werk durchaus beeindruckt, äußerte sich Köstler ausnehmend positiv.43 So forderte der Bischof Nardini auf, ihm den Entwurf der Statuten vorzulegen, was am 29. Juni 1856 geschah.44 Der Bischof ließ die Statuten gründlich überprüfen. Manche Passagen wurden gestrichen oder vereinfacht und sprachlich geglättet. Am 10. März 1857 wurden die Statuten vom Bischof genehmigt. Damit erhielt die Schwesterngemeinschaft die kirchliche Anerkennung als

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Vgl. Bauer: Nardini, S. 85; Ammerich: Nardini, S. 191. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 81f.; Bauer: Nardini, S. 85; Ammerich: Nardini, S. 191. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 83f.; Bauer: Nardini, S. 86; Ammerich: Nardini, S. 191. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 84–87; Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 19, S. 72– 75; Bauer: Nardini, S. 86–88. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 86f.; Bauer: Nardini, S. 88; Ammerich: Nardini, S. 191. Vgl. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Vorspann zu Brief 21, S. 79; Bauer: Nardini, S. 90; Ammerich: Nardini, S. 191. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 95; Bauer: Nardini, S. 91; Ammerich: Nardini, S. 191. 94

religiöse Genossenschaft.45 Allerdings fehlte noch die staatliche Anerkennung, um die sich Nardini bis jetzt vergeblich bemüht hatte. In Pirmasens waren inzwischen neue Probleme aufgetreten – wieder mit den staatlichen Behörden. Ein ganzes Jahr lang hatte Nardini sich an die Weisungen des Bischofs gehalten und keine franziskanischen Feste mehr in der Pfarrkirche gefeiert. Dann nahm er am 4. Oktober 1856, dem Fest des heiligen Franziskus, in seiner Kirche eine feierliche Einkleidung vor.46 Dieses Vorgehen Nardinis hatte schon bald Folgen: Drei Tage später lag eine Beschwerde der Regierung beim Bischöflichen Ordinariat vor.47 Die Regierung befürchtete eine Einmischung der kirchlichen Armenpflege in die staatliche Krankenpflege und hatte Angst vor der Ausbreitung der Pirmasenser Schwestern in Bayern.48 Nardini und nun auch der Bischof bemühten sich, die Bedenken zu zerstreuen und dem Staat genehme Statuten aufzustellen.49 Da kam das bayerische Innenministerium Ende des Jahres 1858 auf den Gedanken, alle Neuaufnahmen in den Orden zu untersagen; ohne Nachwuchs würde sich die Gemeinschaft von selbst auflösen.50 Als Nardini davon erfuhr und die Gefahr für seine Gemeinschaft erkannte, ließ er die 22 jungen Mädchen, die als Kandidatinnen im Schwesternhaus lebten, am Abend des 15. Januar 1859 einkleiden und in den Orden aufnehmen.51 Als später die Polizei mit dem Ausweisungsbefehl erschien, gab es keine Schwesternanwärterinnen mehr. Die Polizei musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Mehrmals reiste Nardini nach München, um die staatliche Genehmigung des Ordens zu erreichen. Hierbei verhandelte er direkt mit König Max  II., der den Pirmasenser Schwestern wohlwollend gegenüberstand, obwohl es von Seiten der

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Vgl. Zu den Statuten: Schranz: Kongregation, S. 95–102; Bauer: Nardini, S. 91; Ammerich: Nardini, S. 191. Vgl. Bauer: Nardini, S. 94; Ammerich: Nardini, S. 191f. Vgl. Schranz: Kongregation, S.  112f.; Bauer: Nardini, S.  94f.; Ammerich: Nardini, S. 192. Vgl. Bauer: Nardini, S. 96; Ammerich: Nardini, S. 192. Vgl. Bauer: Nardini, S. 97. – Zur Umarbeitung der Statuten durch Nardini ebd, S. 98f. Der neue Entwurf wurde vom Bischöflichen Ordinariat Speyer am 30. Dezember 1858 in München eingereicht. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 121–124. Vgl. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief Nr.  54, S.  145f.; Schranz: Kongregation, S. 124. 95

Regierung Widerstände gab. Nach langen Verhandlungen bekam Nardini zumindest die staatliche Genehmigung für sein Armenkinderhaus.52 Als Grundlage für das gemeinsame Leben seiner Gemeinschaft wählte Nardini die dritte Regel des heiligen Franziskus. „Nur dann“, so sagte er, „wenn wir so arm zu werden bereit sind wie ein Franziskus aus Liebe zu den Armen, stehen wir auf dem rechten Standpunkt, um der geistigen und leiblichen Verkommenheit zu begegnen“53. Seine Gemeinschaft stellte er unter den Schutz der Heiligen Familie, „weil sie“, wie er sagte, „selbst eine Heilige Familie bilden soll und die Heiligung der Familie besonders durch Kranken- und Armenpflege und Kindererziehung zu ihrem heiligen Zwecke hat“54. Nardini übernahm die geistliche Betreuung und Leitung der Gemeinschaft. Er war die Seele des Ganzen: Er war Novizenmeister und Spiritual, der die neuen Bewerberinnen auf ihre Eignung hin prüfte; er war Exerzitienmeister und bis 1860 Beichtvater der Schwestern; er war Lehrer, der sich um die berufliche Ausbildung der Schwestern kümmerte und geeignete Schwestern auf das staatliche Lehrerinnenexamen vorbereitete. Von Anfang an legte er großen Wert darauf, dass im Kinderheim auch eine Schule eingerichtet wurde, denn sie war für ihn ein „Mittel, der drohenden allgemeinen Verwilderung der Proletarierjugend in wirksamer Weise zu begegnen“55. Nardini wurde von vielen für sein Vorgehen getadelt. Sie warteten darauf, dass die neue Gründung in sich zusammenfallen würde. Doch kämpfte Nardini unbeirrt um den Bestand und die Anerkennung seiner Neugründung. Dabei musste er große Widerstände überwinden und hatte mit vielen Problemen und Anfeindungen zu kämpfen. Letztlich trug er die Verantwortung für die Schwesterngemeinschaft, für die armen und verwahrlosten Kinder, für die Kranken und Armen der Pfarrei.56 Bereits ein Jahr nach der Einkleidung der ersten Schwestern (1855) konnten von Pirmasens aus Schwestern in andere pfälzische Orte geschickt werden, die dort in der Armen- und Krankenpflege arbeiteten und sich um die Erziehung verwahrloster Kinder kümmerten.

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Vgl. Schranz: Kongregation, S. 128f.; Bauer: Nardini, S. 102–105; Ammerich: Nardini, S. 198. Zitiert nach Bauer: Lebensbild, S. 25. Ebd. Zitiert nach ebd., S. 27; Ammerich: Nardini, S. 192. Vgl. Bauer: Lebensbild, S. 31; Ammerich: Nardini, S. 192. 96

Besondere Sorge bereiteten Nardini die aus der Schule entlassenen Jugendlichen des „Armenkinderhauses“.57 Die Mädchen konnten noch bis zu ihrem 16. Lebensjahr bei den Schwestern für die Haushaltsführung angeleitet werden. Die Jungen dagegen begannen mit einer Lehre und konnten nicht mehr im Heim betreut werden. Damals gab es noch keine Außenwohngruppen. So hatte Nardini den Plan, seiner Schwesterngemeinschaft noch einen männlichen Zweig anzugliedern, die „Franziskusbrüder“. Sie sollten die Ökonomie des Hauses führen und die heranwachsenden Jugendlichen im Ackerbau und in handwerklichen Berufen ausbilden. Er rief diese Gemeinschaft 1856 ins Leben; im November 1857 hatte sie bereits 20 Brüder. Doch musste er die Brudergemeinschaft wieder auflösen, weil es die Staatsregierung nicht erlaubte, dass einer weiblichen Genossenschaft ein männlicher Zweig angegliedert wurde.58 Nardini ließ sich dadurch nicht entmutigen. Im Herbst 1857 gründete er ein „Kleines Studienseminar“, das begabten Jungen aus mittellosen Familien den Besuch des Gymnasiums ermöglichen sollte.59 Er wusste, wie wichtig es war, Führungskräfte in Kirche, Staat und Gesellschaft heranzubilden. Er selbst betreute dieses einzige Konvikt, das damals in der Diözese Speyer für alle Berufe offenstand.60 Allerdings musste es nach Nardinis Tod aus finanziellen Gründen wieder geschlossen werden. Von den 22 Jungen, die im Oktober 1860 das „Kleine Seminar“ besuchten, erreichten 18 Berufsabschlüsse, die ihnen zu ansehnlichen Stellungen in Kirche und Staat verhalfen.61

Der Seelsorger Es wäre zu vordergründig, in Nardini nur den Gründer einer Schwesterngemeinschaft und den Sozialreformer zu sehen. Er war in erster Linie Priester – ein tief frommer Mensch, der seine Kraft und Inspiration im Gebet fand. Sein soziales Engagement war untrennbar mit der Seelsorge verbunden. Da er zeitweilig noch eine weitere Pfarrei – Fehrbach – mitversorgen musste, so stellten sich viele die 57 58 59 60 61

Vgl. Bauer: Lebensbild, S. 31; Ammerich: Nardini, S. 193. Vgl. Bauer: Lebensbild, S. 31; Ammerich: Nardini, S. 193. Vgl. Schranz: Kongregation, S. 139f.; Bauer: Lebensbild, S. 31; Ammerich: Nardini, S. 193. Vgl. Bauer: Lebensbild, S. 31; Ammerich: Nardini, S. 193. Vgl. Bauer: Lebensbild, S. 32; Ammerich: Nardini, S. 193f. 97

bange Frage, wie lange er das alles bei seiner schwachen Gesundheit durchhalten würde. In einem Brief an den Bischof vom 3. Januar 1858 berichtete er: So hatte ich am Samstag einen sehr harten Tag. Obschon ich noch eine allgemeine Schwäche in meinem Körper fühle [Nardini war im Dezember 1857 schwer erkrankt], so musste ich doch morgens zu einer Versehung nach der Filiale Winzeln [vier Kilometer von Pirmasens entfernt], und kaum hatte ich mittags den Unterricht mit den Neo-Kommunikanten [Erstkommunikanten] beendigt, da wurde ich hier zu einem Kranken gerufen und gleich darauf musste ich auf die Glashütte zwei Stunden weit über mehrere Berge und kam abends sieben Uhr nach Hause völlig ermüdet. […] Und so habe ich oft Tage, wo mir die Wogen der Arbeiten sozusagen über dem Haupte zusammenschlagen.62

Nardini hätte dringend Hilfe benötigt. „Die Masse der Geschäfte und Pflichten hat sich der Art angehäuft, dass recht gut drei Geistliche vollauf zu tun hätten, wenn nichts vernachlässigt werden soll“, schrieb Nardini am 29. Dezember 1857 an den Bischof.63 Leider wurde seine Bitte um einen Kaplan von Bischof Nikolaus von Weis nicht erfüllt, weil die Geldmittel für diese Stelle fehlten. Der Bischof sah jedoch ein, dass die Arbeitslast für Nardini zu groß war. Mit Genehmigung des Bischofs stellte Nardini einen Kaplan auf eigene Kosten an.64 Ab Oktober 1858 hatte er für die Pfarrseelsorge einen Kaplan zur Verfügung und seit November 1860 für die Betreuung der Schwestern einen Beichtvater und Spiritual, Michael Wittmann, ein Großneffe des gleichnamigen Weihbischofs von Regensburg.65 Doch kam diese Entlastung zu spät. Nardinis Gesundheit war durch die ständigen Kämpfe mit kirchlichen und staatlichen Stellen sowie durch die harte Arbeit zu stark angegriffen. Nardini setzte alles daran, dem religiösen Leben in seiner Gemeinde neuen Aufschwung zu geben.66 Es gelang ihm, eine Volksmission zu organisieren. Predigt und

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Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 39, S. 115f., hier S. 116; Bauer: Lebensbild, S. 32f. Vgl. Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 37, S. 110f., hier S. 110; Bauer: Lebensbild, S. 34. Vgl. Ammerich: Nardini, S. 194; Bauer: Lebensbild, S. 34. Vgl. Ammerich: Nardini, S. 194; Bauer: Lebensbild, S. 34. Bauer: Lebensbild, S. 33. 98

Christenlehre stellte er systematisch in den Dienst der Glaubenserneuerung. Er förderte kirchliche Vereinigungen und den Kirchenchor. Die würdige Feier der heiligen Messe hatte für ihn höchsten Stellenwert. Als Beichtvater war er in weitem Umkreis gesucht. Das kirchliche Leben blühte auf. Zu Höhepunkten wurden das 40-stündige Gebet, die Fronleichnamsprozession sowie die Feier der Erstkommunion. Nardinis Ansehen wuchs auch unter der protestantischen Bevölkerung. Auf sich selbst nahm der unermüdliche Priester und „Armenvater“ dabei keine Rücksicht. Es darf durchaus als Erfolg gewertet werden, wenn Nardini – wie Der christliche Pilger im Jahr 1858 berichtete – die Fronleichnamsprozession durch die ganze Stadt führte und „die ganze protestantische Bevölkerung mit achtungsvollem Anstand die Feier respektierte, niemand eine Störung wagte, wie es früher üblich war“. Und der Berichterstatter fügte hinzu: „Ein Erfolg, der wohl nicht mit Unrecht dem gewinnenden Auftreten und achtungsbietenden Wirken des Pfarrers zugeschrieben werden dürfte“67.

Seine Spiritualität „Die Spiritualität Nardinis“, so urteilt Schwester M. Radegund Bauer, ist eingebettet in die Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts, die sich von den aufklärerischen Tendenzen der vorangegangenen Jahrzehnte absetzen will. Stark gefühlsbetont auf der einen Seite, ist sie auf der anderen Seite vom Bedürfnis nach konkreten und ‚greifbaren‘ Vorstellungen und Andachtsformen geprägt: Wallfahrten, Heiligenverehrung, Sakramentsfrömmigkeit bekommen neuen Auftrieb; Passionsfrömmigkeit und Herz-Jesu-Verehrung als Ausdruck einer tiefen Liebe zu Jesus Christus werden volkstümlich. Diese Frömmigkeitsformen beeinflussten auch die christozentrische Spiritualität Nardinis.68

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Der christliche Pilger, Nr. 24, 1858; vgl. auch Bauer: Lebensbild, S. 33; Ammerich: Nardini, S. 194. Vgl. Paul Josef Nardini: Nichts vermag ich aus eigener Kraft, herausgegeben und mit einer Einführung und einleitenden Gedanken versehen von Sr. M. Radegund Bauer. München 1985, S. 41f. 99

Schon als junger Mensch war Nardini von einer tiefen Frömmigkeit geprägt. Sie erwuchs aus einem starken Glauben an den dreifaltigen Gott, ihm wollte er sein ganzes Leben als Priester weihen.69 Er setzte sich als Lebensziel, wie er in sein Tagebuch schrieb, Gott immer mehr zu erkennen, ihm allein anzuhangen, an ihm allein Geschmack zu finden, […] ihm, der sich ganz für mich hingegeben, meine ganze Liebe, alle meine Jugendkraft zu weihen, und so im wahrsten Sinn mit seiner heiligen Gnade ein Brandopfer der himmlischen Liebe zu werden. Wie glücklich wäre ich, wenn ich mich ganz in hingebender Demut in seinem heiligen Liebesfeuer aufzehren könnte.70

„Nardinis Glaubenshaltung wurzelt in einer personalen Liebe zu Jesus Christus: Christus ist für ihn Urgrund, Mitte und Ziel seiner Existenz“.71 Von dieser persönlichen Christuserfahrung war sein gesamtes Leben und Wirken geprägt: „Für meinen künftigen Lebensweg“, so schrieb Nardini, ist es einmal ausgemacht und fest begründet, daß Christus der Grund unseres Daseins und unseres Werdens und Fortdauerns ist und daß wir nur in Christus wahrhaft leben, von ihm getrennt aber […] auf dem Weg der ewigen Todesnacht uns befinden. So müssen wir notwendig, wenn wir uns selbst wahrhaft lieben, dahin streben […], in der Vereinigung mit dem wahren Leben, dem Quell alles Lebens, zu verbleiben72.

Die Lebensgemeinschaft mit Christus war Nardinis höchstes Ziel: Nichts soll mich von Jesus scheiden, weder Freude noch Leid, weder Angst noch Qual. Ihm will ich anhangen in demütigem Gehorsam, tiefer Selbstverleugnung und in brennender Liebe. Er ist mein Wendepunkt, der Brennpunkt meines Herzens; es mag mich anziehen, was da will, von ihm 69 70 71 72

Vgl. ebd., S. 42. Tagebuch Nardinis im Klosterarchiv Mallersdorf. Zitiert ebd., S. 43. Ebd. Zitiert ebd. 100

soll es mich nicht ablenken; mag mich Not, Bedrängnis, gefahrdrohende Unschlüssigkeit ankämpfen, nicht will ich durch Trübsinn und Traurigkeit seine freudige Liebe in mir unterdrücken.73

Aus dieser Christusliebe ergab sich für Nardini das Ideal der bedingungslosen Christusnachfolge und – daraus folgend – das Gehorsamsideal. Durch alle Schwierigkeiten und Widerstände hindurch wollte er sich durch „Worte und Taten der Liebe“ ganz im Dienst Jesu Christi aufopfern und all seine Fähigkeiten einsetzen für Gott, zu seiner Ehre, zur Verbreitung seines Ruhms und seines Reiches.74 Nardini wurde von den anderen Pfarrern, die ihn wegen seines Engagements sehr schätzten, 1858 als erst 37-jähriger zum Dekan gewählt.75 Auch staatlicherseits genoss er inzwischen hohes Ansehen. Die Regierung der Pfalz begann nun, seine Arbeit anzuerkennen. Man söhnte sich allmählich mit der Ordensgründung aus und erkannte, welch gute Arbeit das Armenkinderhaus leistete. So wurde Nardini zum Inspektor der Volksschulen im Kreis Pirmasens ernannt. In dieser Funktion war er für die Beurteilung der Lehrer und des Unterrichtsstoffes zuständig.76 Obwohl ihm seit November 1860 zwei Priester helfend zur Seite standen, verschlechterte sich Nardinis Zustand zusehends. Am 11. Dezember 1861 verfasste er sein Testament, in dem er sein Eigentum dem Bischöflichen Stuhl in Speyer übergab und dem Bischof auch die Sorge für sein Werk anvertraute.77 Er spürte selbst, wie schlecht es um ihn stand. Bald darauf, am 18. Januar 1862, erkrankte er an einer Lungenentzündung. Am 27. Januar starb er, und am 30. Januar 1862 wurde er in der damaligen Klosterkapelle vor dem Hochaltar beigesetzt. Zu dieser Zeit befanden sich rund 220 Schwestern in 36 Niederlassungen. Die offizielle staatliche Anerkennung seiner Schwesternschaft, der Armen Franziskanerinnen von der Heiligen Familie, die 1864 erfolgte, erlebte er nicht mehr. 1869 übersiedelte das Mutterhaus der Kongregation von Pirmasens aus in die ehemalige Benediktinerabtei Mallersdorf bei Landshut.78 Das Armenkinderhaus blieb in Pir73 74 75 76 77 78

Bauer: Nichts vermag ich, S. 43f. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. Bauer: Nardini, S. 136; Ammerich: Nardini, S. 202. Vgl. Ammerich: Nardini, S. 202. Vgl. ebd. Zur Verlegung des Mutterhauses nach Mallersdorf, vgl. ebd., S. 204–208. 101

masens. Die Verlegung des Mutterhauses war notwendig geworden, weil das Haus in Pirmasens infolge der stark wachsenden Gemeinschaft zu klein geworden war. Zudem lag es verkehrsmäßig ungünstig; damals gab es noch keine Bahnstation in Pirmasens. Die meisten Schwestern stammten aus dem rechtsrheinischen Bayern. Das Werk Nardinis entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten stetig weiter.79 Im Nachruf auf Nardinis Tod im Christlichen Pilger heißt es: Dekan Dr. Nardini von Pirmasens, der rastlos eifrige Seelenhirte, der liebevolle Waisenvater, der willenskräftige, mutige Kämpe auf dem Feld des heiligen Glaubens, der hochverdiente Sozialist im rechten Sinne, er ist heimgegangen. Still steht das Herz, dessen Aufopferungsfähigkeit keine Grenzen kannte.

Es seien nicht nur seine Amtsbrüder, „die an ihm einen unersetzlichen Freund und Bruder“ verloren haben, nicht nur seine Pfarrkinder in der Stadt und auf dem Lande, „auf die sein priesterlicher Wandel und sein seelsorgliches Wirken wie die Strahlen einer leuchtenden und wärmenden Sonne belebend und kräftigend gewirkt“ haben. Sondern man kenne ihn über die Grenzen der Diözese Speyer hinaus in Bayern und Deutschland, da von Pirmasens aus Schwestern in vielen Niederlassungen tätig seien. Man kenne ihn aber auch über die Grenzen Deutschlands hinaus durch die Tätigkeit der Schwestern in österreichischen Lazaretten. Nardini habe bewiesen, dass die Kirche „mit ihrem lebendigen werktätigen Glauben die soziale Frage lösen“ könne. Der Artikel würdigt die großen Leistungen Nardinis, der „in die Fußstapfen des heiligen Vinzenz von Paul“ getreten und „Vater der Waisen und Kranken“ im Lauf eines Jahrzehnts geworden sei.80 79

80

Vgl. Karg, Klaus: Die Einrichtung der Armen Franziskanerinnen in der Pfalz, einer Ordensgründung von Paul Josef Nardini. Ein Bericht von Pfarrer Franz Josef Huth von 1869. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 44 (1992) S. 381–396. Der Bericht spiegelt die Verhältnisse der Schwesterngemeinschaft wenige Monate vor der Übersiedlung des Mutterhauses nach Mallersdorf wider; er liefert Informationen über das Mutterhaus in Pirmasens und die Häuser in den Filialen Zweibrücken, Silz, Kaiserslautern und Frankenthal. Zur Ausbreitung der Schwesterngemeinschaft über die Pfalz hinaus: Schranz: Kongregation, S. 103–111, S. 149–156; Bauer: Nardini, S. 145– 159; Ammerich: Nardini, S. 204–208. Der christliche Pilger, Nr. 6 vom 9. Februar 1862, Beilage zum christlichen Pilger; vgl. auch Schranz: Kongregation, S. 172–174; Bauer: Nardini, S. 182. 102

Das „Sonntagsblatt“ für die Diözese Trier, Eucharius, widmete dem Verstorbenen einen ausführlichen Nachruf. Darin wird Nardini als „tief blickender geistlicher Mann, der gleichmäßig auf gesunde Lehre und auf gesunde Frömmigkeit hielt“, geschildert. Krankhaftes, überspitztes und verkehrtes Wesen war ihm zuwider. Mit seinen tüchtigen wissenschaftlichen Kenntnissen verband er einen großen praktischen Verstand. Seine Demut und Bescheidenheit taten jedem wohl. Er gehörte in jeder Beziehung zu den Zierden der katholischen Priesterschaft. Sein Andenken wird in Ehren und Segen unter uns fortleben.81

Urteile von Zeitzeugen Michael Wittmann, der seit November 1860 als Beichtvater der Schwestern in unmittelbarer Nähe Nardinis gelebt und gewirkt hatte, beteuerte, dass er während seiner Pirmasenser Tätigkeit in Nardini „das Bild eines musterhaften Priesters“ gefunden habe, an dem er sich orientieren konnte, vor allem „an seinem wahrhaft brennenden Seeleneifer“.82 Dieser Seeleneifer habe Nardini bewogen, in die Seelsorge zu gehen, obwohl er als Doktor der Theologie „im Lehrfach sich Lorbeeren als Professor zu erwerben die glänzendste Aussicht“ gehabt habe. Begeistert und begeisternd, fesselnd und erschütternd, waren seine Predigten. Er sprach in seiner wohlklingenden durchdringenden Stimme mit solcher Anmut, zugleich mit so tiefer Ergriffenheit und Bewegtheit, mit solch flammendem Eifer, dass er alle Herzen hinriss. In der Feier des heiligen Opfers war er so inbrünstig, dass einmal ein Protestant, der ihn mit so inniger Andacht zelebrieren sah, äußerte: Ja, wenn man den Herrn Nardini Messe lesen sieht, da möchte man fast an das katholische Messopfer glauben.

Rückschauend auf die gemeinsame Zeit an der Seite Nardinis schrieb Wittmann: 81 82

Eucharius, Trier, Nr. 16 vom 16. März 1862; vgl. auch Bauer: Nardini, S. 183. Bauer: Nardini, S. 184. 103

Ich rechne es mir immer, so lange ich lebe, zur größten Ehre an, dass ich an seiner Seite wirken, dass ich ein stiller Zeuge seiner hellleuchtenden Tugend, seines tief glühenden aufopfernden Seeleneifers, dass ich zwei Jahre lang der Mitarbeiter eines so echten Priesters und der nächste Zeuge seines so erbaulichen Sterbens war. Ruhm und Ehre dem Andenken eines Mannes, der von Protestanten ebenso wie von Katholiken in den weitesten Kreisen geachtet und geliebt war.

Als Bischof Nikolaus von Weis von der lebensbedrohlichen Erkrankung Nardinis im Januar 1862 durch Michael Wittmann erfuhr, schrieb er ihm am 25. Januar, dass ihn diese Nachricht „sehr besorglich“ gemacht, und er „mit anderen sogleich zum Gebet die Zuflucht genommen“ habe.83 Er „bitte und hoffe zu Gott, dass er unserem eifrigen und frommen Dekane, der in mehrfacher Beziehung für die heilige Sache der Kirche, namentlich für das Institut der armen Franziskanerinnen so heilsam gewirkt hat, wieder die Gesundheit gebe und noch lange dessen Arbeiten im Weinberge des Herrn segne“. Er forderte die Schwestern auf, sie „mögen ja recht eifrig und vertrauensvoll beten und beten lassen“. Wittmann bat er, er solle dem Kranken sagen, dass er für ihn schon zweimal die heilige Messe Gott dargebracht habe, für ihn bete und ihm den bischöflichen Segen erteile. Er möge recht festes Vertrauen auf Gott haben und unter Anrufung der allerseligsten ohne Sünde empfangenen Jungfrau Maria sich ganz in den Willen Gottes hingeben.

Im Beileidsschreiben an die Generaloberin Schwester Agatha Schwarz am 28. Januar zeigte sich die tiefe Betroffenheit, welche die Nachricht vom Tod Nardinis beim Bischof ausgelöst hatte.84 Er sprach von Nardini als dem „so würdigen“ Dekan und Pfarrer, dem „frommen und eifrigen“ Stifter der Genossenschaft. Wie tief ihn der Tod Nardinis „ergriffen“ und „betrübt“ habe, könne er nicht in Worten ausdrücken. Und er versicherte, dass er und viele „fromme Seelen in Speyer […] in eifrigen Gebeten sich vereinigt“ hatten, „um die Genesung und das längere Leben des so unermüdlichen Dieners Gottes zu erflehen“. Auch die Entscheidung, dass Nardini in der Klos83 84

Bauer/​Ammerich: Briefwechsel, Brief 82, S. 200. Ebd., Brief 86, S. 204f. 104

terkirche vor dem Altar beigesetzt werden durfte, sowie die Tatsache, dass er Domkapitular Wilhelm Molitor beauftragte, das Begräbnis vorzunehmen, lassen auf die Hochachtung, die Bischof Nikolaus von Weis für Nardini empfunden hat, schließen. Der Speyerer Bistumshistoriker und Domkapitular Dr. Franz Xaver Remling widmete in seiner 1871 erschienenen zweibändigen Biographie über Bischof Nikolaus von Weis der „Gründung des Mutterhauses der armen Franziskanerinnen“ in Pirmasens ein umfangreiches Kapitel und würdigte darin Nardinis Lebenswerk.85 Remling beschreibt Nardini folgendermaßen: Seine körperliche Größe und Stärke war überhaupt von schwachem Maße, desto lebendiger aber war sein Geist und seine Beweglichkeit. Sowohl aus seinen Gesichtszügen, noch mehr aber aus seinem ganzen Charakter drängte sich etwas Italienisches hervor.86

Über Nardinis Tätigkeit als Präfekt im Bischöflichen Konvikt berichtete Remling, dass dieser sich mit dem „größten Eifer für das Wohl der Zöglinge einsetzte“. Als Pfarrverweser von Geinsheim bescheinigte Remling Nardini, dass er die Pfarrei „mit großem Eifer, freundlicher Gefälligkeit und Unermüdlichkeit“ betreute und „auch bald die Pfarrgenossen ganz für sich“ gewonnen habe. In Pirmasens wirkte Nardini – so Remling – ebenfalls „mit Eifer und Unermüdlichkeit“. „Er war ein Meister des Wortes und übte dasselbe mit einer Eindringlichkeit und Freundlichkeit“ aus, „dass ihm niemand widerstehen konnte“.87 Remling betonte, dass Nardini „voll des Eifers und Unternehmungsgeistes“ in Pirmasens „nicht nur für das geistliche, sondern auch für das leibliche Wohl seiner Pfarrgenossen in hohem Grade besorgt“ war. „Kaum hatte er daher deren Armuth und Bedrängnisse kennen gelernt, so legte er Hand an, dieselbe möglichst zu mildern.“88 Dabei habe Nardini bei der Errichtung und dem Ausbau des Armenkinderhauses „nicht bloß für die geistliche Pflege seiner Anstalt den größten Muth und Eifer“ entwickelt, sondern auch praktische Fähigkei-

85

86 87 88

Vgl. Remling, Franz Xaver: Nikolaus von Weis, Bischof zu Speyer im Leben und Wirken. 2 Bde. Speyer 1871, Bd. 2, S. 191–221; Bauer: Nardini, S. 187; Ammerich: Nardini, S. 203f. Remling: Nikolaus von Weis, S. 216, Anm. 354. Ebd., S. 217. Ebd., S. 192. 105

ten entfaltet. Er habe es verstanden, zum Unterhalt des Armenkinderhauses eine gut funktionierende Landwirtschaft aufzubauen.89 Remling berichtet weiter: Die vielen Reisen, welche er oft in den rauhesten Wintermonaten im Interesse seiner Stiftung gemacht hatte, und die Sorgen, Mühen und Kämpfe für dieselbe zehrten nicht wenig an seiner Lebenskraft. Er schien früh zu altern, ohne seine Thätigkeit zu mäßigen. Ganz unvermuthet nahete sich nach einigen Jahren sein Ende.90

Man könne nachfühlen, so Remling, was der frühe Tod Nardinis in Pirmasens bedeutet habe: „Unersetzlich die Sorgfalt, der Eifer, die Liebe, die Hingabe, welche derselbe bis zum letzten Hauche für die von ihm gegründete Genossenschaft und Anstalt bethätigte“. Bewundernd stellte Remling fest: Wer Nardini’s Thätigkeit und Schöpfungen überblickt, der muß staunen über das in so kurzer Zeit möglich Gewordene, über das mit seltener Energie und eiserner Ausdauer Errungene. Es ist ein großes Werk der christlichen Barmherzigkeit und Liebe. Auf den Verstorbenen können mit Recht angewendet werden die Worte: ‚Ein Führer warest Du in deiner Barmherzigkeit dem Volke‘ (II. Mos. XV. 3).91

Zum Autor (geb. am 29. August 1949 in Zweibrücken) Archivdirektor i. K. – Studium der Geschichte, der Katholischen Theologie und der Germanistik in Saarbrücken und München. Promotion 1979 zum Dr. phil. an der LMU München. 1979–2014 Leiter des Bistumsarchivs Speyer. 1984–2015 Dozent für Diözesangeschichte am Bischöflichen Priesterseminar in Speyer. 1993–2018 Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz-Landau, Abteilung Landau, Institut für Katholische Theologie. Seit 2004 Honorarprofessor an der Universität Koblenz-Landau. – Arbeitsgebiete: Kirchengeschichte, Landesgeschichte, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Sportgeschichte. 89 90 91

Ebd., S. 204. Ebd., S. 217, Anm. 354. Ebd., S. 215. 106

Lothar Bluhm

„Der du von dem Himmel bist“. Vom ‚Atmen der Seele‘ in der Literatur I. Eine Theologie, die Lebenserfahrungen und Biographien mit unterschiedlichen Glaubensentwürfen aufnimmt und Identifikationsfiguren in der Vergangenheit sucht, um eine Verbindung zu Fragen der Gegenwart zu schaffen, kann ihre Blicke auf viele verschiedene Bereiche des Lebens, des Sprechens und Handelns richten. Ein besonders reichhaltiges Angebot wird sie im ‚Möglichkeitsraum‘ der Literatur finden, wo die Suche nach dem ganz Anderen und der Dialog mit dem ganz Anderen einen festen Platz haben. Dabei wird eine Theologie, die in einem lebendigen Gespräch mit der Literatur nach der Begründung des Glaubens sucht, vielleicht nicht die Antworten finden, um die sie ringt, aber doch Zeugnisse einer Suche, die ihre eigene Suche bereichern und vielleicht sogar richten kann. Sinnsuche und der Hinweis auf den dialogischen Charakter sind Verbindungslinien, die die Zwiesprache des Gläubigen im Gebet und das gebethafte Sprechen in der Literatur eng zusammenführen. In beiden Fällen geht es um das Ringen um eine transpersonale Erfahrung, die auf die Stärkung von Personalität abzielt. Das Gebet erfährt seine Spezifik dabei im Bewusstsein des Betenden, sich im Dialog mit seinem Gegenüber als jemand zu erfahren und zu gewinnen oder doch zumindest erfahren und gewinnen zu können, der mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Im christlichen Verständnis erfährt und gewinnt der Betende sich in seiner geschenkten Gottesebenbildlichkeit, will sagen: Er erfährt sich gleichermaßen als Geschöpfter geschenkt – mit Schleiermacher, gut protestantisch formuliert, im Gefühl seiner „schlechthinnigen Abhängigkeit“ von Gott1 – und in jener Würde als Krone der Schöpfung, von der der Psalmist (Ps 8,6) spricht. 1

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern 107

Dieser besonderen Kraft des Gebets ist sich die Literatur immer sehr bewusst gewesen, auch und vielleicht gerade die Literatur der Moderne seit den großen Umbrüchen des 18. Jahrhunderts: „Wenn der Mensch betet, so athmet der Gott in ihm auf “, schrieb dazu sehr schön der Schriftsteller Friedrich Hebbel am 13. August 1840 in einem Tagebuchnotat.2 Hebbels Rede vom Gebet als einem inneren Aufatmen weist auf eine lange Tradition, die im Topos vom Gebet als dem ‚Atmen der Seele‘ eine feste Form gefunden hat. Zur Spezifik der modernen Literatur und ihrem Gebetsverständnis gehört allerdings eine eklatante Verschiebung gegenüber dem Gebet des Gläubigen, wie an Friedrich Hebbel durchaus exemplarisch aufgezeigt werden kann: Hebbels Hinweis hebt insofern auf die Gotteserfahrung des Betenden ab, als diese als gefühlte Erfahrung, nicht als Erkenntnis verstanden sein will. Grundsätzlich kann, wie bei Hebbel, die konkrete Erfahrung des eigenen Gebets durchaus gegeben sein. So ist die Rede vom ‚Atmen der Seele‘ bei Hebbel ganz augenfällig an das christliche Vaterunser gebunden: „Wie hoch, wie göttlich hoch steht der Mensch, wenn er betet: vergieb uns, wie wir vergeben unsern Schuldigern; selbständig, frei, steht er der Gottheit gegenüber und öffnet sich mit eigner Hand Himmel oder Hölle.“3 heißt es an anderer Stelle im Tagebuch. Doch wird bereits in dieser Ausformulierung ein Moment der Selbstermächtigung greifbar, das cum grano salis zum Selbstverständnis modernen Künstlertums allgemein gehört. Für Hebbel als Literat realisiert sich das Göttliche, wie für andere Künstler der Moderne vergleichbar, insbesondere in der künstlerischen Produktivität.4 Je nach Ausgestaltung

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Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind.“ (Ders.: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. In: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Fischer, Hermann u. a. Erste Abteilung, Schriften und Entwürfe, Bd. 13, Teilband 1, 2. Auflage (1830/​31). Hrsg. von Schäfer, Rolf. Berlin 2003, § 4, S. 32–40, S. 32). Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe besorgt von Werner, Richard Maria. Zweite Abteilung: Tagebücher. Zweiter Band. 1840–1844. Berlin 1903, S. 57 (Nr. 2073). Hebbel, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Tagebücher. Erster Band. 1835–1839. Berlin 1903, S. 285 (Nr. 1334). Tagebuchnotat vom 24. November 1838. Siehe auch ebd., S. 283 (Nr. 1331): Der „echte Dichter […] bedient sich der geheimnißvollen Macht des Wortes“. 108

bedeutet das im Gefüge der Poetologien der Moderne die Sakralisierung des Kunstwerks, die schon die Zeit um 1800 – Goethe oder die Romantik – kannte, oder die Verpriesterlichung des Künstlers, wie sie in deutlicher Zuspitzung die Zeit um 1900 – etwa bei den Charismatikern Stefan George oder Rainer Maria Rilke – ausformte. Im Kern macht sich eine dann spätestens seit Nietzsche aus dem Selbstverständnis einer Literatur der Moderne nicht mehr wegzudenkende Selbstbeschreibung der Kunst bemerkbar, die sich nach dem behaupteten Tod Gottes in der säkularisierten Welt ihrerseits als neues Sinngebungsinstitut einführt und hochwertet. Aber selbst dort, wo dieses hochwertende Selbstverständnis nicht entwickelt ist, besteht eine greifbare Differenz zwischen dem Gebet des Gläubigen und dem selbst vielleicht sogar als Gebet präsentierten literarischen Zwiegespräch mit dem ganz Anderen, dem transpersonalen Gegenüber, mit Gott: Literatur ist nicht der Ort des Betens, sondern der Ort, wo Beten gezeigt, beziehungsweise noch schärfer akzentuiert: wo es in Szene gesetzt wird. Damit ist das Beten an sich keineswegs außer Kraft gesetzt, aber es wird zu einem performativen Akt im Horizont einer Ostentation. Dabei wird die Ausführung und Konkretisierung eines gesprochenen Wortes – also eines Dialogs mit einem transpersonalen Gegenüber – im Raum eines ‚Als ob‘ gezeigt. Eine in Szene gesetzte Realität wird als Möglichkeit präsentiert und zugleich unter Vorbehalt gestellt.

II. Diese Spezifik von Literatur muss zwingend im Blick behalten werden, wenn man auf das ‚Atmen der Seele‘, das Gebet in der Literatur schaut. Die Verbindung von ‚Atem‘ und ‚Seele‘ weist eine lange Tradition auf, die auszuführen hier nicht der Ort ist. Sie reicht wohl schon in die Vorstellungswelten früher vorderasiatischer Kulturen zurück, zu den Sumerern und später den Akkadern sowie deren kulturellen Erben. Die Engführung auf den Akt des Betens findet sich in den christlichen Glaubenslehren vielfältig wieder. Schon Gregor von Nazianz, einer der drei ‚kappadokischen Väter‘ und – nebenbei bemerkt – einer der renommiertesten griechischen Dichter der Spätantike, weshalb er bis heute als ‚Schutzpatron der Literaten‘ gilt, sprach mit Bezug auf Psalm 1,2 im 4. Jahrhundert davon, dass „Gottes eingedenk zu sein“ wichtiger sei, „als zu atmen, 109

und“, wie er ergänzte: „man […] darf überhaupt nichts anderes tun.“5 Und noch Romano Guardini, dessen produktive Auseinandersetzung mit der Philosophie und der Literatur der Moderne zum Kern seines theologischen Werks gehört, formulierte in seiner ‚Vorschule des Betens‘, dass, so wie ein Leben ohne Atmen nicht möglich sei, auch der Christ auf Dauer ohne Beten nicht existieren könne.6 Die Metapher für das Gebet als ein ‚Atmen der Seele‘ verweist insbesondere natürlich auf die Tradition der Mystik, auf Meister Eckhart und andere,7 und begegnet mit dieser oder – meist – ohne diese Bezugsetzung heute in einer breiten Palette an Predigten und Besinnungen, kirchlichen wie nicht-kirchlichen Angeboten bis hin zu den Therapieversprechen einer Airnergy-Spirovitalisierung. Letztlich ist sie bereits in den Aphorismen-Schatz einer allgemeinen literarischen Bildung eingegangen.8 Davon abgehoben, ist die Vorstellung und die Rede vom ‚Atmen der Seele‘ heute fest in einer ‚Theologie des Betens‘ verankert und mit dem Namen Wolfgang Pauly verbunden.9 Hieran sei angeknüpft. So soll in der Folge im Anschluss an ein Goethe-Gedicht in einer kleinen Beispielreihe dieses ‚Atmen der Seele‘ in der Literatur der Moderne nachverfolgt werden.

III. Am 12. Februar des Jahres 1776, also vor über 240 Jahren, schrieb der seit Ende 1775 im Staatsdienst tätige und ab Juni als Geheimer Legationsrat und baldiger Verkehrs- und Industrieminister des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach ein5

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Gregor von Nazianz. Orationes theologicae. – Theologische Reden. Übersetzt und eingeleitet von Sieben, Hermann Josef (Fontes Christiani, Bd. 22). Freiburg i. Br./​Basel/​ Wien u. a. 1996, S. 75. Vgl. Guardini, Romano: Vorschule des Betens. Einsiedeln 81986 (1943), S. 16. Siehe insb. Meister Eckhart: Vom Atmen der Seele. Hrsg. von Mieth, Dietmar. Stuttgart 2014. Siehe etwa unter [http://​www.aphorismen.de/​zitat/​52783] (Zugriff: 4.  Januar 2020): „Beten ist das Atmen der Seele! Unbekannt“. Dazu grundlegend Pauly, Wolfgang: Vom Atmen der Seele. Prolegomenon zu einer Theologie des Gebetes in der Moderne. In: Hilpert, Konrad/​Ohlig, Karl-Heinz (Hg.): Der eine Gott in vielen Kulturen. Inkulturation und christliche Gottesvorstellung. Zürich 1993, S. 329–338. 110

gebundene Johann Wolfgang Goethe am Hang des Ettersbergs in Weimar die erste Fassung seines Gedichts Wandrers Nachtlied und fügte die Verse einem Brief an Charlotte von Stein bei. Der du von dem Himmel bist Alle Freud und Schmerzen stillest, Den der doppelt elend ist Doppelt mit Erquickung füllest Ach ich bin des Treibens müde! Was soll all die Quaal und Lust Süsser Friede, Komm ach komm in meine Brust!10

Der Text präsentiert sich als Gebet, wovon schon der erste Vers zeugt, der eindeutige Bezüge zur Gebetstradition aufweist. Nicht zufällig erschien das Gedicht 1780 im Erstdruck in einem religiösen Veröffentlichungsrahmen, in Johann K. Pfenningers Christliches Magazin, wo es den Titel Um Friede erhielt.11 Ein frühes Wirkungszeugnis unterstreicht dieses Rezeptionsmoment: So wird das Gedicht 1782 in Johann Heinrich Pestalozzis ‚zweitem Volks Buch‘ Christoph und Else, einem didaktischen Roman, in der ‚fünfzehnten Abendstunde‘ gesprächsweise als ein neues geistliches Lied verhandelt und schließlich als Lehr- und Lernstoff in das fromme Erziehungsprogramm der Familie aufgenommen.12 Für die 1789 bei Göschen erschienene Ausgabe seiner Werke führte Goethe einige Änderungen durch; er ersetzte „Alle Freud“ durch „Alles Leid“ sowie „die Quaal“ durch „der Schmerz“: So noch einmal das Goethe-Gedicht, in seiner spä-

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Johann Wolfgang Goethe. Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 3 I: 8. November 1775–Ende 1779. Text. Hrsg. v. Kurscheidt, Georg/​Richter, Elke. Berlin 2014, S.  30 (Nr. 42). – S. a. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bde. Weimar 1887–1919. Nachdruck München 1987. [nebst] Bd.  144–146: Nachträge und Register zur IV. Abt.: Briefe. Hrsg. von Raabe, Paul. Bde. 1–3. München 1990. [Weimarer Ausgabe] Bd. 1.1, S. 392 (Lesarten mit Bezug auf S. 98). In: Christliches Magazin. Hrsg. von Pfenninger, Johann Konrad. Dritter Band, Erstes Stück, Nr. XXI. Zürich 1780, S. 243. [Pestalozzi, Johann Heinrich:] Mein zweytes Volks Buch. Christoph und Else. [Bd. 1]. Zürich/​Deßau 1782, S. 273f. 111

teren Druckfassung, die dann auch von Franz Schubert, Franz Liszt und vielen anderen vertont wurde: Der du von dem Himmel bist, Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest, Ach, ich bin des Treibens müde, Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede, Komm, ach komm in meine Brust!13

Unverkennbar ist das Moment der Zerrissenheit, das die erste Fassung in der Entgegensetzung des zweiten Verses – „Freud“ und „Schmerzen“ – zeigt, in der Redaktion zurückgenommen, ohne im Gedicht indes ganz aufgehoben zu werden. Über alle Redaktion bleibt der Gestus des Gebets erhalten. Und so ist es ebenso wenig verwunderlich wie der Erstdruck in einem christlichen Magazin, dass das Gedicht in der Folge recht bald den Weg in die Praxis des Kirchenlieds gefunden hat und 1812 in das Bremer reformierte Kirchengesangbuch übernommen wurde. Die Überführung ins Genre des Kirchenlieds ging allerdings mit spezifischen textlichen Anpassungen im zweiten Teil einher: „Ach, ich bin des Wogens müde, banger Schmerzen, wilder Lust; Gottes Friede, Gottes Friede, komm und wohn’ in meiner Brust!“14 Die Ambivalenz in Goethes Evokation des Welttreibens ist gänzlich getilgt und aus „Süßer Friede“ wurde „Gottes Friede“. Im „Verzeichniß der Namen der Verfasser“ ist der Autor zwar genannt, ein Nachweis der Texteingriffe wird jedoch nicht gegeben: „Göthe, D. Joh. Wolfgang v., herz. sächs. geh. R. zu Weimar, geb. zu Frankfurt a.M. am 28. Aug. 1749.“15 Dem aufmerksamen Leser des Gesang13

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Goethe, Johann Wolfgang von. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1: Gedichte und Epen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Trunz, Erich. München 1982, S. 142. – S. a. Goethe, Johann Wolfgang. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 2.1: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775– 1786. Hrsg. von Reinhardt, Hartmut. München 2006, S. 13. Christliches Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht. Bremen 1812, S. 233 (Nr. 286). Ebd., S. 644. 112

buchs wird aber vielleicht eine entsprechende Bemerkung in der Vorrede aufgefallen sein, die für das Selbstverständnis der Textredaktoren bezeichnend ist: Daß wir an den Liedern geändert haben, bedarf wohl kaum einer Erwähnung, da es allgemein herkömmlich ist, sich dieses zu erlauben, wo die Erbauung dasselbe zu erfordern scheint; daher denn auch lebende Verfasser nicht erwarten können, daß man über jede Aenderung sich mit ihnen in einen, Zeit und Porto kostenden, Briefwechsel einlassen sollte.16

Das Anliegen der religiösen Erbauung erforderte in den Augen der Redaktoren jene Vereindeutigung – und sicherlich auch Simplifizierung –, die die Kirchenliedfassung gegenüber dem Gedicht letztlich darstellt. Explizit herausgestellt und benannt wurde das Gegenüber dieses Zwiegesprächs; für die Bremer Redaktoren ist es Gott und „Gottes Friede“ wird herbeigesehnt. Das Bremer Gesangbuch von 1812 wurde unverkennbar im Geist der Spätaufklärung konzipiert und durfte sich einer größeren Aufmerksamkeit sicher sein. Es befand sich nachweislich u. a. in Schleiermachers Besitz.17

IV. Die Indienstnahme des Goethe-Gedichts als Glaubenszeugnis spiegelt unzweifelhaft eine Facette, die rezeptionsästhetisch in den Versen verankert ist. Man geht heute meist davon aus, dass Goethe im Bild vom müden Wandersmann, auf das der Titel – Wandrers Nachtlied – unverstellt abhebt, auch von sich selbst sprach – und zwar im profanen wie in einem übertragenen Sinne. In der ‚Hamburger Ausgabe‘ kommentiert Erich Trunz, dass das Wort vom Wanderer „buchstäblich gilt und zugleich ganz symbolisch“18 ist. Nach seinem frühen Ruhm war der Dich16

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Ebd., S. VII. – Die Vorrede wurde verfasst von Conrad Buhl, Pastor zu St. Ansgar, Nikolaus Kiesselbach, Pastor Primarius zu St. Stephan, Henrich Meier, Pastor zu St. Pauli und St. Johannis, und Christian Carl Gambs, Pastor zu St. Ansgar. Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, 1/​15: Anhang. Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer. 2., erw. u. verb. Aufl. Berlin/​New York 2005, Nr. 764. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 1, S. 555. 113

ter als Weimarer Beamter von seinen Verwaltungstätigkeiten derart eingedeckt, dass seine dichterische Produktivität ins Stocken zu geraten drohte. Die Befreiung von der ‚Qual und Lust‘ des alltäglichen Lebens, worin man mit guten Gründen auch die innere Loslösung vom belastenden Liebesschmerz nach der gescheiterten Verlobung mit der Bankierstochter Anna Elisabeth (Lili) Schönemann erkennen mag, findet im Gedicht ihren Sehnsuchtsort in einem ‚süßen Frieden‘, der vor diesem biographischen Hintergrund eben auch ein nicht-religiöser sein kann. Will man die Metapher vom ‚Atmen der Seele‘ in Anschlag bringen, spiegelt sich die Sehnsucht nach der Ruhe und der Wunsch nach dem Gewinn neuer Lebenskräfte im Vorgang des Wanderns, mithin in der Begegnung mit einer spirituell aufgeladenen Natur. Der Anspruch geht dabei sicherlich über simple Erholung hinaus. Goethe wusste zudem noch um die heute fast vergessene Bedeutung des Wortes ‚Friede‘. Das griechische εἰρήνη, Eirene, das wir noch im Namen Irene hören, meint nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern eine allumfassende Harmonie. So ist die Wanderung in schöner literarischer Traditionsanbindung topisch immer auch ein Hinweis auf den Lebensweg, wodurch im Gedicht selbst in den Schlussversen und im Rekurs auf die Mehrdeutigkeit von ‚Friede‘ zugleich eine Ahnung von Sterben und ewigem Ruhen mitschwingt. Als situatives anlassbezogenes Schreiben am Rande einer längeren Wanderung ist das Gedicht zuerst einmal eine Art Gelegenheitsdichtung und damit Teil einer entsprechenden Tradition, die sich in durchaus ritualisierter Form der Inspiration eines Augenblicks verpflichtet sieht. Als Gelegenheitsdichtung ist der werkliche Anspruch als häufig genug lediglich ‚Fingerübung‘ eher bescheiden. Als intimes Schreiben und Ansprache an ein konkretes Gegenüber, an Charlotte von Stein, die er – in den Worten eines späteren Biographen – bald nicht nur „bedingungslos“, sondern sogar „besinnungslos“19 liebte, ist Goethes Niederschrift von 1776 im engeren Sinne eine Art Widmungs- und vielleicht sogar ein Liebesgedicht modernerer Art. In der sieben Jahre älteren, mit dem herzoglichen Stallmeister verheirateten Hofdame und Vertrauten der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach suchte der Dichter ein Gegenüber, der er sein Innerstes

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Koopmann, Helmut: Liebeszweifel und Selbsterkenntnis im Gedicht. In: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Interpretationen. Hrsg. von Witte, Bernd. Stuttgart 1998, S.  70.  –  Siehe umfassend ders.: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. München 2001. 114

entdecken konnte. In der zugleich hochkonventionalisierten wie auch individualisierten Form des Briefverkehrs war eine Kommunikation möglich, die es dem Schreibenden gestattete, der angeschriebenen Dame ein intimes Bekenntnis zu eröffnen und sich dennoch – weil es in literarischer Mittelbarkeit erfolgte – im Horizont einer höfischen Etikette zu bewegen. Augenfällig sind dabei zwei Momente: Zum einen ist es die starke Individualisierung im lyrischen Sprechen, da in dieser Form nicht zuletzt durch den Korrespondenzcharakter der Zusendung sowohl der Absender – Goethe – als auch die Adressatin – Frau von Stein – als konkrete Persönlichkeiten – quasi privatim – miteinander im Gespräch sind und in dieser Individualität in Erscheinung treten. Das ist auf dem Feld der Literatur im 18. Jahrhundert etwas durchaus Neues; es zeugt von einer Verschiebung im literarischen System, in dem Schreiben nicht mehr primär Ausdruck einer ritualisierten Gefühlsrhetorik ist, sondern eine authentische Erlebnishaftigkeit wiederzugeben bemüht ist.20 Zum anderen manifestiert sich gerade in der Literarisierung der Angesprochenen eine eigene Zurücknahme des Privaten und Intimen. Gerade diese Zurücknahme gestattete eben auch die Anbetung der Angesprochenen, insofern sie als literarische Ansprache den engen Beschränkungen der gesellschaftlich-höfischen Etikette der Zeit nicht in der sonstigen Striktheit unterworfen war. Ein eigenes Spezifikum dieser Literarisierung stellt die Sakralisierung der Angesprochenen dar, die eine Radikalform der sich entwickelnden Individualisierung zeigt. Das personale Du – bezogen auf das Liebesgegenüber Charlotte von Stein – nimmt in diesem literarischen Gebet die Rolle des Transpersonalen, letztlich des Göttlichen ein: „Der du von dem Himmel bist“. Es ist – wenn man es als Widmungs- und vor allem Liebesgedicht lesen will – damit in eins ein Dokument für die Hochwertung – wenn nicht sogar Entstehung – jener sich im 18. Jahrhundert konstituierenden Vorstellung von einer emotional aufgeladenen individualisierten, auf Ausschließlichkeit und Dauerhaftigkeit basierenden Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen.

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Vgl. dazu Bluhm, Lothar: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen …“. Stationen der Liebe in der deutschen Lyrik. In: „Das süße Wort: Ich liebe dich“. Konstellationen der Liebe in Literatur, Kunst und Wissenschaft (Landauer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Bd. 2). Hrsg. von Bluhm, Lothar/​Müller-Schneider, Thomas/​Schiefer Ferrari, Markus/​Zuschlag, Christoph. Baden-Baden 2018, S. 121–158, insb. S. 137– 146. 115

V. Die Anklänge des Goethe-Gedichts an ein Gebet und an religiöses Bekenntnis lassen sich durchaus auch entstehungsgeschichtlich begreifen. In den ersten Versen seines Gedichts greift Goethe wohl auf ein geistliches Lied des pietistischen Kirchenlieddichters Nikolaus Ludwig von Zinzendorf zurück, dem Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, auf Das Gebet des Herrn von 1745.21 Es findet sich in der zweiten und vermehrten Auflage von Zinzendorfs Evangelisches Gesang-Buch, das für die Gemeine in Ebersdorf gedacht war. Wie die erste Auflage erschien es anonym und hatte eine über die Gemeinschaft hinausreichende Bedeutung. Schauen wir auf die ersten beiden Strophen: Der Du in dem Himmel bist, Seit dein Sohn, der Eine, Jesus, unser Bruder ist, Vater der Gemeine: Deinem Namen widerfahr’ Seine heil’ge Ehre! ‒ Wem wärst Du, o Vater, klar, Wenn der Sohn nicht wäre? […]

Obwohl das Gesangbuch nach dem Zusammenschluss der Ebersdorfer mit der Herrnhuter Gemeine bald aus dem Gebrauch kam, ist seine Wirkung in der pietistischen Bewegung der Zeit beachtlich. So war es auch in Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main im Kreis der ‚Erweckten‘ im Gebrauch und gehörte zum Bibliotheksbestand des Vaters. Nicht zufällig begegnet es deshalb auch in den „Be21

[Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Reichsgraf von]: Das Gebet des HErrn. In: Evangelisches Gesang-Buch, In einem hinlänglichen Auszug der Alten, Neuern und Neuesten Lieder, Der Gemeine in Ebersdorf Zu öffentlichem und besonderm Gebrauch gewidmet. [Hrsg. von Steinhofer, Friedrich Christoph.] Die zweyte und vermehrte Auflage. Ebersdorf 1745, S. 742. In der ersten Auflage von 1742 findet sich das Lied Zinzendorfs noch nicht; es wurde häufig in einem eigenen Anhang angeschlossen. 116

kenntnissen einer schönen Seele“ in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1795/​96. Der spirituelle Bildungsweg der Ich-Erzählerin in diesem eingeschobenen Buch im Buche ist nicht unwesentlich von der Begegnung mit pietistischer Erbauungsliteratur und insbesondere dem Ebersdorfer Gesangbuch geprägt: Philos Eltern hatten mit der Herrnhutischen Gemeinde in Verbindung gestanden; in seiner Bibliothek fanden sich noch viele Schriften des Grafen [Zinzendorf]. […] Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen Ketzer; so ließ ich auch das Ebersdorfer Gesangbuch bei mir liegen, das mir der Freund in ähnlicher Absicht gleichsam aufgedrungen hatte. In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohngefähr das gedachte Gesangbuch, und fand zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin, die, freilich unter sehr seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivität der Ausdrücke zog mich an.22

Der Bezug Goethes auf Zinzendorf und sein Kirchenlied ist also vielfältig greifbar. Dort, wo Goethe in seinem Gedicht 1776 in Wunsch und Sehnsucht verharrt, spricht der Kirchenlieddichter von Gewissheit: Der Weg zu Gott, der Weg zum Frieden, führt für den Menschen, so das Lied, über Jesus Christus, den Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen. Ganz augenfällig und durchaus programmatisch wird zudem der Selbstbezug zur – pietistisch gedachten – „Gemeine“ gesetzt: Gott im Himmel, sein Sohn Jesus und die Gemeinschaft der ‚Stillen im Lande‘ werden als aufeinander bezogene Einheit gedacht. Der Titel des Lieds – die lutherische Rede vom Gebet des Herrn – und die Eingangsverse dieser ersten beiden Strophen verraten, dass es sich beim Ebersdorfer Gemeindelied um einen liedhaften Kommentar zum Vaterunser handelt: „Vater unser, der du bist im Himmel“ sang und betete man noch bis weit ins 20. Jahrhundert. Das Gebet, wir wissen es, verweist auf die Bibel, auf Lukas (11,1–4) und in seiner später gültigen liturgischen Form auf Matthäus (6,9–13), wo es in der Mitte der Bergpredigt platziert ist. Wahrscheinlich griff Goethe auch auf ein Volkslied unbekannten Alters zurück. In seinen Abschlussversen – „Süsser Friede, /​Komm ach komm in meine 22

Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 5: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Hrsg. von Schings, Hans-Jürgen. München 2006, S. 398. 117

Brust!“ – findet sich jedenfalls ein Widerhall eines Liedes, das im 19. Jahrhundert von Johann Feyhl vertont wurde und bis ins 20. Jahrhundert in Schulgesangbüchern zu lesen war: Friede süßer Friede schwebe über deinem frühen Grab Glaubend daß die Seele lebe senken wir den Leib hinab Ruhe sanft Kurz war deines Lebens Dauer kaum erblüht des Lenzes Grün Ach, da nahm des Todes Schauer schon die zarte Blume hin Ruhe sanft Ruhe aus von allem Jammer schaue droben Himmelslicht Ruhe still in deiner Kammer bis der große Tag anbricht Ruhe sanft23

Seinen Ursprung wird das Volkslied wohl im 17. Jahrhundert haben. Die Rede von der Erde als Jammertal, die Gewissheit eines Weiterlebens der Seele nach dem leiblichen Hinscheiden und jener im Glauben ruhende innere Friede, der ‚des Todes Schauer‘ überwindet, sprechen dafür. Auch im Tod kann man in der Vorstellungswelt einer barocken Religiosität nicht tiefer fallen als in Gottes Hand: „Ruhe sanft“. Das Volkslied ist heute vergessen. Aber Manche werden sich, wenn sie den Liedtext lesen, an ein anderes, ein berühmtes Gedicht der Moderne erinnert fühlen, nämlich an Gottfried Benns ‚Morgue‘-Gedicht Kleine Aster von 1912 – obwohl dieses so ganz anders klingt: 23

Bohn, Josef: Schulgesangbuch für höhere Lehranstalten. Trier 1912.  –  Text nach [https://​www.volksliederarchiv.de/​friede-suesser-friede-schwebe-ueber-deinem-fruehen-grab/​] (Zugriff: 9. Januar 2020). 118

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster!24

Benns Gedicht wird gern als Beispiel für die Praxis der Kontrafaktur gerade im Frühwerk des Dichters reklamiert. Es ist im Kern wohl ein Spiel mit einem Motiv, das Benn und viele zeitgenössische Leser aus Detlev von Liliencrons 1903 veröffentlichtem Gedicht Durchs Telefon kannten. Ebenso zeigt das Gedicht sicherlich auch Anklänge an Richard Dehmels Zu eng von 1891 (mit dem späteren Untertitel: Aus den Papieren eines Arztes) und gewiss auch noch an andere Literatur. Seine Wirkung erzielt es insbesondere aus der zur Schau gestellten Mitleidlosigkeit des Blicks auf die Schattenseite menschlicher Kreatürlichkeit, die Kontrastierung mit der Schönheit einer Blume sowie – vor allem – die perspektivische Umwertung, die sich voller Anteilnahme dem Schicksal der Aster zuwendet, während der Mensch augenfällig entwertet wird. Weitab von einem Gebet, wie es scheint. Der Dichter Benn war Arzt, wie das Gedicht schon verrät. Kleine Aster entstand, wie die anderen Gedichte seiner bald so berühmten ‚Morgue‘-Sammlung, während eines Sektionskurses. Manchem erscheint diese Dichtung als zynisch und menschenverachtend, was sie aber nicht war und nicht ist. Ganz im Gegenteil: Der Pastorensohn Benn reagierte vielmehr – verdeckt klagend wie anklagend – auf 24

Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Hrsg. von Hillebrand, Bruno. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M. 1982, S. 21. 119

eine Zeit, die ihm als zynisch und menschenverachtend erschien, eben jene Moderne, die kulturgeschichtlich auch noch die unsere ist. Sein Gedicht spiegelt in den drastischen Bildern einer Leichenöffnung die Entwürdigung des Menschen in der Welt der Moderne – sie feiert sie nicht. Doch so zynisch und menschenverachtend die moderne Zeit auch ist oder erscheint; selbst bei Benn gibt es noch das Hoffnungsmoment: „Ruhe sanft, /​kleine Aster!“ schließt das Gedicht. Es ist das ‚Ruhe sanft‘ aus dem tröstlichen Lied des Schulgesangbuchs, das seinen Trost aus der Gebets- und geistlichen Liedtradition geschöpft hat, auf der auch Goethes weltliterarisch bedeutsames Gedicht Wandrers Nachtlied aufruht. Mag der Mensch eben auch noch so beschädigt und herabgewürdigt sein, so lebt in seiner Seele doch immer etwas Untilgbares und Reines. Selbst in der Brusthöhle des ‚ersoffenen Bierfahrers‘ ruht in Benns Gedicht schließlich nicht zufällig wieder ein Stück Schönheit. Die zarte Blume macht etwas von dem Frieden sichtbar, von dem auch Goethe in den Schlussversen seiner Dichtung sprach: „Süsser Friede, /​Komm ach komm in meine Brust!“ Bei Goethe wie bei Benn hören wir den Nachhall einer christlichen Gewissheit, die sich über alle Zeitläufte hinweg als Hoffnung, Trost und Kraft selbst dort noch erhalten hat, wo man sie auf den ersten Blick vielleicht nicht mehr sieht.

VI. Deutlich geworden ist vielleicht, dass und wie stark Literatur tatsächlich Literatur aus Literatur, und wie intensiv häufig genug die Anbindung an eine geistliche Tradition ist. Sie zeigt sich mehr oder minder verdeckt in vielen Zeugnissen der modernen Literatur, die sich letztlich oft genug als Palimpseste erweisen. Schabt man ein wenig an der Oberfläche der Textlichkeit, treten die Spuren eines früheren Gebrauchs hervor. Sinnsuche und der dialogische Charakter lassen Gebet und gebethafte Literatur als Redeformen einander nahe rücken. Das ‚Mehr‘ der Literatur oder doch jedenfalls ihr Anderssein gegenüber dem Gebet oder geistlichen Lied ist ihre Mehrdimensionalität. Das literarische Dokument bietet nicht nur die eine Lesart, es besitzt nicht nur den einen primären Zweck und es ist in sich selten eindeutig, sondern konstitutiv von Polyvalenz gekennzeichnet. Dadurch entsteht eine Skepsis gegenüber jedweder Gewissheit – mag sie sein, wie immer sie ist. Entsprechend gibt das 120

literarische Zeugnis keine Antworten, sondern stellt nur Fragen und öffnet Problemräume. Selbst wenn sie Antworten zu geben scheint, stehen diese dann doch im Horizont eines ‚Als ob‘ – es geht immer nur um das Suchen, selbst ein Finden ist kaum mehr als ein transitorisches Ereignis. Die literarische Präsentation bietet immer nur ein vorbehaltliches, nie ein dauerhaftes Gefundenhaben. So bleibt eben auch nicht zufällig am Schluss des Goethe-Gedichts der ‚süße Friede‘ nur ein Wunsch – er möge geschenkt werden: „Komm ach komm in meine Brust!“ Doch schenkt allein die Möglichkeit schon eine Gewissheit, eben die, dass ‚alles Leid und Schmerzen‘ in der Hoffnung auf Stillung bereits Stillung erfährt und im ‚sanften Ruhen‘ dem Tod kein Schrecken mehr zukommt. Der ‚Atem der Seele‘, der im Gebet spürbar wird, zeigt sich auch in der Literatur. Manchmal jedenfalls.

Zum Autor (geb. 1958 in Wuppertal) Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Bergischen Universität; 2002 bis 2005 Lehrstuhl für Germanische Philologie (Linguistik + Literatur), einschließlich Internationale Wirtschaftskommunikation an der Universität Oulu in Finnland; seit 2006 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau; 2014 bis 2019 Dekan des Fachbereichs Kultur- und Sozialwissenschaften. Verfasser einer Vielzahl von Publikationen zur deutschen Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, insb. zur Historischen Erzähl- und Märchenforschung, zur Literatur um 1800, zur Klassischen Moderne, zur Zeitgenössischen Literatur sowie zur Motiv- und Toposgeschichte. Gfr. Herausgeber der Zeitschrift Wirkendes Wort.

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Werner Müller

Der Weg zu Gott führt – auch – durch die Küche. Ein Versuch Eingeladen, zur Festschrift für Wolfgang Pauly einen Beitrag beizusteuern, der an Gemeinsamkeiten anknüpft, fiel mir spontan der Themenkomplex Essen und Trinken und die damit verbundenen ‚Institutionen‘ wie Mahlzeiten, Küche, Restaurant usw. ein. Nicht dass mir aus unserer gemeinsamen Zeit (1983 bis 1989) am Institut für Katholische Theologie an der Universität des Saarlandes noch irgendwelche besonderen Gelage, Schwelgen in Saus und Braus oder gar – Pardon! – Besäufnisse in deutlicher Erinnerung wären. Dafür waren die mehr oder weniger regelmäßigen gemeinsamen Mittagessen der Mitarbeitenden des Instituts zu alltäglich und die besonderen Essen, meist zum Semesterabschluss, eher wegen der Tischgespräche denn der Qualität des Verzehrs bemerkenswert. Ein professoraler Mitarbeiter hat sich immer mit einer Gulaschsuppe begnügt – was den Mitessenden viel zu denken und besprechen gab! Der gemeinsame Anknüpfungspunkt liegt eher auf theoretischer Ebene, und hier nicht in der Ethik, was bei diesem Thema naheliegend wäre, sondern auf noch grundsätzlicherer Ebene. Schließlich war Wolfgang Pauly damals Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie von Prof. Gotthold Hasenhüttl und ich durfte als „Lehrkraft für besondere Aufgaben“ zwar Religionspädagogik und -didaktik lehren, kam aber aus der Fundamentaltheologie und war nach wie vor systematisch-theologisch interessiert. Beste Voraussetzungen für tiefschürfende theologische (Tisch-)Gespräche waren gegeben, sie fanden aber aus Gründen, die mir heute nicht mehr bekannt sind, nicht statt – und seien hier wenigstens in nuce und beschränkt auf eine bestimmte Thematik nachgeholt. Warum ausgerechnet das Thema Essen/​Trinken als Gegenstand eines theologischen Gesprächs? Hat es überhaupt theologische Dignität? – Abgesehen von grundsätzlichen Erwägungen, von denen einige unten folgen sollen, liegt dieses Thema – so meine erste Hypothese – im Schnittpunkt der jeweiligen theologisch-philosophischen Ansätze. Wolfgang Pauly vertrat und vertritt den theolo122

gischen Neuansatz Gotthold Hasenhüttls, ein relational-dialogisches Gottes- und Glaubensverständnis, das er „in kritischer Solidarität“1 in allen Facetten dargestellt und partiell weiterentwickelt hat. Der Verfasser dieses Versuchs hat seinerseits in seiner fundamentaltheologischen Dissertation die philosophische Anthropologie des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty herausgearbeitet und für die Theologie fruchtbar zu machen versucht.2 Bringt man diese in ein Gespräch mit den anthropologischen Grundlagen des relational-dialogischen Ansatzes, so meine optimistische Vermutung, dann gewinnt dieser an Konkretheit und Erdung, insofern diese „existentielle Phänomenologie“ (die sich vom „Existenzialismus“ seines zeitweiligen Freundes Jean-Paul Sartre signifikant unterscheidet, obwohl beide oft in einen Topf geworfen werden) auf ein leibliches Subjekt zurückgeht und dabei leibliche Vollzüge, wie sinnliche Wahrnehmung,3 Sprache, Sexualität, Klavierspielen, Malerei u. ä., zu Gegenständen der phänomenologischen Analysen macht. Obwohl die Sachregister sowohl von Hasenhüttls Hauptwerk „Glaube ohne Mythos“4 als auch der „Phänomenologie der Wahrnehmung“5 keine Stichworte enthalten, die sich dem Begriffsfeld Essen/​Trinken zuordnen ließen, scheint mir ein Gespräch zwischen beiden über eine mögliche Anthropologie des Essens und Trinkens vielversprechend und für beide Seiten weiterführend. Dass 1

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Pauly, Wolfgang: Gotthold Hasenhüttl. Theologie und Kirche im Konflikt. Darmstadt 2015, S.  7. Er hat diesen Ansatz in manchen Punkten aufgrund seiner Dissertation Wahrheit und Konsens. Die Erkenntnistheorie von Jürgen Habermas und ihre theologische Relevanz. Frankfurt a. M. 1989, zu Jürgen Habermas „kommunikativ“ weitergeführt und in Martin Buber. Ein Leben im Dialog. Berlin 2010, das Dialogische philosophisch unterfüttert und so die anthropologischen Grundlagen Hasenhüttls erweitert. Müller, Werner: Etre-au-monde. Grundlinien einer philosophischen Anthropologie bei Maurice Merleau-Ponty. Bonn 1975. Vgl. auch eine Kurzfassung des Grundgedankens in: Ders.: Naturbezüge. Zur Interdependenz von Mensch und Natur, IV. Leib – Natur, die wir selber sind. In: Hilpert, Konrad/​Hasenhüttl, Gotthold (Hg.): Schöpfung und Selbstorganisation. Beiträge zum Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und Naturwissenschaften. Paderborn/​München/​Wien ​u. a. 1999, S. 168–170. – Zu den unten folgenden Gesamtcharakterisierungen des Merleau-Pontyschen Werks vgl. auch: [https://​ de.wikipedia.org/​wiki/​Maurice_​Merleau-Ponty] (Zugriff: 6. März 2020). Vgl. sein Hauptwerk: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966; franz. Original Paris 1945. Hasenhüttl, Gotthold: Glaube ohne Mythos, 2 Bde. Ostfildern 2001. Vgl. Anm. 3. 123

eine existentielle Phänomenologie dazu einiges beizutragen hat, beweist der wohl beste deutsche Merleau-Ponty-Kenner und einer der wichtigsten deutschsprachigen Phänomenologen, Bernhard Waldenfels, etwa mit seinen Überlegungen zu „Fremdspeise und Tafelkünste“6. Aber, so lässt sich einwenden, wäre das heutzutage noch von Relevanz? Was könnte es für die Theologie ‚bringen‘? – Die Beantwortung dieser Frage setzt eine Diagnose des Heute, der gegenwärtigen religiösen Situation unserer Gesellschaft(en) voraus. Dies hat die Theologie immer wieder versucht, spätestens seit ihr die ‚Säkularisierung‘ der modernen Gesellschaft bewusst geworden ist. Die Säkularisierungsthese scheint heutzutage ausdiskutiert zu sein bzw. wird durch detailliertere Diagnosen ersetzt, mit Stichworten wie: Diasporasituation des Christentums in einer religiös pluralen Gesellschaft, Exkulturation des Glaubens, Glaubwürdigkeitskrise der christlichen Kirche(n) u.  ä. Wie auch immer die Lektüre der gegenwärtigen ‚Zeichen der Zeit‘ ausfällt, Übereinstimmung herrscht darin, dass die traditionelle Glaubensgestalt, die dem überkommenen Glaubensinhalt verhaftet ist und diesen höchstens jeweils neu interpretiert, zunehmend obsolet wird7. Gesucht ist also wiederum ein dem Heute angemessener Neuansatz, ein neues Paradigma von Glaube und Glaubensverständnis. Da ist ein jüngst erschienenes Werk des deutschen, in Frankreich lehrenden Jesuiten Christoph Theobald geradezu ein Glücksfall: „Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa“8. Zunächst wegen seiner Methodik, die sich einerseits für die Diagnose unserer postsäkularen europäischen Gesellschaft(en) wesentlich auf Habermas stützt und andererseits den Stilbegriff von Merleau-Ponty für eine Heuristik eines angemessenen heutigen Glaubensverständnisses heranzieht.9 6

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In: Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Berlin 2010, S. 299–301. In diesem Sinne schreibt Hasenhüttl in aller Deutlichkeit: „Es hilft nichts, dem bisherigen christlichen Glauben nur ein neues Gewand umzulegen, ihn mit neuen Worten zu schmücken und ihn so attraktiver machen zu wollen, sondern der Christ [vielleicht besser und vor allem: die Theologie. WM] muss den Paradigmenwechsel der Postmoderne mitvollziehen.“ (Hasenhüttl: Glaube ohne Mythos, Bd. 2, S. 13). Theobald, Christoph: Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa. Freiburg i. Br./​Basel/​Wien 2018. Da unsere jeweiligen Gewährsmänner hier so prominent vertreten sind, sollten Wolfgang Pauly und ich unser Gespräch vielleicht im Pariser Centre Sèvres abhalten – sofern dort eine ‚gute Küche‘ vorhanden ist. Dazu aber gleich mehr! 124

Viel wichtiger sind aber die Inhalte dieser Skizze eines ‚stilistischen‘ Glaubensverständnisses. Es soll etwas Doppeltes leisten, nämlich einmal, gleichsam „nach außen“, in die „entgleisende Modernisierung“ unseres europäischen Gemeinwesens das religiöse Potential, besonders des Christentums, als Ressource einbringen – was voraussetzt, dass es auch von den „säkularisierten“, entchristlichten Bürgerinnen und Bürgern anerkannt wird, und umgekehrt vom Christentum verlangt, nach dem Ende seiner Symbiose mit der europäischen Kultur, eine „Übersetzung“ seines wesentlichen Gehalts in eine öffentlich zugängliche, nicht-metaphysische Sprache zu leisten.10 Sodann muss dieses neue Glaubensverständnis „nach innen“ zu einer Selbstbesinnung auf das Wesentliche führen, „in der Erinnerung daran, dass es dem Christentum in seiner langen Geschichte bereits mehrfach gelungen ist, das Wesentliche anthropologisch zu übersetzen“11. An dieser Stelle hilft Merleau-Pontys Stilbegriff weiter, da er eine Heuristik in beide Richtungen ermöglicht. Stil ist dabei definiert als „Kennzeichen einer Art und Weise, die Welt zu bewohnen“12, man könnte ihn vielleicht auch als „Lebensform“ wiedergeben. Wichtig für die heuristische Funktion von „Stil“ ist, dass Form und Inhalt zusammenstimmen, was erlaubt, einen bestimmten, eigenen Inhalt zu identifizieren, jedoch in einer dem wahrnehmenden Anderen zugänglichen Form. Die zwei Seiten, die objektive und die subjektive Facette, sind konstitutiv für einen Stil. Wenn sie beim Kunstwerk eine mehr oder weniger große Konkordanz aufweisen, macht diese dessen Qualität aus, eben seinen unverwechselbaren Stil; und entsprechend verschafft die „Stimmigkeit“ von Form und Inhalt der christlichen Lebensform mehr oder weniger Glaubwürdigkeit in der Außenwahrnehmung; zugleich haftet, als weiteres Strukturmoment, jedem Stil sein Entstehungsraum 10

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Vgl. zum Ganzen: Habermas, Jürgen/​Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg i. Br./​Basel/​Wien 2005. Theobald: Christentum als Stil , S 11. Ebd., S. 53. Franz. Original: „emblème d’une manière d’habiter le monde“ (in: Signes. Paris 1960, S.  68). Die Nähe zu „Etre-au-monde“/​Zur-Welt-Sein, die von mir als Obertitel für seine Anthropologie gewählt wurde, ist hoffentlich deutlich. Wichtiger als begriffliche Definitionen sind sowieso die konkreten phänomenologischen Beschreibungen; die angeführte Definition wird in „Signes“ (Zeichen) anhand zahlreicher Beispiele auf unterschiedlichen Ebenen entwickelt, von Gemälden der klassischen Moderne bis zum „Stil“ (Kleidung, Bewegungen, Gangart usw.) einer auf der Straße vorübergehenden Frau; man fühlt sich als Leser dabei unwillkürlich in ein Pariser Straßencafé versetzt. 125

an; im Fall des christlichen Stils bzw. der christlichen Lebensform, ist dies ein bestimmtes Begegnungs- und Beziehungsgeschehen.13 Auf dieser zugegebenermaßen komplexen, hier nur in Grundzügen wiedergegebenen philosophischen Basis – die Neuscholastik war simpler! – entwirft Theobald ein zeitgemäßes Glaubensverständnis. Obwohl es nicht nur eine hermeneutische Fortschreibung des herkömmlichen ist, deckt es die traditionellen Themengebiete der Fundamentaltheologie in etwa ab (demonstratio religiosa, christiana und catholica). Für unseren Zweck von besonderem Interesse ist die analysis fidei. Die Pointe sei wörtlich zitiert: Es fehlt, im Ganzen gesehen, an der jesuanisch-neutestamentlichen Fähigkeit, dort ‚Glauben‘ zu finden, wo man ihn nicht vermutet […], in Formen, die nicht sofort mit unseren kanonischen Ausdrucksweisen übereinstimmen … [zu entdecken,] dass Glauben nicht einfach von außen eingepflanzt werden kann, sondern sehr viel ‚Feinsinn‘ oder ‚Finesse‘ verlangt, will man den im Anderen als Anderem bereits gegenwärtigen elementaren Lebensglauben erspüren, im Wissen darum, dass nur der Geist Gottes diesen oder jene […] zum christlichen Glauben führen kann.14

Solchermaßen von einer ‚stilistischen Theologie‘ auf die richtige Fährte gesetzt, können wir uns nun endlich – hoffentlich mit dem nötigen Feinsinn ausgestattet – der ‚Küche‘ nähern, verstanden als Pars pro Toto für das Thema Essen/​Trinken. Nichts weniger als eine „Anthropologie des Essens und Trinkens“ ist gefordert, die man nach den obenstehenden Überlegungen vielleicht auch „Gastro-Theologie“ nennen könnte. Damit ist, in der Winzersprache ausgedrückt, ein „großes Fass“ aufgemacht (das einen einzelnen Trinker mit Sicherheit überfordert, mit Wolfgang Pauly wären wir aber schon mal zwei!). In dieser Lage bleibt nichts anderes übrig als – diesmal in der Bäckersprache ausgedrückt – „kleine Brötchen“ zu backen. Eine Verkleinerung der großen Aufgabe soll durch eine doppelte Engführung erreicht werden, einmal durch den regionalen Bezug auf das Saarland und die Pfalz (was hier keiner weiteren Begründung bedarf); sodann dadurch, 13 14

Vgl. ebd., S. 54. Ebd., S.  123, Hervorh. im Original  –  Die ästhetischen Kategorien Form, Ausdruck, Finesse usw. sind hoffentlich deutlich. 126

dass wir Küchen aufsuchen, die schon von Hause aus in einem religiösen Kontext stehen: Klosterküchen.15 Ist es Zufall oder ‚Zeichen der Zeit‘, dass der Abt des vermutlich ältesten Klosters Deutschlands ein früherer französischer Spitzenkoch ist? Dass die Benediktinerabtei Tholey im heutigen Saarland bei ihrer Gründung im 7. Jahrhundert zum Bistum Verdun gehörte? Dass Abt Mauritius ein geborener Elsässer ist, der seine Kochkunst außerdem im nahen Luxemburg ausgeübt hat? Kommen die Bezüge zu dem Land, das für viele Feinschmecker in aller Welt, was seine Esskultur betrifft, seit dem 18.  Jahrhundert bis heutzutage unübertroffen ist, von ungefähr? Beim Nachdenken über Essen im Allgemeinen und das in Klöstern im Besonderen gerät man, wegen der engen Grenzen der eigenen praktischen Erfahrungen – die aber durchaus vorliegen und ständig auszuweiten versucht werden! –, unversehens auf theoretisches Gebiet. Hier ist Interessantes zu beobachten: z. B. eine unermessliche Flut von Kochund Rezeptbüchern, allein die mit dem Stichwort „Klosterküche“ und Äquivalenten im Titel sind Legion: Dreihundertjähriges deutsches Klosterkochbuch – Das Kloster-Kochbuch – Rezepte und Geheimnisse aus der Klosterküche … Die Liste ließe sich endlos fortführen, zumal wenn man regionale (… aus der Klosterküche Weltenburg) und gastronomische Differenzierungen (Süßspeisen aus der Klosterküche) mitberücksichtigt. An der Aufgabe, auch nur eine Auswahl der Klosterrezepte nachzukochen, um dann unseren Mund, das „Einverleibungsorgan“ unseres Körpers, ein Geschmacksurteil abgeben zu lassen, scheitert auch der fleißigste Koch. Dies kann bei nüchterner Betrachtung auch gar nicht der Sinn der in jedem besseren Haushalt vorhandenen Stapel von Kochbüchern sein: dass ihre einzelnen Rezepte, von Ausnahmen abgesehen, nachgekocht werden. Ihr tieferer Sinn liegt wohl darin, der Phantasie Alternativen zum Alltagsessen zu bieten, dieses vielleicht hin und wieder auch tatsächlich zu ‚transzendieren‘. Sie haben, Kunstwerken vergleichbar, eine utopische Funktion. Andererseits ist 15

Im Folgenden wird dem essayistischen Charakter dieses Versuchs gemäß i. d. R. auf genaue Belege verzichtet, ebenso auf die zahlreiche Literatur im Einzelnen, die meist objektivistisch, kaum „stilistisch“ das Thema angeht. Eine neuere Monographie zum Thema allein in der Bibel enthält eine fünfeinhalbseitige Literaturliste, meist englischsprachig (Altmann, Peter/​Al-Suadi, Soham: Lebenswelten der Bibel: Essen und Trinken. Gütersloh 2019). 127

der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass „Klosterküche“ ein Marketing-Gag der Kochbuch-Verlage ist, ähnlich wie das Nonnenkloster (Um Himmels Willen) in den Vorabendserien des Fernsehens. Wenn Klosterkochbücher den einzelnen, einsamen (?) Esser in der Phantasie ein Essen wie Nonnen und Mönche in der Klostergemeinschaft imaginieren lassen, haben sie ihren Sinn vielleicht ja schon erfüllt. Wie aber, und vor allem: was wird in Klöstern gegessen? – In keinem der vielen Klosterkochbücher sind einigermaßen präzise, nachvollziehbare Aussagen darüber zu finden, was das Besondere der Klosterküche, im Unterschied etwa zu Gourmet- oder gutbürgerlicher Küche, ausmacht, im Marketing-Jargon gesprochen: was ihr ‚Alleinstellungsmerkmal’ ist. Alles im Reich des Kulinarischen Erdenkliche taucht auf, von A wie „Apfelmaultaschen“ bis Z wie „Zwetschgenkuchen“. Es wird einem so ziemlich alles, was nicht ganz exotisch anmutet, unter dem vagen, offensichtlich positiv besetzten Vorzeichen „Klosterküche“ vorgesetzt. Bisweilen wird diese vorausgesetzte Vorstellung durch eingestreute kurze Texte, Bilder, Fotos usw. zu verschiedenen Aspekten des Klosterlebens angereichert und locker mit einzelnen Rezeptgruppen verbunden.16 Versucht man nun dies alles, mitsamt den eigenen Erfahrungen, etwas zu systematisieren – allzu viel Stringenz darf hier nicht erwartet werden –, so zeichnen sich folgende, Historisches und Aktuelles verbindende Grundzüge einer Klosterküche ab:

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In diese Kategorie gehört auch das den Titel für diesen Essay liefernde Werk: Imbach, Josef: Der Weg zu Gott führt durch die Küche. Kulinarische Geschichten aus Kirche und Kultur. Düsseldorf 2009. Unter vielen durchaus interessanten, zwischen die Rezepte eingestreuten Geschichten findet sich kein Text, der die „These“ des Titels rechtfertigen würde. Offenbar ist vorausgesetzt, dass Kirche, Kleriker, Mönche usw. schon irgendwas mit „Gott“ zu tun haben. Ein systematisch-theologischer Anspruch ist hier nicht erkennbar. Bezeichnenderweise trug die vorhergehende Auflage den theologisch weniger anspruchsvollen Titel: Von reichen Prassern und armen Schluckern. Düsseldorf 2007. Dennoch bin ich dem Franziskaner Josef Imbach für seine sehr schöne Titelformulierung dankbar – und verweise gern auf seine theologische Lebensgeschichte: 1975–2002 Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät San Bonaventura in Rom (Seraphicum), 2002 weltweites Lehrverbot durch den Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger, 2005 Preis der Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche, 2005–2010 Lehre an der (Evangelisch-)Theologischen Fakultät der Universität Basel. 128

Raffiniert einfach Schon die „Regel des hl. Benedikt“ schreibt in den Kapiteln 39 und 40 ein „Maß der Speisen und Getränke“ vor. „Discretio“ im ursprünglichen Sinn von „rechtes Maß“ ist die Maxime, der auch Hildegard von Bingen zustimmt. Der heutige Küchenchef des Klosters Einsiedeln in der Schweiz lässt ein Verbrauchermagazin wissen: „Patres schlemmen nicht, Junge achten auf die Linie, Alte mögen nur leichte Kost“ – aber: „Esskultur muss sein!“. Das bedeutet: gesunde Produkte, möglichst aus eigenem Anbau oder aus der Region, die „wahrhaft“, d. h. traditionell und modern zugleich zubereitet, Gerichte ergeben, die „an Schlichtheit und Eleganz nicht zu überbieten sind“, wie ein ‚weltlicher‘ Kollege nicht ganz ohne Neid anerkennt. Bevor wir ins Schwärmen geraten: Woher kommt diese raffinierte Einfachheit? Letztlich aus der Beschränkung auf das rechte Maß. Not macht bekanntlich erfinderisch. Die Polarität von Fasten und Feiern, von Askese und Lebensfreude führt in der Kochkunst zu gesteigertem Erfindungsreichtum. Nur zwei historische und immer noch aktuelle Beispiele: Die Maultaschen und das Käsefondue sind der Legende nach als „Herrgotts b’scheißerle“ entstanden, erstere verstecken das beim Fasten verbotene Fleisch in der Teigware, der ebenfalls verbotene Käse (in der Schweiz!) wird als Suppe camoufliert. In heutigen Klosterkochbüchern sind weitere, vielleicht weniger gewiefte Beispiele zu finden, die den Verzicht zum Genuss werden lassen, die sowohl der Seele als auch dem Leib gerecht werden und beide ‚zusammenhalten‘.

