Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation: Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612) [Reprint 2014 ed.] 3110181509, 9783110181500

In den Umwälzungen des 15.-16. Jh. stellte sich für das Judentum und die katholische Kirche die Frage nach der Vereinbar

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Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation: Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612) [Reprint 2014 ed.]
 3110181509, 9783110181500

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
Teil I: Einleitung
1. Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)
Stammbaum der Familie Portaleone
2. Aufbau und Struktur der Shilte ha-gibborim
3. Die Rezeption der Shilte ha-gibborim
4. Die Forschungslage
5. Ausrichtung und Aufbau der Untersuchung
Teil II: Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie
1. Die jüdische Enzyklopädie im Mittelalter
2. Auf der Suche nach einer neuen Einheit: Die Restrukturierung des Wissens im 15.-16. Jahrhundert
3. Die Darstellung des Wissens im 16. Jahrhundert: Das Theater des Giulio Camillo
4. Die Verräumlichung des Wissens im 16.-17. Jahrhundert
Teil III: Einleitung: Vom „Theatrum mundi zum „Templum sapientiae“
1. Die Symbolik des salomonischen Tempels im 16.-17. Jahrhundert
2. Der salomonische Tempel zwischen Utopie und historischer Rekonstruktion
3. Die Enzyklopädie als Utopie im 17. Jahrhundert
Teil IV: Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones
1. Die Auffassung vom Tempel in den Shilte ha-gibborim
2. Die Kriegsführung und das „Armamentarium“ der Israeliten
3. Gewichte, Maßeinheiten, Medaillen und Münzen
4. Musik und Musikinstrumente
5. Die politische und soziale Struktur der Israeliten nach Portaleone
6. Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim
7. Erfahrung und Glauben
8. Zusammenfassung
Anhang
1. Die Quellen der Shilte ha-gibborim
2. Der Umgang Portaleones mit seinen Quellen
3. Urkunden und Briefe über und von Portaleone aus dem Staatsarchiv von Mantua
Literaturverzeichnis
Namenregister
Sachregister

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GIANFRANCO MILETTO GLAUBEN UND WISSEN IM ZEITALTER DER REFORMATION

w DE

G

STUDIA JUDAICA FORSCHUNGEN ZUR W I S S E N S C H A F T DES JUDENTUMS

HERAUSGEGEBEN VON E. L. E H R L I C H UND G. S T E M B E R G E R

BAND X X V I I

W A L T E R DE GRUYTER · B E R L I N · NEW Y O R K

GLAUBEN UND WISSEN IM ZEITALTER DER REFORMATION DER SALOMONISCHE TEMPEL BEI ABRAHAM BEN DAVID PORTALEONE (1542-1612)

VON GIANFRANCO MILETTO

WALTER D E GRUYTER · BERLIN · NEW YORK

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018150-9

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

©

Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

An meine Gymnasiallehrer des „Liceo Classico Salesiano Valsalice-Torino", die mir die Werte der humanistischen Bildung und die Liebe für die Kultur in der Vielfalt ihrer menschlichen Entfaltung vermittelt haben

Vorwort Das traditionelle Judentum ist von der Vorstellung geprägt, eine einzigartige Kultur zu sein, die mit der biblischen Erwählungsgeschichte des Volkes Israel als Volk Gottes untrennbar verknüpft ist. Zeichen dieser Erwählung ist die Torah, die Gott bei der Sinaioffenbarung seinem Volk gegeben hat. Für die Juden wurde die Torah kulturell, gesellschaftlich und politisch Grundlage ihres Seins, ja sogar ihrer gesamten Identität. Die Befolgung der Torahnormen, die das Leben des einzelnen sowie der Gemeinde regeln, zeigt nach außen die Verbundenheit des jüdischen Volkes mit Gott. Dies führte in biblischer Zeit zu einem stark theokratisch ausgerichteten Staat mit Jerusalem und seinem Tempel als politischem und geistigem Zentrum aller Juden. Der Tempel, laut Tradition von Gott selbst entworfen und als sein irdischer Sitz gewählt, um seine Präsenz mitten in seinem Volk zu zeigen, hatte als einziger zugelassener Kultort eine vereinende Funktion und stärkte das Gefühl der religiösen Zugehörigkeit. Der Verlust der politischen Unabhängigkeit und die Zerstörung des Tempels konnten diese Verbundenheit nicht aufheben, erhöhten vielmehr die Sehnsucht nach der Wiederkehr alter Zeiten, als der Tempel in Jerusalem noch Mittelpunkt des jüdischen Lebens war. Die völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen, das Leben als Minderheit unter fremden Kulturen, die aufkommende Konkurrenz des Christentums und des Islam ließen das Judentum noch stärker um die Torah zusammenrücken, um seine Identität zu bewahren. Die strikte Einhaltung der Torahnormen wurde als Mittel empfunden, sich von der fremden Umwelt abzugrenzen, und vermittelte das Gefühl einer religiösen, moralischen und kulturellen Überlegenheit. Durch die Berufung auf die Torah erhob das Judentum einen Absolutheitsanspruch auch im kulturellen Bereich. Die Torah wurde nicht nur als Grundlage des religiösen und ethischen Lebens, sondern auch als Quelle allen Wissens und sogar als Garant der kosmischen Ordnung betrachtet. Die Konfrontation mit der Kultur der Mehrheit führte aber nicht nur zu einer Ausgrenzung fremder Elemente, sondern auch zu ihrer Aneignung und Integration in die jüdische Tradition, indem man jene Aspekte des „fremden" Wissens, die geschätzt und für nützlich gehalten wurden, auf einen biblischen Ursprung zurückführte. Diese Integrationsbemühungen setzten eine theologische Weltanschauung voraus und konnten relativ problemlos Erfolg haben, solange das profane Wis-

VIII

Vorwort

sen nicht im offenen Widerspruch zur religiösen Tradition stand. Als jedoch im 15.-16. Jahrhundert die neuen Kenntnisse und Entdeckungen, die sich aufgrund ihrer Evidenz nicht verkennen ließen, eine völlig neue Vorstellung der Welt und des Menschen hervorriefen, stellte die Frage ihrer Vereinbarung mit der Tradition eine besondere Herausforderung sowohl für das Judentum als auch für die katholische Kirche der Gegenreformation dar. Während die Verteidigung vertrauter Denkformen und Schemata für die katholische Kirche vor allem die Verteidigung ihrer Autorität bedeutete, wurde der Kontrast zwischen der alten und der sich abzeichnenden neuen Welt bei den sensibelsten Vertretern der jüdischen Kultur dieser Zeit zu einer grundlegenden Moralfrage. Da die jüdische Identität im religiösen Glauben an die Torah und in der Tradition ihrer Auslegung verankert ist, wurde jede Kritik an der Autorität der alten Meister als besonders gefährdend empfunden. Und dennoch konnte man die zwingenden Gründe, die die Wissenschaften in ihrer logischen Evidenz dem Verstand vorwiesen, nicht verkennen. Es war also eine Existenzfrage, eine Lösung zu finden, die es ermöglichte, das Neue in das Alte zu integrieren, ohne die Vernunft zu verleugnen. Unter der Voraussetzung, daß alles von Gott stammt und in seinem Wort, nämlich in der Torah, enthalten ist, konnte eine Kompromißlösung durch ein neu definiertes Selbstbewußtsein innerhalb der Tradition und des religiösen Glaubens stattfinden. Da Judentum und katholische Kirche ähnliche Ziele verfolgten, sind auch interessante Parallelen in ihrer Reaktion zu beobachten. Beide fanden in dem Symbol des salomonischen Tempels ein ideales Darstellungsmodell ihrer kulturellen und politischen Vorstellungen. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Parallelen aufzuzeigen und das kulturelle Umfeld zu rekonstruieren, in dem die Shilte ha-gibborim des Abraham ben David Portaleone entstanden sind. Die vorliegende Untersuchimg wurde vom Fachbereich Kunst-, Orient- und Altertumswissenschaften der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg im Wintersemester 2003 als Habilitationsschrift für das Fach Judaistik/Jüdische Studien angenommen. Sie dient als Ergänzung zu meiner Übersetzung der Shilte ha-gibborim des Abraham ben David Portaleone („Die Heldenschilde", Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2002) und konnte dank eines zweijährigen Forschungsstipendiums der „Deutschen Forschungsgemeinschaft" zustande kommen. Während meines Aufenthaltes am Seminar Judaistik/Jüdische Studien der Universität zu Halle-Wittenberg konnte ich mich einer ergiebigen und angenehmen Zusammenarbeit mit Professor Giuseppe Veltri erfreuen. Bei unserem ersten Treffen, bei dem wir über mein Habilitationsvorhaben diskutierten, empfahl er mir die Lektüre von The Art of Memory von Francis Yates. Diese aufschlußreiche Lektüre war von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Untersuchung.

Vorwort

IX

Die finanzielle Unterstützung der „Deutschen Forschungsgemeinschaft" ermöglichte mir eine Forschungsreise nach Florenz und Mantua. In Florenz konnte ich an der Bibliothek des „Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento" arbeiten und mich dank der freundlichen Hilfsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Institutes mit den Forschungen von Cesare Vasoli, Lina Bolzoni und Giuseppe Olmi vertraut machen. Im Staatsarchiv von Mantua hatte ich die Freude, reichliches, bis jetzt unveröffentlichtes Material über Portaleone zu finden. Für die herzliche und kompetente Unterstützung bei der Suche nach Dokumenten und Briefen über Portaleone möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Staatsarchivs von Mantua, insbesondere Frau Dr. Ivana Freddi und Frau Dr. Maria Luisa Aldegheri, bedanken. Nicht zuletzt bin ich Herrn Prof. Dr. Günter Stemberger, Herrn Prof. Dr. Dr. Johann Maier und Frau Prof. Dr. Monika Neugebauer-Wölk zu Dank verpflichtet, die sich bereit erklärten, die Habilitationsschrift zu begutachten. Ihre Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge sind in die Endfassung aufgenommen worden. Bei meinen guten Freunden, Eveline Kracht und Michael Arp, die mir bei der Lösung von grammatikalischen Fragen der deutschen Sprache geduldig zur Seite standen, möchte ich mich herzlich bedanken. Die meisten angeführten Literaturquellen konnte ich in der Universitätsund Landesbibliothek von Halle an der Saide finden, die wahrhaftige Schätze aufbewahrt und trotz Kürzungen von Zuschüssen sich bemüht, eine erstklassige kulturelle Dienstleistung bestens zu gewährleisten.