Regionale Küche Klosterküche bezieht ihre Zutaten möglichst aus eigenem Anbau oder der unmittelbaren Umgebung. Schon die Benediktsregel ist, was die Essensvorschriften betrifft, an den Lebensgewohnheiten der Bauern Mittel- und Süditaliens orientiert. Sie sind aber so moderat, dass sie jeweils regional adaptiert werden konnten. Die Regionalisierung, die auch heute aus vielerlei Gründen empfohlen wird, ergibt sich mittelbar aus dem letzten Ziel eines Klosters. Laut der Regel sollten sich alle lebenswichtigen Dinge und Betriebe innerhalb der Klostermauern befinden, um möglichst unabhängig von der Umwelt zu sein. Diese wirtschaftliche Autarkie hatte wiederum einen ‚höheren Sinn‘: „Die Enthobenheit von der irdi129

schen Wechselhaftigkeit im abgegrenzten Raum der klösterlichen Welt“ diente idealerweise „der seelischen Vereinigung mit Gott, dem Kern der klösterlichen Religiosität“17. Dieses religiös motivierte Autarkiestreben führte ab dem 11. Jahrhundert zu planmäßiger Verbesserung der Bodenbewirtschaftung und Nahrungsmittelproduktion – auch von Bier und Wein! – und zu Überschüssen. Was über den Bedarf der Klosterfamilie hinausging, sollte caritativ verwendet werden. Der Almosenier verteilte, was vom Tisch der Mönche übrigblieb, an die Armen. Petrus Venerabilis verbietet ausdrücklich, etwas für die nächste Mahlzeit aufzubewahren. So war Frische der Lebensmittel, auch ohne Kühlschrank, garantiert. Ist es zu viel spekuliert, den heutigen Trend zu regionaler Biolandwirtschaft und die „Tafeln“ als Säkularisate der Klosterwirtschaft und -küche zu sehen?

Ist Klosterküche gesund? Der große Erfolg und das hohe Ansehen der Klosterküche hängen wohl auch an ihrem Image als „gesund“. Ihr werden sogar heilsame Wirkungen zugeschrieben, beispielsweise vom AOK-Gesundheitsmanagement; die Zeitschrift „Brigitte“ empfiehlt eine Ernährung nach der „Klosterheilkunde“ (sic!). Tatsächlich hat eine groß angelegte Studie an ca. 12000 Ordensleuten herausgefunden, dass Mönche und Nonnen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine höhere Lebenserwartung haben, der „Überlebensgewinn“ von katholischen Nonnen mehr als 20 % beträgt, der von Mönchen und Priester immerhin noch 10 %.18 Kommt dies von der einfachen, gesunden Klosterkost? Das wäre zu kurz geschlossen: Zwar ist eine einfache, schmackhafte, nicht zu üppige Ernährung, wie jeder Gesundheitsbewusste weiß, per se gesund, zumal wenn sie aus frischen Produkten, nicht zu viel Fleisch und eventuell noch nach dem Kräuterwissen der hl. Hildegard zubereitet ist. Die These von der unmittelbar gesunden, ja heilsamen Klosterkost muss jedoch relativiert werden. 17

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Andenna, Cristina/​Breitenstein, Mirko (Hg.): Frommer Eifer und methodischer Betrieb. Beiträge zum mittelalterlichen Mönchtum. Gert Melville zum 70.  Geburtstag. Wien/​Köln 2014, S. 3f. Vgl. Jacobs, Christoph/​Frick, Eckhard S.J./​Büssing, Arndt u. a: Die Ordensleute in der Seelsorgestudie, [https://​www.orden.de/​dokumente/​1._​Ordenskorrespondenz/​2016/​ Jacobs_​Ordensleute_​Seelsorgestudie_​ok_​1_​2016.pdf] (Zugriff: 4. April 2020). 130

Hildegard hat ihre Kräuter nicht als Küchen-, sondern als Heilkräuter verstanden, auch wenn die Küche im Mittelalter wesentlichen Anteil an der Gesundheitsvorsorge hatte – was sie auch heute haben sollte –, die Kräutergärten der Klöster die ersten Apotheken und die Köchinnen und Köche – unter den damaligen medizinischen Bedingungen – oft die besseren Ärztinnen und Ärzte waren. Aber widerspricht nicht das (Zerr-)Bild vom runden, feisten Mönch(-lein), dem die Schlemmerei von Gesicht und Bauch abzulesen ist, unserem Idealbild eines Gesunden? Auch hier ist historische Information heilsam – für bestimmte Vorurteile: Auch Klosterinsassen lebten und ernährten sich bis weit in die Neuzeit hinein in ständiger Furcht vor Hunger, vielleicht in geringerem Maß als das gemeine Volk. Da konnte eine gewisse Leibesfülle als Vorsorge für schlechte Zeiten jedenfalls nicht schaden. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass es auch Mönche und Nonnen gab, vor allem adelige, die sich durchaus üppig und luxuriös ernährten – und darum, wie ihre Standesgenossen, auch häufig an Gicht litten. Für die Gegenwart lässt sich festhalten, „dass der klösterliche Lebensstil, der insbesondere durch einen geregelten und bewusst gestalteten Tagesablauf geprägt ist, einen positiven Effekt auf die Lebenserwartung hat“19 – nicht unmittelbar die Quantität und Qualität des Klosteressens als solche.

Gemeinschaftsverpflegung Der klösterliche Lebensstil ist durch die Gemeinschaft geprägt. Sie soll für den Einzelnen eine Ressource sein und ist mit seiner Individualität in Balance zu halten. Neben der eucharistischen Mahlfeier ist im Kloster das gemeinsame Essen zu festgelegten Zeiten die Gemeinschaftsgeste par excellence. Entsprechend wird das Verhalten beim Mahl detailliert geregelt: Schweigen, Lesung, Tischdienst, Mund abwischen vor dem Trinken – mit einer Serviette, nicht dem Tischtuch! –, nicht mit vollem Mund trinken usw. In der Renaissance ist honeste et religiose zu speisen auch weltliches Ideal geworden. Heute ist von der Lebensmittelsensorik empirisch nachgewiesen, dass Geschmack nicht nur von der Qualität des Nahrungsmittels, 19

Luy, Marc/​Wegner-Siegmundt, Christian: Lebe langsam – stirb alt. Eine geschlechtsspezifische Studie über Klosterleben und Lebenserwartung. In: Ärzte Woche 46 (2011), S. 17. 131

sondern auch der sozialen Konstellation seines Verzehrs abhängt. Genuss braucht Zeit und Gemeinschaft!

Führt der Weg zu Gott durch die Küche? Ist die im Titel dieses Essays enthaltene, wie gesagt, von dem Franziskaner Josef Imbach entlehnte These nicht doch theologisch zu gewagt? Wenn man sich vor Augen hält, dass die Grundgeste des christlichen Glaubens das Mahl ist, das ja in einer Küche zubereitet werden muss, ist sie keineswegs von vornherein abwegig. Sie liegt jedenfalls auf der Linie eines Ordensgründers, allerdings der Jesuiten.20 Denn Ignatius von Loyola wollte die Gegenwart Gottes in allen Dingen suchen und finden, im Denken und Sprechen, Sehen, Hören, Fühlen, und eben auch im Schmecken. Ignatianische Spiritualität, die die Trennung vom Alltag überwinden will, bedeutet, mit allen Sinnen – der Basis für jegliche Wahrnehmung der Welt, der Aisthesis überhaupt – bewusst zu leben. Warum sollten die Ernährung, eines der Grundbedürfnisse des Menschen, und alles, was damit zu tun hat, da ausgeschlossen sein? Schon Heraklit, wegen seines Tiefsinns der „Dunkle“ genannt, hat im 6./​5. Jahrhundert v. Chr. einen Bezug zwischen der Küche und dem Göttlichen hergestellt: Als er sich dort die Hände am Feuer wärmte und Besucher nicht wagten, näher zu treten, soll er gesagt haben: „Tretet ein, auch hier sind Götter“. Was auch immer der genaue Sinn dieses Spruchs sein mag, er stellt offenbar diesen fundamentalen menschlichen Bereich des Essens und Trinkens in eine religiöse Dimension. Christlich-theologisch gibt es – um die oben entwickelte Komplexität einer ‚stilistischen Theologie‘ zum Schluss nun doch etwas zu reduzieren und zu entspannen! – m. E. zwei grundsätzliche Weisen, dies zu tun. Der eine Weg zu Gott – den Ignatius weist – führt „nach innen“: das Subjekt reflektiert seine Tätigkeiten coram Deo mit stilistischem Feinsinn auf ihre „Stimmigkeit“ hin. Der andere Blick richtet sich „nach außen“ und nimmt die begegnenden Objekte als gute Gaben und Angebote des Schöpfers wahr. Eine kulinarisch gewendete Schöpfungstheologie, die objektive Facette einer Gastro-Theologie, könnte in den Worten von Abt Mau20

Dass zwischen den beiden Orden keine Abgründe liegen, mag man daraus ersehen, dass der Jesuit Jorge Bergoglio als Papst den Namen Franziskus gewählt hat. 132

ritius benediktinisch-schlicht lauten: „In der Küche geben wir Antworten auf die Geschenke Gottes“. Damit sind sowohl für die Köchinnen und Köche wie für die Gäste der Klosterküche – und aller, die zusammen essen und trinken – ziemlich hohe Ansprüche formuliert. Ihnen praktisch und theoretisch zu entsprechen, ist eine große, aber auch schöne Aufgabe.

Zum Autor (geb. 1945 in Ludwigshafen/​Rhein) Studium in München und Lyon/​Frankreich. Promotion in Fundamentaltheologie (Prof. Heinrich Fries). Beruflich tätig an der Katholischen Akademie in Bayern in München, der Pädagogischen Hochschule Rheinland in Bonn, am Institut für Katholische Theologie der Universität des Saarlandes in Saarbrücken; dort zugleich nebenamtliche Leitung der Katholischen Akademie Trier, Abteilung Saarbrücken. Mitherausgeber der (seit 1968 erscheinenden) Zeitschrift imprimatur. Lebt seit 2015 in Trier.

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Kritisch

Karlheinz Ruhstorfer

„Nicht in Nordkorea“. Zur Lage der Kirche im März 20201 1. Ein gewagter Vergleich: DDR und RKK Im Januar 2020 machte Kardinal Reinhard Marx in einem Gespräch über die aktuellen Reformprozesse in der katholischen Kirche die Aussage, man könne über alles reden, man sei ja schließlich nicht in Nordkorea. Ich weiß bis heute nicht, ob mich diese Feststellung beruhigen oder beunruhigen soll. Zunächst möchte ich dazu drei Anmerkungen machen. 1. Nordkorea ist in der Tat derzeit einer der finstersten Orte der Welt, mit dem die Kirche nicht verglichen werden kann. In der Tat muss niemand, der eine kirchenkritische Äußerung macht, um Leib und Leben fürchten. Todesdrohungen, Folter und Gefängnisstrafen gibt es nicht. Das ist beruhigend. 2.  Die Kirche besitzt generell keinen ‚weltlichen Arm‘ mehr, der mit staatlicher Gewalt gegen Dissidentinnen und Dissidenten vorgehen könnte. Auch die gesellschaftliche Macht der Kirche ist geschrumpft. Niemand wird etwa wegen eines Kirchenaustritts gesellschaftlich geächtet. Gleichwohl muss man hier hinzufügen, dass es dem kirchlichen Lehramt auch in einer liberalen Demokratie wie in Deutschland möglich ist, etwa durch die Verweigerung des Nihil obstat oder den Entzug der Lehrerlaubnis, Karrieren zu verhindern und bürgerliche Existenzen zu gefährden. Das ist noch immer beunruhigend. 3. Seit dem Pontifikat von Franziskus herrscht in der Kirche eine gewisse Tauwetterperiode. Eine neue Offenheit scheint sich durchgesetzt zu haben. Die real existierenden Repressionen haben etwas nachgelassen. Wenn man mutig ist und Zurechtweisungen nicht fürchtet, kann man möglicherweise tatsächlich über alles reden. Freilich heißt reden noch lange nicht verändern. 1

Es handelt sich hier um eine grundsätzlich überarbeitete und deutlich erweiterte Fassung meines Textes, der auch erscheinen wird als Ruhstorfer, Karlheinz: Grundlegung der Kirche – quo vadis, Kirche! In: IRP-Impulse 1(2020). 136

Und vielleicht ist diese partielle Offenheit auch nur die Klugheit, Druck aus dem Kessel abzulassen und zwar im Wissen darum, dass die Personen, die sich hier kritisch äußern, gar nicht die Macht haben, wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Wie auch immer diese Dinge liegen, bleibt festzustellen, dass in der katholischen Kirche derzeit ein Hauch von Perestroika (Umstrukturierung) und Glasnost (Offenheit) herrscht. In der ZEIT erschien Anfang Februar ein Artikel von Patrick Schwarz mit dem Titel: Gleicht die Kirche heute der DDR im September 89?2 Der Autor stellt hierbei fest, dass die Kirche in eine Existenzkrise taumle, die zunehmend der DDR vor dem Mauerfall ähnle. Dabei ist er der Meinung, dass das Systemversagen der Kirche verhindert werden könne. Noch zumindest! In der Tat sind die Parallelen frappant. Einem mächtigen, schier unerschütterlich scheinenden System drohen die Fundamente wegzubrechen. Die herrschende Elite ist nicht in der Lage, diese Situation realistisch zu deuten. Kirche, DDR und UdSSR werden von gerontokratischen Strukturen geprägt. Alte Männer, die die Zeit und die Welt nicht mehr verstehen, sind an der Macht, wobei der Machtapparat scheinbar intakt ist. Die demonstrative Menschenfreundlichkeit der Machthaber ändert nichts an der Härte der faktischen Regentschaft. Dass im Einzelfall Gnade vor Recht ergeht, ändert nicht das prinzipielle Unrecht. Im Gegenteil können singuläre Gnadenakte gerade das Gefühl der Rechtsunsicherheit und Willkür steigern. Systeme, deren geltende Rechtsstrukturen nicht als Ausdruck der Autonomie und damit der Selbstverpflichtung anerkannt werden können, befördern die Ignoranz und Subversion gegenüber den Normen. Die faktische Geltung des Rechts kann den Mangel an Legitimität nicht beheben. Hinter den Kulissen der machtpolitisch unangefochtenen Herrschaft eines bestimmten Rechtssystems lauert die theoretische, d. h. die philosophische bzw. theologische Leere. Im Falle der Kirche lässt sich sagen, dass die theologische Wissenschaft sowie das religiöse Empfinden und die gelebte Praxis der Glaubenden die real existierenden Verhältnisse im Grunde nicht mehr legitimieren. Dass eine medial und kirchenpolitisch äußerst agile reaktionäre Minderheit an den überkommenen 2

Schwarz, Patrik: Gleicht die Kirche heute der DDR im September 89? In: DIE ZEIT 7 (2020), [https://​www.zeit.de/​2020/​07/​katholische-kirche-papst-franziskus-ddr] (Zugriff: 16. März 2020). 137

Überzeugungen festhält, ändert die Situation grundsätzlich nicht. So kommt es zu scharfen und schmerzvollen Polarisierungen, doch die Mehrheit des Kirchenvolkes und der Gemeinschaft der Theologie Treibenden will fundamentale Veränderungen. Die Forderung nach einer erneuerten Kirche lässt an die Forderungen nach einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ denken. Patrick Schwarz schreibt: „Und der Reformprozess heute erinnert an den Wunsch reformorientierter SEDler wie wackerer Bürgerrechtler im Wendeherbst 89, eine friedliche Revolution im eigenen Land zu eigenen Konditionen zu bewerkstelligen.“3 Wir alle wissen, was kam. Das System hatte seinen Kredit verspielt.4 Nun hat das Wort „Kredit“ eine merkwürdige Doppelbedeutung. Einerseits meint es einen ausgeliehenen Geldbetrag. Andererseits impliziert es die Glaubwürdigkeit des Kreditnehmers. Im Falle der Glaubensinstitution Kirche ist der Verlust der Glaubwürdigkeit aber fatal. Auch die Staatsbürgerinnen und -bürger der DDR hatten das Vertrauen in den Apparat und das System verloren. Zugleich war das System ökonomisch am Ende. Der Staat war hoch verschuldet und stand faktisch vor dem Bankrott. In der Kirche dürfte das ökonomische Argument schwächer sein. Kirche lässt sich auch unter Bedingungen der Armut inszenieren. Doch dürfen wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine gediegene Seelsorge, eine funktionierende Kirchenverwaltung und eine ordentliche Theologie nicht zum Nulltarif zu haben sind. Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich kann an diesem Punkt eine Warnung sein.5 Um ein gewisses kirchliches Leben aufrecht zu erhalten, braucht es auch eine ökonomische Basis, die in Frankreich weitgehend fehlt und die Effekte der inneren Aushöhlung der Kirche noch äußerlich potenziert. Entscheidend aber ist der Verlust an Glaubwürdigkeit. Dieser wirkt sich nicht nur auf der Ebene der Gläubigen aus. Eine Kirche, der man nicht vertraut und deren Botschaft nicht überzeugt, ist am Ende. Darüber hinaus dürfte die katholische Kirche durch den Priestermangel weiter ins Straucheln kommen, denn ohne geweihte Amtsträger ist das System nicht aufrechtzuerhalten. Die üblichen Versuche, die aktuellen Kir-

3 4 5

Ebd. Vgl. Seewald, Michael: Reform. Dieselbe Kirche anders denken! Freiburg i. Br. 2019. Dass die französische Situation nicht verklärt werden sollte, siehe Ruhstorfer, Karlheinz: Die Theologie muss sich erneuern. Synodale Vernunft wagen. (Antwort an Bischof Wilmer). In: Herder Korrespondenz 73 (11/​2019), S. 47–50. 138

chenstrukturen den schrumpfenden Priesterzahlen anzugleichen, sind faktische Bankrotterklärungen. Wenn Laien und Ehrenamtliche in die Bresche springen sollen, dann gleicht das moralischen Appellen an die Leistungs- und Opferbereitschaft der werktätigen Bevölkerung, die aber die systemische Erkrankung nicht überdecken und schon gar nicht heilen kann. Mit Papst Franziskus begann, wie oben bereits festgestellt, eine Tauwetterperiode. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung: Franziskus, der Gorbatschow der katholischen Kirche. Franziskus hat in der Tat den Geist der Freiheit heraufbeschworen wie Gorbatschow. Auf die bleierne Zeit des Doppelpontifikats von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. folgte eine spürbare Frühlingsbrise.6 Doch zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die von Franziskus ausgehenden Zeichen ambivalent bleiben. Mutigen Erneuerungsimpulsen folgten dann oft keine klaren und machtvollen Schritte der institutionellen Umsetzung. Konkrete Innovationen standen Einschärfungen der alten Positionen gegenüber. Besonders deutlich wurde dies im 2018 veröffentlichten Schreiben des Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Luis F. Ladaria zum Verbot der Priesterweihe der Frau.7 Immer häufiger muss ich an das Sprichwort denken: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Seit dem Postsynodalen Schreiben Querida Amazonia zweifle ich daran, dass Franziskus tatsächlich eine epochale Wende in der Kirche einleiten wird. Vielleicht hatte Kardinal Marx einen ähnlichen Zweifel, als er sich entschied, nicht mehr für den Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz zu kandidieren. Vielleicht weiß der Vatikan-Insider Marx, dass grundlegende Reformen, wie sie letztlich vom Synodalen Weg angestrebt werden, nicht zu erwarten sind. Jedenfalls weicht im deutschen Katholizismus die Aufbruchstimmung einer grundlegenden Skepsis 6

7

Es sei noch einmal angemerkt, dass hier von der aktuellen und inneren Situation der katholischen Kirche die Rede ist. Die Verdienste Johannes Paul II. für den Umbruch in Osteuropa sollen hier nicht bestritten werden. Dass die Forderungen nach Freiheit, die der polnische Pontifex unterstützte, auf die politische Sphäre beschränkt blieben, ist allerdings schon festzustellen. Eine Demokratisierung der Kirche war nicht die Sache von Johannes Paul II. Vielmehr wurden die autoritären Strukturen innerhalb der Kirche gefördert. Siehe dazu Ruhstorfer, Karlheinz: Die Mitte des Glaubens. Die Glaubenskongregation zur Priesterweihe der Frau. In: Herder Korrespondenz 72 (8/​2018), S. 25–29; Ders.: Das Subjekt, die Macht und das Übel. Zur Frage nach der Teilhabe von Frauen an kirchlichen Selbstvollzügen. In: Ders. (Hg.): Zwischen Progression und Regression. Der Streit um den Weg der katholischen Kirche. Freiburg i. Br. 2019, S. 317–336. 139

gegenüber der Möglichkeit zur Veränderung. Katerstimmung macht sich breit. Auch im September 1989 mündete die Euphorie des systemimmanenten Veränderungskampfes schließlich in eine ausgewachsene Distanz zum System. Nur mit einem immensen Maß an Optimismus konnte man sich noch an Gesprächsforen beteiligen. Immer mehr kritischen Geistern wurde klar, dass das System irreformabel ist. Sicher ist dies auch der Ort, an dem ich zugeben muss, dass die von Gorbatschow eingeleitete Wende für die Sowjetunion nicht gut ausgegangen ist. Doch sollten wir daraus nicht die Konsequenz ziehen, einfach wie bisher weiterzumachen. Das ist schlicht nicht möglich. Denn eine konservative Wende oder ein weiteres Draufhalten mit Macht und Autorität werden die Kirche ebenfalls nicht retten. Zwar wird es in der Kirche keine gewaltsame Revolution geben, doch es reicht bereits eine Abstimmung mit den Füßen. Anders als die DDR mit ihren Grenzbefestigungen kann die Kirche niemanden daran hindern, die Gemeinschaft zu verlassen. Eine weitere Resignation und damit eine dramatische Beschleunigung der Kirchenaustritte wären unvermeidbar. Diese Kirchenflucht würde über kurz oder lang zum schleichenden Untergang der katholischen Weltkirche in Deutschland – und nicht nur hier – führen. Gewiss könnte man jetzt noch einwenden, dass die Krise ja nur ein lokales, eben ein deutsches, europäisches oder vielleicht westliches Phänomen sei. Doch sollte allein dieser Einwand zu denken geben. Denn er impliziert, dass offene, liberale und plurale Gesellschaften, wie es die westlichen nun mal (noch) sind, mit der aktuellen Fassung des Katholizismus unvereinbar sind – unvereinbar wie der DDR-Sozialismus mit einem freiheitlichen System.

2. Anfang vom Ende oder Ende des Anfangs oder der Synodale Weg In der Tat spielt sich derzeit in Deutschland Bemerkenswertes ab. Der Synodale Weg ist ein Zeichen der Hoffnung. Primär hat die Notwendigkeit der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen besonders durch Priester und Ordensleute den Synodalen Weg getriggert. Der Missbrauch von Menschen konnte nicht nur als Fehlverhalten von Einzelpersonen gedeutet werden und führte zur Frage nach autoritären Machtstrukturen innerhalb der Kirche. Mit der Frage des strukturell geförderten Machtmissbrauchs auch bei 140

der Vertuschung der Taten waren plötzlich sehr grundlegende Fragen auf dem Tisch. Nachdem aber der so genannte Gesprächsprozess schon einmal keine Resultate erbracht hatte, wurde mit dem Synodalen Weg nun ein neues Gesprächsformat ins Leben gerufen, das nicht nur als Ventil für tiefgreifende Konflikte funktionieren kann. Vielmehr muss der Synodale Weg konkrete Veränderungen zur Folge haben, wenn er denn zur Lösung und nicht zu neuen Frustrationen beitragen will. Patrick Schwarz ist der Überzeugung, dass noch die Möglichkeit besteht, das Systemversagen zu verhindern. Doch dann muss der Synodale Prozess liefern. Freilich ist die Frage, ob das überhaupt möglich ist. Um hier klarer zu sehen, möchte ich die vier thematischen Foren des Synodalen Prozesses in den Blick nehmen. 1. Macht und Gewaltenteilung, Partizipation. Die Kirche bedarf einer prinzipiellen Begrenzung der Macht. Es kann dabei aber nicht nur darum gehen, die Art und Weise der aktuellen Machtstrukturen in ihrer Verwirklichung sanfter und ein bisschen zeitgemäßer zu gestalten. Es bedürfte einer umfassenden Reform der kirchlichen Machtstrukturen: Die absolutistische Macht des Papstes wäre zu begrenzen. Die monarchische Macht der Bischöfe wäre vom Kirchenvolk her zu legitimieren. Die amtliche Macht der Priester wäre neu von den Gläubigen her zu definieren. Warum sollten nicht Gläubige die Priester wählen, Priester die Bischöfe und Bischöfe die Kardinäle, die wiederum den Papst wählen? Darüber hinaus bedarf es der Gewaltenteilung. Lehrautorität sollte von der richterlichen und gesetzgebenden Autorität unterschieden werden. Muss die jurisdiktionelle Macht mit dem theologischen Lehramt des Papstes derart verbunden sein, wie das derzeit der Fall ist? Neben dem bischöflichen Lehramt (magisterium cathedra pastoralis) könnte die Lehrautorität der Theologenschaft (magisterium cathedrae magistralis) stehen, wie dies bereits im Mittelalter der Fall war. Auch die Lehrentscheide könnten an die Rezeption durch die Gläubigen deutlich rückgebunden werden. Kurz: Die Kirche müsste ihre Grundverfassung demokratisieren. Das geht freilich nicht innerhalb der Grenzen des aktuellen Kirchenrechts, das ja faktisch nur die juristische Zementierung der Machtverhältnisse sicherstellt. Eine Veränderung ist hier faktisch nur von oben, will sagen, von den Bischöfen und letztlich vom Papst her möglich. 141

2. Priesterliche Existenz heute. Priester sollten nicht mehr als mittlere Stufe eines dreigliedrigen ständischen Systems gedacht werden. Es gilt einzusehen, dass die Kirche im Verlauf der Geschichte ständische Strukturen adaptiert hat, die mit dem Kern des Glaubens nicht nur nichts zu tun haben, sondern diesen entstellen.8 Basis der Kirchenstruktur sollte das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen sein. Dieses Priestertum zu ermöglichen und verwirklichen, kann und muss die Aufgabe von Amtspriestern sein. Ihr Zweck ist es, die Mündigkeit der Gläubigen zu befördern. Auch die ständisch gedachte besondere Christusrepräsentanz von Klerikern, vor allem von Bischöfen wäre zu hinterfragen. Muss die Gegenwart Christi in einem Menschen an die Mitgliedschaft in einer Kaste gebunden sein? Wenn das Amtspriestertum seinen Zweck nur darin hat, die allgemeine Christusförmigkeit aller Gläubigen zu stärken und die sakramentale Gegenwart Christi in den Selbstvollzügen der Kirche allem voran in der Eucharistie zu gewährleisten, dann muss diese Gegenwart immer schon in der aktuellen Gemeinschaft angekommen sein. Konkret wäre die Gegenwart Christi in der Eucharistie auch vom Geist der Gemeinde her zu denken und nicht nur vom Handeln des geweihten Amtsträgers. Dazu ist aber eine radikale Wende im Amtsverständnis nötig. Dass das vom Volk her gedachte Priestertum dann gleichermaßen von verheirateten und nichtverheirateten, von männlichen und von weiblichen Gotteskindern ausgeübt werden kann, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Meines Erachtens dient der lehramtlich so hochgehängte Ausschluss der Frauen von der Priesterweihe ausschließlich dem Erhalt der klerikalen Kaste. Insofern geht es tatsächlich nicht darum, wie Papst Franziskus sagt, Frauen zu klerikalisieren, sondern den Klerus zu demokratisieren und von vorhandenen Macht- und Unterdrückungsstrukturen zu befreien. 3. Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche. Damit ist auch der dritte Punkt schon angesprochen. Auch hier bedarf es eines grundlegenden Wandels. Weiterhin, wie Franziskus das in seinem Nachsynodalen Schreiben tut, den Mann mit Jesus zu identifizieren und die Frau mit 8

Siehe Balthasar, Hans Urs von: Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit. Einsiedeln 1952. 142

Maria, impliziert eine radikale Deklassierung aller Frauen. Jesus gilt als der Gottmensch, der Mittler zum göttlichen Vater bzw. zur göttlichen Mutter. Wenn nun aber die Mannwerdung Gottes und nicht die Menschwerdung als das Grunddogma des Glaubens angesehen wird, dann wird der dogmatische Gehalt des Christentums zerstört. Denn der menschgewordene Gott ist es, mit dem Männer und Frauen eins werden sollen. Alle sollen Christus anziehen (Röm 13,14). Alle Menschen können in Christus sein, wie Christus in allen Menschen sein kann (Joh 14,20). Frauen davon auszuschließen, in Christus zu sein, und damit christusförmig zu sein, ist fatal. Wenn Frauen es nur bis zur Marienähnlichkeit bringen können, wie es Franziskus suggeriert, dann ist Christus nicht für sie zur Welt gekommen. Die Gefahr für den Glauben liegt auf der Hand. Deshalb müssen alle Ämter über kurz oder lang für Frauen geöffnet werden. Die Versuche des Lehramts, im Blick auf den Ausschluss von Frauen an der vollen Beteiligung der kirchlichen Selbstvollzüge dogmatische Fakten zu schaffen, beschädigen letztlich nur die Autorität des Lehramts selbst. 4. Sexualität und Partnerschaft. Zur Sexualmoral der Kirche ist gar nicht so viel zu sagen, weil die Praxis der meisten Gläubigen hier schon längst neue Wege eingeschlagen hat. Während in vergangenen Jahrzehnten Katholikinnen und Katholiken Gewissensqualen litten, wenn sie vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten oder in homosexuellen Partnerschaften lebten oder Verhütungsmittel benutzten, ist das heute kaum mehr der Fall. Heute ist der Geschädigte der anachronistischen katholischen Sexualmoral einmal mehr das Lehramt selbst, das seine Glaubwürdigkeit verspielt. Dabei bräuchte es gerade in Zeiten des Umbruchs im Selbstverständnis der Geschlechter und deren Rollen und Identitäten durchaus eine Orientierung gebende ethisch-religiöse Instanz. Doch wenn der normative Anspruch der Kirche die Plausibilitätsstrukturen und auch das ethische Grundniveau der Gläubigen überhaupt nicht mehr erreicht, sondern darunter bleibt, wird es kritisch. Das Dilemma des Synodalen Wegs liegt auf der Hand. Einerseits sind die Erwartungen immens. Es geht die Rede um, dass es sich hierbei um die letzte Chance für die Kirche in Deutschland handle, bevor sie in Auflösung und Be143

deutungslosigkeit absackt. Andererseits sind die Spielräume für Veränderungen gering. Grundlegende Innovationen, wie das Ende der Diskriminierung von Frauen und das Ende der autoritären Machtstrukturen, können bestenfalls als wünschenswert deklariert oder mit einem gewissen moralischen Nachdruck gefordert werden. Das, was sich eigentlich ändern müsste, die Machtstruktur der Kirche, kann im aktuellen System eigentlich nur vom höchsten Repräsentanten der Macht, vom Papst selbst, geändert werden. In einem Gutachten des Päpstlichen Rats für Gesetzestexte, das einem Schreiben des Präfekten der Bischofskongregation vom 4. September 2019 beigegeben war, ist davon die Rede, dass die Themen des Synodalen Wegs weltkirchlich einschlägig seien. Sie könnten „mit wenigen Ausnahmen – nicht Gegenstand von Beschlüssen und Entscheidungen einer Teilkirche sein […], ohne gegen die Einschätzung des Heiligen Vaters zu verstoßen“9. Entscheidend ist also der Papst und nicht der Wille der Kirchenbasis. An diesem Punkt gilt es, aufrichtig zu sein. Es ist in der Tat eine Reform notwendig, die nicht auf der Oberfläche bleiben kann. Damit aber sind das Kirchenrecht und die herrschenden Machtstrukturen betroffen. Diese müssen verändert werden. Es mag sein, dass es strategisch sinnvoll ist, diese Tragweite herunterzuspielen. Auf die Dauer wird dies jedoch nicht möglich sein. Ein regionales Gesprächsforum kann keine basalen Änderungen auf den Weg bringen. Aber Ziel des Weges muss es sein, irgendwann die absolutistischen und patriarchalen Machtverhältnisse abzuschaffen und durch demokratische, emanzipative und partizipative Modelle zu ersetzen. Wenn die römische Bischofskongregation also bezüglich des Synodalen Wegs hellhörig wird, so ist dies verständlich. In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass allein das Zustandekommen dieses Gesprächsformats an ein Wunder grenzt. Besonders bemerkenswert ist die Rolle, die manche Bischöfe dabei einnehmen. Diese setzten sich teilweise mit großer Entschiedenheit für Veränderungen ein. Dabei ist daran zu erinnern, dass bereits für die Auswahl der Bischöfe die Regeln eines geschlossenen Systems gelten, das sich vollkommen autoimmunisiert hat. Die Fragebögen, die zur Person eines Bischofsanwärters herumgehen, sollen dessen Linientreue testen. Befürworter der 9

Ouellet, Marc: [https://​www.dbk.de/​fileadmin/​redaktion/​diverse_​downloads/​dossiers_​ 2019/​2019-09-04-Schreiben-Rom-mit-Anlage-dt-Uebersetzung.pdf] (Zugriff: 16.  März 2020). 144

Frauenordination, der Demokratisierung der Kirchenstrukturen, der Erneuerung der Sexualmoral etc. werden im Vorfeld so weit wie möglich aussortiert. Und sollte es dann doch ein kritischer Geist zum Bischof gebracht haben, dann wird er durch ein Bündel an Treueeiden auf die herrschende Lehre derart eingeschworen, dass von Rechts wegen der letzte Rest von Dissidenz erstickt wird. Dass es hier dennoch immer wieder zu innovativen Geistern im Bischofsamt kommt, darf durchaus als Wunder gelten. Maria hat geholfen!

3. Grundlegung von Kirche Die Kirche hat ihren Grund in Gott. Der dreieine Gott ist Prinzip und Fundament der Kirche. Dieser Gott aber ist uns in Jesus von Nazaret entgegengekommen, und er ist im Heiligen Geist in uns präsent. Das ist zumindest der Glaube der Kirche. Doch sind diese Grundsätze zu interpretieren. Was die klare Gründung der Kirche in Jesus bedeutet, ist eine komplexe Fragestellung. Da ist einerseits ein jüdischer Wanderprediger, der Menschen, Männer und Frauen, in seinen Umkreis in die Nachfolge ruft (Mk 1,16). Er ist davon überzeugt, dass das Gottesreich demnächst anbricht (Mk 1,15), mehr noch, dass dieser Beginn der Herrschaft Gottes mit seiner Person in irgendeiner Weise verbunden ist (Lk 11,20). Von seinen Jüngerinnen und Jüngern verlangt er eine radikale Armut (Mk 10,17–22). Sein Lebensstil, der mit dem nahen Ende rechnet (Mk 13,28–32), ist nicht darauf ausgerichtet, in dieser Welt Wohlstand und Glück oder Strukturen und Ämter anzustreben. Die Radikalität der Nachfolge gilt besonders von seinem Zwölferkreis (Mk 6,7–13). Wenn Jesus diesem Zwölferkreis eine besondere Bedeutung zuspricht (Mk 3,13– 19; 14,17ff.), dann mit Blick auf die eschatologische Sammlung Israels, die er als seine Sache wusste (Mt 23,37ff.). Das Bischofskollegium kann sich jedenfalls nicht ohne weiteres auf diese innerjüdische Symbolgruppe beziehen. In der Perspektive Jesu sind mehr als 12 Apostel vollkommen unsinnig. Auch nichtjüdische Apostel sind undenkbar. Grundsätzlich lag es Jesus fern, die Kirche zu gründen. Aber seine Anhänger kamen nach seinem Tod zur Überzeugung, dass dieser Jesus lebt und dass er bei den Seinen gegenwärtig ist. Nach und nach bildete sich eine jüdische Sekte heraus, die Jesus als ihren Messias anerkannte. Mehr noch, Jesus wurde im Glauben seiner Jüngerinnen und Jünger schließlich zur Inkarnation Gottes. Er wurde selbst als 145

Gott verehrt. Mit diesem Schritt löst sich seine Gemeinschaft aus dem Judentum und wird – Kirche. Grundlage dieser neuen Gemeinschaft ist eben die Überzeugung, dass Gott den Menschen in Jesus unendlich nahe gekommen ist. Diese Nähe in jedem und jeder Glaubenden zu verwirklichen und Jesus in sich selbst lebendig zu wissen, ist die Sache der ersten Christinnen und Christen (Gal 2,20). Der neue Glaube entwickelt sich zunächst in den Plausibilitätsstrukturen der Spätantike. Dabei nimmt er zunächst in den biblischen Schriften, dann in den Deutungen der Kirchenväter – und der wenigen Kirchenmütter – auch spätantikes Gedankengut in sich auf. Dieses Gedankengut ist vom Evangelium als solchem streng zu unterscheiden. Auch Gesellschaftsformen, Lebensweisen, ethische Überzeugungen und Machtstrukturen bilden sich in der Frühzeit der Kirche aus, die mögliche, aber nicht notwendige Deutungen des Kerngedankens sind. Die Entwicklung ist gegenläufig. Einerseits kommt es zu einem zeitgemäßen tieferen Verstehen des Geglaubten, so in den Konzilien von Nikaia, Konstantinopel und Chalkedon. Andererseits ereignet sich eine besondere Inkulturation des Glaubens, die jeweils nur räumlich und zeitlich begrenzte Bedeutung beanspruchen kann. Auch dogmatische Aussagen haben immer auch diese historisch-kontingente Dimension, die jeweils neu zu bearbeiten ist. Es wäre nun die Geschichte der Interpretation Jesu oder, sagen wir, die Theologie- und Kirchengeschichte weiter zu skizzieren. Doch ist dies hier nicht möglich. Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, dass im Mittelalter ein Ständesystem Eingang in die Kirchenstruktur fand. Auch das Papsttum entwickelte sich parallel zu den politischen Strukturen. War das Papstamt zunächst plausibel, weil es den universalen Königsanspruch, der ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Jesus verbunden wurde, in Parallele zum römischen Kaiser geschichtlich real werden ließ, so gewann im Mittelalter die duale Spitze von Kaiser und Papst konkrete Gestalt. Als mit dem Anbruch der Neuzeit neue Plausibilitätsstrukturen erschienen, so konnten diese für die Kirchenverfassung nicht gleichgültig sein. Die katholische Kirche gab sich zunächst die Sozialgestalt des neuzeitlichen Absolutismus. Andere Kirchenformen, die wir heute auch aus katholischer Perspektive als legitime Realisierungen des Christentums ansehen sollten, wie die protestantischen Kirchen, bildeten sich heraus. Gerade im Bereich der reformierten Kirchen keimten im Verlauf der Neuzeit demokratische Strukturen auf, die auch Einfluss auf die politische Geschichte gewinnen sollten. Hier ist auf John Locke und Jean-Jacques Rousseau sowie auf die Amerikanische und Französische Revolution zu verwei146

sen. Der Einfluss des Christentums auf diese Ereignisse muss in aller Breite erst noch erforscht werden.10 Hier kann diese Geschichte nicht nachgezeichnet werden. Allerdings möchte ich noch auf ein grundlegendes Problem hinweisen. Die katholische Kirche betrachtet Spätantike und Mittelalter als Zeit ihrer bestmöglichen Verwirklichung, gegen die die spätere Zeit als Verfallsgeschichte gedeutet wird. So werden in offiziellen kirchlichen Texten bis heute eigentlich nur die Kirchenväter und die Theologen des Mittelalters, allen voran Augustinus und Thomas von Aquin, zitiert. Nichts gegen Augustinus und Thomas! Im Gegenteil! Doch ist die Geschichte weiter gegangen.11 Ja, die geistige Entwicklung im lateinischen Kulturkreis des Westens fand weitgehend außerhalb der Kirche statt. Irgendwann im Verlauf der Neuzeit verlor die alte Kirche den Anschluss an den Geist der Zeit. Humanismus, Aufklärung, Menschenrecht und Menschenwürde, Freiheit und Vernunft etwa im Sinne Kants, Fichtes oder Hegels waren ihre Sache nicht. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gelang es der Kirche, gegen den Zeitgeist noch einmal zur Blüte zu gelangen, doch um einen hohen Preis. Sie nahm mehr und mehr reaktionäre Züge an. Pressefreiheit, Demokratie, freie Wissenschaft, Menschenrechte etc. wurden verboten. Im Ersten Vatikanischen Konzil machte sich die Kirche zu einer antimodernen und zugleich totalitären Institution. An diesem Erbe trägt sie bis heute schwer. Doch gehören Antimodernismus, Totalitarismus und Absolutismus nicht zum Wesen der Kirche. Vielmehr verdunkeln diese aktuell immer noch vorhandenen Strukturen das Evangelium. Wenn heute gerade Europa eine Neuevangelisierung braucht, dann wird dies nur eine Kirche leisten können, die nicht zu grundlegenden Errungenschaften der europäischen Kultur wie Aufklärung, Demokratie und Emanzipation im Widerspruch steht. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sollte endgültig klar geworden sein, dass sich die Kirche dynamisch mit der Zeit entwickeln kann und muss. Ihre Sache 10

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Klassisch Jellinek, Georg: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte (1885). München/​Leipzig 31919. Dazu Joas, Hans: Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 2011, S. 40f. und Ruhstorfer, Karlheinz: Freiheit Würde Glauben. Christliche Religion und westliche Kultur. Paderborn u. a. 2015, S. 209–225. Vgl. dazu: Ruhstorfer, Karlheinz: Befreiung des „Katholischen“. Was Thomas von Aquin mit Pegida zu tun hat. In: Ders.: Befreiung des „Katholischen“. An der Schwelle zu globaler Identität. Freiburg i. Br. 2019, S. 15–37. 147

ist es nicht, in ideologischer Härte vergangene Weltzustände zu erhalten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, das Geheimnis Gottes, das letztlich in jedem Menschen zur Welt kommen will, immer neu erfahrbar und denkbar zu machen. Die Jesusgeschichten und überhaupt die Bibel sind für die Kirche dabei Weisung und Geleit. Damit aber die Heilige Schrift ihre Heiligkeit entfalten kann, bedarf sie einer besonderen Lektüre. Sie will mit Geist gelesen werden. Geist impliziert Vernunft. Vernunft impliziert Unterscheidung. Das war zumindest von alters her die Überzeugung der Kirchenväter und Scholastiker. Vernunft lebt im Wandel. Der Geist schreitet durch die Geschichte. Und mehr noch, der Geist weht, wo er will. Hier bedarf es eines kritischen Glaubens und einer glaubenden Kritik. Die Überlieferung der Kirche hat gestreut, sie hat Früchte getragen außerhalb des Gefüges der Kirche. Diese Früchte muss die Kirche ernten, wenn sie lebendig bleiben will. Gewiss, dazu bedarf es der Unterscheidung der Geister. Zu den Gaben des Geistes dürfen wir heute nicht nur Weisheit, Einsicht, Rat, Erkenntnis, Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht zählen, sondern auch Respekt vor allen Menschen, gleich welcher Religion und Kultur, Emanzipation von Minderheiten, etwa bezogen auf die geschlechtliche Orientierung, Entdeckung der vollen Würde der Frauen, Selbstbestimmung, Gewaltenteilung, Demokratie, Machtkritik und kritisches Bewusstsein. Nur im Geist Gottes, der der menschlichen Vernunft nicht widerspricht, kann die Kirche Jesus, die Bibel und ihre eigene Tradition stets neu erfassen, sich aneignen und verkündigen. Unsere Welt braucht eine Erneuerung der Vernunft (Röm  12,1). Sie braucht eine Erneuerung der Kirche. Sie braucht aber auch eine Erneuerung der anderen Konfessionen und Religionen und eine Erneuerung des freiheitlichen Gemeinwesens. Demokratie, Freiheit und Menschenrechte sind heute in großer Gefahr.12 In ihrem aktuellen Zustand ist noch nicht klar, ob die katholische Kirche dazu beitragen wird, die Gefahr des Autoritarismus, Rechtspopulismus und religiösen Fundamentalismus zu überwinden. Das Potenzial dazu hätte sie. Dazu muss sie sich aber aufraffen und aus ihrer sektiererischen und reaktionären Haltung ausbrechen. Danach sieht es im März 2020 nicht aus. Patrick Schwarz beendet seinen Artikel, in dem er die Situation der Kirche mit der DDR kurz vor ihrem Kollaps vergleicht, mit den Worten: „Jetzt hilft nur noch beten!“ 12

Siehe Hösle, Vittorio: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Freiburg i. Br./​München 2019. 148

Zum Autor (geb. 1963) Studium der Philosophie, Germanistik und Theologie in München, Freiburg und Osnabrück; von 1999 bis 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät in Freiburg i. B., von 2006 bis 2012 Professor für Systematische Theologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, von 2013 bis 2017 Professor für Systematische Theologie an der TU Dresden, seit 2015 Vorsitzender der Deutschen Sektion der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie, seit 2017 Professor für Dogmatik an der Universität Freiburg i. Br.

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Lena Lassahn

Eva vorgestellt – eine feministische Lektüre von Gen 2–3 Einleitung Als Studentin der katholischen Theologie am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau kam ich im Laufe meines Studiums in den Genuss, verschiedene Veranstaltungen bei apl. Prof. Dr. Pauly besuchen zu können. Im Gegensatz zu vielen Dozierenden, die in ihren Veranstaltungen auf die visuelle Unterstützung neuer Medien zurückgriffen, besuchte man bei Herrn Pauly Vorlesungen, die ihrem Namen auch gerecht wurden. Durch seine ruhige, authentische und charismatische Art schaffte er es, Studierende durch ‚Vorlesen‘ und seine überaus anschaulichen Erklärungen und Beispiele mitten aus dem Leben nicht nur für 90 Minuten zum Zuhören zu bringen, sondern auch zur Auseinandersetzung mit der Thematik als auch zur Selbstreflexion anzuregen. So kam es dazu, dass ich mich, inspiriert von Herrn Paulys Vorlesung zur Schöpfungsthematik im Kontext der Einführung in die Grundbegriffe des christlichen Glaubens, intensiv mit der Rolle der Frau in der nicht-priesterschriftlichen Schöpfungserzählung1 beschäftigte,2 denn kein anderer Text der Bibel ist so bedeutsam für die Begründung der Geschlechterverhältnisse und nicht zuletzt für die Erniedrigung der Frau wie Gen 2–3.3 Die erste Frau der Bibel wird „zu einer gefährlichen Person gemacht, die Schuld sei an allen Übeln der Welt, an Sün1 2

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Im Folgenden mit nP abgekürzt. Mein Interesse an dieser Thematik führte 2017 schließlich zu der Abschlussarbeit meines Bachelorstudiengangs mit dem Titel Eva vorgestellt – Klassische vs. feministische Lektüre von Gen 2–3. Die Arbeit wurde durch Prof.  Dr.  Markus Schiefer Ferrari und apl. Prof. Dr. Wolfgang Pauly betreut und begutachtet. Inhaltlich bezieht sich dieser Beitrag daher auch an vielen Stellen auf die feministische Lektüre meiner Bachelorarbeit. Vgl. Wacker, Marie-Theres: Wann ist der Mann ein Mann? Oder: Geschlechterdisput vom Paradies her. In: Wacker, Marie-Theres/​Rieger-Goertz, Stefanie (Hg.): Manns150

de und Tod.“4 Ansichten wie diese können keineswegs als veraltet bezeichnet werden, denn bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten frauenfeindliche Texte, welche die Unterordnung der Frau durch die zweite Schöpfungserzählung rechtfertigten, noch als wissenschaftliche Texte an Universitäten5 und auch heute sind ebendiese Vorstellungen weiterhin vertreten.6 Um den Text auf diese Anschuldigungen hin zeitgenössisch untersuchen zu können, entschied ich mich bewusst für eine feministische Lektüre dessen. Die feministische Theologie, deren Entstehung auf das 19. Jahrhundert und den soziokulturellen Kontext der Frauenrechtsbewegung zurückzuführen ist,7 stellt meiner Meinung nach ein geeignetes Fundament für eine solche Betrachtung dar. Ziel der feministischen Theologie ist, „das Thema ‚Frauen in der Bibel‘ von den spirituellen, asketischen oder pastoralen Manipulationen sowohl der frühen als auch der jüngeren kirchlichen Tradition zu befreien“8 und somit die Frau in ihrer Ganzheit zu betrachten, ohne sie in irgendeiner Art und Weise in Frage zu stellen.9 Sie schafft somit eine Gegenposition zu Auslegungen der biblischen Texte, welche die Autorität von Frauen nicht berücksichtigen oder gar persiflieren,10 und hat daher eine ergänzende Funktion, welche eine Gegenüberstellung mit androzentrischen Auslegungen ermöglicht.11

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bilder. Kritische Männerforschung und theologische Frauenforschung im Gespräch (Theologische Frauenforschung in Europa, Bd. 21). Berlin 2006, S. 93–114, S. 93. Schüngel-Straumann, Helen: Eva. Die erste Frau der Bibel: Ursache allen Übels? Paderborn 2014, S. 11. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 133. Vgl. Schneider-Ludorff, Gury: Feministische Theologie – Geschichte. In: Gössmann, Elisabeth/​Kuhlmann, Helga/​Moltmann-Wendel, Elisabeth u. a. (Hg.): Wörterbuch der Feministischen Theologie. Gütersloh 22002, S. 144–147, S. 144. Perroni, Marinella: Unterschiedliche feministische Methoden und Ansätze: Die biblische Frauenforschung. In: Schüssler Fiorenza, Elisabeth/​Jost, Renate (Hg.): Feministische Bibelwissenschaft im 20.  Jahrhundert (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, Bd. 9.1). Stuttgart 2015, S. 255–265, S. 261. Cursach Salas, Rosa: Eine christliche feministische Bibelhermeneutik. In: Schüssler Fiorenza, Elisabeth/​Jost, Renate (Hg.): Feministische Bibelwissenschaft im 20.  Jahrhundert (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, Bd. 9.1). Stuttgart 2015, S. 169–184, S. 173. Vgl. ebd., S. 170. Vgl. Strahm, Doris: Aufbruch zu neuen Räumen. Fribourg 21989, S. 11. 151

Feministische Theologie kann also als eine spezifische Befreiungstheologie verstanden werden, welche kyriarchale12 Strukturen und androzentrisches Denken aufzubrechen versucht, um überhaupt erst eine multidimensionale Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen. Feministische Theologie ist somit keine Theologie, welche an ein Geschlecht gebunden ist, sondern eine, welche die Beziehung der Geschlechter problematisiert.13 Der Aufbau der folgenden Überlegungen14 ergibt sich aus einer Auswahl verschiedener, teilweise misogyner Interpretationen von Gen 2–3 und daraus resultierender Anschuldigungen, welche zu einem negativen Ansehen der ersten Frau der Bibel führen:15 (1) ‚Die Frau als Zweiterschaffene‘, (2) ‚Die Erschaffung der Frau aus der Rippe des Menschen‘, (3) ‚Die Frau als Gehilfin des Menschen‘,

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Vgl. Schüssler Fiorenza, Elisabeth: Grenzüberschreitungen einer kritisch-feministischen Befreiungshermeneutik. In: Schmeller, Thomas (Hg.): Neutestamentliche Exegese im 21.  Jahrhundert. Grenzüberschreitungen, Festschrift für Joachim Gnilka. Freiburg i. Br./​Basel/​Wien 2008, S. 51–62, S. 54: Elisabeth Schüssler Fiorenza hat den Begriff „Kyriarchat“ (abgeleitet vom griechischen κύριοϛ = Kaiser/​SklavInnen, Herr und ἄρχειν = herrschen) eingeführt, „[d]a die sozialen Analysekategorien Patriarchat, Androzentrismus und Gender […] den Geschlechterunterschied wieder dualistisch einschreiben und weiterschreiben […]“ (Schüssler Fiorenza, Elisabeth: Grenzüberschreitungen, S. 54). Kyriarchat soll als „sozio-politische Herr-schaftskategorie“ (ebd.) verstanden werden. Meyer-Wilmes, Hedwig: Programm Feministischer Theologie(n). In: Gössmann, Elisabeth/​Kuhlmann, Helga/​Moltmann-Wendel, Elisabeth u. a. (Hg.): Wörterbuch der Feministischen Theologie. Gütersloh 22002, S. 147–150, S. 148. An vielen Stellen meiner Überlegungen beziehe ich mich möglichst auf den hebräischen Text, da mir dies hinsichtlich des Ziels meiner Arbeit grundlegend erschien, denn „[j]ede […] Übersetzung ist bereits eine Interpretation des hebräischen Textes“ (Ulrich, Kerstin: Evas Bestimmung. Studien zur Beurteilung von Schwangerschaft und Mutterschaft im Ersten Testament. In: Jahnow, Hedwig/​Seifert, Elke/​Bail, Ulrike u. a.: Feministische Hermeneutik und Erstes Testament. Stuttgart u.  a. 1994, S.  149–163, S. 153). Des Weiteren arbeite ich mit der Einheitsübersetzung der Bibel (EÜ) von 2016. Lediglich bzgl. des Gottesnamens nutze ich die ‚Bibel in gerechter Sprache‘ und schreibe statt ‚Gott, der Herr‘, wie der Gottesname in der EÜ übersetzt wird,‫י‬Adonaj‫י‬. Zudem orientiere ich mich an dem Vorschlag, ‫י‬Adonaj‫ י‬grammatikalisch sowohl männlich als auch weiblich zu verwenden (vgl. Bail, Ulrike/​Crüsemann, Frank/​Crüsemann, Marlene u. a.: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Bibel in gerechter Sprache. Gütersloh 32007, S. 19f). Dies halte ich im genderkritischen Kontext der Thematik dieser Arbeit für unumgänglich. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 141. 152

(4) ‚Die Frau als erste Sünderin‘. Helen Schüngel-Straumann sei hier als die Autorin erwähnt, deren Texte die Grundlage dieser Untersuchung bilden.

1. Die Frau als Zweiterschaffene „Der eigentliche Knackpunkt aller Fehlinterpretationen […] ist die Annahme, dass der erste Mensch ein Mann gewesen sei.“16 Durch eine genaue Untersuchung der beiden Wortspiele ‫( םדא‬adam = Erdling) /​‫( המדא‬adamah = Ackerboden), und ‫( שיא‬isch = Mann) /​‫( השיא‬ischah = Frau), argumentiert die feministische Lektüre gegen den Anschein, der Mann sei der Ersterschaffene und die Frau demnach die Zweiterschaffene.17 Zunächst zu ‫( םדא‬adam) /​‫( המדא‬adamah): Der Begriff ‫( םדא‬adam) besteht im Hebräischen nur im Singular. Daraus ist zu schließen, dass es sich um einen Kollektivbegriff handelt, welcher für die Gattung Mensch steht. Hier ist also noch kein Individuum gemeint, sondern der Mensch an sich. Diese Argumentation konkretisiert Schüngel-Straumann durch die Erzeugung eines Widerspruchs: ‫םדא‬ (adam) wurde aus der ‫( המדא‬adamah) geschaffen, er wurde in den Garten gesetzt, er erhält ein Gebot und wird, nachdem er dieses übertritt, aus dem Garten verbannt. Wäre mit ‫( םדא‬adam) hier nur der Mann gemeint und nicht repräsentativ der Mensch, dann hätte die Frau weder ein Gebot erhalten, noch hätte sie es übertreten, ebenso wenig wäre sie aus dem Garten vertrieben worden. Da der Begriff ‫( םדא‬adam) über Gen  2 hinaus verwendet wird, unterstreicht Schüngel-Straumann ihre Argumentation wie folgt: „Wären mit ʼadam nur Männer bezeichnet, wären Frauen in der Sintflut nicht ertrunken, ein absurder Gedanke.“18 Es handelt sich also bei ‫( םדא‬adam) um ein „extremes Beispiel inklusiver Sprache“19, welches von einem „verengten, auf die Gleichung ‚Mensch = Mann‘ zulaufenden Verständnis zu befreien“20 ist.

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Ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 143f. Ebd. Wacker, Marie-Theres: Wann ist der Mann ein Mann?, S. 99; nach einem Kommentar von F. Crüsemann in einer Anmerkung zu Gen 2,22. Ebd. 153

Gegen die Absicht des Textes hat die spätere Tradition bereits ‫( םדא‬adam) als Eigennamen verstanden, was zu der tragischen Schlussfolgerung führte, dass der erste Mensch ein Mann sei.21 Vom Eigennamen Adam ist jedoch erst in Gen  4 (vgl. Gen 4,25)22 die Rede. „Der erste Mensch, ʼadam, ist demnach kein Mann mit dem Namen Adam, sondern das geschlechtlich noch undifferenzierte Geschöpf aus der ʼadamah, dem Erdboden, könnte also treffend z. B. mit ‚Erdgeschöpf ‘ oder ‚Erdling‘ übersetzt werden.“23 Das Wortspiel ‫( שיא‬isch = Mann) /​‫( השיא‬ischah = Frau) bekräftigt die Argumentation, dass es sich bei ‫( םדא‬adam) noch um kein geschlechtlich differenziertes Wesen handelt. Im Text wird zum ersten Mal nach der Erschaffung der Frau zwischen ‫( שיא‬isch) und ‫( השיא‬ischah) unterschieden.24 Da ‫( םדא‬adam) geschlechtlich unbestimmt ist, kann man nicht davon sprechen, dass die Frau die Zweiterschaffene ist. Der Mann hat erst durch ihre Erschaffung „seine geschlechtliche Identität erh[alten]“25 und wurde zum Mann.26 Bei genauer Betrachtung fällt demnach auf, dass Frau und Mann im Grunde gleichzeitig erschaffen wurden, denn „aus einem Lebewesen werden zwei“27. Problematisch erscheint jedoch, dass der geschlechtlich undifferenzierte ‫םדא‬ (adam = Erdling) „dann aber auf den von der Frau unterschiedenen Mann bezogen wird“28. Diese Kontinuität vom Mann, namens Adam, zu ‫( םדא‬adam), dem Erdling darf nicht mit einer Gleichsetzung verwechselt werden. Ebenso muss berücksichtigt werden, dass diese Kontinuität ebenso für die Frau besteht, da sie aus der Materie des ‫( םדא‬adam) erschaffen wurde.29 Mercedes Navarro Puerto

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Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 144. Vgl. Pfeiffer, Henrik (2006): Art. Adam und Eva. In: WiBiLex [https://​www.bibelwissenschaft.de/​fileadmin/​buh_​bibelmodul/​media/​wibi/​pdf/​Adam_​und_​Eva_​_​2019-0409_​13_​50.pdf] (Zugriff: 10. März 2020), S. 1. Wacker: Wann ist der Mann ein Mann?, S. 96. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 145. Schottroff, Luise/​Schroer, Silvia/​Wacker, Marie-Theres u.  a.: Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen. Darmstadt 1995, S. 144. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 145. Wacker: Wann ist der Mann ein Mann?, S. 96. Vgl. Trible, Phyllis: Gott und Sexualität im Alten Testament. Gütersloh 1993, S. 120f. Wacker: Wann ist der Mann ein Mann?, S. 97. Vgl. Trible, Phyllis: Gott und Sexualität, S. 121. 154

ergänzt die Auflösung dieser Problematik durch die Unterscheidung von lexikalischer Ähnlichkeit und semantischer Bedeutung der Begriffe. Entscheidet man sich, den Text auf die lexikalische Ähnlichkeit zwischen ‫( םדא‬adam = Erdling) und ‫( םדא‬Adam, als Eigenname) zu beschränken, so unterstützt dies das Verständnis, dass der Mann als Erster geschaffen wurde. Versteht man jedoch den Text nach dem semantischen Unterschied zwischen ‫( םדא‬adam = Erdling) und ‫( םדא‬Adam, als Eigenname), so eröffnet dies die Möglichkeit, von einer gleichzeitigen Erschaffung von Mann und Frau auszugehen.30 Des Weiteren bleibt auch das Wortspiel ‫( שיא‬isch = Mann) /​‫( השיא‬ischah = Frau) nicht verschont davon, zur Argumentation für die Unterordnung der Frau instrumentalisiert zu werden, indem behauptet wird, ‫( השיא‬ischah) sei von ‫( שיא‬isch) abgeleitet. Allerdings haben die beiden Begriffe im Hebräischen unterschiedliche sprachliche Wurzeln: ‫( השיא‬ischah) leitet sich von ‫( שונא‬ensoch) ab, nicht von ‫שיא‬ (isch).31 Die Ableitung der Frau vom Mann ist sicher auch auf den folgenden innertextlichen Widerspruch in Gen 2,23b zurückzuführen: „Frau soll sie genannt werden; /​denn vom Mann ist sie genommen.“ Auf der Ebene des Textes ist die Frau nicht vom ‫( שיא‬isch), sondern von ‫( םדא‬adam) entnommen, was somit der Aussage in Gen 2,23 entgegensteht.32 Ebenso stellt sich aus feministischer Sicht die Frage, woher diese Erkenntnis überhaupt kommt, da sich ‫( םדא‬adam) während der Erschaffung der Frau im ‫( המדרת‬tardemah = Tiefschlaf) befand.33 Solche Argumentationen gehen aus feministischer Sicht völlig an der eigentlichen Aussage des Wortspiels vorbei. Das Wortspiel ‫( שיא‬isch) /​‫( השיא‬ischah) steht für eine Einheit. Eine Einheit, aus welcher beide stammen, nämlich ‫( םדא‬adam),

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Vgl. Navarro Puerto, Mercedes: Abbild und Ebenbild Gottes: Frau und Mann in Gen 1–3 als offenes System im Kontext von Gen 1–11. In: Fischer, Irmtraud/​Navarro Puerto, Mercedes/​Taschl-Erber, Andrea u.  a. (Hg.): Tora (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, Bd.  1.1). Stuttgart 2010, S.  186– 237, S. 210. Vgl. Schüngel-Straumann, Helen: Eva. Biblisch. In: Gössmann, Elisabeth/​Kuhlmann, Helga/​Moltmann-Wendel, Elisabeth u. a. (Hg.): Wörterbuch der Feministischen Theologie. Gütersloh 22002, S. 125–128, S. 126. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 147. Vgl. Navarro Puerto: Abbild und Ebenbild Gottes, S. 211. 155

und eine Einheit, welche sie auch in Zukunft bilden werden (vgl. Gen 2,24).34 Es handelt sich bei Gen  2,23 um einen Rückschluss, der einzig die Einheitlichkeit zum Ausdruck bringen möchte, indem er auf die Materie, aus welcher Mann und Frau geschaffen wurden, verweist.

2. Die Erschaffung der Frau aus der Rippe des Menschen Auch die Tatsache, dass ‫י‬Adonaj‫ י‬zur Erschaffung der Frau die Rippe des ‫םדא‬ (adam) nutzt, liefert Anlass, eine Unterordnung der Frau zu begründen, bspw., wie bereits genannt, die Frau sei aus dem Mann hervorgebracht und somit ihm unterstellt oder aufgrund der Krümmung der Rippe sei sie ein gekrümmtes, untergeordnetes Wesen. Nach Schüngel-Straumann ist „[a]lles, was die Wirkungsgeschichte aus dieser Szene gemacht hat, […] freie, zum Teil bösartige Fantasie“35. Da ‫( םדא‬adam) durch die Erschaffung der Tiere kein entsprechendes Gegenüber fand, ist es aus feministischer Perspektive logisch, dass die Frau aus einem Teil von ‫( םדא‬adam) selbst erschaffen werden musste.36 „Ein wirkliches Gegenüber kann nur aus gleichem Stoff und von gleichem Rang sein […].“37 Auch hier sieht die feministische Exegese lediglich eine ätiologische Erklärung dafür, dass Mann und Frau zusammengehören sowie gleichwertig sind. Die enge Zusammengehörigkeit von Mann und Frau wird hier bildhaft ausgedrückt, indem ‫י‬Adonaj‫ י‬einen Teil von ‫( םדא‬adam) selbst und nicht mehr bloß ‫( המדא‬adamah) zur Erschaffung der Frau benutzt. Es geht nicht darum, die Frau auf irgendeine Art zu reduzieren oder zu betonen, dass sie aus dem Mann hervorgebracht wurde, sondern um die Veranschaulichung der Verbundenheit von Mann und Frau.38 Da die Wahl ausgerechnet auf die Rippe fiel, kann auch ein sumerisches Wortspiel versteckt sein, denn ‚NINTI‘ kann sowohl ‚Frau der Rippe‘ als auch ‚Frau,

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Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 145. Ebd. Vgl. ebd., S. 149. Wind, Renate: Eva, Maria und Co. Frauen in der Bibel und ihre Geschichte(n). Neukirchen-Vluyn 22007, S. 21. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 149f. 156

die Leben schafft‘ bedeuten.39 Es liegt also nahe, dass dieser Begriff gerade wegen seiner Doppeldeutigkeit ausgewählt wurde, um einen Zusammenhang zwischen Gen 2,21 und Gen 3,20 herzustellen. Denn dort erhält die Frau den Namen ‫הווח‬ (Hawwah = Eva)40, der Leben bedeutet.41 Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Frau hier, im Gegensatz zu anderen altorientalischen Schöpfungsmythen, einen eigenen Erschaffungsakt zugesprochen bekommt. Diese Tatsache spricht für ein besonderes Interesse nPs an der Frau.42 Sowohl bei der Erschaffung der Frau als auch bei der des Mannes ist ‫י‬Adonaj‫ י‬der alleinige Schöpfer /​die alleinige Schöpferin, was für eine Gleichstellung von Mann und Frau spricht. Eine Beteiligung des ‫( םדא‬adam) oder gar des Mannes an der Schöpfung der Frau ist auszuschließen, da, wie bereits thematisiert, im Text explizit erwähnt wird, dass ‫( םדא‬adam) sich im Tiefschlaf befindet.43

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Vgl. ebd., S. 149. Vgl. Ulrich, Kerstin: Evas Bestimmung, S. 162: Mit ‫( הווח‬Hawwah = Eva) ist im Gegensatz zu den Gattungsbezeichnungen ‫( שיא‬isch) und ‫( השיא‬ischah) der Eigenname der Frau gemeint (vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S.  165). ‫( הווח‬Hawwah) ist von ‫( יח‬haj = Leben) abgeleitet und passt somit zur Erklärung ihrer Funktion „Mutter aller Lebendigen“ (Gen 3,20) (vgl. ebd., S. 165f). Der Name Eva, welcher in der EÜ zu finden ist, entstand durch die Übersetzung des hebräischen Textes ins Griechische und Lateinische (vgl. Schüngel-Straumann: Eva. Biblisch, S. 125). Im Hebräischen haben die Worte ‫( הווח‬Hawwah) und ‫( הוהי‬JHWH) eine phonetische Ähnlichkeit (vgl. Navarro Puerto: Abbild und Ebenbild Gottes, S.  226). Die feministische Exegese sieht durch diese Ähnlichkeit eine Verbindung zwischen JHWH und Eva, welche nach dem Vorbild JHWHs das Leben gibt (vgl. ebd., S. 214). Da ein Name im Hebräischen von großer Bedeutung ist und das Wesen einer Person beschreibt (vgl. Oeming, Manfred: Die Bedeutung von Frauen für die Gestaltung von Geschichte und Gesellschaft im antiken Israel – zehn kanonische Miniaturen. In: Ders. [Hg.]: Theologie des Alten Testaments aus der Perspektive von Frauen. Münster 2003, S. 45–61, S. 48), sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass der Name Eva, ebenso wenig wie die in der Arbeit genannten Zuschreibungen Anlass bietet, die Frau auf die Rolle der Mutter zu reduzieren und sie somit zu funktionalisieren. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 149. Vgl. Schüngel-Straumann, Helen: Genesis  1–11. Die Urgeschichte. In: Schottroff, Luise/​Wacker, Marie-Theres (Hg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung. Gütersloh 21999, S. 1–11, S. 3. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 150. 157

3. Die Frau als Gehilfin des Menschen Neben der Erschaffung der Frau aus der Rippe wurde ebenfalls der Begriff ‫רזע‬ (ezer = Hilfe) (vgl. Gen 2,18) herangezogen, um die Unterordnung der Frau als bspw. Dienstmagd zu begründen. Diese Aussage widerspricht der eigentlichen Bedeutung von ‫( ודגנכ רזע‬ezer kenegdo = Hilfe, die ihm entspricht), wenn man diese Formulierung im Kontext des Alten Testaments betrachtet.44 Im Gegensatz zu der Hilfe im Verständnis einer oder eines untergeordneten Bediensteten argumentiert die feministische Theologie, dass ‫( רזע‬ezer) an jenen Stellen verwendet wird, die eine besonders qualifizierte Hilfe zum Ausdruck bringen möchten.45 Meistens wird mit ‫( רזע‬ezer) die Hilfe ‫י‬Adonaj‫י‬s ausgedrückt, welche der Mensch selbst nicht leisten kann. Es handelt sich also keineswegs um eine Hilfe, welche die Frau untergeordnet darstellt, sondern vielmehr um eine besondere Art von Hilfe, welche dabei helfen soll, den unvollständigen Zustand der Schöpfung zu verbessern.46 Unter ‫( ודגנכ רזע‬ezer kenegdo) versteht sich in V 18 „eine ganz substantielle Hilfe für den Menschen selbst“47. Um die Wichtigkeit der Frau zu betonen, greift die feministische Betrachtung auf einen Vergleich zum Gilgamesch-Epos48 zurück: Im Gilgamesch-Epos wird die Frau als Mittel zum Zweck eingesetzt, damit der Mensch sich als Mann erkennt und von den Tieren unterscheidet. Allerdings verschwindet sie wieder, nachdem diese Erkenntnis erreicht wurde. In der Erzählung von Gen  2–3 wird die Frau jedoch auch zukünftig als wichtiger Bestandteil im Leben des Mannes etabliert (vgl. Gen 2,24). Gerade durch diese Gegenüberstellung wird die Wichtigkeit der 44 45 46 47 48

Vgl. Schüngel-Straumann: Genesis 1–11, S. 4. Vgl. ebd. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 152. Schüngel-Straumann: Genesis 1–11, S. 4. Beim Gilgamesch-Epos handelt es sich um einen Mythos, welcher von Gilgames und seinem Freund Enkidu, welcher wie ein Tier lebt und sich dementsprechend verhält, erzählt. Erst das Verhältnis zu einer Frau lässt Enkidu zum wahren Menschen werden (vgl. Soggin, Jan Alberto: Das Buch Genesis. Kommentar. Darmstadt 1997, S. 75). Gen 2 hebt sich insofern vom Gilgamesch-Epos ab, dass die Gemeinschaft von Mann und Frau in Gen 2 das Ziel an sich ist, im Gilgamesch-Epos hingegen bleibt das alleinige Ziel die Freundschaft von Enkidu zu Gilgamesch (vgl. Westermann, Claus: Genesis 1–11. Neukirchen-Vluyn ²1976 [Biblischer Kommentar Altes Testament, Bd. I/​1], S. 308). 158

Frau betont, was gegen jene Interpretationen, welche die Frau als untergeordnete Hilfe oder als Instrument zur Erreichung eines Ziels verstehen wollen, spricht.49 Durch die angemessenere Übersetzung des Begriffs ‫( ודגנכ רזע‬ezer kenegdo) mit ‚Hilfe, die ihm entspricht /​gleichgestellt ist‘, wird deutlich, dass es sich bei der Frau um ein gleichwertiges Geschöpf handelt, da sie nur so dem Menschen ein geeignetes Gegenüber sein kann.50

4. Die Frau als erste Sünderin Sowohl die Sünde als auch ihre Herkunft werden weder im Kapitel 3 des Genesisbuches noch in der restlichen Hebräischen Bibel erläutert.51 Entscheidend ist, dass im Text selbst weder von (Erb-)Sünde noch von (sexueller) Verführung die Rede ist.52 „Auch hier gibt der Verfasser nicht die Antwort, die die Tradition gefunden hat; vor allem wird die Ursache von Sünde und Schuld nicht der Frau angelastet, auch wird Sünde nicht definiert.“53 In Gen 3 wird lediglich beschrieben, wie es zu der Übertretung des Verbots kam. Daher ist es sachlich falsch zu behaupten, die Frau wäre schuld am sogenannten ‚Sündenfall‘, da dieser an sich kein Bestandteil der Erzählung ist.54 „Die Überzeugung, dass durch die Frau die Sünde in die Welt gekommen sei, stützt sich auf einen einzigen Satz in der apokryphen Weisheitsschrift ‚Jesus Sirach‘55, die sich in der Septuaginta, der griechischen Version des Alten Testaments,

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Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 153. Vgl. Oeming, Manfred: „Theologie des Alten Testaments aus der Perspektive von Frauen“ – was ist das und wozu soll das nutzen? In: Ders. (Hg.): Theologie des Alten Testaments aus der Perspektive von Frauen. Münster 2003, S. 11–21, S. 13f. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 155. Vgl. Wind: Eva, Maria und Co., S. 21. Schüngel-Straumann: Eva. Biblisch, S.  127. Die kursive Hervorhebung wurde in das Zitat eingetragen, um damit anzumerken, dass mit ‚Verfasser‘ die VerfasserInnen nPs gemeint sind. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 155. „Von einer Frau kommt der Anfang der Sünde und durch sie sterben wir alle.“ (Sir 25,24) 159

nicht aber in der Hebräischen Bibel selbst findet […].“56 Bei diesem Vers handelt es sich aber keineswegs um eine theologisch fundierte Aussage, sondern vielmehr um einen „Stoßseufzer eines vermeintlich oder tatsächlich geplagten (Ehe-)Mannes“57, welcher dann zur Begründung herangezogen wurde, die Frau sei schuld an der Sünde. Weitere Bezüge zu dieser Thematik finden sich im Neuen Testament, z. B. in 1 Kor 11. Schüngel-Straumann argumentiert jedoch, dass es sich hierbei bereits um „tendenziöse, verfälschende Genesis-Interpretation[en]“58 handelt und diese somit eine Legitimierung der Frau als Sünderin nicht hinreichend begründen. In Gen 3 wird das Vergehen der Menschen, Mann und Frau, geschildert. Woher das Böse kommt, wird nicht erklärt.59 „Die Frau zum Ursprung des Bösen stempeln zu wollen, greift zu kurz.“60 Das Nicht-Wissen, woher das Böse kommt, muss ausgehalten werden. Die Lösung liegt nicht darin, die Frau als Sünderin darzustellen, zudem die Bibel, im Gegensatz zu frauenfeindlichen Auslegungen, dies nicht tut.61 Um dies zu verdeutlichen, betrachtet die feministische Theologie Gen 3 im Kontext der gesamten Urgeschichte und kommt zu dem Ergebnis, dass die Frau lediglich in Gen 3 im Mittelpunkt des Geschehens steht. In allen anderen Berichten des Erzählzusammenhangs, vor allem jenen, in welchen es um Ungehorsam geht, sind es Männer, die im Zentrum stehen.62 In Gen 4 bspw. wird Kain verflucht. Der einzige Mensch, welcher in den urgeschichtlichen Erzählungen verflucht wird, ist also ein Mann. Dennoch wurde diese Tatsache nie in Verbindung mit männlicher Schuld an der Sünde gebracht.63 Unter diesem Blickwinkel erscheint es verwunderlich, aus welchem Grund ausgerechnet die Frau für den sogenannten ‚Sündenfall‘ festgemacht wurde. Zudem beziehen sich auch spätere alttestamentliche Traditionen, welche von Schuld und Sünde erzählen, nie auf Gen 3, ebenso wenig,

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Wind: Eva, Maria und Co., S. 11. Ebd. Schüngel-Straumann: Eva. Biblisch, S. 125. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 171. Ebd. Vgl. Schüngel-Straumann: Genesis 1–11, S. 5. Vgl. Schüngel-Straumann: Eva, S. 137. Vgl. ebd., S. 179. 160

wie sich prophetische Texte auf die Frau beziehen.64 „Die Identifikation der Frau mit der Sünde stammt somit nicht aus dem Text der Genesis, sondern ist gerade Produkt einer späteren Fehlinterpretation, die dann von der christlichen Tradition einfach übernommen wurde.“65

5. Fazit: Ein Plädoyer für Eva Aus den zuvor aufgeführten Überlegungen lässt sich schlussfolgern, dass der Text an sich der Frau keineswegs irgendwelche einschränkenden oder negativen Rollen zuschreibt. Vielmehr besteht das Anliegen des Textes darin, ätiologische Antworten zu geben, warum es den Menschen als Mann und Frau gibt und wie deren Verhältnis zueinander zustande kam. So spricht die alte Schöpfungsgeschichte eine tiefe Wahrheit aus, eine Wahrheit nicht über die Entstehungsgeschichte der Welt und der Menschheit, sondern eine existentielle Wahrheit über das Leben des Menschen in Raum und Zeit.66

Dies wird deutlich, wenn man Gen  2 und Gen  3 als eine Erzählung sieht und sie auch in diesem Zusammenhang versteht. Das Lösen einzelner Verse aus dem Gesamtzusammenhang und deren Interpretation ohne Verbindung zur Gesamterzählung kann zu verhängnisvollen Fehlinterpretationen führen. Es geht um den starken Zusammenhalt zwischen Mann und Frau, daher ist eine Interpretation, welche die Frau in irgendeiner Weise unterordnet, hier fehl am Platz. Dies würde an der Kernaussage der Erzählung völlig vorbeigehen. „Das eigentliche Problem für eine angemessene Interpretation liegt somit nicht in den biblischen Texten selbst, sondern in einer über zweitausendjährigen androzentrischen Auslegungsund Rezeptionsgeschichte“67. Durch diese Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte

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Vgl. ebd., S. 137. Ebd. Pauly, Wolfgang: Abschied vom Kinderglauben. Ein Kursbuch für aufgeklärtes Christsein. Oberursel 32012, S. 46. Schüngel-Straumann: Eva, S. 13. 161

ist der Betrachtung des Textes automatisch ein bestimmter hermeneutischer Horizont vorausgesetzt, sodass weder von einer tatsächlichen unbeeinflussten Lektüre noch einer unbefangenen Interpretation zu sprechen sein kann. Entscheidend ist, sich diese Voraussetzungen bewusst zu machen und zu reflektieren, ob sie den Text „eher verstellen als erhellen“68. Das negative Bild von Eva als Sünderin, Verführerin oder Unterworfene entstand aufgrund misogyner Intentionen der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Jeder Rezipient und jede Rezipientin hat die Möglichkeit, dies in Frage zu stellen. Es ist in aktuellen Zeiten womöglich wichtiger denn je, verschiedene Perspektiven entgegen einer Unterordnung der Frau zu eröffnen, welche wiederum den hermeneutischen Horizont des Textes erweitern und in seine zukünftige Betrachtung miteinfließen, denn die Gleichberechtigung aller bildet das Fundament, welches das Ziel einer inklusiven Gesellschaft überhaupt erst erreichen lässt.

Zur Autorin Nachdem ich fast 20 Jahre im schönen Saarland aufwachsen durfte, entschied ich mich im Oktober 2014, ein Studium für das Lehramt an Förderschulen mit den beiden Fächern Mathematik und katholische Religionslehre an der Universität Koblenz-Landau, am Campus Landau zu beginnen. Nach dem erfolgreichen Abschluss dessen verschlug es mich dann zu Beginn des Jahres 2020 von der Südpfalz nach Baden-Württemberg, wo ich derzeit meinen Vorbereitungsdienst als Lehramtsanwärterin für das Lehramt an Förderschulen in der ersten Fachrichtung Sprache und der zweiten Fachrichtung Lernen am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte in Heidelberg absolviere.

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Crüsemann, Frank: „… er aber soll dein Herr sein“ (Gen 3,16). Die Frau in der patriarchalischen Welt des Alten Testamentes. In: Crüsemann, Frank/​Thyen, Hartwig (Hg.): Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau (Kennzeichen, Bd. 2). Gelnhausen u. a. 1978, S. 13–106, S. 52. 162

Stefan Meißner

Ein Aufbruch zum Segen für viele. Die Berufung Abrahams (1 Mose 12) im christlich-jüdischen Kontext Neuanfang nach verpfuschtem Start Mit 1  Mose  12 beginnen die sogenannten Vätergeschichten, die doch genauso gut auch Mütter- und Kindergeschichten sind. Diese Familienepisoden sind mit Hilfe von Genealogien locker mit der vorhergehenden Urgeschichte verbunden. Aber während in den ersten Kapiteln der Bibel noch die ganze Menschheit im Blick ist, verengt sich nun der Fokus auf eine einzige Familie: die Sippe Abrahams. Nachdem die Menschen die makellose Schöpfung des paradiesischen Anfangs durch eine Reihe von Verfehlungen zu einem Sündenbabel heruntergewirtschaftet haben, wagt Gott ‚einen radikalen Neuanfang‘ mit einer begrenzten Zahl von Menschen: Er beruft Abraham.1 Doch diese Engführung hat nichts mit dem begrenzten Weltbild einer Stammesreligion zu tun, wie christliche Kritiker des Judentums immer wieder unterstellten. Im Gegenteil: Der mutige Aufbruch des Patriarchen in eine völlig neue Welt wird zur Voraussetzung, dass auch die nichtjüdischen Völker einen Anteil an der göttlichen Gnade erhalten. Diese Dialektik zwischen Partikularismus und Universalismus wird eines der Leitmotive meiner Auslegung dieses Bibeltextes sein, für die ich viele Impulse aus meiner Arbeit im christlich-jüdischen Dialog erhielt. Dabei rezipiere ich durchaus neuere Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, mein primäres Interesse aber gilt den theologischen Fragen, zu denen sich bereits vormoderne Ausleger sehr inspirierend geäußert haben. Gerade auch rabbinische Quellen stärker zu Wort kommen zu lassen, als das sonst heute üblich ist, ist mein Anliegen. 1

Rendtorff, Rolf: Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf. Bd. 1: Kanonische Grundlegung. Neukirchen 1999, S. 20. 163

Abraham – eine historische Figur? Bis vor einigen Jahren sprach die formgeschichtliche Forschung in Blick auf die „Vätergeschichten“ noch von „Sagen“, denen man (ähnlich wie den Legenden) einen historischen Kern unterstellte. Aber machen wir uns nichts vor: Im Blick auf die Patriarchen Israels fehlen uns außerbiblische Quellen, die die Historizität des Erzählten erhärten könnten. Ob es Abraham und seine Familie je gegeben hat, muss offen bleiben. Hatte man früher die Ereignisse noch in das beginnende zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung datiert, ist man heute wesentlich zurückhaltender geworden. Die Erzählungen, mit denen wir es zu tun haben, stammen jedenfalls aus sehr viel späterer Zeit. Das zeigt sich an so kleinen Details wie der Erwähnung von Kamelen als Reittieren. Deren Verwendung ist nach Auskunft der Archäologen erst seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar.2 Die meisten Exegeten datieren die frühesten Schichten der Vätergeschichten in die späte Königszeit, für viele Passagen nimmt man sogar erst eine Entstehung in der Zeit während oder nach dem Babylonischen Exil (ab 587  v.  Chr.) an.3 Es geht in den Texten offensichtlich weniger darum, „wie es war“, sondern darum, wie es „weitergehen könnte“.4 Schon hier könnte man folgern: Viel wichtiger als Abraham selbst sind seine Nachfahren, die bene Abraham.

Die erste von zehn Prüfungen Die Abrahamgeschichte beginnt mit einer Zumutung. Nach jüdischer Tradition war sie die erste von insgesamt zehn Prüfungen, die Gott dem Patriarchen auferlegt hat: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will“ (12,1).5 Der hebräische Imperativ lech-lecha ist von den Auslegern ganz unterschiedlich gedeutet wor-

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Die erste Darstellung eines camelus dromedarus stammt aus einer Stele aus Tell Halaf im Nordosten Syriens. Vgl. dazu auch Schmitz, Barbara: Geschichte Israels. Paderborn 22015, S. 128. Ebd., S. 132. Als Übersetzung verwende ich, wenn nicht anders vermerkt, die Lutherübersetzung (2017). 164

den: Der bedeutendste jüdische Ausleger des Mittelalters etwa, Rabbi Schlomo ben Jitzchaq (abgekürzt: Raschi), meinte, le-cha (wörtl.: „für dich“) bedeute „zu deinem Nutzen und zu deinem Glücke“.6 Die Aufforderung zum Aufbruch enthält also bereits den Lohn des Wagnisses. Der Begründer der modernen jüdischen Orthodoxie, Samson Raphael Hirsch, hingegen deutet das Wort im Sinne von „für dich selbst“.7 Abraham wird so zum Prototyp des religiös Suchenden schlechthin. Den entscheidenden Schritt müssen wir im Leben allein gehen, das ist hier die Botschaft. Dass der Aufbruch nicht nur ein geografischer ist, klingt bei beiden Auslegungen bereits implizit an. Im Urtext, der ja nur aus Konsonanten besteht, sehen lech („Geh“) und lecha („für dich“) übrigens genau gleich aus. Das Gehen und der Gehende sind hier nicht voneinander zu unterscheiden. Das Finden des Weges ist also immer auch ein Stück Selbstfindung, so könnte man folgern. Der israelische Psychologe Gabriel Strenger paraphrasiert deshalb diesen Imperativ so: „Geh von dir weg, um zu dir zu kommen. Gib dein Ich auf, um dein Selbst zu finden.“8

Aufbruch ins Ungewisse Bereits Abrahams Vater Terach war aufgebrochen und führte seine Familie „aus Ur in Chaldäa, um ins Land Kanaan zu ziehen. Und sie kamen nach Haran und wohnten dort“ (11,31). Irgendwie kam die Wanderung ins Stocken, warum, wissen wir nicht. Ursprünglich kam die Familie aus Ur in Chaldäa, ein Name der erst im Neubabylonischen Reich (626–539 v.  Chr.) historisch belegt ist.9 Diese Tatsache kann als weiterer Hinweis auf eine späte Entstehungszeit des Textes verstanden werden. Es wird wohl kein Zufall sein, dass die Route der Abrahamsippe vom Zweistromland bis ins Gelobte Land annähernd der entspricht, die die meis6

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Vgl. Raschis Pentateuchkommentar. Vollständig ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung versehen von Rabbiner Dr. Selig Bamberger. Basel 42002, S. 33. Vgl. Plaut, W. Gunther: Die Tora in jüdischer Auslegung. Bd. 1: Bereschit/​Genesis. Gütersloh 1999, S. 159. Strenger, Gabriel: Jüdische Spiritualität in der Tora und den jüdischen Feiertagen. Basel 2016, S. 53. Köckert, Matthias: Abraham. Ahnvater  –  Vorbild  –  Kultstifter (Biblische Gestalten, Bd. 31). Leipzig 2017, S. 53. 165

ten Rückkehrer nach dem Babylonischen Exil benutzten. Was Abraham in dieser fruchtbaren Region zurücklassen musste, war nicht wenig: Fruchtbare Weiden, schattenspendende Bäume und sprudelnde Quellen – verlässliche Orte in einer überwiegend lebensfeindlichen Umwelt. Vermutlich wird sein Begriff von Heimat als Nomade etwas weiter gefasst gewesen sein als der von sesshaften Menschen. Trotz allem ein herber Verlust! Verlassen sollte er nun in Haran auch seine Großfamilie, deren Routinen dem Leben Halt gaben, auch wenn sie manchmal vielleicht die Freiheit einschränkten. Auch die jüdischen Exilanten waren nicht alle unzufrieden in Babylonien, viele dachten sich: „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.“ Abraham gab viele Sicherheiten auf, als er die Reise – nun ohne seinen Vater Terach – weiter fortsetzte; und das für ein Ziel, das völlig im Unklaren lag: „ein Land, das ich dir zeigen werde“. War das ein Trick Gottes, um Abrahams Neugierde zu wecken, „um es in seinen Augen lieb und wert zu machen und ihm für jeden Schritt Lohn zu geben“ 10, wie Rabbi Jochanan vermutet? Wer losgeht, ohne das Ziel zu kennen, dessen Vertrauen muss riesig sein. Und darum ging es schließlich bei der Prüfung: um die Erprobung seines Glaubens.

Segen ohne Vorleistung Vielleicht lässt sich Abraham auf die Zumutung eines Aufbruchs ein, weil Gott ihm zugleich etwas in Aussicht stellt: seinen Segen. „Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen“ (1 Mose 12,2). Nachkommen, Vermögen und Ansehen: Gott verspricht Abraham genau die Güter, so erklärt der Midrasch,11 die bei einem Leben als Migrant oft zu kurz kommen.12 Ist der Segen also eine Art Belohnung für das große Wagnis, das Abraham eingeht? Der ‚große Name‘, der hier verheißen wird, erinnert an den Namen, den sich die Menschen durch den Turmbau von Babel (1 Mose 11,6)

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Midrasch Bereschit Rabba, Par. XXXIX, zu Kap. XII,1, übersetzt und herausgegeben von A. Wünsche. Leipzig 1881, S. 177. Midrasch ist ein Genre narrativer Auslegung der Tora im Judentum. Wenn ich im Folgenden determiniert von „dem Midrasch“ spreche, meine ich die um das 5. Jahrhundert entstandene Sammlung Midrasch Rabba. Wünsche: Midrasch Bereschit Rabba, S. 178. 166

machen wollten. Der große Unterschied aber besteht darin, dass die Babylonier selbst ihren Ruf verbessern wollten. Andere Ausleger13 haben im Anschluss an den Midrasch darauf verwiesen, dass der Ahnvater, der am Anfang des Erzählzyklus noch Abram heißt, nach der Erneuerung des Bundes mit ihm (17,5) tatsächlich einen „größeren“, nämlich längeren Namen erhält: Abraham wird hier etymologisch erklärt als „Vater einer großen Menge“ (hebr.: av hamon gadol). Und das wird er ja dann auch, wenn auch erst ganz am Ende seines Lebens. Was Protestanten mit ihrem Hang zum reformatorischen sola gratia gerne betonen: Abraham muss sich seinen großen Namen nicht erst verdienen, Gott schenkt ihm diesen. Sein Segen erfolgt völlig ohne eigene Vorleistung.

Segen für die Völker Der Segen Abrahams gilt erst einmal ihm und seinen Nachkommen, also dem Volk Israel. Aber auch die nichtjüdische Welt kann Anteil an diesem Segen bekommen. Für sie freilich ist diese Teilhabe an eine Bedingung geknüpft: dass sie Abraham und seine Nachkommen achtet: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1  Mose  12,4). Wie genau ist das gemeint?14 Die Lutherübersetzung gibt das Niphal15 des Verbes „segnen“ (hebr.: barach) wie auch sonst üblich passivisch wieder. Man kann diese grammatikalische Form aber auch medial verstehen wie die neue Einheitsübersetzung: „Durch dich sollen Segen erlangen“. Aber wie soll das konkret geschehen? Die Christen haben das lange Zeit so verstanden, dass aus Abrahams Samen den Völkern Heil entstünde, nämlich in der Person Jesu. Paulus etwa schreibt den Galatern (3,14), „dass der Segen Abrahams zu den Heiden komme durch Christus Jesus“. Doch das Erbe, von dem die Völker profitieren werden, kann man auch – wie die meis-

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So etwa Brandt, Henry G.: Freude an der Tora. Freude am Dialog. Bochum 2002, S. 86– 89. Vgl. dazu Köckert: Abraham, S. 65f. Eine der sieben Stammesmodifikationen, die im Hebräischen möglich sind, heißt Niphal. Er heißt so, weil hier außer im Imperativ und Infinitiv dem Verbstamm immer der Buchstabe nun vorangestellt ist. 167

ten jüdischen Ausleger es tun – in den Taten Abrahams sehen. Man wünscht sich gegenseitig Segen, indem man auf Abraham als einen von Gott besonders Gesegneten verweist. Er und seine Nachkommen bringen die Botschaft von dem einen Gott allen Menschen und werden so zu Segen für sie. Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse des christlich-jüdischen Dialogs der letzten Jahre: Wir Christen sind ‚nur‘ mit-gesegnet mit Gottes ersterwähltem Volk, wenn wir dessen Ersterwählung annehmen. Wo wir uns als ‚neues Israel‘ an die Stelle der Juden setzen, fallen wir aus der Verheißung heraus. Unser Segen hängt also von unserer Haltung gegenüber dem Volk Israel ab. Das Augenmerk Gottes bleibt auch in den Vätergeschichten auf die Menschheit gerichtet, aber „die Universalität des Schöpfungssegens, der allen Menschen gilt, wird [nun] eingebunden in die Partikularität des Israelsegens“.16

In Abraham gesegnet Viele Gebete (hebr.: berachot = Segenssprüche) im Judentum beginnen wie das Schemone Esre, das Achtzehn-Bitten-Gebet, mit der Anrufung Gottes: „Gelobt seist du, Ewiger, unser G’tt und G’tt unserer Väter, G’tt Abrahams, G’tt Isaaks und G’tt Jakobs”. „In Abraham” gesegnet zu sein, heißt zunächst einmal: gesegnet zu sein im Namen des Gottes Abrahams. Aber warum nur im Namen des Gottes Abrahams, warum nicht im Namen des Gottes der beiden anderen Patriarchen? Vielleicht spielen hier die Säulen eine Rolle, auf denen nach Auskunft der Mischna17 (Pirkei Avot 1:2) die Welt ruht: das Studium der Tora (torah), der Gottesdienst (avodah) und die Werke der Nächstenliebe (gemilut chasadim). Denn es ist vermutlich kein Zufall, dass die Völker mit Abraham in Verbindung gebracht werden. Er ist es von den drei Erzvätern, der mit der letzten dieser Säulen und damit mit dem Begriff chesed in Verbindung gebracht wird. Aus unverdienter Liebe (chesed;

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Frettlöh, Magdalene L.: „…  damit zu den Völkern der Segen Abrahams komme in Christus Jesus“. Die Christologie der Grundartikelerweiterung in der Kirchenordnung der EKHN erwählungs-, rechtfertigungs- und segenstheologisch bedacht. In: Im Dialog 6 (2016), S. 6–16, S. 11. Ältester Teil des Talmuds, etwa im 3. Jahrhundert schriftlich festgehalten. 168

dt. auch oft mit „Gnade“ übersetzt) hat Gott auch Nichtjuden gesegnet, sie sogar hineingenommen in den Bund, den er mit Abraham schloss.

Erster Proselyt Nicht nur wir Christen aus den Völkern sind „Hinzugekommene“, auch Abraham selbst gilt in der jüdischen Auslegung als ein „Proselyt“ (vom griech. Verb prosérchomai = „hinzukommen“). Der Babylonische Talmud (Sukka 49b; Hagiga 3a) sieht in ihm einen Nadiv (von der hebr. Verbwurzel ndf), was nicht nur „Edler“, sondern auch „Freiwilliger“ bedeuten kann. Und das ist Abraham ja auch: Er entstammt ursprünglich den Völkern und nähert sich im Laufe seines Lebens dem Gott Israels an. Ein Midrasch macht darauf aufmerksam, Abraham habe sich in 1 Mose 23,4 selbst einen „Fremdling“ (hebr.: ger) genannt. Tatsächlich konnte in späterer Zeit dieser Begriff im Sinne von „Proselyt“ verstanden werden, hier aber war er sicher anders (nämlich wörtlich) gemeint. Auch wenn die Argumentation also auf etwas wackeligen Beinen steht: Bis heute werden in den jüdischen Gemeinden Konvertiten „Söhne Abrahams“ oder „Töchter Saras“ genannt.

Erster Monotheist Abraham ist nach jüdischer Auslegung nicht nur der erste Proselyt, sondern auch der erste Monotheist. Schon als Knabe widerspricht er seinem Vater Terach, der noch als Götzendiener dargestellt wird. Ganz ähnlich wie im jüdischen Midrasch wird Abraham auch im Koran (Sure 21,51–70) als Ikonoklast dargestellt. Für den Koran ist Abraham (dort heiß er Ibrahim) der Vertreter einer idealen Urreligion, ein Gottsucher (Hanif) und Freund Gottes (Khalil; vgl. Sure 4,125) wie später Mohammed. Dieses Bild Abrahams wird nicht nur gegen die Polytheisten des vorislamischen Arabiens profiliert, sondern auch gegen diejenigen, die Gott eine zweite Macht beigesellen. Gemeint sind die Christen, die mit ihrer Trinitätslehre den Eingottglauben in Frage zu stellen scheinen. Es ist dies einer der wichtigen Punkte im Trialog der sogenannten abrahamitischen Religionen, wo Juden und Muslime einander näherstehen als dem Christentum. 169

Erster Missionar Nach Überzeugung des rabbinischen Judentums wirkte Abraham als Missionar, der den Glauben an den einen Gott auch an andere weitergab. In 1 Mose 12,5 ist die Rede von „Leute(n), die sie erworben hatten in Haran“. Der Kommentar des Raschi erklärt das Partizip „erworben“ als „unter die Fittiche der Gottesgegenwart geführt.“18 Im Anschluss an Rav Huna im Midrasch Rabba erklärt er auch gleich, warum das Verb im Plural steht: Abraham bekehrte die Männer, während Sara die Frauen bekehrte.19 Einen weiteren Beleg für die missionarische Tätigkeit Abrahams sahen die Rabbinen in 1 Mose 21,33. Die Lutherübersetzung dieses Verses lautet: „Abraham aber pflanzte einen Tamariskenbaum in Beerscheba und rief dort den Namen des HERRN, des ewigen Gottes, an.“ Rabbi Simeon ben Lakisch aber macht darauf aufmerksam, dass man den hebräischen Konsonantenbestand des Verbes nicht nur als vayikra, sondern auch als vayakri vokalisieren könne. Dann kann man kausativ übersetzen: „Abraham veranlasste andere, den Namen des HERRN anzurufen“ (bSota 10ab).20

Die ganze Tora Die Betonung des Monotheismus, auch wenn dieser historisch deutlich später entstanden ist, teilt das islamische mit dem jüdischen Bild von Abraham. Daneben aber akzentuieren die Rabbinen die Toraobservanz des Ahnvaters. Abraham hielt bereits die ganze Tora, noch bevor sie am Sinai gegeben wurde. Andere schränkten ein: Er hielt sich nur an die sog. „Noachidischen Gebote“,21 die aus sieben Vorschriften bestehende Minimaltora, deren Einhaltung im Judentum bis heute von Nichtjuden erwartet wird. Andere Rabbinen aber hielten fest, dass er sich und seine Söhne immerhin auch schon beschneiden ließ. Raw Aschi ging von allen Rabbinen am weitesten: Für ihn hielt sich Abraham nicht nur an die schriftliche, sondern auch die mündliche

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Raschi zu 1 Mose 12,5, S. 34. Wünsche: Midrasch Bereschit Rabba, S. 180. Vgl. zu dieser Stelle auch Raschi. Einen guten Überblick gibt hierzu Müller, Klaus: Tora für die Völker: Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum (Studien zu Kirche und Israel, Bd. 15). Berlin 21998. 170

Tora (Joma 28b). Fragt sich, woher Abraham das alles wusste, denn die geschriebene Tora wurde bekanntlich erst Generationen später am Sinai gegeben. Manche sagen, seine Nieren, die man in der Antike als den Sitz des Gewissens ansah, hätten ihn das Gesetz gelehrt. Andere erklären das mit Melchizedek, der ihm Brot und Wein brachte (1 Mose 14,18)22, die nach Spr 9,5 für die Weisheit der Tora stehen. Wir sehen: Alles, was dem späteren Judentum heilig war, wurde auf Abraham zurückprojiziert.23

Abrahams Glaube Auch für die ersten Christen dient der Erzvater als Projektionsfläche für das, was ihnen selbst wichtig ist. Anders als für Juden und Muslime ist er für sie ein Vorbild für eine durch Glauben erworbene Gerechtigkeit, wie Paulus in seiner Auslegung von 1 Mose 15,6 verdeutlicht (Röm 5,3). Ein solcher Zugang zu Gott steht auch Nichtjuden offen, für die Abraham nicht der Urvater „nach dem Fleisch“ (griech.: kata sarka) ist (Röm 5,1). Freilich haben die Christen den Glauben inhaltlich immer als Christusglauben definiert, das Wort „Samen“ singularisch auf die Person Jesu bezogen (vgl. Gal 3,16). Indem man an ihn glaubt, wird man ein Kind Abrahams „dem Geiste nach“ (griech.: kata pneuma). In der hebräischen Bibel ist der Samen Abrahams zunächst auf Isaak bezogen, den verheißenen, aber doch so spät erst geborenen Sohn des Patriarchen. In zweiter Linie dann aber wird die Verheißung auf das ganze jüdische Volk ausgeweitet. Alle Jüdinnen und Juden sehen sich heute als Kinder Abrahams.

Abrahamische Ökumene Viele Menschen, die am interreligiösen Dialog interessiert sind, sind heute angetan von der Idee einer „Abrahamischen Ökumene“, wie sie u.  a. die katholischen Theologen H. G. Küng und K. J. Kuschel24 propagiert haben. In der Tat haben die

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Midrasch Bereschit Rabba, Par. XCV,3 zu Kap. XLVI,28, Wünsche, a.a.O., S. 470. Midrasch Bereschit Rabba, Par. XLIII,6 zu Kap. XIV,18, Wünsche, a.a.O., S. 199. Vgl. beispielsweise Küng, Hans: Das Judentum. Wesen und Geschichte. München 1991, bes. S.  25–43. Ähnlich wichtig: Kuschel, Karl-Josef: Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint. München 1994. 171

drei Religionen, die sich auf Abraham als ihren Stammvater berufen, eine Menge Gemeinsamkeiten. Einige davon, wie den Glauben an den ‚einen‘ Gott, haben wir angesprochen. Aber erstens darf nicht übersehen werden, dass Abraham von den Religionen in ganz unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen wird. Der Patriarch dient, wie wir auch erkennen durften, als Projektionsfläche, wo jeder das in den Narrativ einträgt, was ihm selbst unverzichtbar erscheint: das Judentum die Toraobservanz, das Christentum den Glauben. Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, den Dialog nur auf Gemeinsamkeiten stützen zu wollen.25 Das Ziel muss es doch sein, andere Religionen gerade dort zu verstehen, wo sie neue, erst einmal fremde Akzente setzen. Gerade in dieser Hinsicht kann der Glaube des Anderen zur Inspiration werden. Das setzt freilich einen Aufbruch aus dem modernen Diktat des Universalismus voraus, das dem Allgemeinen einen Vorrang gegenüber dem Besonderen einräumt. Postmodernes Denken26 aber hat deutlich gemacht, wie befruchtend das Besondere für die Allgemeinheit sein kann, wenn diese sich auf dessen anfängliche Fremdheit einlässt. An dieser Stelle mit Abraham Neuland zu betreten, wäre zu unser aller Segen.

Zum Autor (geb. 1964) arbeitet als Pfarrer im Schuldienst am Alfred-Grosser-Schulzentrum in Bad Bergzabern. Nach einem Theologiestudium in Heidelberg und einem Forschungsaufenthalt in New York promovierte er über die moderne jüdische Paulusrezeption („Die Heimholung des Ketzers“, Tübingen 1996) und unterrichtete einige Jahre an der Universität Koblenz-Landau. Heute ist er neben seinem Lehramt am Gymnasium Dozent am Erziehungswissenschaftliche Fort- und Weiterbildungsinstitut der evangelischen Kirchen in Rheinland-Pfalz (EFWI), außerdem Vorsitzender des landeskirchlichen Arbeitskreises Kirche und Judentum und Religionspädagogischer Berater der Evangelischen Kirche der Pfalz.

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Sehr kritisch äußert sich etwa Schröder, Bernd: Abrahamische Ökumene? Modelle der theologischen Zuordnung von christlich-jüdischem und christlich-islamischem Dialog. In: ZThK 105 (2008), S. 456–487. An dieser Stelle sei nur Jean-François Lyotard (Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1986, frz. 1979) erwähnt, von dem man in Bezug auf einen interreligiösen Dialog viel lernen kann. 172

Wolfgang Grünstäudl

„… nicht gewalttätig polternd, so doch klar …“ Karl Hermann Schelkles Zusage einer Mitarbeit an Herders neutestamentlichem Kommentar* Theologie als Wissenschaft mag sich göttlichen Dingen widmen – sie wird doch stets von Menschen betrieben. Und so hat sie zwangsläufig an allem Menschlichen teil, sei es Genialität oder Unvermögen, sei es aufrichtige Verbundenheit oder unversöhnliche Abneigung. Wie alle Wissenschaft reagiert auch die Theologie mitunter irritiert, wenn sie an diese ihre Einbettung in das ganz Irdische erinnert wird. Zu gerne versichert sie sich selbst – mehr noch als andere Wissenschaften?1 –, dass es ihr stets und zuvörderst um die „Sache“, um ein je besseres Verständnis des ihr aufgegebenen Gegenstandes gehe. Keineswegs sei hier bestritten, dass das ganze Engagement von Theologinnen und Theologen in aller Regel genau diesem je besseren Verständnis des ihnen aufgegebenen Gegenstandes gilt; es sei nur daran erinnert, dass sich dieses Engagement immer in einem Netzwerk von sozialen Bedingtheiten ereignet und auf einer Fülle von persönlichen Entscheidungen aufruht. Theologie als Wissenschaft kann und soll dieses humane Kleid nicht abstreifen, doch sie kann versuchen, es mit Würde zu tragen, was wiederum heißt, es * Als ich im Jahre 2008 an der Universität Koblenz-Landau eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antrat und meine allerersten Schritte im Universitätsbetrieb unternahm, stand mir Wolfgang Pauly als älterer und um Vieles erfahrener Kollege stets mit Rat und Tat zu Seite; als ich im Dezember 2012 nach erfolgreichen Rigorosen an der Universität Regensburg wieder das Gebäude in der Bürgerstraße betrat, war er der erste Gratulant. Wolfgang aus Anlass seines Abschieds von seiner langjährigen Wirkungsstätte diesen kleinen Gruß zu entbieten, ist mir deshalb Freude und Bedürfnis zugleich. Ad multos annos! 1 Für eine ebenso persönliche und unterhaltsame wie paradigmatische Erzählung von den Verflechtungen zwischen Wissenschaftsbetrieb und „realem“ Leben vgl. Feyerabend, Paul: Zeitverschwendung. Frankfurt a. M. 1995 (engl. Original: Killing Time. The Autobiography of Paul Feyerabend. Chicago 1995). 173

zumindest ab und an zum Gegenstand kritischer Selbstreflexion zu machen. In Zeiten, in denen nicht nur die Theologie, sondern gar die kritischen Wissenschaften insgesamt verstärkt gesellschaftlichem Druck ausgesetzt sind und dabei nach adäquaten Wegen suchen, diesem zu begegnen, möchte diese Ehrengabe an einem Beispiel aus der jüngeren Geschichte der katholischen neutestamentlichen Exegese daran erinnern, dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und Fortschritt sich auch in der Theologie mitunter dem Mut und der Entschlossenheit Einzelner verdanken. Bei dem gewählten Beispiel handelt es sich um einen Brief vom 19.  November 1944, in dem der junge Tübinger Neutestamentler Karl Hermann Schelkle (1908–1988) die Einladung des Freiburger Ordinarius Alfred Wikenhauser (1883–1960) annimmt, an der noch in der Planungsphase befindlichen Kommentarreihe Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament mitzuarbeiten.2 Im Folgenden wird nach einer kurzen Einführung in den historischen Kontext dieses exegesegeschichtlich aufschlussreiche Schreiben mit einer kursorischen Kommentierung versehen und in Beziehung zum letztlich realisierten Kommentarprojekt gesetzt.

1 Gebremste Exegese und ein ambitioniertes Projekt Gegenwärtig neutestamentliche Exegese zu treiben bedeutet nicht nur, antike Texte von kanonischem Rang unter angemessener Berücksichtigung ihres vieldimensionalen Entstehungskontextes, im Rückgriff auf ein in der scientific com2



Dieses Dokument wird damit hier zum ersten Mal ausführlich erschlossen. Ein kurzer Hinweis auf seine exegesegeschichtliche Bedeutung findet sich in Grünstäudl, Wolfgang: Old Texts, Young Scholars, New Perspectives: Writing a ‚Theological Commentary‘ on Second Peter (and Jude), Review Paper SBL Annual Meeting. San Diego 2019 [https://​ www.academia.edu/​41034045/​Old_​Texts_​Young_​Scholars_​New_​Perspectives_​Writing_​a_​Theological_​Commentary_​on_​Second_​Peter_​and_​Jude] (Zugriff: 14.  Februar 2020). Für die Erlaubnis, den Nachlass Schelkle einsehen und die hier vorgestellten Materialien veröffentlichen zu dürfen, danke ich der Nachlassverwalterin, Frau Evita Koptschalitsch (Burladingen-Starzeln), sehr herzlich. Ermöglicht wurden die notwendigen Archivrecherchen durch die Unterstützung des Zentralen Forschungsförderungstopfes (ZEFFT) der Bergischen Universität Wuppertal. 174

munity fortwährend auszuhandelndes Methodenarsenal und mit Blick auf ihre gegenwärtige Relevanz zu erschließen, es bedeutet auch die Teilhabe an einer Diskursgemeinschaft mit spezifischen Regeln und einer distinkten Geschichte. Zur heute noch prägenden Geschichte der katholischen neutestamentlichen Exegese gehört, zumal im deutschen Sprachraum, die Erinnerung an eine etwa von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts währende Aufholjagd, in der die katholischen Exegeten (durchweg Priester) den Anschluss an den von ihren protestantischen Kollegen dominierten Fachdiskurs suchten.3 Diese Anstrengung war äußerst erfolgreich und machte die neutestamentliche Forschung insgesamt zu einem in jeder Hinsicht ökumenischen Unterfangen.4 Zugleich war diese Anstrengung von einem fortwährenden Spannungsverhältnis der Exegeten mit den kirchlichen Autoritäten begleitet, das nicht nur in expliziten Forschungsverboten (etwa der Verurteilung der Zwei-Quellen-Hypothese durch die Päpstliche Bibelkommission im Jahr 19125) und der Beschädigung exegetischer Karrieren (etwa derjenigen Friedrich Wilhelm Maiers [1883–1957],

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Vgl. dazu einführend etwa Klauck, Hans-Joachim: Die katholische neutestamentliche Exegese zwischen Vatikanum I und Vatikanum II. In: Ders.: Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien (WUNT 152). Tübingen 2003, S. 360–393 (aus katholischer Perspektive) und Hahn, Ferdinand: Der Beitrag der katholischen Exegese zur neutestamentlichen Forschung. Ein Überblick über die letzten 30 Jahre. In: VF 2 (1973), S. 83–98 (aus evangelischer Perspektive). Breytenbach, Cilliers: Das II. Vatikanische Konzil und „evangelische“ Exegese des Neuen Testaments. In: BThZ 31 (2014), S.  342–358, S.  357, formuliert prägnant: „Auch wenn das Ziel einer einigen Kirche noch vor uns liegt, gibt es doch schon jetzt nur eine Wissenschaft vom Neuen Testament. Hier ist weder evangelische noch katholische, sondern gemeinsame Exegese.“ Zur exegesegeschichtlichen Einbindung vgl. nun Tiwald, Markus: The Investment of Roman Catholics in the 2DH and Q. In: Ders. (Hg.): The Q-Hypothesis Unveiled: Theological, Church-Political, Socio-Political, and Hermeneutical Issues Behind the Sayings Source (BWANT). Stuttgart (im Erscheinen). Ich danke Markus Tiwald herzlich für die Zurverfügungstellung des unveröffentlichten Manuskripts. Eine Nachwirkung dieser Ablehnung bekommt Karl Hermann Schelkle bei seinen Bemühungen um die Drucklegung seiner Dissertation zu spüren, als ihm Franz Bettschart, Verlagsleiter des Benziger Verlags (Einsiedeln/​Schweiz) folgendes Urteil eines nicht namentlich genannten Gutachters mitteilt: „[…] beim heutigen Stand der Einleitungswissenschaft sollte doch ein Katholik nicht ohne weiteres auf Markuspriorität und Zweiquellentheorie eine These aufbauen“ (Bettschart an Schelkle, 5. Juli 1946, UBT [= Universitätsbibliothek Tübingen] Mn 16). 175

später einer der Lehrer Joseph Ratzingers in München6) greifbar wurde, sondern vor allem eine Atmosphäre der Angst und ständigen Vorsicht erzeugte. Noch Jahrzehnte später senkte Alfred Wikenhauser selbst bei privaten Waldspaziergängen die Stimme, wenn das Gespräch auf exegetische Themen kam,7 und der Bonner Exeget Heinrich Vogels (1880–1972) konnte Diktatur und Krieg – ganz ohne politische Anbiederung – gar als Schutzraum vor der Maßregelung durch kirchliche Autoritäten begreifen: „Mit Bannstrahl und Index wird man bei diesem bösen Wetter jedenfalls sparsamer umgehen als in den Zeiten, wo die Sonne schien.“8 Diese schmerzvolle Epoche einer „gebremsten Exegese“9 gilt es zu beachten, wenn man die exegesegeschichtliche Zäsur der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums begreifen, den „verhaltene[n] Jubel“10 über ein 1993 veröffentlichtes Dokument der Päpstlichen Bibelkommission nachvollziehen oder manch scharfe Reaktion auf die Jesus-Bücher von Benedikt XVI./​Joseph Ratzinger einordnen will.11

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Vgl. z. B. Broer, Ingo: Gebremste Exegese. Katholische Neutestamentler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Friedrich Wilhelm Maier, Fritz Tillmann, Alfred Wikenhauser, Max Meinertz. In: Breytenbach, Cilliers/​Hoppe, Rudolf (Hg.): Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 59–112. Vgl. Oberlinner, Lorenz: Anton Vögtle (1910–1996). In: Breytenbach, Cilliers/​Hoppe, Rudolf (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 461– 476, S. 462f. Vogels an Schelkle, 4. September 1938, UBT Mn 16. Vgl. dazu Thurau, Markus: „Was kann man anderes tun, wenn die Welt untergeht?“ Karl Hermann Schelkle und die Tübinger Theologie in Zeiten der Krise (1929–1949). In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 37 (2018), S. 189–205, S. 201. So die treffende Bezeichnung von Ingo Broer, vgl. oben Anm. 6. Klauck, Hans-Josef: Das neue Dokument der Päpstlichen Bibelkommission: Darstellung und Würdigung. In: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vom 23. April 1993 mit einer kommentierenden Einführung von Lothar Ruppert und einer Würdigung durch Hans-Josef Klauck (SBS 161). Stuttgart 1995, S. 62–90, S. 90. Vgl. z. B. Theobald, Michael: Joseph Ratzinger verabschiedet die historisch-kritische Schriftauslegung! Anmerkungen zu seinem Jesus-Buch, dritter Teil. In: BiKi 68 (2013), S. 46f. 176

In diese Epoche gehört das hier zu besprechende Schriftstück aus dem November 1944. Vermutlich waren es das Erscheinen der „Bibelenzyklika“ Divino afflante spiritu (1943) von Pius XII. einerseits und das sich deutlich abzeichnende Kriegsende andererseits, die eine einflussreiche Gruppe deutscher Exegeten (neben Wikenhauser und Vogels noch Max Meinertz [1880–1965] und Josef Schmid [1893–1975]) dazu bewogen haben, ausgerechnet im Jahr 1944 ein schon länger gehegtes Prestigeprojekt12 in Angriff zu nehmen, nämlich die Herausgabe einer katholischen Kommentarreihe zum Neuen Testament, die höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollte.13 Die Kerngruppe des Projekts, zu der wohl spätestens ab 1944 auch Robert Scherer (1904–1997), theologischer Cheflektor des Herder Verlags und bestens vernetzter „Zwillingsbruder“14 Karl Rahners (1904–1984), zu zählen ist, war sich der Notwendigkeit wie auch der Schwierigkeit der Gewinnung geeigneter Projektmitarbeiter bewusst. Bereits in seinem insgesamt zweiten Brief an Schelkle teilt Wikenhauser mit dem erst noch zu gewinnenden Kommentator recht freimütig seine editorischen Überlegungen: Wohl aber sehe ich darauf, dass mir solche Herren zur Mitarbeit eingeladen werden, die die Gewähr bieten, dass sie etwas Gutes leisten. Wissenschaftlich soll der Kom[mentar] keinen Rückschritt gegenüber

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Dieser Plan lässt sich bis in die Endphase des Ersten Weltkrieges (man vgl. die Parallelität zum Spätjahr 1944!) zurückverfolgen. Vogels, Heinrich Joseph: Rezension zu: Regensburger Kommentar zum Neuen Testament. In: ThRv 40 (1941), S. 193–197, S. 193, berichtet: „Wir besitzen keinen wissenschaftlichen Gesamtkommentar zum N. T., von dem man behaupten dürfte, daß er auf der Höhe der Zeit stehe. Als gegen Ende des Weltkrieges der Plan eines solchen Werkes auftauchte, waren die einzelnen Bücher bald an die verschiedenen Fachleute verteilt, weil alles sich über die Dringlichkeit der Aufgabe klar war; aber beim Plan ist es dann geblieben.“ In seinem ersten Brief an Schelkle stellt Wikenhauser gleich zu Beginn klar, der geplante Kommentar, sei – im Unterschied zu anderen katholischen Kommentarwerken wie etwa dem von Wikenhauser selbst herausgegebenen „Regensburger Neuen Testament“ – „nicht für die ‚Praxis‘ berechnet“ (Wikenhauser an Schelkle, 26. Oktober 1944, UBT Mn 16). So Karl Lehmann in der Dokumentation: Karl Rahner. 70 Jahre. Geburtstagsempfang im Verlag Herder am 7. März 1974. Vier Ansprachen im Manuskript gedruckt. Freiburg i. Br. 1974, o. S. 177

denen von Lagrange u[nd] Genossen darstellen; um es konkret zu sagen, möchte ich keine Mitarbeiter haben, die in der Art von G[erhard] Hartmann (MkEv) Exegese treiben. Da nicht alle Exegeten für uns in Betracht kommen u[nd] die im Amt befindlichen allmählich alt geworden sind (Meinertz, Vogels, Maier, ich) u[nd] auch wenig Nachwuchs da ist (etwa Gewiess, Vögtle (ob Reuss – Würzburg, der Katenenforscher, weiss ich nicht, da ich ihn als Exeget nicht kenne),15 haben wir keinen Überfluss an geeigneten Kräften. Und ich meine, wenn jetzt nicht etwas unternommen wird (vorausgesetzt, dass die Zeitverhältnisse es überhaupt zulassen), wird die Lage der kath[olischen] d[eutschen] Exegese bald katastrophal.16

Deutlich wird aus diesen Zeilen, wie sehr die Initiatoren des Herder’schen Kommentars darauf bedacht waren, bei aller händeringenden Suche nach Mitarbeitern nicht die programmatische Ausrichtung und damit den Erfolg des Projekts zu gefährden. Heinrich Vogels war es, der seinen Promovenden Schelkle17 als Kommentator vorschlug18 und der nicht nur ein Auge darauf hatte, dass dieser auch tatsächlich eingeladen wurde,19 sondern überdies bestrebt war, Schelkles Zweifel und Sorgen bezüglich einer Mitarbeit – und das heißt vor allem: bezüglich eines möglichweise

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Eine zweite schließende Klammer fehlt im Manuskript. Wikenhauser an Schelkle, 9. November 1944, UBT Mn 16. Zu den Turbulenzen rund um Schelkles ursprünglich in Tübingen eingereichte Dissertation vgl. nun die ausgezeichnete Darstellung bei Thurau, Markus: Der „Fall Schelkle“ (1929–1949). Zur frühen Rezeption der Formgeschichte innerhalb der katholischen Bibelwissenschaft im Spannungsfeld von lehramtlichem Widerstand, politischem Kalkül und theologischer Erneuerung (Apeliotes – Studien zur Kulturgeschichte und Theologie 14). Frankfurt a. M. 2017. „Herr Kollege Vogels hat mich bes[onders] auch auf Sie als zu gewinnenden Mitarbeiter hingewiesen“ (Wikenhauser an Schelkle, 26. Oktober 1944, UBT Mn 16). „Herr Kollege Vogels […] legt grossen Wert darauf, dass Sie zur Mitarbeit aufgefordert werden u[nd] auch zusagen (er hat kürzlich gefragt, ob ich Ihnen schon geschrieben habe). Er meinte auch – als wir von der Verteilung der Bücher sprachen, Sie könnten 1–2 Petr (u[nd] Jud) übernehmen“ (Wikenhauser an Schelkle, 9. November 1944, UBT Mn 16). 178

nicht zu erreichenden Imprimaturs20 – zu zerstreuen. Der junge Tübinger Exeget wirkte zum Zeitpunkt der Anfrage als Seelsorger im Dörfchen Wachendorf; noch in geographischer Nähe zu seiner Alma Mater und dennoch weit entfernt von der einst erhofften Universitätskarriere.21 Der im mittlerweile frontnahen Freiburg bang auf die weitere Entwicklung des Krieges blickende Wikenhauser22 sah die Vorteile dieser Situation: „Bisher sind wir noch verschont geblieben von Bomben. Sie gehören (einstweilen jedenfalls) zu den beati qui sedent post fornacem et habent bonam pacem.“ Mit dieser ironischen Seligpreisung aus Joseph von Eichendorffs Das Leben eines Taugenichts23 charakterisiert Wikenhauser durchaus weitsichtig die in Kriegszeiten glückliche Abgeschiedenheit von Schelkles Wirkungsstätte, denn schon am 27.  November wird Freiburg Ziel eines verheerenden Bombenangriffs.24 Nach diesen Bemerkungen zum historischen Rahmen nun aber zum Text.

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Vgl. Vogels an Schelkle, 19 Dezember 1944, UBT Mn 16. Dazu ausführlich Grünstäudl, Wolfgang: Weihnachten, Krieg und Exegese. Notizen zu Heinrich Vogels’ Brief an Karl Hermann Schelkle vom 19. Dezember 1944. In: Adrian, Markus/​Kampling, Rainer/​Han, Sara (Hg.): Blickwechsel. Perspektiven der Wahrnehmung der Katholischen Tübinger Neutestamentler (Contubernium). Stuttgart (im Erscheinen). Zur Biografie Schelkles und seinen zum Teil sehr konkreten Karriereplänen vgl. Burkard, Dominik: Charakter – Biographie – Politik. Die Theologen Bernhard Hanssler, Karl Hermann Schelkle und Josef Schuster in Malbriefen aus den Jahren 1932–1935. Regensburg 2016, S. 40–70. „Hier verfolgt man nicht ohne Sorge die Ereignisse trans Rhenum; von Basel bis Strassb[urg] incl[usive] sollen die pontes zerstört sein.“ (Wikenhauser an Schelkle, 24. November 1944, UBT Mn 16). Vgl. dazu Grünstäudl, Weihnachten. Dabei wurde auch der Verlag Herder getroffen: „Wie Sie gehört haben werden, ist unser Verlagshaus vollkommen ausgebrannt. Leider konnte nichts mehr gerettet werden ausser, wie wir hoffen, die wichtigsten Akten und Manuskripte, die im untersten Keller geborgen waren bzw. noch geborgen wurden. Soviel uns bis jetzt bekannt ist, mussten 7 Angehörige unseres Betriebes das Leben lassen. […] Wir bauen gleich wieder auf und arbeiten in Gottes Namen im kleinen weiter und bitten Sie dabei nun erst recht um Ihre Treue und Mitarbeit“ (Scherer an Wikenhauser, 7. Dezember 1944 [Postkarte], UAF [= Universitätsarchiv Freiburg im Breisgau] C 103/​28). 179

2 Berechtigte Sorgen und eine bedingte Zusage 2.1 Karl Hermann Schelkles Brief an Alfred Wikenhauser vom 19. November 194425 Schelkle an Wikenhauser, 19. November 1944 Universitätsbibliothek Tübingen Mn 16, Mappe „Petrusbriefe“ maschinenschriftlich (Durchschlag)

Wachendorf üb[er] Rottenburg Neckar. am 19. November 1944.

Sehr verehrter Herr Professor! Mit Ihrem Brief vom 9.11. haben Sie unter Uebersendung der „Richtlinien“ Ihre Einla[d]ung zur Mitarbeit am Komme[n]tar zum Neuen Testament gütigst wiederholt, und mir zugleich angedeutet, dass ich etwa 1 u[nd] 2 Petrus mit Judas übernehmen könnte. Wenn ich aufrichtig sein darf, muss ich sagen, dass es mir schwer ist, der Versuchung zu einer solchen Arbeit zu widerstehen, . trotz allem, dessen ich mir wohl bewusst bin. 1 Petr. scheint mir besonders wertvoll durch seine Passionstheologie, deren starker Paulinismus mir freilich sehr auffällt. Da mir jedoch die Irrigkeit des extremen Bauer’schen Schemas Paulinismus-Petrinismus gewiss zu sein scheint, spricht das gewiss nicht etwa gegen die petrinische Verfasserschaft.

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Im Folgenden ist der Text des Schreibens entsprechend dem abgebildeten Durchschlag (siehe S. 180) in Schelkles Tübinger Nachlass wiedergegeben; das Original mit Schelkles Unterschrift sowie Eingangs- und Beantwortungsnotiz Wikenhausers befindet sich im Universitätsarchiv Freiburg (C 103/​28). 180

Ich meinte immer, dass [s]ich aus 1 Petr. 1,18-21; 2,21-25; 3,18-22 als drei Passionslieder eigenartig selbständig herausheben, und ich hätte gerne einmal darüber eine Untersuchung angestellt. Nun h[ä]tte ich ja den Anlass dazu. - 2 Petr. möchte ich freilich, soweit mir der Brief oberflächlich bekannt ist, für ein Stück der pseudopetrinischen Literatur des 2. Jahrhunderts halten. Wenn sich mir diese Ansicht bestätigen wird, muss ich das jedenfalls im Kommentar, wenn auch sicherlich nicht gewalttätig polternd, so doch klar sagen. Würden Sie das für tragbar halten? Indessen scheint mir eben deshalb 2 Petr. wichtig zur Kritik des Menschenwortes, durch das und in dem Gottes Wort in der Schrift gesagt ist. Ein wesentlicher Trost ist es mir, dass Sie schreiben, die Fertigstellung der Arbeit dränge nicht. Neben allem anderen bin ich mit Studien zur Deutungsgeschichte des Römerbriefes engagiert. Und ich möchte daran festhalten, zu versuchen, daraus ein oder einige Kapitel zum Abschluss zu bringen, etwa als Habilitationsschrift. Uebrigens bringt mich gerade die Lektüre der Väter zu[r] Ueberzeugung, wie wertvoll ihre Erklärung zur Gewinnung des theologischen Gehaltes der Schrift ist. So w[o]llte ich mich dann auch gerne für 1/​2 Petr. durch die Väter belehren lassen. Wenn ich also Ihrer freundlichen Einladung Folge leisten dürfte, so soll es [in] dem Sinne sein, dass meine Zusage eine bedingte ist und soweit gilt, als mir ihre Erfüllung eben möglich ist. Ich wäre darum auch gerne einverstanden, wenn an meine Stelle ein anderer Bearbeiter treten würde. In verehrungsvollster Ergebenheit [Karl Hermann Schelkle]

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2.2 Kursorische Kommentierung Mit ihrem Brief vom 9.11. In seinem Antwortschreiben kann Schelkle schon auf mehrere Etappen der Korrespondenz mit Wikenhauser zurückverweisen. Bereits am 26. Oktober hatte Wikenhauser einen ersten Brief an Schelkle verfasst, in dem er diesem das Projekt „eines grossen wissenschaftl[ichen] ‚Theolog[ischen] Kommentars z[um] N[euen] T[estament]ʻ“26 vorstellte und anfragte, „ob Sie grundsätzlich bereit wären, etwas zu übernehmen, u[nd] ich Ihnen einmal die ,Richtlinien‘ zur Orientierung übersenden darf “27. Bei diesen Richtlinien, die Wikenhauser „mit den Herren Vogels, Meinertz, Jos[eph] Schmid […] ausgearbeitet“ hatte, handelt es sich um insgesamt vier eng beschriebene maschinenschriftliche Seiten (datiert auf den ersten Oktober 1944), die zuerst Notwendigkeit und Anliegen des Projekts darlegen, ehe in insgesamt sechs unterschiedlich langen Abschnitten28 die Charakteristika des Kommentars umrissen sowie erste formale Grundentscheidungen getroffen werden. Eine umfassende Analyse dieser Richtlinien einschließlich ihrer Entstehungsgeschichte kann an dieser Stelle nicht erfolgen, drei Aspekte verdienen aber Beachtung. Dies ist zum ersten die unmittelbar zu Beginn formulierte Zielsetzung, den „unleugbaren Mißstand“ zu beheben, dass den „Katholiken deutscher Zunge“ im Unterschied zu ihren Nachbaren „mit ihren Etudes bibliques ein ausführlicher, streng wissenschaftlicher Kommentar zum N[euen] T[estament] [fehlt], der durch zuverlässige Darstellung der Ergebnisse der neueren und neuesten biblischen Forschung und sachgemäße Orientierung über die strittigen Probleme den heutigen Stand der Exegese des NTs getreu widerspiegelt und sich redlich bemüht, die Forschung weiterzuführen.“29 Daraus ergibt sich zweitens

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Wikenhauser an Schelkle, 26. Oktober 1944, UBT Mn 16. Ebd. Im Einzelnen: „Allgemeiner Charakter und Zweck des Kommentars“, „Die besondere Note des Kommentars“, „Umfang des Kommentars“, „Anlage des Kommentars“, „Text und Übersetzung“ sowie „Literaturverzeichnis und Abkürzungen“ (Richtlinien für die Mitarbeiter, 1. Oktober 1944, UBT Mn 16). Richtlinien für die Mitarbeiter, 1. Oktober 1944, UBT Mn 16. 183

die Absicht, den Kommentar als „ein Seitenstück zum französischen Kommentar der Etudes bibliques und den beiden großen Kommentarwerken der deutschen Protestanten von Meyer (in seiner neuen Bearbeitung) und Zahn“30 zu entwickeln. Darin enthalten ist der Anspruch, ein Flaggschiff der deutschen katholischen Exegese in See stechen zu lassen und „viele stärker biblisch interessierte Kreise, [die] zu protestantischer Literatur greifen“31 mit einer katholischen Alternative zu versorgen. Drittens schließlich sprechen die Richtlinien auch die Zeitläufte offen an: „Freilich scheint der gegenwärtige Zeitpunkt für einen solchen Plan sehr ungünstig zu sein. Trotzdem muß angesichts des dringenden Bedürfnisses der Versuch gewagt werden.“32 Zudem sei der Verlag entschlossen, „das geplante Werk, das er weniger als ein verlegerisches denn als ein wissenschaftliches versteht, jetzt schon im Rahmen des Möglichen zu fördern“33, und hoffe, „daß sich nach dem Krieg“34 die Finanzierung klären lasse. Am 2. November antwortete Schelkle, dass er „an dem Plan ein grosses Interesse [nähme]“35, jedoch „[wäre] dieses Interesse […] wohl fast schon alles“36, was er zu dem Unternehmen beitragen könne. Im Besonderen verwies er dabei auf seine Situation „im Pfarramt, abseits, mit einer Stunde zur Bahn“37, die ihm kaum gestattete, ernsthaft wissenschaftlich zu arbeiten. Da Schelkle trotz allen Bedenken um die Zusendung der Richtlinien gebeten hatte, sandte ihm Wikenhauser diese mit Schreiben vom 9. November zu, wobei der Freiburger Ordinarius nicht vergaß, seine eigenen Erfahrungen im Pfarramt zu erwähnen, und darüber hinaus auf Anregung von Heinrich Vogels vorschlug, Schelkle könne die Petrusbriefe und den Judasbrief übernehmen. Dieses zweite, etwas konkretere Schreiben aus Freiburg ist es, das Schelkle am 19. November beantwortet.

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Schelkle an Wikenhauser, 2. November 1944, UBT Mn 16. Ebd. Ebd. 184

1 Petr. scheint mir besonders wertvoll durch seine Passionstheologie Rasch wechselt Schelkle auf die exegetische Ebene, indem er seine Wertschätzung des 1 Petr schildert. In Anbetracht von Schelkles Dissertation zur „Passion Jesu in der Verkündigung des Neuen Testaments“38 verwundert der Fokus auf das Thema „Passion“ nicht und man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, es sei gerade diese Verbindung gewesen, die Vogels veranlasste, gegenüber Wikenhauser Schelkle als Bearbeiter des 1 Petr (und damit verbunden: des 2 Petr und des Jud) vorzuschlagen.39 Mit einem Verweis auf die unter dem Schlagwort „Paulinismus“ oft diskutierte Nähe des 1 Petr zu paulinischen und deuteropaulinischen Briefen und unter Zurückweisung der Theorie des Tübinger Theologen Ferdinand Christian Baur (1792–1860)40, der in 1 Petr ein pseudepigraphes Versöhnungsdokument der beiden antagonistischen Hauptströme des frühen Christentums („Petrinismus“ und „Paulinismus“) sah,41 gelangt Schelkle zur Verfasserfrage samt einem nachdrücklichen Bekenntnis zur Authentizität des 1 Petr.

2 Petr. möchte ich freilich … für ein Stück der pseudopetrinischen Literatur des zweiten Jahrhunderts halten. Die anschließenden Ausführungen zu 2 Petr lassen unmittelbar verständlich werden, warum für Schelkle die Betonung der Authentizität des 1 Petr so wichtig war: Sie diente als Vorbereitung seiner deutlich anderen Einschätzung hinsichtlich des 2 Petr. In äußerst vorsichtiger Manier artikuliert Schelkle sein Dilemma zwischen eigener wissenschaftlicher Überzeugung und deren ungewisser Akzeptanz bei

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Vgl. Schelkle, Karl Hermann: Die Passion Jesu in der Verkündigung des Neuen Testaments. Ein Beitrag zur Formgeschichte und zur Theologie des Neuen Testaments. Heidelberg 1949. Zu den verschiedenen Phasen und Titeln dieser Arbeit vgl. die Übersicht bei Thurau, Der „Fall Schelkle“, S. 311. Vgl. oben Anmerkung 18. Die Schreibung „Bauer“ statt „Baur“ ist kaum ein Verweis auf den ebenfalls zum frühen Christentum publizierenden Philosophen Bruno Bauer (1809–1882), sondern wohl ein einfaches Versehen. Vgl. hierzu Herzer, Jens: Petrus oder Paulus? Studien über das Verhältnis des ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition (WUNT 103). Tübingen 1998, S. 6. 185

Adressat wie künftigen Leserinnen und Lesern. Für den hypothetischen Fall, so Schelkle, dass sich seine „oberflächlich[e]“42 Einschätzung im Lauf der Kommentierung erhärten würde, sei er nicht bereit, mit ihr hinter dem Berg zu halten – fragt dann aber besorgt: „Würden Sie das für tragbar halten?“43 Wikenhausers Antwort vom 24. November ist diplomatisch, doch in ihrem Verweis auf die maßgebliche französische Referenzgröße völlig klar: „Nachdem Jos[eph] Chaine, Les epitres cathol[iques], Paris 1939 (Etudes) für Pseudonymität von 2 Petr eingetreten ist […], wird sich auch für Sie ein ‚gangbarer Modus‘ finden.“44 Damit ist der Weg frei für den ersten deutschsprachigen katholischen Kommentar zu 2 Petr, der nicht mehr an der bereits in der Antike bezweifelten Authentizität des brieflichen Testaments Petri festhält. Schelkle setzt dabei den Weg seines Mentors Vogels fort, zu dessen Einleitungsbuch er selbst zwei Jahre zuvor notiert hatte: „Vogels […] hat als erster katholischer Theologe den 2. Petrusbrief als pseudepigraphisch erklärt.“45

Ein wesentlicher Trost Ohne noch auf die Auslegung des Judasbriefes einzugehen oder dieses kurze Schreiben auch nur zu erwähnen, wendet sich Schelkle sodann arbeitsorganisatorischen Fragen zu und greift einen Hinweis Wikenhausers zur Terminierung („eilt die Fertigstellung der übernommenen Arbeit nicht“46) beinahe wörtlich auf („die Fertigstellung der Arbeit dränge nicht“47), wobei Wikenhauser bereits in seinem ersten Brief vom 26. Oktober einen weiten Zeithorizont abgesteckt hatte: „Der geplante Kom[mentar] ist nicht so gedacht, dass er in einigen Jahren fertig sein soll, sondern es wird mit 1–2 Jahrzehnten gerechnet.“48 Beiden Neutestamentlern war zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht klar, welche große Rolle die Zeitplanung

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Schelkle an Wikenhauser, 19. November 1944, UBT Mn 16. Ebd. Wikenhauser an Schelkle, 24. November 1944, UBT Mn 16. Schelkle, Karl Hermann: Zur neueren katholischen Exegese des Neuen Testaments. In: ThR 14 (1942), S. 173–198, 177. Vgl. Vogels, Heinrich Joseph: Grundriß der Einleitung in das Neue Testament. Münster 1925, S. 227–229. Wikenhauser an Schelkle, 9. November 1944, UBT Mn 16. Schelkle an Wikenhauser, 19. November 1944, UBT Mn 16. Wikenhauser an Schelkle, 26. Oktober 1944, UBT Mn 16. 186

für den weiteren Verlauf des Kommentarprojekts noch spielen würde (vgl. dazu unten Abschnitt 3).

die Lektüre der Väter Mit einer kurzen Notiz verweist Schelkle noch auf eines seiner Herzensthemen – die patristische Auslegung und ihre Impulse für die gegenwärtige Interpretation der Schrift (wobei wiederum Jud unerwähnt bleibt). Dabei zeigt sich deutlich die Vielschichtigkeit seiner exegetischen Persönlichkeit, die nicht nur Karl Barth (1886–1968), Emil Brunner (1889–1966) und Rudolf Bultmann (1884–1976) mit Begeisterung las49 und der Formgeschichte im Raum der katholischen neutestamentlichen Exegese den Weg bereitete,50 sondern sich ebenso „durch die Väter belehren lassen“51 wollte.

dass meine Zusage eine bedingte ist Bei allen Kautelen, mit denen Schelkle seine Zusage verband – sie sei nur eine „bedingte“; eine Ablösung durch einen anderen Bearbeiter sei ihm nur recht – war mit dem Brief vom 19. November 1944 seine Mitarbeit an Herders Theologischem Kommentar zum Neuen Testament besiegelt.52 Der Kommentarband selbst musste

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Vgl. Thurau, Wenn die Welt untergeht, S.  196f. Der Briefwechsel mit Emil Brunner, den Schelkle im Januar 1944 mit theologischen Fragen kontaktierte, ist abgedruckt bei Thurau, Der „Fall Schelkle“, S. 301–307. Vgl. dazu Thurau, Der „Fall Schelkle“, passim. Schelkle an Wikenhauser, 19.  November 1944, UBT Mn 16. In der geplanten Weise ließ sich dieses Bestreben dann freilich nicht realisieren: „Wenn ich die Arbeit endlich abschließen wollte, mußte ich auf meine ursprüngliche Absicht verzichten, die patristische Auslegungsgeschichte der vorliegenden Briefe vollständig Vers für Vers mitzubehandeln, wie ich es Römer 1–11 (Paulus, Lehrer der Väter, 2. Aufl. 1959) versucht habe. Das für 1 und 2 Petrus und Judas in ähnlicher Weise gesammelte Material mußte größtenteils in den Mappen liegenbleiben“ (Schelkle, Karl Hermann: Die Petrusbriefe. Der Judasbrief [HThKNT XIII/​2]. Freiburg i. Br./​Basel/​Wien 51980, V). Wikenhauser antwortete (Wikenhauser an Schelkle, 24. November 1944, UBT Mn 16): „Auf Ihren eben erhaltenen Brief möchte ich Ihnen mit dem Ausdruck des Dankes mitteilen, dass ich mit Ihrer bedingten Zusage einverstanden bin.“ 187

aber noch geschrieben werden und es sollte nicht weniger als 17 (!) Jahre dauern, ehe im Jahr 1961 schließlich Schelkles Auslegung von 1-2 Petr und Jud erschien.

3 Von der Zusage zur Umsetzung Auf dem Weg zur Realisierung des vereinbarten Kommentarbandes wurde zunächst das gesamte Kommentarprojekt durch die Wirren des Kriegsendes gestoppt, bis Wikenhauser am 18.  Januar 1946 Schelkle per Postkarte mitteilen konnte, dass an dem Vorhaben festgehalten werde und er die Suche nach Mitarbeitern wieder aufnehme.53 In seinem Antwortbrief berichtet Schelkle von ersten Arbeitsschritten (insbesondere bzgl. des 2 Petr54), verweist aber auch auf seine veränderte berufliche Situation (seit 1.  Oktober 1945 Assessor an der Universitätsbibliothek Tübingen) sowie seine Belastung mit anderen wissenschaftlichen Projekten, vor allem zur Rezeptionsgeschichte des Römerbriefs: „So würde [es] sich ergeben, daß mein Beitrag zum Kommentar nicht sehr bald vorliegen könnte. An meiner Bemühung soll es jedoch nicht fehlen.“55 Im Verlagsvertrag wird schließlich „Anfang 1950 (wenn irgend möglich)“56 als Abgabezeitpunkt vereinbart, doch auch dies erweist sich als unrealistisch, sodass Schelkle, seit 1950 Professor für Neutestamentliche Theologie in Tübingen, am 53

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55 56

„Ich möchte Ihnen mitteilen, dass der Verlag Herder an dem Plan des Theol[ogischen] Kom[mentars] z[um] N[euen] Test[ament] festhält. Ich nehme jetzt die Bemühungen, passende Mitarb[eiter] zu finden u[nd] die einzelnen Bücher zu verteilen, wieder auf. Für Sie bleibt es natürl[ich] bei 1-2 Petr, wozu Sie auch Judas nehmen müssen (wegen der engen Verwandtsch[aft] von 2 Petr u[nd] Jud).“ (Wikenhauser an Schelkle, 18. Januar 1946 [Postkarte], UBT Mn 16). „Es scheint mir, daß schon die bedeutungsgeschichtliche Entwicklung mancher Wörter von 2 Petr dem Brief seinen historischen Ort anweist. Aber eben als Stimme der Kirche aus dem 2. J[ahrhundert] hat dann der Brief seine Würde und seinen Wert.“ (Schelkle an Wikenhauser, 3. Februar 1946, UAF C 103/​28). Schelkle an Wikenhauser, 3. Februar 1946, UAF C 103/​28. Verlagsvertrag Herder, 24. März 1947, UBT Mn 16. Obwohl Schelkle Wikenhauser dieses Datum bereits brieflich mitgeteilt hatte (Schelkle an Wikenhauser, 1. April 1947, UAF C 103/​28), trug er in das Vertragsformular zuerst handschriftlich „Ende 1949“ als Abgabedatum ein, korrigierte dies dann aber auf „Anfang 1950“. Neben Schelkle (25.  Januar1947) unterzeichneten noch Wikenhauser (10.  März 1947) und Theophil Herder-Dorneich (1898–1987, 24. März 1947) den dreifach ausgefertigten Vertrag. 188

14. Oktober 1955 Wikenhauser mit knappen Worten über die Wiederaufnahme der Kommentierung informieren muss: Zu Ihrer Unterrichtung gestatte ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich nach dem endlichen Abschluß anderer Arbeiten nunmehr die Arbeit an den Briefen Petri und Judae für den geplanten Kommentar zum Neuen Testament wieder aufgenommen habe. Ich hoffe, jetzt ohne allzu große Unterbrechung bei dieser Arbeit bleiben zu können. Für künftige Zeiten Zusagen zu machen, kann trügen. Da ich aber immerhin in einem Kolleg-Manuscript über die beiden Petrusbriefe den Anfang eines Kommentars habe, hoffe ich doch, in vielleicht 2 Jahren ein einigermaßen fertiges Manuscript zu haben.57

Da sich auch bei allen anderen Mitarbeitern die Fertigstellung des jeweils übernommenen Kommentars zum Teil erheblich verzögerte und nur Rudolf Schnackenburgs (1914–2002) Auslegung der Johannesbriefe 1953 publiziert werden konnte, wandte sich Wikenhauser am 27. September 1957 per Rundbrief mit einem flammenden Appell an die Kommentatoren. Es „sei für alle Beteiligten sehr peinlich […], daß seit 1953 kein Band mehr erschienen ist und auch nicht als bald erscheinend angekündigt werden kann.“58 Wikenhauser formuliert „die dringende und herzliche Bitte, [die] Arbeit an dem übernommenen Band mit aller Energie fortzusetzen und zu beschleunigen“59, und stellte Anton Vögtle (1910–1996, seit 1951 Nachfolger Wikenhausers in Freiburg) als neuen Mitherausgeber vor, der nun die Korrespondenz mit den Mitarbeitern übernehmen werde.60 Ende 57 58

59 60

Schelkle an Wikenhauser, 14. Oktober 1955, UAF C 103/​28. Wikenhauser an die Autoren des HThKNT, 27. September 1957, UBT Mn 16 (auf dem offiziellen Briefpapier des Verlags verfasst und von Robert Scherer mitunterzeichnet). Es breitete sich zudem bereits das Gerücht aus, das Projekt sei bereits gescheitert: „Wik[enhauser] beantwortete auch ein Schreiben, in dem ich ihm mitteilte, es werde schon ‚gemunkelt‘, dass HThK abgewunken sei! Natürlich Unsinn; aber es wird Zeit, dass ein neuer Band erscheint“ (Schnackenburg an Vögtle, 3. August 1956, UAF C 103/​28). Wikenhauser an die Autoren des HThKNT, 27. September 1957, UBT Mn 16. Schelkle schreibt daraufhin dem „[l]iebe[n] Freund Vögtle“ (Schelkle an Vögtle, 18. Oktober 1957, UAF C 103/​28): „Ich kann Dir mitteilen, daß ich die beiden Petrusbriefe und den Judasbrief in Vorlesungen und Seminarübungen behandelt habe und zu jedem Vers der 3 Bücher bereits einen Kommentar niedergeschrieben habe. Dem 189

Oktober 1960, somit erst nach Wikenhausers Tod am 21. Juni desselben Jahres, erreichte den nunmehr alleinigen Herausgeber die „Freudenbotschaft“61 vom de facto abgeschlossenen Manuskript, auf die Anton Vögtle euphorisch reagierte: Gott sei Dank, endlich ein Lichtstrahl in der betrüblichen Angelegenheit TKzNT [sc. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament], die allmählich Spott u[nd] Mitleid zugleich ausgelöst hat! […] Mit dem Verlag Herder, bes[onders] Dr. Scherer […] würde buchstäblich die gesamte deutsche kath[olische] Öffentlichkeit (Belege aus Briefen von Bischöfen u[nd] Kardinälen), nicht weniger die Herren des Bibelinstituts aufatmen, wenn Du den schon tot Geglaubten zu neuem Leben erwecken würdest. Für mich wäre es natürlich auch eine große Genugtuung, mit einem solchen Erfolg beginnen zu können! […] Hab nochmals herzlichen Dank! Ich werde Dir dieses Geschenk nie vergessen.62

Im 1961 schließlich gedruckten Kommentar spiegeln sich die ersten inhaltlichen Ideen, die Schelkle 1944 in seiner Zusage skizziert hatte, in unterschiedlicher Weise. Wenig überraschend ist Schelkles großes Interesse an der „ausdrucksvollen Passionstheologie, ja fast schon Passionsmystik“63 des 1  Petr, der er auch einen eigenen Exkurs widmet,64 während hingegen die 1944 noch vorausgesetzte Abfassung durch den Apostel Petrus nun eine Vielzahl von Anfragen erfährt. Allenfalls in Gestalt einer modifizierten Sekretärshypothese (1 Petr 5,12: Silvanus)65 könne sie noch vertreten werden. Letztlich gelte aber: „Es scheint der Exegese unmöglich zu sein, die Fragen um die Verfasserschaft des Briefes eindeutig zu klären und zwingend zu beantworten.“66 In den Nachträgen zur 1976 erschienenen 4. Auflage

61 62 63 64 65 66

Umfang nach würde es wohl fast dem entsprechen, was mir an Raum zugeteilt wurde. Aber manches liegt schon lang zurück, und alles bedarf noch sehr der Umarbeitung und Vertiefung.“ Vögtle an Schelkle, 3. November 1960, UBT Mn 16. Ebd. Schelkle, Petrusbriefe/​Judasbrief, S. 82. Vgl. ebd., S. 112f. Vgl. ebd., S. 15. Ebd. Mit der eiligen Ergänzung: „Der Wert des Briefes wird dadurch nicht beeinträchtigt.“ 190

des Kommentars geht Schelkle noch einen letzten Schritt weiter: „Beim 1. Petrusbrief habe ich erwogen, ob der Verfassername Petrus bedeuten könnte, daß der Brief von Silvanus im Auftrag oder im Geist des Apostels geschrieben wurde. […] Ich nehme nun eher, wie beim 2. Petrusbrief und Judasbrief, volle Pseudepigraphie an.“67 Wenig überrascht auch die Kürze der Auslegung des Judasbriefes, den Wikenhauser wie Schelkle in ihrer Korrespondenz ja als eine Art Appendix zu den Petrusbriefen behandelt hatten. Schelkle demonstriert die Verwendung des Jud durch 2 Petr, stellt deshalb auch die Auslegung des Jud vor die des 2 Petr und analysiert die nicht wenigen sprachlichen und grammatischen Besonderheiten des kurzen Schreibens in gewohnter Sorgfalt. Eine nennenswerte theologische Agenda bzw. eine entsprechende Relevanz des Jud für gegenwärtige Diskurse findet Schelkle nicht – Jud ist für ihn vor allem „Kampfbrief “68 und „antihäretisches Flugblatt“69. Und schließlich liegen auch Schelkles Ausführungen zur Pseudepigraphie des 2 Petr auf der Linie seiner Positionierung im Zusageschreiben. Er notiert „nicht gewalttätig polternd, so doch klar“: 2 Petr muß offenbar als pseudepigraphische Schrift beurteilt werden. Ein Lehrer und Seelsorger der Kirche benützte zu Ende der apostolischen Zeit diese Literaturform, um die Kirche mit einem an die Allgemeinheit gerichteten Schreiben zu stärken. […] Da der Verfasser nichts anderes will, als die alte Lehre der Apostel für seine Zeit vernehmbar zu machen, getraut er sich, seinen Brief unter den Namen des ersten Apostels Petrus zu stellen […] So will der Brief offenbar machen, daß die apostolische Grundfeste, auf der die Kirche aufgebaut ist (Mt 16,18; Eph 2,20), nicht Vergangenheit, sondern immer wirkliche Gegenwart ist.70

Wenn Schelkle hier geschickt 2 Petr gerade mit dem kontroverstheologisch wie exegetisch heiklen Felsenwort in Mt 16 verknüpft, so ist die Rückbindung an rö67 68 69 70

Ebd., S. 250. Ebd., S. 137. Ebd. Ebd., S. 181. 191

misch-katholische Lektüreerwartungen nicht nur Strategie, sondern mindestens ebenso sehr authentischer Ausdruck der eigenen konfessionellen Beheimatung. Letzteres wird insbesondere dort deutlich, wo sich Schelkle mit der pointierten und wirkmächtigen Kritik des 2  Petr durch Ernst Käsemann (1906–1998) auseinandersetzt. 71 Die offene Flanke von Schelkles sorgsamer Interpretation des 2 Petr ist sicherlich die Frage nach den sogenannten Gegnern. Schelkle spricht noch ohne terminologische Reflexion von „Irrlehrern“ und deren „Häresie“, rückt die in 2 Petr und Jud bestrittenen Positionen allzu nah zusammen72 und hält sich auch dort, wo er mit der maßlosen Polemik des 2 Petr spürbar ringt,73 mit theologischer Sachkritik zurück. Hier benennt gegenwärtige Exegese stärker jene Aspekte des 2 Petr „that we must learn not to imitate“74 und versucht zudem zu begreifen, welche bibelhermeneutische Bedeutung der Stimme der Anderen zukommen kann, die in Texten wie 2 Petr 3,4 nachklingt.

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In dem durch Käsemann provozierten Exkurs „Spätapostolisches und frühkatholisches Zeugnis“ fragt Schelkle, Petrusbriefe/​Judasbrief, S. 245: „Ist es möglich, die wahre ntl. Botschaft auf die eine Stunde, ja den mathematischen Punkt etwa des Römerbriefes oder des (entmythologisierten) Johannesevangeliums zu begrenzen? In seiner Ganzheit ist das NT Zeugnis der umfassenden, d. h. katholischen, Wahrheit in der Fülle.“ Vgl. dazu unten Anmerkung 75. So in Schelkle, Petrusbriefe/​Judasbrief, S. 230: „Mit weithin gleichen Worten wenden sich Jud und 2 Petr gegen die Irrlehrer, die die Kirche zu verderben drohen. Man darf beide Briefe zusammenfassen, wenn man fragt, welcher Art jene Häresie war.“ Zum aktuellen Stand der Diskussion, die die Darstellung der gegnerischen Positionen in Jud und 2 Petr zuerst als Konstruktion der jeweiligen Verfasser begreift und zugleich beide Konflikte voneinander unterscheidet, vgl. umfassend Frey, Jörg: Autorfiktion und Gegnerbild im Judasbrief und im Zweiten Petrusbrief. In: Ders./​Herzer, Jens/​Janssen, Martina u. a. (Hg.): Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen, Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246). Tübingen 2009, S. 683–732. Schelkle, Petrusbriefe/​Judasbrief, S. 233: „Mit heftigen Anklagen, ja man muß wohl sagen bisweilen mit Verunglimpfungen und Beschimpfungen, suchen sie [sc. Jud und 2 Petr] die Gegner niederzuwerfen. […] Fast scheinen die Briefe zu vergessen, daß das Gericht Gottes ist. […] Die Texte, in denen die Auseinandersetzung in dieser Weise vollzogen wird, scheinen uns doch wohl manches Mal in ihrer Haltung aus dem NT herauszufallen.“ Frey, Jörg: Disparagement as Argument: The Polemical Use of Moral Language in Second Peter. In: Zimmermann, Ruben/​van der Watt, Jan G. (Hg.): Moral Language in the New Testament: The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings (WUNT II/​296). Tübingen 2010, S. 275–310, S. 310 (meine Hervorhebung). 192

4 Schluss Mit der Zusage, an einem erst in Planung befindlichen katholischen Kommentarprojekt mitzuwirken und die Auslegung der Petrusbriefe sowie des Judasbriefes zu übernehmen, ließ sich der junge Neutestamentler Karl Hermann Schelkle auf ein Abenteuer ein, dessen Ausgang er im November 1944 allerhöchstens erahnen konnte. Ungewiss musste ihm bleiben, ob sich ihm nach Ende des Krieges überhaupt die wirtschaftlichen und logistischen Möglichkeiten zur Realisierung des Vorhabens bieten würden, ungewiss auch, inwiefern seine wissenschaftlich verantwortete Positionierung zur Verfasserfrage des 2 Petr den kirchlichen Autoritäten als „tragbar“ erscheinen würde. Schelkles Mut wurde belohnt: Wenngleich seine Kommentierung mit einiger Verzögerung erschien und Herders theologischer Kommentar insgesamt unvollendet blieb – u. a. erschien zum „heißen Eisen“ Matthäusevangelium schlussendlich doch kein Kommentarband75 –, trug er entscheidend zur nachhaltigen Wirkung eines epochemachenden Projekts bei. Sein Kommentar erfuhr mehrere Auflagen, sah eine Übersetzung in das Italienische und blieb über Jahrzehnte das katholische Referenzwerk zu drei oftmals marginalisierten neutestamentlichen Texten. Vielleicht hätte es den Tübinger Exegeten auch gefreut zu sehen, dass mehr als ein halbes Jahrhundert später gerade die ihm besonders am Herzen liegende Berücksichtigung der Rezeptionsgeschichte76 zum „game-changer“77 avancieren und eine „New Perspective on Second Peter“ eröffnen würde. Im Rückblick erscheint

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Schnackenburg an Wikenhauser, 25. Juli 1953, UAF C 103/​28: „V[ögtle] ist der richtige Mann für Mt; nur soll er sich durch seinen ‚Menschensohn‘ u[nd] a[nderes] recht viel ‚kirchl[ichen]‘ Kredit schaffen und auch dann in der Formulierung vorsichtig sein; unser heutiger Mt, immer noch das ‚kirchl[iche]‘ und überaus geschätzte Ev[angelium], ist für uns ein heisses Eisen.“ Vgl. Grünstäudl, Wolfgang: Petrus Alexandrinus. Studien zum historischen und theologischen Ort des zweiten Petrusbriefes (WUNT II/​353). Tübingen 2013, S.  42–88, und die neue grundlegende Kommentierung durch Frey, Jörg: Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus (ThHK 15/​II). Leipzig 2015. Zur Rezeptionsgeschichte des 1 Petr vgl. nun Merkt, Andreas: 1. Petrusbrief. Teilband 1 (NTP 21/​1). Göttingen 2015. Nienhuis, David R.: 2 Peter, the Johannine Epistles, and the Authority of ‚Eyewitness‘ Apostolic Tradition. In: Frey, Jörg/​den Dulk, Matthijs/​van der Watt, Jan G. (Hg.): 2 Peter and the Apocalypse of Peter: Towards a New Perspective. Radboud Prestige Lectures by Jörg Frey (Biblical Interpretation Series 174). Leiden/​Boston 2019, S. 147–159, S. 147. 193

es jedenfalls beinahe verwunderlich, dass noch vor etwa 75 Jahren eine gehörige Portion Mut vonnöten war, um als katholischer Exeget 2  Petr einen pseudepigraphen Text zu nennen. Kann diese Verwunderung ein Hoffnungszeichen sein?

Zum Autor Er ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Biblische Theologie (Prof. Poplutz) in der Fachgruppe Katholische Theologie der Bergischen Universität Wuppertal. 2008–2013 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Biblische Theologie (Prof. Schiefer Ferrari) am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau). Veröffentlichungen insbesondere zu den Katholischen Briefen, der Entstehung des neutestamentlichen Kanons, dem Lukanischen Doppelwerk sowie einer disability-kritischen Lektüre des Neuen Testaments, zuletzt u. a. Gestörte Lektüre. Disability als Leitkategorie biblischer Exegese (hg. mit M. Schiefer Ferrari, 2012), Petrus Alexandrinus. Zum historischen und theologischen Ort des zweiten Petrusbriefs (2013) und Der zweite Petrusbrief und das Neue Testament (hg. mit U. Poplutz und T. Nicklas, 2017).

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Markus Schiefer Ferrari

Jesus der Jude – Ein Essay von Lou Andreas-Salomé In einer Zeit der zunehmenden Arisierung Jesu1 dürfte der 1896 in der Neuen deutschen Rundschau veröffentlichte „Versuch“ (frz. essai) der damals bereits bekannten und in jeder Hinsicht unabhängigen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861 St. Petersburg – 1937 Göttingen), über die besondere Bedeutung Jesu gerade in seinem Judesein nachzudenken, wenn überhaupt, als ebenso eigenwillig wie eigenständig wahrgenommen worden sein.2 (1) Kurze Zeit später führte der Essay auf kuriose Weise sogar zu einer amour fou zwischen der Autorin und dem fast fünfzehn Jahre jüngeren René Maria Rilke (1875 Prag – 1926 Montreux). (2)  Von der Religionswissenschaft Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wiederentdeckt, wurde der Aufsatz nun als Teil der „intimsten deutschen Geistesgeschichte“3 gefeiert. (3) Auch wenn der Titel Jesus der Jude heute – hoffentlich – als selbstverständliche Aussage erscheint und unhintergehbare Voraussetzungen unterstreicht,4 erweisen sich manche Überlegungen des Essays bei genauerer Betrachtung aus der Perspektive eines gegenwärtigen jüdisch-christlichen Dialogs5 allerdings als teilweise ambivalent.