Inhalt Vorwort

VII

Abkürzungen

XIII

Teil I: Einleitung

1

1. Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612) Stammbaum der Familie Portaleone 2. Aufbau und Struktur der Shilte ha-gibborim 3. Die Rezeption der Shilte ha-gibborim 4. Die Forschungslage 5. Ausrichtung und Aufbau der Untersuchung

1 14 15 22 25 29

Teil II: Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie

35

1. Die jüdische Enzyklopädie im Mittelalter 2. Auf der Suche nach einer neuen Einheit: Die Restrukturierung des Wissens im 15.-16. Jahrhundert 3. Die Darstellung des Wissens im 16. Jahrhundert: Das Theater des Giulio Camillo 4. Die Verräumlichung des Wissens im 16.-17. Jahrhundert

37

Teil III: Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae"

52 69 88

107

1. Die Symbolik des salomonischen Tempels im 16.-17. Jahrhundert ... 109 2. Der salomonische Tempel zwischen Utopie und historischer Rekonstruktion 120 3. Die Enzyklopädie als Utopie im 17. Jahrhundert 144

XII

Inhalt

Teil IV: Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

177

Die Auffassung vom Tempel in den Shilte ha-gibborim 178 Die Kriegsführung und das „Armamentarium" der Israeliten 192 Gewichte, Maßeinheiten, Medaillen und Münzen 198 Musik und Musikinstrumente 205 Die politische und soziale Struktur der Israeliten nach Portaleone .... 214 Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim 226 Erfahrung und Glauben 245 Zusammenfassung 259

Anhang 1. Die Quellen der Shilte ha-gibborim 2. Der Umgang Portaleones mit seinen Quellen 3. Urkunden und Briefe über und von Portaleone aus dem Staatsarchiv von Mantua

267 297

Literaturverzeichnis

333

Namenregister Sachregister

351 355

305

Abkürzungen Ar Αν b Bar BerRab 1/2 Chr Dt Ez Gn Ex Hag Hui Hebr Hld Jes Jos Ket Kil Kol 1/2 Kön Lev m Mal Meg Men Mid Ps Prv Rom San Shab SifDev Sot t Tan 1 Tim

Arakhin Avot Talmud Babli Baruch Bereshit Rabbah Das erste bzw. zweite Buch der Chronik Deuteronomium Ezechiel Genesis Exodus Hagigah Hullin Brief an die Hebräer Hohelied Jesaja Josua Ketubbot Kilayim Brief an die Kolosser Das erste bzw. zweite Buch der Könige Leviticus Mischna Maleachi Megillah Menahot Middot Psalm/Psalmen Proverbien Brief an die Römer Sanhedrin Shabbat Sifre Devarim Sota Tosefta Ta'anit Der erste Brief an Timotheus

Teil I

Einleitung 1. Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612) Abraham ben David Portaleone wurde a m 18. März 1542 in Mantua geboren. 1 Er stammte aus einer wichtigen jüdisch-römischen Familie, die a m Ende des 13. Jahrhunderts nach Norditalien zog und auch unter dem Namen „Sommo" (bzw. „Sommi") bekannt war. 2 Zu dieser Familie aus dem Viertel „Portaleone" („Löwentor") gehörte Leone (Yehudah) de' Sommi Portaleone (1527-1592), der in der Geschichte des italienischen Theaters eine große Bedeutung

hat. 3

Zahlreiche andere Mitglieder der Familie Portaleone zeichneten sich vor allem in der Medizin aus: Benjamin ben Mordechai Portaleone wurde sogar durch den König von Neapel, Ferdinand I. aus Aragon, geadelt. Abraham, der Sohn Benjamins, war Leibarzt bei Guidobaldo I. della Rovere, Herzog v o n Urbino, und bei Federico Gonzaga, Markgraf von Mantua. Abraham ben Benjamin war jener jüdische Arzt, der vergebens versuchte, das Leben Giovanni de' Medicis 1

Zu Abraham ben David Portaleone siehe: G. Wolf, „Eine Familie jüdischer Ärzte", in: Allgemeine Zeitung des Judentums 26 (1862), S. 625; M. Steinschneider, „Die Familie Portaleone-Sommo", in: Hebräische Bibliographie 6 (1863), S. 48-49; M. Mortara, „Un important document sur la famille des Portaleone", in: Revue des Etudes Juives 12 (1886), S. 113-116; G. Jare, „Alcune notizie sopra Abramo Portaleone juniore, David e Guglielmo Portaleone", in: Π Corrispondente Israelitico 28 (1889-1890), S. 246-248; L. Luzzatto, „Appunti storici sulla famiglia Portaleone", in: II Vessillo Israelitico 43 (1895), S. 154—155; V. Colorni, „Note per la biografia di alcuni dotti ebrei vissuti a Mantova nel secolo XV", in: Annuario di studi ebraici 1 (1934), S. 169-182:176-182 (neu bearbeitet und in We-Zo't le Angelo. Raccolta di studi giudaici in memoria di Angelo Vivian [hrsg. von G. Busi], Bologna 1993, S. 189-198 veröffentlicht); N. Shapiro, „Abraham Portaleone - Physician and Encyclopedist, and the Book Shiltei ha-Gibborim" [hebräisch], in: Ha Rofe ha-Ivri 1-2 (1960), S. 109-116, 173-176; S. Simonsohn, History of the jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977, S. 584,637-638,642-648.

2

Siehe Colorni, „Note per la biografia", S. 180; F. Pisa, „Parnassim: le grandi famiglie ebraiche italiane dal secolo XI al s. XIX", in: Annuario di studi ebraici 10 (1980-1984), S. 291-491:417. Siehe D. Kaufmann, „Leone de' Sommi Portaleone (1527-92). Dramatist and Founder of a Synagogue at Mantua", in: Jewish Quarterly Review 10 (1898), S. 445-455 [= in deutscher Fassung Gesammelte Schriften, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1915: Bd. 3, S. 303-318]; Simonsohn, History of the Jews, S. 658-664, 726-727.

3

2

Einleitung

(„dalle Bande Nere") zu retten, als dieser im Jahre 1526 von den Landsknechten Frundsbergs schwer verletzt bei Federico Gonzaga Zuflucht fand.4 Eleazar, ein Bruder Abrahams, war ebenso Arzt und bekam von Papst Alexander VI. im Jahre 1499 die Genehmigung, die ärztliche Heilkunst auch bei den Christen auszuüben. Er war Leibarzt des Fürsten Carlo Giovanni di Sassatello, Oberbefehlshaber des päpstlichen Heeres, und des Fürsten PijTo Gonzaga. Eleazar hatte zwei Söhne, Abraham und David, die beide von Papst Leo X. die Genehmigung erhielten, ebenso wie ihr Vater auch Christen ärztlich zu behandeln. Davids Sohn Abraham ist der Autor der Shilte ha-gibborim. Wie üblich bei den wohlhabenden jüdischen italienischen Familien dieser Zeit genoß Abraham Portaleone eine umfangreiche Erziehimg. Von Rabbi Meir Katzenellenbogen aus Padua und Rabbi Yosef Sarko erhielt er seine erste traditionelle jüdische Bildung. Rabbi Yosef Sinai lehrte ihn die Halakhot des Maimonides, die Mischna und die wichtigsten Kommentare zur Torah und zu den Propheten. In Bologna besuchte Portaleone die Schule von Rabbi Yaqov Fano, bei dem er die Dezisoren und die Gemarah lernte. Zurückgekehrt nach Mantua hatte Portaleone für einige Zeit Rabbi Yehudah Provenzali als Lehrer und nach ihm Rabbi Abraham ben David Provenzali, den Portaleone in seiner kurzen Autobiographie am Ende der Shilte ha-gibborim mit besonderer Verehrung erwähnt. Er bewunderte ihn nicht nur als Lehrer, der ihm neben dem Talmud auch Latein und Philosophie beibrachte, sondern auch als Erzieher, der ihm zeigte, wie man die jüdische Tradition mit den weltlichen Wissenschaften vereinbaren konnte. Portaleone studierte, entsprechend der Tradition seiner Familie, zusammen mit Abraham ben David Provenzali Medizin an der Universität von Pavia, wo er trotz der für Juden geltenden Einschränkungen im Jahre 1563 den Doktortitel erhielt.5 Durch einen Erlaß des Herzogs Guglielmo Gonzaga (15. Mai 1565) wurde Abraham Portaleone zur Prüfung für die Aufnahme in den Ärzteverein von Mantua („Collegio dei Medici") zugelassen.6 Denn nach den Statuten der mantuanischen Ärztekammer, die am 14. Dezember 1559 vom Herzog Guglielmo Gonzaga erlassen wurden, durften zwar auch jüdische Ärzte aufgenommen werden, sie mußten aber bestimmte Bedingungen erfüllen.7 Auch wenn sie 4

5

6 7

U. Cassuto, Gli ebrei a Firenze, Firenze 1918 [1965], S. 183; C. Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia 1946, S. 202-203. Das Diplom des Doktorats ist von V. Colorni veröffentlicht worden, „Süll' ammissibilitä degli ebrei alia laurea anteriormente al secolo XIX", in: Rassegna mensile di Israel 16 (1950), nachgedruckt in: Judaica Minora. Saggi sulla storia dell' ebraismo italiano dall' antichita all' etä moderna, Milano 1983, S. 473-489:487-489. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, S III 9,3391. Eine Kopie der Statuta medicorum Mantuae ist im Staatsarchiv von Mantua (Archivio Gonzaga, Libro dei Decreti Nr. 46, cc. 24-37) aufbewahrt. Sie ist von Gilberto Carra und Attilio Zanca mit italienischer Übersetzung und Erläuterungen veröffentlicht

Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)

3

Bürger von Mantua waren, mußten sie dennoch nach einer formellen Petition vom Herzog zur Prüfung zugelassen werden und eine sehr viel teurere Zulassungsgebühr zahlen als die christlichen Kollegen.8 Außerdem wurden sie in ein Sonderregister eingetragen und hatten nicht die gleichen Privilegien wie die anderen Ärzte. Nach der Bezahlung der Gebühren und nach der erfolgreichen Disputation zweier Themen, eines aus der Physik des Aristoteles und eines aus den Aphorismen des Hippokrates, die ihm entsprechend den Satzungen der Ärztekammer9 einen Tag davor aufgegeben wurden, entschied die Prüfungskommission einstimmig seine Aufnahme (3. Dezember 1566).10 Die Rahmenbedingungen für jüdische Ärzte zur Ausübung ihres Berufes hatten sich aber ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erheblich verschlechtert. Papst Paul IV. (1555-1559) hatte in seiner Bulle cum nimis absurdum vom 14. Juli 1555 unter anderem jüdischen Ärzten die Behandlung von Christen ausdrücklich untersagt.11 Das Verbot war nicht neu. Es hatte schon früher ähnliche Verordnungen durch Konzile oder Päpste gegeben, neu war aber jetzt die rigorose Umsetzung im Geiste der Gegenreformation. Der etwas toleranteren Regierung des Papstes Pius IV. (1559-1565), der in der Bulle Dudum a felicis recordationis (27. Februar 1562) die Regelungen seines Vorgängers abgemildert hatte und den Juden erlaubte, „jeglichen Beruf und Handel", also auch die Medizin, ausüben zu dürfen („[...] et quascumque artes, et mercaturas quarumcumque mercium, et rerum humano usui quomodolibet necessariarum [...] exercere

worden: G. Carra/A. Zanca, Gli Statuti del Collegio dei Medici di Mantova del 1559 (Accademia Virgiliana di Mantova. Atti e memorie. Serie speciale della Classe di Scienze Fisiche e Tecniche N. 2), Mantova 1977. 8

Der zur Prüfung zugelassene jüdische Arzt mußte dem Vorsitzenden der Ärztekammer zwei goldene Sonnenskudi, den zwei Ältesten je ein Skudo und der gesamten Ärztekammer 20 Skudi bezahlen. Nach der Prüfung und dem Erhalt des Diploms bekam noch der Notar drei Lire und der Bidell 7,5 Soldi von ihm. Zum Vergleich hatte der christliche Arzt nur 40 Soldi für den Vorsitzenden, 30 Soldi für die anderen Mitglieder der Ärztekammer, zehn Soldi für den Notar und 7,5 für den Bidell zu zahlen. Siehe Cana/Zanca, Gli Statuti del Collegio, S. 1 8 , 3 0 , 5 0 - 5 1 , 7 0 - 7 1 .