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Vgl. Fenske, Wolfgang: Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2005, bes. S. 16–18; Heschel, Susannah: The Aryan Jesus. Christian theologians and the Bible in Nazi Germany. Princeton/​NJ u. a. 2008, bes. S. 38–44. Andreas-Salomé, Lou: Jesus der Jude. In: Neue Deutsche Rundschau 7 (1896), S. 343– 351, im Folgenden zitiert nach der Neuedition: Andreas-Salomé, Lou: „Von der Bestie bis zum Gott“. Aufsätze und Essays, Bd. 1: Religion, hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Rüdiger Schwab. Taching am See 2010, S. 169–184. Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionswissenschaft. Göttingen 1955, S. 19. Vgl. z. B. Pauly, Wolfgang: Der befreite Jesus. Unterwegs zum erwachsenen Christusglauben. Oberursel 2013, bes. S. 22–26 (Kapitel „Jesus – lebenslang Jude“). Vgl. z. B. Homolka, Walter/​Striet, Magnus: Christologie auf dem Prüfstand. Jesus der Jude – Christus der Erlöser. Freiburg i. Br./​Basel/​Wien 2019. 195

1) Meist findet der Essay Jesus der Jude in der (biographischen) Literatur über Lou Andreas-Salomé nur Erwähnung, um den denkwürdigen Beginn der vier Jahre andauernden und in eine lebenslange Freundschaft mündenden, intensiven Liebesbeziehung der bereits seit zehn Jahren verheirateten Frau6 zu Rilke zu markieren:7 Tiefbeeindruckt von der Lektüre ihres Essays wollte der 21-jährige Rilke, selbst ein recht ambitionierter, aber noch wenig erfolgreicher Schriftsteller, unbedingt die ungleich bedeutendere Verfasserin, etwa des Romans Ruth (1895), kennenlernen und schickte ihr daher, wie sie in ihren 1931 begonnenen Lebenserinnerungen erwähnt, zunächst anonym einige seiner Gedichte zu.8 In München, wo Rilke seit einem guten halben Jahr als Philosophiestudent an der Universität eingeschrieben war, wurden sie „anläßlich irgendeiner gemeinsamen Theaterverabredung“9 einander schließlich vorgestellt, und zwar von Jakob Wassermann, „dessen vortreffliches Werk ‚Die Juden von Zirndorf ‘“, wie Andreas-Salomé in diesem Zusammenhang erwähnt, „ihn bereits in allgemeine Beachtung stellte“10. Einen Tag später, am 13. Mai 1897, gestand Rilke ihr, gleichsam als seiner Muse,11 in einem ersten, nun auch mit seinem Namen unterzeichneten Brief12 seinen Enthusiasmus:

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Lou Andreas-Salomé heiratete 1887 den fast 15 Jahre älteren Orientalisten Friedrich Carl Andreas (1846 Batavia – 1930 Göttingen), allerdings unter der Bedingung, dass die Ehe nie sexuell vollzogen werde. Sexuelle Beziehungen zu anderen Männern konnten den „von ihr als schicksalhaft empfundenen Bund mit ihrem Mann“ nicht gefährden. „Ihre Liebe zu anderen Männern unterlag dem Wandel, die Liebe zu Andreas blieb konstant, zu ihm kehrte sie immer wieder zurück.“ (Wiesner-Bangard, Michaela/​ Welsch, Ursula: Lou Andreas-Salomé „… wie ich Dich liebe, Rätselleben“. Eine Biographie [Reclams Universal-Bibliothek 20039]. Leipzig 2002, S. 88.) Vgl. Wendt, Gunna: Lou Andreas-Salomé und Rilke – eine amour fou (insel taschenbuch, Bd.  3652). Berlin 42017, S.  10; Schilling, Erik: Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2015, S. 45–64, S. 59; Wiesner-Bangard/​Welsch: Lou Andreas-Salomé, S. 130. Vgl. Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen, aus dem Nachlass hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1968, S. 113. Ebd., S. 111. Ebd. Vgl. Unglaub, Erich: Die ältere Freundin als ‚femme inspiratrice‘ des Dichters. In: Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 22 (1999), S. 40–53, S. 51. Rilke schreibt an Andreas-Salomé in mehr als 20 Jahren 131 Briefe (vgl. Pelloni, Gabriella: „Ein Aufräumen bis weit ins Gemüth hinein“. Zum Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. In: Schiffermüller, Isolde/​Contern, Chiara 196

Gnädigste Frau, es war nicht die erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen verbringen durfte. Da gibts in meiner Erinnerung eine, die mich arg verlangen machte, Ihnen ins Auge zu sehen. Es war im Winter und mein ganzes Sinnen und Streben, das der Frühlingswind in tausend Weiten weht, war in die enge Stube und die stille Arbeit gezwängt. Da kam mir, von Dr. Conrad gesandt, das Aprilheft 96 der ‚Neuen Deutschen Rundschau‘. Ein Brief Conrads verwies mich auf einen drin befindlichen Essay ‚Jesus der Jude‘. Warum? Dr. Conrad hatte damals ein paar Theile meiner ‚Christus-Visionen‘ (fünf sollen demnächst in der ‚Gesellschaft‘ erscheinen) gelesen und muthmaßte, daß mich jene geistvolle Abhandlung interessiren dürfte. Er hat sich getäuscht. Nicht Interesse war es, was mich tiefer und tiefer in diese Offenbarung führte, ein gläubiges Vertrauen ging mir auf dem ernsten Weg voran, und endlich wars wie ein Jubel in mir, das, was meine Traumepen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft klar ausgesprochen zu finden. […] Mir war wie einem, dem große Träume in Erfüllung gehen mit ihrem Guten und Bösen; denn Ihr Essay verhielt sich zu meinen Gedichten wie Traum zu Wirklichkeit wie ein Wunsch zur Erfüllung.13

Auf Lou Andreas-Salomé wirkte Rainer, wie er sich auf ihren Vorschlag hin bald nennen sollte, dagegen „blutjung“ und keineswegs „als der zukunftsvoll große Dichter, der er werden sollte“ – „obwohl er schon verblüffend viel geschrieben und veröffentlicht hatte“ –, „sondern ganz von seiner menschlichen Sonderart aus“.14 Inwieweit der Essay Jesus der Jude Rilke tatsächlich in seinen zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Christus-Visionen beeinflusst hat, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet: Der Germanist Ernst Pfeiffer, ein Freund der späten Jahre und Nachlassverwalter15 von Lou Andreas-Salomé, bemerkt in dem von ihm herausgegebenen Briefwechsel dieses ungleichen Paares z. B.: „Rilkes phantasierte

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[Hg.]: Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Würzburg 2015, S. 105–124, S. 106f.). Rilke, Rainer Maria/​Andreas-Salomé, Lou: Briefwechsel, hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1975, S. 7. Andreas-Salomé: Lebensrückblick, S. 114. Vgl. z. B. Decker, Kerstin: Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 42011, S. 50. 197

Christusfigur hat mit dem geschichtlich gesehenen Jesus des Lou A.-S.-Aufsatzes nichts gemeinsam.“16 Versuche, etwa zwischen dem Essay und Judenfriedhof, einem der elf Traumepen, eine inhaltliche Nähe zu entdecken, scheitert nicht nur an Datierungsfragen, das Gedicht war wohl bereits geschrieben, bevor Rilke Jesus der Jude las, sondern auch an fehlenden unmittelbaren inhaltlichen Bezügen, die über Jesu Mensch- und Judesein hinausgehen.17 Die Begeisterung Rilkes über Lou Andreas-Salomés Essay erklärt sich möglicherweise daraus, sich als begnadeter Dichter und großer Künstler im religiösen Genie Jesus gespiegelt zu sehen und auf diese Weise auch widersprüchlich erscheinende Impulse in seinen Visionen deuten zu können, wenn Andreas-Salomé beispielsweise schreibt:18 Nun kann es sich aber ereignen, daß das, was ein religiöses Genie ganz heimlich und individuell in seinem Innern erlebt, […] sich den absolut adäquaten Ausdruck in Worten und Bildern schafft, so daß also, wie etwa in dem Werk eines Dichters dessen höchster künstlerischer Traum, der höchste religiöse Traum der Menschheit uns in seiner ganzen Vollendung gleichsam greifbar, plastisch geworden, entgegentritt. […] Denn das ist gerade die Art des wahrhaft naiven religiösen Genies, daß es sich bei seinem Schaffen von nichts bestimmen läßt als von dem, was ihm sein religiöser Genius einflüstert, daß es dagegen alle Erwägungen zweiten Ranges, alles was daneben Einfluß gewinnen will, ebenso rücksichtslos von sich weist, wie der große Künstler bei seinem Werk. Denen, die nach ihm kommen, überläßt das religiöse Genie es dann, seine Visionen in bessern Einklang zu bringen mit den Erfahrungen des Lebens und Verstandes.19

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Rilke/​Andreas-Salomé: Briefwechsel, S.  490; Pechota Vuilleumier, Cornelia: Heim und Unheimlichkeit bei Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Literarische Wechselwirkungen (Germanistische Texte und Studien, Bd. 85). Hildesheim u. a. 2010, S.  210–235 (Exkurs: Lou und Rilke zwischen Judentum und Christentum), S.  214, Anm. 802, erscheint diese Bemerkung Pfeiffers hingegen „unverständlich“. Vgl. Stapper, Norbert: Rainer Maria Rilkes Christus-Visionen. Poetische Bedeutungen und christopoetische Perspektiven. Ostfildern 2010, S. 436–440, bes. S. 437f.; vgl. auch ders.: Die „Christus-Visionen“ Rainer Maria Rilkes. In: Fischer, Norbert (Hg.): „Gott“ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Hamburg 2014, S. 135–160, S. 156, Anm. 2. Vgl. ebd., S. 439f. Andreas-Salomé: Jesus der Jude, S. 171f. 198

Über diese Parallelität zwischen der Existenz eines Künstlers und der eines religiösen Genies hinaus werden in der Literatur unter anderem auch „die lebensbejahenden Aspekte eines typisch jüdischen Menschen“ genannt, die Rilke am Jesusbild Andreas-Salomés angesprochen hätten, da Jesus aus ihrer Sicht „‚der schärfste Ausdruck des Judenthums selbst‘“ gewesen sei, „das keinen Jenseitsglauben brauche, so lange das Leben das Versprechen halte, das Gott gegeben habe“.20 2) Weitaus seltener als die Beziehung zwischen Andreas-Salomé und Rilke findet in der Literatur der eigentliche Inhalt des Essays Beachtung, und dann meist nur seine religionswissenschaftliche bzw. -psychologische Bedeutung, da sich Andreas-Salomé in ihrem Aufsatz zunächst nicht mit Jesus, sondern vor allem mit der Problematik der Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch auseinandersetzt bzw. die Reduzierung auf eine Seite dieses Prozesses moniert: Indem man vom Menschen ausgeht, anstatt wie einst von Gott, übersieht man fast unwillkürlich, daß das eigentliche religiöse Phänomen in der Tat erst gegeben ist in der Rückwirkung einer, gleichviel wie entstandenen, Gottheit auf den an sie glaubenden Menschen.21

Solche Überlegungen Andreas-Salomés veranlassen den großen Religionswissenschaftler Karl Kerényi knapp 60 Jahre später zur euphorischen Bemerkung, ihr Essay gehöre „zur intimsten deutschen Geistesgeschichte“22. Religionswissenschaft beginne „mit dem Befassen damit, was Lou Salomé die ‚Rückwirkung‘“23 nenne. Sie bezeichne genau die Grenze, „von der an Religionswissenschaft möglich ist, wo Religiöses bereits da ist, unreduzierbar in seiner Paradoxie, die eben darin besteht, daß Objekt und Subjekt, das sich offenbarende Göttliche und der schon durch die bloße Aufnahme daran mitschaffende Mensch, dabei mitwirken.“24

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Pechota Vuilleumier: Heim und Unheimlichkeit, S. 216, mit Bezug auf Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 176. Andreas-Salomé: Jesus der Jude, S. 169. Kerényi: Umgang mit Göttlichem, S. 19, erwähnt u. a. von Ernst Pfeiffer in: Rilke/​Andreas-Salomé: Briefwechsel, S. 491. Ebd. Ebd. 199

Lou Andreas-Salomé wendet sich mit ihrem Essay Jesus der Jude einmal mehr dem Thema zu, das sie ein Leben lang intensiv beschäftigt, nämlich der Frage nach Gott.25 Erwachsen andere große Themen aus der Philosophie, Literatur und Psychoanalyse, mit denen sie sich ebenfalls in zahlreichen Aufsätzen befasst, zumeist aus der Auseinandersetzung mit „ihr prägend verbundene[n] Gesprächspartner[n]“ wie neben Rainer Maria Rilke auch Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, so sind ihre Essays „zu Wesen, Erscheinungsformen und Problematik der Religion“ ihr „ureigenste[s] Thema“.26 „Immer handelt es sich um den Versuch, eigene Erfahrungen zu verstehen und darüber Rechenschaft abzulegen. Zugleich partizipiert sie auf bedeutsame Weise am Diskurs einer der tiefgreifendsten kulturellen Verschiebungen im Vorfeld der Moderne: der Abnahme normativer Bindungskraft des Glaubens an Gott.“27 Bereits in ihrer Kindheit und Jugend in St. Petersburg ringt Andreas-Salomé intensiv darum, an Gott zu glauben, und erfährt schließlich, dass ihr Gott entschwunden ist. Nach dem Austritt aus der protestantisch-reformierten Kirche und einem später im Roman Ruth verarbeiteten Jahr der intensiven Auseinandersetzung mit Pastor Hendrik Gillot (1836‒1916), der sie auf ihrer Gottsuche begleitet, entschließt sie sich gegen den Widerstand der Mutter – der Vater war kurz vorher verstorben –, ab Herbst 1880 für ein Studium der Theologie und Religionswissenschaft nach Zürich zu gehen, wo erstmals auch Frauen zugelassen sind.28 Auch wenn Andreas-Salomé über viele Jahre religionswissenschaftlich geschult ist, insbesondere durch den damals sehr bedeutenden freiprotestantischen Züricher Professor Biedermann, bei dem sie u. a. Dogmatik und allgemeine Religionsgeschichte hört, und durch „ihre Philosophen-Freunde Friedrich Nitzsche und Paul Rée, liefert [sie]“, wie Pechota Vuilleumier in ihrer 25

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Vgl. Schwab, Hans-Rüdiger: Mein Gott! Zu Lou Andreas-Salomés religionskundlichen Schriften. In: Andreas-Salomé: „Von der Bestie bis zum Gott“. Aufsätze und Essays, Bd. 1: Religion, hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Rüdiger Schwab. Taching am See 2010, S.  300–319, bes. S.  302; Wellnitz, Katrin: „Gottesschaffen“. Religionspsychologische und religionshistorische Betrachtung von Gottesvorstellungen im essayistischen Werk Lou Andreas-Salomés. In: Benert, Britta/​Weiershausen, Romana (Hg.): Lou Andreas-Salomé. Zwischenwege in der Moderne /​Sur les chemins de traverse de la modernité. Taching am See 2019, S. 139–169. Schwab: Mein Gott, S. 302. Ebd., S. 302f. Vgl. z. B. Salber, Linde: Lou Andreas-Salomé. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rowohlts Monographien, Bd. 463). Reinbek bei Hamburg 1990, S. 19–26. 200

Studie zur literarischen Wechselwirkung zwischen Andreas-Salomé und Rilke betont, „mit ihrer Interpretation des historischen Jesus tatsächlich einen beeindruckenden Beweis ihrer individuellen Denkfähigkeit, die Rilke mit Recht bewundert.“29 3) Im Gegensatz zu den beiden genannten Aspekten des Essays, nämlich Auslöser für eine intensive Liebesbeziehung gewesen zu sein und selbst anthropomorphe Gottesvorstellungen letztlich nur aus der Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch erklären zu können, finden die dezidierte Bezeichnung Jesu als Jude und seine Einordnung ins Judentum in der Literatur kaum Beachtung. Spätestens seit dem sogenannten Antisemitismusstreit (1879‒1881)30 und einer beginnenden Entjudaisierung Jesu31 dürfte es keineswegs mehr selbstverständlich gewesen sein, einen solchen Titel zu wählen – der sich im Übrigen erstmals bei Lou Andreas-Salomé und dann in vergleichbarer Form erst wieder ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts32 findet ‒, auch wenn man den Essay auf dem Hintergrund 29 30

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Pechota Vuilleumier: Heim und Unheimlichkeit, S. 214. Vgl. z. B. Homolka, Walter: Jesus von Nazareth im Spiegel jüdischer Forschung (Jüdische Miniaturen, Bd. 85). Berlin 42017, S. 59–69; vgl. in diesem Kontext u. a. den Skandal um das Bild „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ (1879) von Max Liebermann, das der Künstler auf Druck der Öffentlichkeit übermalen musste, weil er angeblich Jesus als „naseweisen Judenbengel“ dargestellt habe; vgl. u. a. Faas, Martin: Einführung. In: Ders. (Hg.): Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Berlin 2009, S. 9–11, S.  9; Frübis, Hildegard: Der ,Fall‘ Liebermann. Entangled histories – Antisemitismus und Antimoderne im Streit um das Gemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879). In: König, Mareike/​Schulz, Oliver (Hg.): Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive/​Nineteenth Century Anti-Semitism in International Perspective (Schriften aus der Max Weber Stiftung, Bd. 1). Göttingen 2019, S. 151–167. Vgl. Fenske: Wie Jesus zum „Arier“ wurde, S. 16–18; Leutzsch, Martin: Der Mythos vom arischen Jesus. In: Scherzberg, Lucia (Hg.) in Zusammenarbeit mit Werner Müller: Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus. Paderborn/​München/​Wien u. a. 2008, S. 173–186. Vgl. Michel, Otto: Jesus der Jude. In: Ristow Helmut/​Matthiae, Karl (Hg.): Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung. Berlin 1960, S. 310–316, der zwar „nach 1945 für eine neue deutsche Judaistik stand, […] seine braune Herkunft“ aber Zeit seines Lebens verschwieg (vgl. dazu z. B. Dachs, Gisela: Otto Michel. Freund der Juden? In: DIE ZEIT Nr. 4 vom 19. Januar 2012 [https://​www.zeit.de/​2012/​04/​Judaistik-Theologe-Michel/​komplettansicht] [Zugriff: 4. März 2020]); Mußner, Franz: Der ‚Jude‘ Jesus (1971). In: Ders.: Jesus von Na201

der jüdischen oder christlichen Leben-Jesu-Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu lesen sucht,33 und noch 1905 Julius Wellhausen (1844‒1918), ein protestantischer Theologe und Orientalist und einer der Begründer der historisch-kritischen Exegese, unmissverständlich formuliert: „Jesus war kein Christ, er war Jude.“34 Ob Lou Andreas-Salomé beispielsweise das dreibändige Werk Das Judentum und seine Geschichte von Abraham Geiger (1810–1874), einem deutschen Rabbiner und wichtigen Mitglied der Wissenschaft des Judentums, und seine Darstellung Jesu als Jude kannte, muss offen bleiben. „Geigers Entwurf von Jesus als Pharisäer und dem Christentum als Verrat an Jesu jüdischem Glauben“ sei, so Walter Homolka, für das moderne Judentum im 19.  Jahrhundert „zum beliebten Erklärungsmodell über die christlichen Ursprünge“ geworden und habe „zugleich eine Verteidigungsposition gegen die christliche Annahme [geliefert], dass das Judentum nur eine überlebte Form auf dem Weg zum Christentum sei.“35 Die Beschäftigung mit der zentralen Figur des Neuen Testaments sei für jüdische Rezipienten des 19.  Jahrhunderts aber nicht grundsätzlicher Natur gewesen, vielmehr sei es um eine „Heimholung Jesu“ in das Judentum gegangen, um Teilhabe an der allgemeinen Gesellschaft in einem „christlichen Staat“ „ohne Aufgabe der eigenen, der jüdischen Identität“ gewinnen zu können.36

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zareth im Umfeld Israels und der Urkirche (WUNT, Bd. 111). Tübingen 1999, S. 89–97, bes. S.  97, wo er u.  a. dafür plädiert, im Glaubensbekenntnis von Chalkedon Jesus als wahrhaft jüdischen Menschen, „vere homo judaeus“, zu begreifen (vgl. auch ders.: Jesus von Nazareth: Vere homo judaeus. In: Catholica 55 [2001], S. 200–207.). Vgl. Bosco, Lorella: „Wir haben Jesus gekreuzigt, […] aber ohne das wäre er nicht Jesus.“ Jesus in Jakob Wassermanns Roman „Die Juden von Zirndorf “. In: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für jüdische Studien e.V. o. Jg. (2015), Heft 21 (Themenheft: Jesus in den jüdischen Kulturen des 19. und 20.  Jahrhunderts), S.  105–121, S.  111f., die auf der Suche nach möglichen Vorbildern für die Jesus-Darstellung Wassermanns im Kapitel „Zeitgenössische Jesus-Deutungen in München um die Jahrhundertwende: Lou Andreas-Salomés ‚Jesus der Jude‘“ zunächst bei der Frage nach der „‚Heimholung Jesu‘ in das Judentum“ im Kontext der Entwicklung einer Wissenschaft des Judentums im 19.  Jahrhundert (Homolka, Walter: Jesus der Jude. Die jüdische Leben-Jesu-Forschung von Abraham Geiger bis Ernst Ludwig Ehrlich. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 60 [2008], Heft 1, S. 63–72, S. 64.) ansetzt. Wellhausen, Julius: Einleitung in die drei ersten Evangelien. Berlin 1905, S. 113. Homolka: Jesus von Nazareth im Spiegel jüdischer Forschung, S. 59. Ebd., S. 57f. 202

Denkbar wäre, dass Andreas-Salomé neben der jüdischen auch die christliche Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts kannte, insbesondere die romanhaft biographische Darstellung Das Leben Jesu von Ernest Renan (1823–1892), ein damals aufgrund seiner Popularität sehr einflussreiches Werk, das erstmals 1863 auf Französisch erschien. Renan stellt „Jesus als Jude in seiner zeitgenössischen Umgebungsgesellschaft“37 dar, betont aber zugleich sein „staunenswertes Genie“38. So habe Jesus die Beschränkungen seiner jüdischen Umgebung überwinden können und sei „durch eine irgendwie geartete Überschreitung der Grenzen seiner Herkunft fähig geworden, eine neue und vollkommenere Religion zu gründen.“39 Nach Einschätzung von Wolfgang Fenske werde Jesus bei Renan „rassisch zwar noch nicht eindeutig aus dem Judentum herausgehoben“, dennoch sei seine Darstellung schillernd und „theologisch und anthropologisch [werde] Jesu Gegnerschaft zu Juden so betont, dass Renan sagen konnte, Jesus sei nicht mehr Jude.“40 Ebenso wenig lässt sich sagen, inwieweit Andreas-Salomé im Kontext zunehmender antisemitischer Hetzkampagnen die erste Veröffentlichung mit dem Titel Jesus der Arier 1888 von Max F. Sebald wahrgenommen hat und eventuell mit dem Titel ihres eigenen Essays bewusst darauf reagiert haben könnte. Insbesondere der Bayreuther Kreis der Wagneranhänger um Hans von Wolzogen entwickelte ab 1881 die vielfach wiederholte absurde Standardargumentation, Galiläa sei schon immer mehrheitlich von Ariern besiedelt gewesen und daher seien „[d]ie Auskünfte der Evangelien über Jesu jüdische und auf die Dynastie Davids zurückgehende Herkunft […] nachträgliche Konstruktion“41. Vor allem im Johannesevangelium werde erkennbar, dass „[d]ie Polemik Jesu gegen das Judentum und seine Repräsentanten […] einen Wesensgegensatz [demonstriere], der als Rassen-

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Lenhart, Markus Helmut: Jesus als Jude bei Maurycy Gottlieb und Marc Chagall. In: PaRDeS.  Zeitschrift der Vereinigung für jüdische Studien e.V. o.Jg. (2015), Heft 21, S. 87–104, S. 89. Renan, Ernest: Das Leben Jesu. Berlin 41864, S. 168. Mendelsohn, Ezra: Max Liebermanns Zwölfjähriger Jesus im Tempel. Einige Anmerkungen zum historischen und kulturellen Kontext. In: Faas, Martin (Hg.): Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Berlin 2009, S. 103–131, S. 109. Fenske: Wie Jesus zum „Arier“ wurde, S. 72f.; Heschel: The Aryan Jesus, S. 33–38, bes. S. 33, betont dagegen deutlicher: „The vocabulary that proved indispensable to subsequent racialization of Jesus was provided primarily by the work of Renan.” Leutzsch: Der Mythos vom arischen Jesus, S. 176. 203

gegensatz erklärbar werde.“42 Denkbar wäre zum Beispiel, dass Andreas-Salomé bei ihrem Besuch der Uraufführung des Parsifal im Juli 188243 oder auch über Jakob Wassermann von dem Bayreuther Diskurs erfahren haben könnte, da dieser vorübergehend Sekretär beim Schriftsteller Ernst von Wolzogen44, dem Halbruder von Hans von Wolzogen, war. Auch wenn sich die beschriebenen Vermutungen nicht belegen lassen, so wird auf Grund verschiedener anderer Essays Lou Andreas-Salomés deutlich, wie interessiert und kritisch sie neue Publikationen aus der Leben-Jesu-Forschung und auch Kunstausstellungen zum Leben Jesu verfolgte. So zeigt sie sich beispielsweise in ihrem 1895 erschienen Aufsatz Vom Ursprung des Christentums über die 1894 im Pariser Palais Champ de Mars ausgestellten Bilder aus dem Leben Jesu des französischen Malers James Tissot sehr beeindruckt, nicht zuletzt deswegen, weil es diesem gelungen sei, Jesus nicht nur als „den milden, barmherzigen Lehrer der Menschen“, „sondern auch als das religiöse Genie“ zu erfassen.45 Die Frage, ob er Jesus authentisch als Jude darstellt, erörtert sie hingegen nicht. Ausgehend von den Bildern Tissots setzt sie sich in diesem Essay vor allem mit dem 1893 erschienen Buch Die evangelische Geschichte und der Ursprung des Christenthums auf Grund einer Kritik der Berichte über das Leiden und die Auferstehung Jesu von Wilhelm Brandt46 auseinander und lobt dessen Überlegenheit gegenüber „den bisherigen ‚Leben Jesu‘“ aufgrund „der vollkommenen Strenge und vollkommenen Unbefangenheit der Forschungsmethode“.47 Umgekehrt kann sie sich aber auch über Publikationen im Kontext der Leben-Jesu-Forschung sehr negativ äußern, wie ihr 42

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Ebd. Breit entfaltet findet sich diese Argumentation dann wenige Jahre nach dem Erscheinen des Essays von Andreas-Salomé 1899 in dem Buch „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, das Wilhelm II. so beeindruckte, dass er es „in jeder preußischen Schulbibliothek als Pflichtexemplar“ auflegen ließ (vgl. ebd., S. 176f.). Vgl. Salber: Lou Andreas-Salomé, S. 34f. Vgl. Bosco: Jesus in Jakob Wassermanns Roman, S. 112. Andreas-Salomé, Lou: Vom Ursprung des Christentums (1895). In: Dies.: „Von der Bestie bis zum Gott“. Aufsätze und Essays, Bd. 1: Religion, hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Rüdiger Schwab. Taching am See 2010, S. 185–195, bes. S. 186. Vgl. Brandt, August Johann Heinrich Wilhelm: Die evangelische Geschichte und der Ursprung des Christenthums auf Grund einer Kritik der Berichte über das Leiden und die Auferstehung Jesu. Leipzig 1893. Andreas-Salomé: Vom Ursprung des Christentums, S. 187. 204

Aufsatz Aus der Geschichte Gottes aus dem Jahr 1897 belegt, in dem sie bezüglich der Neuerscheinung Das Buch Jesus48 des damals viel gelesenen Schriftstellers Wolfgang Kirchbach nicht mit Kritik spart, wenn sie dem Autor beispielsweise vollkommene Willkür bei seiner Darstellung Jesu und „eine frappante Übereinstimmung zwischen dem so zugerichteten Bilde und dem heutigen religiösen Fühlen und modernen Denken“ vorwirft.49 Erwähnenswert in diesem Kontext ist zudem die „so gut wie bewiesen[e]“ Abstammung Lou Andreas-Salomés „von einer südfranzösischen Familie Salomé, die vom Judentum zum Protestantismus konvertierte und nach 1621 aus der Provence vertrieben wurde“50, und dass sich Lou Andreas-Salomé – „im Hinblick auf ihren schriftlichen Umgang mit der jüdischen Problematik“ – ihrer jüdischen Herkunft durchaus bewusst war.51 Obwohl sich der genaue Ursprung einzelner Argumente ihres Essays Jesus der Jude kaum bestimmen lassen dürfte, legt sich dennoch nahe, dass Lou Andreas-Salomé in ihrer durchaus eigenwilligen Darstellung mehr oder weniger bewusst Motive aus verschiedenen Strömungen ihrer Zeit aufgreift: Erörtert sie in ihrem Aufsatz, wie beschrieben, zunächst die allgemeine Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, wendet sie sich sehr bald dem Gedanken des religiösen Genies zu, in dem eine Religion ihren höchsten Ausdruck finde, etwa im „Vaterund Kindschaftsverhältnis, in welchem die Jesu-Lehre Gott und Welt in Einem Liebesbilde zusammenschloß“52. Hätten „religiöse Genies, wie auch Jesus eines war, etwas überaus Schlichtes und Kindliches“53, so werde der „beseligende[] Inhalt der ursprünglichen genialen Konzeption“ später gedeutet und münde durch „diese Einmischung des Verstandes“ in eine „blasse Philosophie“.54 Dass es gerade 48

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Kirchbach, Wolfgang: Das Buch Jesus. Die Urevangelien, neu nachgewiesen, neu übersetzt, geordnet und aus den Ursprachen erklärt. Berlin 1898. Andreas-Salomé, Lou: Aus der Geschichte Gottes (1897). In: Dies.: „Von der Bestie bis zum Gott“. Aufsätze und Essays, Bd. 1: Religion, hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Rüdiger Schwab. Taching am See 2010, S. 19–35, bes. S. 21. Pechota Vuilleumier: Heim und Unheimlichkeit, S. 211, mit Bezug auf Michaud, Stéphane: Lou Andreas-Salomé. L’alliée de la vie. Paris 2000, S. 25f., S. 346. Ebd., S. 210f., gegen Michaud: Lou Andreas-Salomé, S. 346. Andreas-Salomé: Jesus der Jude, S. 172. Ebd., S. 175. Ebd., S. 174. 205

Jesus gelungen sei, „seinen Gott so unvergleichlich zu schauen und zu gestalten“, hänge, so Lou Andreas-Salomé, „eng mit dem Charakter des gesamten Judentums zusammen“.55 Der Jude grübelte nicht über seinen Gott, er litt und lebte und fühlte. Gerade hierin erscheint Jesus als der schärfste Ausdruck des Judentums selbst, und keineswegs als dessen ‚Überwinder‘. Man vergleiche damit die Religionsentwicklung arischer Völker, die ja neben den Semiten den zweiten großen Religionsstamm der Vergangenheit darstellen. Daher bei den Juden die naive, hartnäckige Voraussetzung, daß jede Verheißung Gottes sich selbstverständlich schon auf Erden, im wirklichen Leben, auf das Unzweifelhafteste erfüllen müsse. Gewiß liegt ja hierin viel von dem kräftigen, auf das Irdische und Lebensvolle gerichteten Sinn aller semitischen Völker […].56

Bei der jüdischen Religion falle das besonders ins Auge, weil, „soweit man nicht eine ganz bestimmte Periode der Verknöcherung und des Gealtertseins dieser Religion darunter“ verstehe, „das Eingreifen Gottes unmittelbarer und irdischer“ erwartet werde und die „himmlischen Güter des Jenseits […] bei den Juden keine Rolle“ gespielt hätten.57 Der „Mangel des Jenseitsglaubens“ sei „ganz außerordentlich bezeichnend für die naive Festigkeit der jüdischen Religiosität“.58 So habe Jesus bis zuletzt an das Eingreifen Gottes und damit an die Vollendung seiner Mission und an einen politischen Sieg geglaubt.59 „In diesem Ende Jesu [sei] die Tragik des Judentums gleichsam persönlich zum Ausdruck gekommen“.60 Die jüdische Religion habe sich ihrem Schicksal ergeben, indem sie auf jede Weiterentwicklung verzichtete, zu ihrer heutigen Gestalt verknöcherte und innerlich abstarb. Aber da geschah vorher das höchst Merkwürdige und Geheimnisvolle: indem sie verblutete und starb, gab sie einer

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Ebd., S. 175f. Ebd., S. 176. Ebd. Ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 180. Ebd., S. 182. 206

jungen Weltreligion das Leben. Denn die ersten Auferstehungsberichte, diejenigen, aus denen plötzlich das Christentum hervorsprang, fallen noch gänzlich in den Bereich der jüdischen Religion.61

Während „Jenseitsglaube und Askese […] die Rettung der Alten Welt vor sich selbst“ darstellten und das eklektisch entstandene Christentum den „neuen Himmelsgott Jesus“ in seine Mitte gestellt habe, habe das Judentum „mit der Niederlage seines letzten Versuches“ geendet.62 Die Not der ratlos gewordenen Völker hat das Christentum in’s Leben gerufen, und weil sie dasselbe brauchten, haben sie sogar aus dem leidenden, geschmähten Märtyrer Jesus dessen strahlendsten Mittelpunkt zu machen verstanden: die mystische Verknüpfung der tiefsten Erniedrigung mit der höchsten Erhöhung. Damit lösten sie mit paradoxer Keckheit den tödlichen Widerspruch zwischen Leiden und Gerechtigkeit, an dem das Judentum zu Grunde ging; sie kehrten einfach die Rangordnung um, – die Letzten wurden die Ersten, und wenn [sic!] Gott liebte, den züchtigte er.63

Aus einer heutigen Sicht sind Andreas-Salomés Kontrastierung von Judentum und Christentum, vor allem ihre Vorstellung vom Ende des Judentums als Neubeginn des Christentums und ihre in diesem Zusammenhang verwendete Diktion als letztlich antijüdisch einzustufen, auch wenn sich darin in erster Linie der Zeitgeist des ausgehenden 19.  Jahrhunderts spiegelt und Andreas-Salomé, die zeitlebens dem Judentum und seinen Vertreterinnen und Vertretern besonders zugewandt war, etwa Sigmund Freud (1856–1939) oder Constantin Brunner (1862–1937), sich ohne Zweifel dessen nicht bewusst gewesen sein dürfte. Gleichzeitig bleibt anzuerkennen, dass sie Jesus ohne jede Einschränkung als Juden und nicht etwa als den Überwinder des Judentums darzustellen sucht. Indem sie in ihm ein religiöses Genie sieht, verwendet sie allerdings wiederum eine philosophische Kategorie ihrer Zeit, die in der Konsequenz zur Arisierung Jesu führte, da, wie Fenske 61 62 63

Ebd. Ebd., S. 182f. Ebd., S. 183f. 207

deutlich macht, gerade seine Genialität – in Kombination mit anderen rassischen Argumenten – zunehmend als Beleg für die Behauptung funktionalisiert wurde, Jesus „habe nicht Jude gewesen sein können“.64 Erstaunlicherweise wird die Ambivalenz dieser Aussagen Lou Andreas-Salomés in der Literatur nicht weiter erörtert. Wenn der Inhalt ihres Essays überhaupt näher betrachtet wird, bleibt letztlich unkommentiert, wie sie einerseits über den Menschen Jesus als „religiöses Genie“ und „schärfste[n] Ausdruck des Judentums“ sprechen kann, ihn andererseits aber als „neuen Himmelsgott“ und „strahlendsten Mittelpunkt“ eines jungen Christentums darstellt, dem die jüdische Religion – gleichsam parallel zum Tod Jesu und seiner Auferweckung ‒ „das Leben gab“, „indem sie [selbst] verblutete und starb“.65 Die Problematik, Jesus aufgrund neutestamentlicher Zeugnisse als Juden zu beschreiben, zugleich aber mit der Hervorhebung seiner Bedeutung für das Christentum das Judentum abzuwerten, ist heute aktueller denn je. So fragt aus jüdischer Sicht beispielsweise Walter Homolka nicht zu Unrecht, ob die Christen trotz […] vieler Erklärungen, noch mehr guter Absichten sowie der rapiden Zunahme christlich-jüdischer Veröffentlichungen […] wirklich bereit sind, die weitreichenden Konsequenzen der Gegenwart des Judentums im Christentum für die christliche Theologie zu akzeptieren. Auch moderne christliche Theologen stehen nämlich vor der Herausforderung, zu erklä-

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Fenske: Wie Jesus zum „Arier“ wurde, S. 30. Vgl. Pfeiffer in: Rilke/​Andreas-Salomé: Briefwechsel, S. 488–490; Pechota Vuilleumier: Heim und Unheimlichkeit, S. 210–235, bes. S. 214–219; Bosco: Jesus in Jakob Wassermanns Roman, S. 113–115, bes. S. 115, schreibt beispielsweise ohne weiteren Kommentar: „Jesu Tod bedeutet [nach Lou Andreas-Salomé] das Ende der jüdischen Religion und das gleichzeitige Entstehen einer neuen Weltreligion, des Christentums, das auf dem Boden des alten Judentums, jedoch unter dem starken Einfluss der heidnischen Kulte, sein ganzes Bestreben auf das Jenseits, auf das Himmelreich richtete. […] Andreas-Salomé unterscheidet zwischen einem ursprünglichen, welt- und erdverbundenen Judentum, dessen tiefster Ausdruck Jesu religiöses Genie gewesen sei, und dem Christentum und späteren Judentum, die – ihrer Vergeistigungstendenzen wegen – als Missdeutungen der konkreten, praxis-orientierten Religion, an die Jesus glaubte, verstanden werden können.“ 208

ren, wie Jesus etwas Neues stiften konnte, wenn sich für alles, was er gesagt und getan hat, jüdische Parallelen finden lassen.66

Versuche etwa, „das Innovative bei Jesus […] als eine ‚Revitalisierung‘ des Alten“ zu verstehen, würden Gefahr laufen, „das Judentum zu pathologisieren“.67 „Wenn man Jesus ein Mehr an Vitalität zuspricht, muss man dann nicht im Umkehrschluss seiner jüdischen Umwelt und dem sich daraus entwickelten Judentum Lebendigkeit absprechen?“68 Noch problematischer erscheint daher aus einer heutigen Perspektive, wenn Lou Andreas-Salomé Jesus als Genie innerhalb des Judentums beschreibt, mit dessen Tod jedoch auch die jüdische Religion endet und etwas völlig Neues entsteht. Positiv anzumerken ist aber, wie mehrfach erwähnt, dass sie Jesus gerade in ihrer Zeit als Juden darstellt. Entscheidende Herausforderung aus christlicher Sicht bleibt es hingegen, über Jesus als wahren Menschen und Juden zu sprechen und ihn ebenso als Christus zu bekennen, ohne damit die bleibende Bedeutung des Judentums, auch für das Christentum, in Frage zu stellen.

Zum Autor Studium der Katholischen Theologie und Mathematik für das Lehramt an Gymnasien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion über die Sprache des Leids in den paulinischen Peristasenkatalogen. Seit 2007 Professor für Katholische Theologie mit den Schwerpunkten Biblische Theologie, Exegese des Neuen Testaments und Bibeldidaktik an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Publikationen zur rezeptionsästhetischen Hermeneutik und Didaktik, kindertheologischen Bibellektüre und Dis/​ability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese.

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Homolka, Walter: Der historische Jesus aus jüdischer Sicht. In: Ders./​Striet, Magnus: Christologie auf dem Prüfstand. Jesus der Jude – Christus der Erlöser. Freiburg i. Br./​ Basel/​Wien 2019, S. 11–70, S. 67. Ebd. Ebd., S. 67. 209

Ulrich A. Wien

„Samaritergeist“ im Kontrast zum Nationalsozialismus. Eine homiletische Einrede von Viktor Glondys 1931 Bereits 1931 verband der Bischofsvikar Dr. Viktor Glondys eine grundsätzliche Analyse des Nationalsozialismus – konzentriert auf dessen ideologischen Kern – mit einer öffentlichkeitswirksamen prinzipiellen Abrechnung: „Aber als Christen können wir nicht zustimmen. In der Zustimmung läge die Preisgabe des Christentums. Das Christentum überwindet den Rassenhaß durch das Gebot der Nächstenliebe, über die Schranken der eigenen Rasse hinaus. Der Samariter hilft dem Juden.“ Glondys’ Kritik am Nationalsozialismus traf dessen rumäniendeutsche Vertreter, besonders die sie politisch dominierenden Siebenbürger Sachsen, tief ins Mark. Die Person von Glondys wurde zum Hassobjekt der rumäniendeutschen Nationalsozialisten. Deren Verhältnis zu ihm blieb auch nach Glondys’ Wahl zum Landesbischof der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien im November 1932 zerrüttet. Schließlich nötigten die Nationalsozialisten ihn 1940 zum Rücktritt.

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Fotografie von Dr. Viktor Glondys als Stadtpfarrer in Kronstadt durch den Kunstmaler Friedrich Mieß (Fotoarchiv: U. A. Wien).

Viktor Glondys – biographische Skizze Dr. D. Viktor Glondys (1882–1949)1 war im schlesischen Bielitz (polnisch BielskoBiała) geboren worden, zur evangelischen Konfession konvertiert und hatte nach einem Philosophie- und Theologie-Studium seine ersten Pfarramtsjahre in der habsburgischen Bukowina, zuletzt als lutherischer Stadtpfarrer im pluriethnischen und plurikonfessionellen Czernowitz (rumänisch Cernăuți; ukrainisch

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Beyer, Hans: Viktor Glondys (1882–1949). Ein Beitrag zur Geistes- und Kirchengeschichte des Südostdeutschtums zwischen den beiden Weltkriegen. In: Klein, K. K./​ Mayer, T./​Steinacker, H. (Hg.): Festschrift für Balduin Saria zum 70. Geburtstag, (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission, Bd. 11). München 1964, S. 408– 459; Wien, Ulrich A.: Art. Glondys, Viktor. In: RGG4 Bd. 3 (2000), Sp. 1010f; Ders.: Viktor Glondys. In: [https://​aksl.de/​wp-content/​uploads/​2018/​08/​Viktor-Glondys_​ V1.pdf] (Zugriff: 7. März 2020); Ders.: Christliche Theologie im Gegensatz zum Nationalsozialismus? Das Verhältnis von Kirche und Politik im Verständnis von Bischof Viktor Glondys. In: Pintilescu, Corneliu (Hg.): In honorem Vasile Ciobanu. Studii privind minoritatea germană din România în secolul XX /​ Studien über die Rumäniendeutschen im 20. Jahrhundert. Hermannstadt 2017, S. 149–171. 211

Чернівці Tscherniwzi)2 verbracht. Von dort war er im Ersten Weltkrieg zeitweise nach Österreich evakuiert gewesen. Nach der von Alexius Meinong (1853–1920) angeregten Promotion in Graz und der Rückkehr nach Czernowitz erlebte er dort den Zerfall der Habsburgermonarchie und die Eingliederung der Bukowina in das Königreich Rumänien. Organisatorisch schloss sich der Kirchenbezirk wie alle deutschsprachigen Protestanten der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien an.3 Daraufhin wurde Glondys 1922 zum evangelischen Hauptpfarrer an der Schwarzen Kirche in Kronstadt/​Siebenbürgen (mit rund 9000 siebenbürgisch-sächsischen Gemeindegliedern4) gewählt. 1930 übertrug ihm die Landeskirchenversammlung das Ehrenamt des Bischofsvikars. 1932 folgte er als Nichtsachse und zugleich als Repräsentant der angeschlossenen Kirchengebiete dem greisen Amtsinhaber Dr. Friedrich Teutsch (1852–1933) im Bischofsamt nach, scheiterte aber sowohl mit seiner Abgrenzungs- als auch mit seiner Integrations2

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Corbea-Hoișie, Andrei: Ein „österreichisches Jerusalem“. Überlegungen zur deutschsprachigen Kultur der Bukowiner Juden. In: Ders.: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittel(Ost)Europa. Wien/​Köln/​Weimar 2003, S. 29–41. Das Seniorat der Bukowina schloss sich vertraglich am 20. August 1921 an die Landeskirche an. Vgl. Hochmeister, Albert von: Die evang[elische] Kirche in der Bukowina. In: Die Evangelische Landeskirche A.  B. in Siebenbürgen mit den angeschlossenen evang[elischen] Kirchenverbänden Altrumänien, Banat, Beßarabien, Bukowina, Ungarisches Dekanat. FS Teutsch, hg. vom Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum an der Universität Marburg 1922. Jena 1923, S. 113–119, S. 114; Wien, Ulrich A./​Schwarz, Karl W. (Hg.): Die Kirchenordnungen der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen (1807–1997), unter Mitarbeit von Ernst Hofhansl und Berthold W. Köber (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens, Bd. 30). Köln/​Weimar/​Wien 2005, S. 264; Wien, Ulrich A.: Resonanz und Widerspruch. Von der siebenbürgischen Diaspora-Volkskirche zur Diaspora in Rumänien. Erlangen 2014, S. 72–88, S. 84. Vgl. auch die Rechts-Quelle: Gesetze und Verordnungen der evangelischen Landeskirche A. B. in Siebenbürgen 3. Hermannstadt 1922: Gesetz über den Anschluß der evang[elisch]-luth[erischen] Landeskirche Bessarabiens, der im Banater evang[elischen] Kirchenbezirk A. B. der evang[elischen] Landeskirche A.  B. in Siebenbürgen vereinigten Banater evang[elischen] Kirchengemeinden A. B. und der evang[elischen] Kirche in der Bukowina an die Evangelischen Landeskirche A. B. in Siebenbürgen sowie die Abänderung des Gesetzes über den Anschluss des Synodalverbandes der deutschen evang[elischen] Gemeinden an der untern Donau an die Evangelischen Landeskirche A. B. in Siebenbürgen, S. 7–9. Reichart, Johannes (Hg.): Das sächsische Burzenland einst und jetzt. Festschrift aus Anlaß der Tagung der 65. Hauptversammlung des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde und der 55. Hauptversammlung des Siebenbürgischen Gustav Adolf-Vereins vom 21. bis 24. August 1925 in Zeiden. Kronstadt 1925, S. 103. 212

strategie gegenüber den rumäniendeutschen Nationalsozialisten und wurde von diesen – wie erwähnt – an der Jahreswende 1940/​41 aus dem Amt gedrängt.

Gesellschaftliche, mentalitätsgeschichtliche, politische und ökonomische Verhältnisse der Zwischenkriegszeit in Rumänien Rumänische Truppen gliederten 1918 aus der Erbmasse des österreichisch-ungarischen Landimperiums einige Regionen5 an das Königreich Rumänien an, auch die Bukowina. Vor dem komplexen Hintergrund der Vielvölkerlandschaft Ostmitteleuropas sowie unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker entstand ein Landimperium im Miniaturformat, ein postimperialer, kompositer Staat,6 der achtgrößte in Europa. Der am 4. Juni 1920 unterzeichnete Vertrag von Trianon fixierte die (West)Grenzen des flächenmäßig auf die doppelte Größe angewachsenen Hohenzollern-regierten Königreichs. Eine (unzureichende) Landreform und ein allgemeines Wahlrecht entmachteten die adlige, ehemalige konservative Führungsschicht. Die alten Eliten und die fast homogen rurale, orthodox geprägte, weitgehend analphabetische bäuerliche rumänische Bevölkerung des „Altreichs“ waren mit den Herausforderungen der Transformation überfordert.7 Insbesondere die staatstragenden Eliten waren „verunsichert“, die nun „größeren und komplexeren Gesellschaften unter Kontrolle zu bringen.“8 5

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Aus dem Territorium Österreich-Ungarns stammten das rumänische Banat, Siebenbürgen, das Kreischgebiet mit der Maramuresch sowie die Bukowina; dazu wurden vom inzwischen bolschewistischen Russland das Gebiet Bessarabiens und von Bulgarien die Süd-Dobrudscha (1913 erworben, 1916 verloren und 1918 erneut) militärisch besetzt und angeschlossen. Zur ökonomischen Entwicklung fehlte Rumänien die Kraft; im bessarabischen Landesteil erinnerte „in vielerlei Hinsicht“ die Bukarester Herrschaftspraxis „an eine Besatzung durch eine fremde Macht“; vgl. dazu Brunnbauer Ulf/​ Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Stuttgart 2018, S. 228. Schmitt, Oliver Jens: Der Balkan im 20. Jahrhundert. Eine postimperiale Geschichte. Stuttgart 2019, S. 65. Wien, Ulrich A.: Die Evangelische Landeskirche A. B. in Siebenbürgen vor den Herausforderungen des vereinigten Rumäniens nach 1918. In: Chifar, Nicolae/​Pavel, Aurel (Hg): Teologi ardeleni și Marea Unire. Sibiu 2019, S. 43–71. Brunnbauer/​Buchenau: Geschichte Südosteuropas, S. 224. 213

Karte der politischen Verhältnisse Rumäniens zwischen 1878 und 1944 (Entwurf: Dr. U. A. Wien; Ausführung: J. Zwick) Vor allem beherrschte die ethnische Mehrheit der Rumänen eine latente Furcht vor Revisionen der den kühnsten nationalen Träumen entsprechenden Grenzen des Landes sowohl im Westen, Norden als auch Süden. Auch bestand vielfach eine Angst vor kultureller Überfremdung, was auf ein irritiertes Selbstbewusstsein bzw. Minderwertigkeitsgefühl aufgrund einer nur eingeschränkt abgelegten „Opfer“-Rolle im Selbstbild vieler Rumänen hinweist.9 Die Integration der angeschlossenen Gebiete sowie der Vielzahl von ethnischen und religiösen Minderheiten, insgesamt knapp 30 % der Gesamtbevölkerung (darunter rund 5 %, d. h. ca. 800 000  Deutsche), sollte in Umkehrung bisheriger ethnischer Dominanz mithilfe politischer, ökonomischer und kultureller Homogenisierung erfolgen, was im aufgeheizten nationalistischen Kontext zu reziproken Gegenreaktionen führte.10 Gewalt und Einschüchterung standen im rumänischen Alltag der Zwi9

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Mitu, Sorin: Die ethnische Identität der Siebenbürger Rumänen: eine Entstehungsgeschichte (Studia Transylvanica, Bd. 29). Köln/​Weimar/​Wien 2003; vgl. auch Wien, Ulrich A.: Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa – am Beispiel des Karpatenbogens. In: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 2020, S. 141–173, S. 156–157. Schmitt: Balkan, S. 76f. 214

schenkriegszeit auf der Tagesordnung: im Vorfeld von Wahlen, in der praktischen Administration, unter Studierenden, bei Arbeitern, bei Polizei und ständig ausgebautem Inlandsgeheimdienst – der einzigen effektiv arbeitenden Institution des Staates.11

Transformation unter den „Rumäniendeutschen“ Auch intern waren die historisch und mentalitätsmäßig sehr disparaten regionalen Gruppen der „Rumäniendeutschen“ weder eine homogene kulturelle, konfessionelle oder ökonomische Einheit, geschweige denn agierten sie – vor allem in den 1930er Jahren – politisch geschlossen. Nach dem endgültigen Verlust der mittelalterlichen Privilegien mitsamt dem bis dahin geschlossenen Rechtsraum der Sächsischen Nationsuniversität (1867/​1876) hatten die Siebenbürger Sachsen sich zunächst bemüht, die politischen und kirchlichen Amtsträger entweder in Personalunion zu wählen oder personell eng zu verzahnen. Nach dem als ‚völkisches‘ Desaster erlebten Ende des Ersten Weltkriegs erlitten die Siebenbürger Sachsen ökonomische Verluste aufgrund der politisch motivierten Land- sowie Währungsreform (einer faktischen Teilenteignung vor allem der schulerhaltenden Institution Kirche). Die daraus resultierende ökonomische und finanzielle Krise der Landeskirche und des mit ihr schon seit dem Spätmittelalter eng verbundenen bzw. von ihr getragenen, nach 1850 breit ausdiversifizierten deutschsprachigen Schulwesens führte zu binnenethnischen Konflikten und Unzufriedenheit mit den kirchlich-politischen Repräsentanten. Eine bis dahin unbekannte Abschwächung der kulturprotestantisch verstandenen Gruppensolidarität (basierend auf einer postulierten Deckungsgleichheit von religiösem und ethnischem Selbstverständnis12) sowie nachlassende Loyalität zur konservativen (Kirchen) 11

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Schmitt, Oliver Jens: Căpitan Codreanu: Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers. Wien 2016; Ders.: Balkan, S. 99f.; Kührer-Wielach, Florian: Siebenbürgen ohne Siebenbürger? Zentralstaatliche Integration und politischer Regionalismus nach dem Ersten Weltkrieg (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 153). München 2014. Wien, Ulrich A.: Von der „Volkskirche“ zur „Volksreligion“? Beobachtungen zur Entwicklung der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien von 1919 bis 1944. In: Revista Ecumenica Sibiu 4 (2012), S. 169–222; nachgedruckt in ders.: Resonanz und Widerspruch, S. 225–294, hier S. 237–241. 215

Elite ermöglichte die binnenethnische politische Fragmentierung und bereitete den Boden für die mit traditioneller Terminologie kaschierte NS-Ideologie vorwiegend unter den jüngeren Alterskohorten. Unter ihnen und im gesamten rumäniendeutschen Milieu erfolgte die breite Rezeption dieser NS-Variante nach 1933 und mündete schließlich in eine von der Volksdeutschen Mittelstelle und der SS gesteuerte, halbautonome „Deutsche Volksgruppe in Rumänien“ unter der Leitung des Leiters der NSDAP-Rumänien und „Volksgruppenführers“ Andreas Schmidt (1909–1947).

Antisemitismus Aufgrund der disparaten historischen Hintergründe der Regionen des erst 1918 vereinigten Gesamtrumäniens hatten deren jüdische Bevölkerungsgruppen unterschiedlich prekäre Rechtsverhältnisse erlebt. Außerhalb der Bukowina und Ungarns, wo ihre Emanzipation vollzogen worden war, hatten die Juden entweder in Russland (Bessarabien) bis zur Februarrevolution 1917 als rechtlos gegolten, oder sie wurden als Nichtchristen in den seit 1861 vereinigten Fürstentümern als staatenlose Fremde ohne Recht auf Bodenbesitz mit Beschränkung der Berufswahl behandelt – bis hin zu einem 1899 zum „Schutz der Rumänen“ erlassenen Gesetz, das mittellose Juden zwang, zu Fuß nach Westeuropa auszuwandern. Die Bedingung des Berliner Kongresses 1878, Rumäniens völkerrechtliche Anerkennung mit der Emanzipation der Juden zu verknüpfen, ist durch bewusste Agitation der Straße und Phlegmatismus bei der Einbürgerung systematisch hintertrieben worden. „Einbürgerungen mussten im Einzelverfahren von beiden Kammern des Parlaments beschlossen werden.“ Die meisten Anträge wurden „abgelehnt“.13 Die Juden blieben im Königreich Rumänien „peripherisiert“.14 Im Rumänien der Zwischenkriegszeit lebte die Minderheit der knapp 600000  Juden (4  % der Bevölkerung) in heterogenen regionalen Gruppen, darunter in Siebenbürgen eine seit dem 17. Jahrhundert

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Hausleitner, Mariana: Rumänien. In: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1 (Länder und Regionen). Berlin/​New York 2008, S. 290–298, S. 292. Schmitt: Balkan, S. 126. 216

zunächst nur am Residenzort Weißenburg (rum. Alba Iulia) geduldete, dann seit dem 19.  Jahrhundert aus dem Nordosten der Habsburgermonarchie aufgrund von Zuwanderung wachsende jüdische Bevölkerung. Im gesellschaftlichen und politischen Alltag des Landes waren judenfeindliche Stereotype verbreitet, nicht nur in der gesamtgesellschaftlich mehrheitlich rumänisch-orthodoxen Ethnie in Form eines christlichen Antijudaismus’, sondern – besonders als Antisemitismus (mit der gesamten Palette möglicher Vorurteile) – in unterschiedlichen Strömungen bzw. Parteien. Der Minderheitenschutzvertrag, der insbesondere die Emanzipation der Juden vorsah, musste 1919 dem rumänischen Staat als Voraussetzung aufgenötigt werden, denn ohne ihn hätte die Versailler Friedenskonferenz die Verdoppelung des Staatsgebiets nicht anerkannt. Die intellektuellen Eliten pflegten einen starken Antisemitismus. „Die rumänische Revolutionsfurcht vermengte Bolschewismus und Judentum und speiste einen virulenten Antisemitismus besonders der akademischen Jugend.“15 Gegenläufig zum Minderheitenschutzvertrag entstand 1923 die „Liga der National-Christlichen Verteidigung“, davon abgespalten 1927 die „Legion des Erzengel Michael“, ab 1930 „Eiserne Garde“ genannt, unter Corneliu Zelea Codreanu, der „Kerngestalt des politischen Orthodoxismus“16. Immer wieder kam es im ganzen Land zu antisemitischen Gewaltakten, wie überhaupt Gewalt ein Strukturphänomen des rumänischen Politikbetriebs der Zwischenkriegszeit darstellte.17 Eine auf nationalkonservativem, akademisch-antijüdischem Gedankenimport aus den Hörsälen des Deutschen Kaiserreichs beruhende Haltung kann man bei manchen Siebenbürger Sachsen und in Teilen der Evangelischen Landeskirche A.  B. in Rumänien nachweisen, in der Hauptstadtgemeinde Bukarest dagegen vor 1939 selten.18

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Ebd., S. 126f. Ebd., S. 129. Hausleitner: Rumänien, S. 294f. Wien, Ulrich A.: „Sachs halte Wacht!“ oder „Heim ins Reich“? Herausforderungen von Gemeinde und Kirchenbezirk Bukarest (Rumänien) in der Zwischenkriegszeit. In: Hermle, Siegfried (Hg.): Evangelische Deutsche im Ausland. Zwischen Nationalprotestantismus und Ökumene. Göttingen 2020 (im Druck). 217

Analyse der Predigt 1) Hermeneutisches Einverständnis Der Prediger beginnt („Das unverdorbene Gemüt“) mit einer psychologisierenden, zumindest suggestiven, tendenziell sogar vereinnahmenden Anfangspassage: zu beachten ist hierbei die gehäufte Verwendung von „wir/​uns“ (insgesamt 19mal). Damit teilt er die kulturprotestantische homiletische Tradition. Zugleich tritt indirekt die Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium“ und – damit verbunden – der Widerhall auf die Luther-Renaissance der 1920er Jahre zutage: Gemäß der in der Freiheitsschrift Martin Luthers (1483–1546) entwickelten Hermeneutik führt die Predigt des Evangeliums (wie auch des Gesetzes) zur Selbstprüfung und Selbsterkenntnis,19 treibt zunächst zur Verzweiflung an sich selbst und schließlich zur Einsicht, allein im Glauben als Vertrauen auf Gottes Gnadenhandeln in Jesus Christus die Gewissheit der unbedingten Barmherzigkeit Gottes und die Erlösung aus Versagen und Schuld zu erfahren. Mit dieser Verschränkung beider homiletischer Traditionen mobilisiert der Prediger sein Auditorium: Einerseits zielt er bei der Gemeinde auf eine Hermeneutik des Einverständnisses als Zustimmung zum Aussagegehalt der neutestamentlichen Perikope. Zugleich ruft er zur Entscheidung, ja, er übernimmt das homiletische Selbstverständnis des Predigers Martin Luther, den Predigtdienst auf der Kanzel als viva vox evangelii zu verstehen, Gottes Wort aktuell mitzuteilen, wenn Glondys ausführt: „so halte fest daran und glaube, dass in dieser Stimme Gott zu dir redet!“, allerdings leicht abgewandelt hier als testimonium internum [lat. inneres Zeugnis] identifiziert mit der sich „in deiner Seele“ erhebenden „Stimme“. An anderer Stelle kann er den ethischen Impuls bzw. „die Forderung der Samaritergeschichte“ als „Gottes Forderung“ bzw. als „oberste[n] Wertmaßstab“ bezeichnen, dem sich jegliche „Rassenselbstsucht“ zu unterwerfen habe.

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Luther, Martin: Von der Freyheyt eyniß Christen menschen (Wittenberg 1520): WA 7, S. 20–38, S. 22–24; übertragen von Dietrich Korsch. In: Deutsch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, hg. von Johannes Schilling. Leipzig 2012, S. 277–316, S. 284–287; Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, S. 283–294, S. 289. 218

Andererseits mobilisiert der Prediger die hörende Gemeinde nicht nur zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, sondern führt zur Entscheidung zugunsten einer dem Evangelium gemäßen Haltung, zu einem humanen, christlichen Lebensstil: Er bittet das Auditorium, sich „im Stillen“ die Frage zu beantworten, ob der Samariter „recht gehandelt“ habe, einem hilflosen Menschen, der sogar einem „fremden Glauben und einem fremden Volkstum, […] einem feindlichen Volke zugehört“, zu helfen. Über die psychologische Vereinnahmung hinaus („Wie stimmte doch unser Herz diesem Helfer zu, wie edel erschien uns sein hilfreiches, selbstloses Tun!“) nennt der Prediger einen weiteren Aspekt, eine das Einverständnis im Auditorium begründende Gemeinsamkeit: nämlich Verstand bzw. Wissen. Gottes Wort bzw. Evangelium und Vernunft werden hier analog zu Luthers Position 1521 auf dem Reichstag zu Worms als Maximen der Erkenntnis behandelt. Drei aufeinanderfolgende Sätze beginnt der Prediger mit „wir verstanden“, in denen die Stringenz und Konsequenz ethischen Handelns aus dem Glauben an das Evangelium heraus sowie in eschatologischem Horizont abgeleitet werden.20 Über die lutherische Vorstellung der wie selbstverständlich hervorwachsenden „Früchte des Glaubens“ hinaus rekurriert Glondys allerdings – ohne jedoch auf das (von ihm und der Gemeinde) selbstverständlich mitgedachte Konzept Kantischer Ethik ausdrücklich hinzuweisen – auf die in der Schlusspassage erwähnten „Pflichten in diesem Kampf, sofern wir Christen sein wollen“. Damit verquickt er den durch die Lutherrenaissance aufgekommenen Ansatz, die Praxis der Nächstenliebe unter der Voraussetzung simul iustus et peccator rein aus dem Glauben ans Evangelium der Rechtfertigung des Gottlosen zu begründen, mit der idealistischen, kulturprotestantischen Pflichtethik. Indem er das „Gebot, das in dem Samaritergleichnis liegt“ (Anfangspassage) gewissermaßen als „Forderung dieses Gleichnisses“ (Schluss) definiert, wird aus 20

Es handelt sich um den überführenden Charakter des Gesetzes (usus elenchticus legis), der dem Gläubigen vor Augen führt, dass die Ursünde keinen Rest zum Guten im Menschen übriggelassen hat, um dem Willen Gottes/​der Forderung des Gesetzes vom Ansatz her (nämlich ohne Egoismus in reinem Vertrauen: nuda fides) überhaupt entsprechen zu können. Diese Selbsterkenntnis aus Glauben, dass Gott „den Gottlosen gerecht macht“ (Röm 4,5) – also zunächst zur Verzweiflung über die konsequenterweise beim Jüngsten Gericht zu erwartende Verdammung treibt, eröffnet den Trost des Evangeliums, dass die passive Gerechtigkeit, in der Gott die über ihre Sünde erschrockenen Menschen barmherzig mit seiner Gerechtigkeit beschenkt und in einem fröhlichen Tausch ihnen das ewige Leben erworben hat und zueignet, ist die soteriologische Kernaussage. 219

der Verkündigung des Evangeliums – trotz der rhetorischen Sprachgewalt, stringenten und konsistenten Argumentation sowie der intellektuellen Brillanz – eine gesetzliche Rede. Statt eines Impulses zugunsten einer Ethik aus christlicher Freiheit verstrickt sich der Prediger im Gestrüpp ethischer Appelle: „Wir müssen unser Christentum durch die Tat bewähren [… und] Samariterwerke tun“. Der Prediger rekurriert auf das Selbstverständnis seines kulturprotestantisch geprägten Auditoriums, indem er dem idealistisch gesinnten Bildungsbürgertum in der Kronstädter Gemeinde nahelegt, dass Jesus und Goethe grundsätzlich dasselbe meinten. Jesus habe ausgedrückt, „was das unverdorbene Menschenherz als recht empfindet“, was international und jederzeit gültig sei: „wir wissen: so soll es sein!“ Damit korrespondiere Goethes Diktum: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, als „unmittelbar einleuchtende Wahrheit und Widerhall des Christusgeistes.“ – Wer hätte in seinem Auditorium wohl widersprochen? Rhetorisch korrespondiert mit dem Anfang die Schlusspassage, in der ebenfalls psychologisierend und ethisch mobilisierend die Gemeinde angesprochen und aufgefordert wird (insgesamt 21-mal „wir/​uns“). Gewissermaßen im Adhortativ, in einem Appell endet die Predigt: „Suchen wir unseren Samariterdienst und lassen wir die Samaritertat geschehen ohne Rücksicht auf Dank, lassen wir sie nicht halbe Tat sein, sondern womöglich ganze Hilfe in Befolgung des Wortes Jesu: ‚Gehe hin und tue desgleichen!‘“ Diese Haltung, dass „der Samaritergeist bei vielen unter uns lebendig ist“, konnte der Prediger zu diesem Zeitpunkt noch als fast selbstverständlich gültigen Lebensstil seiner von der liberalen Theologie zu altruistischer (binnenethnischer) Solidarität erzogenen Gemeinde voraussetzen. Sie darin angesichts zeitgenössischer philosophischer, kulturpessimistischer sowie politisch-ideologischer Herausforderungen zu bestärken, ja, sie dagegen zu immunisieren, war das Ziel seiner Predigt vom „Samaritergeist“.

2) Gegensatz eines „Rassekultus“ Sobald der Prediger die Gemeinde ‚im Stillen‘ hatte auf das testimonium internum hören lassen, nennt er den „Gegensatz eines Rassekultus“ sowie – gewissermaßen als Mode-Philosophen des Zeitgeistes – die zeitgenössisch relevanten Exponenten vielfältiger Gegenströmungen, die er als „Versuchung, uns an solchem Glauben irre 220

zu machen“, bezeichnet: Friedrich Nietzsche als Verächter christlicher Barmherzigkeit bzw. Oswald Spengler als Analytiker menschlicher „Raubtiernatur“. Dieser anthropologische Grundansatz setze anstelle sittlicher Forderungen und der Gebote Gottes die „Rasse als obersten Wert“, wonach christliche Ethik zu beurteilen sei. In die geistige Gefolgschaft dieser Denkart sortiert er nicht nur weite Kreise des deutschen Volkes ein, die sich von der „großen nationalsozialistischen Bewegung“ fasziniert zeigten, sondern diagnostiziert, dass diese auch „bei uns, vor allem in den Kreisen der Jugend, starken Widerhall findet.“ Nun beginnt Glondys eine auch rhetorisch als Meisterleistung zu bezeichnende, sich in einer Klimax ständig steigernde Widerlegung des von ihm diagnostizierten „schärfsten Rassenhasses“, die er schließlich nur als „groteske Verirrung“ qualifiziert. Bevor er allerdings dazu ansetzt, fügt er quasi als Marginalie eine – allerdings für ihn typische, den Samen für sein späteres Scheitern legende – captatio benevolentiae ein: „Wie wertvoll diese Bewegung als das große Erwachen völkischer Bewußtheit, völkischen Ehr- und Pflichtgefühls ist, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden.“ Als Repräsentant einer ethnischen wie religiösen Diaspora in einem vorwiegend nationalistisch-chauvinistischen Umfeld brachte Glondys eine zeittypisch selbstverständliche Grundhaltung zum Ausdruck. Er verwendet den Terminus „völkisch“ im Sinne einer ethnisch segmentären, nach innen geschlossenen, nach außen sich abgrenzenden Uniformität/​Identität im pluriethnischen Kontext. Die Formulierung war aber vor „alldeutscher“ Interpretation nicht gefeit und hätte somit einen hybriden Charakter tragen können, weswegen der Prediger auf eine weitere Behandlung des Themas bewusst verzichtete. Zwei Jahre später sah er sich als Bischof – angesichts einer nationalsozialistischen Mehrheit im siebenbürgisch-sächsischen Volksrat – genötigt, eine die komplexen Verhältnisse pragmatisch aufgreifende, politisch differenzierende Formel zu prägen, die sowohl eine Distanzierung beinhaltete als auch eine subjektiv eklektizistische Verhältnisbestimmung ausdrückte, um die geistige und politische Führung in seiner Person zu retten. Allerdings war diese semantisch nun absichtlich hybrid verwendete Formel nicht davor gefeit, als Zustimmung zum Nationalsozialismus ausgelegt werden zu können. Er sprach 1933 von der „friedlichen Durchdringung unseres Volkes mit den völkisch-sittlichen Kräften der Erneuerungsbewegung unter Vermeidung unnötiger staatspolitischer Belastung und wirtschaftlicher Gefährdung“21. 21

Verhandlungsbericht über die sechsunddreißigste Landeskirchenversammlung 1938. Hermannstadt 1939, S. 6. 221

In seiner Predigt über den „über die Grenzen des eigenen Volkstums und Glaubens sich auswirkenden Samaritergeist“ nimmt er gegen Tendenzen in der nationalsozialistischen Bewegung Stellung: Diese verliehen den „blutgegebenen Stimmen der nordischen Rasse“ Ausdruck und betrieben nicht nur die „Pflege des schärfsten Rassenhasses“, sondern drückten vorgeblich „germanische Charakterwerte“ aus, die rücksichtslos zur „Unterdrückung anderer Völker, die als minderwertig bezeichnet werden“, durchgesetzt würden, weil die nordische Rasse allein Gottes Ebenbild sei. Unzweideutig stellt Glondys fest: „Wo diese Haltung durchdringt, ist der Samaritergeist aufgehoben“. Zunächst weist er auf konkrete, zeitgenössische sozialdarwinistische Vorstellungen hin, die nicht nur – nach vermeintlich spartanischem Vorbild – Säuglingsauslese betreiben wollten. Darüber hinaus gehe mit dem „wahnsinnigen Einfall“ einer „Ausrottung des Schwachen“ auch der propagierte „groteske Gedanke“ einher, mit staatlicher sowie militärischer Unterstützung Behinderte zu vernichten. Überboten werde dies alles „folgerichtig“ noch durch den Vorschlag, Kriegsversehrte und Kriegskrüppel zu beseitigen. Diesen „wahnsinnigen Gedanken“, also die in der zeitgenössischen patriotischen Wertehierarchie hoch stehenden Veteranen und „Kriegshelden“, die einstigen Front-Kämpfer für das Vaterland zu nutzlosem Müll der Geschichte herabzustufen, referiert Glondys sicher mit der Absicht, in seinem Auditorium Entsetzen und Abscheu zu erregen. Glondys bezeichnet diese Vorstellungen als „groteske Verirrung“ und lehnt diese ab. In Umkehrung der abgelehnten Wertehierarchisierung müsse man diese Gedankenwelt „doch gegenüber dem christlichen Samariterideal als minderwertig, als beschränkte Rassenselbstsucht beurteilen, deren Sieg einen Rückfall auf eine tief unter dem christlichen Geist stehende Entwicklungsstufe bedeuten würde. In diesen zwei Standpunkten kämpfen nicht Juda und die nordische Rasse, sondern Gottes Forderung und menschliche Selbstsucht. Gegenüber Gottes Forderung darf sich nichts Menschliches, auch nicht eine Rasse, und sei sie noch so hoch stehend, begabt und wertvoll, erheben. Nicht die Rasse ist der oberste Wertmaßstab, sondern Gottes Forderung.“ Dem Prediger schwebte wohl vor, damit den Gotteswillen als Sündenspiegel einzusetzen (und zur Umkehr zu motivieren unter anderem mit einer Aversionen provozierenden Analogie: „Der Deutsche helfe dem Franzosen!“). Ob er sich der ambivalent zu beurteilenden Wirkung bei denen, die er „abgekanzelt“ hatte, bewusst war? Glondys vertrat nämlich seinerseits ein – zum Nationalsozialismus alternatives – kulturimperialistisches Denken, das sich als psychologischer und geistiger Dünkel 222

sowie als theologisches Überlegenheitsgefühl und christliches Sendungsbewusstsein manifestiert: eine geistig im 19. Jahrhundert verwurzelte Grundhaltung.

3) Samaritergeist als in der Offenbarung in Christus gründende Haltung und sich bewährende Gesinnung christlicher Ethik Glondys sieht die Konsequenzen aus dem Samaritergeist begründet in der Antwort „aus den Tiefen des Gewissens und des Glaubens“, die „zu der Forderung Christi ja sagen kann: Ja, Herr, ich glaube, daß dies auch meine Pflicht ist und daß mich von ihr nichts entbinden kann, weil darin der Wille Gottes geoffenbart ist […].“ Dies ist eine kosmologische Erkenntnis: „Das ist der Geist, den die Welt braucht“, womit er dann auch die Gestaltungskraft benennt, die die „Weltgeschicke“ prägt, denn „die Offenbarung in Christus allein kann der Menschheit wirklich vorwärts helfen“. Damit sind auch Gegenwartsfragen und politische Implikationen verbunden, „nicht nur internationale Hilfeleistungen“, sondern auch „Rechtsschutz der kleinen Völker und Minderheiten, der Schwachen“, aber auch die „schweren sozialen Fragen, die unsere Zeit bewegen“, für die der „Samaritergeist“ sensibilisiert. Die von Glondys auf christlichen Ursprung zurückgeführte „Menschheitidee“ sei ein „kühner Wurf “, ein relationaler Begriff, der unter Bedingungen kultureller Differenzen „eine Beziehung schafft, die über die Unterschiede hinaus greift“, und eine „Verbindung über alle Gott gegebenen Besonderheiten hinweg“ herstelle, die keine Utopie geblieben sei, sondern durch „die zahllosen Werke stiller Nächstenliebe und Fürsorge, die durch die christliche Geschichte leuchten“, die auch in der Gegenwart erfahrbar werde. Deshalb stehe der Samaritergeist „vor einer neuen Stufe seines Wirkens in der Welt“. Glondys zeichnet angesichts der Herausforderungen der Gegenwart (Weltwirtschaftskrise!) ein idealistisches, optimistisches Zukunftsmodell, ein Aufstiegsszenario, ein „Morgendämmern“ des transzendenten „Licht[s]“ und christlicher „Liebe“. Mit einigen eindrücklichen Beispielen untermauert der Prediger eine optimistische Stufentheorie menschlicher Entwicklung auf der Basis christlicher Ethik. Seine ansatzweise apokalyptisch-dualistische Theorie unterstellt, dass ein „Kampf gegen den Samaritergeist“ begonnen habe, allerdings das Christentum „jetzt zu einem Siegeszug“ ansetze. So behauptet er schließlich: „Kein wirklicher Christ kann zweifeln, wie die Entscheidung schließlich fallen muss. Wo könnte der Sieg sein, als allein beim Licht? Das Licht ist nicht der Hass, sondern die Liebe“. 223

Vor diesem Hintergrund greift der Prediger die in der Predigtmitte gelegte Spur auf, indem er betont, dass die ethische Resonanz auf die berechtigte „Forderung Christi“, in der der „Wille Gottes geoffenbart ist“, selbstverständlich „meine Pflicht“, also für jeden Christenmenschen zwingend notwendiges Tun sei. Dieser Gedanke trägt den Abschluss seiner Predigt: „Wir haben Pflichten in diesem Kampf, sofern wir Christen sein wollen. Sie sind uns im Samaritergleichnis gewiesen. Wir müssen unser Christentum durch die Tat bewähren. Als christliche Gemeinde müssen wir Samariterwerke tun und mithelfen, daß dieser Geist sich in der Welt immer mehr kundtue.“

4) Fazit Die aufgrund des begrenzten Umfangs hier abzubrechende Analyse zeigt einen Prediger der evangelischen Diaspora Ostmitteleuropas, der durch den deutschen Kulturprotestantismus des 19.  Jahrhunderts und die Lutherrenaissance der 1920er-Jahre geprägt war. Darin lagen einerseits seine durch den vom idealistischen Optimismus sowie kulturimperialistischen, christlichen Sendungsbewusstsein bestimmten Grenzen, andererseits aber auch das Resistenzpotenzial gegenüber übersteigertem Nationalismus, Rassismus sowie der (kulturpessimistischen) Idee des „Herrenmenschen“. Ein Antisemitismus lag ihm fern, selbst der theologische Antijudaismus des von ihm als Kontrastfolie zum modernen Humanismus herangezogenen israelitischen, alttestamentarischen Erwählungsgedankens scheint nur eine eher exegetische Randnotiz zu bilden. Entscheidend war allerdings die klare Abgrenzung des Predigers Viktor Glondys vom Rassismus bzw. „Rassenkultus“ als ideologischem Kern des deutschen Nationalsozialismus seiner Gegenwart. Hier hat er in klarer Analyse, stringenter Argumentation und rhetorischer Brillanz auf der Basis ausgezeichnet recherchierter und pointiert präsentierter Quellen eine konsistente und konsequente Darstellung der von ihm bekämpften Positionen vorgetragen. Sie erlaubte es ihm, die Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum herauszuarbeiten, und damit den Versuch zu unternehmen, seine Gemeinde gegen diese Gedankenwelt zu immunisieren. Die Tragik von Viktor Glondys lässt sich daran ablesen, dass diese von ihm prinzipiell vertretene Grundhaltung in zwei weiteren schriftlichen Äußerungen 224

von ihm wieder aufgegriffen22 und als Argumentationsbasis artikuliert wurde. Dies allerdings erst nach seinem Rücktritt vom Bischofsamt, nachdem er noch 1938 vor der Landeskirchenversammlung für die neu zu wählende, nunmehr absehbar mehrheitlich nationalsozialistisch zusammengesetzte Kirchenleitung im Landeskonsistorium als Ziel eine pragmatisch-kirchenpolitische Cohabitation mit den siebenbürgisch-sächsischen Nationalsozialisten anvisiert hatte. Vor diesem Auditorium plädierte er für eine Symbiose von Nationalsozialismus und Kirche als (auslandsdeutsches) Pilotprojekt – jenseits der zwischen ideologiehörigen, Hitler-gläubigen Deutschen Christen und Bekennender Kirche bestehenden Konfliktlage im reichsdeutschen „Kirchenkampf “. Damit hatte er in der aktuellen Situation von 1938 die von ihm selbst 1931 bereits prinzipiell analysierte Realität verdrängt, dass in der Zustimmung zum – den Nationalsozialismus kennzeichnenden – Rassismus „die Preisgabe des Christentums“ und dessen „Menschheitidee“ liegt.

Quellen-Anhang23: Viktor Glondys: Samaritergeist. Predigt des Stadtpfarrers D. Dr. Viktor G l o n d y s in Kronstadt am 6. September 1931 über Luk[as- Evangelium, Kapitel] 10, [Verse] 25–37. [In: Selbsthilfe. Kampfblatt für das ehrlich arbeitende Volk. Hermannstadt, 3. Gilbhart (Oktober) 1931 (10. Jahrgang, 28. Folge), S. 2f.] 22

23

Glondys, Viktor: Die Prophetie vom leidenden und erhöhten Gottesknecht, dokumentiert in: Wien, Ulrich A.: Theologie im Konflikt – Einspruch gegen den Antisemitismus in der Evang. Landeskirche A. B. in Rumänien 1943. In: Lutherische Kirche in der Welt 62 (2015), S. 189–221, S. 208–221; Ders: Nationalkirchlicher Angriff gegen das Dogma der evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien (masch. 1942). Hermannstadt 1944. Kurze Vorbemerkung zum Publikationsmedium: Die siebenbürgisch-sächsischen Nationalsozialisten gaben zumindest vor (um mögliche Denunziationsvorwürfe gegenüber Predigthörern auszuschließen?), dass erst die Nachricht über die von Dr. V. Glondys gehaltene Predigt in der rumänischen Tageszeitung Lupta (Licht) sie auf dieses Ereignis und den Inhalt aufmerksam gemacht hätte. Wie im Nachspann festgehalten, behielten sich die Herausgeber des in Hermannstadt i. d. R. wöchentlich er225

Das unverdorbene Gemüt stimmt, solange seine Stimme nicht durch allerlei „kluge“ Erwägungen übertönt wird, der Tat des barmherzigen Samariters innerlichst zu. Erinnern wir uns doch nur, wie uns zumute war, als wir diese Geschichte in unserer Kindheit zum erstenmal hörten; wie wir im Mitgefühl mit dem armen, halb tot geschlagenen Mann, der aus vielen Wunden blutend am Straßenrand lag, sehnsüchtig Hilfe erwartete; wie wir aufatmeten, als wir hörten, daß ein Priester nahte, und wie tief enttäuscht wir darüber waren, daß er weiter ging; desgleichen beim Leviten. Wir stellten uns vor, wie die Zeit verging, wie die Wunden des Schwermißhandelten weiter bluteten und der Tod immer näher rückte. Wissen wir noch, wie glücklich wir waren, als wir endlich hörten, daß der Samariter vom Maultier stieg, den Kranken wusch, verband, auf das Reittier setzte, ihn in die nächste Herberge brachte, alles, was für die Pflege des Verwundeten nötig war, anordnete und bezahlte, aber auch damit sich nicht begnügte, sondern versprach wiederzukommen, nach dem Kranken zu sehen und alles weitere Nötige zu leisten? Wie stimmte doch unser Herz diesem Helfer zu, wie edel erschien uns sein hilfreiches, selbstloses Tun! O, wir verstanden, daß Jesus zu den Schriftgelehrten sagte: „Gehe hin und tue desgleichen!“ Wir verstanden auch, daß dieses Wort nicht nur für die Schriftgelehrten galt, sondern auch für uns gelte; daß der Mensch überhaupt so handeln solle! Daß dies die Erfüllung des göttlichen Willens sei! Daß alle Religionen, alles beten, Herr-Herr-Sagen und alle Glaubensvorstellungen nichts wert seien, wenn nicht die Gesinnung des Samariters und ihre Bewährung in helfender Liebe vorhanden sei. Wir verstanden, daß neben das Gebot der Gottesliebe das der Nächstenliebe als gleichwertig zu stellen sei. Es war uns unmittelbar einleuchtend, warum Jesus in dem Bild vom Jüngsten Gericht Gott den Menschen danach urteilen läßt, ob dieser in seinem Leben hilfsbereit war, ob er die Hungrigen gespeist, die Durstigen getränkt, die Nackten gekleidet, die Traurigen getröstet hat. Jesus hat da etwas zum Ausdruck gebracht, was das unverdorbescheinenden nationalsozialistischen Blattes vor, sich damit auseinanderzusetzen. Dies entsprach wohl ihrer ursprünglichen Absicht, sich mit dem Inhalt polemisch zu befassen. Ohne Einverständnis des Bischofsvikars ist ein Abdruck nicht möglich gewesen, weswegen davon ausgegangen werden muss, dass Dr.  Glondys auf Nachfrage  –  und höchstwahrscheinlich unter der ihm zugesagten Bedingung einer ungekürzten Wiedergabe – seinen Text zur Veröffentlichung ausschließlich im Organ der ursprünglich als Bausparkasse begründeten und rasch nationalsozialistisch politisierten ‚Selbsthilfe‘ bereitgestellt hat. – Eine direkte Kontroverse unterblieb. 226

ne Menschenherz als recht empfindet. Das Gebot, das in dem Samaritergleichnis liegt, gilt ebenso für Chinesen und Neger wie für Juden und Abendländer, ebenso zur Zeit Jesu wie heute und zu allen Zeiten. Wir wissen: so soll es sein! Darum erscheint uns zum Beispiel Goethes Wort, wornach der Mensch edel, hilfreich und gut sein soll, weil dies allein ihn von allen Geschöpfen unterscheide, als unmittelbar einleuchtende Wahrheit und Widerhall des Christusgeistes. Und doch hat sich eine Bewegung gegen diesen barmherzigen, hilfsbereiten Samaritergeist zu erheben begonnen, der keine Schranken der nationalen oder konfessionellen Zugehörigkeit beachtet, sondern einfach hilft, wo Hilfe nottut. Ehe die Gegner zu Worte kommen, bitte ich jeden, in der Stille auf die Frage zu antworten: Hat der Samariter recht gehandelt, soll ein Mensch so handeln, auch wenn der Unglückliche, welcher der Hilfe bedarf, einem fremden Glauben und einem fremden Volkstum, ja auch dann, wenn er einem feindlichen Volke zugehört? Oder haben der Hohepriester und der Levit recht gehandelt? Wenn sich in deiner Seele eine Stimme gegen das Verhalten des Priesters und Leviten erhebt und dem Samariter zustimmt, so halte fest daran und glaube, daß in dieser Stimme Gott zu dir redet! In unserer Zeit gibt es viel Versuchung, uns an solchem Glauben irre zu machen, denn gegen diese christliche Verkündigung des über alle Grenzen des eigenen Volkstums und Glaubens hinaus geltenden Gebotes der Nächstenliebe wird leidenschaftlich Sturm gelaufen. Nietzsche hat damit begonnen, die christliche Barmherzigkeit und alles Mitleid verächtlich zu machen. Er hat einen neuen Sprecher für unser Geschlecht in O. Spengler erhalten, der in seinem neuesten Werk „Der Mensch und die Technik“ die Raubtiernatur des Menschen als das Wertvollste, als das eigentliche Adelszeichen des Menschen beurteilt. Der Raubtiernatur entspricht nicht Samaritertat, sondern das Vernichten. Die Gegenbewegung ist aber keineswegs auf diese Kulturphilosophen und ihre Anhänger beschränkt geblieben. Die christliche Forderung einer Verbundenheit allgemein menschlicher Art, die sich nicht durch Schranken des Volkstums oder Glaubens begrenzen läßt, stößt auf den Gegensatz eines Rassekultus, der nicht sittliche Forderungen, nicht Gottes Gebote, sondern die Rasse als obersten Wert setzt. Was ihr dient, ist gut. Darnach seien auch die Forderungen des Christentums zu beurteilen. Diese Anschauung hat sich in weiten Kreisen auch des deutschen Volkes durchgesetzt, besonders in den zu lebendigem völkischem Bewußtsein erwachten, so namentlich in der großen nationalsozialistischen Bewegung, die ja auch bei uns, 227

vor allem in den Kreisen der Jugend, starken Widerhall findet. Wie wertvoll diese Bewegung als das große Erwachen völkischer Bewußtheit, völkischen Ehr- und Pflichtgefühls ist, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Aber gerade darum muß gegen Veränderungen, welche in diese Bewegung hineingetragen werden, umso klarer Stellung genommen werden. Wir können es nur als eine Verirrung bezeichnen, wenn zum Beispiel das christliche Gebot der Nächstenliebe, wie es in dem über die Grenzen des eigenen Volkstums und Glaubens sich auswirkenden Samaritergeist vor uns steht, als mit den Belangen des deutschen Volkes unverträglich, den blutgegebenen Stimmen der nordischen Rasse widersprechend abgelehnt und an die Stelle der Nächstenliebe die Berechtigung, ja Pflege des schärfsten Rassenhasses gesetzt wird. Die germanischen Charakterwerte seien, so wird gesagt, „das Ewige, wornach sich alles andere einzustellen habe“. Die nordische Rasse allein sei Gottes Ebenbild. Ihre Bestimmung zum Herrschen müsse rücksichtslos, auch mit Unterdrückung anderer Völker, die als minderwertig bezeichnet werden, durchgesetzt werden. Nichts dürfe geduldet werden, was diesem Anspruch entgegenstehe, auch nicht die Forderung der christlichen Nächstenliebe. Der tiefe Rassenhaß, der aus dem rassenmäßig bestimmten Blut sich erhebt, sei dem feindlichen Volk gegenüber allein am Platz. Versöhnlichkeit sei Feigheit. Wo diese Haltung durchdringt, ist der Samaritergeist aufgehoben, die Grundlage zu der Tat, der wir im Stillen so zustimmen, zerschlagen. Zu welchen ungeheuerlichen Verirrungen man schließlich gelangt, wenn man mit dem Rassekultus vollen Ernst macht und, um der Aufzucht der Rasse zu dienen, die letzten Folgerungen zieht, zeigen die Ausführungen eines in besonderer Weise betonten Führers im Bereiche dieser Bewegung, wornach wir durch Pflege des Kranken und Schwachen den natürlichen Ausleseprozeß abschneiden, anstatt uns zu verhalten wie etwa Sparta, das das Lebensschwache vernichtet hat. Was sollen wir dazu sagen, wenn von solcher Stelle aus sogar mit der Erwägung gespielt wird, ob es nicht vielleicht am Ende eine Kraftsteigerung des deutschen Volkes wäre, wenn es von einer Million jährlich geborener Kinder etwa 7–800 000 der schwächsten beseitige?! Derartige Gedankengänge können sich schließlich bis zu dem wahnsinnigen Einfall steigern, daß man mit solcher Ausrottung des Schwachen wirklich ernst machen solle, und es konnte geschehen, daß von einer Seite sogar der groteske Gedanke geäußert wurde, daß der Staat für die Vernichtung aller „Schwächlinge und Kränklinge“ sorgen solle. Durch ärztliche Kontrollkommissionen solle von 228

Ort zu Ort der Gesundheitszustand des Volkes festgestellt und alles Schwache und Kranke, das die Rasse erblich belasten könne, sofort ausgerottet werden. Den ärztlichen Kommissionen sollten hierzu militärische Gewaltmittel zur Verfügung stehen, um die Vernichtung der Kranken auch gegen deren Willen, wie es naiverweise heißt, streng durchzuführen. Eine Ausnahme solle selbst die im Kriege erworbene Schwäche, Krankhaftigkeit oder Verkrüppelung nicht machen! Bis zu solchen wahnsinnigen Gedanken kann sich der Mensch versteigen, wenn er einmal anstelle des göttlichen Gebotes einen Götzen setzt, sei es auch die Liebe zur eigenen Rasse. Aber wir sehen von dieser grotesken Verirrung, die allerdings durchaus folgerichtig ist, ab und bleiben bei der Auseinandersetzung mit der Ablehnung des auch dem Feinde gegenüber geforderten Samaritergeistes. Wohl verstehen wir solche geistige Strömungen. Sie sind aus der großen Not des deutschen Volkes begreiflich. Es ist verständlich, daß in einem Volk in dieser Lage, das von aller Welt getreten und ausgeplündert wird, derartige Gedanken auch auftauchen können. Aber als Christen können wir nicht zustimmen. In der Zustimmung läge die Preisgabe des Christentums. Das Christentum überwindet den Rassenhaß durch das Gebot der Nächstenliebe, über die Schranken der eigenen Rasse hinaus. Der Samariter hilft dem Juden. Freilich, wenn man nun folgerichtig weitergeht und sagt: der Deutsche helfe dem Franzosen! – fühlen wir, wie sich eine mächtige Gefühlswoge gegen solche Forderung des Christentums in uns erhebt, und wir verstehen die Frage, ob man da nicht das ganze Christentum abzulehnen berechtigt sei, wenn es solches gebiete. Dies ist die Frage, auf die jeder für sich die Antwort finden muß. Sie wird vielleicht erleichtert, wenn wir bestimmte Fälle vergegenwärtigen. Als in der Nachkriegszeit Hunderttausende Kinder der Mittelmächte hungerten und an Unterernährung teils zugrundegingen, teils zu verkümmern drohten, regte sich in Schweden, Holland, in der Schweiz und auch anderwärts der Samaritergeist über die Grenzen der eigenen Nation und über die Staatsgrenzen hinweg. Ungezählte Kinder aus den notleidenden Staaten wurden aufgenommen, monatelang aufgenährt und auf diese Weise gerettet. Viele Beziehungen von Mensch zu Mensch wurden über Volks- und Staatsgrenzen hinweg für die Dauer geschaffen. Aus dem feindlichen Amerika wurde eine großzügige Hilfeleistung ins [S.  3] Werk gesetzt, Hoovers Name bleibt mit ihr für immerwährende Zeiten verbunden. War das recht gehandelt, oder wäre es richtiger gewesen, wenn jene Völker sich nur 229

um sich selbst gekümmert und in Gleichgültigkeit gegen fremdvölkische Not sich verschlossen hätten, wenn die Amerikaner als feindliche Nation im Haß beharrt hätten? Jetzt stehen wir unter dem Eindruck des entsetzlichen Unglücks, das über China hereingebrochen ist, wo nach den letzten Nachrichten etwa 2  Millionen Menschen der Katastrophe zum Opfer gefallen sind und vielleicht 100 Millionen Menschen vom Hunger und von Seuchen bedroht sind, die das Land durchwüten. Hat jene amerikanische Schar, welche, vielfach wohl unter großem persönlichen Einsatz, Lebensmittel, Kleidungsstücke und Arzneien verteilt und einer fremden Rasse hilft, recht oder wäre es entsprechender, sich auf den Standpunkt des Rassenhasses zu stellen und die Unglücklichen kalt sich selber zu überlassen? Daß die Forderung der Samaritergeschichte hoch über jeder kleinlichen Selbstsucht einer ausschließlich auf sich bedachten, durch fremde Not unberührt bleibenden Rasse besteht, wird jedem evangelischen Christen, aber doch nicht nur diesem, sondern, wie mir scheint, jedem wirklichen „Menschen“ ausgemacht erscheinen. So sehr man aus der besonderen Lage des deutschen Volkes die erwähnten Strömungen verstehen kann, so sehr muß man sie doch gegenüber dem christlichen Samariterideal als minderwertig, als beschränkte Rassenselbstsucht beurteilen, deren Sieg einen Rückfall auf eine tief unter dem christlichen Geist stehende Entwicklungsstufe bedeuten würde. In diesen zwei Standpunkten kämpfen nicht Juda und die nordische Rasse, sondern Gottes Forderung und menschliche Selbstsucht. Gegenüber Gottes Forderung darf sich nichts Menschliches, auch nicht eine Rasse, und sei sie noch so hochstehend, begabt und wertvoll, erheben. Nicht die Rasse ist der oberste Wertmaßstab, sondern Gottes Forderung. Und die Rasse hat nicht Gottes Forderung richtigzustellen, sondern sie hat sich selbst zu verbessern, indem sie sich Gottes Forderungen unterwirft und so auf eine reinere, aus dem Tierhaften, Naturgegebenen erhobene Stufe führen läßt. Gott erzieht oft unter Leid und Kummer ein Menschenherz zu der Erkenntnis, daß das Tiefste und Höchste, was im Menschenleben verwirklicht werden kann, gerade der Samaritergeist ist, der für fremdes Leiden Verständnis und Mitgefühl hat und bereit ist, zu lindern und zu helfen. Ohne solche Erfahrungen bleibt der Mensch nur zu leicht gleichgültig, verschlossen; es langweilt ihn, von fremder Not zu hören. Wie sehr aber muß jeder das Bedürfnis haben, Mitmenschen zu helfen, im Leben Gutes zu tun, den Gott aus Leid zur Freude geführt hat! Solche Menschen, wenn sie nicht ganz oberflächlich sind, wissen, wie sie sich zu entscheiden 230

haben, wenn sie vor der Frage stehen, ob der Samaritergeist gelten oder die kalte, unberührte, erbarmungslose Gleichgültigkeit herrschen solle. Soviel zur Frage nach der Berechtigung der Forderung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Wir sehen, daß die letzte Antwort auf diese Frage aus den Tiefen des Gewissens und des Glaubens kommt, der zu der Forderung Christi ja sagen kann: Ja, Herr, ich glaube, daß dies auch meine Pflicht ist, und daß mich von ihr nichts entbinden kann, weil darin der Wille Gottes geoffenbart ist. [Fortsetzung in: Selbsthilfe, 10. Gilbhart (Oktober) 1931 (10. Jahrgang, 29. Folge), S. 2.] Nun ein Blick auf die Bedeutung dieser Forderung für unsere Welt. Wir wissen alle von der tiefen Not, in welche die Menschheit steht. Woher kommt sie im letzten Ende? Kommt sie nicht daher, daß der Menschheit der Samaritergeist fehlt? Nur ein Beispiel aus dem trüben Chaos sei herausgegriffen: Wie ist es möglich, dass Hunderttausende Tonnen Lebensmittel vernichtet werden, während in anderen Teilen der Erde Millionen Menschen in jammervollster Not verkommen? Warum schenkt man nicht lieber die Lebensmittel den Hungernden, anstatt sie zu vernichten? Die Antwort lautet: Damit die Gewinnmöglichkeiten nicht durch ein Sinken der Preise herabgesetzt werden. O, ich weiß sehr wohl, daß auch ein Sinken der Preise ein ganzes Heer von Schwierigkeiten im Gefolge hat. Aber da stimmt doch etwas nicht, wenn die Menschheit Millionen aus ihrer Mitte verhungern läßt, obwohl zu viel Lebensmittel da sind. Es geht doch nicht an, einfach zu sagen, daß dies nach der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft so sein müsse. Natürlich, solange die jetzige Grundhaltung der Menschen besteht: Nicht den Samaritersinn, sondern Gewinnmöglichkeiten entscheiden zu lassen. Und so fallen auch sonst die großen Entscheidungen, in welchen die Schicksale ganzer Völker bestimmt werden. Der Sieg der christlichen Menschheitidee müsste alles von Grund aus ändern. Die Offenbarung in Christus allein kann der Menschheit wirklich vorwärts helfen. Sonst ist keine „Konzeption“ da, die so umfassend, so von Grund aus, weil aus innersten Quellgründen her, die Weltgeschicke umgestalten könnte. Das ist der Geist, den die Welt braucht. Nicht der hochmütige Geist des Rassenkultus und des Rassenhasses, nicht die kalte Selbstsucht als entscheidende Triebfeder kann der Welt helfen, sondern Christus! Nicht nur internationale Hilfeleistungen, wie sie vorher erwähnt wurden, gehören hieher, sondern auch der Rechtsschutz der kleinen Völker und Minderheiten, der Schwachen, die vielfach unter die Räuber 231

gefallen sind. Hieher gehören aber auch die schweren sozialen Fragen, die unsere Zeit bewegen. Für diese Fragen gewinnt ein Herz, wer Samaritergeist hat. Der Begriff „Menschheit“ ist christlichen Ursprungs, ein kühner Wurf, der alle Menschen umfaßt. Weder die Heiden brachten es bis zu diesem umfassenden Gedanken, noch auch das alte Testament, denn der Begriff Menschheit ruht auf dem Gedanken allgemein menschlicher Gemeinschaft. Die Heiden, Araber und Juden kannten nur Völker, unter denen das eigene Volk als das auserwählte, die andern mehr oder minder verächtlich erschienen. In diesem gewaltigen Gedanken des Christentums liegt nicht eine Gleichmacherei, als gäbe es da keine Unterschiede in urtümlichen Besonderheiten und im Wert der Rassen; auch nicht eine Gleichmacherei innerhalb derselben Rasse im Sinne jener Egalité (Gleichheit) der französischen Revolution. Der Samariter, der dem Juden hilft, wird dadurch kein Jude; und der Jude, dem geholfen wird, wird kein Samariter. Aber zwischen ihnen ist etwas wirksam, das eine Beziehung schafft, die über die Unterschiede hinaus greift und sie mit einander von Mensch zu Mensch verbindet. Der Einwand, das Christentum wolle mit seiner Nächstenliebe und der aus christlicher Liebe geborenen Menschheitidee die Unterschiede zwischen den Menschen und Völkern auslöschen, ist also völlig unbegründet. Aber jene Verbindung über alle Gott gegebenen Besonderheiten hinweg, die in unserer Geschichte zwischen dem Samariter und dem Juden besteht, will das Christentum allerdings und will damit wohl das Größte, das für die Beziehung zwischen Menschen und Völkern gewollt werden kann. Ist dies eine Utopie, also ein Gedanke, der für die Welt nie praktische Bedeutung erlangen kann? Wir sahen an den angeführten Beispielen verschiedener über Volks- und Staatsgrenzen hinausgehenden Hilfeleistungen, daß dieser Geist durchaus lebendig vorhanden ist, wenn auch die große Mehrheit von ihm noch nicht ergriffen sein mag. Er hat im Kleinen mit den Hilfeleistungen der ersten Christen untereinander und an den fremden Kranken, auch an Feinden in der Not begonnen. Aus diesem Geist erhoben sich die Werke der dienenden Nächstenliebe: die Armen- und Krankenpflege, die Hospitäler, die Fürsorge für Waisen und von Verwahrlosung bedrohte Kinder; aus ihm entstanden jene heldenmütigen Pfleger der Leprakranken, in ihm haben die zahllosen Werke stiller Nächstenliebe und Fürsorge, die durch die christliche Geschichte leuchten, ihren Ursprung. Könnte man diese vielen stillen Taten, die aus dem Samaritergeist geflossen sind überblicken, wäre ein Strom des Segens in der Geschichte menschlicher Not be232

merkbar, dessen Licht wohl die Dunkel des aus dem Haß geborenen Wehs überbieten würde. Nun sind wir an einer Wende der Entwicklung angelangt, an der dieser Geist von den stillen Werken persönlicher Einzelhilfen sich zu größeren Aufgaben erhebt, nicht um die Werke des heimlichen Segens etwa im Stich zu lassen, sondern um außer ihnen die große Menschheitaufgabe in Angriff zu nehmen. Der Samaritergeist steht heute vor einer neuen Stufe seines Wirkens in der Welt. Dies kündet sich in den durch die ganze Menschheit webenden Ideen an, die auf Schaffung würdigerer Verhältnisse zwischen den Völkern und Klassen gerichtet sind. Sie sind wie eine ausgestreut Frühlingssaat, die aufgehen will[,] oder vielmehr der Kampf eines durch tiefe Schatten hindurchbrechenden Lichtes. Wohl zunächst in einem ersten Morgendämmern. Aber im Dämmern liegt doch schon das Licht. Es ist kein Wunder, wenn der Kampf gegen den Samaritergeist in der Welt sich aufs neue erhebt. Auf dem Kampfplatz der größten Menschheitsaufgaben setzt das Christentum jetzt zu einem Siegeszug an. Kein wirklicher Christ kann zweifeln, wie die Entscheidung schließlich fallen muß. Wo könnte der Sieg sein, als allein beim Licht? Das Licht ist nicht der Haß, sondern die Liebe. Wir haben Pflichten in diesem Kampf, sofern wir Christen sein wollen. Sie sind uns im Samaritergleichnis gewiesen. Wir müssen unser Christentum durch die Tat bewähren. Als christliche Gemeinde müssen wir Samariterwerke tun und mithelfen, daß dieser Geist sich in der Welt immer mehr kundtue. Gelegenheit ist genug dazu da. Gott sei Dank dafür, daß der Samaritergeist bei vielen unter uns lebendig ist. Wir wollen mit Dankbarkeit dessen gedenken: der stillen Samariterarbeit unserer Frauen und der Mithilfe vieler Gemeindeglieder. Möge Gott diesen Geist immer mehr entfachen durch die Verkündigung seines Wortes in Predigt und Erziehung in der Schule, durch das Beispiel, durch die Lebenserfahrungen unserer Gemeindeglieder, daß wir immer mehr eine christliche Gemeinde werden, die das Leben hat, welches sich in solchen Werken brüderlicher Gemeinschaft bewährt. – Wir haben aber auch Gleichgültige, die, wenn der Ruf um Mithilfe an solchen Werken an sie ergeht, kalt und erbarmungslos sich abwenden und nur an sich selbst denken. Diese schänden in unseren Gemeinden den Namen evang[elische] Christen, auch wenn sie kirchliche Ehrenämter einnehmen. Sie müssten aus diesen hinausgepeitscht werden, so wie der Herr mit der Peitsche den Tempel Gottes gereinigt hat. Noch etwas ganz Persönliches, das jeden von uns angeht: Wie stehen wir selbst vor der Forderung dieses Gleichnisses? Haben wir wenigstens eine einzige stille 233

aufrichtige Samaritertat in unserem Leben aufzuweisen? Wie traurig, wenn wir bisher versagt haben! Dann ist unser ganzes Christentum nichts wert. Dann wird es uns einmal erklingen: Ich bin hungerig gewesen und du hast mich nicht gespeist usw. Wem wir einen Samariterdienst erweisen sollen? O, wenn wir nur wollen, dann finden sich diese Gelegenheiten schon von selbst. Suchen wir unseren Samariterdienst und lassen wir die Samaritertat geschehen ohne Rücksicht auf Dank, lassen wir sie nicht halbe Tat sein, sondern womöglich ganze Hilfe in Befolgung des Wortes Jesu: „Gehe hin und tue desgleichen!“ Bemerkung der Schriftleitung: eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Artikel behalten wir uns angesichts der Tatsache, dass es sich in diesem Falle um grundsätzliche weltanschauliche Fragen handelt, für eine der nächsten Folgen unseres Blattes vor.

Zum Autor Akad. Direktor am Institut für Evang. Theologie, Campus Landau der Universität Koblenz-Landau. Vorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde e.V. Heidelberg 2001–2020. Korrespondierendes Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Mitglied im Beirat der Gedenkstätte Frühes Konzentrationslager Neustadt/​W. Umfangreiche Publikationen zur Frühen Neuzeit und 20. Jahrhundert, zuletzt: Siebenbürgen – Pionierregion der Religionsfreiheit. Bonn, Hermannstadt 2017.

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Roland Paul

Vom Schicksal jüdischer Kinder in Gurs In diesem Jahr gedenken wir in der Pfalz, in Baden und im Saarland des 80. Jahrestages der Deportation von 6504 Frauen, Männern und Kindern in das in Südwestfrankreich gelegene Lager Gurs. Unter den 824 Personen, die am 22. Oktober 1940 aus pfälzischen Städten und Dörfern in einer Nacht- und Nebel-Aktion – auf Anordnung von Gauleiter Josef Bürckel – nach Gurs verschleppt wurden, waren 61 Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zu 17 Jahren. Weitere in der Pfalz geborene Kinder gelangten von badischen Städten aus, vor allem von Mannheim oder Karlsruhe, wo ihre Familien nach den Novemberpogromen Zuflucht gesucht hatten, nach Gurs.

Die Deportation aus der Sicht eines Kindes Die 1931 in Kaiserslautern geborene Margot Wicki-Schwarzschild erinnert sich noch heute an den Abtransport: Eines sehr frühen Morgens, bei Nacht und Nebel, am 22. Oktober 1940, wurden wir jäh aus dem Schlaf gerissen: Stiefelgetrampel und lautes Klopfen an der Wohnungstür. Ich sah meine Eltern erbleichen, zu Tode erschrecken. Nun schien es soweit zu sein … In der Tür standen Gestapo-Leute in Zivil. In barschem Ton forderten sie uns auf, das Wichtigste zu packen, pro Person war ein Koffer erlaubt. Wir hätten das ‚Reichsgebiet‘ zu verlassen. In einer Stunde müßten wir bereit sein. Ich sah meinen Vater zittern, meine Mutter weinen. Ich spürte: Die Lage war ernster denn je, da gab es nichts mehr zu lachen. Meine Schwester, sonst eher ernst und nachdenklich, schien die Situation blitzartig zu erfassen. Ich weiß nicht mehr, ob es ihre Idee war, jedenfalls zogen wir Kinder alles ‚doppelt‘ an, Wäsche, Strümpfe, Kleider. Sie stellte dann einen kürzlich von unserer Großmutter aus Bayern erhaltenen Schmalz-Topf samt anderen Lebensmitteln sowie unser Nähzeug in einen Einkaufskorb und kippte eine Schachtel mit Fotos, an denen sie besonders hing, in ihre Schultasche. Diese Fotos sind uns bis 235

zum heutigen Tag erhalten geblieben. Eine Aufnahme war darunter, die später den Ausschlag geben sollte, daß uns das Leben gerettet wurde […]1

Die Familie Schwarzschild wurde mit einem Autobus zunächst in die ‚Löwenburg‘, ein Gasthaus hinter dem Hauptbahnhof, gebracht. [A]m späten Abend wurden wir dann zum Güterbahnhof getrieben, durch eine Unterführung, in der die Hitlerjugend der ganzen Stadt Spalier stand, uns verhöhnte, beschimpfte und anspuckte. Wir kamen uns vor wie der Abschaum der Menschheit.2

Wie mag es Hannelore und Margot Schwarzschild zumute gewesen sein, dem abgrundtiefen Hass von Gleichaltrigen, vielleicht ehemaligen Schulkameraden ausgesetzt zu sein? Dann wurden sie „in einen endlos langen Zug verladen“3. Drei Tage und Nächte ging die Reise. Ich kann mich an Einzelheiten dieser Fahrt nicht mehr gut erinnern, nur daß es grauenvoll war. Ich dachte immer wieder: Das ist sicher nur ein böser Traum […] Die Menschen waren verzweifelt, müde hungrig, nervös. Meine Schwester erinnert sich besonders daran, wie verzagt unsere Mutter war, wie sie mutlos keinen Ausweg für uns alle sah. Und wenn schon die Erwachsenen keinen Mut mehr hatten … Das setzte uns Kindern am meisten zu.4

Auch der damals 6-jährige Carl Haußmann aus Kirchheimbolanden, der heute als Carl Hausman 87-jährig in New Jersey lebt, hat den Tag des Abtransports bis heute nicht vergessen: 1

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Wicki-Schwarzschild, Margot: GURS – aus der Kinderperspektive. In: Wien, Erhard R. (Hg.): Oktoberdeportation 1940. Konstanz 1990. S. 527–539, S. 530. Wicki-Schwarzschild, Margot: Gurs aus Kinderperspektive. In: dies./​Wicki-Schwarzschild, Hannelore: Als Kinder Auschwitz entkommen. Unsere Deportation von Kaiserslautern in die französischen Internierungslager Gurs und Rivesaltes 1940/​42 und das Leben danach in Deutschland und der Schweiz. Konstanz 2011, S. 17–29. S. 22. Wicki-Schwarzschild, Margot: GURS, S. 531. Ebd., S. 532. 236

Im Oktober 1940 wurden alle Juden in Lastwagen verfrachtet. Wir durften nur soviel mitnehmen wie wir tragen konnten. Auf einem Bahnhof kamen wir in Viehwagen und wurden nach Frankreich befördert […] Im Lager Gurs in Südfrankreich am Fuße der Pyrenäen wurden wir ausgeladen. Hier lebten wir unter schrecklichen Bedingungen, wir schliefen auf Stroh auf dem Boden und hatten nur wenig oder kein Essen.5

Manche Kinder erkrankten schon auf dem tagelangen Transport oder bald nach der Ankunft in Gurs, wo es an ärztlicher Hilfe weitgehend fehlte. Fünf Wochen nach der Ankunft in Gurs starb am 1. Dezember 1940 der kaum vier Monate alte Salo Mayer aus Ulmet am Glan.6 Die siebenjährige Hannelore Herze aus Kaiserslautern erkrankte in Gurs an Diphterie und starb am 8. Dezember 1940.7 Im Dezember 1940 wurde in Gurs eine Schule für 250 Kinder eingerichtet. Sie wurden bald von Erzieherinnen und Schwestern des Schweizer Kinderhilfswerks betreut, die mit ihnen auch Gedichte und Lieder lernten. Manchmal durften sie damit älteren Inhaftierten eine Freude bereiten. Die Landauer Arztwitwe Gretl Drexler, die von Mannheim aus deportiert wurde, schrieb einmal nach einer Geburtstagsfeier einer Mitgefangenen an ihre Tochter in der Schweiz: Die Geburtstagsfeier ist vorüber. Zirka 20 kleine Kinder. Sie haben goldig vorgetragen und gesungen, viele haben geheult und man konnte ihnen noch nicht mal ein Schokolädchen geben. Die Kindergärtnerin hat reizend Hänsel u. Gretl erzählt. Die Eltern waren noch ärmer wie wir. Sie hatten noch nicht mal Brot zu essen.8

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Paul, Roland: „Schwer zu vergeben – unmöglich zu vergessen“. Das Schicksal der Kirchheimbolander Familie Haußmann. In: Donnersberg-Jahrbuch 23 (2000), S. 75– 77, S. 76. Bei den Zügen, die die Deportierten aus Baden und der Saarpfalz nach Gurs brachten, handelte es sich allerdings nicht um Viehwaggons, sondern um normale Personenzüge. Paul, Roland: Pfälzer Juden und ihre Deportation nach Gurs. Schicksale zwischen 1940 und 1945. Biographische Dokumentation. Kaiserslautern 2017, S. 185f. Ebd., S. 85. Paul, Roland (Hg.): Gretl Drexler. Briefe aus Mannheim, Gurs und Grenoble (1939– 1942). Das Schicksal einer jüdischen Frau aus Landau in der Pfalz. Kaiserslautern 2014, S. 197. 237

Die Schweizer Schwestern hatten sich Kühe besorgt, so dass sie den Kindern täglich Milch und Kakao geben konnten. Unter Leitung von Schwester Elsbeth Kasser wurde 1941 auch eine Weihnachtsfeier für die Kinder durchgeführt. Darüber berichtete Gretl Drexler Ende Dezember 1941: Als ich rüber kam brannte im großen Saal der Christbaum und waren über 100 Kinder beschert worden. Ich bekam ein[en] Platz bei der Vorstandschaft der prot[estantischen] Jugendhilfe die sich an der Bescherung der durchschnittlich jüdischen Kinder bis zu 21 Jahren beteiligten.9

Nach der Bescherung wurde gemeinsam gegessen, dann gesungen. Gretl Drexler war tief beeindruckt: „Die strahlenden Gesichter der Kinder […] Es war erschütternd.“10 Sie schrieb dies alles ihrer Tochter, die das Glück hatte, rechtzeitig vor der Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden zu ihrer Tante in die Schweiz gebracht worden zu sein. Das Schicksal ihrer Mutter, die in Auschwitz ermordet wurde, hat sie stets begleitet, bis in die letzten Lebensjahre, die sie – nach langer Odyssee – in ihrer Heimatstadt Landau verbrachte, wo sie 2006 verstarb. Bei der Trauerfeier hielt Wolfgang Pauly eine bewegende Abschiedsrede. Unter den 9431 deutschen Internierten, die am 9. Februar 1941 in Gurs gezählt wurden, waren 274 Kinder unter 15 Jahren, davon waren nur fünf „arischer“ Abstammung, 258 waren Juden und 11 sogenannte „Halbjuden“.11 Die meisten Kinder konnten 1941 dank der Initiative verschiedener Hilfsorganisationen das Lager verlassen und wurden in Kinderheime gebracht. Andere kamen mit ihren Eltern im März 1941 in das Lager Rivesaltes bei Perpignan. Unter ihnen war auch die Familie Schwarzschild. Margot Wicki-Schwarzschild erinnert sich: Camp de Rivesaltes – Herbst 1942: Baracken, Steine, erregte Menschen, Gerüchte, Angst, Angst, Angst! – Aus allen Ecken Frankreichs werden sie wieder hereingeholt, hinter den verhassten, wohlbekannten Stacheldraht. Unaufhörlich rollen die Züge. Sie kommen an bei Tag und bei Nacht: Männer, Frauen, weinende Kinder, die man der Fürsorge der Kinderheime ent9 10 11

Ebd., S. 300. Ebd. Vgl. Archives Départementales Pyrénées Atlantiques, Pau, Bestand 72W, 71. 238

riss … In der Nacht, da niemand auf den Strohsäcken Ruhe findet, summt und flüstert es, wird zum Gerücht, das man vor uns Kindern verbergen will, dass unsere übermüdeten und doch hellwachen Sinne dennoch begreifen: Abtransport nach Polen  … Polen, das bedeutet Trennung, Tod. Niemand weiß es genau. Alle ahnen es.12

Bald darauf wurde Margots Vater Richard Schwarzschild abtransportiert. Seine Frau und die beiden Töchter blieben zurück, weil die katholische Mutter in letzter Minute das Bild ihrer Kommunion präsentierte, das Hannelore Schwarzschild kurz vor dem Abtransport aus Kaiserslautern mit anderen Fotos noch in ihre Schultasche gesteckt hatte.

Gerettet vor dem Holocaust Carl Haußmanns Bruder Günther kam Ende Februar 1941 mit anderen Kindern, darunter Hedwig Herze aus Kaiserslautern, der mit seinen Eltern und seinem Bruder aus Mannheim deportierte Georg Basnizki aus Pirmasens, Trude Elkan aus Speyer, in das Kinderheim nach Aspet im Département Haute-Garonne, während Carl Haußmann mit seinen Eltern am 11.  März 1941 nach Rivesaltes gebracht wurde. Im Mai 1942 holte die OSE („Oeuvre de Secours aux Enfants“), eine 1912 gegründete, weltweit tätige jüdische Kinderhilfsorganisation, Carl in Rivesaltes ab und brachte ihn in das Kinderheim St. Raphael an der französischen Riviera. Günther unternahm am 3. September 1942 einen Besuch bei seinen Eltern in Rivesaltes. Am folgenden Tag schrieb er seinem Bruder Carl eine Postkarte: „Gestern abend bin ich zu den l[ieben]. Eltern gekommen und jetzt kommen wir fort. Mache dir keine Gedanken und bleibe wo du bist. Ich wäre auch froh, wenn ich noch dort wäre.“13 12

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Wicki-Schwarzschild, Hannelore: Kindheitserinnerungen an Gurs. In: WickiSchwarzschild, Margot/​dies.: Als Kinder Auschwitz entkommen. Unsere Deportation von Kaiserslautern in die französischen Internierungslager Gurs und Rivesaltes 1940/​42 und das Leben danach in Deutschland und der Schweiz. Konstanz 2011, S. 29–40, S. 34. Postkarte in Besitz von Carl Hausman, Teaneck, New Jersey. Hausman, Carl: Rescued. Child Survivor of the Holocaust Hidden in France. Carl Hausman: A Memoir. As Told 239

Zu dieser Zeit wurde das Lager geschlossen und keiner konnte mehr heraus. Am 4. September wurde ein großer Teil der Internierten von Rivesaltes in das Lager Drancy bei Paris transportiert. Am 11. September 1942 begann auch für Günther Haußmann, seine Eltern und etwa 1000 weitere jüdische Frauen, Männer und Kinder der Transport von dort nach Auschwitz. Carl hingegen lebte fortan unter falschem Namen versteckt auf einem Bauernhof bei Vernoux in der Ardèche. 1947 wanderte er zu seinem Onkel Leo Rosenthal in die USA aus.14 Auch der 1928 in Pirmasens geborene Georg Ferdinand Basnizki war bereits Ende Februar 1941 durch die OSE in Gurs befreit und in das Kinderheim Aspet gebracht worden, während seine Eltern und sein Bruder, der 17-jährige Walter Basnizki, von Gurs nach Rivesaltes kamen. Georg konnte mit Hilfe der OSE das Lager Aspet verlassen und wurde in die Schweiz geschleust. Sein Bruder Walter kam durch Vermittlung des Vertriebenen-Hilfskomitees „Cimade“ nach Le Chambon-sur-Lignon in der Auvergne, wo er von dem reformierten Pastor André Trocmé und seiner Frau Magda wie ein Sohn aufgenommen wurde. Er überlebte sämtliche Razzien und blieb bis 1948 in Frankreich. Dann wanderte er nach Israel aus und heiratete die gleichaltrige, aus Kaiserslautern stammende Elisabeth (Liesel) Felsenthal, die er in Gurs kennengelernt hatte. Er ließ sich 1951 mit seiner Frau in Beit Nakofa bei Jerusalem nieder, wo ich ihn vor einigen Jahren besuchte.15 Von seiner verstorbenen Frau bewahrte Yehuda Basnizki aquarellierte Zeichnungen auf, die sie als 16-jährige vom Lagerleben in Gurs gefertigt hatte. Mit Georg Basnizki und Günther Haußmann waren auch die Brüder Richard und Ernst Weilheimer im Kinderheim Aspet. Als acht- bzw. fünfjährige Buben waren sie mit ihren Eltern Max und Lilly Weilheimer von Ludwigshafen nach Gurs verschleppt worden. Im Juli 1941 mussten sie in Gurs ihrer erst 39-jährigen Mutter ins Grab sehen. Ein halbes Jahr später kamen beide dann in das Kinderheim. Anfang Juni 1942 besuchte sie ihr Vater dort. Bevor 1942 die großen Razzien in Frankreich einsetzten, holten sie die amerikanischen Quäker aus dem Heim, schafften sie nach Lissabon, sodass sie mit einem

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to Ross Benjamin. [USA] 2007, S.  40; Hausman, Carl: Gerettet. Wie ich als Kind in Frankreich versteckt den Holocaust überlebte. Kirchheimbolanden 2011; Vgl. auch Paul: „Schwer zu vergeben – unmöglich zu vergessen“, S. 77. Vgl. Paul: Pfälzer Juden, S. 95f. Notizen des Verfassers beim Besuch von Walter (Yehuda) Basnizki am 4. August 2010. 240

der letzten Schiffe, der „Nyassa“, europäischen Boden verlassen und in die USA auswandern konnten. Am 30. Juli 1942 landeten sie in Baltimore. Ihren Vater haben sie nie wieder gesehen. Er kam am 4. März 1943 nach Majdanek.16 Auch die 1929 in Tauberbischofsheim geborene und in Pirmasens aufgewachsene Ingeborg Sauer war als Elfjährige mit ihrer Mutter Liselotte Sauer von Ludwigshafen aus nach Gurs deportiert worden. Dort erkrankte sie schwer, musste ins Hospital nach Pau gebracht werden, wo sie wieder gesund wurde. Von dort aus kam sie in das Kinderheim der OSE im Château du Masgelien im Département de la Creuse. Auf Initiative des „United States Committee for the Protection of European Children” wurde sie aus dem Kinderheim geholt und nach Lissabon gebracht. Mit dem Schiff „Mouzinho“ verließ sie den Lissaboner Hafen und kam am 21. Juni 1941 gut in New York an. Dort wurde sie von einer amerikanischen Familie aufgenommen. Auch Ingeborg hat ihre Mutter nie mehr gesehen. Sie kam am 10. August 1942 von Drancy nach Auschwitz.17 Auch weitere aus Ludwigshafen deportierte Kinder überlebten. Die Schwestern Lore und Susanne Bermann wurden von Résistance-Kämpfern gerettet. Sie wanderten im Oktober 1946 von Cherbourg aus mit dem Schiff „Ile de France“ in die USA aus.18 Auf dem gleichen Schiff befanden sich auch der inzwischen 13jährige Horst Wallenstein und seine Mutter Beate, die mit Hilfe der OSE zu ihren Angehörigen in New York gebracht wurden. Sie waren im März 1941 von Gurs in das Lager Rivesaltes gekommen; Horst kam ein Jahr später in das Kinderheim Aspet. Während der Vater 1943 in das Konzentrationslager Majdanek verschleppt worden war, überlebte Beate Wallenstein in Frankreich und fand 1945 ihren Sohn wieder.19 Der kleine German Pinkus, bei der Deportation gerade drei Monate alt, war mit seiner Mutter Anfang Dezember aus Gurs nach Nizza geflüchtet. Von dort begaben sie sich nach Italien, wurden in Mailand erneut verhaftet und in das

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Vgl. Paul: Pfälzer Juden, S. 139. Vgl. auch Weilheimer, Richard: Be Happy, Be Free! A Holocaust Survivor’s Message to His Grandchildren, edited by Claire Gorfinkel. Pasadena [California] 2005. Vgl. Paul: Pfälzer Juden, S. 132. Minor, Ulrike/​Ruf, Peter: Juden in Ludwigshafen (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen am Rhein, Bd. 15). Ludwigshafen am Rhein 1992, S. 170. Ebd. 241

Lager Pisticci verbracht, das sie nach einem Monat verlassen konnten. Sie überlebten.20 Das waren nur einige Beispiele von Kindern, die dank des mutigen Einsatzes einzelner Franzosen, protestantischer und katholischer Geistlicher und mitfühlender Klosterfrauen sowie mit Hilfe internationaler, jüdischer, amerikanischer, englischer, französischer und schweizer Organisationen vor dem Holocaust gerettet werden konnten. Zu ihnen zählt auch die 1926 in Höheinöd geborene Ruth Schloss, geb. Strauß. Ab 1930 lebte sie mit ihren Eltern in Waldfischbach. Nachdem sie seit 1933 dem Spott und Terror der Waldfischbacher Dorfkinder ausgesetzt war, schickten sie ihre Eltern 1939 mit einem Kindertransport in das Schloss der Baronin Rothschild nach La Guette bei Paris.21 Die Eltern wurden 1940 nach Gurs deportiert und kamen zwei Jahre später von Rivesaltes aus über Drancy nach Auschwitz. In Rivesaltes hatte sie Ruth noch besucht. Ruth überlebte mehrere Razzien und zwei Fluchtversuche aus Internierungslagern in Frankreich und konnte 1947 in die Vereinigten Staaten auswandern. Doch die schwere Zeit in Frankreich, das ständige Sich-Verstecken-Müssen wie auch die vorausgegangenen Demütigungen, die sie in ihrer pfälzischen Heimat erleben musste, hat sie bis heute nicht vergessen.22 Sie lebt 93-jährig in New York City. In Frankreich versteckt überlebt hat auch Johanna, genannt Hanni Maier. Als Fünfjährige wurde sie mit ihren Eltern und ihrer Großmutter aus Odernheim am Glan nach Gurs deportiert. Zwei Monate nach der Ankunft in Gurs starb ihre Großmutter. Hanni kam 1941 in das Kinderheim im Château de Masgelier im Departement Creuse und lebte versteckt in Frankreich bis zur Befreiung 1944. 20

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Ebd., S. 179. Sein Name steht fälschlich im Gedenkbuch des Bundesarchivs, Bd. III, S. 2666. Vgl. auch Paul: Pfälzer Juden, S. 130. Vgl. Wipfler-Pohl, Siegrun: Kinderemigration 1939: Auf den Spuren jüdischer Kinder aus der Saarpfalz im französischen Exil. In: Kuby, Alfred H. (Hg.): Pfälzisches Judentum gestern und heute. Beiträge zur Regionalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Weinstraße 1992, S. 321–386, S. 324f., S. 340 und S. 382f. Dieser wichtige Beitrag wurde neu herausgegeben von Karola Streppel, Arbeitskreis Geschichte der Juden in Pirmasens unter dem Titel: Die Kinder von La Guette 1939-1989-2019 mit handschriftlichen Dokumenten von 27 Kindern aus der Saarpfalz. Pirmasens 2019. Interview des Verfassers mit Ruth Schloss, New York, 21.  Oktober 1988. Vgl. auch Tüchter, Ilja: Ein „Saftebrot“ fürs „Judenkind“. In: Die Rheinpfalz, Sonntag Aktuell, 27. Januar 2002; Vgl. auch Paul: Pfälzer Juden, S. 189. 242

Während ihr Vater 1943 in das Konzentrationslager Majdanek gekommen war, überlebte die Mutter im Lager Septfonds im Departement Tarn et Garonne. Nach dem Krieg fanden sich Mutter und Tochter wieder. Beide kehrten in ihre nordpfälzische Heimat zurück, gezeichnet von psychischen Beeinträchtigungen. Hertha Maier nahm sich 1962 das Leben. Hanni Maier kam als junges Mädchen bereits in psychiatrische Behandlung. Jahrzehntelang lebte sie wohlbehütet in der Pfalzklinik Landeck. Vor wenigen Jahren starb sie 75-jährig im Krankenhaus Bad Bergzabern. Ihre letzte Ruhe fand sie auf dem jüdischen Friedhof in Neustadt.23 Von den Kindern, die im Oktober 1940 aus der Pfalz nach Gurs kamen, konnten die meisten gerettet werden. Zwei Kinder starben in Gurs. Dreiundzwanzig Kinder überlebten versteckt, zum Teil unter falschen Namen in Frankreich, zehn Kinder wurden von Kinderhilfsorganisationen in die USA, vier nach Palästina gebracht, neun konnten sich in die Schweiz retten. Für elf Kinder, d. h. fünf von ihnen waren inzwischen schon junge Erwachsene, gab es keine Rettung. Sie wurden über das Sammellager Drancy bei Paris nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet: Günther Mane aus Bad Dürkheim, Ruth Kahn aus Ludwigshafen, Karl Lorig aus Obermoschel, die Zwillinge Elias und Abraham Sundelowitz aus Mutterstadt, Edwin Salmon aus Frankenthal, Hans Kahn und Manfred Weil aus Ludwigshafen, Günther Haußmann aus Kirchheimbolanden, Lieselotte Rossmann aus Weisenheim am Sand und die 1938 in Landau geborene Chana Siegel. Sie konnte das Lager im Januar 1941 mit ihren Eltern Fritz und Liesel Siegel verlassen. Die Familie kam nach Marseille, wo 1942 Pierre (Peter) zur Welt kam. Am 30. Mai 1944 wurde die ganze Familie nach Auschwitz deportiert. Während Fritz Siegel überlebte, endete das Leben seiner Frau und der beiden Kinder in den Gaskammern.24 Unter den zwischen 1942 und 1944 aus Frankreich in die Konzentrationslager des Ostens deportierten fast 76 000 jüdischen Menschen waren allein 11 400 Kinder im Alter unter 18 Jahren. Etwa 2 000 von ihnen waren noch keine sechs Jahre alt.25 Zur Erinnerung an die beiden Kinder der Landauer Familie Siegel und all die anderen jüdischen Opfer aus der Südpfalz wurde die „Chana-und-Peter-Sie-

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Vgl. Paul: Pfälzer Juden, S. 164. Ebd., S. 105f. und S. 348. Klarsfeld, Beate/​Klarsfeld, Serge: Endstation Auschwitz. Die Deportation deutscher und österreichischer jüdischer Kinder aus Frankreich. Ein Erinnerungsbuch. Köln/​ Weimar/​Wien 2008, S. 11. 243

gel-Stiftung“ gegründet, deren Förderkreis 1990 in „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Landau“ (seit 1995 „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Pfalz e.V.“) umbenannt wurde.26 Neben dem umfassenden bildungspolitischen Anliegen der Gesellschaft war es gerade Wolfgang Pauly, dem langjährigen engagierten Vorsitzenden, immer auch wichtig, an das Leid der verfolgten Kinder zu erinnern, den Opfern ein Gesicht zu geben und ihrer zu gedenken.

Zum Autor (geb. 1951 in Landstuhl) Studium: Germanistik, Geschichte, Soziologie und Deutsche Volkskunde in Landau und Mainz, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter/​stellvertretender Leiter und von 2012 bis 2016 Direktor des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde, Kaiserslautern. Forschungsgebiete neben pfälzischer Ein- und Auswanderung u. a. Geschichte der Juden in der Pfalz. Lebt in Kaiserslautern und Steinwenden.

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[www.christen-und-juden.de] (Zugriff: 26. März 2020). 244

Rebecca Maria Burkhart

Hans Jonas – Theodizee nach Auschwitz „Paradox der Paradoxe“1 „Ich sah einen SS-Mann ein Kind bei den Füßen nehmen und in die Luft werfen, während ein anderer auf diese lebende Zielscheibe schoss.“2 Dieses kurze Zitat macht durch die unverblümte Schilderung der dort vorherrschenden menschenverachtenden Grausamkeit das beispiellose Faktum des Leides von Auschwitz deutlich. Der Ort, an dem zwischen den Jahren 1940 und der Befreiung durch die Alliierten am 27.  Januar 1945 ca. 1,5  Millionen Menschen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden, ist in der Nachkriegszeit zum Symbol für die Shoah, den Genozid an 6 Millionen Juden, geworden. Für dieses, seit biblischen Tagen als auserwählt geltende Volk mit einer langen Leidensgeschichte, bekommt Auschwitz insofern auch eine dringende theologische Relevanz und Brisanz. Denn dieses „Paradox der Paradoxe“ lässt nicht nur fragen, wie Gott diese Katastrophe zulassen konnte, sondern auch, ob man angesichts dieser Erfahrung überhaupt noch an den Herrn der Geschichte glauben kann, denn „Gott ließ es geschehen.“3

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Jonas, Hans: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt a. M. 1984, S. 13. Zitiert nach Kreiner, Armin/​Loichinger, Alexander (Hg.): Theodizee in den Weltreligionen. Ein Studienbuch. Paderborn 2010, S. 11. Jonas: Gottesbegriff, S. 13. 245

„Die Hiobsfrage“4 Traditionell lehren die abrahamitischen Religionen Gott als allmächtigen „Schöpfer des Himmels und der Erde“ (Gen 1,1), der zugleich Allgüte und sittliche Vollkommenheit in sich vereint. Als solcher hätte Gott die Macht5 besessen und wollte Übel und Leid auf der Welt verhindern, bzw. wäre gar moralisch dazu verpflichtet.6 Aus dieser anscheinenden Unvereinbarkeit resultiert ein logisches Widerspruchsproblem, das seit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) als das Theodizeeproblem bezeichnet wird. Leibniz schuf, vermutlich in Anlehnung an Röm 3,5, diesen Kunstbegriff, der sich aus den griechischen Begriffen ϑεóς (Gott) und δíκη (Rechtfertigung) zusammensetzt.7 Hierbei geht es nicht um die Rechtfertigung Gottes angesichts der leidvollen Unzulänglichkeiten seiner Schöpfung vor dem Tribunal menschlicher Vernunft,8 sondern vielmehr um eine rationale Rechtfer-

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Ebd., S. 14. Als „Herr der Geschichte“ (Ex) hat Gott ein vollständiges Wissen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Insofern schließt diese Allmachtsprädikation nicht nur die unumschränkte Handlungskompetenz, sondern auch die Allwissenheit Gottes mit ein. Vgl. Rommel, Herbert: Mensch – Leid – Gott. Eine Einführung in die Theodizee-Frage und ihre Didaktik. Paderborn 2011, S. 17f.; Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 10. Leid ist eine Grunderfahrung des schmerzempfindlichen und leidensfähigen Menschen und kann physisch (als Schmerz und Mangelempfindungen) und psychisch (als Angst, Panik oder Verzweiflung) erfahren werden; ein Übel ist in sich leidvoll oder verursacht Leid. Traditionell wird zur Orientierung zwischen natürlichen Übeln (solche, die durch die Beschaffenheit und die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt verursacht werden, ohne dass der Mensch [notwendigerweise] Einfluss darauf nimmt, wie bspw. Krankheiten) und moralischen Übeln (solche, die durch den Menschen verursacht werden, wie Mord etc.) unterschieden. Vgl. hierzu Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 12 sowie Kreiner, Armin: Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente. Freiburg i. Br. 2005, S. 31. Vgl. Loichinger, Alexander: Frage nach Gott. Paderborn 2003, S. 69; Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S.  10; Schmidt-Leukel, Perry: Grundkurs Fundamentaltheologie. Eine Einführung in die Grundfragen des christlichen Glaubens. München 1999, S. 111. Wenn Gott als der existiert, als den ihn sich die monotheistischen Traditionen vorstellen, wäre dies ein anmaßendes Unterfangen. Aus atheistischer Sicht würde es keinen Sinn machen, einen Gott anzuklagen, der nicht existiert. Vgl. Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 10f. 246

tigung des Glaubens an die Existenz eines allmächtigen und gütigen Gottes angesichts der menschlichen Erfahrung von Übel und Leid.9 Der Stellenwert des Theodizeeproblems unterlag im Laufe der Geistesgeschichte einem gravierenden Wandel, der entscheidend mit der Überzeugungskraft der klassischen Gottesbeweise zusammenhängt:10 Solange angenommen wurde, dass die Existenz Gottes beweisbar ist, konnte gleichfalls davon ausgegangen werden, dass es eine Lösung der Theodizeeproblematik gibt – unabhängig davon, ob diese dem Menschen bekannt ist. Sobald die Existenz Gottes allerdings zweifelhaft wurde,11 wurde das Theodizeeproblem zum größten Einwand gegen den Gottesglauben, oder wie Georg Büchner es in seinem Drama Dantons Tod nannte, zum „Fels des Atheismus“. Die traditionelle Sündenfalltheodizee ging von der Prämisse aus, dass Gott am Anfang der Zeit eine Paradieswelt erschaffen hat, die der Mensch durch den Sündenfall zerstört habe, weshalb Krankheit und Tod, Hass und Gewalt in die Welt kamen.12 Doch diese mit dem biblischen Mythos verbundene Vorstellung widerspricht nicht nur den heutigen naturgeschichtlichen Erkenntnissen, nach denen es an keiner Raum-Zeit-Stelle des Universums ein Paradies gegeben hat und nach denen der Mensch ohne seinen Überlebenswillen innerhalb des evolutiven Prozesses in der für ihn feindlichen Umwelt nicht überlebt hätte.13 Auch bleibt es generell unverständlich, warum sich in einer ursprünglich vollkommenen Schöpfung überhaupt ein freies Wesen gegen Gott gestellt haben sollte.14 Und obwohl schon in den biblischen Schriften selbst teilweise die Vorstellung des Leids als gerechte Strafe für den sündigen Menschen kritisiert wird, bleibt der ‚Tun-Ergehen-Zusammenhang‘ im Rahmen der Trias von Strafe, Prüfung und Sühne doch jüdisches Erbe in der Theodizeeantwort.15 Besonders der alt9 10 11 12

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Vgl. Schmidt-Leukel: Fundamentaltheologie, S. 111. Vgl. Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 11. Vgl. ebd. Vgl. Röm 5,12f.; Loichinger, Alexander: Die Frage nach Gott angesichts des menschlichen Leids. In: Warum leiden? (Religionsunterricht heute. Informationen des Dezernates Schulen und Hochschulen im bischöflichen Ordinariat Mainz, Bd. 1). Mainz 2011, S. 4–8, S. 5; Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 28–42. Vgl. Loichinger: Die Frage nach Gott angesichts des menschlichen Leids, S. 5. Vgl. Schmidt-Leukel: Fundamentaltheologie, S. 119. Vgl. Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 183. 247

testamentliche Gedanke der Erwählung des jüdischen Volkes birgt eine radikale Inanspruchnahme, ‚Segen‘ bei Annahme des Bundesschlusses (Dtn 28), ‚Fluch‘ bei Verweigerung (vgl. Dtn 30,15–17) in sich. Insofern wird radikal alles Leid als Strafe für die vom Menschen begangene Sünde, die per se einen Bruch des Bundes darstellt, angesehen (vgl. Jer 31,29). Dies galt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für das Leidensschicksal des Volkes Israel als Kollektivgemeinschaft.16 Den Aspekt der Prüfung macht vor allem das Buch Hiob im Alten Testament deutlich: Der vorbildliche, untadelige und gerechte Hiob wird hier von Gott hart geprüft und verliert nach und nach alles – Besitz, Nachkommen, Gesundheit. Doch er gibt sein Gottvertrauen nicht auf und ‚besteht‘ die von Gott gestellte Prüfung.17 Die Auseinandersetzung mit dem Leid dient hier auch der menschlichen Sensibilisierung und personalen Reifung in der Ausprägung bestimmter Tugenden und Werte, wie Geduld, Vertrauen etc.18

„Der Kummer meines Lebens“ 19 Viele Lösungsansätze für das Theodizeeproblem stellen sich als „sachbezogene und distanzierte Argumentation“20 dar, hinter der die Biographie des Autors im Verborgenen bleibt. Nicht so bei dem jüdischen Philosophen21 Hans Jonas (1903–

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Vgl. ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 185. Vgl. hierzu auch die irenäische Theodizee, wie sie John Hick in seiner „person-making-Theodizee“ vertritt, u. a. bei Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 87–89. Vgl. Rommel: Leid, S. 162. Vgl. ebd., S. 161; Schieder, Thomas: Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas. Paderborn 1998, S. 144. Zu seinen natur- und technikphilosophischen Arbeiten, die nicht ohne Weiteres ein theologisches und religionshistorisches Interesse vermuten ließen, vgl. Henrix, Hans Herrmann.: Machtentsagung Gottes? Ein Gespräch mit Hans Jonas im Kontext der Theodizeefrage. In: Metz, Johann Baptist (Hg.): „Landschaft aus Schreien“. Zur Dramatik der Theodizeefrage. Mainz 1995, S. 118–143, S. 121, v. a. mit Anmerkung 7; zum Spannungsverhältnis Philosophie – Theologie S.  v.  a. Rommel: Leid, S. 162–164. 248

1993), der die Frage nach Gott im Leid „mit Furcht und Zittern“22 im Kontext seiner eigenen Biographie gestellt hat. Hans Jonas verlor seine Mutter im Konzentrationslager Auschwitz. Zuvor hatte sie ihren eigenen Ausreiseantrag auf den Namen ihres jüngsten Sohnes Georg, der zu dieser Zeit in Dachau inhaftiert war, umschreiben lassen und war zunächst in das Ghetto in Lodz verbracht worden, um dann nach Auschwitz deportiert zu werden.23 Hans Jonas erfuhr erst nach Kriegsende von ihrem Schicksal, als er in seine Heimat Mönchengladbach zurückkehrte, um nach seiner Familie zu suchen. Noch im hohen Alter sprach er davon, dass dies der „Kummer [s]eines Lebens“ sei.24 Er selbst emigrierte bereits im Jahr 1933, im Alter von 30 Jahren, zunächst nach England und 1935 nach Palästina. In Jerusalem schloss er sich dem Widerstand gegen die Araber, der Haganah, an. Ab 1940 war er Freiwilliger in der Jewish Brigade Group, mit der er sich an der britischen Invasion in Italien beteiligte.25 Seit 1955 lebte er in den USA, wo er in New York 1993 starb. Als ihm im Jahr 1984 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen der Dr. Leopold Lucas-Preis verliehen wurde, die damit „ein Œuvre von umfassender Gelehrsamkeit wie auch Integrität und Eindringlichkeit des Bemühens“ würdigte, „dem Menschen einer gefährdeten Zeit rational argumentierend und um Einsicht und Einverständnis werbend die Notwendigkeit der Ethik der Verantwortung nahezubringen“, hielt er eine Dankesrede mit dem Titel Der Gottesbegriff nach Auschwitz, die er im gleichen Jahr noch einmal auf dem Katholikentag in München vortrug und im Jahre 1987 veröffentlichte. Den thematischen Anlass für seine Rede gab ihm das Schicksal des Namensgebers Rabbi Dr. Leopold Lucas, der selbst in Theresienstadt ums Leben kam, während seine Frau nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde.26

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Jonas: Gottesbegriff, S. 7. Rommel: Leid, S. 162. Vgl. ebd.; Schieder: Weltabenteuer, S. 142. Vgl. Rommel: Leid, S. 162. Jonas: Gottesbegriff, S.  7; Henrix: Machtentsagung, S.  122; Rommel: Leid, S.  162; Schieder: Weltabenteuer, S. 142. 249

„Und Gott ließ es geschehen“27 Hans Jonas war es im Kontext seiner Biographie ein Anliegen, sich an „so etwas wie eine[r] Antwort auf [den] längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott“28 zu versuchen, die er zugleich als „ein Stück unverhüllt spekulativ[e] Theologie“29 charakterisierte. Er macht deutlich, dass die Shoah belegt, dass es ein Ausmaß von Leid gibt, das nicht mehr als gerechte Strafe Gottes für den Ungehorsam seines Volkes, wie es die alttestamentlichen Propheten berichten, interpretiert werden kann. Ebenso nicht im Hinblick auf die „Idee der Zeugenschaft“30 und den damit verbundenen Märtyrergedanken, wie er in der Makkabäerzeit aufkam.31 Angesichts der Erniedrigung und Entmenschlichung (auch von Kindern) versagten alle gängigen Theodizeemodelle, die sich das Volk Israel zur Bewältigung des bisher erfahrenen Leids konstruiert hatte.32 Gottes Heilszusage an das jüdische Volk und der gezielte, von den Nationalsozialisten intendierte Genozid an diesem auserwählten Volk, das in der leidbehafteten Geschichte des Judentums das „Niedagewesene“33 darstellt, prallen hier kontradiktorisch aufeinander und verschärfen so nur noch die allgemeine „Hiobsfrage“34. Für Hans Jonas hat Gott, der „Herr der Geschichte“35, als der er in die jüdische Exoduserfahrung eingegangen ist, in Auschwitz geschwiegen und so einen Ort der Gottverlassenheit und absoluten Gottesferne zugelassen.36 Insofern lautet für 27 28 29

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Jonas: Gottesbegriff, S. 13. Ebd., S. 7. Ebd.; vgl. auch Schieder: Weltabenteuer, S. 143–145. Zum Begriff der „unverhüllt spekulative[n] Theologie“/​den metaphysischen Reflexionen und seinem Verweis auf Immanuel Kant. Jonas: Gottesbegriff, S. 11, der hier noch einmal das Kiddusch-haschem beschreibt. Kreiner/​Loichinger: Weltreligionen, S. 186; Jonas: Gottesbegriff, S. 11f.; Henrix: Machtentsagung, S. 123; Schieder: Weltabenteuer, S. 144f. Schieder: Weltabenteuer, S. 145; Jonas: Gottesbegriff, S. 12f. Jonas: Gottesbegriff, S. 14. Insofern unterscheidet Jonas die allgemeine Theodizeeproblematik von der explizit jüdischen; vgl. Rommel: Leid, S. 168; Schieder: Weltabenteuer, S. 145; Zu der Jonas’schen Annahme der Diesseitsverachtung des Christentums sei an dieser Stelle lediglich auf Schieder: Weltabenteuer, S. 146, Anm. 23 verwiesen. Jonas: Gottesbegriff, S. 14. Rommel: Leid, S. 169; Henrix: Machtentsagung, S. 123. 250

ihn nicht mehr die Frage, wie ein guter und allmächtiger Gott dies geschehen lassen konnte. Vielmehr bringt es ihn dazu, am tradierten Gottesbild zu zweifeln und die Frage zu stellen, was für ein Gott dies geschehen lassen konnte.37

„Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?“38 Hans Jonas lässt seinen Antwortversuch auf drei Prämissen fußen: (1) Auschwitz stellt eine Realität dar, die nicht verharmlost oder relativiert werden darf; (2) Gott hat die Shoah zugelassen und nicht eingegriffen; (3) Gott existiert, der Atheismus ist kein Ausweg aus dem Theodizeeproblem.39 Unter diesen Voraussetzungen ist der einzige Weg, den Widerspruch des Theodizeeproblems aufzulösen, die Neukonzeption des tradierten Gottesbildes mit den drei Attributen40 Güte, Allmacht und Verstehbarkeit (innerhalb der Grenzen des menschlichen Verstandes), die zusammen erst das logische Widerspruchsproblem bilden, im Sinne eines theologisch begründeten Ausschlussverfahrens. Dabei geht er nach der logischen Regel vor, dass unter der Bedingung, dass das Übel als Faktum akzeptiert werden muss, die oben genannten Attribute oder Prämissen nicht widerspruchsfrei zusammen bestehen können.41 Hier stellt bereits seine erste These eine „theologische Provokation und Revolution“42, oder wie er es nennt, den „kritischste[n] Punkt in unserm theologischen Wagnis“43 dar: Gottes Allmachtsanspruch muss zugunsten der Vorstellung seiner Ohnmacht aufgegeben werden. Diese These stützt er zunächst durch eine (begriffs-)logische und ontologische Argumentation, die das dem Allmachtsbegriff inhärente Paradoxon aufzeigen soll.44 Demnach ist der Begriff

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42 43 44

Jonas: Gottesbegriff, S. 13f. Ebd. Rommel: Leid, S. 169. Die Existenz Gottes wird von Hans Jonas vorausgesetzt und insofern nicht erwähnt. Vgl. Jonas: Gottesbild, S. 37; Rommel: Leid, S. 170f.; Henrix: Machtentsagung, S. 127; Schieder: Weltabenteuer, S. 168. Rommel: Leid, S. 170. Jonas: Gottesbegriff, S. 33. Vgl. ebd.; Henrix: Machtentsagung, S. 127; Schieder: Weltabenteuer, S. 165. 251

der „Allmacht“ per se ein „sich selbst widersprechender, selbst-aufhebender, ja sinnloser Begriff “45. Denn absolute, unbegrenzte Macht bedeutet, dass es neben der Allmacht logischerweise keine andere Macht, noch nicht einmal „die Existenz von etwas anderem überhaupt, etwas außer ihr selbst und von ihr Verschiedenem“46 geben kann. Allerdings ist der Begriff der Macht ein „Verhältnisbegriff “, der ein „mehrpoliges Verhältnis“47 braucht. Macht kann erst dort existieren, wo sie auch Anwendung finden und auf etwas wirken kann. Wo sie aber keinem „Widerstand in ihrem Bezugspartner“48 begegnet, ist (All-)Macht gegenstandslos.49 Doch auch theologisch lässt sich die Ohnmacht Gottes durch Jonas begründen, da die Allmacht die einzige Prädikation ist, die zur Auflösung des Widerspruchsproblems preisgegeben werden kann. Allmacht kann mit Güte nur auf Kosten der Verstehbarkeit bestehen. Wäre die Verstehbarkeit Gottes durch die „Rätselhaftigkeit“50 ersetzt, wäre das Verhältnis Gottes zur Welt für uns Menschen, nicht aber für einen allwissenden und allgütigen Gott, paradox, müsste aber von uns Menschen mit unseren eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten akzeptiert werden. Insofern wäre das „Theodizeeproblem in Wirklichkeit nur ein Scheinproblem“.51 Aufgrund der Selbstoffenbarung, wie sie in der Hebräischen Bibel tradiert ist, und der daraus folgenden bedingten Erkennbarkeit und Verstehbarkeit Gottes, „seine[s] Willen[s], seine[r] Absichten und sogar seine[s] Wesen[s]“52 in den Grenzen des menschlichen Bewusstseins, ist ein „deus absconditus, der verborgene Gott“53 aber eine zutiefst unjüdische Vorstellung, die Jonas so nicht akzeptieren kann. Er verweist hierbei auf die Übergabe des Gesetzes und der Gebote sowie die direkte

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Jonas: Gottesbegriff, S. 34; vgl. Gross, Walter/​Kuschel, Karl-Joesef: „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“. Ist Gott verantwortlich für das Übel? Mainz 1992, S. 171. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd. Vgl. ebd., S.  33–36; Schieder: Weltabenteuer, S.  165–167; Henrix: Machtentsagung, S. 127. Jonas: Gottesbegriff, S. 37. Rommel: Leid, S. 171; Schieder: Weltabenteuer, S. 167. Jonas: Gottesbegriff, S. 38. Ebd. 252

Mitteilung gegenüber den Propheten.54 Insofern hat das Göttliche im Menschlichen Spuren hinterlassen und so muss auch an der Intelligibilität Gottes festgehalten werden.55 Ohne weitere Begründung konstatiert Jonas, dass die Güte untrennbar mit dem jüdischen Gottesbild verbunden sei und deshalb keiner Einschränkung unterliegen könne.56 Insofern ist es am Ende das Attribut der Allmacht, das verabschiedet werden muss.

„Dies ist nicht ein allmächtiger Gott“57 Um den „kritischste[n] Punkt in [seinem] theologischen Wagnis“58 neben dem ontologischen und logischen Ansatz auch theologisch zu begründen, greift er auf einen „selbsterdachten Mythos“59 zurück. Diesen lässt er mit dem Schöpfungsgedanken beginnen, wobei er das Motiv der Schöpfung unerwähnt lässt. Den Schöpfungsakt selbst versteht Jonas nicht im kreationistischen Sinne als Sieben-Tage-Werk Gottes, sondern als Initiierung eines naturhaften Werdeprozesses, einer physikalischen und biologischen Evolution, die bis heute Wesen hervorgebracht hat, die sich aufgrund ihrer Reflexionskompetenz ihrer selbst bewusst sein können.60

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Jonas: Gottesbegriff, S. 38f.; Henrix: Machtentsagung, S. 127 und 131; Schieder: Weltabenteuer, S. 168. Vgl. Schieder: Weltabenteuer, S. 169; dazu auch Rommel: Leid, S. 172, der hier noch einmal auf das Verhältnis von Differenz und Identität eingeht. Vgl. Jonas: Gottesbegriff, S. 38; Schieder: Weltabenteuer, S. 168. Gründe für diese Annahme mögen sein, dass er „die Schöpfung des Menschen als einen Akt der Liebe Gottes zum Menschen“ anerkennt oder er am „Gutsein Gottes [festhält], weil ein böser Gott von satanischen Mächten nicht mehr unterschieden werden könnte und insofern der Gottesglaube obsolet würde“ (Rommel: Leid, S. 171). Jonas: Gottesbegriff, S. 33. Ebd. Ebd., S. 15; Zum Begriff des Mythos vgl. Schieder: Weltabenteuer, S. 148. Vgl. Schieder: Weltabenteuer, S. 148; Rommel: Leid, S. 173; Henrix: Machtentsagung, S. 128. 253

Hans Jonas nimmt in Anlehnung an die mittelalterliche Idee des Zimzum („Kontraktion“)61 an, dass als Bedingung für die Möglichkeit der Schöpfung bei diesem Schöpfungsakt eine totale und konsequente Selbstentäußerung Gottes an die Immanenz62 stattgefunden hat.63 Diese göttliche Selbstbeschränkung hat die absolute Freiheit des Menschen zum Ziel. Sie sollen autonome und verantwortungsvolle Wesen sein, die sich in Freiheit die Gesetze ihres eigenen Handelns geben können.64 Zur Folge hat diese radikalisierte Annahme der „Machtentsagung“ aber einen irreversiblen und totalen Rückzug aus der Schöpfung und insofern den Verzicht auf jegliche Einflussnahme auf die Welt.65 Insofern muss der in jeder klassischen Schöpfungslehre angenommene Aspekt der gubernatio mundi wegfallen und gleichfalls die Garantie, dass der Weltprozess einen guten Verlauf nimmt.66 Selbst in größter Not, wie des Leides in Auschwitz, interveniert Gott demnach nicht. Allerdings nicht, weil er nicht wollte, sondern weil er zugunsten der menschlichen (Willens-)Freiheit nicht konnte.67 Das Böse in der Welt ist demnach auch kein Prinzip der Dunkelheit, wie bspw. im persischen Manichäismus angenommen. Denn auch diese Vorstellung von einer äußeren Macht, die den Menschen lenkt, würde diesen wieder in die Unfreiheit degradieren.68 Doch ist der Mensch durch seine Vernunftbegabung und seine ihm zukommende Freiheit in der Lage, sich immer wieder frei zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Insofern liegt das Böse nach diesem Ansatz im Menschen begründet. Und demnach stellt Auschwitz die Perversion dieser Freiheit dar, die allein durch die Schuld des Menschen verursacht wurde. Folglich

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Zum kabbalistischen Ursprung dieses Mythos vgl. Schieder: Weltabenteuer, S.  174– 176; Gross/​Kuschel: Finsternis, S. 174f.; Henrix: Machtentsagung, S. 129. Zum Verständnis des Immanenz- und des Selbsteinholungsbegriffs vgl. v. a. Schieder: Weltabenteuer, S. 148–150 mit Anm. 33. Henrix: Machtentsagung, S. 129. Vgl. Jonas: Gottesbegriff, S. 41. Schieder: Weltabenteuer, S. 148; Gross/​Kuschel: Finsternis, S. 172f. Vgl. Schieder: Weltabenteuer, S. 148; ebenso zur Unterscheidung zwischen prä-humanem und humanem Bereich S. 145–147. Vgl. Jonas: Gottesbegriff, S. 41. Ebd., S. 43. 254

entlastet Hans Jonas in seiner Theodizee Gott und belastet zugleich den Menschen.69

„[E]in leidender, werdender und sich sorgender Gott“70 Als erste Implikation seines Mythos vom nicht allmächtigen Gott stellt Jonas fest, dass Gott fortan nur dann adäquat gedacht werden kann, wenn er als radikal leidender Gott gedacht wird. „Leid muss nicht länger nur anthropologisch, sondern auch strikt theologisch gedeutet werden.“71 Die Radikalität des Leids besteht darin, dass dieses Leid nicht, wie das soteriologisch motivierte Leiden im Kreuzestod Jesu im Christentum, partiell oder punktuell gedacht werden kann. Vielmehr, dass Gott seit dem Augenblick der Schöpfung und seiner Entäußerung in die Welt mit der geschundenen Kreatur Mensch leidet.72 Hier manifestiert sich die Solidarität Gottes mit den Menschen, sie macht ihn sympathisch. Die Problematik des hier beschriebenen Gottesbildes und seiner möglichen Reibungspunkte mit der biblischen Theologie löst Jonas, indem er auf „den Propheten Hosea und Gottes bewegte Liebesklage um sein ungetreues Weib Israel“73 verweist. Weiterhin impliziert der vorgestellte Mythos die Annahme, dass es sich um einen werdenden Gott handeln muss.74 Ein solches Prozessdenken widerspricht wiederum der traditionellen jüdisch-christlichen75 Theologie. Auch hier löst Jonas den Widerspruch auf, indem er darauf verweist, dass dieser „Strang der traditionellen philosophischen Theologie platonisch-aristotelischer Provenienz“76 von

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Rommel: Leid, S. 174. Jonas: Gottesbegriff, S, 25. Gross/​Kuschel: Finsternis, S. 171; Henrix: Machtentsagung, S. 126. Vgl. Jonas: Gottesbegriff, S. 25f.; Schieder: Weltabenteuer, S. 159. Jonas: Gottesbegriff, S. 26; Zur urjüdischen Vorstellung des leidenden Gottes gegenüber einem Apathie-Axiom auch Schieder: Weltabenteuer, S. 182. Gross/​Kuschel: Finsternis, S. 171. Obwohl es hier vor allem um die jüdisch-theologischen Ausführungen Hans Jonas’ gehen soll, wird im Hinblick auf die abschließende Bewertung des Jonas’schen Ansatzes aus christlicher Perspektive auf jüdisch-christliche Gemeinsamkeiten der zugrundeliegenden Theologie hingewiesen. Schieder: Weltabenteuer, S. 160; Henrix: Machtentsagung, S. 126f. 255

der jüdisch-christlichen Theologie übernommen wurde und „irgendwie eine Autorität für sich usurpiert hat“.77 Das Werden wurde in diesem Prozess dem ewigen Sein als minderwertig untergeordnet.78 Der Jonas’sche Mythos geht aber davon aus, dass Gott in der Relation mit seiner Schöpfung gesehen werden muss, da er sie rein wissend oder aber mit Interesse begleitet und so in Interaktion mit dem Weltgeschehen steht. Diese „kardinale Annahme“79 wiederum beeinflusst und verändert ihn.80 Demzufolge weist Jonas darauf hin, „dass die Vorstellung von einem sich im Werden befindenden Gott die Idee einer Wiederkehr des Gleichen zerstört.“81 Als letzte Implikation seines Mythos führt er an, dass es sich um einen sich sorgenden Gott handeln muss.82 Mit diesem Gedanken steht er in der jüdischen Tradition, modifiziert aber auch hier dieses religiöse Axiom, indem er davon ausgeht, „dass dieser sorgende Gott kein Zauberer ist, der im Akt des Sorgens zugleich auch die Erfüllung seines Sorgeziels herbeiführt“.83 Durch seine Entäußerung hat er etwas von seiner Sorge um die Welt in die Hand des Menschen gelegt und ist insofern ein „gefährdeter Gott, ein Gott mit eigenem Risiko“,84 der der Welt nicht fern ist, sondern mit der Welt verbunden.85

„[E]in in Stammeln vor dem ewigen Geheimnis“ 86 Für Hans Jonas wurde der Schrecken von Auschwitz bittere Realität, die nicht verharmlost, aber auch nicht mit den bis dato gängigen religiösen Deutungsmustern erklärt werden kann. Dennoch möchte er am Gottesglauben und am Prädikat der

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Jonas: Gottesbegriff, S. 27. Vgl. ebd., S. 27f.; Schieder: Weltabenteuer, S. 160. Jonas: Gottesbegriff, S. 29. Vgl. ders.: S. 28f.; Schieder: Weltabenteuer, S. 160f. Jonas: Gottesbegriff, S. 29. Gross/​Kuschel: Finsternis, S. 171. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32; vgl. hierzu auch Schieder: Weltabenteuer, S. 163f. Vgl. Gross/​Kuschel: Finsternis, S. 172; Henrix: Machtentsagung, S. 135. Jonas: Gottesbegriff, S. 48. 256

prinzipiellen Verstehbarkeit Gottes festhalten.87 Für ihn steht aber insofern fest, dass eine ‚Theodizee nach Auschwitz‘ eine Arbeit am Gottesbild mit sich bringen muss: Das Prädikat der Allmacht muss in diesem logischen Widerspruchsproblem zugunsten der Ohnmacht, demzufolge das Sein für das Werden, das Sorgen und das Leiden des guten Gottes weichen. Die Shoah wird so zur Perversion der durch die Schöpfung gottgegebenen menschlichen Freiheit, Gott konnte gegen dieses moralische Übel nichts tun, obwohl er es wollte, er litt und leidet mit und am Menschen.

„[E]in Stück unverhüllt spekulativer Theologie“? 88 – Der Versuch einer kritischen Würdigung aus christlicher Sicht Diese Theodizee scheint es zu ermöglichen, nach Auschwitz noch an Gott zu glauben, wirft aber auch viele Fragen auf. Auf wesentliche soll hier abschließend eingegangen werden.89 So scheint es mit Blick auf die traditionelle jüdische und christliche Theologie möglich, sich vom „Apathie-Axiom“90, der Vorstellung eines statischen, apathischen, leidensunfähigen Gottes zu verabschieden und so ein (Mit-)Leiden Gottes zuzulassen. Schließlich wird davon ausgegangen, dass dem Schöpfungsakt die Liebe als Motiv vorausging. So wäre es unvorstellbar, dass Gott seiner Schöpfung distanziert, leidensunfähig oder gar gleichgültig gegenübersteht. Gleichzeitig aber bleibt zu fragen, inwieweit eine solche Leidensfähigkeit gedacht werden kann. Denn das ‚Mit-leiden‘ Gottes bringt nicht nur keinen Trost für die Menschen, vielmehr intensiviert es vorhandenes Leid durch die menschliche Vorstellung, dass selbst Gott dieses Leid nicht verhindern oder abstellen kann und selbst angesichts dieser Realität leidet. Vielmehr bleibt zu fragen, ob mit dieser Selbstentäußerung, die zum Leiden führt, nicht auch alle Heilsmöglichkeiten verschwunden sind, die zur „eschatologische[n] Beendigung und Vollendung des

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Henrix: Machtentsagung, S. 131. Jonas: Gottesbegriff, S. 7. Hier sei auf die detaillierte kritische Würdigung der Jonas’schen Theodizee bei Schieder: Weltabenteuer, S. 178–198 verwiesen. Vgl. ebd., S. 182. 257

leidvollen Weltprozesses“91 führen soll(t)en.92 Thomas Schieder fragt zurecht, ob ein solcher leidender, gar bemitleidenswerter Gott nicht aufhört, Gott zu sein.93 Jonas selbst bewertet den unorthodoxen Gedanken der göttlichen Ohnmacht als kritischste These. Eine Annahme, die sowohl „der herkömmlichen philosophischen Theologie als auch dem biblischen Gottesbild sowie der religionsgeschichtlich und wissenschaftlich zu konstatierenden Universalität des Allmachtsattributs zuwiderläuft.“94 Das Alte Testament ist nicht zu denken ohne den Jahwe Sabaot, den Herr der Heerscharen, der das Volk Israel aus Ägypten geführt hat und verspricht, ihm auch in Zukunft machtvoll-helfend beizustehen, als Herr der Geschichte.95 Obwohl im Neuen Testament expressis verbis seltener von der Allmacht die Rede ist, ist sie auch hier wesentlicher Bestandteil des Gottesbildes. Die Wunder Jesu geschehen im Namen Gottes, er ist nach wie vor Herr über Leben und Tod und Gott ist hier der liebende und sorgende (mächtige) Vater.96 Insofern kann der absolute radikale Verzicht auf die göttliche Allmacht in keiner jüdisch-christlichen Theologie bestehen. In dieser Radikalität ist auch der Gedanke des Werdens abzulehnen. Schließlich ist es theologisch nachvollziehbar, dass Gott in der Interaktion mit seiner Schöpfung affiziert wird, alleine aufgrund der Tatsache, dass Gott durch die Existenz seiner Schöpfung eine gewisse Begrenzung erfährt. Allerdings muss er, trotz dieser Veränderung, Herr der Geschichte bleiben, um gerade seine Schöpfung eschatologisch zu vollenden.97 Insofern muss, um in der jüdisch-christlichen Theologie zu bleiben, auch das ‚Sorgen-für‘ die Schöpfung aufseiten des Göttlichen liegen, bei Jonas liegt sie dagegen vor allem im Bereich des Kreatürlichen.98 Denn Jonas führt bereits zu Beginn seines Vortrages an: „Die Wunder, die geschahen, kamen von Menschen allein: die Taten jener einzelnen, oft unbekannten Gerechten un-

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Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 181–183; Rommel: Leid, S. 173f.; Henrix: Machtentsagung, S. 131. Vgl. Schieder: Weltabenteuer, S. 183; v. a. mit Anm. 171. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. ebd. Vgl. Rommel: Leid, S. 173; Schieder: Weltabenteuer, S. 190. Vgl. ebd., S. 185–187. Vgl. ebd., S. 188. 258

ter den Völkern, die selbst das letzte Opfer nicht scheuten.“99 Insofern wird seine Theologie gleichzeitig zur Anthropologie, die Arbeit am Gottesbild zur Arbeit am Menschenbild.100 Die Schöpfung und der Mensch sind sich selbst überlassen: „Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.“101 Und diese Aufforderung, durch Menschlichkeit die Welt besser zu machen, ist, unabhängig von einem fragwürdig radikalisierten Gottesbild, 75 Jahre nach der Auschwitzbefreiung aktueller denn je.

Zur Autorin Studium der Geschichte und der katholischen Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Gymnasiallehrerin für die Fächer Geschichte und katholische Religion, 2018–2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin, seit 2019 Lehrbeautragte für das Fach Biblische Theologie und Bibeldidaktik am Institut für katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau.

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Jonas: Gottesbegriff, S. 41. Rommel: Leid, S. 174. Jonas: Gottesbegriff, S. 175. 259

Bettina Kruhöffer

Schöpfungstheologische Implikationen der Verantwortungsethik Hans Jonas’ – Kritische Anfragen und konstruktive Impulse 1. Einleitung Im Jahr 2019 – zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels – lag die Veröffentlichung von Hans Jonas’ Werk Das Prinzip Verantwortung1 genau um 40 Jahre zurück. Mit dem Erscheinen des Werkes im Jahr 1979 ist Hans Jonas in Deutschland „mit einem Schlag zur moralischen Autorität und öffentlichen Person“2 geworden. Das Interesse an seinem Denken und die kritische Auseinandersetzung mit seinem philosophischen Ansatz sind bis heute ungebrochen. Insbesondere die Herausgabe der Kritischen Gesamtausgabe3 gibt ein eindrucksvolles Zeugnis davon.4 In dieser Ausgabe wird zudem deutlich, dass Jonas sich dem Thema Verantwortungsethik bis zu seinem Lebensende gewidmet und eine Fülle an ergänzenden Texten sowie Diskussions- und Interviewbeiträgen hinterlassen hat, sodass sein verantwortungsethischer Ansatz zu Recht als „work in progress“5 bezeichnet werden kann.

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Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i. Br./​Berlin/​Wien 2015, S. 1–420. Böhler, Dietrich/​Herrmann, Bernadette: Vorwort zum ersten Teilband. In: Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i. Br./​Berlin/​Wien 2015, S. VII–VIII, VII. Ebd. Vgl. Huber, Wolfgang: Ehrfurcht vor dem Heiligen. In: Pastoraltheologie 10 (2018), S. 411–426, S. 412. Böhler/​Herrmann: Vorwort zum ersten Teilband, S. VII. 260

Jonas hat durch sein Schaffen Denkanstöße für viele Anwendungsbereiche der Ethik gegeben, genannt werden sollen hier beispielhaft seine frühen Überlegungen zur Klimaproblematik. Für die heutige Leserin oder den heutigen Leser ist es erschreckend, dass sich Jonas’ Prognose von 1979 mittlerweile in nicht mehr zu verleugnende Realität verwandelt hat: Es ist der ‚Treibhauseffekt‘, der eintritt, wenn das bei der Verbrennung gebildete Kohlendioxyd sich weltweit in der Atmosphäre anreichert […]. Ein so eingeleitetes und von uns weitergespeistes Ansteigen der Welttemperatur […] könnte zu Dauerfolgen für Klima und Leben führen, die niemand will – bis zum katastrophalen Extrem von Polareisschmelze, Steigen des Ozeanspiegels, Überflutung großer Tieflandflächen …6

Auch in der evangelischen Sozialethik ist der Ansatz von Hans Jonas früh aufgegriffen worden. Die unmittelbar einleuchtenden Aussagen der Verantwortungsethik wurden hier allerdings auch von kritischen Untertönen begleitet. Diese richteten sich vor allen Dingen auf den theoretischen Begründungshintergrund der Verantwortungsethik. Demgegenüber werden aktuell – auch aus philosophischer Perspektive – die theologischen Implikationen und Begründungsansätze in Jonas’ Werk hinsichtlich ihrer möglichen Tragkraft mit Interesse wahrgenommen.7 Um der Frage nachzugehen, inwieweit heute ein Dialog mit Jonas’ verantwortungsethischem Konzept für theologische Überlegungen fruchtbar gemacht werden kann, sollen nach der Darstellung der Grundzüge seiner Verantwortungsethik einige ausgewählte Kritikpunkte entfaltet werden. Anschließend wird gefragt, inwieweit die theologischen Spuren in Jonas’ Werk dazu beitragen können, auf die kritischen Anfragen an sein verantwortungsethisches Konzept zu antworten und zu einem theologisch produktiven Umgang mit seinem Entwurf zu ermutigen.

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Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 358f. Vgl. Henrich, Johanna: Strategie Zukunft und Welt. Zur Bedeutung eines ontologischen Begründungskonzeptes nachhaltigen Handelns und Verantwortens. Frankfurt a. M. 2015, S. 198–223; Theis, Robert: Hans Jonas. Etappen seines Denkwegs, Wiesbaden 2019, S. 51–56. 261

2. Grundaussagen der Verantwortungsethik8 Jonas grenzt sich von der bisherigen Ethik ab, deren Merkmale er benennt und zugleich kritisiert: Erstens wird erwähnt, dass der nichtmenschliche Bereich bisher nicht als Gegenstand ethischen Nachdenkens galt. Dazu komme die anthropozentrische Prägung der traditionellen Ethik sowie ihre Gestalt als Nahbereichsethik, welche sich sowohl zeitlich als auch räumlich nicht auf entferntere Ziele bezöge. Als Beispiel hierfür kann Jonas das christliche Prinzip der Nächstenliebe anführen. Außerdem sei man bisher davon ausgegangen, dass der ‚Mensch‘ als im Wesen konstant angesehen wurde, was jedoch im Blick auf gentechnologische Manipulationen nicht mehr zutreffe.9 Angesichts der technologischen Entwicklung ergibt sich nach Jonas eine neue Dimension der Verantwortung. Diese entwertet keinesfalls Werte der Nahbereichsethik wie Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, berücksichtigt aber nun, dass der Bereich des kollektiven Tuns stetig wächst, sodass „Täter, Tat und Wirkung nicht mehr dieselben sind wie in der Nahsphäre“10. Dies hängt mit dem enormen Machtzuwachs des Menschen zusammen, nämlich der Situation, dass durch technische Innovationen die Biosphäre unseres Planeten nicht nur beeinflusst, sondern durch menschliche Eingriffe verletzlich geworden ist.11 Eine rein anthropozentrische Ethik ist daher nicht mehr angemessen, sondern es muss das Eigenrecht der Natur mit berücksichtigt werden.12 Vor diesem Hintergrund wird nun – in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ – ein Imperativ formuliert, „der auf den neuen Typ menschlichen Handelns passt“13. Dieser neue Imperativ wird von Jonas in verschiedenen Varianten 8

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Es wäre vermessen, das auf rund 400 Seiten entfaltete Gesamtwerk Das Prinzip Verantwortung in wenigen Abschnitten vollständig zusammenfassen zu wollen. Daher findet im Folgenden eine Beschränkung auf einige Kernaussagen und Argumente statt, welche insbesondere innerhalb der theologischen Diskussion aufgegriffen wurden. Dabei werden spätere Veröffentlichungen Jonas’ wie Interviews oder Vorträge zur Verdeutlichung mit herangezogen. Philosophische bzw. politische Vertiefungen wie die Auseinandersetzung Jonas’ mit Ernst Bloch oder marxistischen Theorien müssen in diesem Rahmen daher unerwähnt bleiben. Vgl. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 27f. Ebd., S. 31. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 40. 262

angeboten und gehört wohl zu den meistzitierten Abschnitten seiner Verantwortungsethik: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ oder negativ ausgedrückt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“; oder einfach: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden“; oder, wieder positiv gewendet: „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein“14.

Diese Formulierungen muten zunächst weiterhin recht anthropozentrisch an. In einem später gehaltenen Vortrag stellt Jonas jedoch klar, dass der Mensch, welcher nun die „planetarische Macht ersten Ranges“15 besitzt, nicht mehr nur ausschließlich an sich selber denken darf: Zwar drückt das Gebot, unseren Nachkommen kein verödetes Erbteil zu hinterlassen, diese Erweiterung des ethischen Blickfeldes immer noch im Sinne einer menschlichen Pflicht gegenüber Menschen aus – als Einschärfung einer allmenschlichen Solidarität des Überlebens und des Nutzens […]. Aber recht verstanden reicht die Einbeziehung der Fülle […] über den nutzenorientierten und jeden anthropozentrischen Blickpunkt hinaus. Die erweiterte Sicht verbündet das menschliche Gute mit der Sache des Lebens im Ganzen, anstatt jenes diesem feindlich gegenüberzustellen, und gewährt dem außermenschlichen Leben sein eigenes Recht.16

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Ebd. Jonas, Hans: Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen? In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i.  Br./​ Berlin/​Wien 2015, S. 515–528, S. 516. Ebd., S. 516f. 263

Für die geforderte Zukunftsethik ist des Weiteren eine interdisziplinär ansetzende, „vergleichende Futurologie“17 von Nöten, welche sich darum bemüht, das Wissen um die Folgen des menschlichen Tuns zu steigern und die vorweggenommenen Folgen des Handelns kritisch zu bewerten.18 Was bedeuten nun diese Überlegungen für das konkrete Handeln insbesondere in den Bereichen der Forschung, der technischen Entwicklung und den damit verbundenen Entscheidungen? Hier kommt ein weiteres Spezifikum zum Tragen, die sogenannte „Heuristik der Furcht“19. Gemeint ist, dass sich der Mensch die mögliche Zukunftsbedrohung schonungslos vor Augen führen muss. Das Erschrecken vor den schlimmen Fernwirkungen des gegenwärtigen Handelns wird zu einem wichtigen Bezugspunkt ethischer Reflexion. Betont wird dabei der Vorrang der schlechten vor der guten Prognose: „Es ist Vorschrift, primitiv gesagt, daß der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung.“20 Im Blick auf die Verwendung mineralischer Rohstoffe sind beispielsweise nicht nur die gegenwärtige Nutzbarkeit für Energiegewinnung zu bedenken, sondern auch die irreversiblen planetarisch-biosphärischen Langzeitfolgen der Verwendung wie der oben bereits erwähnte Treibhauseffekt.21 Die Verantwortungsethik impliziert, dass die Pflicht zur Verantwortungsübernahme für das Leben zukünftiger Generationen mit dem Verzicht im Hier und Jetzt verbunden sein muss. Jonas kritisiert die Konsumgewohnheiten der westlichen Welt bzw. den damit verbundenen Lebensstandard als „Gefräßigkeit“ und als einen Hauptschuldigen an der globalen Umweltgefährdung.22 Auch der Forschungsfreiheit müssen bestimmte Grenzen gesetzt werden.

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Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 65. Vgl. Jonas, Hans: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik. In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i. Br./​Berlin/​Wien 2015, S. 529–544, S. 534. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 65. Ebd., S. 74. Vgl. Jonas, Hans: Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden. In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i.  Br./​Berlin/​Wien 2015, S. 549–560, S. 559. Vgl. Jonas: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, S. 541. 264

Die Verpflichtung zur Zukunftsethik kann jedoch nicht mit dem Prinzip der Wechselseitigkeit begründet werden. Ein Kennzeichen der Verantwortung bei Jonas ist der Wegfall der Reziprozität. Die „Frage ‚Was hat die Zukunft je für mich getan? Respektiert sie denn meine Rechte?‘“23 kann so nicht gestellt werden. Diese Form des einseitigen Verantwortungsverhältnisses entspricht den Beziehungen zwischen Eltern und Kind sowie dem Staatsmann und dem Staatswesen.24 Begründet wird die Pflicht zur Verantwortung bei Jonas letztlich ontologisch: Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: Das Können selbst führt mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zur Freiheit.25

Jonas ist sich bewusst, dass er aufgrund dieser Art der Ableitung mit dem Widerspruch der zeitgenössischen Philosophie rechnen muss. Allerdings habe ihn die grundsätzliche Absage an einen Sein-Sollen-Schluss noch nie überzeugt.26 Aus diesem Grund hält er zur Grundlegung seiner Zukunftsethik an der „so oft schon totgesagten Metaphysik“27 fest: „Das Sein, wie es sich selbst bezeugt, gibt Kunde nicht nur davon, was es ist, sondern auch davon, was wir ihm schulden.“28

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Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 89. Vgl. ebd., S. 208f. Jonas: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, S. 531. Vgl. Jonas: Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?, S. 520. Jonas, Hans: „Der Zeitgeist kann mir den Buckel herunterrutschen“. In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i. Br./​Berlin/​Wien 2015, S. 545–548, S. 547. Ebd. 265

3. Theologische Rezeption und Kritik am Ansatz von Hans Jonas Bis in die 1970er Jahre hinein führte das Thema ‚Natur‘ innerhalb der evangelischen Theologie ein Schattendasein. Ansätze von Karl Heim oder Dietrich Bonhoeffer konnten sich angesichts der starken Orientierung an der Dialektischen Theologie, welche zu einer tendenziellen Naturvergessenheit innerhalb des theologischen Diskurses führte, nicht durchsetzen. Die erneute Beschäftigung mit der Thematik war die Konsequenz auf die gesellschaftlichen Impulse und vor allem auch auf die Vorwürfe aus Reihen der neuen Umweltbewegung der 1970er Jahre, beispielsweise vorgebracht durch Carl Amery.29 Im Zentrum dieser Kritik stand der biblische Herrschaftsauftrag (Gen 1,26ff.) bzw. eine von ihm ausgehende gnadenlose Einstellung zur Ausbeutung der nichtmenschlichen Natur. Daraufhin wurde im Rahmen ethisch-theologischer Veröffentlichungen eine erneute exegetische, selbstkritische Untersuchung der biblischen Schöpfungsberichte von Nöten. Mit diesem Prozess kam – wenn auch zögerlich – eine Bewegung in Gang, die gerade über die Umweltproblematik zu einer Reinterpretation schöpfungstheologischer Überlegungen und zu einer neuen Wertschätzung der Natur führte.30

In diesem neu entstehenden Diskurs ist auch das Werk von Hans Jonas rezipiert worden. In der gemeinsamen EKD/​DBK-Schrift von 1985 findet sich zwar kein direkter Verweis auf Das Prinzip Verantwortung, aber die ausformulierten Thesen zur Notwendigkeit der vorausschauenden Gefahrenabschreckung sowie zur Berücksichtigung der Interessen künftiger Generationen sprechen eindeutig Jonas’ Sprache: „Ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs seiner Macht müsste den Menschen die Furcht lehren, in naiver Unvorsichtigkeit zerstörerische Folgen seines Handelns zu übersehen.“31 29

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Vgl. Amery, Carl: Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums. Hamburg 1972. Gräb-Schmidt, Elisabeth: Umweltethik. In: Huber, Wolfgang/​Meires Torsten/​Reuter, Hans-Richard: Handbuch der Evangelischen Ethik. München 2015, S. 649–704, S. 668. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/​Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz. Köln 1985, S. 29. 266

Eine frühe theologische, explizite Auseinandersetzung mit Jonas’ Verantwortungsethik findet sich bei Wolfgang Erich Müller. Trotz einiger kritischer Anfragen (s. u.) ist seiner Meinung nach der „Beitrag der Gegenwartsanalyse Jonas’ zu einer ethischen Reflexion hoch zu veranschlagen.“32 Es sei Jonas’ Verdienst, „unsere Zeit eindringlich auf die Folgenhaftigkeit menschlichen Handelns hingewiesen zu haben“33. Dieser Ruf nach einer teleologischen Ethik ist gerade in der heutigen Diskussion erneut zu verstärken. Seit der Veröffentlichung des Werkes Das Prinzip Verantwortung haben – so die aktuelle Einschätzung von Wolfgang Huber – die „Gründe, die Hans Jonas für die Orientierung am Vorsichtsprinzip geltend gemacht hat, […] nicht ab-, sondern zugenommen“34. Wie bereits erwähnt, sind andererseits bestimmte Aspekte der Verantwortungsethik von Hans Jonas aus theologischer Perspektive schon früh problematisiert worden.35 Einige ausgewählte Kritikpunkte sollen an dieser Stelle angesprochen werden. Exemplarisch soll dafür als erster Ausgangspunkt die Sozialethik Ulrich Körtners36 dienen. Während Körtner die Überzeugung von Jonas teilt, dass der Vorzug des Verantwortungsbegriffs in der Berücksichtigung der Zukunftsdimension unseres Handelns liegt, hält er andererseits den Verantwortungsbegriff für kein hinreichendes Prinzip der Ethik und weist darüber hinaus auch einige der zentralen Annahmen von Jonas’ Ethik entschieden zurück.37 In diesem Zusammenhang wird vor allem die Herleitung des verpflichtenden ‚Sollens‘ aus dem Wert des ‚Seins‘ bei Jonas kritisiert. Letztlich ist der Begründungsversuch in Jonas’ Entwurf nach Körtner als „naturalistischer Fehlschluß“38 zu bezeichnen: Ausschließlich nichtmoralische Prämissen stellen

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Müller, Wolfgang Erich: Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas. Frankfurt a. M. 1988, S. 129. Ebd., S. 146. Huber: Ehrfurcht vor dem Heiligen, S. 414. Vgl. Buri, Fritz: Das Problem der Verantwortung bei Hans Jonas und Hans Küng. In: Theologische Zeitschrift 3 (1981), S. 164–172, S. 164; vgl. Müller: Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas, bes. S. 125. Körtner, Ulrich H. J.: Evangelische Sozialethik. Göttingen/​Bristol C.T. USA 32012. Vgl. ebd., S. 93, S. 95. Ebd., S. 101. 267

keine Basis für eine moralische Schlussfolgerung dar.39 Der Argumentation Jonas’ liegt nach Sichtweise des Kritikers prinzipiell bereits eine vorausgesetzte positive Bewertung einer bestimmten Seinsweise zu Grunde.40 Körtner schließt sich in diesem Zusammenhang den Ausführungen von Wolfgang Erich Müller an, der vorschlägt, auf den schwierigen philosophischen Begründungszusammenhang ganz zu verzichten „und die Ethik allein aus der Betroffenheit über die Hybris des Menschen heraus zu entwerfen“41. Eine weitere Problematik sieht Körtner in Jonas’ Forderung nach einer Heuristik der Furcht, welcher eine tendenzielle Technikfeindlichkeit sowie die Verdrängung der Gegenwartsverantwortung vorgeworfen wird: So einleuchtend diese Maxime auf den ersten Blick erscheinen mag, so problematisch ist sie in Wahrheit. Sie fordert nämlich die freiwillige Selbstbeschränkung menschlichen Handelns, welche in ihrer Summierung den Fortbestand der Menschheit nicht minder gefährden kann wie die hemmungslose Ausschöpfung aller technologischen Möglichkeiten […]. So berechtigt die Jonassche Kritik am utopischen oder technokratischen Meliorismus ist, so birgt doch seine Heuristik der Furcht in sich die Gefahr, dass jede Motivation zur Veränderung bestehender Lebensverhältnisse im Keim erstickt wird.42

Insbesondere die Vernachlässigung der Gegenwartsethik wird auch von Etienne de Villiers bemängelt. Sie wirft Jonas vor, dass seine Verantwortungsethik „vollständig als eine Zukunftsethik konstruiert“ wird, und hält dies für „inakzeptabel“: „Das unausweichliche Resultat wäre, dass andere drängende gegenwärtige moralische Probleme, wie das Problem der rückwirkenden Zuschreibung der Verantwortung für Kriegsverbrechen, die enorme ökonomische Ungleichheit in der Welt und die Not der Armen, ignoriert oder als weniger wichtig eingestuft würden.“43

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Vgl. Fischer, Johannes/​Gruden, Stefan/​Imhof, Esther u.  a. (Hg.): Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Stuttgart 2007, S. 118. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 101. Müller: Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas, S. 145. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 118. De Villiers, Etienne: Perspektiven einer christlichen Verantwortungsethik. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 51. Jg. (2007), S. 8–23, S. 11. 268

Eine einseitige Betonung der Zukunftsperspektive hält auch Wolfgang Huber insofern für kritikwürdig, als Handlungen nicht nur im Blick auf ihre Folgen, sondern auch „in sich selbst“44 hinterfragt werden müssen: Handlungen, die im Blick auf ihre Folgen problematisch sind, bieten häufig in sich selbst Anlass zu ethischen Zweifeln. Maßnahmen beispielsweise, die durch hohen Ressourcenverbrauch gekennzeichnet sind, verdienen Kritik nicht nur, weil sie auf künftige Generationen negative Auswirkungen haben, sondern auch, weil sie die Ungleichheit der Ressourcenbeanspruchung unter den gleichzeitig Lebenden verstärken.45

Ein dritter Kritikpunkt besteht darin, dass der geforderten Zukunftsverantwortung in Jonas’ Entwurf eine gewisse „Maßlosigkeit“46 bescheinigt wird. Dem Menschen werde somit ein Zuviel an Verantwortung aufgebürdet, die Sicherung der Zukunft werde ganz in seine Hände gelegt. Hier besteht eine massive, eventuell sogar anmaßende Überforderung, die unter anderem schon dadurch scheitern muss, dass Zukunftsprognosen „mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit“47 verbunden sind. In der rechtfertigungstheologisch begründeten Sozialethik Körtners wird dagegen betont, dass diese den Verantwortungsbereich des Menschen gerade von allen soteriologischen Forderungen befreit und die Handlungsziele auf ein menschliches Maß reduziert. Weder die Bewahrung der Schöpfung noch die Rettung der Menschheit sind eine theologisch vertretbare Forderung. Nur wenn das menschliche Handeln von der verantwortungsethischen Maßlosigkeit befreit wird, kann Verantwortung überhaupt konkret wahrgenommen werden.48

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Ebd., Huber, Wolfgang: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von Geburt bis zum Tod. München 2003, S. 175. Ebd., S. 175f. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 118f. Huber: Ehrfurcht vor dem Heiligen, S. 175. Ebd., S. 119. Dieser Vorwurf findet sich bereits bei Johannes Fischer, der in diesem Zusammenhang von der Bedrohung einer „menschlichen Selbstüberhebung“ spricht, vgl. Fischer, Johannes: Ethik als Verantwortungsethik. In: EvTh 2 (1992), S. 114–128, S. 121. 269

4. Schöpfungstheologische Implikationen und Antwortversuche Im Folgenden soll nun auf die drei entfalteten Anfragen geantwortet werden. Neben aller Nachvollziehbarkeit der vorgetragenen Kritikpunkte lohnt es sich, im umfassenden Werk Jonas’ nach Passagen zu suchen, welche die in der vorgebrachten Kritik veranschlagte Position Jonas’ in ein verändertes Licht rücken und die Berechtigung einer ausschließlich kritischen Sicht auf diese Teile seiner Argumentation in Frage stellen. Hilfreich sind hierbei unter anderem die theologisch gefärbten Einschübe im Werk Jonas’, die vor allem außerhalb der Schrift Das Prinzip Verantwortung zu finden sind. Gerade Äußerungen aus Debatten oder Interviews geben erhellende Einsichten in die facettenreiche Denkweise von Hans Jonas.