9

Ibid., S. 18-19,50-51. Der Text dieser Urkunde und der weiteren, die im folgenden zitiert werden, ist im Anhang (siehe unten S. 305ff.) wiedergegeben. Portaleone gibt in seiner Autobiographie ein anderes Datum an: „im Jahre 5326, am 19. Elul", was dem 3. September 1566 nach dem christlichen Kalender entspricht. Entweder es ist ihm ein Gedächtnisfehler unterlaufen, oder es handelt sich um die Zustimmung der Ärztekammer zur späteren, ausgeführten Prüfung.

10

11

Siehe Bullarium Privilegiorum ac Diplomatum Romanorum Pontificum Amplissima Collectio, cui accessere Pontificum omnium vitae, notae et indices opportuni. Opera et studio Caroli Cocquelines. Tomus quartus, pars prima. Ab Hadriane VI. Ad Paulum IV. scilicet ab anno 1521 Ad 1559, Romae 1745, S. 321: „Et qui ex eis media fuerint, etiam vocati, et rogati, ad curam Christianorum accedere, aut illi interesse nequeant."

4

Einleitung

[...]"), 12 folgte der strenge Pius V. (1566-1572). In der Bulle Romanus Pontifex vom 19. April 1566 betonte er die Gültigkeit der Bulle Pauls IV. in ihrer Gesamtheit und verpflichtete „sub interminatione divini judidi" alle katholischen Fürsten zu ihrer Einhaltung.13 Das relativ liberale Verhalten der Gonzagas gegenüber den jüdischen Ärzten änderte sich, als der Herzog Guglielmo Gonzaga auf Druck des Gesandten des Papstes („Visitatore Apostolico"), des Bischofs Angelo Peruzzi, seine Politik den strengeren päpstlichen Verordnungen anpaßte. Am 1. März 1576 erließ der Herzog ein Edikt, in dem man unter anderem den jüdischen Ärzten verbot, ohne Sondergenehmigung Christen zu behandeln. Für jeden „gesetzwidrig" behandelten Patienten war eine Strafe in Höhe von zehn Skudi vorgesehen.14 Der Herzog hatte sich aber die Freiheit errungen, Sondergenehmigungen und Privilegien einzelnen erteilen zu dürfen. Nicht nur die Gonzagas, sondern auch die anderen italienischen Fürsten versuchten, einerseits die Unabhängigkeit ihrer Politik auch gegenüber ihren jüdischen Untertanen zu bewahren und andererseits gute Beziehungen mit Rom zu pflegen. Meistens wurden nur jene Einschränkungen gegen die Juden eingeführt, die das wirtschaftliche Wohl des Staates, zu dem die Juden einen nicht unwesentlichen Beitrag leisteten, nicht gefährden konnten.15 Es war ein harter Schlag für alle jüdischen Ärzte, die durch ihren Beruf ihren Lebensunterhalt bestritten. Die negativen Folgen bekamen aber auch die christlichen Patienten zu spüren. Einige kleine Ortschaften auf dem Land, die keinen anderen Arzt als einen jüdischen hatten, fanden sich plötzlich ohne jegliche medizinische Versorgung. Beispielhaft ist der Fall der Gemeinde von Sermide, einem Ort in der Nähe von Mantua. Dort waren der Onkel von Abraham Portaleone, auch er namens Abraham,16 und sein Sohn Leone als Ärzte tätig. Infolge des herzoglichen Edikts mußten sie ihren Beruf aufgeben. Leone 12

Bullarium, IV/2, S. 105.

13

Ibid., S. 286: „Nos igitur cupientes, ut constitutio, statuta, et ordinationes huiusmodi perpetuis futuris temporibus observentur, motu proprio, et ex certa nostra scientia, et non ad alicuius alterius Nobis super hoc oblatae petitionis instantiam, sed ex mera nostra deliberatione, Constitutionen!, statuta, et ordinationes huiusmodi, et prout illa concemunt, omnia, et singula in dicti Praedecessoris literis contenta, et inde secuta quaecumque, auctoritate Apostolica praesentium tenore approbamus, innovamus, et confirmamus, et robur perpetuae firmitatis obtinere decernimus, volumus, et sub interminatione divini judicii praecipimus, et mandamus, et omnia in posterum observari firmiter, non solum in terris, et dominiis Nobis subjectis, sed etiam ubique locorum."

14

Simonsohn, History of the Jews, S. 2 6 , 1 1 3 - 1 1 5 ; V. Colorni, „Gli ebrei a Sermide. Cinque secoli di storia", in: Judaica minora, S. 4 0 9 - 4 4 2 : 4 1 8 .

15

Siehe R. Segre, „La Controriforma: espulsioni, conversion!, isolamento", in: C. Vivanti (Hrsg.), Storia d' Italia. Annali 11. Gli ebrei in Italia, 2 Bde., Torino 1996: Bd. I, S. 7 0 9 778: 7 1 8 - 7 2 0 , 7 2 9 - 7 3 0 , 744-753.

16

Er ist der Abraham II. Siehe unten S. 14 den Stammbaum der Familie Portaleone.

Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)

5

verließ Sermide, und sein alter Vater, der über 80 Jahre alt war, mußte am 3. Juli 1577, nachdem er seine Ersparnisse aufgezehrt hatte, notgedrungen dem Herzog eine Bittschrift einreichen, um die Genehmigung zur Berufsausübung zu bekommen. Bemerkenswert ist, daß seine Bittschrift von einer anderen, ähnlichen begleitet war, die vom Pfarrer mit vier anderen Geistlichen, vom Konsul von Carbonara Po und von 19 weiteren eingesehenen Mitgliedern der Gemeinde von Sermide unterschrieben war. Sie betonten, daß Abraham und sein Sohn Leone bis dahin der Gemeinde immer gute Dienste erwiesen hätten und von allen geschätzt seien. Infolge des Edikts sei aber der Sohn gezwungen, das Land zu verlassen, und die ganze Gemeinde habe keinen Arzt mehr. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, daß Vater und Sohn immer ein tadelloses Leben geführt und ihre Patienten aufgefordert hätten, die letzten Sakramente zu empfangen.17 Der Herzog erteilte infolgedessen am 27. Oktober 1577 Abraham und seinem Sohn Leone, der nach Sermide zurückkehrte, die Genehmigung. In Mantua bekam Abraham (III.) ben David Portaleone, der Neffe Abrahams aus Sermide, vom Herzog Guglielmo Gonzaga zuerst (8. April 1576) eine Sondergenehmigung zur Behandlung eines Verwandten, Massimiliano Gonzagas.18 Durch die Vermittlung einiger Adliger und Geistlicher bemühte sich Portaleone beim Herzog um das Privileg, vom Berufsverbot ausgenommen zu werden. In einem an einen seiner Gönner gerichteten Brief schildert Portaleone die prekäre finanzielle Lage seiner Familie und hofft, daß der Herzog auf die Petition vieler Adliger und Geistlicher, die für ihn eingetreten waren, gnädig eingeht.19

17

Archivio di Sato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2601. Die beiden Bittschriften sind von Colorni („Gli ebrei a Sermide", S. 430-431) veröffentlicht worden. Der Hinweis, daß die Portaleones ihre Patienten immer sorgfältig aufforderten, die Sakramente zu empfangen, ist nicht nebensächlich. Eine der Begründungen des Berufsverbots für jüdische Ärzte bei den Christen war die Befürchtung, daß sie für die Rettung der Seele ihrer Patienten nicht sorgten. Papst Pius V. hatte in der Bulle Supra gregem (8. März 1566) den Ärzten untersagt, ihre schwer erkrankten Patienten weiterzubehandeln, wenn diese binnen drei Tagen nicht gebeichtet hätten. Den Ärzten, die sich an diese Verordnung nicht hielten, drohten unter anderem der Entzug ihrer Zulassung und der Ausschluß aus der Ärztekammer. Schon das vierte Laterankonzil (1215) hatte bestimmt, daß die erste Pflicht eines Arztes, der zu einem schwer erkrankten Patienten gerufen wurde, war, einen Priester zu rufen. Siehe Larry P. Hogan, Healing in the Second Temple Period, Fribourg/Göttingen 1992, S. 26 Anm. 34, und G. Veltri, Magie und Halakha, Tübingen 1997, S. 280-281.

18

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F Π 7, 2205. Siehe auch Colorni, „Gli ebrei a Sermide", S. 418-419. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2597. Der Brief vom 25. April 1576 hat keine Empfängerangabe. Ich vermute aber, er ist an den Grafen Castiglione gerichtet, der sich später noch oft für Portaleone einsetzte.