4.1 Zur Begründungsproblematik Jonas ist sich bewusst, dass seine ontologische Grundlegung des ‚neuen Imperativs‘ einer gewissen Verteidigung bedarf. Durch den nicht abzuweisenden Erfahrungsbezug – der Mensch besitzt Verantwortungsfähigkeit – sieht er seine Argumentation allerdings geschützt vor dem Vorwurf des Zirkelschlusses.49 Gleichzeitig macht er deutlich, dass er seine theoretische Begründung nicht als „Beweis“50 sondern als „vernünftige Option“51 versteht. Interessanterweise korrespondiert dieser Verzicht auf eine ‚Letztbegründung‘ bei Jonas mit seiner Einschätzung, dass die im neuen Imperativ formulierte Verpflichtung „theoretisch gar nicht leicht und vielleicht ohne Religion überhaupt nicht zu begründen“52 ist. Diese kann allerdings nicht die Basis für eine allgemeingültige Argumentation liefern: Religion kann Ethik nicht ersetzen, Religion ist keine „menschenbestimmende Tatsache“53 mehr. Menschen glauben

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Vgl. Jonas: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, S. 538. Ebd. Ebd, S. 539. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 40f. Ebd., S. 61. 270

nicht mehr an Gott und das biblische Schöpfungszeugnis, daher ist – auch für Glauben – vernunftbasierte Begründung wichtig, der nach Einsicht suchende Glaube.54 Trotz dieser Einschränkung finden sich in Jonas’ Ausführungen immer wieder Vergleiche mit religiösen Vorstellungen oder auch die Übernahme theologischer Begrifflichkeiten und Konzepte. Dabei ist es nicht ganz eindeutig zu bestimmen, wie das Verhältnis zwischen den philosophischen und theologischen Äußerungen bei Jonas zu deuten ist. Sind letztere ein „Fremdkörper im Gesamttheoriekonstrukt“, eine „optionale Sphäre“, die nur in den begleitenden Aufsätzen ausdrücklich zur Sprache kommt, oder verleihen sie „seinem Verantwortungsbegriff eine neue Tiefe“55? Jonas selbst scheint die Begründungsfähigkeit des Glaubens als solche nicht in Frage zu stellen, lediglich ihren Geltungsanspruch über den Rahmen des jüdisch-christlichen Glaubens hinaus: Nun bemerkte ich schon zuvor, daß die Technik heute den Menschen in eine Rolle eingesetzt habe, die nur die Religion ihr zugesprochen hatte: Verwalter und Wächter der Schöpfung zu sein. Gemeint war natürlich die jüdisch-christliche Religion. Und in der Tat, für den Gläubigen enthält der biblische Schöpfungsbericht – besonders die Sätze, daß Gott sein Werk gut fand, daß er den Menschen in seinem Bilde schuf und ihm die Herrschaft über alle anderen Wesen gab – die ganze gesuchte Begründung für seine mit der Herrschaft einhergehende Pflicht, die Integrität der göttlichen Schöpfung zu wahren, in sich selbst und in seiner Lebensumwelt. Ja sogar auf die berühmte – so leicht müßig erscheinende – Anfangsfrage der Metaphysik, warum überhaupt etwas anstatt nichts ist, findet er eine Antwort in dem göttlichen Urteil, das Geschaffene sei gut, sein Sein also besser als das Nichts. Hierin ist der Glaube zu beneiden.56

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Jonas: Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?, S. 519. Henrich: Strategie Zukunft und Welt, S. 201. Jonas: Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?, S. 518. 271

Die Frage, warum der Mensch überhaupt ein auch zukünftig schützenswertes Wesen darstellt, ist im Bereich des Glaubens bereits beantwortet worden. Dagegen muss die Philosophie – so Jonas – die Antwort auf diese Frage erst suchen.57 Jonas bietet also innerhalb seines Gesamtwerkes eine alternative Denkweise zu seiner ontologischen Argumentation an. In diesem Zusammenhang betont Wolfgang Huber, „dass Jonas sich der philosophischen Übereinkunft, um der Freiheit des Menschen willen von Gott zu schweigen, schließlich doch nicht unterwirft, sondern eine Öffnung zum Heiligen vollzieht“58. Ein mögliches Movens der Verantwortungsethik kann somit – so darf mit Blick auf Jonas behauptet werden – also durchaus im religiösen Denken gefunden werden.59 Für eine theologische Perspektive besteht also die Möglichkeit, die Grundgedanken Jonas’ für eine christliche Sozialethik fruchtbar zu machen. Dieses hätte dann allerdings zur Folge, dass der Begründungsweg keine universale Tragfähigkeit mehr besitzt.60 Dieses Problem besteht bei einer rechtfertigungstheologisch begründeten Verantwortungsethik wie der von Körtner allerdings ebenfalls.

4.2 Zur Vernachlässigung der Gegenwart Der zweite Problemkreis bezog sich darauf, dass die mit dem Prinzip der ‚Heuristik der Furcht‘ verbundene Abwägung von Langzeitfolgen dazu führen könnte, dringende Probleme der Gegenwart zu vernachlässigen. Es ist in den Ausführungen ersichtlich geworden, dass die Konzeption der Verantwortungsethik bei Jonas grundsätzlich als Zukunftsethik ausgearbeitet ist. Diese Dominanz der Ausrichtung auf die weitere Zukunft der Menschheit ist aber vor dem Hintergrund zu lesen, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Schrift gesamtgesellschaftlich der Ruf nach einem Umdenken laut wurde. Exemplarisch sind hier die Veröffentlichungen des „Club of Rome“61 zu nennen. Gerade vor dem Hintergrund

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Vgl. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 100. Huber: Ehrfurcht vor dem Heiligen, S. 418. Vgl. Theis: Hans Jonas, S. 56. Vgl. Müller: Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas, S. 145. Vgl. Meadows, Dennis L.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972; Vgl. Huber: Ehrfurcht vor dem Heiligen, S. 424. 272

des erwachenden ökologischen Bewusstseins und der gleichzeitig erfolgten kritischen Wahrnehmung der traditionellen Ethik als zu gegenwartsbezogen ist es verständlich, dass der Ruf nach der Berücksichtigung der Interessen zukünftiger Generationen vehement ausfallen musste. Dennoch zeigt sich auch bei genauerer Untersuchung, dass Jonas selbst „die Heuristik der Furcht gewiß nicht als das letzte Wort in der Suche nach dem Guten“62 verstanden hat, sondern als ein „hochnützliches erstes Wort“63, welches effektiv ist und daher bei der Erhebung der Befunde über das zu Erwartende genutzt werden sollte. Eng verbunden mit der Anwendung der ‚Heuristik der Furcht‘ ist die Forderung an die Menschen, auf bestimmte Dinge zu verzichten, um nicht auf Kosten zukünftiger Generationen zu leben. In einem Interview macht Jonas aber deutlich, dass sich dieser Aufruf in erster Linie an die Begünstigten, die Menschen der westlichen Industriewelt, richtet. Jonas ist sich bewusst, dass es nicht darum gehen kann, die Situation der notleidenden Menschen beispielsweise auf der südlichen Halbkugel der Erde zu ignorieren bzw. von diesen Menschen Verzicht zu fordern.64 Besonders deutliche Worte findet Jonas hierzu am Ende des Prinzips Verantwortung: „Die Ehrfurcht vor dem Menschen […] wird uns auch davor schützen, um der Zukunft willen die Gegenwart zu schänden, jene um den Preis dieser kaufen zu wollen.“65 Dass die Wertfrage bei Jonas sich darüber hinaus nicht ausschließlich auf eine globale Perspektive hin verschiebt, wird deutlich, wenn Jonas im Prinzip Verantwortung davon spricht, dass die Normen der ‚Nächsten-Ethik‘, „Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Ehrlichkeit usw. […] in ihrer intimen Unmittelbarkeit, für die nächste, tägliche Sphäre menschlicher Wechselwirkung“66 weiterhin gelten. Auch hier fällt die teilweise an theologisches Denken angelehnte Beschreibung der bleibenden ethischen Werte ins Auge.

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Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. Jonas: Dem bösen Ende näher. Spiegel-Gespräch mit Matthias Matussek und Wolfgang Kaden (1992). In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Zweiter Teilband: Tragweite und Aktualität einer Zukunftsethik, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i. Br./​Berlin/​Wien 2017, S. 458. Vgl. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 418. Ebd., S. 30. 273

4.3 Zum Problem der Maßlosigkeit Der Vorwurf, dass Jonas dem Menschen viel zumutet, sich im Blick auf den geforderten Verantwortungsbereich des Menschen innerhalb seines Ansatzes sogar eine gewisse Maßlosigkeit findet, ist nicht pauschal zurückzuweisen. So spricht Jonas beispielsweise davon, dass es bei der Verantwortungsübernahme des Menschen für die Zukunft „um den Fortgang des gesamten irdischen Schöpfungswunders“67 gehe. Der Mensch ist selbst eine Naturkraft hohen Ranges geworden, welcher die Bedingungen zukünftiger Menschen oder Menschenwürde, schöpferischer Freiheit, Menschenglück plus Weiterexistenz dieser reichen Lebenswelt, in die der Mensch eingebettet ist, in Frage stellt.68

Der enorme Machtzuwachs des Menschen, seine „bedenkliche Art von Überlegenheit“69, macht ihn also zu dem Wesen, welches für die Zukunft der Erde Verantwortung zu übernehmen hat. Diese Beschreibung der menschlichen Aufgabe hängt – betrachtet man nun Jonas’ theologische Äußerungen – eng mit dem Gottesbild zusammen, das Jonas bereits in seiner Schrift Unsterblichkeit und heutige Existenz70 entwirft und später in Der Gottesbegriff nach Auschwitz71 aufgreift und weiter ausführt. In Form eines ‚hypothetischen Mythos‘ erzählt Jonas von der Gottheit, die sich am Anfang willentlich dazu entschied, für die Zeit des fortgehenden Weltprozesses auf jede „Macht der Einmischung in den physischen Ver-

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Jonas: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, S. 544. Jonas: Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden, S. 556. Jonas, Hans: Die Bereitschaft zur Furcht ist ein sittliches Gebot. Gespräch mit Alexander U. Martens (1981). In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i.  Br./​ Berlin/​Wien 2015, S. 595–600, S. 597. Jonas, Hans: Unsterblichkeit und heutige Existenz. In: Ders.: Metaphysische und religionsphilosophische Studien, Bd. III/​1, hrsg. von Michael Bongardt, Udo Lenzig und Wolfgang Erich Müller. Freiburg i. Br./Berlin/​Wien 2014, S. 341–366, S. 357f. Jonas, Hans: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Berlin 2016. 274

lauf der Weltdinge“72 zu verzichten. Dabei betont Jonas, dass die Verneinung der göttlichen Omnipotenz radikal zu denken ist. Es genügt nicht, die Selbstzurücknahme Gottes als ein Zugeständnis zu interpretieren, das dieser von Zeit zu Zeit widerrufen kann, um mit starker Hand in das Weltgeschehen einzugreifen. Durch den Verzicht der göttlichen Macht ist die menschliche Freiheit zugelassen. „Nachdem [Gott] sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.“73 Da Gott in dieser Welt nicht agiert bzw. nicht agieren kann, ist der Mensch in eine besondere Verantwortung gerufen. Eine Verantwortung für die Zukunft spricht auch Körtner dem Menschen innerhalb seiner Sozialethik nicht ab. Aber er betont, dass jede Ethik unter dem „eschatologischen Vorbehalt“74 steht. Seiner Meinung nach muss bei einer theologischen Zukunftsethik unterschieden werden zwischen dem innerweltlichen „futurum“ als der für den Menschen planbaren Zukunft und dem eschatologischen „adventus“75, dem absoluten Reich Gottes verbunden mit der vollständigen Versöhnung, welche nur durch das Handeln Gottes erreicht wird. Während Körtner die endgültige Zukunft der Schöpfung allein in Gottes Hände legt, rechnet Jonas nicht mehr mit dem jenseitigen Eingreifen Gottes. Nach Jonas behält Gott nicht wie im traditionell eschatologischen Denken noch die Macht, die Zukunft der Erde zu lenken oder zu beenden, dieses hängt allein am Verhalten des Menschen.76 Hier lässt sich eine Nähe zu Whiteheads Prozessphilosophie77 erkennen: Gemeinsam ist beiden, dass Gott die Welt dem Menschen übergeben hat […]. Damit unterscheiden sie sich auch von der traditionellen christlichen und jüdischen Vorstellung. Gott ist nicht länger Erlöser und Beschützer. Sich von dieser Vorstellung zu lösen, kann schmerzlich sein78,

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Ebd., S. 42. Ebd., S. 47. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 138. Ebd., S. 127. Vgl. Jonas: Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden, S. 550. Vgl. Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt a. M. 1979. Henrich: Strategie Zukunft und Welt, S. 222. 275

kann auf der anderen Seite aber auch den Menschen in seiner Freiheit und Mündigkeit herausfordern. Dieser Grundgedanke findet sich ebenso bei Jonas als auch in der sich unter den Einflüssen der Prozessphilosophie entwickelnden Prozesstheologie.79 Beide Ansätze provozieren ein verändertes Gottesbild: „Statt als moralischer Gesetzgeber und allbeherrschende Kontrollmacht das Weltgeschehen zu regieren, ist er [Gott] in schöpferischer Liebe auf die Welt bezogen und in seinem Werden von dieser abhängig.“80 Somit „stellt sein Leben selbst ein Wagnis dar, das um der Zunahme an Komplexität – und damit Freiheit – der Geschöpfe willen in Kauf genommen wird.“81 Der prozesstheologische Ansatz wäre demnach ein geeigneter Anknüpfungspunkt, die verantwortungsethischen Forderungen Jonas’ konstruktiv in die theologische Diskussion einzubringen. Werden nun die Möglichkeiten des Menschen, für seine eigene und für Gottes Zukunft zu sorgen, von Jonas überschätzt? Kann im Blick auf seine Überlegungen tatsächlich von einer Art menschlicher „Selbstüberhebung“82 gesprochen werden? Für eine Einschätzung dieses Problems ist auf die vorliegenden, spannungsreichen Aussagen Jonas’ zu dieser Fragestellung einzugehen. Einerseits traut Jonas der Menschheit zu, dass sie nicht „sehenden Auges in ihre Apokalypse“83 hineintaumeln wird. Der Mensch besitze „vitale Schlauheit, seine Fähigkeit zu sehen, zu planen, sich zu beherrschen, Gesetze zu machen und zu befolgen“84. Allerdings weiß Jonas auch darum, dass es in dieser Sache keine Garantien geben kann. Der Ausgang des menschlichen Engagements bleibt ungewiss: Man darf weder davon ausgehen, dass der Mensch Vernunft annimmt, noch dass er nicht gegebenenfalls erfinderisch wird und die Rettung herbeiführen kann.85

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Vgl. Cobb, John B./​Griffin, David Ray: Prozess-Theologie. Eine einführende Darstellung (Theologie der Ökumene, Bd. 17). Göttingen 1979, S. 52. Huxel, Kirsten: Art. Prozeßtheologie II. In: RGG4, Bd. 6, Sp. 1757–1758, Sp. 1758. Ebd. Fischer: Ethik als Verantwortungsethik, S. 121. Jonas, Hans: Die Welt ist weder wertfrei noch beliebig verfügbar. Verantwortung als Überlebenspflicht. In: Ders.: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hrsg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Freiburg i.  Br./​Berlin/​ Wien 2015, S. 601–608, S. 608. Ebd. Vgl. Jonas: Dem bösen Ende näher, S. 455. 276

Im Bewusstsein, dass das Zukunftsprojekt ‚Menschheit‘ durchaus auch scheitern kann, äußert sich Jonas auch zur Bescheidenheit menschlicher Zielsetzungen: Die Konzeption des summum bonum halte ich für ein unbescheidenes Ziel, das wir uns nicht leisten können und das vielleicht dem Menschen auch gar nicht ansteht. In weltlich realen Zusammenhängen können wir nicht auf Wunder setzen und sollten uns lieber fragen: Was ist erreichbar?86

In diesem Zusammenhang wäre es „schon sehr viel, wenn wir sagen können, unsere Enkel werden es nicht schlechter haben. Wir müssen die Nachkommen davor schützen, daß sie die Zeche für uns bezahlen“87. Im Grunde beinhaltet diese Aussage gerade die von Körtner geforderte Reduzierung der Handlungsziele „auf ein menschliches Maß“88. Der Vorwurf der Selbstüberhebung würde besser greifen, wenn Jonas dem Menschen das komplette Steuerungsvermögen für die Zukunftsgestaltung bzw. eine Art soteriologische Qualität zutrauen würde. Aber sowohl in diesem Punkt als auch auf der Handlungsebene ruft Jonas gerade nicht zu einer Maßlosigkeit, sondern zu einer Bescheidenheit, „neuen Askese“89, ja sogar zu „scharfen Verzichten“90 auf.

5. Schluss Das facettenreiche Werk von Hans Jonas wird sicherlich auch zukünftig noch viel Anlass zur Diskussion bieten. Der kurze Durchlauf durch drei Argumentationsstränge hat aber bereits gezeigt, dass sich aus theologischer Perspektive ein Dialog mit Jonas’ Ansatz als lohnenswert herausstellen kann. Durch die Bereitstellung theologischer Kategorien liefert Jonas dazu selbst wichtige Anhaltspunkte, die es ermöglichen, seine Anfragen in eine theologisch begründete Sozialethik mit ein-

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Jonas: Die Bereitschaft zur Furcht ist ein sittliches Gebot, S. 599. Ebd., S. 600. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 119. Jonas: Die Welt ist weder wertfrei noch beliebig verfügbar, S. 605. Jonas: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, S. 540. 277

fließen zu lassen und vorschneller Kritik an der Begründungsproblematik seines Ansatzes konstruktiv zu begegnen. Der Dialog mit dem verantwortungsethischen Ansatz von Hans Jonas kann auf theologischer Seite darüber hinaus dazu führen, die Hoffnung auf die Bewahrung der Schöpfung nicht allein Gottes Zukunft anheim zu stellen. Hier besteht eine Analogie zu prozesstheologischem Denken: Der Mensch kann sich seiner Verantwortlichkeit für die Schöpfung nicht entziehen. Körtner hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zur biblischen Eschatologie auch die Hoffnung auf ein zukünftiges Handeln Gottes an der Welt gehört. Die Einbindung des verantwortungsethischen Ansatzes von Jonas kann aber theologischer Sozialethik dabei helfen, dass diese Vision (vgl. Jes 25,8) und Hoffnungsperspektive „nicht zu einer reinen Vertröstung“91 abgleitet, sondern Menschen ermutigt, „bei der Gestaltung menschenwürdiger Lebensverhältnisse auf unserer gemeinsamen Erde mitzuhelfen“92. Dabei korrespondiert das Prinzip der „Heuristik der Furcht“ mit einer Ehrfurcht vor der Schöpfung und postuliert angesichts der fortschreitenden technologischen Möglichkeiten auch die Notwendigkeit, kritisch über die Grenzen des gegenwärtigen Handelns nachzudenken.

Zur Autorin Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der Universität Hildesheim (Hauptfach Ev. Theologie), anschließend Referendariat am Ausbildungsseminar Hameln. Lehraufträge am Institut für Angewandte Erziehungswissenschaft und Allgemeine Didaktik an der Universität Hildesheim sowie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Hildesheim. Promotion zur Dr. phil. (syst.-theol. Arbeit), seit 2005: Wissenschaftliche Mitarbeiterin als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Institut für Evangelische Theologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Aktuelle Schwerpunkte: Systematische Theologie, Theologische Ethik, Religionspädagogik.

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Pauly, Wolfgang: Abschied vom Kinderglauben. Ein Kursbuch für aufgeklärte Christen. Oberursel 2008, S. 250. Ebd., S. 250f. 278

Zeitgemäß

Judith Distelrath, Matthias Böckel

„Unterwegs ad orientem“ – Biografische Notizen zu Edith Stein und ihrem Verhältnis zum Judentum* „Unterwegs ad orientem. Sr. Teresia Benedicta a Cruce – Edith Stein.“ Beim Transport nach Auschwitz soll es der hl. Edith Stein gelungen sein, ein Zettelchen aus dem Zug zu werfen, auf das sie diese Worte geschrieben hatte.1 Die zunächst als einfache Richtungsangabe zu sehende Notiz ist mehr als das: Sie ist Verweis auf Auschwitz und damit auf den Weg Edith Steins in den Tod. Gleichzeitig kann die Formulierung mit dem Verweis auf den Osten als Ort der aufgehenden Sonne als Hinweis auf Tod und Auferstehung Jesu Christi verstanden werden und damit als letztes Glaubensbekenntnis Steins gelten. Diese kurze Notiz ist zudem sinnbildlich auch für den beeindruckenden Lebenslauf der Heiligen zu sehen, der sich zusammenfassend als ständige Suche nach der Wahrheit charakterisieren lässt. Ein Blick auf diesen Lebenslauf führt uns vor Augen: Edith Stein, in deren Person sich in einzigartiger, wenngleich auch schmerzlicher Weise Judentum und Christentum verbinden, [ist] gerade heute für uns Ansporn zum Nachdenken über die Wurzeln unseres Glaubens, aber

* Mit diesen Überlegungen zu Edith Stein wollen wir beide, Tochter und Vater, die wir Wolfgang Pauly an jeweils unterschiedlichen Orten beruflich und privat kennen und schätzen gelernt haben, unseren Dank abstatten für sein unermüdliches und unverzichtbares Wirken im jüdisch-christlichen Dialog. Lieber Wolfgang Pauly: Shalom chaver! 1 Vgl. Suzawa, Christina Kaori: „Unterwegs ad orientem“. Das letzte Zeugnis Edith Steins. In: Beckmann, Beate/​Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Edith Stein. Themen, Bezüge, Dokumente (Orbis Phänomenologicus, Perspektiven, Bd. 1). Würzburg 2003, 227–236. 280

auch Verpflichtung zum offenen und brüderlichen2 jüdisch-christlichen Dialog.3

Dies stellt Matthias Böckel in der zweiten Auflage seiner Studie zum Verhältnis Edith Steins zum Judentum bereits 1991 fest. Er kommt deshalb zu folgender Einschätzung: „Das Werk der Versöhnung ist noch nicht beendet, es bleibt weiterhin eine unserer vornehmsten Aufgaben.“4 Angesichts dieser noch immer aktuellen Aussage will sich nun die Tochter des Verfassers knapp 30 Jahre später auf der Grundlage biografischer Notizen zu Edith Stein gemeinsam mit ihrem Vater vergewissern, inwieweit die Heilige auch im 21. Jahrtausend als Brückenbauerin zwischen Judentum und Christentum gelten kann.

1. „[W]as ich als jüdisches Menschtum erfahren habe“5 – Die jüdische Herkunft Dazu scheint es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die jüdische Herkunft Edith Steins zu werfen. In ihren biografischen Aufzeichnungen erzählt Stein von ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits, einer „wahrhaft fromme[n] Frau“6, die bestimmte religiöse Riten „mit der größten Sammlung an Innigkeit“7 ausgeführt habe. Auch von den Großeltern mütterlicherseits weiß sie Ähnliches zu berichten: Zwar hätten diese nicht mehr das tägliche Schrift- und Talmudstudium gepflegt, „[a]ber alle gesetzlichen Vorschriften wurden aufs Strengste beobachtet“8. Bei den Groß-

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Ergänzung aus heutiger Sicht: Wir spüren die Verpflichtung zum geschwisterlichen jüdisch-christlichen Dialog. Böckel, Matthias: Edith Stein und das Judentum. Ramstein 21991, S. 140. Ebd., S. 18. Stein, Edith: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge. Neu bearbeitet und eingeleitet von Maria Amata Neyer OCD. Fußnoten und Stammbaum unter Mitarbeit von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Edith Stein Gesamtausgabe, Bd. 1). Freiburg i. Br. 2002, S. 3. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge, S. 7. Ebd. Ebd., S. 8. 281

eltern fällt zwar im Vergleich zu den Urgroßeltern eine gewisse Liberalität auf, die sicher durch die preußische Emanzipationsgesetzgebung zu erklären ist,9 eine enge Verbundenheit zur jüdischen Religion und den mit ihr verbundenen Traditionen und Riten ist trotzdem weiterhin klar erkennbar. So wurde Edith Stein am 12. Oktober 1891 in Breslau als jüngstes Kind ihrer Eltern Auguste Courant und Siegfried Stein10 in eine jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater verstarb bereits eineinhalb Jahre nach ihrer Geburt, sodass die Mutter alleine für die Kinder sorgen musste.11 „Sie versuchte, ihre Kinder zu Disziplin, Fleiß und Familiensinn zu erziehen und das jüdische Brauchtum weiterzugeben.“12 Edith Stein wuchs also „von ihrer Mutter traditionell jüdisch, nicht liberal, erzogen auf “13, war religiös sozialisiert. Doch trotz der im Elternhaus erlebten Frömmigkeit blieben die jüdischen Riten für sie nichts als leere Hülsen – die Mutter schaffte es nicht, den Glauben lebendig an die Tochter weiterzugeben. In ihren autobiografischen Aufzeichnungen berichtet Stein davon, wie ihre Brüder diese Riten ausführten. Sie erinnert sich an den Sederabend vor dem Pessachfest und schreibt: Die Brüder, die an Stelle des verstorbenen Vaters die Gebete zu sprechen hatten, taten es in wenig würdiger Weise. Wenn der ältere nicht da war und der jüngere die Rolle des Hausherrn übernehmen mußte, ließ er sogar deutlich merken, daß er sich innerlich über all dies lustig machte.14

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Vgl. Böckel: Edith Stein und das Judentum, S. 22. Vgl. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge, S. 364. Vgl. ebd., S. 18. Müller, Andreas Uwe/​Neyer, Maria Amata: Edith Stein. Das Leben einer ungewöhnlichen Frau. Biographie. Zürich/​Düsseldorf 1998, S. 20. Beckmann-Zöller, Beate: Hl. Edith Stein. In: Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde e.V. Deutsch-Tschechisches Begegnungs- und Kulturzentrum St. Adalbert (Hg.): Patrone Europas. Vision und Auftrag der Kirche im dritten Jahrtausend. Patroni Evropy. Vize a poslání církve ve třetím tisíciletí. München/​Prag 2004, S.  98–113, S. 100. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge, S. 44. 282

Solche Aussagen lassen erahnen, dass auch die Brüder nicht mehr innerlich mit dem jüdischen Glauben verbunden waren und die streng eingehaltenen religiösen Gebote eher als lästige Pflicht ansahen, an die sie sich der Mutter zuliebe, aber nicht aus eigener Motivation heraus hielten. Inwieweit solche autobiografischen Erzählungen Edith Steins der Realität entsprechen oder eher ihre Interpretation bestimmter Situationen aus der Rückschau darstellen, lässt sich nur schwer sagen. Ihre Nichte Susanne M. Batzdorff schreibt: „Die meisten [Familienmitglieder] waren bewußte Juden und sind es auch geblieben.“15 Wie auch immer sich ihre Geschwister tatsächlich zum in ihrem Elternhaus aktiv ausgeübten jüdischen Glauben positionierten, Edith Stein jedenfalls distanzierte sich im Laufe der Zeit immer stärker. Im Alter von 15 Jahren verließ sie – zur Überraschung ihrer Familie – die Schule und hielt sich für zehn Monate im Haushalt ihrer Schwester Else und deren Mann auf.16 Über diese Zeit schreibt sie später: „Religion gab es in diesem Hause überhaupt nicht. Hier habe ich mir auch das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt.“17 Sie ließ ihren ‚Kinderglauben‘ hinter sich, wendete sich vom in der Familie kennengelernten jüdischen Glauben ab.18 Nachdem sie sich schließlich wieder für den Besuch des Gymnasiums entschieden hatte, gab sie sich in ihrer Sinnsuche, die mit dem Entschluss gegen den religiösen Vollzug nicht abgeschlossen war, ganz „einer agnostischen Umgebung“ hin, „in der gerade die Kultur einen wichtigen Ersatz für die religiöse Welt bildete.“19 Nach dem bestandenen Abitur entschied sie sich 1911 für ein Studium. Sie „wählt die Philosophie. Ihre intensive Suche nach Wissen und Wahrheit beginnt.“20

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Batzdorff, Susanne M.: Edith Stein aus Sicht der Verwandten. In: Böckel, Matthias: Edith Stein und das Judentum, S. 130–139, S. 131. Vgl. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 29f. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiografische Beiträge, S. 109. Vgl. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 31. Ebd., S. 36. Ebd., S. 43. 283

2. „[…] die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir.“21 – Auf der Suche Edith Stein gelang zunächst ein schneller akademischer Aufstieg: Das Studium in Breslau sah sie „als Chance, den Dingen auf den Grund zu gehen, die letzten Gründe der Wahrheit zu suchen“22. Für diese erste Phase ihres Studiums lässt sich in Bezug auf das Verhältnis zum Judentum sagen, dass es in ihrem Leben keine Rolle mehr spielte; vom jüdischen Glauben hatte sie sich abgegrenzt. Nach vier Semestern wechselte sie nach Göttingen, wo sie insbesondere bei Edmund Husserl studierte. Zwar scheint diese Göttinger Zeit zunächst recht unergiebig in Zusammenhang mit der Einstellung Steins zum Judentum,23 doch gleichzeitig lässt sich in den autobiografischen Schriften erkennen, dass zu diesem Zeitpunkt zumindest eine erste Offenheit für Glaubensfragen vorhanden war, die sich wohl durch den Einfluss Max Schelers und v.  a. Adolf Reinachs24 erklären lässt: „Ich hatte in Göttingen Ehrfurcht vor Glaubensfragen und gläubigen Menschen gelernt […]; aber ich hatte den Weg zu Gott noch nicht wiedergefunden.“25 Nach dem Staatsexamen leistete Stein während des Ersten Weltkriegs gegen den „heftigen Widerstand“26 ihrer Mutter mehrere Monate Sanitätsdienst im Seuchenlazarett Mährisch-Weißkirchen. Lediglich an einer Stelle der ansonsten sehr ausführlichen Schilderungen dieser Lebensphase innerhalb ihrer Autobiografie äußert sie sich zum Judentum, als sie von der Studentin Suse Mugdan berichtet, die zusammen mit ihr aus Breslau nach Mährisch-Weißkirchen gekommen war. Deren Eltern waren Juden, doch nach dem Tod des Vaters ließ die Mutter alle

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Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiografische Beiträge, S. 211. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 62. „Eine problematisierende Hinterfragung ihrer jüdischen Herkunft scheint für sie in dieser Zeit nicht mehr wichtig zu sein. Zu weit hat sie sich offensichtlich schon vom Judentum gelöst, auch die Zeitumstände sind eher so, daß sie sich nicht gezwungen sieht, ihre jüdische Herkunft zu reflektieren.“ (Böckel: Edith Stein und das Judentum, S. 60.) Wie Husserl waren auch diese beiden vom Judentum zum Christentum konvertiert. (Vgl. Böckel: Edith Stein und das Judentum, S. 59.) Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiografische Beiträge, S. 260. Ebd., S. 263. 284

Kinder protestantisch taufen. „Susi beneidete mich förmlich darum, daß ich dann einfach mit dem Bekenntnis, ich sei Jüdin, hervortreten konnte. (Es weckte übrigens jedesmal großes Erstaunen, denn niemand hielt mich dafür.)“27 Dieses Bekenntnis ist sicher nicht als religiöses zu verstehen, wirkt ein Stück weit auch wie Koketterie, wenn Stein damit spielt, dass ihr Gegenüber nicht mit ihrem Jüdinsein gerechnet hat, zeigt aber ebenso den später noch oft bei ihr anzutreffenden Mut, sich trotz schwieriger Umstände zu ihrer Herkunft zu bekennen und diese nicht – etwa um eines Vorteils willen – zu verleugnen. 1916 promovierte Edith Stein bei Edmund Husserl zum Thema „Zum Problem der Einfühlung“.28 Anschließend nahm sie eine Stelle als dessen Privatassistentin in Freiburg an.29Aus dieser Zeit liegen keine Aussagen Edith Steins zu ihrem Verhältnis zum Judentum vor. Einzig ihr Lebenslauf, den sie zur Promotion einreichte, enthält die Aussage: „Ich bin preußische Staatsangehörige und Jüdin.“30 So selbstverständlich dieses Bekenntnis klingen mag, so wenig war es dies zur damaligen Zeit.31 Es macht zudem ein weiteres Mal deutlich, wie weit Edith Stein von einem „inneren“ Judentum entfernt war. Der schnelle akademische Aufstieg endete nach der Doktorarbeit. Vier Mal hatte sie versucht, sich zu habilitieren; jeder dieser Versuche wurde abgelehnt – zweimal wahrscheinlich aufgrund ihres Frauseins, zweimal vermutlich aufgrund ihres Jüdinseins.32 Parallel zu diesem beruflichen Scheitern befand sich Edith Stein auch innerlich in einer schweren Krise. Die Nachricht vom Tod Adolf Reinachs, der Ende 1917 im Ersten Weltkrieg gefallen war, war für sie Auslöser für eine sich bereits zuvor ankündigende Krise. In dieser Situation begegnete sie zum ersten Mal bewusst

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Ebd., S. 283. Herbstrith, Waltraud: Edith Stein hat sich immer als Jüdin gefühlt. In: Dies. (Hg.): Edith Steins Unterstützer. Bekannte und unbekannte Helfer während der NS-Diktatur (Anpassung – Selbstbehauptung – Widerstand, Bd. 28). Münster 2010, S. 111–122, S. 111. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 101. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere biografische Beiträge, S. 364. Vgl. Herbstrith: Edith Stein hat sich immer als Jüdin gefühlt, S. 111. Vgl. Beckmann-Zöller, Beate: Frauen bewegen die Päpste. Hildegard von Bingen. Birgitta von Schweden. Caterina von Siena. Mary Ward. Elena Guerra. Edith Stein. Augsburg 2010, S. 227. 285

dem Christentum, und zwar in der Person der Witwe Anna Reinach. Diese „fand Trost und neuen Lebensmut im Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen“33 und konnte so auch Edith Stein trösten. Bis 1921 ging es ihr sowohl gesundheitlich als auch seelisch nicht gut, worüber sie selbst sagte, die Probleme ließen sich nicht in ihrem Elternhaus lösen. Nach Müller/​Neyer lässt diese Aussage darauf schließen, dass die Krise wohl auch religiös bedingt war.34 Im Sommer 1921 hielt Edith Stein sich bei der mit ihr befreundeten Phänomenologin Hedwig Conrad-Martius in Bad Bergzabern auf, wo sie die Lebensbeschreibung der heiligen Teresa von Avila las. Über diese Lektüre schreibt sie später, sie habe ihrem „langen Suchen nach dem wahren Glauben ein Ende gemacht“35. Daraufhin entschied sie sich, sich katholisch36 taufen zu lassen, und empfing am 1. Januar 1922 das Sakrament der Taufe in der Pfarrkirche St. Martin in Bad Bergzabern. Die erste hl.  Kommunion empfing sie am Tag danach, am 2. Februar 1922 wurde sie in Speyer gefirmt.37 Zwar mag es so scheinen, als seien damit alle Verbindungen zum Judentum endgültig gekappt, doch sowohl das gewählte Tauf- als auch das Firmdatum sprechen eine andere Sprache. Beide Tage sind liturgisch mit jüdischem Brauchtum

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Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 121. Vgl. ebd., S.  141. Bei Beckmann-Zöller, Beate: Gott will gesucht und gefunden werden – auch heute. Edith Stein und das Phänomen des Atheismus. In: Katholische Bildung 118 (2017), S. 69–78, S. 70 heißt es, verschiedene Erlebnisse während dieser Lebenskrise „führten bei Edith Stein zu einer Öffnung: Sie begab sich nun auf die Suche, ob es tatsächlich einen Gott geben könne, der es gut mit ihr meint.“ Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere biografische Beiträge, S. 350. Bei Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 147/​S. 154–155 heißt es, Edith Stein habe zunächst nicht richtig gewusst, für welche Konfession sie sich entscheiden solle. Die meisten ihrer konvertierten Freunde hatten sich evangelisch taufen lassen. Trotzdem entschied sie sich für die katholische Kirche, wohl hauptsächlich aufgrund der Lebensbeschreibung der hl.  Teresa sowie des Vorbilds, das sie in Max Scheler sah. Diese Entscheidung war für viele ihrer Weggefährtinnen und Weggefährten, welche die Kirche als eine rückwärtsgewandte, die Moderne bekämpfende Institution ansahen, nur schwer nachzuvollziehen. Edith Stein selbst waren solche Überlegungen zum Wesen der katholischen Kirche zu oberflächlich. Ihr ging es stattdessen um die Frage, wie modernes kritisches Denken mit dem Katholizismus in Verbindung gebracht werden könne. Vgl. ebd., S. 149. 286

verknüpft: Am 1.  Januar wurde zum Zeitpunkt der Taufe Steins in der katholischen Kirche noch das Fest der Beschneidung des Herrn gefeiert, der 2. Februar ist der Festtag der Darstellung des Herrn. Es ist kaum anzunehmen, dass die Wahl dieser beiden Termine Zufall war. Nach der Taufe arbeitete Edith Stein ab 1923 als Lehrerin an der Speyerer Mädchenschule St. Magdalena der Dominikanerinnen, an deren Klosterleben sie intensiv teilnahm. Doch obwohl sie sich eigentlich aus der Wissenschaft zurückgezogen hatte, erhielt sie nun immer wieder Einladungen zu Vorträgen, wurde gar zu einer gefragten Referentin.38 So hielt sie von 1926 bis 1932 viele Vorträge „zu Themen der Pädagogik, Bildung und Schule, zu Frauenfragen und philosophischen Fragen“39. Im Jahr 1932 gab sie die Stelle in Speyer zugunsten einer kirchlichen Stelle als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster auf.40 Nach Ostern 1933 wurde deutlich, dass Stein aufgrund der politischen Lage in Deutschland nicht mehr am Institut in Münster würde arbeiten können. Doch so schwer dieser Einschnitt für sie war, so erlebte sie ihn doch auch als Chance und entschied sich nun für ein Leben im Kloster, womit sie sich gedanklich bereits seit ihrer Taufe 1922 beschäftigt hatte.41

3. „[…] mich dem Herzen Jesu als Sühnopfer […] anzubieten“42 – Leben im Karmel So trat sie am 14. Oktober 1933 in den Kölner Karmel ein.43 Bei ihrer Einkleidung im Jahr darauf wählte sie einen Ordensnamen, der allem Anschein nach ein kurzes Glaubensbekenntnis [darstellt]: Teresia Benedicta a Cruce – Teresia (nach Teresa von Avila), gesegnet durch das Kreuz, also erlöst. Die

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Vgl. Beckmann-Zöller: Frauen bewegen die Päpste, S. 231. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 175. Vgl. Käßmann, Margot/​Silomon, Anke (Hg.): Gott will Taten sehen. Christlicher Widerstand gegen Hitler. Ein Lesebuch. München 2013, S. 54–55. Vgl. Beckmann-Zöller: Frauen bewegen die Päpste, S. 245. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie, S. 373. Vgl. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 228. 287

Erlösung im Kreuz vollzieht sich durch das Leiden Christi und im eigenen Leiden; der Segen schafft wiederum eine Verbindung zu ihren jüdischen Wurzeln, denn er ist im Alten Testament die ultimative Zuwendung Gottes zum Menschen.44

Es zeigt sich also hier ähnlich wie in der Taufe die Verbundenheit zum Judentum gerade in der Verbundenheit zum Christentum. Spätestens nach den Wahlen 1938 war klar, dass Edith Stein auch im Kloster jederzeit mit ihrer Verfolgung und mit einer Gefährdung für ihre Mitschwestern rechnen musste. Pläne über eine mögliche Auswanderung nach Palästina zerschlugen sich, während immer mehr Verwandte und Freunde auswanderten oder eine Auswanderung vorbereiteten. Überraschenderweise gelang es schließlich, alle nötigen Ausreisepapiere zu besorgen, sodass sie am 31. Dezember 1938 doch ausreisen konnte – sie wurde im Karmel im niederländischen Echt aufgenommen, wo sie im Sommer 1939 auch ihre Schwester Rosa (mittlerweile ebenfalls katholisch getauft) in Empfang nehmen konnte.45 Mit der Besatzung der Niederlande ab 1940 war auch das Kloster in Echt kein sicherer Ort mehr für die Stein-Schwestern. Im Sommer 1942 veröffentlichten die niederländischen Bischöfe einen Hirtenbrief, in dem sie sich gegen den Umgang der Nationalsozialisten mit Jüdinnen und Juden stellten. Als Reaktion darauf wurde die Abschiebung aller „katholischen Jüdinnen und Juden“ angeordnet. Am 2. August wurden Edith und ihre Schwester Rosa im Echter Karmel verhaftet. Edith und Rosa Stein wurden wie alle anderen Katholiken unter den Deportierten am 9. August in Auschwitz-Birkenau ermordet.46

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Wulf, Mariéle: Ein Leben – drei Bekenntnisse. Edith Steins Brückenschlag zwischen Judentum, Humanismus und Christentum. In: Anzeiger für die Seelsorge. Zeitschrift für Pastoral und Gemeindepraxis 11 (2019), S. 14–16, S. 15. Vgl. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 261–263. Vgl. ebd., S. 275–277. 288

4. „Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade […] Kind der katholischen Kirche ist“47 – Edith Steins Verhältnis zu Judentum und Christentum Der Schriftsteller Jurek Becker schreibt, auf die Frage, ob er Jude sei, habe er immer geantwortet: „Meine Eltern waren Juden.“ Er schreibt weiter: „Dabei hat der Umstand, daß ich in eine jüdische Familie hineingeboren wurde, für meinen bisherigen Lebenslauf nicht eben kleine Folgen gehabt.“48 Auch Edith Stein wurde mit „nicht eben kleine[n] Folgen“ in eine jüdische Familie hineingeboren: „Ihr Leben endete in der Hölle von Auschwitz.“49 Doch anders als Jurek Becker, der sich offensichtlich vom Judentum seiner Eltern distanziert, muss für Edith Stein eine differenziertere Antwort auf die Frage nach ihrem Verhältnis zum Judentum getroffen werden, wie im Folgenden auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen zu zeigen sein wird. Gerade in ihren Jugendjahren entfernte sich Edith Stein von der jüdischen Religion. Trotzdem ist sie nie als atheistisch zu charakterisieren. Stattdessen wäre eher von einem „Agnostizismus“ zu sprechen, denn „Gott blieb als Denkmöglichkeit präsent“50. Wenn von einer „Konversion“ gesprochen wird, muss auch gesehen werden, dass der Übergang zwischen Judentum und Christentum bei Edith Stein nicht nahtlos verlief.51 Stets befand sie sich auf der religiösen Suche, hatte das in der Familie – insbesondere in der Person der Mutter – kennengelernte Judentum allerdings als so sinnentleert erfahren, dass sie sich nicht mehr als dieser Religion zugehörig sah. So ist in diesem Zusammenhang auch interessant, warum sie gerade in den Phasen der intensiven religiösen Suche nicht mehr zu ihren Wurzeln zurückfand, d. h. nicht den Weg zum gläubigen Judentum nahm. Die durch die Mutter erlebte religiöse Praxis war nur wenig überzeugend. Gleichzeitig lässt sich

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Stein, Edith: Der Brief an Papst Pius XI. In: Stimmen der Zeit 128 (3/​2003), S. 147–150, S. 149. So schreibt Jurek Becker in: Schultz, Hans Jürgen (Hg.): Mein Judentum. Stuttgart 1978, S. 8–18, S. 10. Böckel: Edith Stein und das Judentum, S. 19. Wulf: Ein Leben – drei Bekenntnisse, S. 15. Vgl. ebd. 289

dieser Umstand evtl. auch dadurch beantworten, dass es im Kreis der mit Edith Stein befreundeten Phänomenologen auffallend häufig Konversionen gab, sodass sie hier Vorbilder im Glauben gefunden haben könnte. So führte beispielsweise das Vorbild der Witwe Anna Reinach zu einer Hinwendung zum Christentum, die in der Folge schließlich auch für eine neue, intensivere Beziehung zum Judentum sorgte. Gerade in der Zeit des politischen Umbruchs in Deutschland, insbesondere ab 1933, ist ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum erkennbar – nach der fast vollständigen Entfremdung bis hin zu ihrer katholischen Taufe reflektierte Stein ihre jüdische Herkunft nun sehr viel bewusster. Dass sie dabei auch große Solidarität, v.  a. in Hinblick auf Auswirkungen der politischen Situation auf Jüdinnen und Juden, verspürte, zeigt sich an einer Erinnerung aus ihrer autobiografischen Schrift Wie ich in den Kölner Karmel kam. Dort berichtet sie von einem Gespräch mit einem katholischen Lehrer in Münster im Jahr 1933, der ihr „erzählte, was amerikanische Zeitungen von Greueltaten berichteten, die an Juden verübt worden seien.“52 Daraufhin gelangte sie zu der Erkenntnis, „daß Gott wieder einmal schwer Seine Hand auf Sein Volk gelegt habe, und daß das Schicksal dieses Volkes auch das meine war.“53 Dieses starke Gefühl der Solidarität mit „ihrem Volk“ führte bei Stein zur Überlegung, „ob ich nicht in der Judenfrage etwas tun könnte. Schließlich hatte ich den Plan gefaßt, nach Rom zu fahren und den Heiligen Vater in Privataudienz um eine Enzyklika zu bitten.“54 Aufgrund der Unmöglichkeit einer Privataudienz verfasste sie schließlich einen Brief an Papst Pius XI., welcher seit der vorzeitigen Öffnung der Vatikanischen Geheimarchive (1922–1939) durch Johannes Paul II. im Jahr 2003 bekannt ist.55 Darin bezeichnet sie sich selbst als „ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist“56. Ihre Verbindung zu beiden Religionsgemeinschaften wird auch in den übrigen Ausführungen, welche die Gefahren

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Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Schriften, S. 346. Ebd. Ebd., S. 347. Beckmann-Zöller: Frauen bewegen die Päpste, S. 237. Stein: Der Brief an Papst Pius XI., S. 149. 290

der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft klar und vorausschauend festhalten, deutlich. Sie schreibt: Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich ‚christlich‘ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, daß die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Mißbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun.57

Stein mahnt an, dass die Gefahren nicht nur für Jüdinnen und Juden, sondern auch für die katholische Kirche unvorstellbar groß seien: „Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält.“58 Dass ihr Appell an den Papst, sowohl für seine Kirche als auch für alle Jüdinnen und Juden ein Zeichen der Menschlichkeit und Nächstenliebe gegen den nationalsozialistischen Terror zu setzen, obwohl der Brief – wie sie später erfuhr – dem Papst tatsächlich vorgelegt wurde, folgenlos blieb, rief bei ihr Enttäuschung, fast Resignation hervor: „Ich habe aber später oft gedacht, ob ihm nicht dieser Brief noch manchmal in den Sinn kommen mochte. Es hat sich nämlich in den folgenden Jahren Schritt für Schritt erfüllt, was ich damals für die Zukunft der Katholiken in Deutschland voraussagte.“59 War Edith Stein in der Zeit zwischen ihrer Taufe 1922 und 1932 kaum gezwungen, sich tiefergehend mit ihren jüdischen Wurzeln zu beschäftigen, so wurde der Judenhass der nationalsozialistischen Machthaber für sie zum Anlass für ein intensiveres Nachdenken über ihr eigenes Judentum. Die Worte Edith Steins, die sie 1933 an den Papst richtet, zeigen, wie sehr sie einerseits eine tiefe Solidarität mit den jüdischen Leidensgenossinnen und -genossen entwickelte, sich andererseits aber auch klar als Christin positionierte. Die Auseinandersetzung mit der Religion ihrer Herkunft war nun mehr als eine äußerliche: „Sie spürte eine doppelte Verwandtschaft mit Christus und Maria: die des Geistes und die des Blutes. Das 57 58 59

Ebd. Ebd., S. 150. Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiografische Schriften, S. 349. 291

berührte sie und erfüllte sie noch einmal mit Stolz ob ihrer jüdischen Herkunft. […] So wusste Stein sich in eine Mittlerschaft gestellt […].“60 Dabei ging Stein schließlich so weit, das Leiden der Jüdinnen und Juden als Mit-Leiden am Kreuz Christi auf sich nehmen zu wollen.61 Die bisher bereits gezeigte Solidarität wird ins Unermessliche gesteigert, wenn sie in ihrem kurz vor Kriegsbeginn verfassten Testament Gott ihr Leben stellvertretend zur Sühne anbietet: Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, daß Er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu Seiner Ehre und Verherrlichung, für alle Anliegen der heiligsten Herzen Jesu und Mariae und der Heiligen Kirche, insbesondere für die Erhaltung, Heiligung und Vollendung unseres heiligen Ordens, namentlich des Kölner und des Echter Karmel, zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes und damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und Sein Reich komme in Herrlichkeit, für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt, schließlich für meine Angehörigen, Lebende und Tote, und alle, die mir Gott gegeben hat: daß keines von ihnen verloren gehe.62

Die Formulierung vom „Unglauben des jüdischen Volkes“ scheint für heutige Ohren aus Sicht des jüdisch-christlichen Dialogs nicht nur missverständlich, sondern verletzend, gerade im Hinblick auf den Gedanken der Solidarität mit dem Judentum. Sie muss jedoch im Licht einer vorkonziliaren katholischen Sichtweise verstanden werden, der Edith Stein verhaftet war, die sich eindeutig in den traditionellen Denkkategorien ihrer Zeit bewegte. Nach Füllenbach stand sie „in der

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Wulf: Ein Leben – drei Bekenntnisse, S. 15. In diesen Zusammenhang gehört auch ihre Identifikation mit der biblischen Figur der Ester. Stein, Edith: Selbstbildnis in Briefen. Zweiter Teil. 1933–1942 (Edith Stein Gesamtausgabe, Bd. 3). Freiburg i. Br. 2000, Brief 573 [http://​www.edith-stein-gesellschaft.org/​wp-content/​uploads/​2019/​01/​ESGA-03-Text.pdf] (Zugriff: 23. März 2020): „Aber ich vertraue […] darauf, daß der Herr mein Leben für alle genommen hat. Ich muß immer wieder an die Königin Ester denken, die gerade darum aus ihrem Volke genommen wurde, um für das Volk vor dem König zu stehen.“ Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Schriften, S. 375. 292

Spannung, an den traditionellen antijüdischen Vorstellungen der Kirche festzuhalten, sich aber gleichzeitig auch von ihnen lösen zu wollen“63. Für ihre Nichte Susanne M. Batzdorff besteht entgegen der häufig in der Literatur zu findenden Aussage, Edith Stein sei stets Jüdin geblieben, „kein Zweifel über ihre entschiedene Abtrennung vom Judentum“64, auch wenn sich Stein – wie oben gezeigt wurde – immer wieder solidarisch mit Jüdinnen und Juden zeigte. Dies sei besonders auch in der Idee vom stellvertretenden Opfertod erkennbar: Für Juden, derentwegen sie zu diesem Opferweg bereit war, ist ein solcher Gedanke ganz fremdartig. Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Religionen: Das Judentum erkennt das Martyrium als stellvertretende Tat für den Mitmenschen nicht an.65

Aus jüdischer Sicht sei die Vorstellung, Edith Stein sei „für ihr Volk“ gestorben, demnach nicht haltbar – unabhängig davon, dass der Tod Steins zudem kein freiwillig gewählter Opfertod, sondern ein Schicksal gewesen sei, das sie mit Millionen von Jüdinnen und Juden teile. Ähnlich sieht Rabbiner Henry G. Brandt Steins Tod aus jüdischer Sicht. Für ihn ist klar: „Edith Stein wollte nicht sterben.“66 Stärker noch als Batzdorff lehnt er den Gedanken des Opfertodes ab. In Anlehnung an den von Edith Stein überlieferten Satz „Komm, wir gehen für unser Volk.“67 schreibt er: „So wie ich das sehe, war sie kein Opfer für ihr Volk. Sie war kein Opfer für irgendetwas. Sie war ein Opfer eines brutalen, sinnlosen Mordes, weil sie Jüdin war.“68 63

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Füllenbach, Elias H.: Die Heiligsprechung Edith Steins – Hemmnis im christlich-jüdischen Dialog? In: Freiburger Rundbrief 6 (1999), S. 3–20, S. 14. Batzdorff: Edith Stein aus Sicht der Verwandten, S. 133. Ebd., S. 135. Brandt, Henry G.: Rede von Landesrabbiner Dr.  h.c. Henry G. Brandt, dem Edith-Stein-Preisträger 2011, zur Preisverleihung am 30. Oktober 2011. In: Edith Stein Jahrbuch 18 (2012), S. 42–48, S. 46. Vgl. Müller/​Neyer: Edith Stein, S. 279: Vor der Verhaftung im Kloster Echt soll Edith Stein diesen Satz laut einer Augenzeugin zu ihrer Schwester Rosa gesagt haben. Falls diese Aussage tatsächlich von ihr stammt, bleibt die Frage der Interpretation ungeklärt. Meint sie das jüdische Volk? Oder spricht sie, wie Batzdorff: Edith Stein aus Sicht der Verwandten, S. 138 annimmt, vom deutschen Volk? Brandt: Rede zur Preisverleihung, S. 46. 293

Obwohl die katholische Kirche die hl. Teresia Benedicta a Cruce als Märtyrerin verehrt, ist dies sicherlich nicht nur aus jüdischer Sicht, sondern auch aus christlicher Sicht nicht ganz unproblematisch. Verständlich sind auch Irritationen angesichts der Selig- und Heiligsprechung Steins gerade aus jüdischer Sicht. Es zeigt sich daran die schwierige, durch die Vergangenheit belastete Beziehung zwischen Judentum und Christentum. Wichtig an der Person Edith Steins ist jedoch, dass sie sich trotz ihres katholischen Glaubens immer zu ihrer jüdischen Herkunft bekannte – sie spürte den Riss zwischen beiden Religionen in sich selbst und sie kann heute Zeichen für ein Gespräch zwischen diesen beiden sein. So schimmert doch in ihren Aussagen trotz der Tatsache, dass sie bis in viele Formulierungen hinein ein ‚Kind ihrer Zeit‘ war, immer wieder eine nachkonziliare Sichtweise durch, die für uns heute wegweisend sein kann, beispielsweise wenn sie sagt: „Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, daß Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.“69

5. Edith Stein als Brückenbauerin für einen jüdisch-christlichen Dialog Die Ausgangsfrage lautete, inwieweit Edith Stein für uns heute Brückenbauerin sein kann zwischen Judentum und Christentum. Es ist bereits angeklungen, dass dies nicht ohne Weiteres möglich ist, und dass es gerade auch in ihrer Person viele problematische Aspekte in Bezug auf ein geschwisterliches Verhältnis zwischen beiden Religionen gibt. Doch sie ist Brückenbauerin v.  a. aufgrund der vielen „Grenzüberschreitungen“70, die sie in ihrem Leben gewagt hat. Hier sollen abschließend nur einige Aspekte in Hinblick auf das vorliegende Thema genannt werden:

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Stein: Selbstbildnis in Briefen, Brief 542. Beckmann-Zöller, Beate: Bedeutung von Leben und Werk Edith Steins für die Gegenwart. Edith Stein zum 20. Jahr ihrer Heiligsprechung 1998–2018. In: Edith Stein Jahrbuch 24 (2018), S. 9–24, S. 9. 294

–– Edith Stein kann uns heute Vorbild sein als Sinnsucherin: Auch in der Sinnkrise gibt sie die Suche nach der Wahrheit, die Suche nach Gott nicht auf, bis sie schließlich im katholischen Glauben das findet, was sie all die Jahre zuvor gesucht hat. –– Edith Stein kann uns zeigen, wie sehr wir eine bewusste Entscheidung für unseren Glauben treffen können. Sie kann dafür stehen, dass es möglich ist, sich auch nach einer Krise erneut Glaubensinhalte und eine entsprechende Haltung anzueignen.71 –– Edith Stein kann uns Vorbild sein in ihrem Zeugnis von ihrem Glauben, ihrer persönlichen Glaubenserfahrung und von der Liebe Gottes – und kann in diesem Sinne Märtyrerin sein. –– Edith Stein kann uns Vorbild sein in Sachen Solidarität. Sie zeigt uns, dass es sich lohnt, für seine Herkunft einzustehen und mutig gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung anzukämpfen. –– Edith Stein kann Symbolfigur sein im christlich-jüdischen Verhältnis, indem sich in ihrer Person, in ihrem Leben zwei Seiten treffen, die sich nach einer langen, schmerzvollen Geschichte voll von Verfolgung, Unterdrückung, voll von Pogromen bis hin zur Shoa, wieder annähern.72 Sie kann Zeugin der gegenseitigen Verwiesenheit von Juden und Christen aufeinander sein und den Prozess jüdisch-christlicher Begegnungen weiterbringen. –– Edith Stein zeigt, wie Judentum und Christentum im Bewusstsein des gemeinsamen Glaubens an den einen und einzigen Gott ins Gespräch kommen können, und sie ist damit ohne Zweifel eine wichtige Mittlerin und Brückenbauerin. Für uns Christen ist sie Anlass, über die eigene Rolle in dieser schmerzvollen Geschichte der beiden Religionen miteinander selbstkritisch nachzudenken und dafür zu sorgen, dass nichts, aber auch gar nichts, vergessen wird. Eine solche Haltung, für die Edith Stein und ihr Leben, ihr Schicksal Maßstab sein könnten, würde es uns ermöglichen, im jüdisch-christlichen Dialog ganz konkret und gemeinsam heute in unserer Welt das umzusetzen, wozu uns der Glaube an den einen und einzigen Gott auffordert: Barmherzigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit.

71 72

Vgl. Wulf: Ein Leben – drei Bekenntnisse, S. 16. Vgl. Brandt: Rede zur Preisverleihung, S. 46. 295

Zur Autorin Studium der Germanistik an der Universität Trier sowie der katholischen Theologie an der Theologischen Fakultät Trier. Gymnasiallehrerin für die Fächer Deutsch und katholische Religion. Seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Biblische Theologie und Bibeldidaktik am Institut für katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Standort Landau. Promotionsprojekt zur Rezeption von Wundergeschichten in Kinderbibeln.

Zum Autor Studium der Fächer Deutsch und katholische Religionslehre in Trier (Abschluss: Lehramt Realschule). Studium der Germanistik und der katholischen Theologie in Landau (Abschluss: M.A.). Realschulkonrektor und pädagogischer Koordinator, Leitung einer Gemeinsamen Orientierungsstufe. Mitglied im Arbeitskreis Judentum-Christentum des Bistums Speyer. Seit 2015 im Ruhestand.

296

Christian Cebulj

Erinnern als religionsdidaktische Basiskategorie. Zur Bedeutung der Seelisberger Thesen für das jüdisch-christliche Lernen 1. Erinnern – 75 Jahre nach Auschwitz Bei einer Gedenkfeier zur Erinnerung an die 70. Wiederkehr der Wannsee-Konferenz im Jahr 2012 wies Emmanuel Nahshon, der damalige israelische Botschafter in Berlin, in seiner Rede darauf hin, dass der Zeitraum von 70 Jahren im Judentum von besonderer Bedeutung sei. Er unterscheide sich dadurch von allen anderen Zeiträumen, seien sie nun kürzer oder länger, dass 70 Jahre in der biblischen Überlieferung für ‚ein Menschenleben‘ stehen. Nach 2 Sam 5,4 war David dreißig Jahre alt, als er König wurde, und regierte vierzig Jahre lang. Er lebte also 70 Jahre lang, was folglich in der rabbinischen Literatur als der Zeitraum gesehen wurde, in dem ein Mensch ein vollständiges Leben gelebt hat.1 Als im Januar 2020 in zahlreichen öffentlichen Gedenkfeiern an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz erinnert wurde, waren also fünf Jahre mehr als ein vollständiges Menschenleben seit diesen dunkelsten Stunden in der Geschichte der Menschheit vergangen. Aus heutiger Sicht bedeutet das leider auch, dass ein Menschenleben nach Auschwitz die Mehrheit aus der Generation der Zeitzeugen und Opfer der Shoah nicht mehr am Leben ist. In einigen Jahren wird niemand mehr sagen können ‚Ich war dort‘ oder ‚Ich habe es miterlebt‘. Ihr Erbe aber muss Verpflichtung bleiben, nicht nur bei institutionalisierten Gedenkfeiern, sondern auch beim individuellen Erinnerungslernen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Religionsunterricht und Katechese sind mit der religionsdidakti1

Vgl. Nahshon, Emmanuel: 70 Jahre – ein Menschenleben. Rede am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2012. In: FrRu NF 19 (4/​2012), S. 242– 244. 297

schen, theologischen und politischen Schlüsselfrage konfrontiert: Wie erreichen wir Menschen, die in Zeiten eines wachsenden Populismus unter dem Deckmantel von Aussagen wie ‚man wird doch noch sagen dürfen‘ vermehrt antisemitische und rassistische Äußerungen von sich geben? Als wesentlich darf auf allen Altersstufen das biografische Erleben durch persönliche Begegnungen gelten, durch Berichte von Zeitzeugen, die die Erinnerung wachhalten und aus ihrem bewegten Menschenleben erzählen.2

2. „Jeder Tag danach ein Geschenk“ Wie sehr die biografische Erfahrung mein eigenes religionspädagogisches Lernen, Lehren und Forschen geprägt hat, mag das Beispiel unseres geschätzten Freunds Efraim Wagner zeigen: Der 2006 in Jerusalem verstorbene Efraim Wagner wurde 1919 als Franz Wagner in Frankfurt geboren und gehörte zu einer alteingesessenen schlesischen Familie jüdischer Religionszugehörigkeit. Sein Vater Albert Wagner hatte im 1. Weltkrieg als Feldwebel gedient und das Eiserne Kreuz für seine Verdienste um das deutsche Vaterland erhalten. Franz war Mitglied des jüdischen Schachclubs im Café Falk und sang im Chor der Westend-Synagoge. Er erzählte, dass er gerne in die Frankfurter Kirchen in Konzerte ging, um sich die Werke von Bach und Buxtehude anzuhören.3 Franz Wagner führte, wie er sagte, ein ‚ganz normales‘ jüdisches Leben im liberalen Frankfurt, bis er mit anderen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern der jüdischen Oberschule Philantropin im November 1938 ins KZ Buchenwald deportiert wurde. Glücklicherweise gelang es seinem in Palästina lebenden Onkel, Efraim Auswanderungspapiere zu beschaffen. So konnte er im März 1939 mit dem italienischen Schiff Gerusalemme nach Haifa emigrieren und dort ein zweites Leben beginnen.

2

3

Vgl. z.  B. Ben-Chorin, Tovia/​Cebulj, Christian: Von Jerusalem nach St. Gallen und zurück. In: Jeggle-Merz, Birgit/​Durst, Michael (Hg.): Juden und Christen im Dialog (Theologische Berichte, Bd. 36). Fribourg 2016, S. 122–136. Vgl. Wagner, Franz Efraim: Prélude und Fügung. Das Lebensmosaik eines früheren Frankfurters. Scheidegg 2003, S. 38f. 298

Am 12. November 1992 verlieh ihm die Stadt Weimar die Ehrenbürgerwürde. Efraim hielt damals eine Rede mit dem Titel „Jeder Tag danach ein Geschenk“, in der er sagte: Das KZ hat mich mit dem Tod konfrontiert. Das bewirkte, dass ich seit meiner Rettung aus diesem Abgrund der Unmenschlichkeit – nur wenige Kilometer von Goethes Weimar entfernt – jeden Tag, der mir danach noch vergönnt ist, dankbar als ein mich zu verantwortlichem Denken und Handeln verpflichtendes Geschenk betrachte.4

Dieses geschenkte Leben hat Efraim Tag für Tag ausgekostet und sich viele Jahre im jüdisch-christlichen Dialog engagiert. Mit Studierenden- und Reisegruppen haben wir ihn oft in seinem Jerusalemer Wohnzimmer besucht, wo er – immer humorvoll und versöhnlich – aus seiner bewegten Lebensgeschichte erzählte. Das war im besten Sinne erinnerungsgeleitetes Lernen durch Begegnung, die meistens mit Efraims kritisch-politischem Appell an die Jugend endete: Um der Opfer willen sollten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dazu beitragen, eine bessere und humanere Welt mitzugestalten. Gerne schloss Efraim mit den Worten des Rabbi Baal Schem Tow: „Vergessen führt in die Verbannung. Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung“. Ein Menschenleben später unterstreicht die Tatsache, dass Zeitzeugen wie Efraim immer weniger werden, die Bedeutung des erinnerungsgeleiteten Lernens. Gleichzeitig gibt sie der heute lebenden jüngeren Generation – in Israel, in der Schweiz oder in Deutschland – eine bleibende Verantwortung mit auf den Weg. Diese Verantwortung kann sich auf vielfältige Weise ausdrücken, etwa in Gedenkfeiern, in akademischen Studien oder in kirchlichen Verlautbarungen. Sie lässt sich ebenso in Schulprojekten im Rahmen der Holocaust Education realisieren wie in Kunstprojekten nach Art der Verlegung von „Stolpersteinen“5.

4

5

Ders.: Jeder Tag danach ein Geschenk. In: Hofmann, Thomas/​Loewy, Hanno/​Stein, Harry (Hg.): Pogromnacht und Holocaust. Frankfurt, Weimar, Buchenwald. Die schwierige Erinnerung an die Stationen der Vernichtung. Weimar 1994, S. 9–19, S. 19. Vgl. Cebulj, Christian: Vergiss es (nicht)! Zur Dialektik von Erinnern und Vergessen aus religionspädagogischer Sicht. In: reli. Zeitschrift für Religionsunterricht 4 (2013), S. 6–9. 299

3. Seelisberg als Erinnerungsort Im vorliegenden Beitrag, den ich in dankbarer Verbundenheit dem geschätzten Kollegen und langjährigen Freund Wolfgang Pauly widme, möchte ich an einen Ort in der Schweiz erinnern, der gerne vergessen wird, aber für das jüdisch-christliche Lernen und die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat: Vor über 70 Jahren fand vom 30. Juni bis zum 5. August 1947 im kleinen Dorf Seelisberg im Schweizer Kanton Uri die Seelisberger Konferenz statt. Vor der herrlichen Alpenkulisse der Innerschweiz trafen sich im Hotel Kulm hoch über dem Urnersee 65 prominente Vertreterinnen und Vertreter jüdischer und christlicher Organisationen, katholische, protestantische, jüdische Frauen und Männer aus 19 Ländern zur „Internationalen Konferenz der Christen und Juden“ („International Conference of Christians and Jews“), die als „Emergency Conference on Antisemitism“ in die Geschichte einging.6 Die Kongress-Sprache war Englisch, denn mit Rücksicht auf die Gefühle der jüdischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer war die deutsche Sprache untersagt. Zu den 28 jüdischen Intellektuellen zählten der französische Historiker Jules Isaac (1877–1963), der damalige Großrabbiner von Frankreich, Jacob Kaplan (1895–1994), und der Gelehrte und spätere Großrabbiner von Genf, Alexandre Safran (1910–2006), der als junger Oberrabbiner während des Zweiten Weltkriegs fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Rumäniens gerettet hatte.7 Wenn ich heute nach über 70 Jahren an die Seelisberger Konferenz erinnere, ist es tragisch festzustellen, dass sich ein Großteil der theologischen Fragen von damals nur wenig weiterentwickelt hat: Die Motive der damaligen Konferenzteilnehmenden waren zwar kurz nach Kriegsende andere als heute. Aber die Frage nach judenmissionarischen Absichten auf christlicher Seite stellt sich seit der Neuformulierung der Karfreitagsfürbitten und ihrer Zulassung im außerordentlichen Ritus der katholischen Kirche im Jahr 2009 heute immer noch in gleichem Maße wie damals. Zwar ist die Frage nach Gefühlen von Schuld und Scham nach der Shoah der Einsicht in die notwendige Überwindung antijüdischer Traditionen in der christlichen Theologie gewi6

7

Vgl. Rutishauser, Christian: The 1947 Seelisberg Conference. The Foundation of the Jewish-Christian Dialogue. In: Studies in Christian-Jewish Relations 2,2 (2008), S. 34–53, online verfügbar unter: [https://​doi.org/​10.6017/​scjr.v2i2.1421] (Zugriff: 10. Februar 2020). Vgl. Lenzen, Verena: Von Seelisberg nach Rom. Der jüdisch-christliche Dialog in der Schweiz im internationalen Kontext. In: Jeggle-Merz, Birgit /​Durst, Michael (Hg.): Juden und Christen im Dialog (Theologische Berichte, Bd. 36). Fribourg 2016, S. 36–52, S. 36f. 300

chen. Dennoch zeigen die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland und überall in Europa, dass viele der in Seelisberg in den direkten Nachkriegsjahren formulierten Ideale weiterhin uneingelöst sind: Auch 70 Jahre nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz ist das aufgeklärte Ideal von einem friedlichen Gespräch der Religionen in Toleranz und Respekt bei weitem noch nicht Realität. Gelungene Inkulturation jüdischer Lebenswelten und die Hoffnung auf einen gelungenen jüdisch-christlichen Austausch sind auch nur teilweise Wirklichkeit geworden. Wer nach den Gründen für die bleibenden Schwierigkeiten im jüdisch-christlichen Miteinander sucht, stößt auf ein wichtiges historisches Faktum. Es ist auffällig, dass ein großer Teil der jüdischen Initiatoren der Seelisberg-Konferenz und des frühen jüdisch-christlichen Dialogs Emigrantinnen und Emigranten waren und dem deutschsprachigen jüdisch-liberalen Milieu entstammten. Daher ist die Erforschung dieses frühen Kapitels der jüdisch-christlichen Verständigung in der Schweiz eng verknüpft mit der Geschichte von Antisemitismus und Nationalsozialismus sowie mit der Flüchtlingsgeschichte während des Zweiten Weltkriegs. Bedenkenswert ist auch die Tatsache, dass mehrere christliche Engagés vom Judentum zum Christentum konvertiert waren, wie Paul Démann oder Jean de Menasce.8 Die jüdische Herkunft einiger christlicher Dialog-Pionierinnen und -Pioniere war sicher prägend für die Zielsetzung und den Verlauf der Seelisberger Konferenz. Denn zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach der Katastrophe der Shoah realisierte man die ungebrochene Präsenz einer antisemitischen Geisteshaltung.9

4. Die Ten Points of Seelisberg Das Ziel der Seelisberger Konferenz war es, die Ursachen des christlichen Antijudaismus zu untersuchen und die christliche Theologie durch eine vorurteilsfreie Beziehung zum Judentum zu revidieren. Zu diesem Zweck wurden zunächst die Fortdauer des Antisemitismus im Nachkriegseuropa und die Gründe dafür analysiert. In der Folge wurden lösungsorientierte, praktische Maßnahmen und Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus diskutiert und schließlich ein Versöhnungsprozess zwischen Judentum und Christentum anvisiert. Am Ende 8 9

Vgl. ebd., S. 38. Vgl. Ornstein, Hans: Konferenzbericht. In: Israelitisches Wochenblatt 33 (1947), S. 11. 301

erarbeitete die Konferenz einen Katalog mit zehn Punkten, der auf Jules Isaacs 18 Vorschlägen zur Vermeidung des Antisemitismus beruhte und nicht zufällig eine Analogie zur Zehnzahl des Dekalogs aufweist. Die Ten Points of Seelisberg behandeln die Frage, wie „das Judentum“ in der christlichen Theologie, Exegese, Predigt und Katechese vorurteilslos zu behandeln sei. Sie umfassen Grundaussagen zur Gottesvorstellung im Alten und Neuen Testament, zum Jüdischsein Jesu und Marias sowie der ersten Jünger, Apostel, Märtyrer und zur Nächsten- und Gottesliebe in beiden Testamenten und Religionen, und sie kritisieren jede Art von judenfeindlicher Darstellung der Passionsgeschichte. In zehn Thesen wurde 1947 die Grundlage für eine neue Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum gelegt und ein markanter Meilenstein in der Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs gesetzt. In der deutschen Übersetzung lauten die zehn Thesen wie folgt: 1.

Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht.

2.

Es ist hervorzuheben, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israels geboren wurde, und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst.

3.

Es ist hervorzuheben, dass die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren.

4. Es ist hervorzuheben, dass das höchste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme. 5. Es ist zu vermeiden, dass das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen. 6.

Es ist zu vermeiden, das Wort „Juden“ in der ausschließlichen Bedeutung „Feinde Jesu“ zu gebrauchen oder auch die Worte „die Feinde Jesu“, um damit das ganze jüdische Volk zu bezeichnen.

7.

Es ist zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Tatsächlich waren es nicht alle Juden, welche den Tod Jesu ge302

fordert haben. Nicht die Juden allein sind dafür verantwortlich, denn das Kreuz, das uns alle rettet, offenbart uns, dass Christus für unser aller Sünden gestorben ist. 8.

Es ist zu vermeiden, dass die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ behandelt wird, ohne daran zu erinnern, dass dieser Schrei die Worte unseres Herrn nicht aufzuwiegen vermag: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, Worte, die unendlich mehr Gewicht haben.

9. Es ist zu vermeiden, dass der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei. 10. Es ist zu vermeiden, die Tatsache unerwähnt zu lassen, dass die ersten Mitglieder der Kirche Juden waren.10

5. Von Seelisberg zum Zweiten Vatikanum Diese bibeltheologisch tiefgründigen und kirchenhistorisch treffsicher formulierten Thesen wären möglicherweise in Vergessenheit geraten, hätte nicht der französische Historiker Jules Isaac (1877–1963) mit Beharrlichkeit dafür gesorgt, dass sie im Vatikan bekannt gemacht werden. Sein erster Versuch, die Seelisberger Thesen an prominenter Stelle zu deponieren, war eine ergebnislose Audienz bei Pius XII. am 16. Oktober 1949. Isaac legte dem Papst zwar die in Seelisberg formulierten Thesen vor, seine Initiative blieb jedoch ohne Folgen. Es dauerte ganze elf Jahre, bis der damals 83-jährige Isaac schließlich am 13. Juni 1960 von Johannes XXIII. in einer Privataudienz empfangen wurde. Zum zweiten Mal unterbreitete er einem Papst das Anliegen einer neuen christlichen Verhältnisbestimmung zum Judentum und bat ihn um eine offizielle Erklärung der katholischen Kirche. Anders als sein Vorgänger erkannte Johannes  XXIII. die

10

Vgl. Schweizer Bischofskonferenz/​Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund/​ Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund: 60 Jahre Seelisberger Thesen. Der Grundstein jüdisch-christlicher Begegnung ist gelegt. Bern/​Fribourg/​Zürich 2007, S. 54f. 303

Dringlichkeit der Sache und beauftragte Augustin Kardinal Bea mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Konzilsdokuments.11 Zum ersten Mal in der Konzilsgeschichte wurden zu diesem Zweck jüdische Berater hinzugezogen, darunter Gerhart M. Riegner (1911–2001), Ernst Ludwig Ehrlich (1921–2007) und der aus Polen stammende jüdische Philosoph Abraham Joshua Heschel (1907–1972), der jedoch seine Mitarbeit aufkündigte, nachdem das Dokument keine klare Absage an die Judenmission erteilt hatte. Nach vielen Diskussionen und Redaktionen, Einwänden der arabischen Kirchen und der Traditionalisten wurde die Endvorlage von Nostra Aetate am 28.  Oktober 1965 von der Konzilssession mit großer Mehrheit angenommen und trat damit kirchenrechtlich in Kraft. Nostra Aetate war das kürzeste und wurde zugleich, wie der Wiener Kardinal Franz König es ausdrückte, „das bedeutendste Dokument des letzten Konzils“12. Nostra Aetate 4 bringt das Verhältnis von Judentum und Christentum treffend zur Sprache, indem der Glaube, die Erwählung und die Berufung der Kirche in Israel ihren Ursprung und Anfang haben. Israel ist die bleibende Wurzel der Kirche aus Juden und Heiden. Alle Christgläubigen sind dem Glauben nach als Kinder Abrahams in die Berufung des Patriarchen eingeschlossen. Die Kirche ist nicht nur durch den Alten Bund und das Alte Testament, sondern auch durch die jüdische Abstammung Jesu, Marias, der Apostelinnen und Apostel, der meisten der ersten Jüngerinnen und Jünger mit dem jüdischen Volk verbunden. Auf Grund des gemeinsamen geistlichen Erbes ruft das Konzil auf, das Gespräch und die gegenseitige Kenntnis und Achtung zu fördern. Entschieden verurteilt die Kirche alle Formen von Rassismus und Antisemitismus. Es ist heute in Erinnerung zu rufen, dass nahezu alle zehn Punkte von Seelisberg in der einen oder anderen Weise in Nostra Aetate 4 Eingang gefunden haben. Obwohl Nostra Aetate, das nicht umsonst auch als „Senfkorn des Konzils“ bezeichnet wird, inzwischen zu einer lebendigen Wirklichkeit innerhalb der katholischen Kirche geworden ist, muss die Bedeutung der Seelisberger Thesen als Wegbereiter für das Zweite Vatikanum immer wieder gewürdigt werden.

11 12

Vgl. Lenzen: Von Seelisberg nach Rom, S. 44. König, Franz: Unterwegs mit den Menschen. Vom Wissen zum Glauben. Innsbruck 2004, S. 235. 304

6. Erinnern –Ein Menschenleben nach Seelisberg Wenn wir diese Erinnerung über 70 Jahre nach Seelisberg wachhalten, geschieht dies aus einer Haltung religionspädagogischer Verantwortung gegenüber der Geschichte. Ich möchte die 10 Thesen von Seelisberg daher im Sinne Aleida Assmanns als einen „Erinnerungsraum“13 verstehen, der zu einer vertieften Rezeption in Erwachsenenbildung, Religionsunterricht und Katechese einlädt.14 So sehr die Seelisberger Thesen auf dogmatischer Ebene zur Magna Charta der jüdisch-katholischen Beziehungen geworden sind, so wenig wurden sie auf religionspädagogischer Ebene rezipiert. Reinhold Boschki hat deshalb 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils mit Recht angemahnt, es sei nach wie vor eine große Aufgabe der katholischen Kirche, „Nostra Aetate [zu] ‚realisieren‘“15. In ähnlicher Weise gilt auch für die Seelisberger Thesen, dass sie über 70 Jahre nach ihrer Entstehung einer gründlichen Relecture zu unterziehen und für religiöse Lehr- und Lernprozesse zu ‚verwirklichen‘ sind. Denn ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen, wie es damals in Thesenform gebracht wurde, kann nicht einfach nach Art einer Resolution proklamiert werden. Die theoretische wie praktische Umsetzung der Seelisberger Thesen muss Schritt für Schritt erlernt werden, und zwar auf allen Ebenen der Kirche: Von Bischöfen, Priestern, Pastoralassistenten/​-innen und Gläubigen bis hin zu Religionslehrerinnen und Religionslehrern und ihren Schülerinnen und Schülern. Das heißt, dass die in Seelisberg erkannte und in den Thesen formulierte Verbundenheit des Christentums mit dem Judentum in Predigt und Pfarreileben, in Katechese und Religionsunterricht Wirklichkeit werden muss. Die jüdische Religion darf dabei nicht nur ein ‚Sonderthema‘ bleiben. Vielmehr sollte in allen Lebensäußerungen der Kirche ganz selbstverständlich sichtbar werden, dass die christliche Kirche ihren Ursprung im Judentum hat. Denn wir Christinnen und Christen 13

14 15

Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 52011, Titel. Vgl. ebd. Vgl. Boschki, Reinhold: Nostra Aetate ‚realisieren‘. Der christlich-jüdische Dialog als Bildungsaufgabe. In: Ders./​Gerhards, Albert (Hg.): Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den jüdisch-christlichen Dialog. Paderborn 2010, S. 197–210, S. 204. 305

können uns selbst und zahlreiche unserer Traditionen nicht verstehen, wenn wir nicht den jüdischen Weg des Glaubens verstehen. Dabei ist das Phänomen der ‚Historisierung‘ zu vermeiden, das in Religionsunterricht und Katechese immer wieder anzutreffen ist: Aus dem religionskundlich motivierten Interesse, möglichst viele Fakten aus der Geschichte und Tradition des Judentums zu erklären, gibt es in Lehrmitteln und bei Lehrpersonen bisweilen die Tendenz, das Judentum rein historisierend als Wurzel des Christentums und als Bezugsreligion Jesu darzustellen. Das jüdische Leben der Gegenwart sowie die Vielfalt religiöser Prägungen und Lebensstile kommen damit nicht in den Blick. Das wird jüdischen Menschen unserer Gegenwart nicht gerecht und nimmt dem Religionsunterricht außerdem nachhaltige Lernchancen.16

7. Kompetenzorientiertes Lernen mit den Seelisberger Thesen Ich lese die von der „Emergency Conference on Antisemitism“ im Jahr 1947 in Thesen formulierten Aussagen über die Beziehung zwischen Judentum und Christentum aus religionsdidaktischer Perspektive und verstehe sie durch geringe textliche Umformulierungen als Kompetenzbeschreibungen, die eine Grundlage für anamnetisches Lernen bilden können: 1. Schülerinnen und Schüler wissen, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und Neue Testament zu uns allen spricht. 2. Schülerinnen und Schüler wissen, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israel geboren wurde, und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfassen. 3. Schülerinnen und Schüler wissen, dass die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren.

16

Vgl. Cebulj, Christian: Erinnerung als Weg in die Zukunft. Anamnetisches Lernen als religionspädagogische Aufgabe 70 Jahre nach Seelisberg. In: Jeggle-Merz, Birgit/​Durst, Michael (Hg.): Juden und Christen im Dialog (Theologische Berichte, Bd. 36). Fribourg 2016, S. 156–181, S. 164. 306

4. Schülerinnen und Schüler wissen, dass das christliche Gebot der Gottes- und Nächstenliebe schon im Alten Testament verkündigt und von Jesus bestätigt wird. Es ist für Christen und Juden gleich bindend und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme. 5. Schülerinnen und Schüler wissen zu vermeiden, dass das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen. 6. Schülerinnen und Schüler wissen zu vermeiden, dass das Wort „Juden“ in der ausschließlichen Bedeutung „Feinde Jesu“ gebraucht wird. 7. Schülerinnen und Schüler wissen zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. 8. Schülerinnen und Schüler wissen zu vermeiden, dass die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ behandelt wird, ohne daran zu erinnern, dass dieser Schrei die Worte Jesu nicht aufwiegen kann, der gesagt hat: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. 9. Schülerinnen und Schüler wissen zu vermeiden, dass der Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei. 10. Schülerinnen und Schüler wissen, dass die ersten Mitglieder der Kirche Jüdinnen und Juden waren. Aus diesen Thesen sprechen zwei Grundhaltungen, die später auch für Nostra Aetate 4 prägend waren und die als epochemachend bezeichnet werden dürfen. Es geht um die „Wiederentdeckung des Ursprungs“ und die „Hermeneutik der Verbundenheit“.17 Christen anerkennen in Seelisberg, dass sich ihre Ursprünge bereits in der Erwählung des biblischen Volkes Israel finden. Dabei ist die Rede vom Ursprung noch tiefgründiger zu verstehen als nur der zeitliche Beginn von etwas.

17

Vgl. Henrix, Hans Hermann (Hg.): Nostra Aetate – ein zukunftsweisender Konzilstext. Die Haltung der Kirche zum Judentum 40 Jahre danach. Aachen 2006. 307

Ursprung bedeutet, dass auch im weiteren Gang etwas von dem erhalten bleibt, was ‚das Ursprüngliche’ ausmacht. Hier entdecken Christen (wieder), dass das biblische Israel bzw. das Judentum nicht nur den Beginn einer weiteren, vom Ursprung unabhängigen Glaubenstradition markiert, sondern dass diese Ursprünge im christlichen Weg fortwirken und der christliche Glaube niemals unabhängig von seinem Ursprung gedacht, gelebt und geglaubt werden kann.18

Anders als in denjenigen Jahrhunderten der Kirchengeschichte, die von einer Hermeneutik der Abgrenzung, der negativen Identität und Feindschaft geprägt waren, streichen die Seelisberger Thesen jetzt den Aspekt der bleibenden Verbundenheit zwischen Christinnen, Christen und Jüdinnen, Juden neu heraus.

8. Holocaust Education nach Seelisberg Als Konsequenz aus dem Lernprozess Christen-Juden der 1980er Jahre ist im Lauf der letzten Jahrzehnte eine eigene Religionspädagogik nach Auschwitz entstanden, die sich das Erinnerungslernen an der jüngsten jüdisch-christlichen Geschichte zum Ziel gesetzt hat.19 Damit dieser Lernprozess auch 40 Jahre danach in geeigneter Weise religionspädagogisch wirksam werden kann, ist es wichtig, dass er weiterentwickelt und über Neuansätze nachgedacht wird. Da sich in der Schweiz, wie überall in den europäischen Nachbarländern, sowohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die religionsdidaktischen Arbeitsweisen grundlegend verändert haben, gilt es die Dimensionen für einen gelungenen Lernprozess Christen-Juden neu zu buchstabieren.20 Reinhold Boschki hat auf der Basis einer inhalts-, subjekt- und beziehungsorientierten Hermeneutik drei Dimensionen re18 19

20

Boschki: Nostra Aetate, S. 200. Vgl. Greve, Astrid: Erinnern lernen. Didaktische Entdeckungen in der jüdischen Kultur des Erinnerns. Neukirchen 1999, S. 137; Boschki, Reinhold: Zugänge zum Unzugänglichen. In: Fuchs, Ottmar/​ders./​Frede-Wenger, Britta (Hg.): Zugänge zur Erinnerung. Bedingungen anamnetischer Erfahrung. Studien zur subjektorientierten Erinnerungsarbeit. Münster 2001, S. 346–371. Vgl. Weibel, Walter: In Begegnung lernen. Der jüdisch-christliche Dialog in der Erziehung. Zürich/​Berlin 2013. 308

ligiöser Bildung vorgeschlagen, die heute für jüdisch-christliches Lernen im Religionsunterricht handlungsleitend sein können: –– die theologische, kirchliche, historische Beschäftigung mit Judentum und Shoah –– die jüdischen Lebenswelten früher und heute –– die Verstehensvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.21 Diese drei Dimensionen gilt es im didaktischen Prozess in Religionsunterricht und Katechese zusammenzubringen. Gerade im Kontext Schweiz werden künftig im Rahmen der Rückbesinnung auf die Seelisberger Thesen Impulse aus der Holocaust Education bedeutsam sein, um die Erinnerung als religionsdidaktische Basiskategorie wachzuhalten.22

Zum Autor Seit 2008 Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule Chur (CH). Von 2001 bis 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau) mit lebhaften Erinnerungen an die Instituts-Standorte Hauptschule West und Bürgerstraße. Danke dem Kollegen und Freund Wolfgang Pauly für alle kritisch-solidarische Weggefährtenschaft.