19

6

Einleitung

Das ersehnte Privileg, auch Christen behandeln zu dürfen, wurde Portaleone dann tatsächlich am 18. September 1577 erteilt.20 Entgegen den generellen Behauptungen besteht kein Anlaß zu glauben, daß er 1573 zum Hofarzt ernannt wurde,21 da weder Portaleone dieses in seiner Lebenszusammenfassung erwähnt, noch läßt es sich durch eine Urkunde des Staatsarchivs von Mantua belegen. Vielmehr wurde er manchmal für die Behandlung von Mitgliedern der Familie Gonzaga hinzugezogen. Neben dem Fall von Massimiliano Gonzaga ist noch ein weiterer dokumentiert. Im Staatsarchiv von Mantua ist ein eigenhändiger Befund Portaleones über Ippolito Gonzaga aufbewahrt, den Portaleone am 14. August 1595 zum Arzt Alessandro Montefiore schickte.22 Die Wirkung dieses Privilegs war jedoch nicht von langer Dauer. Aus dem Briefwechsel zwischen dem Gönner Portaleones, dem Grafen Camillo Castiglione, und dem herzoglichen Hof und Rom geht hervor, wie Portaleone sein Leben lang kämpfen mußte, um seinen Beruf ausüben zu dürfen.23 Schon drei Jahre später mußte Portaleone um sein Privileg fürchten. In einem an seinen Neffen Marcello Doriati, Sekretär des Herzogs, gerichteten Brief (21. Mai 1580) wies der Graf Camillo Castiglione auf die Privilegien hin, die schon früher Päpste und die Gonzagas den Ahnen Portaleones erteilt hatten. Außerdem solle der Herzog wissen, daß der Großherzog in Florenz die Veröffentlichung der päpstlichen Bulle nicht erlaubt hatte und daß die jüdischen Ärzte in Florenz und Ferrara ihren Beruf frei ausüben durften. Diese Gründe könne seine Hoheit eventuell bei einer Besprechung mit dem Gesandten des Papstes anführen.24 Bürokratische Unordnung scheint Portaleone zusätzliche Schwierigkeiten verursacht zu haben. Denn am 19. November 1580 schrieb der Staatssekretär, Aurelio Zibramonti aus Revere, einem Ort auf dem Lande in der Nähe von Mantua, dem Sekretär und Kammerherrn Aurelio Pomponazzo in Mantua, der Herzog befehle, die an ihn zu ihrer Zeit eingereichten Bittschriften, damit „messer Abramo medico" die Medizin ausüben dürfte, und das Dekret seiner Genehmigimg in dem Archiv aufzufinden und ihm zu schicken.25 Pomponazzo 20

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 11, Libri dei mandati 85/39 fol. l l l v und Kopie in F II 8,2614. Siehe auch Colomi, „Gli ebrei a Sermide", S. 418-419.

21

So zum Beispiel Encyclopaedia Judaica, Bd. 13, Sp. 908. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2666.

22 23

Es ist bisher immer angenommen worden, daß Portaleone nach der Genehmigung des Herzogs Guglielmo Gonzaga (18. September 1577), die von seinem Nachfolger Vincenzo I. am 3. Dezember 1587 und von Papst Gregor XIV. am 11. August 1591 bestätigt wurde, auch bei den Christen seinen Beruf ungestört ausüben durfte. So zum Beispiel H. Friedenwald, The Jews and the Medicine, Baltimore 1944 [New York 1967], S. 598-599 und der Beitrag in Encyclopaedia Judaica, Bd. 13, S. 908-909.

24

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8,2612. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2611.

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Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)

7

aber antwortete, daß man nur das Dekret bezüglich Abraham Portaleone aus Sermide (das heißt dem Onkel von Portaleone) finden könne und daß er sich von dem Beamten, der sich damals mit dieser Angelegenheit beschäftigt habe, und von Portaleone selbst habe erklären lassen, wie die Dinge gelaufen seien.26 Die Lage wurde für Portaleone nicht besser. Denn Papst Gregor XIII. (1572-1585) hatte mit der am 30. Mai 1581 veröffentlichten Bulle Alias piae memoriae den jüdischen Ärzten nochmals ausdrücklich verboten, ihren Beruf bei den Christen auszuüben. Das wiederholte Verbot ist zugleich auch ein Beweis des Scheiterns der früheren ähnlichen päpstlichen Bullen. Der Graf Castiglione schrieb am 19. Mai 1581 an seinen Neffen, Marcello Donati, Arzt und Sekretär des Herzogs, damit er beim Herzog ein gutes Wort für Portaleone einlege und die beigefügte Petition, die von einer „Legion von Menschen" unterschrieben wurde, dem Fürsten zu einem günstigen Zeitpunkt einreiche. Sollte dieses Verfahren scheitern, würde es zum Nachteil der ganzen Stadt sein und ein wenig auch eine Schmach für ihn bedeuten.27 Portaleone bemühte sich auch seinerseits, die Bittschrift zu untermauern. Am 21. Mai schickte er, sehr wahrscheinlich dem Grafen Castiglione (der Name des Empfängers ist nicht erhalten), alle Urkunden, die in seinem Besitz waren. Damit konnte man beim päpstlichen Gesandten, Kardinal Famese, beweisen, wie schon seine Ahnen von den Markgrafen von Mantua, sein Vater und sein Onkel von Leo X. begünstigt wurden. Und drei Tage später, als der Kardinal Farnese in der Stadt eintraf, schrieb Portaleone einen weiteren Brief, in dem er darauf hinwies, daß die Bulle des Papstes in anderen Staaten nicht veröffentlicht wurde. Er wisse mit Sicherheit, daß die Gräfin von La Mirandola sich geweigert habe, und bemühe sich, für Turin und Florenz Beweise zu bekommen.28 Die Verhandlungen mit dem Kardinal hatten entweder überhaupt nicht stattgefunden oder waren erfolglos ausgegangen. Portaleone schrieb am 3. Juli 1581 einen resignierten Brief, in dem er seine Absicht verkündete, Mantua zu verlassen. Möge ihm der Fürst wenigstens eine schriftliche Bestätigung geben, daß er in der Ausübung seines Berufs verhindert sei, damit er zu gegebener Zeit auswandern könne. Er würde dies schweren Herzens und notgedrungen tun, aber seine Lage sei unerträglich. Mit seinem Beruf sichere er den Lebensunterhalt seiner Mutter, seiner Frau und seiner fünf Kinder. Schmerzlich sei es auch, daß andere Ärzte anderswo die Genehmigung bekommen hätten. Es sei ihm der Fall eines jüdischen Arztes bekannt, der in Sassuolo dank der Bemühungen seiner Exzellenz, Giacomo Buoncom-

26 27 28

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8,2612. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2615. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8,2614.

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Einleitung

pagno,29 frei seinen Beruf ausüben dürfe. In Mantua ließen seine Feinde, die vom Bischof von Mantua, Marco Fedeli Gonzaga, unterstützt wurden, anscheinend nicht zu, daß er eine solche Genehmigung bekommen könne.30 Portaleone war anscheinend ein gefährlicher Konkurrent für viele seiner christlichen Kollegen. Das Ansehen, das er auch über die Grenzen des Herzogtums hinaus genoß, hatte wahrscheinlich Neid hervorgerufen.31 Auch aus den Briefen des Grafen Castiglione geht hervor, daß die christlichen Ärzte in dem Bischof einen guten Verbündeten gegen Portaleone gefunden hatten. Am 2. August 1581 schrieb Graf Castiglione dem Sekretär des Herzogs, um ihm mitzuteilen, daß der Bischof beabsichtige, die Bulle des Papstes gegen die jüdischen Ärzte wieder zu veröffentlichen, und ausdrücklich dem Arzt Portaleone gedroht habe, ihn schwer zu bestrafen, wenn er seinen Beruf ausüben sollte. Der arme Mann habe doch eine solche Persekution nicht verdient - schreibt der Graf weiter - , und die Stadt brauche solche guten Ärzte.32 Der Bischof, der vom Herzog angeschrieben wurde, bestritt, solche Absichten zu haben: es seien bloß böse Zungen, die ihn beim Herzog in Verruf bringen möchten. Er hoffe aber, daß Gott ihn beschützen und seine Unschuld beweisen werde. Gegen Portaleone habe er keine Strafmaßnahme ergriffen, obwohl er erfahren hätte, daß eine christliche Frau von diesem jüdischen Arzt behandelt worden sei.33 Graf Castiglione warnte aber noch am 6. August 1581, daß der Bischof nicht nur durch Salomone Vita Portaleone gedroht habe und beabsichtige, die Bulle erneut zu veröffentlichen, sondern er sogar aus Rom eine neue Bulle gegen die ganze „generatione hebraica" anfordern möchte.34 In der Tat bat der Bischof vier Tage später beim Sekretär des Herzogs, Aurelio Zibramonti, um die 29

Giacomo Buoncompagno bzw. Buoncompagni (1548-1612), Herzog von Sora und Generalgouverneur der Heiligen Römischen Kirche, war ein Angehöriger der Familie des Papstes Gregor XIII.

30

Ibid. Marco Fedeli Gonzaga regierte die Diözese von Mantua von 1574 bis 1583. Er bemühte sich um die Umsetzung der tridentinischen Reformen. Nach dem Besuch des Apostolischen Visitators Angelo Peruzzi hielt er eine Synode seiner Diözese ab, um neue Verordnungen im Sinne der Gegenreformation zu verabschieden. Dazu siehe: G. Pezza-Rossa, Storia cronologica dei Vesami mantovani, Mantova 1847, S. 31-32. Über die Beziehungen zwischen der Diözese von Mantua und dem Heiligen Stuhl zu dieser Zeit siehe die unveröffentlichte Doktorarbeit von M. L. Fornari, Sinodi e visite pastorali a Mantaoa in etä Controriformistica (1575-1612), Universitä degli Studi di Padova. Facoltä di Magistero Anno Accademico 1968-1969.

31

In dem Staatsarchiv zu Mantua (Archivio Gonzaga, F II 8, 2649) ist ein Brief vom 16. September 1590 erhalten, den Portaleone an den Sekretär des Herzogs richtete, um befreit zu werden, zum Herrn von Correggio zu fahren, dessen Arzt, Paolo Grasso, Portaleone für eine Konsultation gerufen hatte.

32

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8,2615. Ibid. Ibid.

33 34

Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)

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Genehmigung, wenigstens im Dom die Bulle veröffentlichen zu dürfen, wie es auch der Bischof von Ferrara getan habe. Er sei für ihn unmöglich, den Anforderungen des Papstes und des Kardinals Savello nicht nachzugehen.35 Im September scheint die Bitterkeit des Bischofs gegen Portaleone nachgelassen zu haben. Castiglione setzte sich nochmals beim Herzog zugunsten Portaleones ein und wies darauf hin, daß der Bischof nicht mehr so heftig gegen ihn sei. Er habe vielleicht gemerkt, daß seine Bitterkeit keine guten Gründe habe.36 Das war aber ein trügerisches Gefühl. Der Bischof wolle - so schreibt Graf Castiglione dem Sekretär des Herzogs am 2. Oktober 1581 - Portaleone nur deshalb hart bestrafen, weil er aus purem Mitleid einem schwerkranken Apotheker, der von einem anderen christlichen Arzt erfolglos behandelt wurde, einige Ratschläge gegeben habe, ohne irgendwelches Honorar zu bekommen. Möge sich der Sekretär beim Herzog für den armen jüdischen Arzt einsetzen, zumal er erfahren habe, daß auch der Herzog mit einer solchen Hetzkampagne gegen diesen Arzt nicht einverstanden sei.37 Tatsächlich war die herzogliche Diplomatie inzwischen aktiviert. Bereits am 25. Juli 1581 hatte der Sekretär, Aurelio Zibramonti, den Botschafter des Herzogs in Rom, Cesare Strozzi, informiert, daß der Patriarch von Venedig die zwei Bullen des Papstes - eine, die das Berufsverbot für die jüdischen Ärzte verhängte, und eine, die die Juden im Fall der Gotteslästerung und anderer Verbrechen der Inquisition unterstellte - nicht veröffentlichen würde, solange er nicht die Zustimmung der Republik hatte. Diese Informationen könnten dem Botschafter bei seinen Verhandlungen mit der römischen Kurie weiterhelfen.38 Der Herzog selbst hatte beim Kardinal Farnese bereits Schritte unternommen, damit er vom Papst eine Genehmigimg für Portaleone erlangen würde, wie man einem Brief des Grafen Castiglione an den Staatssekretär Marcello Donati am 15. September 1581 entnehmen kann. Es sei aber ratsam so Castiglione weiter -, den Generalgouverneur Giacomo Buoncompagni nicht einzuschalten, um den Kardinal nicht zu beleidigen.39 Die Verhandlungen hatten zu einer Kompromißlösung geführt. Der Papst genehmigte Portaleone, auch Christen zu behandeln, aber nur unter der Bedingung, daß er von einem christlichen Kollegen begleitet werde.40 Da aber die christlichen Kollegen nicht die besten Freunde Portaleones waren, erwies sich diese halbe Lösung als un-

35 * 38 39 40

Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2622 (Brief des Staatssekretärs Tullio Petrozzani vom 10. März 1583); 2624 (Brief des Grafen Castiglione vom 6. März 1583).

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Einleitung

praktikabel. Am 6. März 1583 schrieb der Graf Castiglione dem Staatssekretär, Tullio Petrozzani, damit er sich beim Herzog für Portaleone einsetze.41 Die Anfeindungen gegen Portaleone und die gespannte Beziehung zu dem Bischof von Mantua dauerten aber weiter an. Der Prediger der Kirche von „San Pietro" hatte am Sonntag von der Kanzel aus alle diejenigen verteufelt, die den „jüdischen Arzt" aufsuchen würden. Der gute Pater aber hatte einige Tage danach Portaleone gebeten, einen seiner Mitbrüder zu behandeln!42 Der Herzog war wegen solcher Hetzkampagnen besorgt. Er befahl dem Staatssekretär Petrozzani, dem Gouverneur von Mantua zu schreiben. Er solle dem Bischof mitteilen, daß seine Hoheit über das Verhalten der Prediger überhaupt nicht erfreut sei. In solchen Angelegenheiten sei es Pflicht der Pater, den Inhalt ihrer Predigten den Wünschen seiner Hoheit anzupassen oder sie wenigstens mit dem Bischof im voraus zu besprechen. Der Bischof seinerseits solle sich über die Wünsche seiner Hoheit informieren. Im Auftrag seiner Hoheit habe er (das heißt der Absender des Briefes, der Staatssekretär Tullio Petrozzani) dem Bischof bereits die päpstliche Genehmigung mitgeteilt, wonach der Arzt Abraham Portaleone in Begleitung eines christlichen Arztes auch Christen behandeln dürfe. Die Prediger sollten ermahnt werden und ihren Fehler öffentlich von der Kanzel aus widerrufen.43 Der Bischof jedoch änderte nicht sein feindliches Verhalten gegenüber Portaleone. In einem Brief vom 14. März 1583 beklagte der Graf Castiglione, daß die Gläubigen und die Pfarrer wegen der Worte des Predigers von „Sein Pietro" sehr verunsichert seien und Portaleone selbst nicht wisse, wie er sich verhalten solle. Da die päpstliche Genehmigung nicht verkündet worden sei, hätten die Gläubigen Angst, exkommuniziert zu werden, wenn sie sich vom „jüdischen Arzt" (das heißt Portaleone) behandeln ließen. Außerdem würden die Pfarrer die Absolution verweigern. Wenn man wolle, daß die Genehmigung des Papstes wirke, solle man den Bischof dazu bewegen, die Pfarrer darüber zu informieren, und Portaleone selbst mündlich oder schriftlich zu beruhigen.44 Prompt folgte am folgenden Tag ein weiterer Brief von Tullio Petrozzani mit einer erneuten Mahnimg an den Bischof.45 Dieser aber blieb unerschütterlich. Castiglione riet daher, der Herzog solle seinem Botschafter in Rom, Aurelio Zibramonti, schreiben, sich vom Papst eine Bestätigung seiner Genehmigung zu besorgen, um den Bischof zufriedenzu41 42

43

44 45

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8,2624. Ibid. Brief des Grafen Camillo Castiglione an den Staatssekretär Tullio Petrozzani vom 7. März 1583. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2622 (Brief des Staatssekretärs Tullio Petrozzani vom 10. März 1583). Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2624. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2622. Der Name des Empfängers fehlt, aber es ist anzunehmen, daß der Brief an den Gouverneur von Mantua gerichtet war.

Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)

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stellen.46 Der Bischof akzeptierte schließlich, daß Portaleone in Begleitung eines christlichen Kollegen seinen Beruf ausüben durfte. Würde sich Portaleone an diese Bedingung nicht halten, müßte er 200 Skudi als Strafe bezahlen. Dies war aber offensichtlich eine unmögliche Bedingung. Denn viele Patienten waren nicht bereit, die Kosten für zwei Ärzte zu übernehmen, und selbst wenn, mußte Portaleone immer einen Kollegen zur Begleitung finden! Die anderen Ärzte hatten offensichtlich diese Hetzkampagne gegen Portaleone geschürt, um einen gefährlichen Konkurrenten zu beseitigen, und wären sicher nicht willens gewesen, ihm zu helfen. So mußte der Graf Castiglione erneut eintreten. In einem Brief vom 6. April 1583 beschreibt er den Fall Portaleones als eine Hydra mit immer neu entstehenden Problemen und Schwierigkeiten. Er schlägt vor, daß Portaleone bei normalen, ungefährlichen Krankheiten allein seine Patienten behandeln dürfe, und nur bei Patienten, die schwer erkrankt und in Lebensgefahr seien, einen christlichen Kollegen bei sich haben müsse.47 Die relativ milde Politik des neuen Papstes, Sixtus V. (1585-1590), gab neue Hoffnung auf eine endgültige konkrete Lösung. Mit der Bulle Christiana pietas (22. Oktober 1586) hatte Sixtus V. den Juden unter anderem erlaubt, die Medizin frei zu praktizieren. Das hatte aber keine direkte Auswirkung auf die Probleme, die Portaleone in Mantua hatte. Zwei Jahre später schrieb der Staatsrat Federico Cattaneo an den Bischof von Melfi, Matteo Brumani, in Rom von Portaleone. In der Stadt Mantua lebe ein Arzt namens Abramo Portaleone schreibt Cattaneo - , dessen Vater und Ahnen bereits den gleichen Beruf ausgeübt hätten. Er habe an der Universität zu Pavia promoviert und sei in die Ärztekammer von Mantua aufgenommen worden, wo er auf Dekret des Herzogs Bürger sei. Seit 14 Jahren übe er mit großer Anerkennung den ärztlichen Beruf aus, und er fordere immer seine Patienten auf, auch an ihre Seele zu denken. Er habe bereits auf Betreiben des verstorbenen Herzogs Guglielmo von Papst Gregor XIII. die Erlaubnis bekommen, in Begleitung eines christlichen Arztes auch Christen behandeln zu dürfen. Da diese Bedingimg aber mehrere Schwierigkeiten verursache, sei es Wunsch seiner Hoheit, vom Papst zu erlangen, daß diese Bedingung aufgehoben werde. Das wäre zum Wohl der ganzen Stadt, vieler Adliger und der Armen. Es sei auch zu befürchten, er könne die Stadt, der es an guten Ärzten mangele, verlassen. Um den Antrag des Bischofs zu untermauern, fügte der Staatsrat Cattaneo einen Auszug der Bulle vom 22. Oktober 1586 sowie die Genehmigungen des Papstes Leo X. bei, mit denen die Ahnen und der Vater von Portaleone begünstigt wurden. Die Antwort aus Rom ließ aber auf sich warten. Herzog Vincenzo I. entschied

46

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8,2624. Brief vom 20. März 1583. Der Brief ist nicht adressiert, er ist aber sehr wahrscheinlich an den Staatssekretär Petrozzani gerichtet.

47

Ibid. Siehe auch oben S. 5 Anm. 17.

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Einleitung

jedoch von sich aus, das Privileg seines Vorgängers zu bestätigen (3. Dezember 1587). Die päpstliche Gnade hatte aber Abraham Portaleone dringend nötig, um sich gegen seine Widersacher durchsetzen zu können! Mit den Anfeindungen der christlichen Ärzte gegen Portaleone mußte sich noch 1591 der Präsident des Senats, Camillo Gattico, beschäftigen, der in einem an den Herzog Gonzaga gerichteten Brief beklagte, wie sich die christlichen Ärzte den Verordnungen des Herzogs zugunsten Portaleones gegenüber ungehorsam zeigten.48 Im selben Jahre, am 11. August 1591, wurde von Papst Gregor XIV. das Privileg von 1577 bestätigt, wonach Portaleone ohne jegliche Einschränkung seinen Beruf ausüben durfte. Doch noch 1597 schrieb der Vikar der Diözese von Mantua, Ercole Riva, dem Kardinal Alessandrino in Rom, um Anweisungen zu bekommen, wie er sich gegenüber den zahlreichen Privilegien und Genehmigungen (und insbesondere dem Privileg Gregors XIV.), die Portaleone anführen konnte, verhalten solle.49 Ab diesem Jahr läßt sich der Verlauf der Geschichte nicht mehr verfolgen. Insgesamt gewinnt man aus diesen Briefen den Eindruck, daß sich der Fall Portaleones in ein Machtspiel der großen Politik zwischen Mantua und Rom einfügt, in dem sich der Herzog durch eine kluge Diplomatie bemüht, seine Unabhängigkeit von Rom zu bewahren, ohne sich zugleich in einen offenen Streit einzulassen. Am 25. Februar 1576 konnte Portaleone einem hinterhältigen Angriff, der aus unerklärten Gründen von einem gewissen Agostino, Sohn eines Raffaello, verübt wurde, unverletzt entkommen. Dieser Vorfall, welchen Portaleone in seiner Lebensbeschreibung merkwürdigerweise nicht erwähnt hat, wird in einem von Samuel David Luzzatto 1860 in der Zeitschrift Otzar Nechmad veröffentlichten Brief Isaak Chajjim (Vitale) Cantarinis (1644-1728) an den Pastor Chr. Th. Unger erzählt. Ein Wendepunkt im Leben Portaleones war ein plötzlicher Schlaganfall im Jahre 1605, der ihn linksseitig lahmte. In seiner Erkrankung sah Portaleone eine mahnende Strafe Gottes wegen seiner Vorliebe für die Medizin, die Philosophie und das profane Wissen allgemein, die ihn veranlaßt hatte, die Torah zu vernachlässigen. Als Zeichen seiner Bekehrung beschloß Portaleone im Jahre 1606, sein Hauptwerk Shilte ha-gibborim („Heldenschilde") zu verfassen, das er ein Jahr später beenden konnte und seinen drei Söhnen Eliezer, Yehudah und David, der auch Arzt war, widmete.50

48

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2654. Brief des Präsidenten des Senats, Camillo Gattico, vom 23. April 1591.