21 22

Vgl. Boschki: Nostra Aetate, S. 208. Vgl. Schlag, Thomas: Holocaust Remembrance and Human Rights Education: A Task for Religious and Interreligious Education in Switzerland. In: Parker, Stephen/​Freathy, Rob/​Francis, Leslie (Hg): History, Remembrance and Religious Education. Oxford 2014, S. 55–78. 309

Matthias Bahr

Unterwegs zum erwachsenen religiösen Lernen. Erinnerungsgeleitete Religionslehrer*innenbildung1 1. Beobachtende Annäherung Im März 2020 ist Krisenzeit. Im Vordergrund stehen die Berichte über die Ausbreitung des Corona-Virus. Und doch: Es gibt noch weitere Problemstellen. Innerkirchlich gesehen changieren die Reaktionen zwischen Depression und vorsichtigem Optimismus. Der Synodale Weg findet keineswegs ungeteilte Zustimmung. Missbrauchsskandal, die Weiterentwicklung einer katholischen Sexualmoral, Machtverteilung, die Rolle der Frauen in der Kirche: All dies kann nicht durch Appelle, sich auf die ‚kraftvolle Verkündigung der Frohen Botschaft zu konzentrieren‘, suspendiert werden. Es geht um das Selbstverständnis des Menschen in demokratischen Gesellschaften des 21.  Jahrhunderts, so lästig dieses Selbstverständnis auch manchen sein mag. Auch der ‚europäische Blick‘ ist nicht von Gelassenheit gekennzeichnet. Die Not vor den Toren der ‚Festung Europa‘ stellt die Frage nach Auftrag und Selbstverständnis von Staat, Parteien und Kirchen. Alle, die Humanität und Christlichkeit für sich reklamieren, wissen darum – ob sie ihren Auftrag nun annehmen oder nicht. Das gilt in anderer Weise dort, wo Nationalismus, Populismus und Rassismus agitierend die öffentliche Ordnung destabilisieren. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind rassistische Gewalttaten keineswegs überwunden, sondern haben wieder Menschenleben gekostet. Viele Arbeitskreise und Zu

1

Bewusst ist in diesem Beitrag das ‚Gender-Sternchen‘ gesetzt, den Vorgaben der Herausgeberinnen zum Trotz, um der legitimen Vielfalt der Persönlichkeiten Rechnung zu tragen – notwendige Inklusion in einem weiten Sinne also. 310

sammenschlüsse haben sich über Jahrzehnte der Versöhnungsarbeit und der Bewusstseinsbildung gewidmet, allen voran die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, welcher der mit diesem Beitrag zu ehrende Wolfgang Pauly in besonderer Weise und mit langem Atem vorsteht. Sein Engagement, das sich auch in mancher ‚Miniatur‘ kenntnisreich zeigt,2 bereichert die (pfälzische) Diskussionskultur in hervorgehobener Weise, immer wieder in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern etwa am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. All diese Schlaglichter betreffen auch das Bildungshandeln. ‚Erweckungen‘ in Politik, bei Verbänden, Stiftungen und Bildungszentralen zeigen dies. Davor kann und darf sich auch religiöse Bildung nicht drücken, wenn sie nicht nur binnenkirchlich ausgerichtet sein will.

2. Erinnerungsgeleitetes Lernen in der Religionslehrer*innenbildung: zum Konzept Allen Religionen eignet ‚Erinnerung‘ durch die Rückbindung an in der Vergangenheit liegende Ereignisse oder Erfahrungen, die für eine Religion identitätsstiftende, handlungsleitende und heilende Bedeutung haben. Christlich-religionspädagogisch ist im Zuge der Reflexion des ‚Zivilisationsbruches‘, der mit Auschwitz als Chiffre für den Völkermord gegeben ist, die Erinnerungsthematik als zentrale religionspädagogische Kategorie wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. Zentral ist dies für die Religion der Christ*innen immer schon in der ‚Anamnese‘ der Eucharistiefeier mit der Erinnerung an Kreuz und Auferstehung. ‚Erinnern‘ ist Teil des christlichen Selbstverständnisses. Und doch kann und muss man im Kontext des ‚Zivilisationsbruches‘, also ‚nach Auschwitz‘, diese Perspektive noch deutlich anders, mithin im Wortsinne grund-legender, fundamentaler akzentuieren. Das kann und soll sich auch dort zeigen, wo angehende Religionspädagog*innen Koordinaten ihrer Profession kennenlernen.

2

Vgl. Pauly, Wolfgang: Martin Buber. Leben im Dialog. Berlin/​Leipzig 22019; Ders.: Erich Fromm: Frei leben – Schöpferisch lieben. Berlin/​Leipzig 2019. 311

2.1 ‚Erinnerungsorte erkunden‘ – ein Projektseminar am Campus Landau Mit diesem Seminar signalisiert die Religionslehrer*innenbildung am Campus Landau ihr Bewusstsein von der anamnetischen Grundstruktur religiösen Lernens und Handelns. Ansatzpunkt und Leitmaxime ist das Metz’sche Diktum von einer Theologie, der man ansehen müsse, dass sie den Zivilisationsbruch in ihr Denken aufnimmt, sich davon anfragen lässt, die erforderlichen Schlüsse zieht und die Handlungsfelder entsprechend erneuert.3 Dies beginnt bei grundsätzlichen Überlegungen, welche kirchengeschichtsdidaktischen Perspektiven einzunehmen sind,4 geht über in die Auseinandersetzung mit der Erinnerungsthematik5 bis hin zu allgemein- und religionsdidaktischen Leitlinien, die das Handeln im universitären Seminar und im schulischen Religionsunterricht bestimmen können und sollten. Substanziell ist dabei die Realisierung der Bedeutung jener Irritation, wie sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Welt gewahr wurde. Es geht mithin also darum, innerhalb des Seminars den Zivilisationsbruch ‚Auschwitz‘ näher anzuschauen und der Frage nachzugehen, was damit genau zu verbinden ist. Jenseits der möglichen Kenntnis des ‚Rahmens‘, also der historischen Daten zu Zweitem Weltkrieg, rassistischer Vernichtung einer Vielzahl unterschiedlicher Menschengruppen und schließlich auch der Stellung der katholischen Kirche zur Diktatur des Nationalsozialismus, ist damit gemeint, tatsächlich nochmals nachzufragen, was dies jeweils konkret zu bedeuten hatte. Dahinter verbirgt sich die Skepsis, ob tatsächlich die Tiefe dieser Gewalttätigkeit wahrgenommen wurde und artikuliert werden kann.

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Vgl. Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. Freiburg i.  Br./​Basel/​Wien, 2. durchges.  u. korr. Aufl. 2006, S. 40. Vgl. König, Klaus: Kirchengeschichtsdidaktische Grundregeln. In: Groß, Engelbert/​König, Klaus (Hg.): Religionsdidaktik in Grundregeln. Leitfaden für den Religionsunterricht. Regensburg 1996, S.  182–202; Lindner, Konstantin: In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht. Göttingen 2007, bes. S. 141–154. Vgl. z. B. Laubach, Thomas: Warum sollen wir uns erinnern? Annäherungen an eine anamnetische Ethik. Tübingen 2006, hier S. 193–226. 312

Im Sinne einer regionalen Religionspädagogik bieten sich Lernzugänge in der näheren Umgebung an. Eine besondere Bedeutung hat ein sogenanntes ‚frühes‘ Konzentrationslager nur wenige Kilometer vom Campus entfernt in Neustadt/​Weinstraße auf dem Gelände der ehemaligen Turenne-Kaserne.6 Dieses frühe Konzentrationslager, das vom März bis zum Mai 1933 bestand, diente bereits zu Beginn der NS-Herrschaft der Verfolgung, Unterdrückung, Demütigung und Misshandlung all jener, die sich dem NS-Regime widersetzten und deren Widerstand gebrochen werden sollte. Seit 2009 setzt sich ein umtriebiger Förderverein mit der Geschichte dieses Ortes auseinander und hat mit breiter Unterstützung diese regionale Gedenkstätte aufgebaut. Auch wenn das Konzentrationslager nur eine kurze Zeit in Funktion war und dort kein Häftling ums Leben gekommen ist, geben Versuche von Häftlingen, Hand an sich zu legen, einen Einblick in die Verzweiflung der Inhaftierten. Es zeigt sich: Dieser Ort ist für die Erarbeitung des Seminarthemas von besonderem Interesse. Gleichwohl lenkt er den Blick auf ein anderes ‚thematisches Schwergewicht‘, das von der Gedenkstätte (in der Ebene) bei guter Sicht problemlos mit dem bloßen Auge wahrgenommen werden kann: das Hambacher Schloss, allgemein als ‚Wiege der deutschen Demokratie‘ bezeichnet. Auch dies ist ein Erinnerungsort, der gänzlich andere Erfahrungen bereithält, wenn man an jene Aufbrüche beim Hambacher Fest am 27. Mai 1832 denkt, bei dem mutige Redner vor den 30 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern für Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit ihre Stimme erhoben. Dieser andere Erinnerungsort hält damit eine Art ‚Kontrastprogramm‘ bereit, ermöglicht er doch die Auseinandersetzung mit dem Bemühen um demokratische Mitbestimmung und bürgerliche Freiheitsrechte, die mit dem Zug ‚hinauf aufs Schloss‘ in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die Menschen begeisterten.7 In Neustadt an der Weinstraße, so ist zu lernen, lässt sich beides auf wenigen Quadratkilometern finden: der Aufbruch zu Selbstbestimmung und Freiheit ebenso wie der Niedergang von Diktatur und Terror.

6 7

Vgl. [www.gedenkstaette-neustadt.de] (Zugriff: 18. März 2020). Vgl. Frisch, Lutz/​Schiffmann, Dieter: Das Hambacher Fest 1832. Wiege der deutschen Demokratie. Regensburg 2014. 313

Bleibt man noch bei der Frage nach dem Zivilisationsbruch, dann lassen sich weitere markante Zugänge erarbeiten. So ist auch das größte dezentrale Erinnerungsprojekt Europas in Landau in der Pfalz präsent: die sogenannten ‚Stolpersteine‘ des Kölner Künstlers Gunther Demnig.8 25 Stolpersteine etwa hat ein Religionskurs am 9. November 2017 vor der eigenen Schule verlegt und hält so die Erinnerung an die vertriebenen Jüdinnen der ehemaligen ‚höhere Töchter-Schule‘ in Landau wach9. Studierende können sich hier mit Anlage und Sinn eines solchen dezentralen Erinnerungsprojektes auseinandersetzen, eine Blickweitung, die für weitere Objekte in der Stadt sensibilisiert. In anderer Weise bieten auch Kriegsgräber und Denkmäler für Kriegstote Lernmöglichkeiten.10 Diese Denkmäler geben durch ihre Inschrift- und Formensprache Einblicke in das Selbstverständnis einer Gemeinde, weil sich darüber Haltungen und Sichtweisen auf die Kriegserfahrung entnehmen lassen. Aufklärung liefert die Friedhofsverwaltung zu der Frage, weshalb ausländische Kriegstote separat auf einem Friedhof bestattet wurden, und welche Entwicklungen es mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Diskussionen um die Umbettung bzw. Identifizierung von Kriegstoten gegenwärtig noch gibt. Man kann die Kreise aber auch noch größer ziehen. Im Rahmen der Frage nach den ‚Licht- und Schattenseiten der Kirche im Laufe der Geschichte‘ befasst sich der Religionsunterricht stets auch mit der Zeit der Hexenverfolgung.11 Auch dies kann erkundend geschehen, etwa am Erinnerungsort ‚Hexendenkmal‘ in Nußdorf, einem Ortsteil von Landau. Mitglieder des örtlichen historischen Arbeitskreises haben ein Denkmal geschaffen, das die Erinnerung an die Verfolgungen und Prozesse am Ende des 16. Jahrhunderts in Landau und Umgebung wach hält. Damit gibt es jener Zeit eine Gestalt, die tausende Opfer gefordert hat, bis schließlich Friedrich von Spee, der aus Selbstschutz seine Au-

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Vgl. [http://​www.stolpersteine.eu/​] (Zugriff: 18. März 2020). [https://​www.msg-landau.de/​informationen/​geschichte-des-msg/​stolpersteine/​] (Zugriff: 31. März 2020). Vgl. Britz, Andreas/​Wolf, Matthias: Kriegerdenkmäler im Religionsunterricht. In: Katechetische Blätter 139 (2014), S. 430–435. Vgl. Krob, Christoph/​Sattler, Sebastian: Herrgottnochmal: Was nun soll ankommen, im Advent? In: Katechetische Blätter 143 (2018), S. 353–356. 314

torenschaft verleugnete, als ein ‚ungenannter römischer Theologe‘ seine Zweifel öffentlich machte und damit an der Beendigung der irrationalen Praktiken maßgeblich mitwirkte.12 Seinen besonderen Wert erhält das Nußdorfer Hexendenkmal durch Werke des Künstlers Karlheinz Zwick, der dem Leiden der Gequälten ein Gesicht verleiht. Und schließlich: Auch neue ‚Erinnerungsorte‘ in einem übertragenen Sinn werden erweiternd in das Seminarkonzept aufgenommen. Nennen könnte und müsste man hier beispielsweise weite Teile des Mittelmeerraumes; exemplarisch kann dies am Schicksal von ‚Alan Kurdi‘ verdeutlicht werden. Hinter diesem Namen verbirgt sich der Leichnam des auf Bodrum angeschwemmten, am 2. September 2017 ertrunkenen Flüchtlingskindes – und inzwischen schließlich das nach ihm benannte, im Mittelmeer kreuzende Rettungsschiff. Dieses Thema ist für den Bogen der Lernprozesse im Seminar wichtig, denn so ergibt sich die gegenwartsrelevante Antwort auf die Frage, welche Folgerungen auch aus dem Bedenken ‚des Zivilisationsbruches‘ zu ziehen sind.13

2.2 Hintergründiges: didaktischen Überlegungen Ein Projektseminar ist bereits von der Begrifflichkeit her spezifischen Zugängen verpflichtet. Sowohl ‚Projekt‘ als auch ‚Erkundung‘ signalisieren Lernwege, die die Eigenaktivität der Teilnehmer*innen betonen. Für die Projektmethode ist das evident; gerade sie will ja das selbsttätige Lernen in herausgehobener Weise zulassen und fördern. Der Erkundungsbegriff setzt einerseits die Begegnung mit dem originalen Lernort außerhalb des Hörsaals voraus, andererseits ist auch hier eine Eigentätigkeit insinuiert, die immer über die üblichen ‚Führungen‘ hinausgeht und auf Strukturmomente baut, die die Neugier, das Interesse, die Beobachtungsgabe und die Wahrnehmungsprozesse der Teilnehmenden fordert.

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Vgl. von Spee, Friedrich: Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse. München 51987. Vgl. Milz, Kristina/​Tuckermann, Anja (Hg.): Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste. Berlin 2018. 315

Über diese grundsätzliche Bestimmung hinaus legen sich dazu folgende weitere didaktische Prinzipien nahe.14 Das ästhetische Lernen, welches seit den 90er Jahren des 20.  Jahrhunderts für religiöse Lernprozesse immer wichtiger geworden ist, erweist sich auch für das Seminarkonzept als orientierungsgebend. Unter der Maxime der Erkundung legt sich die Schulung der Wahrnehmung im Sinne der Aisthesis nahe. Dazu werden in der Regel von den Seminarteilnehmer*innen zu den jeweiligen außeruniversitären bzw. außerschulischen Lernorten strukturierende Aufgabenstellungen entwickelt und erprobt. Prozesse der sogenannten ‚produktiven Verlangsamung‘ ermöglichen die Annäherung an die Objekte aus verschiedenen Perspektiven, so dass sich eine differenzierte, vielschichtige Vorstellung von dem jeweiligen Ort ergibt. In den Gefängniszellen der Gedenkstätte sind dies z. B. auch Tasterfahrungen bei verbundenen Augen, die Empfindungen der Kälte von Wänden und Boden, die Abgeschlossenheit der Zellen, die Stäbe der Gittertür. All das kann taktil wahrgenommen und anschließend in eigenen Notizen festgehalten werden. Die Anlage dieser Wahrnehmungsübungen hängt von den jeweiligen Orten ab. Das Hexendenkmal in Nußdorf beispielsweise macht andere Zugänge erforderlich, wie sie etwa durch die Nachgestaltung ausgewählter Facetten der Bilder von Karlheinz Zwick möglich sind.15 Hier empfiehlt sich die Auseinandersetzung mit objektaffinen Materialien, bei diesem Beispiel etwa durch Kohlestifte, um die Ausdrucksintensität zu erhöhen. Damit wird nun schließlich jene andere Facette von ästhetischem Lernen realisiert, die Poiesis; diese allerdings kann durch das imaginative Lernen unterstützt bzw. intensiviert werden, indem im Sinne einer Art „Rollenübernahme“ Imitationen angeregt werden. Imaginatives Lernen unterstützt so die Möglichkeit, eigene Vorstellungen an den jeweiligen Orten zu entwickeln. Im dritten Schritt, der Katharsis schließlich, kommen die Teilnehmenden zu einer eigenen Urteilsbildung, die eine Reflexion und Stellungnahme einfordert,

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Vgl. Hilger, Georg: Ästhetisches Lernen. In: Hilger, Georg/​Leimgruber, Stephan/​Ziebertz, Hans Georg (Hg.): Religionsdidaktik. München, 6. überarb. Aufl. 2010, S. 334– 343. Vgl. die Abbildungen in dem Beitrag von Krob/​Sattler: Herrgottnochmal. 316

letztlich auf Sache, Subjekt und Gegenwart, wie dies auch das handlungsorientierte Lernen will.16 Dieses weitere Prinzip des (religiösen) Lernens ist nun immer mehr als nur ein konkretes, oberflächliches praktisches Tun (‚Basteln‘) oder Gestalten. Tatsächlich geht es um die Frage, inwiefern Lernvorgänge so arrangiert sind, dass sie auf die Verhältnisse inmitten der gesellschaftlichen Realitäten bezogen sind. Handlungsorientierung im strengen Sinne meint dann Anstöße zu kritischer Reflexion und konstruktiver (Mit-)Gestaltung von Welt, in der sich die Subjekte gegenwärtig vorfinden und auch zukünftig vorfinden wollen. Daran hängen zwei Fragen: Zum einen ist – jenseits der Kenntnis historischer Zusammenhänge – herauszuarbeiten, welche Impulse die Auseinandersetzung mit den außeruniversitären bzw. außerschulischen Lernorten den Teilnehmenden mit auf den Weg geben kann. Und zum anderen ist zu klären, welche Maßstäbe der Gegenwartserfahrung als Kontrastfolie Verbindlichkeit beanspruchen können – oder Lernerträge aus der historischen Auseinandersetzung auch korrigieren können – im Sinne von Bestätigung oder Differenzierung.

3. Unterwegs zum erwachsenen religiösen Lernen Kapitelthema wie auch Beitragstitel spielen auf ein Anliegen an, das Wolfgang Pauly immer wieder bedacht hat: das Erwachsenwerden in theologischer Hinsicht.17 Dabei geht es ihm auch darum, Muster und Begriffe zu klären, und so aufzuzeigen, welchen Sinn theologische Modelle hatten und vielleicht auch bis in die Gegenwart hinein haben. Ebenso ist es ihm ein Anliegen, die Vorentscheidungen offenzulegen, die mit den Deutungen zusammengehen. So schälen sich die jeweiligen geistesgeschichtlichen Wurzeln heraus. Diese wiederum machen nachvollziehbar, weshalb Theolog*innen zu ihren Schlussfolgerungen kommen,

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Vgl. Bahr, Matthias: Handlungsorientiertes Lernen. In: Hilger, Georg/​Leimgruber, Stephan/​Ziebertz, Hans Georg (Hg.): Religionsdidaktik. München, 6. überarb. Aufl. 2010, S. 542–548. Pauly, Wolfgang: Der befreite Jesus. Unterwegs zum erwachsenen Christusglauben. Oberursel 2013; Ders.: Abschied vom Kinderglauben. Ein Kursbuch für aufgeklärtes Christsein. Oberursel 2008. 317

ermöglichen die Frage nach der Anschlussfähigkeit an moderne Theorien. So zeigt sich, inwieweit sie modernitätssensibel oder restriktiven, überkommenen Denkmustern verhaftet sind. Das alles ist sein neuzeitliches Programm, denn es geht im Grunde darum, aufzuklären; auf diesem Hintergrund soll nun Christentum (Religion) als ein Weltzugang entfaltet werden, der einem mündigen Menschen und Christen eigentlich nur angemessen sein kann und muss. Diesen Geist nun sollen einige Perspektiven aufnehmen, die innerhalb der Religionspädagogik dem ähnlichen Anliegen verpflichtet sind und dasselbe wollen: erwachsen religiös zu lernen.

3.1 Theologie und Religionspädagogik von der Nullpunkterfahrung her entwickeln Der Durchgang durch das Seminarprogramm ‚Erinnerungsorte erkunden‘ kann deutlich machen, wie die Ergründung des Zivilisationsbruches eingebettet ist. Trotz des zeitlichen Abstandes sind die damit gegebenen Irritationen m. E. keineswegs ausreichend bearbeitet. Gerade das Aufkommen nationalistischer und rassistischer Haltungen verweist darauf, sich dauerhaft der Ernsthaftigkeit des Themas zu stellen. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Zivilisationsbruches füllt Bibliotheken. Allerdings gibt es gerade für Bildungsprozesse und auch im religionspädagogischen Feld weiterhin die Notwendigkeit, sich dieser Herausforderung zu stellen, die ich als ‚Nullpunkterfahrung‘ qualifiziere, und deren Bedeutung man vielleicht erst nach und nach reflexiv einholt. Damit ist gemeint, dass ‚Auschwitz‘ als so grundlegend angesehen werden muss, dass ‚danach‘ nichts mehr so ist, wie es vorher war. Wir sind in der Erinnerung, dem Gedenken, der Reflexion an einem Nullpunkt: dem Nullpunkt von Menschlichkeit zweifellos, ebenso wie (später, bald) dem Nullpunkt der Reflexion. In diesem Sinne möchte ich dem Metz’schen Diktum, man müsse der Theologie (und damit auch der Religionspädagogik) anmerken, dass sie ‚nach Auschwitz‘ betrieben werde, weiterhin Folge leisten. Denn zu gering sind mir dann doch die Signale, dass diese Nullpunkterfahrung, der Zivilisationsbruch, jener neue Standort geworden ist, nach dem nun gedacht, geschrieben, gelehrt und auch gelernt 318

wird.18 Man mag dazu nur einmal einschlägige Lehrwerke insbesondere der systematischen und der praktischen Theologie daraufhin durchschauen, inwieweit dort eine Zivilisationsbruch-Reflexion oder -Vergessenheit konstatiert werden muss. Denkerisch muss man ihn mit einem Paradigmenwechsel vergleichen, wie er mit der Neuzeit, dem Beginn der Moderne, gegeben war. Auch damals, mit der Emanzipation des Subjektes, waren die Verhältnisse geistesgeschichtlich gesehen danach vollständig andere. Nun also geht es um das Zeitalter ‚nach der Moderne‘, um die Postmoderne also. Religionspädagogisch wäre es von daher erforderlich, diese Nullpunkterfahrung, die für immer mit dem 20. Jahrhundert verknüpft sein wird, aufzusuchen, sich ihr tatsächlich auszusetzen und dann zu bedenken, was dies für das jeweilige Tun bedeutet. Das kann, muss aber nicht zwingend im Aufsuchen von Orten des Terrors bestehen, auch literarische Zeugnisse, allen voran Berichte von Überlebenden, sind hier zu nennen. Allerdings: An den Orten, insbesondere den Gedenkstätten, ihren Monumenten und Zeugnissen der Lebens-Überreste der Opfer (Bestecke, Kleidung, Gegenstände des täglichen Gebrauchs) wird ein Erfahrungsraum eröffnet, der die Monstrosität der großen Zahlen unterbricht und den Blick auf die Individuen lenkt, die einer derartigen Gewalttätigkeit ausgesetzt waren, sodass die Nachwirkungen noch über Generationen zu spüren sein werden.19 Dies gilt es zunächst wahrzunehmen, indem man sich der Botschaft der Orte aussetzt und auf sie hört. Möglicherweise wird dann verständlich, weshalb Elie Wiesel sagen kann, dass in Auschwitz nicht das Judentum, sondern das Christentum untergegangen ist.20 Was ist daraus zu entwickeln, von dieser Nullpunkterfahrung her?

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Bildungsgeschichtlich kann man allerdings erhebliche Auswirkungen feststellen, wenn man an die Eruptionen denkt, die mit dem Jahr 1968 verknüpft sind, auch in der Religionspädagogik. Vgl. Mette, Norbert: 1968 und die katholische Religionspädagogik: Ansätze, Wirkungen, unabgegoltene Potentiale. In: Rickers, Folkert/​ Schröder, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik. Neukirchen-Vluyn 2010, S. 311–322. Vgl. Deselaers, Manfred: Wir können nicht nur schweigen … In: Katechetische Blätter 135 (2010), S. 4–7, S. 7. Vgl. Cargas, Harry James (Hg.): What is a Jew? Interview of Elie Wiesel. In: Ders. (Hg.): Responses to Elie Wiesel. New York 1978, S. 150–157, S. 152. 319

3.2 Von der Theodizee zur Anthropodizee Theologisch und schließlich auch religionspädagogisch rücken damit auch übliche (klassische) Themen in ein anderes Licht. So wie die Theodizeethematik sich am Erdbeben von Lissabon in ihrer Vehemenz entzündete, so führt die Nullpunkterfahrung des Zivilisationsbruches sowohl systematisch-theologisch als auch religionspädagogisch davon in gewisser Weise wieder weg. Im Mittelpunkt sollte m. E. vielmehr stehen, wie man angesichts dieses Ereignisses noch vom Menschen sprechen kann, man also quasi eine Anthropodizee vornehmen muss, wenn man ihn nicht in den entscheidenden Situationen seines Handelns von seiner Freiheit und Verantwortung suspendieren will. Denn ‚Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen‘, wie der Journalist und Holocaust-Überlebende Marian Turski in seiner Rede vor dem sogenannten Todestor von Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 2020 den österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen zitierte.21 Da Auschwitz Menschenwerk war, muss auch theologisch und religionspädagogisch zunächst einmal gefragt werden, was darin über den Menschen offenbar wird, und was dies über die Beziehungen der Menschen aussagte und aussagt.

3.3 Der Mensch zuerst: soziale Anthropo-Theologie In diesem Kontext hat sich auf eine nachdrückliche Weise der italienische Schriftsteller Primo Levi 1947 zu Wort gemeldet. Sein Gedicht „Ist das ein Mensch?“, das er seinen Erfahrungen voranstellt, ist auch religionspädagogisch bedeutsam.22 Theologisch gebildete Menschen verstehen sofort, dass dort das sogenannte Sch’ma Jisrael, das Höre Israel aus Dtn 6,4 anklingt. Pri21

22

Rede von Marian Turski am 27. Januar 2020: [https://​www.auschwitz.info/​de/​gedenken/​gedenken-2020-75-jahre-befreiung/​2020-01-27-marian-turski-das-elfte-gebot. html] (Zugriff: 26. März 2020). Vgl. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? München 1992, S. 9; Bahr, Matthias: „Jetzt stehen wir vor dem ‚Zigeunerlager‘ …“ Überlegungen für eine Religions-Pädagogik im Angesicht von Auschwitz. In: Ders./​Poth, Peter (Hg.): Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur. Stuttgart 2014, S. 83–96, S. 88. 320

mo Levi nun hält ein neues Sch’ma bereit, das diesmal nicht mehr das alte Sch’ma Jisrael ist, sondern jetzt ein Sch’ma Olam, ein Höre, Welt!23 Von jetzt an gibt es in seiner Perspektive keine Unbestimmtheit mehr, sondern nur die einen – und die anderen: jene in den Häusern, gut gesichert lebend, und die anderen, wühlend im Dreck, um ihr Leben fürchtend, im Kampf um ein Stück Brot. Neutestamentlich gewendet findet man in der Rede vom Weltgericht (Mt  25,31–46) das Pendant. Im Angesicht von Auschwitz geht es zuerst um die Frage: Wo war der Mensch in Auschwitz – und wer ist für ihn eingetreten? Das hat Auswirkungen auf die Auslegung etwa des sogenannten Hauptgebotes – und auf religiöses Lernen. Erwachsenes religiöses Lernen wird sich dann darum bemühen, die Perspektive der Nächstenliebe in den Mittelpunkt zu stellen, den Gottesgedanken also christlich radikal vom Menschen her zu sehen. Das Hauptgebot ist dann nicht (mehr) ein Doppelgebot, sondern wird zur radikalen Aufmerksamkeit auf den Menschen. Das wäre – mit der Nullpunkterfahrung im Hintergrund – schließlich auch die Verwirklichung von ‚Menschwerdung‘. Hier gäbe es dann auch das Verfassungsdokument der Religionspädagogik, den Synodenbeschluss Der Religionsunterricht in der Schule weiterzuschreiben, etwa in dem Sinne: ‚Der Religionsunterricht reflektiert die Frage nach der Sorge um die Menschen, damit um Gottes Willen die Menschen menschlich leben können.‘

3.4 Ein elftes Gebot Erwachsen religiös lernen wird sich noch um weitere Fortschreibungen kümmern. So zitiert der bereits erwähnte Marian Turski die Mahnung des Internationalen Auschwitz Komitees nach einem elften Gebot im Rahmen des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 2020, die inzwischen in Unterrichtsmaterial Eingang gefunden hat:

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Vgl. Bahr, Matthias: Nächstenliebe im 21. Jahrhundert. In: Katechetische Blätter 142 (2017), S. 335–341, S. 338. 321

Aus dem Unterrichtswerk „Religion verstehen“ (7. Jahrgangsstufe) für katholische Religionslehre an bayerischen Realschulen: Reflexionsseite zum Themenfeld ‚Biblische Weisungen – Orientierung für ein gelingendes Leben‘24

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Bahr, Matthias/​Schmid, Hans (Hg.): Religion verstehen 7. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an bayerischen Realschulen. Berlin 2019, S. 46. 322

In der Reflexion der Nullpunkterfahrung des Zivilisationsbruches macht Marian Turski deutlich, dass die Gleichgültigkeit und damit letztlich die Kälte der bürgerlichen Gesellschaft maßgeblich dazu beiträgt, dass von Menschen Handlungen vorgenommen werden können, die andere stigmatisieren, ausgrenzen, verfolgen und schließlich vernichten. Erwachsen religiös lernen meint dann, diese Erweiterung eines zentralen jüdisch-christlichen Erbes konstruktiv so weiterzuentwickeln, dass es der modernen Gesellschaft gerecht(er) werden kann, auch weil durch historische Geschehnisse Erkenntniszuwächse erfolgt sind, die es nicht bei der weiteren einfachen Berufung auf alte Traditionen belassen können.

3.5 Postmodernes ethisches Lernen im christlichen Raum: das Konzept der Menschenrechte Die Neubestimmung der sozialethischen Agenda ist kirchenamtlich mit der Enzyklika Pacem in Terris 1963 vorgenommen worden. Auf dem Hintergrund von Kuba-Krise und Berliner Mauerbau richtet Johannes  XXIII. seine Botschaft an die Welt – über den katholischen Kontext hinaus. Damit greift er auf ein Konzept der Moderne zu, das innerhalb der katholischen Kirche viel zu lange ignoriert und bekämpft wurde. Grundsätzlich kann man sagen: Die (Sozial)Ethik ist nun prinzipiell in der Postmoderne angekommen. Denn sie nimmt mit der Menschenrechtsagenda jene grundlegenden Perspektiven auf, die als Reflex auf den Zweiten Weltkrieg formuliert wurden – um der Barbarei zu wehren, die damit selbst als Bezugspunkt eingeholt wurde mit dem Willen, die drohende neue (andere) Barbarei eines dritten Weltkrieges, der ein Atomkrieg geworden wäre, zu verhindern. Gleichwohl ergeben sich damit bis in die Gegenwart hinein entscheidende Konsequenzen, die keineswegs allgemeine Anerkennung finden, wenn man an die Auseinandersetzungen im Rahmen des synodalen Weges denkt, der gegenwärtig kirchliches Nachdenken bestimmt. Und trotzdem: Mit der Vernunft- und Gewissensbewandtnis, die dem Menschen eigen ist (Art.  1 AEMR), ist auch kirchenamtlich zugestanden, dass die Verantwortung des Menschen bei jedem Menschen selbst liegt. Es ist immer das Individuum, die Person, der Mensch in seiner Einzigartigkeit und Würde, der die Welt prägt und gestaltet, der seine Entscheidungen trifft und schließlich dafür einstehen muss. Grenzen sind da zu benennen, wo die Würde des anderen in der Ge323

fahr steht, beschädigt zu werden. Das ist eine klassisch neuzeitliche Überzeugung, die ohne jene Nullpunkterfahrung vermutlich kaum diese Dignität erhalten hätte. Und sie markiert einen weiteren Paradigmenwechsel: nun geben nicht mehr Traditionen oder Religionen den Takt an. Bezugspunkt der (ethischen) Orientierung ist die säkular bestimmte Würde des Menschen und damit seine personale Verantwortung, in der er im Kern autonom ist. Das ist auch für religiöses Lernen wichtig, denn es muss zunächst nach der Vermittlungsmöglichkeit mit dieser Agenda suchen. Dies wiederum setzt aber voraus, dass die Menschenrechte und dann die Menschenrechtsbildung das Programm der religionspädagogischen Auseinandersetzung selbstverständlich tangieren, befruchten und Teil des Kerncurriculums werden – das aber ist noch keineswegs der Fall.25

3.6 Erinnerungsgeleitetes Lernen: einige Folgerungen Aus der Realisierung jener Nullpunkterfahrung und der damit anderen geistesgeschichtlichen Situation ergeben sich mit dem Bezug auf die Menschenrechtsagenda auch für religiöses Lernen andere Perspektiven. Drei Beispiele: Im Konsens mit dem Konzilsdokument Dignitatis Humanae und ganz im Sinne der Menschenrechtserklärung (Art. 18) hat die Realisierung des theologisch und kirchlich altbekannten Gewissens- und Vernunftbezugs die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit für die eigene Religion und religiöse Überzeugung zur Folge. Religionsfreiheit ist ein offensiv zu behandelndes Thema religiösen Lernens. Dies bezieht sich selbstredend auf alle Religionen, auch auf die katholische Konfession. Religiöses Lernen wird daher auch innerhalb des katholischen Religionsunterrichts, der ja religiöse Mündigkeit anstrebt, offenes Angebot sein mit der klaren Perspektive von Akzeptanz oder möglicher Zurückweisung in Freiheit. Hier kann es kein noch so gut gemeintes Bewegen, gar Manipulieren oder Drängen geben. Lehrenden ist damit persönliche Zurückhaltung auferlegt. Theologisch gesprochen: die Gewissensentscheidung der Schüler*innen, Jugendlichen, Erwachsenen muss stets ‚heilig‘ sein. Für einen latenten, subtilen Überzeugungsdruck ist kein Raum. 25

Vgl. Kuld, Lothar: Menschenrechtsbildung. Ein religionspädagogisches Desiderat In: Katechetische Blätter 143 (2018), S. 5–7. 324

Ein zweites: Die Tatsache der historischen Abwesenheit einer rechtstaatlichen Ordnung hat in der Menschenrechtserklärung ihren gegenteiligen Niederschlag gefunden. Sieben Artikel (Art.  6–12) befassen sich ‚nur‘ mit rechtsstaatlichen Prinzipien. Auch dies muss erwachsenes religiöses Lernen zur Kenntnis nehmen. Überlegungen zu Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Prozessen zielen auf Strukturfragen. Diese müssen vermehrt auch innerhalb von religiösem Lernen reflektiert werden. Hier sind die neutestamentlichen Aussagen (etwa: ‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist‘, vgl. Mt 22,21) weiterzuentwickeln. Strukturelle Ordnungen des Gemeinwesens sind nicht ‚des Kaisers‘, ‚der Parteien‘ usw., sondern von fundamentaler Bedeutung für die Entfaltung jedes Menschen. Diese Strukturmomente müssen viel stärker als bislang in religiöse Lernprozesse integriert werden. Auch das ist grundsätzlich erst einmal gar nicht neu (vgl. die Anliegen von Sozialethik). Dennoch: Die Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie müssen ihren Platz innerhalb eines erwachsenen religiösen Lernens bekommen, will man nicht indirekt an der überkommen Formel einer individualisierten Form von Religiosität (‚Rette deine Seele!‘) festhalten, die sich letztlich um das Gemeinwesen doch nicht schert. Das hat Konsequenzen auch für die Gestaltung von Bildungsplänen im Fach Katholische Religionslehre. Eine andere Sicht entsteht auch bei so heiklen Themen, wie sie bisweilen in der (katholischen) Sexualmoral zu finden sind. Selbstverständlich ist die Sexualität eines Menschen immer mit Verantwortung verbunden – Sexualität ist schließlich kein ‚Schluckauf ‘26, kein Reflex, sondern ein verantwortbares Handeln. Bezugspunkt ist hier die eigene Würde, stets aber auch die Würde des anderen Menschen. Sie gilt es grundlegend zu schützen und zu sichern. Gleichwohl ist Sexualität subjektbezogen, vielschichtigen Einflüssen unterworfen und damit keineswegs nur Natur, sondern immer auch Kultur und damit identitätsrelevant, durch Rollenerwartungen geprägt. Das Geschenk freier demokratischer Gesellschaften besteht darin, dass die Selbstentfaltung ohne Angst gelebt werden kann und grundsätzlich auch sexualethisch gelebt werden darf.27 Auch wenn dies für traditionelle Positionen ungewohnt und irritierend sein mag – die konsequente Sicherstellung dessen,

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Vgl. Ammicht-Quinn, Regina: Von Origines bis American Pie III. In: Katechetische Blätter 136 (2011), S. 325–331, S. 329. Vgl. Bahr, Matthias: Das Recht, als Mensch zu seinem Menschsein zu stehen In: Katechetische Blätter 145 (2020), S. 8–14, S. 12. 325

was man ‚Würde des Menschen‘ nennt, und die in der Nullpunkterfahrung millionenfach zerbrochen wurde, ist auch hier das Maß des Denkens, Schreibens und – wenn man dies überhaupt sagen mag – Urteilens.

4. Anfang: Erwachsen religiös lernen Die Absenz eines durchgängigen Ausbuchstabierens des Zivilisationsbruches führt zu der Einschätzung, mit dem erwachsenen religiösen Lernen erst am Anfang zu stehen. Es ist m. E. noch nicht ausreichend bedacht und entfaltet, was nun im 21. Jahrhundert an Konsequenzen zu entwickeln ist. Interessant ist in diesem Kontext das jüngste Werk zur Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, wie sie schulnah diskutiert wird.28 Eine Reflexion dieses Themas auf dem Hintergrund der Nullpunkterfahrung findet jedoch nicht statt. Es scheint, dass immer noch die Bilanz der Widerstandskämpferin Charlotte Delbo gilt: Ihr, die ihr 2000 Jahre geweint habt um einen, der drei Tage und drei Nächte lang starb Welche Tränen werdet ihr für die haben, die viel länger als 300 Nächte und viel länger als 300 Tage gestorben sind wie sehr werdet ihr um die weinen, die so viel Todeskämpfe durchlitten haben und sie waren unzählige Sie glaubten nicht an die Auferstehung zum ewigen Leben Und sie wussten, dass ihr nicht weinen würdet.29

Erwachsenes religiöses Lernen kann dabei nicht stehen bleiben, nimmt diese Herausforderung vielmehr auf und denkt sie weiter.

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Vgl. Schambeck, Mirjam/​Verburg, Winfried (Hg.): Roadtrips zur Gottesfrage. Wenn es im Religionsunterricht um Gott geht. München 2020. Delbo, Charlotte: Trilogie Auschwitz und danach. Basel/​Frankfurt a. M. 1990, S. 17. 326

Zum Autor Professor für Religionspädagogik am Institut für Kath. Theologie und Wissenschaftlicher Leiter des Projektes „Menschenrechtsbildung“ im FB 6: Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Arbeitsschwerpunkte: (religions) pädagogische Grundfragen auf dem Hintergrund des „Zivilisationsbruches Auschwitz“, Menschenrechtsbildung, Entwicklung von Unterrichtsmaterialien für den Kath. Religionsunterricht (Reihe „Religion verstehen“ für Realschulen in Bayern [ab 2017; Kösel/​Cornelsen]). Beirat von Katechetische Blätter; Mitglied im Rat der Stiftung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte (IJBS) in Oświęcim/​Auschwitz (Polen).

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Joachim Theis

Das Bildungspotential der Religionen für Erwachsene erschließen. Plädoyer für die Notwendigkeit einer religiösen Erwachsenenbildung Weltweit erlebt die Menschheit derzeit, wie ein Virus Menschen zur Veränderung ihres Verhaltens zwingt: Geschäfte sind verwaist; Kinos und Konzerthäuser sagen ihre Veranstaltungen ab; in Wirtschaften und Cafés gibt es keine Gäste; Kirchen, Moscheen und Synagogen sind geschlossen. Diese für die Menschen neue Situation stellt drastische Fragen: Wie gehen wir mit den Schutzbedürftigen, Schwächeren und Alten um? Wie begegnen wir unseren Grenzen und unseren finsteren Momenten? Was gibt uns Hoffnung und wie können wir diese schwierige Zeit mit Anstand bestehen? Die augenblickliche Pandemie fordert Glaubende und Nichtglaubende heraus. Sie ist im besonderen Maße Herausforderung für die Religionen, die versuchen, Antworten auf die Frage nach dem Sinn zu geben. Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland hat zum 31.  Dezember 2018 folgende Zahlen veröffentlicht: In Deutschland gibt es 44,1  Mio. EKD- und katholische Christen (53,2 %), 4,3 Mio. konfessionsgebundene Muslime (5,1 %), 3,3 Mio. andere Religionsgemeinschaften (3,9 %) und 31,4 Millionen Konfessionsfreie (37,8 %).1 Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich konfessionslose Menschen nicht für Religion interessieren. Religiöse Bildung in Kindheit und Jugend, in Schule und Katechese stattet Menschen nur begrenzt aus, um die Suche nach einem Lebenssinn zu meistern; speziell in einer digitalisierten Lebenswelt, die geradezu einen Irrgarten an Sinnantworten bereithält. Die Erfahrung zeigt, dass lebenslanges – auch religiöses – Lernen einer veränderten Lebenswelt entspringt. Lebenslanges Lernen ist eine Reaktion darauf, dass Menschen heute die Erfahrung machen, dass das, was sie in ihrer Kindheit über Religion und Glau1

Vgl. Forschungsgruppe Weltanschauungen: Religionszugehörigkeiten in Deutschland 2017 [https://​fowid.de/​meldung/​religionszugehoerigkeiten-deutschland-2017] (Zugriff: 14. Januar 2020). 328

ben gelernt haben, nicht mehr reicht, nicht mehr plausibel ist und keine entsprechenden Antworten gibt, um ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen. So ist das Interesse an religiöser und spiritueller Bildung in der deutschen Bevölkerung viel breiter, als es die Beteiligung an kirchlichen Angeboten nahelegt.2 Denn auch Konfessionslose nehmen religiöse Angebote und Leistungen in bestimmten Lebenssituationen wahr. In der Programmplanung Religion und Erwachsenenbildung muss auf institutioneller Ebene zwischen konfessioneller und staatlicher Trägerschaft einer Bildungseinrichtung unterschieden werden. Im engeren Sinn umfasst die konfessionell gebundene Erwachsenenbildung als Bildungsinhalte religiöse Themen, wie z. B. katechetische Angebote, biblische Arbeitskreise und andere konkreten Formen des praktischen Glaubensvollzuges. Nach Englert gehören im weiteren Sinne all jene Veranstaltungen, in denen „es um eine Thematisierung grundlegender Lebens- und Sinnfragen im Horizont religiöser Traditionen geht“3, zum Bereich der konfessionellen (religiösen) Erwachsenenbildung. Dabei ist zwischen Angeboten der ‚expliziten‘ (über religiöse Rituale und Lehren informierenden) und der ‚impliziten‘ (spirituell-meditativen) Erwachsenenbildung zu unterscheiden. Natürlich nehmen die konfessionell gebundenen erwachsenenbildnerischen Angebote einen kirchlichen und zugleich öffentlichen Bildungsauftrag wahr. Dabei geht es im forum internum vor allem um die Förderung eines mündigen Christseins und um die Kirche, als „Lerngemeinschaft Jesu“ (Mt 28,19), aber auch im forum externum „um eine Form ‚kultureller Diakonie‘  … [die] eine Brücke zwischen Kirche und Welt“4 schlägt. Auch die klassische Erwachsenenbildung der Volkshochschulen in Deutschland (VHS) hält entsprechende Angebote vor. Trotz der Tatsache, dass die VHS keinen religiösen oder weltanschaulichen Standpunkt bezieht und beziehen darf, ist es notwendig, Angebote unter Beachtung ihres religiösen Aspekts bereitzuhalten. Dies gilt gerade dann, wenn interreligiöse oder und interkonfessionelle Themen 2

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Vgl. Schweitzer, Friedrich: Interferenz von Religion und Bildung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7 (2004), S. 313–325, S. 314. Englert, Rudolf: Religiöse Erwachsenenbildung – Situation – Probleme – Handlungsorientierung. Stuttgart 1992, S. 22. Englert, Rudolf: Erwachsenenbildung. In: Bitter, Gottfried/​Englert, Rudolf/​Miller, Gabriele u. a. (Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. München 2002, S. 420–425, S. 420. 329

Berücksichtigung finden müssen. Eine statistische Auswertung der VHS-Veranstaltungen zum Thema Religion für 2020 in Deutschland5 ergibt folgende Übersicht: Insgesamt werden 171 religiös ausgerichtete Veranstaltungen angeboten. Davon sind 19 Veranstaltungen auf den Islam bezogen und 32 Angebote beziehen sich auf das Judentum. Explizit werden 43 interreligiöse Termine mit Blick auf den Islam (14), das Judentum (4) und Sonstige 25 (z. B.: Reise durch die Weltreligionen in Berlin; Welche Feste feiern Ihre Nachbarn?; Interreligiöser Spaziergang in Hagen) angeboten. Mit dem Christentum beschäftigen sich 77 Veranstaltungen, wovon 8 Kirchenführungen sind. Zudem gibt es sicher auch noch weitere freiwillige Veranstaltungen, die je nach Land, Stadt, Gemeinde usw. unterschiedlich, zufällig orts- und situationsabhängig angeboten werden und nicht im Gesamtkalender der VHS veröffentlicht sind. Es zeigt sich, dass religiöse Bildung auch für Erwachsene wichtig ist, um Kompetenzen aktuell zu halten und sich dem strukturellen Wandel der Zeit anzupassen. Dabei geht es vor allem auch bei religiösen Basiskompetenzen um Fähigkeiten, die man braucht, um erfolgreich im Leben zu sein.

1. Begriffsbestimmung von religiöser Bildung In der Wortfügung „religiöse Bildung“ sind das Nomen „Bildung“ und das Adjektiv „religiös“ miteinander verknüpft. Vielfach wird „religiös“ mit „Religion“ assoziiert, sodass der Gegenstandsbereich religiöser Bildung mit Religion bzw. Religionen gleichgesetzt wird. Zunächst ist jedoch zu beachten, dass sich „religiös“ sowohl auf Religion wie auch auf Religiosität beziehen kann. Allerdings lässt sich eine strikte Trennung zwischen Religion und Religiosität nicht durchführen: Vielmehr ist Religiosität auch als die subjektive Seite von Religion zu verstehen und kann als eine spezifische Weise menschlicher Selbst- und Weltdeutungskompetenz bestimmt werden. Bildung und Religion stehen seit den frühesten Anfängen des Christentums in einem fruchtbaren, bisweilen auch spannungsvollen Wechselverhältnis. Der Dienst der Kirche am Menschen ergibt sich dabei aus dem Sendungsauftrag Christi zur Verkündigung des Reiches Gottes. Zwar wird im Neuen Testament 5

Vgl. vhs Kursfinder [https://​www.volkshochschule.de/​kursfinder] (Zugriff: 17. Januar 2020). 330

keine exakte Definition von dem gegeben, was es konkret bedeutet, das Reich Gottes zu verkünden und zu verwirklichen, jedoch erklären die Evangelisten in Bildern und Analogien die jesuanische Botschaft. Dabei ordnen sie dem mit Jesus Christus angebrochenen Reich Gottes gesellschaftliche und geschichtliche Relevanz zu.6 Themen wie die Suche nach Frieden und Gewaltlosigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Nächstenliebe, die Würde und die Gleichheit des Menschen, der Schutz der Schwachen, Armen und Geflüchteten (vgl. Bergpredigt; Mt 5–7) besitzen gerade heute höchste Aktualität. In der Heiligen Schrift geht es dabei letztlich um eine gerechte und friedfertige Welt. Wer also die Bibel ernst nimmt und sich in der Nachfolge Jesu sieht, muss sich an der Verwirklichung des Reiches Gottes (aktiv) beteiligen und auf dessen Ideale hinarbeiten. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der wechselseitigen Verflechtung von Glaube und Leben, von Glaube und Kultur diesen Grundgedanken neu ausgearbeitet. Im Dokument Gravissimum Educationis führt es vor Augen, dass Erziehung und Bildung vor allem Persönlichkeitsbildung ist, die im Dialog mit den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft und Kultur, mit Wissenschaft und Wirtschaft sowie mit Kunst und Religion, steht. Dazu bedarf es einer Menschenbildung, die sich nicht an Verwertbarkeit und Funktionalität orientiert und so den Menschen zur Ware und zum Produkt degradiert. Bildung und Erziehung beziehen sich aus Sicht der Konzilsväter auch nicht nur auf den abgegrenzten Bereich von Kindheit und Jugend, sondern sie betreffen das ganze Leben in seinen vielfältigen Ausformungen. Daher muss religiöse Bildung nachhaltige und widerständige Bildung sein. Sie richtet sich entschieden und ideenreich am Individuum selbst aus. Aus Sicht der Konzilsdokumente ist die Würde des Menschen die tiefste Begründung in der „göttlichen Ordnung“ hierfür. Dort wird „die richtige Autonomie der Schöpfung und besonders des Menschen nicht nur aufgehoben, sondern vielmehr in ihre eigene Würde eingesetzt und in ihr befestigt.“ (GS 41) Die Hinwendung des Konzils zu einem Denken, in dessen Mittelpunkt die menschliche Person steht und in deren Dienst sich die Kirche stellt, bleibt eine noch umzusetzende Größe. In diesem Sinne ist religiöse Bildung ‚Menschenbildung‘: Sie stellt die Frage nach der Qualität des ‚Ichs‘ neu und wendet sich dem Sinnlichen, Widerborstigen, Schwachen und Starken zu. Deshalb fördert sie die Kunst des entfremdenden 6

Vgl. Lohfink, Gerhard: Die Not der Exegese mit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. In: ThQ 186 (1988), S. 1–15. 331

Blicks und das Begreifen der Ungeklärtheiten dessen, was beachtenswert erscheint. Religiöse Bildung verändert gewohnheitsmäßige Wahrnehmung. Eine solche am Menschen orientierte Aufmerksamkeit gibt keinen Zutritt zu einer distanzierten und objektivierten Außenposition, sondern fordert eine Perspektive (Solidarität), die nur von innen ansichtig ist. Religiöse Bildung ist lebensbegleitend und wendet sich den Mitmenschen zu. Deshalb haben auch Erwachsene außerhalb der religiösen Institutionen Anspruch auf ein solches Bildungsangebot. Dazu gehören das Wissen um Religionen und die Unterstützung der Reflexion ihrer mitgebrachten religiösen wie auch weltanschaulichen Vorstellungen und Überzeugungen. Religiös gebildet zu sein, heißt dann auch, gemeinsam Grundfragen des Lebens neu zu entdecken oder wieder zu finden, in Auseinandersetzung mit der christlichen Verkündigung eigene Antworten zu entwickeln, darüber mit anderen Menschen und Religionen zu kommunizieren und mit ihnen gemeinsam Konsequenzen zu prüfen. Diese Überlegungen machen deutlich, dass es in religiösen Bildungsprozessen nicht nur darum gehen darf, Kenntnisse oder deklaratives Wissen zu erringen. Es geht darum, die Kompetenzen zu erwerben, mit Wissen so umzugehen, dass es auf die eigene Geschichte und Biographie bezogen ist, und den Menschen befähigt, in Freiheit und Selbstverantwortung zu leben. Das gilt auch und gerade für den Umgang mit existentiellen Krisensituationen: also der Kompetenz, im Vertrauen (auf Gott und) auf das Leben durch manchen Zweifel hindurch sich den schweren und dunklen Seiten des Lebens zu stellen.

2. Individualisierung und religiöse Bildung Ging die Religionssoziologie noch vor etwa 60 Jahren davon aus, dass die Entwicklung der Modernisierung zur Säkularisierung führen würde, so vertritt die Mehrheit der Religionssoziologen heute die Auffassung, dass die moderne Gesellschaft durch Prozesse religiöser Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist. Deshalb hat Ulrich Beck7 deutlich zwischen Religiosität und Religion

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Vgl. Beck, Ulrich/​Beck-Gernsheim, Elisabeth: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in den modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994, S. 10–39. 332

unterschieden. Religion hat sich unter den Bedingungen der Moderne verändert. Sie findet man heute in unterschiedlichsten Formen: im Internet und seinen vielfältigen Ausfaltungen, in der Unterhaltungsindustrie, im Sport, in der Kunst, beim Fußball, in der Politik und insbesondere in den stark psychologisch orientierten Selbsterfahrungs-, Therapie- und Lebensstilgruppen.8 Religion ist gekennzeichnet durch ein definiertes Gottesbild, bestimmte religiöse Glaubenssätze und Praktiken, die von den organisierten Kirchen vorgegeben sind. Doch Menschen scheinen sich gegenwärtig immer weniger aus unterschiedlichsten Gründen verpflichtet, der Kirche zu folgen. Ihre Religiosität, das, was sie daraus machen, ist die subjektive Form des Glaubens, ist der Hinweis darauf, dass inzwischen viele Menschen ihre Form, ihre Vorstellung von Transzendenz und ihre Vorstellung auch von Religiosität bis zu einem gewissen Grad selbst basteln, sozusagen aus einem spirituellen Baukasten, den sie sich aus verschiedenen religiösen Traditionen zusammensetzen und in dem sie ihr eigenes Gottesbild, eben ihren eigenen Gott zusammenstellen, dem sie sich verpflichtet fühlen.9

Die Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion weist auf eine subjektive Form des Glaubens hin. Religiosität bezeichnet die konkrete Art und Weise, wie geschichtlich gewachsene und sozial vermittelte Religionen im Leben der Einzelpersonen zum Tragen kommen. In diesem Sinne bezeichnet ‚Religiosität’ die individuelle Aneignung und Verwirklichung von Religion.10

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Pollack, Detlev/​Pickel, Gerd: Individualisierung auf dem religiösen Feld. In: Honegger, Claudia/​Hradil, Stefan/​Traxler, Franz (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i. Br. 1998. Opladen 1999, S. 623–642. Beck, Ulrich: Der eigene Gott. Von der Friedfertigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen. Frankfurt a. M. 2008, S. 245. Porzelt, Burkhard: Individualisierte Religiosität. In: Bitter, Gottfried/​Englert, Rudolf/​ Miller, Gabriele u.  a (Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. München 2002, S. 275–279, S. 276. 333

Doch die Individualisierung der Religion ist nicht nur eine Frage des Einzelnen. Sie prägt auch die Gesellschaft und verändert die Narrative über das, was Menschen von einem gelungenen Leben halten. Gemeinsame Regeln schwinden und Leitplanken, die Orientierung und Sicherheit in der Lebensgestaltung geben, verlieren an Bedeutung. Die großen Erzählungen, die in den Traditionen der Religionen überliefert sind, gehen verloren. So werden beispielsweise die Texte des Alten Testaments von den Vätern und Patriarchen, über den Exodus oder von den Propheten, aber auch die Geschichten des Neuen Testaments immer seltener tradiert.11 Mit dem Gewinn an Freiheit sind also zugleich unübersehbare Risiken verbunden. „Das Defizit an vorgegebenen und verlässlichen Bindungen konfrontiert mit der Herausforderung und Chance, soziale Netze selbstbestimmt herzustellen und aufrechtzuerhalten, wie mit dem Risiko, in Vereinzelung zu geraten.“12 Der Megatrend der Individualisierung ermöglicht zwar ein selbstbestimmtes Leben und legt die Antwort nach dem Sinn des Lebens in die Verantwortung des Einzelnen, er kennt aber auch mehr Brüche im Privatleben. Sinnsuche und -findung werden zur Privatsache, sodass Gemeinschaftswerte gegenüber Individualwerten an Bedeutung verlieren. Gebrochene Lebensläufe, steigende Scheidungsquoten, Bindungsunsicherheiten und Konfliktscheuheit sind die Folgen dieser Entwicklung. Sie wird dadurch verstärkt, dass mit solchen Problemfeldern wie z. B. Scheidung ein „individualistischer Lerneffekt angelegt [wird], was in der Generationenabfolge dann zu weiteren Scheidungen führt.“13 Diese Begleiterscheinungen einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft verweisen darauf, dass Menschen auf die Unterstützung anderer angewiesen sind. Vieles, was Menschen sich als Lebensaufgabe stellen, lässt sich nur mit Hilfe anderer erreichen. Die Unterstützung neuer Gemeinschaften (z.  B. Ökodörfer, Mietshäuser Syndikat usw.), alternativer Lebensformen (z.  B. Wohnen für Hilfe, generationenübergreifende Wohngemeinschaften usw.), Vernetzungen im Internet mit ihren vielfältigen Feedbackformen stellen auch die tradierten religiösen Meta-

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Vgl. Theis, Joachim: Digital natives und die Bibel – eine unmögliche Verbindung? In: BiKi 74 (1/​2019), S. 2–10, S. 3f. Porzelt: Individualisierte Religiosität, S. 276. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. München 22000, S. 45. 334

erzählungen vor die Herausforderung, sich neu auf die Begleitung der Menschen in ihren Lebensgeschichten einzustellen. Mit den zunehmenden Möglichkeiten, wie sich Menschen in ihrer Persönlichkeit ausdrücken und erleben können, wächst auch die Frage nach den Kriterien, die Menschen helfen, sich die Frage nach ihrem Lebenssinn zu beantworten. Hier trägt eine basale religiöse Bildung dazu bei, sich auf dem Markt der Sinnangebote und Identitäten zurechtzufinden. Um nicht Spielball einer merkantilen Gesellschaft zu sein, bedarf es einer Menschen-Bildung, die befähigt, eigenständig Leben gestalten und führen zu können. Das Leben selbst stellt die Fragen zum Lebenssinn und fordert Religion heraus, tragfähig und plausibel zu antworten. Es geht um Antworten, welche Gewissheit und Hoffnung geben und die Zukunft als lebenswert und gestaltbar erschließen können. Religiöse Bildung als Menschenbildung orientiert sich in ihrem Handeln und Denken an Leitvorstellungen christlicher Überlieferung. Das Ziel einer religiösen Bildung ist daher nicht eine vorgegebene und von außen kommende Botschaft. Es sind die Erfahrungen des Lebens in die religiöse Deutung zu heben. „Dazu ist das Deutungspotenzial der biblischen Motive, Erzählungen und Symbole zu nutzen. Sie sind so ins Gespräch zu bringen, dass […] Lebenserfahrungen angesprochen und verstanden [werden], tiefer als es ihnen selbst möglich ist.“14

3. Religiöse Bildung in staatlich verantworteter Erwachsenenbildung Die zunehmende gesellschaftliche Brisanz religiöser Thematiken in einer weithin säkularisierten Gesellschaft ist eine der großen Herausforderung für die Erwachsenenbildung. Ein gesellschaftspolitischer Auftrag zur Wissensvermittlung über die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt lässt sich sowohl aus den Weiterbildungsgesetzen der Bundesländer als auch aus den internationalen Menschenrechtskonventionen ableiten.15 Leider wird in der Fachdebatte zum erwachsenen14

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Gräb, zitiert nach: Kunstmann, Joachim: Subjektorientierte Religionsdidaktik. Plädoyer für eine zeitgemäße religiöse Bildung. Stuttgart 2018, S. 68. Vgl. Schwarze, Antje: Die religiöse Dimension in kulturellen und politischen Bildungsveranstaltungen. In: Schmidt-Behlau, Beate/​Schwarze, Antje (Hg.): Im Dialog zum Miteinander. Ein Leitfaden mit Muslimen in der Erwachsenenbildung. Bonn 2005, S. 14–23, S. 17. 335

pädagogischen Umgang mit der kulturellen Vielfalt die religiöse Dimension von Kultur nur randständig beachtet. So findet sich im europäischen Memorandum für Lebenslanges Lernen16 kein einziger direkter Hinweis auf religiöses bzw. interreligiöses Lernen. Jedoch ist es für eine weltanschaulich heterogene und eine religiös indifferente Gesellschaft wichtig, neutrale Dialog- und Kommunikationsräume zu schaffen, in denen Menschen sich begegnen können, um gemeinsam Antworten auf existentiell und gesellschaftlich relevante Fragen zu finden.

3.1 Religiöse Bildung auch im Erwachsenenalter? Zwar lernen Menschen im Erwachsenenalter in erster Linie, um gut leben zu können, um sich in einer sich ständig ändernden Umwelt zurechtzufinden, aber sie stehen auch immer wieder vor existentiellen Fragen, die sie jeweils neu beantworten müssen. Was ist der Sinn? Warum bin ich da? Warum gibt es Leid und Tod? Denn die meisten Härten des Lebens mit seinen zahlreichen Sinn- und Orientierungskrisen folgen erst im Erwachsenenalter. Dann müssen Menschen lernen (oder gelernt haben), tragende Beziehungen einzugehen, Verantwortung für Partnerin oder Partner und Kinder zu übernehmen, mit eigenen Fehlern zu leben und Niederlagen zu verarbeiten. Zugleich haben Entscheidungen im Erwachsenenalter wesentlich weitreichendere Konsequenzen als in Kindheit und Jugend, wo es vor allem zunächst um die Fragen geht: Wer bin ich? und Wie möchte ich sein? Allerdings ist die Identitätssuche im Erwachsenenalter noch nicht ganz abgeschlossen, sondern es kommen weitere Fragen hinzu: Was ist das Ziel meines Lebens? Worauf ist mein Leben ausgerichtet? Was soll ich tun, wie soll ich mich verhalten? Gibt es einen Gott oder Götter? Falls ja, was können wir über ihn oder sie wissen und sagen? Diese sogenannten letzten Fragen, d.  h. die Fragen nach dem Grund und dem Ziel der Dinge, kommen in jeder Kultur, zu allen Zeiten und in jedem Alter vor. Große Fragen unterscheiden sich von anderen Fragen durch ihre existentielle Tragweite. Wenn auf sie Antworten gegeben werden, haben diese nicht den Charakter sicheren (wissenschaftlichen) Wissens. 16

Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Memorandum über Lebenslanges Lernen. Brüssel 2000. 336

Große Fragen erfordern eine persönliche Auseinandersetzung, die auf eigenem Denken, auf dem Abwägen von Antworten anderer Menschen und schließlich auf einer persönlichen Entscheidung beruht. Zwar können Menschen hier kein definitives Wissen erlangen, sie können jedoch zu persönlicher Gewissheit kommen. Und Menschen werden in ihrer Lebensgeschichte immer wieder herausgefordert, sich diesen Fragen zu stellen: Die einen scheitern in beruflichen Dingen, die anderen in der Liebe. Schicksalsschläge, Krankheiten und andere einschneidende Ereignisse prägen das Leben und verlangen eine (religiöse) Antwort. Und weshalb sollten die Fragen nach dem Sinn des Lebens allein den kirchlichen Erwachsenenbildungseinrichtungen vorbehalten sein? Besonders dann, wenn Menschen keiner Weltanschauung und Konfession angehören, brauchen sie Orte religiöser und spiritueller Bildung. Besonders dann, wenn sie in Lebenskrisen geraten, sind entsprechende Bildungsangebote von neutraler Seite vorzuschlagen. Religiöse und spirituelle Bildung im Erwachsenenalter ist sicher grundsätzlich notwendig, jedoch in einer sich rasant verändernden Gesellschaft17 sollte ihr umso mehr Aufmerksamkeit gelten. Digitalisierung und Globalisierung stellen Erwachsenen18 gegenüber neue Fragen, die sie bewältigen müssen. Zugleich muss eine Erwachsenenbildung davon ausgehen, dass Religion bzw. Religiosität bewusst oder unbewusst, reflektiert oder unreflektiert in den Lebensgeschichten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer anwesend ist. Biographien sind einerseits beeinflusst von religiöser Erziehung, anderseits durch einen Sozialisationsprozess, der religiöse Motive, Symbole und Werthaltungen implizit vermittelt.19 „Die Berücksichtigung der kulturellen Identität mit der entsprechenden religiösen Prägung aller Teilnehmer ist Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog und eine fruchtbringende interkulturelle Bildungsarbeit.“20

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Vgl. Demografische Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands [https://​www.destatis. de/​DE/​Presse/​Pressemitteilungen/​2019/​06/​PD19_​244_​12411.html] (Zugriff: 24.  März 2020). Beispielsweise sind laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2015 ca. 890 000 Asylsuchende nach Deutschland eingereist. [https://​www.bmi.bund.de/​SharedDocs/​pressemitteilungen/​DE/​2016/​09/​asylsuchende-2015.html] (Zugriff: 24. März 2020). Vgl. Paetzoldt, Evelyn: Religion und Erwachsenenbildung. In: REPORT. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 1 (2009), S.  13–23 [http://​www.die-bonn.de/​id/​4205] (Zugriff: 12. Februar 2020). Ebd. 337

3.2 Biographisierung und religiöse Bildung Der Anspruch, das eigene Leben zu gestalten bzw. es gestalten zu müssen, betrifft natürlich auch die Religion bzw. die Religiosität im engeren Sinn. Von daher fragen die Menschen nach der Relevanz der Religion für bedeutsam erscheinende Lebenspassagen. Übergänge im Lebenslauf, die Anlass zum Rückblick und zur Bilanzierung sowie zur Entwicklung von Zukunftsperspektiven geben, treten an die Stelle von vorgegebenen institutionellen Mustern, wie Katechesen zur Eheschließung oder Taufe.21 Dadurch kommt Religion eine stärker reflexive (und weniger eine stabilisierende) Funktion zu und rückt die Frage nach ihrer Plausibilität in den Blick. Ob Menschen in diesen Prozessen auf kirchliche Angebote zurückgreifen, ist nicht mehr die Frage der Tradition, sondern der Wahl. Insofern werden Aneignung und Auswahl religiöser Überzeugungen nicht mehr bei den Kirchen angesiedelt, sondern sind in die Individualität der Subjekte verschoben. Auch der christlich, kirchlich orientierte Erwachsene bestimmt seine Sinnsuche selbst und wird zum religiösen Sinnkonstrukteur seiner Lebenswelt. Der ‚spirituelle Baukasten‘, aus dem sich die Menschen ihre Religion/​ihren Gott zusammenstellen, ist biographiebezogen und durch Aspekte der Plausibilität in der eigenen Lebensgeschichte geprägt. Der Erwachsene in unserer pluralen Gesellschaft wird zum Sinnbastler und zum religiösen Touristen.22 Lebenssinn wird nicht länger aus Religionen (oder anderen Weltanschauungssystemen) alleine abgeleitet, sondern ganz lebenspraktisch selbst zusammengesucht. Es gilt das Motto: „Jeder Einzelne muss für seinen Glauben selbst sorgen!“ Das hat zur Folge, dass auftauchende religiös besetzte Sinndeutungen veränderlich sind und nicht als zeitlos und allgemeingültig angesehen werden. „Wenn Menschen in bestimmten Phasen ihres Lebens der Religion Bedeutung zuweisen, dann nicht immer, um die Bedeutung des Religiösen an sich zu belegen, sondern

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Vgl. Schöll, Albrecht: „Einfach das Leben irgendwie nicht verpennen“. Zur Funktion religiöser Deutungsmuster in der Adoleszenz. In: Gabriel, Karl (Hg.): Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität. Gütersloh 1996, S. 112–119, S. 115. Vgl. Calmbach, Marc/​Borgstedt, Silke/​Borchard, Inga u. a. (Hg.): Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14–17 Jahren in Deutschland. Berlin 2016, S. 336. 338

um damit die Relevanz der bedeutsam erscheinenden biographischen Passagen hervorzuheben.“23 Die ‚Biographisierung des Religiösen‘ löst die Stabilisierung durch Religion ab.24

3.3 Religiöse Bildung ist notwendig in einer demokratischen Gesellschaft Erwachsene in einer säkularen und digitalen Gesellschaft stehen den institutionalisierten religiösen Bezugssystemen oftmals kritisch gegenüber. Zwar ist der deutsche Staat in seiner Verfassung verpflichtet, Religionen und Weltanschauungen neutral zu begegnen, doch neutral heißt nicht, dass er einer religiösen Bildung gegenüber ablehnend oder gleichgültig gegenübersteht. Es ist politischer Konsens, dass Religionen zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen können. Zudem gehört es zum Wesenskern des Christentums, dass die Erlösungsbotschaft nicht nur den einzelnen Menschen zugesagt wird, sondern sie ist geradezu auch gesellschaftliche Sprengkraft. Im Alten und besonders im Neuen Testament geht es um das Kommen des Reiches Gottes und die Gerechtigkeit Gottes in dieser Welt.25 Aus soziologischer Perspektive dienen Religionen durch die Rückbindung an eine übergeordnete, aber auch nicht ursächlich begründbare Macht der Orientierung in verschiedenen Lebens- und Entscheidungssituationen. Religionen geben Orientierung in ethischen Problemsituationen (z. B. dem Umgang mit Fremden, der Einstellung zur Selbsttötung oder dem Schutz am Anfang und am Ende des Lebens) und helfen, Kontingenzerfahrungen (z.  B. Verarbeitung von Leid, Unrecht, Schicksalsschlägen und Tod) zu bewältigen. Religionen helfen, mit Gefühlen umzugehen oder dem Feiern von besonderen Festen einen Sinn zu geben. Dabei ermöglicht religiöse Bildung, die Welt und das Handeln des Menschen aus einer Distanz heraus zu betrachten und verhilft zu einer kritischen Beurteilung eines als ungerecht oder unmoralisch empfundenen Zustandes in der Gesell-

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Schöll, Albrecht: Jugend, Religion. In: WiReLex [https://​www.bibelwissenschaft.de/​ stichwort/​100085] (Zugriff: 24. März 2020). Vgl. Sellmann, Matthias: Religion und soziale Ordnung. Gesellschaftstheoretische Analysen. Frankfurt a. M. 2007, S. 422. Vgl. Weder, Hans: Zugang zu den Gleichnissen Jesu. Zur Theorie der Gleichnisauslegung seit Jülicher. In: Der evangelische Erzieher 41 (1989), S. 384–396. 339

schaft. Natürlich erfüllen nicht nur Religion bzw. ihre Religionsgemeinschaften diese Funktion, aber diese müssen sich diesen Aufgaben in besonderer Weise zuwenden. Deshalb darf sich Bildung im Erwachsenenalter nicht nur auf Fort- und Weiterbildung im beruflichen Sektor beschränken, sondern muss sich ebenso den grundlegenden Fragen menschlichen Daseins zuwenden. „In jedem Lebensalter erwachsen religiöse Bildungsaufgaben sowohl aus den sich neu erschließenden Fähigkeiten […] als auch aus den spezifischen Herausforderungen und Verantwortungsverhältnissen, in die sich der Mensch zu verschiedenen Lebenszeiten gestellt sieht.“26 Nur so kann es zu einer ausbalancierten Gesellschaft kommen, in der Individualität und Sozialität ausbalanciert sind. Statt sich gegenseitig mit Misstrauen oder gar Hass und Populismus zu begegnen, gilt es, den Gemeinschaftssinn zu stärken, um ein gemeinsames und friedliches Zusammenleben zu gewährleisten. Deutlich hat die Flüchtlingskrise 2015 gezeigt, wie notwendig es ist, ein Verständnis und ein Interesse für die religiös-kulturelle Vielfalt in unserer Gesellschaft zu entwickeln. In der Auseinandersetzung mit religiösen Vollzügen wie Festen, Feiern und Gottesdiensten usw. eigener und anderer Religionsgemeinschaften wird deutlich, welche Bedeutung Religion für das Leben des Einzelnen wie auch für die Gesellschaft hat. In einer elementaren Auseinandersetzung mit diesen Fragen entwickeln Menschen die Fähigkeit zu Toleranz und wechselseitiger Anerkennung gegenüber unterschiedlichen religiösen und auch weltanschaulichen Vorstellungen. Zugleich können sie begründete Kritik gegenüber religiösen und weltanschaulichen Einstellungen üben, sobald diese die Würde des Menschen verletzen. Die Fähigkeit, mit Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung umgehen zu können, ist aktuell in fast allen Berufs- und Tätigkeitsfeldern nötig. Deshalb braucht es eine Bildung, welche die religiösen und kulturell bedingten Wahrnehmungs-, Denk-, Gefühls- und Handlungskonzepte ihres Gegenübers bedenkt. Interreligiöse und interkulturelle Bildung ist eine der großen Herausforderungen unserer aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Hier können insbesondere gegenseitiges Verständnis, Toleranz, Respekt und Dialogfähigkeit erworben und eingeübt werden. 26

Schweitzer, Friedrich: Religiöse Bildung – ein Leben lang? Aspekte einer Theorie der religiösen Bildung. In: Loccumer Pelikan 4 (2010) [https://​www.rpi-loccum.de/​material/​pelikan/​pel4-10/​theo_​schweitzer] (Zugriff: 22. Januar 2020). 340

Religiöse Bildung regt Erwachsene zugleich dazu an, ihren eigenen Glaubens- und Lebensüberzeugungen zu trauen. Die dadurch gewonnene Entscheidungssicherheit und religiöse Mündigkeit tragen zur Kommunikationsfähigkeit und „zur Wertschätzung gegenüber Menschen anderer religiöser oder weltanschaulicher Vorstellungen“27 bei. Religiöse Bildung eröffnet Menschen die Möglichkeit, zu lernen, „dass sie nicht dauerhaft aus eigener Kraft stark sein müssen, weil sie sich unabhängig von dem, was sie können und leisten, geachtet und geliebt wissen.“28 Auf diese Art und Weise kann sie zugleich auch widerstandsfähiger gegenüber Stresssituationen machen und in Krisen Kraft zum Durchhalten spenden. Untersuchungen zeigen, dass sich lebenslanges Lernen positiv auf das Leben der Erwachsenen auswirkt, vor allem dann, wenn das Glück, das sich mit der Fortbildung einstellt, nicht erzwungen wird, sondern die Teilnahme an den Bildungsmaßnahmen freiwillig ist.29 Speziell Motive religiöser Wertorientierung (z.  B. Nächstenliebe) gilt es einschätzen zu lernen und über die Bereitschaft zur Übernahme sozialer Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden zu verfügen. Das müssen Menschen auch und vor allem in einer demokratischen Gesellschaft einüben. Die Teilnahme an verschiedenen politischen Debatten (Klima, Nachhaltigkeit, Fremdenfeindlichkeit, Gentechnik etc.) bedarf einer Wissensvermittlung, damit Fake-News und Verschwörungstheorien enttarnt werden. Die Befähigung hierzu dient dem religiösen und gesellschaftlichen Engagement und einer emanzipatorischen Einstellung. Religiöse Bildung leistet damit einen Beitrag zur Demokratieentwicklung.

4. Religiöse Bildung ein wichtiger Beitrag zum Zusammenleben der Gesellschaft Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten brauchen Menschen, um kurzschlüssigen Antworten und vordergründigen Ratschlägen zu begegnen? Oberflächliche und merkantile Angebote sind dabei oft keine wirklich tragfähigen Perspektiven. Zwar

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28 29

Wermke, Michael/​Beier, Miriam: Kindertagesstätte. In: WiReLex [https://​www.bibelwissenschaft.de/​stichwort/​100330/​] (Zugriff: 22. Januar 2020). Ebd. Vgl. BeLL-Studie (Benefits of Lifelong Learning – What is adult education for) [http://​ www.bell-project.eu/​cms/​] (Zugriff: 22. Januar 2020). 341

kann man diese Fragen beantworten, indem man eine Gottheit und/​oder eine höhere Seinsstufe (ewiges Leben, Nirwana) postuliert, aber überzeugen diese in einer aufgeklärten Gesellschaft wirklich? Man kann dagegen allerdings auch eine Sinnhaftigkeit des Lebens verneinen. „Das Leben selbst hat einen Eigenwert. Wem es also gelingt, sein Leben um seiner selbst willen zu leben, der erfährt die wahre Lebensfreude. Einen tieferen Sinn gibt es nicht!“30 Können Menschen aber ihr Leben um ihrer selbst willen leben? Tragen und trösten solche nihilistischen Antworten auch bei Schicksalsschlägen und anderen schweren Lebenskrisen? Religiöse Bildung wendet sich daher an religiös und nicht-religiös empfindende Menschen: Religiös empfindende Menschen können ihrem Gottesglauben für sich und in der Gemeinschaft Gestalt verleihen. Sie fühlen sich gestärkt im Umgang mit Situationen der Angst und der Schuld, des Versagens und des Ausgeliefertseins, angesichts von Leid und Tod. Sie können Räume des Staunens und der Stille über Gottes Schöpfung entdecken und sind zu Hingabe und Geduld, zu Trost und Verzeihen, zu Lob und Dank befähigt. Nicht-religiös empfindende Menschen können eine Vorstellung über die Bedeutung des Transzendenzbezugs für das Selbstverständnis anderer Menschen entwickeln, ihre eigene Sicht auf Religion zu anderen Sichtweisen in Beziehung setzen und damit ein differenziertes Verständnis von Religion aufbauen. Daher schafft ein fruchtbares Wechselspiel von gewachsener Identität und anzustrebender Verständigungsfähigkeit die Grundvoraussetzung für das gegenseitige Verstehen und die Gestaltung einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft. Es befähigt Menschen mit unterschiedlichen Sinnentwürfen, resilient zu bleiben und Lebenskrisen zu meistern. So zielt religiöse Bildung auf eine kritisch-kundige Offenheit und Toleranz gegenüber Religionen. Es ist wünschenswert, wenn Kommunen, freie Träger oder Religionsgemeinschaften ihre Bildungseinrichtungen und -angebote so ausgestalten, dass Erwachsenen die Möglichkeit des Erwerbs einer Sprachfähigkeit in religiösen Fragen eröffnet wird. Dies setzt voraus, dass Möglichkeiten geschaffen werden, bei denen Wissen über Religionen erworben werden kann, deren Ausdrucks- und Praxisformen kennengelernt sowie von Offenheit und Toleranz, Respekt und Anerkennung geprägte Haltungen 30

Kambartel, Friedrich: Bemerkungen zu Verständnis und Wahrheit religiöser Rede und Praxis. In: Ders.: Philosophie der humanen Welt. Frankfurt a. M. 1989, S. 100–102. 342

und Einstellungen entwickelt werden können. Durch eine sensible Wahrnehmung sowie durch eine kompetente Bereitschaft zum Gespräch über religiöse Fragen wird eine solche Entwicklung innerhalb der Gesellschaft gefördert. Menschen werden gestärkt, um gegen politischen Populismus immun zu werden.

Zum Autor (geb. 1955 in Birkenfeld) 1981 Diplom; Lehrtätigkeit an Berufsschule (GuT) und Gymnasium, wissenschaftlicher Assistent (1983–1993), akademischer Rat bzw. Oberrat (1993– 2002) am Lehrstuhl für Religionspädagogik mit Katechetik der Theologischen Fakultät Trier. 1990 Promotion zum Thema „Paulus als Weisheitslehrer“ und 2002 Habilitation: „Die Bibel verstehen“. 2002–2004 Vertreter des Universitätsprofessors für das Fach Religionspädagogik und Homiletik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Seit 2004 ordentlicher Professor für Religionspädagogik mit Katechetik an der Theologischen Fakultät Trier. Von 2006 bis 2014 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik und Katechetik (AKRK). Seit 2015 Mitglied des Bundesvorstandes des deutschen Katecheten Vereins (dkv).

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Birgitta Greif

„Himmlisch gut!“ Professor Dr. Wolfgang Pauly, ein Glücksfall für die Nachqualifikation im Fach Katholische Religionslehre „Himmlisch gut“, so lautet ein bekanntes Diktum von Professor Dr. Wolfgang Pauly, welches in den Ohren aller Nachqualifikantinnen und -qualifikanten nachklingt. Professor Dr. Pauly hat mit sehr viel Herz die Bibel und die Geschichte unseres Glaubens für uns lebendig gemacht. Er hat uns Mut und gutes Werkzeug an die Hand gegeben, die biblischen Geschichten an unsere besonderen Schüler in der Förderschule weiterzugeben. Herzlichen Dank für alles,

so das Resümee der Kursabsolventin Sabine Boßle.

Berufsbegleitende Nachqualifikation für Lehrkräfte an Grundschulen, Förderschulen und Sekundarschulen I Als in den 80er Jahren die Bischöfliche Schulabteilung der Diözese Speyer in Kooperation mit dem Institut für Lehrerfortbildung in Mainz die berufsbegleitende Nachqualifikation für Lehrkräfte an Grundschulen, Förderschulen und Sekundarschulen I aus der Taufe hob, konnte noch niemand ahnen, welche Rolle Professor Dr. Wolfgang Pauly im Laufe von dreißig Jahren in dieser Weiterbildungsmaßnahme spielen würde. Der Kurs ist eine auf zweieinhalb Jahre angelegte schulartund schulstufenübergreifende Weiterbildungsmaßnahme. Ziel dieser Fortbildung ist es einerseits, bereits ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer zusätzlich für den schulischen Religionsunterricht zu qualifizieren und somit auch dem Mangel an Fachkräften zu begegnen, und andererseits, diesem Personenkreis eine Unterstützung für die eigene Glaubensbiographie anzubieten. 344

Die rechtliche Voraussetzung für eine Nachqualifikation bildet die Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Frauen und Jugend vom 16. Mai 2003. Teilnahmeberechtigt sind Lehrkräfte mit abgeschlossener Zweiter Lehramtsprüfung, die zu Beginn des Kurses im Dienst des Landes Rheinland-Pfalz oder eines Trägers einer staatlich anerkannten Ersatzschule stehen. Der Nachqualifikationskurs schließt ab mit einer staatlichen Prüfung in Form eines zwanzigminütigen Kolloquiums mit drei Schwerpunkten aus den Bereichen Biblische Theologie, Systematische Theologie und Religionspädagogik. Die erfolgreiche Ablegung der Prüfung führt zur Erteilung der staatlichen Unterrichtserlaubnis. Nach sechsmonatiger Unterrichtspraxis wird dann nach Unterrichtsbesuch und anschließendem Kolloquium durch die Schulbehörde die staatliche Unterrichtsbefugnis erteilt. Im Anschluss erfolgt kirchlicherseits die Erteilung der Missio canonica. Die formale Beschreibung des Kurses bleibt eine leere Hülle ohne die Menschen, die dahinterstehen, wie z.  B. Wolfgang Pauly, der in den Kursen sowohl den biblischen als auch den dogmatischen Teil übernommen hat. Neben den Einleitungsfragen zum Alten Testament und Neuen Testament wurden u. a. christologische Themen stark akzentuiert. Nach der von Sokrates überlieferten Methode des Lehrens als einer Hebammenkunst bot Professor Pauly Hilfen an, nicht nur bei der Aneignung der Ergebnisse der Jesusforschung, sondern vor allem bei der Erarbeitung eines Jesusverständnisses, das für die Einzelne und den Einzelnen persönlich bedeutsam sein kann. Dies bringen die Äußerungen einiger Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer treffend zum Ausdruck: Die Fortbildung mit einer zwei- bis dreijährigen Kursdauer, einer Vielzahl ganztägiger und mehrtägiger Veranstaltungen und einer verbindlichen Abschlussprüfung auf pädagogischer wie religionswissenschaftlicher Basis ist schon eine Ansage. Sie kostet viel Zeit und Energie. Man fragt sich, ob man das bewältigen kann. Heute bin ich froh, dass ich mich dafür entschieden habe. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Kurs mir selbst und den anderen Mitqualifikanten so viel gibt. Wir sind zusammen mit unseren Dozenten eine super tolle Truppe. Es macht jedes Mal aufs Neue Spaß, zusammen zu sein, sich auszutauschen, in der Bibel auf Entdeckungsreise zu gehen, zu hinterfragen, zu diskutieren und zu feiern! 345

Herr Professor Pauly ist für uns nicht nur eine fachliche Kapazität, die mit ihrem immensen Wissen behutsam neue Horizonte eröffnet, sondern auch eine im Glauben wie menschlich überzeugende Persönlichkeit – ein herzlicher, offener Mensch, auf dessen Vorlesungen wir alle uns jedes Mal freuen. Er braucht all die technischen Errungenschaften nicht, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu erlangen. Er holt einfach sein Skript aus der Tasche, legt los und alle horchen gespannt zu. Sabine Thul Die Stunden der Vorträge von Professor Pauly vergingen wie im Fluge. Tiefgründig und anschaulich erweckte er Altes Testament und Neues Testament, Christologie und Kirchengeschichte zum Leben und legte damit ein nachhaltiges Fundament für angehende Religionslehrer. Frauke Liebschner Professor Pauly hat mir mit viel Humor das Thema „Bibel“ nähergebracht. Auch durch andere theologische Vorträge und Diskussionen hat er mir viel Mut gemacht. Ich denke gerne an die schöne Zeit im Kurs zurück. Almut Plapper Mir imponiert die Bescheidenheit, mit der Professor Pauly für mich Revolutionäres lehrt. Durch seine historisch-kritische Herangehensweise eröffnete er mir einen neuen Zugang zur Bibel und ihren Texten. Ulf Weber Auch wenn mein Missiokurs bereits elf Jahre zurückliegt, denke ich noch sehr gerne an Professor Paulys gleichermaßen informative wie verständliche Vorträge. An den gemeinsamen Austausch in der Gruppe, an die ganze Atmosphäre. Die Weiterbildungstage waren immer so etwas wie eine kleine Auszeit aus dem Schulalltag, weswegen ich es fast schade fand, als der Kurs abgeschlossen war. Er war mehr als nur eine schulische Weiterbildung, sondern – um einen aktuellen Begriff unseres Bistums aufzugreifen – ein „Segensort“. Achim Stein

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Lieber Herr Professor Pauly, Sie sind ein Mensch mit persönlicher Autorität, der durch fachliches Wissen, Leistung und Menschlichkeit überzeugt. Danke im Namen aller Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer!