49

Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, F II 8, 2671.

50

Shilte ha-gibborim, S. 186.

Zu Abraham ben David Portaleone (1542-1612)

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Außer den Shilte ha-gibborim, seinem einzigen auf hebräisch geschriebenen Werk, hat Portaleone noch zwei Traktate auf lateinisch geschrieben, nämlich: Dialogi tres de auro, in quibus non solum de auri in re medica facilitate, verum etiam de specißca eius et ceterarum rerum forma seu duplici potestate, qua mixtis in omnibus ilia operatur, ad Sereniss. Dom. Guil. Gonzagam (Venetiis 1584). Ein weiterer medizinischer Traktat, Consilia Medica, blieb unveröffentlicht. 51 Portaleone starb in Mantua a m 29. Juli 1612. 5 2

51 52

J. Fürst, Bibliotheca Judaica, 3 Bde., Leipzig 1863 [Hildesheim 1960], Bd. III, S. 115. Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, registro necrologico, 28, 254, n. 91. Siehe auch D. Kaufmann, „Jewish Ethical Wills. Texts and Additions", in: Jewish Quarterly Review Old Series 4 (1892), S. 333-341:333-336.

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Einleitung

Stammbaum der Familie Portaleone53

53

Vgl. Colomi, „Note per la biografia", S. 182. D. Kaufmann, „Leone de Sommi Portaleone, der Dramatiker und Synagogengründer von Mantua", in: Gesammelte Schriften, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1915, Bd. 3, S. 303-318:314.

Aufbau und Struktur der Shilte ha-gibborim

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2. Aufbau und Struktur der Shilte ha-gibborim Der Titel Shilte ha-gibborim, der dem Hohenlied (Hld 4,4) entnommen ist, hatte schon vor Portaleone Verwendung für hebräische Werke gefunden. So hatte bereits einer von Portaleones Lehrern, Yaqov Fano ben Yoav Elia aus Ferrara, eine kleine Liedersammlung, die im Jahre 1556 in Ferrara erschienen war,54 so betitelt. Auch die Anmerkungen Yehoshua Bo'as Barukhs zum Werk Isaak ben Yaqov Alfasis, die in Sabbioneta im Jahre 1554 zusammen mit dem Alfasi gedruckt wurden, waren mit Shilte ha-gibborim betitelt.55 Auf dem Titelblatt der Shilte ha-gibborim Portaleones wird unter anderem angegeben, daß das Buch in Mantua im Schöpfungsjahr 5372 (= 1612) „bemiswato u-be-beto" („in seinem Auftrag und in seinem Haus") gedruckt wurde. Bei der Beschreibung des griechischen Alphabets, die als Einleitung dient, erwähnt Portaleone den Namen des Druckers, Rabbi Moshe Elishama ben R. Israel Sifroni aus Guastalla, den Portaleone aus Venedig eigens bestellt hatte, um sein Buch zu drucken.56 Die Shilte ha-gibborim sind in vier Teile gegliedert. Drei „Schilde", so nennt Portaleone die Hauptteile seines Buches, bestehen aus Auszügen aus der Bibel, dem Talmud, den Midrashim und dem Zohar, denen eine ausführliche Beschreibung des Jerusalemer Tempels in 90 Kapiteln vorangestellt wird. Portaleone verfaßte dieses Werk kurz vor seinem Tod als sein geistiges Vermächtnis für seine drei Söhne. Der vollständige Titel lautet: „Buch der Heldenschilde und der drei Wehrschilde, geordnet für den Kampf der Torah, in den sie (kriegsmäßig) gegliedert mit einem zweischneidigen Schwert in ihrer Hand ausrückten, um die Diener des H(errn), die für ihre Seele fürchten, zum guten und ewigen Glück zu führen, das er (Gott) - er sei gepriesen! - für alle Gerechten in seiner Gnade verborgen hat, wenn sie davon Gebrauch machen." Schon mit dem Titel verkündet Portaleone sein Vorhaben, den rechten Glauben zu verteidigen und den Gerechten eine Hilfe zum frommen Leben anzubieten. Welcher Feind damit gemeint ist, der die Torah bedroht und vor dem sich der Gläubige in acht nehmen muß, erklärt Portaleone seinen drei Söhnen in 54

55 56

Fürst, Bibliotheca, Bd. 1, S. 274; M. Steinschneider, Catcdogus librorum hebraeorum in bMiotheca bodleiana, 2 Bde., Berolini 1852-1860 [Ndr. Hildesheim 1998], Bd. 1, S. 1210. Fürst, Bibliotheca, Bd. 1, S. 35,92; Steinschneider, Catalogus, Bd. 1, S. 1210. L. Zunz, „Drucker und Drucke von Mantua", in: Zur Geschichte und Literatur, Berlin 1845 [Ndr. Hildesheim 1976], S. 258-259; Steinschneider, Catalogus, Bd. 2, S. 2884; Fürst, Bibliotheca, Bd. 3, S. 322. Das Druckpapier ist mit einem Wasserzeichen versehen, das eine Armbrust darstellt, deren Form dem Zeichen Nr. 767 des Katalogs von Briquet (L«s filigranes. Dictionnaire historique des marques du papier des leur apparition Oers 1282 jusqu' en 1600, 4 Bde., Genf 1907: Bd. I, S. 52) und dem Zeichen Nr. 2251 des Katalogs von Piccard (Wasserzeichen: Werkzeug und Waffen, Stuttgart 1980, Bd. IX, S. 1-2) sehr ähnlich ist.

Einleitung

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einem Brief, der dem Buch als zweite Einleitung vorangestellt ist. Anlaß zur Abfassimg des Buches sei, so berichtet Portaleone in diesem Brief, eine schwere Krankheit, die ihn linksseitig gelähmt habe. Er habe seine Krankheit als mahnende Strafe Gottes betrachtet, die ihn dazu veranlasse, seine Taten zu überprüfen und seine Sünden zu erkennen. Er sei nämlich so hochmütig gewesen, das Studium der Torah zu vernachlässigen, um der Philosophie und der Medizin nachzugehen. In seiner Jugend habe er es bevorzugt, sich „mit den verführerischen Worten der Weisen der Griechen" zu beschäftigen, anstatt den Meistern des jüdischen Volkes zu folgen. Er habe „das Vermächtnis der Gemeinde Jakobs" (Dtn 33,4) nicht gebührend gepflegt, weshalb sich der Herr gegen ihn erzürnt habe. Als Zeichen seiner Reue und als Wiedergutmachung seiner Sünde wolle er dieses Buch verfassen. Weiter schreibt Portaleone: Als ich aber meine Augen nach oben erhoben und in meinem Herzen es bereut hatte, sagte ich mir: Vielleicht wird meine Sünde gesühnt, wenn nach der Wiedergutmachung dessen, was ich verbrochen habe, ein Vater seinen Söhnen lehrt, daß sie durch den H(errn) ihr Recht bekommen (Jes 45,25), wenn sie seine Torah in ihre Herzen legen und Tag und Nacht darüber nachsinnen, um Umsicht und Besonnenheit zu bewahren (vgl. Job 3,21), und dadurch den Segen des Glücks auf sich zu ziehen (vgl. Prv 24,25). Nicht so die Frevler, die dem H(errn) ihren Weg verbergen (vgl. Jes 40,27), denn sie werden in die Hölle hinabsteigen und Gott im Land der Lebenden nicht sehen (vgl. Jes 38,II). 57

Das Buch hat eine deutlich religiöse und pädagogische Intention. Durch seine Lektüre sollen die Söhne erkennen, daß nur das Wort Gottes zählt. Um nicht der gleichen Sünde ihres Vaters zu verfallen, so fährt Portaleone fort, sollen sie ständig an der Torah festhalten und sie auf keinen Fall verlassen. Denn nur in der Torah liegt das wahre Wissen, nicht jedoch in den Worten der Menschen, die mit ihrer Pseudoweisheit den Geist des Frommen umgarnen und ihn vom Studium der Torah ablenken. Gegen den Einwand, wie man sich ohne Unterlaß mit der Torah beschäftigen und zugleich der alltäglichen Arbeit nachgehen könne - ein Problem, das schon die Rabbinen beschäftigte - , führt Portaleone Folgendes ins Feld: Ihr seid also keine freien Männer, um euch von ihr [der Torah] zu befreien, indem ihr sagt: Wie kann unsere Torah gewahrt und zugleich unsere Arbeit ausgeführt werden? Wenn ihr aber euch entsprechend dem Wort Davids, des Königs von Israel, auf ein Wunder nicht verlassen und euch nicht untereinander versorgen wollt, so hört auf die Antwort seiner Weisen, die deutlich geredet haben (vgl. Job 33,3): Die Handvoll sättigt nicht den Löwen, und die Grube wird von ihrem eigenen Schutt nicht voll (bBer 3b, bSan 16a). Deshalb laßt ihr keine Ruhe (Jes 62,7), denn es gibt vielerlei Arten und Weisen, sich mit der Torah zu beschäftigen, so daß sich die Arbeit mit ihr verbindet. Dann werdet

57

Portaleone, Shilte ha-gibborim, S. 2b.