Zur Autorin (geb. 1961) Studium der kath.Theologie und Biologie für das gymnasiale Lehramt, Referendariat, Unterrichtstätigkeit an einem Gymnasium, einer IGS und einer Fachschule für Sozialwesen, Leiterin der Abteilung Religionsunterricht im Bischöflichen Ordinariat Speyer.

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Wolfgang Urbany

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“1, so ein Zitat Martin Bubers aus seinem wahrscheinlich bekanntesten und wichtigsten philosophischen Werk Ich und Du. Es beinhaltet eine der Grundaussagen seiner dialogischen Philosophie: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.“2 So beschreibt Buber das Dasein der menschlichen Existenz und meint damit, dass wir erst am Gegenüber im wahren Dialog, dem Aufeinanderzugehen und dem gegenseitigen Akzeptieren zu unserem eigentlichen Ich werden. „Der Mensch wird am Du zum Ich.“3 Oder auch ausführlicher würde Wolfgang Pauly sagen: „Erst durch dieses ‚DU-Sagen‘ wird der Mensch zum Menschen, erst durch ‚Wesensbeziehungen‘ erlagt er seine ‚Wesensbestimmung‘. Nur so erreicht er das Ziel und den Sinn seines Lebens.“4 In der Auseinandersetzung mit Bubers dialogischer Philosophie wird ein Ansatz greifbar, welcher in seiner konsequenten Anwendung zu einer kritischen Haltung führt. Indem Wolfgang Pauly dem „DU-Sagen“ sowohl während seiner Lehrtätigkeit an der Universität als auch in der Zusammenarbeit und im Umgang mit Studierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einer ganz besonderen Weise nachkommt, demonstriert er, wie das von Buber ausformulierte dialogische Leben in der praktischen Umsetzung aussehen kann. Somit kommt er der ureigenen Herausforderung des universitären Bildungsanliegens entschlossen nach, dass Absolventinnen und Absolventen einer Universität diese als (selbst-kritische) Menschen mit „einer kritischen Haltung, die resistent macht gegen Ideologien und einfache Wahrheiten“5, verlassen sollen. 1 2 3 4 5

Buber, Martin: Ich und du. Heidelberg, 11., durchges. Aufl. 1983, S. 18. Ebd. Ebd., S. 37. Pauly, Wolfgang: Martin Buber. Berlin 2010, S. 52. Vgl. Marquard, Mathias: Menschenrechtsbildung an Universitäten: Vom wechselseitigen Mehrwert eines Konzepts. In: Bahr, Matthias/​Reichmann, Bettina/​Schowalter, Christine (Hg.): Menschenrechtsbildung. Handreichung für Schule und Unterricht. Ostfildern 2017, S. 71–82, S. 78. 348

Die Lehre: geprägt von Gegenseitigkeit Vor allem während seiner Vorlesungen an der Universität wird deutlich, wie sehr Wolfgang Pauly den dialogischen Ansatz Bubers verinnerlicht hat. Um es mit Bubers Worten zu sagen: Wolfgang Pauly „steht in der Sprache und redet aus ihr“6. In seinen Vorlesungen wird offenbar, wie sehr er ein Sprachwesen ist bzw. ihm Sprache wesentlich ist.7 Es ist nie nur ein ‚Reden über‘, sondern eben auch ein ‚Handeln nach‘ dem dialogischen Leitgedanken Bubers und es werden Fragen aufgeworfen, welche das Nachdenken über grundsätzliche Dinge des Lebens thematisieren: Warum mache ich das, was ich gerade mache, und sorge mich nicht um die wesentlichen Dinge? Prof. Dr. Pauly stellt jedoch nicht nur die Fragen, sondern stellt sich ihnen auch selbst. Mit seiner beharrlichen Ruhe regt er innerhalb seiner Lehrveranstaltungen an der Universität zur Entwicklung ganz neuer Wünsche und Erwartungen an. Mit seiner Haltung, als treibendem Element einem jedem Gegenüber mit aufrichtiger Wertschätzung zu begegnen, wagt er sich jeden Tag neu den Herausforderungen des Lehrens und Lernens zu stellen, und dies stets unter dem Leitmotiv: „Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsre Schüler bilden uns, unsre Werke bauen uns auf. […] Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.“8 Mit dem Mut, manifestierte Ansichten aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, sind seine Veranstaltungen, welche ich zu Beginn meines Studiums als Studierender des Faches Katholische Theologie besuchen durfte, wie bspw. zu den Grundbegriffen des christlichen Glaubens und zu Epochen der Glaubensund Kirchengeschichte bzgl. theologischer Neuansätze im 20. und 21. Jahrhundert, nicht nur fachlich auf einem beeindruckenden Niveau, sondern auch für aufmerksam Zuhörende und am Fach Interessierte auf seine eigene Weise unterhaltsam aufbereitet. Im Gegensatz zu den meisten anderen Vorlesungen, welche gegenwärtig an Universitäten stattfinden, sind diese wirkliche „Vorlesungen“. Ohne einen standardisiert scheinenden Foliensatz, welcher durchgeklickt und die darauf enthaltenen Stichpunkte oder Aufzählungen kurz besprochen werden, wird hier stets in freier und munterer Weise bspw. über die unterschiedlichen Ar6 7 8

Buber: Ich und du, S. 49. Vgl. Pauly: Martin Buber, S. 55. Buber: Ich und du, S. 23. 349

ten des Gebrauchs des Wortes „Glaube“ philosophiert oder die theologische Rede von Wundern, Schöpfung, Gnade oder den Begriffen Teufel und Dämonen im Alten und Neuen Testament diskutiert. Ebenfalls wird man als Studierende oder Studierender zu Beginn des Studiums mit den zentralen Elementen theologischer Ansätze von bspw. Pierre Teilhard de Chardin, Dietrich Bonhoeffer oder eben Martin Buber bekannt gemacht. Hier werden dann u. a. die auf den ersten Blick zwar simpel wirkenden, wie aber auch – im Zusammenhang gesehen – unfassbar tiefgründigen und bedeutungsschwangeren Worte Martin Bubers, die eingangs bereits zitiert wurden, verständlich und nachvollziehbar erläutert. Die beiden Grundworte Ich-Du und Ich-Es werden von Buber als die beiden Grundworte bezeichnet und „sind nicht monologisch gefasst, sondern immer als dialogische Wortbeziehungen“9 zu betrachten, welche dem Menschen qua seines Menschseins inhärent sind. Der Mensch steht somit immer in Beziehung zu einem Gegenüber – ob zu einem Du oder Es. Nicht nur prägt eine jede Begegnung mit einem Gegenüber einen selbst, also die zahllosen Kontakte mit Menschen und Dingen uns und unseren Charakter, sondern der Mensch gelangt nach Buber nur durch solche zu seiner eigenen Wirklichkeit. Da diese Begegnungen jedoch nicht eindeutig, sondern „dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung“10 mehrdeutig und kontingent sind, ist die Haltung eines jeden Menschen entscheidend, jedoch immer abhängig von unserem Gegenüber.11 Das Zwiefältige meint hier sowohl die Grundunterscheidung in Ich-Du-Beziehungen und Ich-Es-Beziehungen als auch die daraus resultierenden unterschiedlichen Haltungen.12 Da der Mensch ein Sprachwesen ist, formuliert er mittels dieser Grundworte Erfahrungen und Beziehungen aus. Nach Buber stiftet der Mensch eben diese selbst und „die Welt als Summe aller Dinge und Geschehnisse ist somit abhängig von der Haltung, die der Mensch ihr gegenüber einnimmt.“13

9 10 11 12 13

Pauly: Martin Buber, S. 55. Buber: Ich und du, S. 9. Vgl. Pauly: Martin Buber, S. 53f. Vgl. Buber: Ich und du, S. 9f. Pauly: Martin Buber, S. 55. 350

„Somit ist selbst das Ich des Menschen, seine Personalität, keine monolithische Vorgegebenheit, sondern ein Phänomen, das sich erst in seiner Beziehung zu einem Du oder Es konstituiert.“14 Ebenfalls wird sich eine „Person […] ihrer selbst als eines am Sein Teilnehmenden, als eines Mitseienden, und so als eines Seienden bewußt [sic]“15, wenn er oder sie sich seines So-und-nicht-anders-Seins gewahr wird. „‚Erkenne dich selbst‘ bedeutet der Person: erkenne dich als Sein, dem Eigenwesen: erkenne dein Sosein.“16 Wolfgang Pauly ist mir als Studierendem so begegnet, als wäre er sich seines Soseins bewusst. An dieser Stelle soll kurz auf die Verdeutschung der Schrift eingegangen werden, um beispielhaft aufzuzeigen, wie auch hier das dialogische Verständnis nach Buber Anwendung findet. Auf der Grundlage der These, dass „alles in der Schrift […] echte Gesprochenheit“17 ist, wollte Buber zusammen mit Franz Rosenzweig die Bibel aus dem Hebräischen direkt ins Deutsche übersetzen. Als oberstes Ziel galt, so viele Werte wie möglich aus der Ausgangssprache zu erhalten und zu übernehmen, und nicht von der Zielsprache aus zu denken.18 Hervorgehoben werden kann bspw. „die Buber-Rosenzweig-Übersetzung von hebräisch kadosch – nicht als heilig sondern als heiligen.“19 Mit dieser Übersetzungsart verändert sich „mit einem Schlag die ganze Bedeutung der Beziehung zwischen Gott und der Welt und zwischen dem Geheiligten und dem Weltlichen“20. So steht Mose bei Buber auf dem Boden der „Heiligung“ statt „auf heiligem Boden“, wie es in der Einheitsübersetzung heißt (vgl. Ex 3,5). Somit bedeutet „Kadosch […] keinen Zustand des Seins, sondern einen Prozeß [sic]: den des Heiligens und Geheiltwerdens“21.

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19

20 21

Ebd. Buber: Ich und du, S. 77. Ebd. Buber, Martin: Die Schrift und ihre Verdeutschung, in: Ders.: Werke. Bd. II, die Sprache der Botschaft. München 1964, S. 1093–1186, S. 1096. Vgl. Müller, Augustin Rudolf: Martin Bubers Verdeutschung der Schrift (Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament, Bd. 14). St. Ottilien 1982, S. 3. Friedman, Maurice: Begegnung auf dem schmalen Grat: Martin Buber – ein Leben. Münster 1999, S. 215. Ebd. Ebd. 351

Die gesamte „Übersetzung will ein sprachliches Kunstwerk sein“22 und es soll insgesamt „nur um einen Versuch gehen, durch Analogie der Wortbildungen, des Satzbaus, des Rhythmus und Tonfalls, durch Lautklang und Melodie einen neuen Raum für Begegnung und Ansprache zu schaffen“23. Im Vergleich zu anderen Auslegungen der Heiligen Schrift erfährt diese jedoch gerade deswegen weniger Beachtung, weil Verfremdung und Unverständlichkeit als Argumente angeführt werden.24 Da aber teilweise bewusste Entfremdungen gewohnter Sprachbilder gewählt wurden, um dem verbalen Charakter des Originals gerecht zu werden, kann oder sogar soll während der Erschließung biblischer Begegnungsgeschichten Irritation entstehen und zum Nachdenken angeregt werden. Buber geht es somit nicht um philologische Kleinigkeiten, sondern darum, ob diese Botschaft auch heute noch Menschen als lebendiges Wort ansprechen und bewegen kann. Insofern ist es letztlich die Aufgabe jedes Rezipienten und Hörers zu beurteilen, ob das Werk Bubers gerade in seinen Entfremdungen und Wort-Neuschöpfungen ein Staunen und Innehalten bewirkt und so eine neue Ansprache ermöglicht oder auch nicht. Gerade der Vergleich sehr unterschiedlicher Übersetzungen kann mit zu diesem je eigenen Urteil beitragen.25

Begegnung auf Augenhöhe Mit solchen in den Veranstaltungen Wolfgang Paulys vermittelten Perspektiven änderten sich auch meinerseits die Wahrnehmung und der Blick auf das eigene Tun, da das bewusstere Wahrnehmen von Begegnungen ein Begreifen auslösen kann, worum es wirklich im Leben geht, welchen eigentlichen Herausforderungen und Fragen sich der Mensch stellen muss. Nach Buber sind „die erlebten Be-

22 23 24 25

Müller: Martin Bubers Verdeutschung der Schrift, S. 2. Pauly: Martin Buber, S. 43. Vgl. Müller: Martin Bubers Verdeutschung der Schrift, S. 3. Pauly: Martin Buber, S. 50. 352

ziehungen […] Realisierungen des eingeborenen Du am begegnenden“26. Diesen Prozess der Reflexion und Realisierung befeuert nichts so sehr wie verdichtete Beziehungsereignisse am Gegenüber, um mit jedem seinem eigentlichen Ichbewusstsein näherzukommen.27 Zwar immer noch erscheint es nur im Gewebe der Beziehung, in der Relation zum Du, als Erkennbarwerden dessen, das nach dem Du langt und es nicht ist, aber immer kräftiger hervorbrechend, bis einmal die Bindung gesprengt ist und das Ich sich selbst, dem abgelösten, einen Augenblick lang wie einem Du gegenübersteht, um alsbald von sich Besitz zu ergreifen und fortan in seiner Bewußtheit [sic] in die Beziehung zu treten.28

Wenn sich Studierende während ihres Studiums bereits mit Fragestellungen auseinandersetzen mussten, zu denen es keine einfachen, offensichtlichen oder trivialen Antworten gibt, „geben [diese] Sachverhalte nicht nur wieder, pauschalisieren oder moralisieren, sondern verlangen sich und ihrem jeweiligen Wirkungskreis ab, zu differenzieren, einen Standpunkt zu beziehen und dabei die Leitkategorie der Menschenwürde nicht aufzugeben“29. Mit einer dialogischen Haltung nach Buber kann prozesshaft initiiert werden, dass Studierende in all ihren Begegnungen eine Einstellung und Haltung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aller übertragen, bei der sich alle Beteiligten auf Augenhöhe begegnen, akzeptieren und respektieren. Eine Sensibilisierung, kritische Reflexion und Urteilsfähigkeit tragen im Bezug auf die Begegnung mit einem Gegenüber dazu bei, Werte und Einstellungen zu reflektieren und entsprechend Partizipation und Handlungskompetenzen zu entwickeln. Somit ist eine, von der „dem Menschen kraft Menschsein […] zu eigen“ seiende „Würde des Menschen, […] das höchste Prinzip menschlichen (Zusammen-)Lebens.“30

26 27 28 29 30

Buber: Ich und du, S. 36. Vgl. ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 80. Reichmann, Bettina: (Religions-)Didaktische Perspektiven der Menschenrechtsbildung. In: Katechetische Blätter 2 (2018), S. 18–21, S. 19. 353

Hervorzuheben ist an dieser Stelle nochmals die zentrale Bedeutung des dialogischen Verständnisses von Ich-Du-Beziehungen und die Einbettung einzelner Personen in den gesellschaftlichen Zusammenhang. Mit dem prozesshaften, individuellen und reflektierenden Realisieren des „eingeborenen Du“ als Apriori einer jeden Beziehung an einem Gegenüber erkennen wir unser eigenes Sosein. „Subjektivität und Personalität sind somit Ergebnisse eines beziehungsreichen Lebens“31 und konstruieren sich aus der Summe von Begegnungen. Aus der oben ausführlicher beschriebenen Haltung und dem Wissen um die „These, dass Sprache immer zugleich auch Handlung ist“32, resultieren interessante Herausforderungen für den Arbeitsalltag einer dozierenden Person an einer Universität. Diese hat Prof. Dr. Wolfgang Pauly, so wie ich ihm begegne, täglich mit hoher Authentizität vorgelebt. Gegenwärtig wird auch mir zuteil, Studierende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Universität in ihrem jeweiligen So-und-nicht-anders-Sein anzunehmen und ihnen im Sinne der dialogischen Philosophie zu begegnen. Sowohl innerhalb meiner Lehrveranstaltungen als auch im alltäglichen Arbeitsrhythmus versuche ich, meinen Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, die oben beschriebene Haltung umzusetzen, denn das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werde sprechend ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.33

Zum Autor (geb. 1988) Lehramtsbezogenes Studium der Fächer Katholische Theologie, Sportwissenschaft und Bildungswissenschaft für das gymnasiale Lehramt mit dem Abschluss Master of Education. Seit 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Religionspädagogik an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, am Institut für katholische Theologie. Mitglied der Pro31 32 33

Pauly: Martin Buber, S. 61. Ebd., S. 64. Buber: Ich und du, S. 18. 354

jektgruppe Menschenrechtsbildung an der Universität Koblenz-Landau, Fachbereich 06, und der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Religionspädagog*innen und Katechetikdo-

zent*innen (AKRK).

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Bettina Reichmann/​Stefan Schwarzmüller

Zwischen Ursprung und Heimatlosigkeit – Gedanken zur Kunst von Madeleine Dietz* Madeleine Dietz gehört zu den renommiertesten Bildhauerinnen Deutschlands. Ausstellungen in Deutschland und in den USA sind nur ein kleiner Beleg dieser Bedeutung. 1953 in Mannheim geboren, begleitet sie die Kunst bereits seit Kindheitstagen: Da war mein Vater. Er war auch schon Künstler. Am Nationaltheater in Mannheim. Dort hat er zum Beispiel Kulissen für die Vorstellungen gemalt. Mein Vater hat mich schon früh gefördert. Er hat mir Stifte gekauft, mir gezeigt, worauf es ankommt. Er hat mich Sehen gelernt. Also: Worauf muss man achten, wie geht man aufmerksam durch die Welt?1

Früh findet sie nach einem Studium der Buchgraphik und Buchillustration an der Werkschule in Mannheim ihr künstlerisches Lebensthema: „Werden und Vergehen. Alles auf der Welt entsteht und irgendwann vergeht es wieder: Geburt und Tod.“2 Schon als junge Frau wird sie mit dem Tod ihr nahestehender Menschen konfrontiert. Die Dialektik zwischen Geborenwerden und Sterbenmüssen wird zu ihrem Lebensthema, das sich in ihrer Kunst widerspiegelt. Zunächst zeichnet und malt sie mit Pinsel auf Leinwand, ist damit aber nicht wirklich zufrieden. Sie findet nicht den passenden Zugang zu ihrem Thema: „Alles, was ich malte, passte nicht“3. Inzwischen hat sie ihr Material gefunden. Sie arbeitet mit Erde,

* Für Wolfgang Pauly, den wir als Kollegen und Freund sehr schätzen und als jemanden erleben, der für seine Antworten auf die heutigen Herausforderungen bis zum Ursprung gräbt. 1 Madeleine Dietz in einem Gespräch mit der Autorin und dem Autor im Jahr 2018. 2 Ebd. 3 Ebd. 356

getrockneter, gerissener Erde. Diese wird mit Stahl ergänzt und so entstehen ihre typischen Skulpturen. Der Zusammenhang von Leben und Tod ist bei Dietz ein religiöser. Der Mensch kommt von Gott und er geht dorthin zurück – ohne gefragt zu werden, wann, wie und warum. Religion ist also eine Grunddimension ihres Werkes. Es verwundert deshalb kaum, dass sie mit diesem Lebensthema auch Kirchen, Abschiedsräume in Krankenhäusern und Hospizen und nicht zuletzt auch Kolumbarien gestaltet hat.4 Sie tut das mit einer großen Pietät und Verantwortung: Wenn ich in Kirchen arbeite, da kann ich ja nicht irgendwas reinstellen. Da habe ich Verantwortung gegenüber dem Kirchenraum, gegenüber der Gemeinde. Da muss die Sinnfrage gestellt werden. Gefragt werden: was trägt dich in deinem Leben? Wenn nicht in einer Kirche, wo soll man diese Frage denn sonst stellen?5

Anhand von drei Kunstwerken haben wir uns Gedanken zur Kunst von Madeleine Dietz gemacht: Zuerst soll die Installation Nun baut mein Haus betrachtet werden, die im Lutherjahr 2017 in der Stiftskirche in Landau zu sehen war, bevor wir ein Gemälde mit dem Titel Tudmur aus dem gleichen Jahr sowie eine Skulptur, einen der sogenannten Tresoren, die Madeleine Dietz gestaltet hat, in den Blick nehmen.

4

5

Vgl. dazu Homepage von Madeleine Dietz, Sakrale Räume: [http://​www.madeleinedietz.de/​sakrale-raeume/​] (Zugriff: 7. März 2020). Madeleine Dietz im Gespräch. 357

1. „Nun baut mein Haus“

Madeleine Dietz, „Nun baut mein Haus“. Installation Landau Stiftskirche. 2017. 600x700 (Foto: Dietz privat) Man sieht Verwüstung, Mauerreste, Steine – große, kleine, behauene Blöcke, Geröll. Dazwischen Erdklumpen und Staub. Hier ist ein Ort des Schutzes und der Zuflucht vernichtet worden. Da ist kein Zuhause mehr, die Heimat verloren, der Besitz zerstört. Was ist hier wohl geschehen? Witterung? Ein Erdbeben? Krieg? Gerade weil die Ursache unbekannt ist, wird deutlich, wie brüchig unsere Existenz ist, wie unzuverlässig unsere Sicherheiten sind und alles Verlässliche ganz plötzlich instabil werden kann. Schnell wird man heimatlos. Als Betrachter dieser Installation fühle ich mich klein und schwach ob der Zerstörung. Ich bin unfähig, hier etwas wegzuräumen oder gar diese Ruine wiederaufzubauen. Es hat keinen Zweck. Hier 358

scheint kein Leben mehr möglich zu sein, man wird gezwungen, diesen Ort zu verlassen. Existenzende. Es bleibt nur Weggehen, Flucht. Aber da ist noch mehr zu sehen: am Geröll lehnt Stahl. Stahlkuben, Stahlplatten, Gitterelemente. Soll hier etwas ‚neu‘ konstruiert, etwas stabilisiert werden? Gibt es doch Hoffnung? Kann aus der Zerstörung Neues entstehen? Nicht Existenzende, sondern Existenzgründung? Ist ein Bleiben doch möglich? Alles ist aber nur angelehnt, wie zufällig, ohne Struktur. Was Stabilität verspricht, ist lediglich Schein. Sogar das scheinbar Stabilste ist hier brüchig. Diese Stahlelemente stehen im Weg. Das ist alles andere als sicher. Also doch – weg hier! Existenzsuche. Bleiben oder gehen? Das zerstörte Gebäude ist auf einer Fotoleinwand abgebildet. Sie ist sieben Meter lang und sechs Meter hoch und Teil einer Installation. Die Stahlelemente gehören ebenfalls zur Installation „Nun baut mein Haus“ von Madeleine Dietz. Auf der Abbildung sieht man auch den Ort, an dem diese Installation arrangiert wurde. Man sieht eine Säule mit Kapitellchen. Im Hintergrund, hinter der Fotowand, Kirchenfenster und Mauern. Hereinströmendes Licht. Die Künstlerin versetzt den Betrachter/​die Betrachterin mit all seinen/​ihren Gedanken zur Existenz in den Raum einer Kirche. Wird hier die Unsicherheit der Existenz in die Geborgenheit einer Kirche versetzt? Oder ist nicht auch die Sicherheit von Kirchengebäuden nur Schein und begrenzt? Oder soll die Unsicherheit der Existenz gar in der Geborgenheit Gottes aufgehoben werden, wofür Kirchenräume, seit es Kirchen gibt, stehen? Aber kann man sich heute noch – oder konnte man es je – darauf verlassen? Macht die Suche nach einer Sicherheit in Gott in unserer ent-grenzten Zeit überhaupt noch Sinn? Sind Grenzen aber derart fragil, ist es dann nicht sowieso angesagt, aufzubrechen? Gott an anderen Stellen zu suchen? Weniger religiös gesagt: Wo findet man heute Antworten auf die brennenden Fragen der Existenz? Was heißt heute ‚zu Hause sein‘? Wo findet der Mensch Heimat? Kann ihm Gott Heimat sein? Den Werkkomplex, zu dem die Installation Nun baut mein Haus gehört, hat Madeleine Dietz Entfestung genannt. „Entfestung“ ist ein Kunstwort, das aus zwei Antipoden besteht: Das Wort ‚Festung‘ ist konnotiert mit Sicherheit, Geborgenheit und Schutz oder negativ mit Abwehr oder Verteidigung. Der Wortsinn des Präfixes „ent-“ dagegen ist, dass etwas wieder in den Ausgangszustand zurückgeführt wird. Das beinhaltet ein Paradox, einerseits fallen die Grenzen und Menschen gehen auf einander zu – freundschaftlich. Andererseits werden 359

Heimaten zerstört und Menschen verlieren ihre Rückzugsorte und werden ausgesetzt – allem, was über sie hereinbricht. Madeleine Dietz will mit ihrer Installation in Landau sagen, dass Grenzen durchlässiger werden. „Wir können zwar weiterhin verbal Festungen errichten, aber wir kommen nicht umhin, weltweit unsere instabiler werdende Existenz neu zu reflektieren“6. Diese Deutung wird bei der Installation in Landau dadurch unterstützt, dass sie eine Fotografie aus Israel – den Trümmerhaufen – mit einem historischen Raum hier in Deutschland kombiniert. Heimatverlust als Entfestung? Erzwungene Existenznot als Aufruf zu entgrenztem Denken und Tun? Aus den Trümmern Neues entstehen lassen? Der Titel der Installation Nun baut mein Haus weist eindeutig in diese Richtung. Wie kann man nach Heimatverlust ein Haus bauen? Wie bleibt der Ursprung im neuen Haus erhalten? Wie kann überhaupt in der Unsicherheit jeder Existenz eine Heimat entstehen? All diese Fragen der Existenz, den Fragen nach Leben und Sterben, nach dem Woher und Wohin, nach Stabilität und Fragilität des Lebens, nach Schein und Wahrheit ist ihre Kunst zugewandt. Eng verbunden ist ihre Suche nach der Antwort mit ihrem Glauben an Gott. Aber er ist nicht einfach die Antwort. Nein, so einfach macht sie es sich – und uns – nicht. Also: Wo finden wir Halt? Nun baut mein Haus erinnert an den Auftrag, den Franz von Assisi im 13. Jahrhundert in der verfallenen Kirche San Damiano erhielt: Baue meine Kirche wieder auf. Madeleine Dietz war Schülerin in einer von Franziskanerinnen geführten Schule und ist nach eigenen Aussagen stark von franziskanischem Gedankengut geprägt. In ihrer Installation und in ihrer Kunst aber weitet sich der franziskanische Blick. Es geht eben nicht nur um die Kirche, die aufgebaut werden soll. Es geht um Heimat für Menschen, die ihre Heimat verloren haben. Es geht um alle Menschen, die auf dieser Erde eine Heimat haben sollen. Diese Heimat wird es aber nur geben, wenn wir Menschen auf den Boden schauen. Denn dort, in der Erde, liegt unser Ursprung.

6

Zahner, Walter: Konstruktion – Rekonstruktion. Madeleine Dietz im Landesmuseum in Mainz. In: Ders. (Hg.): Madeleine Dietz. Korrespondenzen. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Landesmuseum in Mainz (2. November 2018 bis 28. April 2029). Regensburg 2018, S. 8–14, S. 10. 360

2. „Tudmur“

Madeleine Dietz, Tudmur. Erde und Pigment auf Leinwand. 2017. 100x160 (Foto: Dietz privat) Die Farben Schwarz und Braun, ein helles Braun, sind zu sehen. Die fünf braunen Flächen sind eckig und über das ganze Bild verteilt. Sie sind zudem von unterschiedlicher Größe. Eigentlich ist Madeleine Dietz als Bildhauerin bekannt, die mit Erde und Stahl arbeitet. Jetzt aber wieder Leinwand und Pinsel. Doch sieht man die Kontinuität. Schwarz wie der Stahl, wenn auch nicht so glänzend. Dazu braun wie die Erde. Nein, nicht wie die Erde, es ist Erde, die Madeleine Dietz zum Malen benutzt. Sie malt mit Erde auf die Leinwand. Man kann es den Bildern noch ansehen. Klumpig ist das an manchen Stellen, Erdkrumen sind zu entdecken. Und über die Erde wird schwarz gemalt. Auch hier nicht nur Farbe, sondern Farbe gemischt mit Asche, vornehmlich von Weinstöcken. Damit bleibt sich Madeleine treu. Erde als Grundelement und Feuer. Wie der Stahl vom Feuer gehärtet wird, um die Erde zu rahmen, so sind es hier die verbrannten Weinstöcke, die im Schwarz die Erde zum Leuchten bringen. Die Leinwand wird von Madeleine Dietz zuerst mit der Erde bemalt. In die Erde ritzt sie dann Grundrisse ein. Grundrisse von Häusern, Tempeln und all 361

den Gebäuden, die es in Städten gibt. Dann wird alles übermalt. Besser gesagt: Fast alles. Ausgelassen unter der schwarzen Farbe werden genau die Teile der Erdschicht, die jetzt im Bild noch zu sehen sind. Es ist eine Art künstlerischer Archäologie, die hier passiert. In diese Richtung weisen auch die Bildtitel dieser Serie: Tudmur, Meggido oder Tamra. Das sind Namen alter untergegangener Städte aus dem Nahen Osten, aus Syrien, Israel, Irak, Jordanien. Diese Städte, in denen vor Jahrtausenden das Leben blühte, sind untergegangen. Nicht wenige davon niedergebrannt. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Erde darüber geschichtet, so dass sie nicht mehr zu sehen waren. Erst die Archäologie hat sie wieder zum Vorschein gebracht, besser gesagt das, was von ihnen übrigblieb. Madeleine Dietz gestaltet diesen Prozess nach. In die Erde werden die Städte gemalt, im Schwarz gleichsam niedergebrannt, in den ausgelassenen Stellen werden die Ruinen wiederentdeckt, freigelegt. Es ist nicht das Ganze eines Hauses oder eines Tempels. Mauerreste bleiben. Mauern, aus Erde hergestellt. Hier wird zweierlei deutlich. Da wird zum einen der Stellenwert der Erinnerung sichtbar. Archäologie ist ja kein Selbstzweck. Sie stellt vielmehr die Frage, wie Menschen früher gelebt haben. Wie sie früher ihre Heimat gestaltet haben. Vor allem auch die Frage, warum und wie diese Städte zerstört wurden. Der Vergleich mit heutigen Verhältnissen drängt sich dann auf. Wo leben wir in Kontinuität, wo machen wir vergleichbare Erfahrungen? Wo sehen wir Unterschiede? So wird die Vergangenheit zum Lern- und Reflexionsfeld der Gegenwart. Zum zweiten aber stellt Madeleine Dietz hier nochmals die Bedeutung der Erde als Grundelement ihrer Kunst heraus. Auch hier nicht als Selbstzweck, sondern als Hinweis, dass es Erde ist, die uns trägt. Erde wird deutlich als Grundlage des Lebens herausgestellt.

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3. „Tresor“

Madeleine Dietz, Wandtresor. Stahl und Erde. 2012. 68x60x10 (Foto: Dietz privat) Mit der Reihe Tresore gelangen wir an den Ursprung der künstlerischen Entwicklung von Madeleine Dietz. Erdbrocken sind von einem Behältnis aus Stahl eingerahmt. Der massive Korpus aus schwarzem, glänzendem Stahl ist an einer Stelle unterbrochen. In diesen Ausschnitt sind die Erdbrocken eingelegt. Es ist ein starker Kontrast zwischen den anfälligen, ja hinfälligen Erdbrocken und dem edlen rostfreien Stahl. Würde man dieses Werk hochheben, könnte man den Gegensatz auch körperlich erleben. Die Erdbrocken sind leicht, dafür hochempfindlich. Der Stahl dagegen schwer und unempfindlich. Madeleine Dietz nennt diese Reihe von Skulpturen Tresore. Normalerweise befinden sich Gold oder Geld, Aktien oder millionenschwere Kunstwerke in einem Tresor. Hier aber ist es Erde. Ausgetrocknete, rissige Erde. Erde, die zum Grundelement der Kunst von Madeleine Dietz gehört.

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Madeleine Dietz war in jungen Jahren mit ihrem Mann auf Urlaubsreise in Südafrika. Sie hatten sich aufgemacht, um Abstand zu gewinnen von der Erfahrung des Todes geliebter Menschen. Da standen sie eines Tages vor einem Flussbett: ausgetrocknet, rissig, alles darum herum braun, verwelkt, leblos. Das Bedrückende dabei war nicht so sehr die Landschaft, sondern die Erkenntnis, dass diese Landschaft ein Spiegelbild der eigenen Gefühlswelt war. Die Reise ging weiter und führte sie drei Wochen später wieder an diesen Fluss. Aber alles war anders. Das Flussbett mit Wasser gefüllt, das zuvor ausgetrocknete Ufer blühte. Keine rissige Erde mehr, sondern mit Wasser getränkte, schlammige Erde. Welch ein Bild. Zum Aufatmen. Nicht nur für Naturliebhaber, sondern auch für Menschen, die sich selbst wie ausgetrocknet fühlen. Ein Bild der Hoffnung. Es braucht nicht viel und ich kann wieder aufblühen. Es braucht nicht viel und das, was in mir ausgetrocknet war, wird lebendig. Natürlich kommt das vom Wasser, vom Regen. Aber selbst der Regen kann nichts hervorbringen, wo nichts ist. Und in der Erde, selbst in der rissigen, ausgetrockneten Erde, ist das Leben. So hat Madeleine Dietz den Pinsel und die Leinwand zur Seite gelegt. Inzwischen war sie mit ihrem Mann Wolfgang7 in das südpfälzische Godramstein gezogen. In ein Anwesen mit einem großen Grundstück. Hier gräbt sie auch heute noch Erde aus, breitet sie aus, wässert sie und lässt sie in der Sonne trocknen. Danach wird die Erde in Stücke gebrochen und zum tragenden Element ihrer Kunst. Die rissige, ausgetrocknete Erde im Stahlschrank: Sie erinnert an den Schutz, den die Erde braucht. Sie erinnert an den Ursprung des Menschen, wie er in der Bibel bezeugt wird: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ (1.  Mose 3,19).8 Natürlich erinnert sie an Heimaterde. 7

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Als Ingenieur war sein Gehalt in langen Jahren die Basis des Familieneinkommens. Von der Kunst leben, das kommt für Künstler und Künstlerinnen – wenn überhaupt – meistens erst in späteren Jahren, so Madeleine Dietz im Gespräch mit ihr im Frühjahr 2018. Inzwischen könnte Dietz die großen schweren Skulpturen ohne die Hilfe ihres Mannes gar nicht gestalten und transportieren. Sein Einsatz für die Kunst seiner Frau ist ungebrochen. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel, revidiert 2017. Mit Apokryphen. Hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland 2017. 364

Und nicht zuletzt erinnert sie an den biblischen Auftrag, den Gott den Menschen aufträgt: Behütet und bebaut die Erde. Der Appell, der in diesem Tresor steckt, ist in der ästhetischen Erfahrung verborgen. Man kann ihn einfach schön finden in seiner Gegensätzlichkeit, in seiner Gestaltung. Unser Ausgangsbild dagegen – jenes „Nun baut mein Haus“ – trägt schon im Titel den Appell an den Betrachter. Heimat errichten aus dem Hoffnungselement der Welt, der Erde. Der Ursprung des Lebens wird zur Heimat.

Weiterführende Literatur Homepage der Künstlerin: [http://​www.madeleinedietz.de/​] (Zugriff: 7. März 2020). Zahner, Walter (Hg.): Madeleine Dietz. Korrespondenzen. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Landesmuseum in Mainz (2. November 2018 bis 28. April 2019). Regensburg 2018. DG, Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst: Der letzte Garten – Bauwerke des Abschieds. Dietz, Madeleine. München 2015. Strimmer, Ute: Madeleine Dietz. In: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 103. Heft 14/​3. Quartal (2013). Benn, Martin: Dein Plan für das Paradies: Madeleine Dietz – Sakrale Räume. Regensburg 2013. Kunstverein Buchholz/​Nordheide (Hg.): Madeleine Dietz. verbergen und entbergen 2004– 2009. Buchholz 2009. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal Kassel: Madeleine Dietz: Side by side. Kassel 2007. Galerie der DG Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst (Hg.): Stück für Stück. Künstlergespräch zwischen Friedhelm Mennekes und Madeleine Dietz. München 2004. Dietz, Madeleine: Schichten in der Zeit. Annweiler 1999.

Zur Autorin (geb. 1978 in Rottweil) Studium der katholischen Theologie und Judaistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Boston University (USA). Promotion über Bischof Ottokár Prohászka (Ungarn) und den Zusammenhang von Kriegserfahrung, Nationalismus und Antisemitismus; Habilitationsprojekt zum Thema Menschenrechtsbildung im Kontext religiösen Lernens. Pastoralpraktische Ausbildung im Bistum Speyer 2010–2013. Seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Religionspädagogik an der Universi365

tät Koblenz-Landau, Campus Landau am Institut für katholische Theologie. Mitglied im Arbeitskreis Judentum-Christentum des Bistums Speyer.

Zum Autor (geb. 1963 in Edesheim/​Pfalz) Studium der katholischen Theologie in Frankfurt/​St. Georgen und Tübingen. Seit 1992 Fortbildungsleiter für Religionslehrer*innen in der Diözese Speyer, Schwerpunkt Primarstufe. Gestaltpädagoge und Bibelerzähler. Lehrauftrag an der Universität Koblenz-Landau, Standort Landau. Lebt in Pirmasens.

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Elżbieta Adamiak

„Der liebevolle Erzähler“1. Ein Traum von Olga Tokarczuk I. „Wer ist es, [das] weiß, was Gott dachte?“2 Eine klassische theologische Frage. Eine Frage von Olga Tokarczuk. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an sie hat wieder eine rege Diskussion um ihr Werk und noch mehr um ihre Ansichten mit sich gebracht. Magdalena Środa, eine polnische Philosophin, hat Tokarczuk ironischerweise als „die Personalisierung von allem Bösen“3 beschrieben. Denn Tokarczuk bezieht neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit klar Stellung zu Fragen, die in der polarisierten polnischen Gesellschaft aktuell scharf diskutiert werden. Die Liste der kritischen Kommentare von Tokarczuks Positionen reicht vom Vorwurf der LGBT-Ideologie über Feminismus, Atheismus, Heidentum, Ökologismus, Kosmopolitismus, Genderismus bis zum Pazifismus. Was von Środa, einer Tokarczuk, Olga: Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Zürich 2020, S. 31f. In der Übersetzung von Palmes wird diese Frage folgendermaßen übersetzt: „Wer ist es, der weiß, was Gott dachte?“ Die Formulierung von Tokarczuk (im Original: „Kim jest to, które wie, co sądził Bóg?“) verändert die gängige grammatikalische Form der 3. Person Singular Maskulinum in das ungewohnte Neutrum. Damit kann und will Tokarczuk sprachlich zum Ausdruck bringen, dass diese Frage inklusiv gemeint ist, sie lässt damit auch Antworten jenseits einer Geschlechtszuschreibung zu. Darum zitiere ich hier und in der Folge Tokarczuks Frage so, dass sie dem polnischen Original entspricht. Diese Vorlesung wurde von Olga Tokarczuk am 7. Dezember 2019 gehalten, den Nobelpreis hat sie rückwirkend für das Jahr 2018 erhalten. Das polnische Original: Czuły narrator, (2019) [https://​www.nobelprize.org/​uploads/​2019/​12/​tokarczuk-lecture-polish.pdf] (Zugriff: 25. März 2020). 2 Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler, S. 52f. 3 Środa, Magdalena: Te niedobre Noble! (2019) [https://​wyborcza.pl/​7,75968,25307856, te-niedobre-noble.html] (Zugriff: 25. März 2020). Falls nicht anders angemerkt, wurden die Texte aus dem Polnischen von mir übersetzt. 1

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Verbündeten Tokarczuks als ironischer Humor gedacht war, verstehen andere ernsthaft als gegebene Tatsache. Dies betrifft auch die religiöse, spirituelle und theologische Dimension des Werkes von Tokarczuk. Jerzy Szymik, ein Theologe, der seit mehreren Jahren zur Schnittstelle zwischen Literatur und Theologie forscht, würdigt die Schriften von Tokarczuk mit dem Vergleich zu „eine[m] großartige[n] Seismograph[en], der die geistigen ‚tektonischen Bewegungen‘ unserer Zeit registriert […]. Wenn wir unsere Zeit verstehen wollen, geht das nicht ohne solche Instrumente, die so empfindsam auf die Schwingungen sind“.4 Die Literatur Tokarczuks sieht er als eine Hilfe an, zu verstehen, was sich „in den Köpfen und Herzen“ von Menschen ereignet.5 Gleichzeitig führt Szymik aus, dass er, um Antworten auf diese Fragen zu finden, das Evangelium und nicht ihre Werke liest. Er schätzt und lobt Tokarczuks literarisches Werk und erklärt es im gleichen Atemzug als untauglich, weil es atheistisch und neuheidnisch sei. Seine Vorwürfe beziehen sich zuerst auf die religionskritische Position von Tokarczuk und ihre persönliche, nichtreligiöse Lebensweise, die auch öffentlich bekannt ist.6 Des Weiteren beziehen sie sich auf die Vorliebe der Schriftstellerin, in ihrer Literatur an sehr unterschiedliche religiöse Traditionen anzuknüpfen. Doch Szymik verwechselt die Weltanschauung der Autorin mit derjenigen der in ihren Werken auftretenden Gestalten. Eine entgegengesetzte Meinung bringt Jerzy Sosnowski, ein Schriftsteller und Publizist, zum Ausdruck. Er hält die Schriften von Tokarczuk für „ein Phänomen von unschätzbarem Wert aus der Perspektive des religiösen Menschen“7.

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Szymik, Jerzy: Czytajcie Tokarczuk, (2019) [https://​teologiapolityczna.pl/​ks-jerzy-szymik-czytajcie-tokarczuk] (Zugriff: 25. März 2020). Ebd. „Man könnte fragen, was überhaupt die irdischen Institutionen, ikonographische Traditionen, Dogmen und Katechismen mit dem Mysterium Gottes zu tun haben. Meiner Meinung nach – wenig. Sie sind aber diejenigen, die die Religion als eine bestimmte Form der menschlichen Spiritualität prägen. Sie ordnen sich das menschliche religiöse Empfinden unter und üben Macht über sie aus.“ (Olga Tokarczuk im Gespräch: Bogini czy Matka Boga. Z Elżbietą Adamiak i Olgą Tokarczuk rozmawia Katarzyna Jabłońska. In: Więź 1[2013], S. 115–128, S. 127. Auch unter [http://​wiez.com.pl/​2019/​ 10/​10/​tokarczuk-nie-opuszcza-mnie-poczucie-ze-bogini-wraca/​] [Zugriff: 25.  März 2020].) Sosnowski, Jerzy: I wtedy będziemy wiedzieli. In: Więź 1 (2020), S. 161–179, S. 178. 368

Eine begabte Schriftstellerin, eine Erzählerin von spannenden Geschichten, scheint mir eine wertvolle Zeugin dessen zu sein, dass metaphysisch-religiöse Fragen lebendig sind. Sie ist dabei erwünschte Reisebegleiterin, die mit ihren Kommentaren geistige Landschaften belebt, an die wir uns gewöhnt haben oder die wir (ganz im Gegenteil) nicht kennen.8

Auf eine solche Reise begibt sich Tokarczuk in ihrem Roman Taghaus, Nachthaus9, um welchen es später noch ausführlicher gehen soll. Der Aufbau des Romans besteht darin, dass zwei Menschen in ein neues Haus in einem Dorf in der Nähe von Nowa Ruda (Neurode) einziehen. Leserinnen und Leser können sich mit den Personen identifizieren, die diese neue Welt für sich entdecken werden. Die Erzählerin des Romans ist eine Neuzugezogene, eine Fremde. Die Umgebung erschließt sich für die Lesenden über die Erzählung der Lebensgeschichten einzelner Menschen. Dabei werden Lebensgeschichten heutiger Menschen, gewesener Menschen und fiktiver Gestalten narrativ miteinander verflochten. Die Nähe der Orte und Themen des Romans zu Tokarczuks Biographie scheint mir eine gute Exemplifikation ihrer Philosophie, die sie in ihrer Nobelpreisvorlesung beschrieben hat. Das Leben besteht aus Ereignissen – doch erst, wenn wir sie interpretieren können, wenn wir zu verstehen und ihnen Sinn zu verleihen suchen, werden diese Ereignisse zu Erfahrung. Ereignisse sind Fakten – Erfahrung ist etwas unvergleichlich anderes. Die Erfahrung, nicht das Ereignis, ist es, was unser Leben ausmacht. Auch die Erfahrung ist ein Faktum, aber sie beruht auf Interpretation und hat sich so in unserem Gedächtnis verankert. Darüber hinaus steht sie in Bezug zu unserem geistigen Fundament, zu einer tieferen Bedeutungsstruktur, über die wir unser Leben breiten können, um es genau in Augenschein zu nehmen. Ich glaube, dass der Mythos die Funktion einer solchen Struktur erfüllt. Ein Mythos hat sich bekanntermaßen nie wirklich ereignet – und ereignet sich zugleich immer.10

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Ebd., S. 176. Tokarczuk, Olga: Taghaus, Nachthaus. Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. München 2004. Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler, S. 31f. 369

Nach Tokarczuk wird dem Erlebten durch Reflexion und Interpretation Sinn gegeben. Die Erfahrungen, die unser Leben ausmachen, sind zugleich die Grundlage dafür, weitere Ereignisse in die Bedeutungsstruktur einzubeziehen. Dies führt sie zur Anerkennung der Rolle des Mythos: Dieser „hat sich bekanntermaßen nie wirklich ereignet – und ereignet sich zugleich immer“11. Das Wissen um die Macht der Mythen und die außergewöhnliche Fähigkeit, sie zu erzählen, verbinde ich mit meinen Kollegen Wolfgang Pauly. Wir Lehrende und viele Generationen von Studierenden sind ihm dankbar für dieses Erleben der Vergegenwärtigung erzählter biblischer Erfahrungen.

II. Der Roman Taghaus, Nachthaus spielt in der Heimat von Tokarczuk, in Niederschlesien. Sie selbst wohnt abwechselnd in Wrocław (Breslau) und in einem Dorf in der Nähe des im Roman genannten Nowa Ruda (Neurode). In Interviews hat sie mehrmals davon gesprochen, dass die von den dort einheimischen Menschen erzählten Geschichten die Inspiration für ihre Schriften waren. Und dann macht sie sich an das, was ihr wichtig ist: das Überschreiten von Grenzen – auch der Grenze zwischen Erzähler und Leser. Die Ich-Erzählweise der Literatur macht dies ihrer Meinung nach möglich: Zudem können wir uns mit Menschen, die so sind wie wir, leicht identifizieren – und diesem Umstand ist es zu verdanken, dass zwischen dem Erzähler und seinem Leser oder Zuhörer eine emotionale, auf Empathie beruhende Übereinstimmung entsteht. Empathie wiederum schafft Nähe, lässt Grenzen verschwinden. Nichts leichter, als in einem Roman die Grenzen zwischen Erzähler-Ich und Leser-Ich zu verwischen – ein ‚fesselnder‘ Roman zählt geradezu darauf, dass sie aufgehoben werden, dass der Leser, seiner empathischer Einfühlung zum Dank, für eine gewisse Zeit zum Erzähler wird.12

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Ebd. Ebd., S. 18f. 370

In Taghaus, Nachthaus nimmt sie in den Blick, was sie für das Besondere dieser Region Niederschlesien hält: die Erfahrung der Zwangsaussiedlung. Diese früheren deutschen Gebiete, nach der neuen Weltordnung von 1945 Polen zugeschrieben, tragen die Geschichte eines Niemandslandes: Es ist die Geschichte der deutschen Bevölkerung, die flüchten musste oder vertrieben wurde, und es ist gleichzeitig die Geschichte der polnischen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem früheren Ostpolen, das direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion eingegliedert wurde. Indem Tokarczuk dieses Thema angeht, berührt sie einen Aspekt der eigenen Familiengeschichte. Sie bearbeitet ein Gemisch von Sehnsucht nach dem ‚verlorenen Paradies‘, der deutschen und der verlorenen polnischen Heimat und einer jahrelang nur als vorübergehend empfundenen Situation des Bleibenkönnens am Zufluchtsort aufgrund der Unsicherheit der Grenzen. Ein Gemisch vom verlorenen und neu gefundenen Zuhause. Dieses spannungsvolle Sehnsuchtsgemisch war in der polnischen Nachkriegsgeschichte lange ein verschwiegenes Thema. In Taghaus, Nachthaus begibt Tokarczuks sich vor allem auf die Spuren der deutschen Vergangenheit, die durch mehrere Gestalten repräsentiert wird.13 Auch die Geschichte der Kümmernis, die sonst in Polen kaum bekannt ist, wird als ein unverzichtbarer Aspekt der niederschlesischen Identität vermittelt.14 Das muss den Leserinnen und Lesern von Taghaus, Nachthaus nicht direkt auffallen. Geschichte ist ein latentes, nicht im Vordergrund stehendes Motiv. Marta Janachowska-Budych meint: Nichtsdestotrotz, wenn man solche bedeutenden Themen ihrer [Tokarczuks] Bücher wie Tod, Traum, Körperlichkeit oder geschichtliche Motive aus der Binnenperspektive betrachtet, wird deutlich sichtbar, dass sie in einem engen Zusammenhang mit der Gedächtnisproblematik stehen.15

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Z. B. durch Franz Frost und Peter Dieter. Vgl. Jekutsch, Ulrike: Heiligenkult – Roman – Theaterstück: zur Übertragung des Kults der hl. Kümmernis in die neue polnische Literatur. In: Rocznik Komparatystyczny 5 (2014), S. 127–151, S. 144f. Janachowska-Budych, Marta: Gedächtnismedium Literatur. Zur Wirkung der Literatur in der Erinnerungskultur am Beispiel der Werke von Elfriede Jelinek und Olga Tokarczuk. Poznań 2014, S. 131. 371

Im Roman Taghaus, Nachthaus ist Marta, eine alte Frau, die wie fast alle Gestalten des Romans ihr Leben auf außergewöhnliche Weise lebt, ein Beispiel dafür. Von ihrer eigenen Lebensgeschichte wird kaum etwas bekannt. Aber Marta ist diejenige, die die Erzählerin des Romans mit der vergangenen und gegenwärtigen Gemeinschaft des Dorfes vertraut macht. Neben der Erzählerin des Romans ist Marta die zweite Hauptgestalt. Aber das Verwunderlichste, was Marta sah, war der Schlaf von Tausenden von Menschen, die im probeweisen Tod befangen alle dort lagen, in Städten, Dörfern, an Landstraßen und Grenzübergängen, in Berghütten, Spitälern und Kinderheimen, in Klodzko und Nowa Ruda und noch viel weiter weg, in einem Raum, den man nicht sah und dessen Existenz man nicht mal ahnte.16

Der altgriechische Mythos vom Schlaf als Vorgeschmack des Todes kommt hier fast wörtlich zum Ausdruck, wenn Tokarczuk vom „probeweisen Tod“ schreibt.17 Tokarczuk arbeitet an den konstruierten Gegenüberstellungen von ‚wach sein – leben‘ und ‚schlafen – tot sein‘. Sie bearbeitet sie in einer paradoxen Art und Weise. Die gängige Verbindung zwischen ‚leben‘ und ‚sich erinnern können‘ wird umgedreht: „Die Erinnerung kommt […] nicht im Wachzustand, sondern im Traum. Er ist der Schlüssel zum Gedächtnis“18. Noch stärker ausgedrückt: Das Vergessen gilt als das, was die Menschen am Leben hält. Unvermittelt kam mir ein seltsamer, mächtiger Gedanke: Daß wir unserem Menschsein Vergessen und Unachtsamkeit zu verdanken haben. Daß wir in Wirklichkeit, in der einzigen wahrhaftigen Wirklichkeit, Wesen sind, die sich in einer gewaltigen kosmischen Schlacht befinden, die vielleicht schon seit Jahrhunderten währt und von der niemand weiß, ob sie irgendwann

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Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus, S. 99. Zu den Erzählungen der alten, weisen Marta gehören auch die altgriechischen Kosmogonien, siehe Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus, S. 111f. Janachowska-Budych: Gedächtnismedium Literatur, S.  141. Das Denken von Carl Gustav Jung hat großen Einfluss auf das Werk von Olga Tokarczuk, die selbst Psychologin ist. 372

einmal zu Ende gehen wird. […] Ich bin also ein Engel oder Dämon, der in die Wirren eines Lebens mit einer Mission entsandt ist, die sich entweder allem zum Trotz erfüllt oder die ich völlig vergessen habe. Dieses Vergessen ist ein Teil des Krieges, es gehört zu den Waffen der anderen Seite, die mich so schwer getroffen haben, daß ich verletzt bin und blute und eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen bin. Deshalb weiß ich nicht, wie stark oder wie schwach ich bin, ich kenne mich selbst nicht, ich erinnere mich an nichts, deshalb wage ich es nicht einmal, in mir diese Stärke oder diese Schwäche zu suchen.19

„[I]ch erinnere mich an nichts …“ und weiß nicht, wer ich bin, sagt die Erzählerin von Taghaus, Nachthaus. Schon der Titel weist auf eine Vorstellung von Wachzustand und Traum hin. Übrigens können nicht nur Menschen vergessen. Vergessen scheint auch eine göttliche Fähigkeit zu sein, zumindest aus der Sicht der weisen Marta. Im Gespräch benennen beide Frauen – Marta und die Erzählerin – das, was Gott vergessen hat, zu erschaffen. „Und so fingen wir an, all der Tiere zu gedenken, die aus irgendwelchen Gründen, die Gott gehabt haben mochte, nicht erschaffen wurden“20. „Wer ist es, [das] weiß, was Gott dachte?“21

III. Die literarische Form von Taghaus, Nachthaus scheint die Grenzen der Gattung Roman zu überschreiten.22 Das Werk setzt sich aus mehreren Strömen einer nichtlinearen Erzählung, aus unterschiedlichen Elementen wie Essay, Epik oder der Heiligenvita zusammen. Dies kennzeichnet insgesamt den Stil von Tokarczuk. „Die Schriftstellerin bildet kunstvolle, mehrstöckige, verschachtelten Kompositio-

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Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus, S. 83. Ebd., S. 101f. Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler, S. 52f. Czapliński, Przemysław: Mikrologi ze śmiercią. Poznań 2002, S. 208. 373

nen, die unsere Weise, die Wirklichkeit zu erkennen, wiederspiegeln!“23 Man kann diesen Roman als „ein Mosaik aus Beschreibung, Beobachtungen, Reflexionen und einzelnen Geschichten charakterisieren“24. Er erfasst auch „fremde fingierte Texte“, zu welchen die Vita der heiligen Kümmernis gehört. Bei der heiligen Kümmernis handelt es sich um eine Heilige, die im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit in mehreren Regionen verehrt wurde. Durch ihre außergewöhnliche ikonographische Darstellung als eine Frau am Kreuz lässt sich die Verbreitung ihres Kultes von den Niederlanden, dem wahrscheinlichen Ursprungsland dieser Legende, über das Rheinland und Westfalen bis nach Süddeutschland, Österreich und in die deutschsprachige Schweiz verfolgen.25 Nie offiziell von der Kirche anerkannt, teilweise bekämpft, büßte die Verehrung der heiligen Kümmernis ab dem 18. Jahrhundert an Intensivität ein. Die Forschenden sind sich einig darüber, dass es sich bei der Kümmernis nicht um eine historische Frau handelt, sondern um eine erfundene Heilige. Trotz unterschiedlicher Varianten gibt es einen ähnlichen Erzählkern: Eine (portugiesische) Königstochter soll nach dem Willen ihres Vaters einen heidnischen König heiraten. Sie will aber ihren christlichen Glauben beibehalten und wehrt sich gegen diese auferlegte Ehe,26 woraufhin sie vom eigenen Vater ins Gefängnis geworfen wird, damit sie ihren Widerstand aufgibt. In dieser Notsituation bittet die Prinzessin Gott um eine Verwandlung ihrer schönen Gestalt. Gott er23

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Babuchwoski, Szymon: Przepis na Nobla (2019) [https://​www.gosc.pl/​doc/​5925558. Przepis-na-Nobla] (Zugriff: 25. März 2020). Jekutsch: Heiligenkult – Roman – Theaterstück, S. 135f. Vgl. Boll, Katharina: Die Legende von der Frau am Kreuz: Theologische Überlegungen zur oberdeutschen Texttradition. Würzburg 2012, S. 161–177, S. 162. Als elektronische Ressource: [https://​opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/​opus4-wuerzburg/​frontdoor/​ deliver/​index/​docId/​6173/​file/​Boll_​FS_​Ehlert_​formatiert_​End.pdf] (Zugriff: 25. März 2020). Das grundlegende Werk der Kümmernisforschung ist dank des umfangreichen Text- und Bildmaterials immer noch: Schnürer, Gustav/​Ritz, Joseph M.: Sankt Kümmernis und Volto Santo. Studien und Bilder. Düsseldorf 1934. Eine gute Übersicht über die Vielfalt der Darstellungen und ihrer Zitate in (Pop)Kultur und Kunst bis in die Gegenwart gibt der Ausstellungskatalog: Wörner, Ulrike: Frau am Kreuz – eine neu entdeckte Kultfigur. Passau 2016. Die genaue Motivation der Königstochter kommt in drei Varianten vor: die Bewahrung der Jungfräulichkeit, ein Bedürfnis, Braut Christi zu sein und außer ihm keinen anderen Mann zum Bräutigam zu haben, und die Nachfolge Christi. Vgl. Boll: Die Legende von der Frau am Kreuz, S. 167–169. 374

hört ihr Gebet: Im Gesicht der Königstocher wächst über Nacht ein Bart. Eine auf diese Weise veränderte Braut will der heidnische König jetzt allerdings nicht mehr heiraten. Erneut bestraft sie der eigene Vater und lässt sie wegen ihrer Treue zu Christus kreuzigen. Zur Legende gehört auch ein sogenanntes ‚Geigenwunder‘. Ein armer Geiger spielt vor der Gekreuzigten. Daraufhin wirft sie ihm einen ihrer goldenen Schuhe hin. Der Spielmann wird des Diebstahls beschuldigt. Er versucht, seine Unschuld zu beweisen: Wenn er ihr den Schuh wieder anzieht, sie ihn aber erneut abwirft, solle man ihn von aller Schuld freisprechen.27 So geschieht es auch. Darum wird die Gestalt der Kümmernis am Kreuz oft auch nur mit einem Schuh abgebildet. Katharina Boll, die die Kümmernislegenden mit den Märtyrerinnen- und Märtyrerlegenden vergleicht, stellt fest, dass das Element der Verwandlung der heiligen Kümmernis den wesentlichen Unterschied zwischen ihnen ausmacht.28 Die Verwandlung bedeutet keine Verkleidung und auch keine Geschlechtsänderung, sondern das Zutagetreten eines männlichen Attributs: eines Bartes. In den Einzelheiten dieser Verwandlung unterscheiden sich die Manuskripte und die ihnen entsprechenden ikonographischen Darstellungen. Eine Variante besteht darin, die Veränderung als eine Verunstaltung bzw. Entstellung zu sehen, d. h. eindeutig negativ als einen Verlust der weiblichen Schönheit zu verstehen. Eine zweite Variante spricht davon, dass die Heilige wie ein Mann aussehe, verbindet damit aber keine Bewertung. Eine dritte Variante spricht davon, dass die Heilige von Gott ihm gleich gemacht oder in seine Gestalt verwandelt wurde. Einige wenige Manuskripte verbinden diese Verwandlung mit der Taufe, die sie im Gefängnis empfangen haben soll. In dieser Variante wird die radikale Nachfolge Christi bis zum Kreuz unterstrichen. Damit wird die Kümmernis zu „einem weiblichen Christus“29 gemacht. 27

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Zu unterschiedlichen Überlieferungen der Legende siehe Boll: Die Legende von der Frau am Kreuz, S. 163–166; Wehrmeister, Tobias: Die heilige Kümmernis. Die bärtige Frau am Kreuz. München 2008. Vgl. ebd., S. 166–167. Ebd., S.  173. Theologisch vereint werden die Ideen der Gottesebenbildlichkeit (Gen 1,27) mit der Wirkung der Taufe: ‚einer‘ in Christus zu werden (Gal 3,28). Es liegt nahe, dies mit den immer wieder von christlichen Theologen vertretenen anthropologischen Vorstellungen, dass Frauen – im Gegensatz zu Männern – unvollkommene Menschen seien, im Zusammenhang zu sehen. 375

Anne-Marie Korte, eine niederländische Theologin, fasst die Tradition der heiligen Kümmernis folgendermaßen zusammen: Diese Bilder bringen die erlösende Bedeutung weiblicher Kreuzigungen und die Genderinklusivität der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zur Sprache und tun das nicht unverhüllt oder provozierend, sondern eher subtil und beiläufig, indem sie Verwirrung über die Geschlechtsidentität stiften.30

IV. In Taghaus, Nachthaus sieht die Erzählerin der Geschichte zuerst eine bärtige Frau an einem Bildstock in der Nähe ihres Hauses, dann eine Figur der hl. Wilgefortis in der Wallfahrtskirche in Wambierzyce (Albendorf) bei einer der Stationen des Kreuzwegs. Bei beiden Darstellungen fehlt der Frau ein Schuh. In Wambierzyce wird die Erzählerin von Marta begleitet. Da zeigte mir Marta plötzlich voller Freude eine der Stationen. Am Kreuz hing eine Frau, ein Mädchen, in einem so enganliegenden Kleid, daß ihre Brüste unter der Farbschicht nackt wirkten. […] Unter dem Kleid sah ein Schuh hervor, der andere Fuß war nackt, und daran erkannte ich, daß es sich um die gleiche Figur handelt, die ich in einem Bildstock auf dem Weg zu Agnieszka gesehen hatte. Jene hatte allerdings einen Bart, deshalb hatte ich immer gedacht, es sei Christus in einem besonders langen Gewand. Unter dem Bild stand: ‚Sanc. Wilgefortis Ergo dormitio er cor meum vigilat‘, und Marta sagte, das sei die heilige Kümmernis.31

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31

Korte, Anne-Marie: Eine Heilige am Kreuz. Madonna und das Motiv der Heiligen Kümmernis. In: Schlangenbrut 27 (2009), Nr. 106, S. 17–20, S. 20. Korte interpretiert in diesem Beitrag den Auftritt der Sängerin Madonna mit dem Lied „Live to tell“, das sie in einer kreuzähnlichen Konstruktion stehend – im Rahmen ihrer „Confessions“ Tour im Jahr 2006 – gesungen hat. Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus, S. 60. 376

Die polnische Bezeichnung für Kümmernis ist hier „Troska“, also „Sorge“ oder „Kummer“ im Sinne der eigenen, zu tragenden Last. Der lateinische Name Wilgefortis kommt im Roman in der Abkürzung „Wilga“ vor.32 Eine Variante dieses Namens, legt Ulrike Jekutsch nahe, wäre „Frasobliwa“, also betrübt, bekümmert – im Sinne der Sorge um andere.33 Die Geschichte der Kümmernis wird im Roman in einer Reihe von Fragmenten beschrieben. Die ersten fünf tragen den gleichen Titel „Wer das Leben der Heiligen schrieb und woher er das alles wußte“, das sechste Textstück trägt den Namen „Das Ende“. Die wiederholte Formulierung des Zwischentitels bezieht sich auf einen angeblichen Autor der im Roman vorkommenden Vita der Kümmernis, nämlich auf einen Mönch namens Paschalis. Er erscheint als ein tiefer Verehrer der Kümmernis und als Verfasser des Werks: „Das Leben der Kümmernis von Schonau, aufgeschrieben mit der Hilfe des Heiligen Geistes und der Oberin des Benediktinerinnenordens im Kloster von dem Mönch Paschalis.“34 Paschalis, als Mann geboren, aus einer Bauernfamilie stammend, wird von den Eltern ins Kloster gegeben. Er fühlt sich im Körper eines Mannes fremd, „er fühlt sich hingezogen zu Frauen und träumt davon, den Körper einer Frau zu haben“35. Die Vita der heiligen Kümmernis schreibt er im Auftrag der Oberin der Benediktinerinnen, die ihn in die Räume dieses Frauenordens aufnimmt. Das Kloster verbirgt eine geheime Kümmerniskapelle, die Oberin soll Paschalis auch die von der Heiligen hinterlassenen Schriften zur Verfügung gestellt haben. Paschalis soll die niedergeschriebene Vita nach Rom bringen, damit der Weg der offiziellen Heiligsprechung beginnen kann. Sein Versuch scheitert schon in Kłodzko (Glatz): Der dortige Bischof lehnt diese Bitte ab. Paschalis kehrt ins Kloster zurück – es ist aber nicht klar ersichtlich, in welches Kloster er geht.36 32 33 34

35 36

Wilga ist zugleicht der Name eines Vogels, des Pirols. Jekutsch: Heiligenkult – Roman – Theaterstück, S. 137f. Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus, S. 61–78. Mit Schonau ist wahrscheinlich Świerzawa (Schönau an der Katzbach) gemeint. Jekutsch: Heiligenkult – Roman – Theaterstück, S. 142. Der Name „Paschalis“ kommt vom lateinischen „Pascha“, trägt in sich die jüdische Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und die christliche Erinnerung an den Tod und die Auferstehung Jesu. Paschalis stellt – wie Kümmernis – eine die Geschlechtskategorien grenzüberscheitende Gestalt dar. Erzählerisch ausgedrückt wird dies nicht nur in seiner körperlichen Fremdwahrnehmung, sondern auch durch die – stereotypisch 377

V. Die Analyse des Romans Taghaus, Nachthaus von Olga Tokarczuk lässt uns mehrere Schichten des religiösen Denkens entdecken. Ihren Schriften eine atheistische Sicht vorzuwerfen, scheint absurd – unabhängig von der Weltanschauung der Autorin. Um die Welt der konkreten Region Niederschlesien und der dort lebenden Menschen zu verstehen, zeichnet Tokarczuk eine Vielfalt mündlicher und schriftlicher Tradierungswege nach, die von Generation zu Generation begangen werden. Die Geschichte einer Region wird bewahrt durch eine endlose Folge des Erinnerns und Weitererzählens. Ja, Erinnern geschieht dem Roman nach auch im Schlaf. Das Motiv des Weitererzählens bestimmt den narrativen Charakter des Werkes, auch der Akt des Schreibens eines Romans ist ein Weitererzählen. Die Erinnerung wird im Roman durch zwei Frauen vermittelt: die Erzählerin des Romans, die eine Neuzugezogene ist, und Marta, eine alte Ansässige. Ein besonderer Aspekt ihrer Erinnerungspraxis gilt der Legende der heiligen Kümmernis, eine vergessene und sogar teilweise verbotene Frauentradition, die Tokarczuk durch Hinzufügung der Figur des Paschalis in ihrem grenzüberschreitenden Potential darstellt. Damit erkennt und bestätigt sie die Kraft der Legenden, die die Bedeutungsstruktur der Erfahrungen tragen. Nach Tokarczuk gibt ein Roman dank Empathie die Chance, die Grenzen zwischen Erzähler-Ich und Leser-Ich zu verwischen. Die Dritten sind diejenige, die im Roman beschrieben werden. Der Traum von Olga Tokarczuk geht noch eine Ebene tiefer. Sie träumt von einem liebevollen, sensiblen Erzähler. Sie nennt ihn einen Erzähler in der „vierten Person“, einen Erzähler, „der die Perspektive sämtlicher Figuren mit einnimmt und zugleich den Horizont jeder einzelnen überschreitet, der mehr und weiter sieht, der die Zeit außer Acht lassen kann. O ja, ein solcher Erzähler ist möglich“37. Aus theologischer Sicht eröffnet sich hier die Perspektive des vierten Erzählenden als ein Offenbarendes. Und Tokarczuk konkretisiert diesen Gedanken in Hinblick auf die biblischen Schöpfungsmythen:

37

eigentlich Frauen zugeschriebene – Passivität seines Handelns. Vgl. Jekutsch: Heiligenkult – Roman – Theaterstück, S. 141–145. Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler, S. 52. 378

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wer dieser wunderbare Erzähler ist, der in der Bibel mit weithin tönender Stimme verkündet: ‚Im Anfang war das Wort‘? Der die Schöpfung der Welt beschriebt, ihren ersten Tag, an dem die Wirrnis von der Ordnung geschieden wird? Wer durchlebt sie, die [Film]Serie von der Entstehung des Kosmos? Wer kennt Gottes Gedanken, Gottes Zweifel, wer bringt mit sicherer Hand jenen außerordentlichen Satz zu Papier: ‚Gott sah, dass es gut war‘? Wer ist es, [das] weiß, was Gott dachte?38

Zur Autorin (geb. 1964) Studium der Theologie in Lublin (Polen), Regensburg (Deutschland) und Nijmegen (Niederlande). 1994 Promotion zum Thema „Das Marienbild in der feministischen Theologie von Catharina Halkes“ an der Katholischen Universität in Lublin, 2012 Habilitation zum Thema „Communio Sanctorum. Grundriss einer ökumenisch orientierten dogmatischen Theologie der Gemeinschaft der Heiligen“ an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań (Polen). 1998–2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Dogmatik an der Adam-Mickiewicz-Universität. Seit 2014 Professorin für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Universität Koblenz-Landau.

38

Ebd., S. 52f. 379

Wolfgang Pauly: Wissenschaftlicher Werdegang Geboren am 14. Juni 1954 1975–1981

Studium der Fächer katholische Theologie, Philosophie und Germanistik in Saarbrücken, Tübingen und Trier.

1981

Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien

1983

Diplom im Fach katholische Theologie

1981–1989

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Fachrichtung katholische Theologie an der Universität des Saarlandes bei Prof. DDr. Gotthold Hasenhüttl

1989

Promotion zum Dr. phil. bei Prof. DDr. Gotthold Hasenhüttl Dissertation: Wahrheit und Konsens. Die Erkenntnistheorie von Jürgen Habermas und ihre theologische Relevanz (Saarbrücker Forschungen, Bd. 1). Frankfurt a. M. 1989.

1989–1998

Akademischer Rat an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abt. Landau

1998–2020

Wiss. Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau (mit Unterbrechung 2002–2003), seit 2005 Akademischer Direktor

2002–2003

Vertretungsprofessur an der Universität des Saarlandes in der Fachrichtung katholische Theologie

2012

Verleihung des Titels „außerplanmäßiger Professor“ am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau

Mitglied in diversen Arbeitsgemeinschaften und Gesellschaften u. a.: - -

Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Pfalz (Geschäftsführer und katholischer Vorsitzender) Arbeitskreis Christentum-Judentum des bischöflichen Ordinariats Speyer 380

- - -

Europäische Gesellschaft für katholische Theologie Arbeitsgemeinschaft der deutsch-italienischen Religionspädagogen/-innen Arbeitskreis der Rhein-Main-Religionspädagogen/-innen

381

Wolfgang Pauly: Literaturverzeichnis (in Auswahl) Monografien Wahrheit und Konsens. Die Erkenntnistheorie von Jürgen Habermas und ihre theologische Relevanz (Saarbrücker Theologische Forschungen, Bd.  1). Frankfurt a.  M./​Bern/​ New York/​Paris 1989. Glauben heute lernen. Der „Katechismus der Katholischen Kirche“ auf dem Prüfstand. München 1994 (zusammen mit Helmut Fox). Gelebter Glaube – verantworteter Glaube. Perspektiven und Personen. Landau 1997; 2. überarbeitete und von 176 Seiten auf 282 Seiten erweiterte Neuauflage. Landau 2001. Befreite Liebe – Verantwortete Liebe. Eine sexualethische Handreichung. Trier 1999 (zusammen mit Helmut Fox). Abschied vom Kinderglauben. Ein Kursbuch für aufgeklärtes Christsein. Oberursel 2008; 2. Auflage (ebenfalls) 2008; 3. Auflage 2012. Martin Buber. Leben im Dialog. Berlin 2010; 2. Auflage Berlin/​Leipzig 2019. Der befreite Jesus. Unterwegs zum erwachsenen Christusglauben. Oberursel 2013. Gotthold Hasenhüttl. Theologie und Kirche im Konflikt. Darmstadt 2015; 2. Auflage online: Deutsche Digitale Bibliothek 2016. Erich Fromm. Frei leben – Schöpferisch lieben. Berlin/​Leipzig 2019.

Herausgeberschaft Geschichte der christlichen Theologie. Darmstadt 2008; 2. Auflage (ebenfalls) 2008; 3. Auflage 2014; 4. Auflage 2016 (Portugiesische Übersetzung: Historia da teologia crista. Sao Paulo 2012).

Aufsätze Der erfahrbare Tod – Vom Zusammenhang zwischen Leben und Tod in Theologie und Sozialwissenschaften. In: Lade, Eckhard: Handbuch der Gerontagogik. Obrigheim 1986, S. 1–12. Kolonisation – Mission – Evangelisation. Das Beispiel Kuba. In: Imprimatur 20 (1987), S. 106–110. S. 159–164. 382

Leonidas E. Proaño – Bischof der Indios. In: Orientierung 51 (1987), S. 222–224. Der Tod und das Sterben in der Literatur. In: Lade, Eckhard (Hg.): Ratgeber Altenarbeit, Teil 12/​2.1. Ostfildern 1989, S. 1–8. Erfahrung und Wahrheit. Zur theologischen Bedeutung des Werkes von J. Habermas. In: Orientierung 54 (1990), S. 111–112. Wahrheit in Vielfalt. Fundamentaltheologische Aspekte des ökumenischen Gesprächs. In: Mercker, Hans/​Wibbing, Siegfried (Hg.): Ökumenisch Leben. Festgabe für Helmut Fox zum 60. Geburtstag. Landau 1990, S. 209–216. Eugen Drewermann – Theologie in der Moderne zwischen Aufklärung und Romantik (Zur Debatte. Schriftenreihe der Katholischen Akademie Trier Abteilung Saarbrücken, Bd. 1). Saarbrücken 1992. Fox, Helmut/​Mercker, Hans/​Pauly, Wolfgang: Stellungnahme zu den Elementen eines Pastoralplanes der Diözese Speyer. In: Imprimatur 25 (1992/​2), S. 94–96. Zwischen Leid und Hoffnung. 500 Jahre Christentum in Lateinamerika. In: Schulmagazin für Lehrerinnen und Lehrer (1992/​6), S. 4–7. Mangelverwaltung oder Chance eines Neubeginns? Zur Lage der christlichen Gemeinden in Deutschland. In: Orientierung 56 (1992), S. 211–214. Abgedruckt in: Hirschberg. Monatsschrift des Bundes Neudeutschland 46 (1992), S. 77-82; Internationale Vereinigung der Priester des Prado, Mitteilungen 3 (1996). Der Weg in die Stille. Beispiel des Religionsunterrichts. In: Schulmagazin für Lehrerinnen und Lehrer (1993/​7.8), S. 12–14. Vom Atmen der Seele. Prolegomenon zu einer Theologie des Gebetes in der Moderne. In: Hilpert, Konrad/​Ohlig, Karl-Heinz (Hg.): Der eine Gott in den vielen Kulturen. Inkulturation und christliche Gottesvorstellung. Zürich 1993, S. 329–338. Der Kreisel und der Katechismus. Skizzen zum Weiterdenken. In: Grittner, Sabine/​Wallich, Mathias/​Jungblut, Dorothee (Hg.): … den Faden weiterspinnen. Festschrift für Gotthold Hasenhüttl. Saarbrücken 1993, S. 134–141. Der neue Katechismus der Katholischen Kirche. Geschichte – Inhalt – Kritik. In: Lade, Eckhard (Hg.): Christliches ABC heute und morgen. Handbuch für Lebensfragen und kirchliche Erwachsenenbildung. Bad Homburg 1994, S. 339–349. Die unverfügbare Zukunft des Christlichen. In: Piepke, Joachim (Hg.): Evangelium und Kultur. Christliche Verkündigung und Gesellschaft im heutigen Mitteleuropa. Nettetal 1995, S. 165–182. Lebensstiftender Glaube. Eugen Drewermanns theologischer Ansatz. In: Lade, Eckhard (Hg.): Christliches ABC heute und morgen. Handbuch für Lebensfragen und Erwachsenenbildung. Bad Homburg 1995, S. 97–112. Religion und Erfahrung. Osteuropäisches Judentum und Chassidismus. In: Lade, Eckhard (Hg.): Christliches ABC heute und morgen. Bad Homburg 1995, S. 389–399. 383

Der Papst des Aufbruchs: Johannes XXIII: Leben und Werk. In: Lade, Eckhard (Hg.): Christliches ABC heute und morgen. Bad Homburg 1995, S. 383–394. Der katholische Religionsunterricht. Chancen, Ziele und Probleme. In: Schulmagazin für Lehrerinnen und Lehrer. Impulse für den kreativen Unterricht (1996/​9), S. 8–11. Aufbruch aus tradierter Sicherheit. Annäherungen an das Buch Kohelet. In: Fox, Helmut/​ Heiligenthal, Roman (Hg.): Glaube und Erfahrung. Landau 1998, S. 265–278. „Der Ritter von dem Heil’gen Geist“. Theologische Annäherung an Heinrich Heine. In: Grittner, Sabine/​Goergen, Peter/​Jungblut, Dorothée: Spuren des Religiösen in der Gegenwartskultur. Festschrift für Professor Gotthold Hasenhüttl. St. Ingbert 1998, S. 107–122. Die Suche nach dem Fundament. Fundamentaltheologische Fragen an neuere Ansätze zum Theodizeeproblem. In: Orientierung 64 (2000), S. 5–10. Gratia plena – Voll der Gnade. Anthropologische Annäherung an einen theologischen Grundbegriff. In: Schieder, Rolf/​Reil Elisabeth (Hg.): Wahrheit suchen – Wirklichkeit wahrnehmen. Festschrift für Hans Mercker zum 60. Geburtstag. Landau 2000, S. 53–64. Vorbote des Untergangs. Leben und Werk des Josef Roth. In: Schneider, Diethelm/​Wallich, Mathias (Hg.): Terror und Theologie. Zur Aktualität der Apokalyptik. St. Ingbert 2003, S. 31–42. Il fenomeno del pluralismo nella religione e nella cultura. Un approccio dal punto di vista della teologia fondamentale. In: Itinerarium. Rivista multidisciplinari dell Instituto teologico San Tommaso 12 (2004), S. 23–37. Riempire di vita messaggio della fede. Aspeti del discorso su Dio nella modernita. In: Religione e Scuola. Rivisto dell’insegnante di religione XXXII (2004/​5), S. 81–90. Von der Abkehr zur Umkehr. Die Funktion der Religion im Kontext der Moderne bei John Updike und Patrick Roth. In: Thomas Schreijäck (Hg.): Werkstatt Zukunft. Bildung und Theologie im Horizont eschatologisch bestimmter Wirklichkeit. Freiburg i. Br. 2004, S. 43–55. Die Aufhebung des Mythos. Aspekte einer Fundamentaltheologie in der Moderne. In: Ahn, Gregor/​Dietrich Manfred/​Häussling, Ansgar (Hg.): Mythen der Anderen. Mythopoetik und Interkulturalität. Münster 2004, S. 193–200. Anstößige Steine. In: Otmar Weber (Hg.): Die Synagogen in der Pfalz von 1800 bis heute. Dahn 2005, S. 9–10. Zwischen Mythos und Moderne. Das theologische Anliegen Gotthold Hasenhüttls. In: Orientierung 69 (2005/​8), S. 91–94. Undogmatische Dogmatik. Zur Hermeneutik und Interpretation von Glaubensaussagen. In: Merten Stephan/​Pohl, Inge (Hg.): Texte. Spielräume interpretativer Näherung. Landau 2005, S. 255–271. Das gemeinsame geistliche Erbe von Juden und Christen. Vor vierzig Jahren: Konzil leitet epochalen Wandel ein. In: Der Pilger (2005/​42), S. 16–17. Sul rapporto tra le religioni. Quale idea di verita’ puo porsi alla base del dialogo tra le religioni? In: Religione e Scuola. Rivista dell’insegnante di religione XXXIV (2006/​3), S. 15–22. 384

Art. „Dialog“. In: Hämel, Beate-Irene/​Schreijäck, Thomas (Hg.): Basiswissen Kultur und Religion. 101 Grundbegriffe für Unterricht, Studium und Beruf. Stuttgart 2007, S. 28f. Winkelgast mit Tiefgang. Der saarländische Autor Johannes Kühn. In: Orientierung 73 (2009/​7), S. 73–74. Mission – Inkulturation – reziproke Interkulturation. In: Orientierung 73 (2009/​11), S. 123–125. Wo bist du geblieben Gott? Meilensteine der Theologie. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg-Stuttgart (42/2010), S. 10–13. Die Vielfalt der Glaubenskontexte und der Universalitätsanspruch des Evangeliums. 25 Jahre „Theologie interkulturell“. In: Stimmen der Zeit 136 (2011/​3), S. 181–188. Gott mit neuen Augen sehen. Meilensteine der Theologie. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg-Stuttgart (14/​2011), S. 10–13. Christen weltweit – von wem können wir lernen? In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg–Stuttgart (29/​2012), S. 10–12. Theologien der Welt I: Afrika I: Die Gemeinschaft der Lebenden bleibt auch nach dem Tod erhalten. Der schützende Gott lässt wachsen und gedeihen. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg-Stuttgart (29/​2012), S. 36–37. Theologien der Welt II: Afrika II: Alltägliche Handlungen in ihrer Tiefendimension „lesen“ lehren. Gemeinschaftsgefühl lässt jeden für jeden einstehen. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg-Stuttgart (30/​2012), S. 38–39. Theologien der Welt III: Asien I: Der ferne Osten: Abstrakte Lehren interessieren Japaner und Chinesen nicht. Der Glaube muss zu einem glücklichen Leben beitragen. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg-Stuttgart (31.32/2012), S. 38–39. Theologien der Welt IV: Asien II: Indien: In der gemeinsamen Sorge um den bedrohten Menschen entsteht ein Dialog der Religionen. Mitten im Leben wird dessen Tiefe erfahrbar. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg–Stuttgart (33/​2012), S. 38–39. „Wo bist du geblieben, Gott?“. In: Müller, Thomas Moritz/​Schlotthauer, Reiner (Hg.): Gott denkend entdecken. Meilensteine der Theologie. Kevelaer 2012, S. 246–251. Gott mit neuen Augen sehen. In: Müller, Thomas Moritz/​Schlotthauer, Reiner (Hg.): Gott denkend entdecken. Meilensteine der Theologie. Kevelaer 2012, S. 296–301. Theologien der Welt V: USA: Auch im „religiösen Supermarkt“ strebt der Mensch nach Sinn und Glück im Leben. Jede Begegnung muss offen sein für Neues. In: Katholisches Sonntagsblatt. Das Magazin für die Diözese Rottenburg–Stuttgart (34/​2012), S. 38–39. Vom Sinn und Unsinn der Gottesbeweise. In: Katechetische Blätter 138 (2013), S. 250–252. Kerygma(tik). In: Porzelt, Burkard/​Schimmel, Alexander (Hg.): Strukturbegriffe der Religionspädagogik. Bad Heilbrunn 2015, S. 158–163. 385

Leben im Dialog. Über Interreligiosität und Begegnung. In: Eckstein, Isa-Dorothe/​Stief, Eckhart (Hg.): Kaiserlauterer Universitätspredigten 2013–2016. Kaiserslautern 2016, S. 9–18. Jesus und die Kinder – Zwischen Idylle und Reich Gottes. Annäherung an Mk 10,13–16. In: Volker, Garske/​Nauerth, Thomas/​Niermann, Anja (Hg.): Vom Können erzählen. Ein Lesebuch zum Frieden. Münster 2017, S. 157–159.

Veröffentlichungen im Internet The Diversity of Contexts of Faith and the Gospel’s Claim to Universality. Twenty Fife Years of ‚Interkultural Theologie‘ (2011). Homepage der Kölner Jesuiten [www.con-spiration.de]. Isaak Luria – die Aktualität der jüdischen Mystik [www.christen-und-juden.de/​html/​luria. htm]. Martin Buber – Philosoph des Dialogs [www.nostra-aetate.uni-bonn.de/​theologie-des-dialogs/​begegnungen]. Leben im Dialog – Über Interreligiösität und Begegnung [www.uni-kl.de/​ESG/​Gottesdienste.html].

Lexikon-Beiträge Art. „Jenseits“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 11, 191990, S. 157–158. Art. „Jungfrauengeburt“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 11, 191990, S. 286. Art. „katholisch“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 11, 191990, S. 542. Art. „Katholische Soziallehre“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 11, 191990, S. 546. Art. „Kerygma“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 11, 191990, S. 644. Art. „Kirchengebote“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 11. Art. „Kirchenschatz“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 16. Art. „Klerus“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 80. Art. „Kommunion“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 213f. Art. „Konfession“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 246. Art. „Konkupiszenz“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 274. Art. „Kontroverstheologie“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 316f. Art. „Krankensalbung“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 440. 386

Art. „Kreatianismus“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 452. Art. „Kreuzestheologie“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 481. Art. „Krieg“ (christl. Tradition). In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 491–493. Art. „Kriegsdienstverweigerung“ (kath.-evang.). In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd.  12, 19 1990, S. 499. Art. „Kuhn, Johannes Evangelist“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, 191990, S. 572. Art. „Mysterium“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 15, 191991, S. 268. Art. „Mysterientheologie“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 15, 191991, S. 268. Art. „natürliche Theologie“. In: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 15, 191991, S. 381.

Des Weiteren veröffentlichte Wolfgang Pauly zahlreiche Rezensionen, u. a. in der Zeitschrift Publik–Forum und anderen namhaften theologischen Zeitschriften. Außerdem umfasst sein Oeuvre etliche nichtwissenschaftliche Aufsätze und Artikel.

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Die Publikation wurde finanziell unterstützt durch die Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Institut für Katholische Theologie,

das Bistum Speyer, HA II: Schulen, Hochschulen und Bildung,

die Universität Freiburg, Theologische Fakultät, Lehrstuhl Dogmatik, Prof. Dr. Karlheinz Ruhstorfer,

die Dr. Heinz Danner-Stiftung,

die Abteilung Schule und Hochschule des Bischöflichen Generalvikariats Trier,

den Arbeitskreis für neuere jüdische Geschichte in der Pfalz,

die Sparkassenstiftung Südliche Weinstraße.

Wir bedanken uns herzlich für alle Zuwendungen.

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