Aufbau und Struktur der Shüte ha-gibborim

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ihr rein sein von jeglicher Sünde und Schuld, wenn ihr im Buch, in der Torah Gottes, deutlich und verständlich lesen und begreifen werdet, was ihr lest (Neh 8,8), wie uns unsere alten Weisen gelehrt haben. Ich habe also vor mir und vor euch einen reinen Tisch gedeckt, voll mit guten Lehren dreier Anordnungen, nämlich: Schrift, Mischna und Gemara, mit den zwei Schalen reinen Weihrauchs: Midrash Rabbot und die Erzählungen des Zohar, wie eine mit Saphir ausgelegte Arbeit (Ex 24,10).58

Um seinen Söhnen die Pflicht der ständigen Beschäftigung mit der Torah zu erleichtern, hat Portaleone nach der Vorlage des Sefer ha-ma'amadot59 und des Seder avodah nach der Ausgabe von Menahen Azariah Fano Auszüge aus der Bibel und aus rabbinischen und kabbalistischen Schriften zusammengefügt und in den drei „Schilden" angeordnet. Diese drei „Schilde" stellen den Gebets- und Meditationsteil des Buches dar und sind nach dem Ritual des Tempeldienstes stilisiert: Der erste „Schild" ist eine Aufstellung von jenen Bibellesungen, von denen man nach der Tradition annahm, daß sie die Männer der Standmannschaft bei der Darbringung des täglichen Morgen- und Abendopfers im Tempel zu rezitieren pflegten, mit Hinzufügung der dazu passenden Lektüren aus dem Talmud und dem Zohar. Der zweite „Schild" besteht aus weiteren Lesungen aus der Bibel, dem Zohar, dem Talmud und den Midrashim, die für das Gebet und die Meditation bei Einbruch der Nacht bestimmt sind. Schließlich werden im dritten „Schild" Lesungen über die verschiedenen Opferdarbringungen zu den Feiertagen vorgestellt. Alle drei „Schilde" bilden einen geordneten Zyklus von Gebeten und Meditationslektüren für das gesamte Jahr, sowohl für die normalen Wochentage als auch für die großen religiösen Feste des jüdischen Kalenders. Die Berufung auf das Ritual des Jerusalemer Tempels bei der Aufstellung der drei „Schilde" weist auf die tiefe religiöse Bedeutung dieser drei Teile der Shilte ha-gibborim hin. Nach dem Verlust des Tempels und der Zerstreuung des Volkes Israel übernahm die Torah die vereinigende Funktion, die der Tempel » 59

ibid. „Standmannschaften" (ma'amadot) hießen die Dienstabteilungen für die Opferdarbringung im Tempel. Der Opferdarbringung mußten die einzelnen Opferspender beiwohnen. Beim täglichen Opfer vertraten das Volk die „Standmannschaften" (ma'amadot), das heißt eine Abordnung von Israeliten aus den 24 Bezirken des Landes Israel. Sie wechselten wie die Priester und Leviten mit ihren 24 Mishmarot (Dienstabteilungen) für den Tempeldienst einander wöchentlich ab, so daß jede der 24 Standmannschaften und Dienstabteilungen insgesamt zwei Wochen im Jahr Dienst hatte. Die Zuhausegebliebenen versammelten sich während der Dienstwoche täglich für gemeinsame Gebete und Schriftlesungen. Siehe mTaan IV,2. Unter dem Titel Sefer ha-ma'amadot wurde in verschiedenen Ausgaben (Venezia, Daniel Bomberg 1545; Ferrara, Abraham Ibn Usque 1554; Venezia, Giovanni di Gara 1564,1574) eine Sammlung von Auszügen aus der Bibel, dem Talmud und Midrashim gedruckt, die als frommer Ersatz des Opferdienstes im Tempel gedacht war.

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Einleitung

innegehabt hatte. Der Schriftgelehrte, der sich mit der Torah und den Opfervorschriften befaßt, gleicht einem Mitglied der Standmannschaft, und sein Studium ersetzt die Opferdarbringungen, die im Tempel stattfanden. Unentbehrliche Voraussetzung für die Wirksamkeit des Torah-Studiums als Opferdarbringung für das ganze Volk Israel ist die geistige Ausrichtung (die kawannah) des Schriftgelehrten. Er soll sich tatsächlich als Priester fühlen, der im Tempel seinen Dienst verrichtet. Damit sich seine Leser leichter vorstellen können, sich im Tempel zu befinden, stellt Portaleone den drei „Schilden" eine minuziöse Beschreibung in 90 Kapiteln der Tempelanlage, ihrer Einrichtungen und der liturgischen Vorschriften voran. Sie dienen als unentbehrliche Einleitung zu zwei der folgenden drei Teilen des Buches, die die Lesungen für das tägliche Morgen- und Abendopfer enthalten. Leitfaden der Beschreibung Portaleones sind die verschiedenen Heiligkeitsbereiche des Landes Israel und des Tempels. Der Leser wird in einer Steigerimg der Heiligkeitsgrade innerhalb des Landes Israel in den Tempel eingeleitet und bis hin zum Allerheiligsten, wo die Gottesgegenwart, die Shekhina, weilte, geführt. Zuerst (Kapitel 1) erläutert Portaleone in Anlehnung an das erste Kapitel des Traktates Kelim und den Kommentar Bertinoros die zehn Stufen der Heiligkeit des Landes Israel. Das ganze Land Israel ist heiliger als alle anderen Länder. Nur von Israel werden alle Opfergaben für den Tempel und die Zutaten für den Weihrauch bezogen. Doch innerhalb des Landes gibt es weitere, immer höhere Heiligkeitsbereiche: Das sind zunächst die ummauerten Städte, dann die Stadt Jerusalem, schließlich der Tempelberg. Innerhalb des Hei, das heißt der Einfriedigung des gesamten Areals des Tempels, steigert sich die Heiligkeit vom Frauenhof über den Israelitenhof, weiter über den Priesterhof zum Raum zwischen Vorhalle und Altar, bis hin zur Tempelhalle und zuletzt zum Allerheiligsten, das nur der Hohepriester am Versöhnungstag unter strengen Bedingungen betreten durfte. Nach dieser ersten Einführung kommt Portaleone in Kapitel 2 zur Beschreibung der Tempelanlage. Er gibt die Maße der Tempelanlage an und erklärt nach dem Traktat Middot, was der Soreg, das heißt das Steingitter, das den Außenhof vom Innenheiligtum trennte, und der Hei waren. Im dritten Kapitel werden die Tore des Tempelberges und der Frauenhof mit seinen Kammern und Zellen beschrieben. Dabei erwähnt Portaleone die Kammer, wo die Leviten die Musikinstrumente und die Musikbücher aufbewahrten. Das wiederum leitet eine umfangreiche Erläuterung zu den im Tempel benutzten Musikinstrumenten und zu den Musikkenntnissen der Israeliten ein (Kap. 4-14). Portaleone bemüht sich, die Musikinstrumente, die in der Bibel und in der Mischna erwähnt werden, mit den Musikinstrumenten seiner Zeit zu identifizieren. So ist für ihn der mintiim das Klavichord, der nevel die Laute und der

Aufbau und Struktur der Shilte ha-gibborim

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ordablos die Wasserorgel. Portaleone will beweisen, daß beim Kultdienst im Tempel eine kunstvolle Musik nach allen jenen Regeln ausgeführt wurde, die auch seine Zeitgenossen kennen. Nach dieser Abhandlung über die Musik und den Kunstgesang der Israeliten setzt Portaleone die Beschreibung des Tempels fort. Und zwar bietet er (Kap. 14) einen Überblick über das gesamte Heiligtum und dessen Ausstattung (die Kerubim, die Bundeslade, die Vorhänge); weiter erwähnt er (Kap. 15) die 13 Prostrationen, die im Tempel entsprechend den 13 Toren, die zu den Innenhöfen führten, stattfanden, und schließt die Beschreibung der einzelnen Tore an. Die Kapitel 16-17 befassen sich mit der Tempelbewachung bei Nacht und mit weiteren Kammern des Tempels, insbesondere mit dem „Brandhaus", einem gewölbten, ständig geheizten Raum, wo sich die Männer der Standmannschaft im Fall einer plötzlichen Verunreinigung badeten. Eine Beschwerde der Priester und Leviten vor dem Sanhedrin, dem „Großen Gerichtshof" der Israeliten, bietet den Übergang zur Darlegung des Steuersystems (Kap. 18-22) mit der Berechnung der Abgaben für den Tempel, die Priester und Leviten. Vom 23. bis zum 25. Kapitel werden die weiteren Zellen und Kammern des Tempels nach den Traktaten Tamid und Middot und deren Lage aufgelistet und eingehend erklärt. Der Leser wird dann bis zum Eingang der Tempelhalle (Kap. 30) geleitet, wobei ihm weitere Ausstattungselemente und Teile des Tempels, wie zum Beispiel der Opferaltar, das bronzene Becken für die Waschungen der Priester, die Stufen, die zu den verschiedenen Ebenen des Heiligtums hinaufführten, die Vorhänge über den Toren, das Gebälk der Vorhalle erläutert werden (Kap. 2630). Die Inneneinrichtung der Tempelhalle ist der Hauptgegenstand der Kapitel 31-33, in denen also der goldene Leuchter, der goldene Altar für die Weihrauchopferung und der Tisch aus Gold, auf dem das Schaubrot lag, behandelt werden. Die Form der Schaubrote und die Art und Weise ihrer Lagerung werden im Kapitel 32 detailliert beschrieben. Schließlich führt Portaleone den Leser in das Allerheiligste, wo sich die Bundeslade befand. An ihrer Seite stand der Kasten, den die Philister als Geschenk für den Gott Israels sandten, mit der darauf liegenden Torahrolle (Kap. 34). Mit der Bundeslade endet Portaleone die Beschreibimg der Tempelanlage und der Geräte für den Kultdienst. So weit der erste Teil der 90 Kapitel, die den drei „Schilden" vorangehen. Die übrigen Kapitel befassen sich mit der Tempelverwaltung (Kap. 35-36) und mit allem, was mit den Kulthandlungen zusammenhängt. Zuerst (Kap. 37) wird die Aufstellung der Standmannschaft und ihre Dienstverrichtung im Tempel vorgestellt. Dann erläutert Portaleone die Reinheitsbedingungen, die für die Diensttauglichkeit der Priester (Kap. 38) allgemein und des Hohenpriesters insbesondere (Kap. 39) erforderlich waren. Die Beschreibung der Priester-Hierarchie führt zu einer Abhandlung über die Sozialstruktur des

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Einleitung

israelitischen Volkes und die Staatsverwaltung (Kap. 40). Dem Heer als Teil der Staatsverwaltung widmet Portaleone drei lange Kapitel (Kap. 41-43), in denen auch die Waffen und die Kriegsführung der Israeliten beschrieben werden. Durch phantasievolle Wortableitungen und Interpretationen biblischer Namen stellt Portaleone die seltsam anmutende These auf, daß die Israeliten alle modernen Waffen, inklusive Gewehre und Kanonen, und die modernen Regeln der Kriegsführung schon kannten. Mose habe schon auf Anweisung Gottes bei der Wanderung durch die Wüste das Lager des Volkes Israel so aufgestellt, wie es später die Römer taten. Nach diesem Exkurs über das israelitische Heer kommt Portaleone auf die Beschreibung der Priestergewänder zu sprechen (Kap. 40-47), an die eine Abhandlung über die Edelsteine und ihre Anwendung in der Medizin angehängt wird (Kap. 48-50). Bevor Portaleone die verschiedenen Opferungen anführt, erklärt er, wie sich die reinen Tiere von den unreinen unterscheiden (Kap. 52), verbunden mit einer präzisen Erläuterung des Verdauungssystems der Wiederkäuer (Kap. 51). Als Anhang wird ein Kapitel (Kap. 53) über die sieben reinen Tiere, die die Torah zum Verzehr erlaubt, hinzugefügt. Ihre biblischen Namen werden nach italienischen Bezeichnungen interpretiert, so daß der Leser die Tiere leicht erkennen kann. Auf die Edelsteine und Gemmen kommt Portaleone in den Kapiteln 54-56 zurück. Hier werden Ratschläge erteilt, um Fälschungen zu erkennen. Außerdem wird eine Liste der aktuellen Handelspreise von Diamanten und Gemmen mit den Wechselkursen der wichtigsten Währungen beigefügt. Von Kapitel 57 bis zu Kapitel 75 werden die verschiedenen Opferungen und Gaben, das Verfahren ihrer Zubereitung und ihre erforderlichen Reinheitsbedingungen dargelegt. In bezug auf die Speiseopfer werden die Gewichte und die Maße, die man im Tempel verwendete, im einzelnen erklärt und mit griechischen, römischen und modernen Maßen verglichen (Kap. 72). Dabei bietet Portaleone eine exakte Beschreibung der Laufgewichtswaage und erklärt ihre korrekte Anwendung. Die Erwähnung des Öls, das für den Leuchter und für die Zubereitung von Speiseopfern benutzt wurde, leitet eine Abhandlung über die unterschiedlichen Ölarten und die Erzeugung eines guten Öls ein (Kap. 72). Eine weitere Zutat war das Salz, das entsprechend den biblischen Anweisungen60 für alle Opferungen erforderlich war. Das veranlaßt Portaleone, den verschiedenen Salzsorten und verschiedenen Verfahren ihrer Gewinnung ein ganzes Kapitel (Kap. 76) zu widmen. Es folgt dann die Beschreibung der Holzstöße auf dem äußeren Altar und seiner Reinigung (Kap. 77). 60

Siehe Lev 2,13: „Alle deine Opfergaben mußt du mit Salz darbringen."

Aufbau und Struktur der Shilte ha-gibborim

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Besonders sorgfältig ist die Darlegung der Zutaten des Räucherwerks und seiner Zubereitung. Von Kapitel 78 bis Kapitel 88 erörtert Portaleone die Namen der einzelnen Zutaten, die in der Bibel (siehe Ex 30,34) und im Talmud (siehe bKer 6a-b) aufgeführt sind. Die Erklärung der hebräischen Namen verleitet Portaleone zu einer eingehenden Abhandlung über Tier- und Pflanzenkunde anhand der jüngsten Erkenntnisse, die seit der Entdeckimg der „Neuen Welt" populär geworden waren. Die rabbinischen Kommentare werden den klassischen Autoren (vor allem Plinius, Theophrast, Dioskurides mit dem Kommentar Mattiolis) gegenübergestellt und kritisch ausgewertet. Besonders interessant sind die Beschreibungen von Pflanzen und Kräutern aus der „Neuen Welt", die Portaleone von Monardes und Garcia da Orta bezieht. Auch hier bemüht sich Portaleone, für die amerikanischen und indischen Pflanzen entsprechende Bezeichnungen in der Bibel zu finden, um nachzuweisen, daß sie den Israeliten schon bekannt waren. Die Kapitel über den Weihrauch gestalten sich also zu einem botanischen Traktat, in dem die aktuellen Erkenntnisse zusammengefaßt und dem Leser dargelegt werden. Im Zusammenhang mit der Zubereitung des Räucherwerks erklärt Portaleone die Herstellung des Salböls mit genauen Anweisungen über das korrekte Destillationsverfahren (Kap. 88) und gibt dem Leser Ratschläge für die Herstellung und Lagerung eines guten Weins und Essigs (Kap. 86). Mit den Ausführungen über die Torah-Lesungen für die regelmäßigen und zusätzlichen Opfer (Kap. 89) und der Gesänge, die die Leviten bei den Opferungen vortrugen (Kap. 90), endet die Darstellung des Tempels und des Kultdienstes. Der Leser ist damit in der Lage, sich mit der passenden geistigen Ausrichtung dem Gebet und der Meditation der Torah zuzuwenden. Diese 90 Kapitel stehen also in enger Verbindung mit den folgenden drei „Schilden". Dennoch wirft dieser Teil der Shilte ha-gibborim trotz der erklärten einleitenden Funktion einige Fragen auf. Entgegen der beteuerten Ablehnung der „verführerischen Worte der Weisen der Griechen", das heißt der Philosophie und der Wissenschaft allgemein, fügt Portaleone wissenschaftliche Abhandlungen in die Tempeldarstellung ein. Wie lassen sich die profanen Wissenschaften im religiösen Kontext des Tempels erklären? Portaleone hält es zudem nicht für nötig, alle Kapitel in ihrer Reihenfolge zu lesen. Portaleone selbst fordert seinen Leser auf, nur jene Kapitel auszuwählen, die ihn interessieren: Wenn es dir nicht gefällt, die ganzen Shilte ha-gibborim ordnungsgemäß zu lesen, wie ich von meinem Munde mit Tinte in das Buch geschrieben habe (vgl. Jer 36,18), lies es abschnittsweise und lasse die Teile aus, die für dich uninteressant sind, weil du damit deine Seele von der Lästigkeit des Lesens befreien und mir den Gefallen tun wirst, deine Füße in einen von ihr61 freien Raum zu setzen (vgl. Ps 31,9); und meine Redlichkeit wird dir gegenüber 61

Nämlich von der Lästigkeit.

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Einleitung betreffs meiner Belohnung für mich aussagen (Gen 30,33), denn ich werde dir danken (Ps 56,13), sowohl für dein Weglassen [einiger Stellen] als auch für dein Lesen, und ich werde dir für immer Lob erteilen.62

Portaleone betrachtet also sein Buch als ein Nachschlagewerk, in dem der Leser lehrreiche und nützliche Informationen auch für den alltäglichen Bedarf (zum Beispiel die Herstellung von Öl, Wein und Essig) oder für seinen Beruf (siehe die Kapitel über den Handel von Edelsteinen und Münzen) finden kann. Zum lehrbuchartigen Charakter seines Buches paßt auch die Darstellung verschiedener Alphabete, die Portaleone vor die 90 Kapitel gesetzt hat, um das Verständnis vieler auf hebräisch wiedergegebener Fremdwörter (vor allem griechischer und arabischer) zu erleichtern. Bei der Darlegung der verschiedenen Wissensgebiete ist auf den ersten Blick kein System erkennbar. Die Musikwissenschaft geht der Kriegsführung und der Darlegung der sozialen Struktur des Volkes Israel voran. Tierkunde und Botanik werden neben der Wiedergabe der Preislisten von Edelsteinen und der Wechselkurse der Münzen behandelt. Und doch gibt es ein Ordnungsprinzip. Es ist der Tempel selbst mit seinen Einrichtungen, der als Leitfaden für die Aufführung der verschiedenen wissenschaftlichen Abhandlungen dient. Die Einteilung des Tempels ist zugleich die Anordnung der verschiedenen Wissenschaften. Moderne Autoren betrachten daher diesen ersten Teil der Shilte ha-gibborim als eine Enzyklopädie. Es muß also untersucht werden, wie sich dieser enzyklopädische Teil der Shilte ha-gibborim in die mittelalterlichen Enzyklopädien und in die pansophischen Systeme des 17. Jahrhunderts einordnen läßt.

3. Die Rezeption der Shilte ha-gibborim Portaleone ließ sein Buch auf eigene Kosten drucken, weshalb auch nicht viele Exemplare in Umlauf gewesen sein dürften. Schon Bartolocci bezeichnete die Shilte ha gibborim als „liber curiosus sed rarus".63 Die Shilte ha-gibborim wurden auf hebräisch für jüdische Leser verfaßt. Allerdings erweckten sie mehr Interesse unter den christlichen Gelehrten als unter den Glaubensgenossen Portaleones.64 Menasseh ben Israel ist einer der wenigen jüdischen Autoren, die sich auf das Werk Portaleones bezogen. In seinem „El Conciliador" stützte sich Menasseh ben Israel auf Portaleone, um die Kunstfertigkeit der Leviten 62 63

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Portaleone, Shilte ha-gibborim, Kap. 43, S. 42b. Giulio Bartolocci, Bibliotheca magna rabbinica, 4 Bde., Roma 1675-1693 (der vierte Band wurde von C. J. Imbonati ediert): Bd. 1, S. 737. J. Chr. Wolf, Bibliotheca Hebraea, 4 Bde., Hamburg/Leipzig 1715-1733: Bd. I, S. 37, Bd. III, S. 25-26; Fürst, Bibliotheca, Bd. ΠΙ, S. 114-115.

Die Rezeption der Shilte ha-gibborim

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bei der Ausführung der Tempelmusik zu beweisen. Dabei schätzte Menasseh ben Israel die Shilte ha-gibborim als „geistreiches Werk".65 Yom Τον Lipmann Heller (1579-1654), der den Mischna-Kommentar des Obadja von Bertinoro ergänzte, bezieht sich ausdrücklich auf die Shilte hagibborim in seinem Kommentar zu Middot (siehe mMid ΠΙ,Π s.v. „Qiphonos"), ohne dabei den Namen des Autors zu erwähnen.66 Das Werk Portaleones wurde in dem Verzeichnis hebräischer und christlicher Werke, die sich mit jüdischen Themen befassen, von Shabbetai Bass (Sifte Yeshanim, Amsterdam 1680) mit einer kurzen Inhaltsbeschreibung erwähnt. Demgegenüber waren die Shilte ha-gibborim eine der Hauptquellen von Johann Christoph Wagenseil für seine kommentierte Ausgabe mit lateinischer Übersetzung des Traktates Sota. Portaleone (angeführt als „Abraham ha-Rofe") und sein Werk werden mehrmals mit lobenden Worten zitiert: Portaleone wird als „autore doctissimo, optimi et Antiquitates judaicas solide explicantis libri Shilte haggibborim" (S. 53) und als „autor praeclarus" (S. 842) erwähnt und sein Werk als „aureus liber" (S. 357) geschätzt.67 Dank Wagenseil wurde Portaleone unter den deutschen christlichen Gelehrten bekannt. So bezieht sich zum Beispiel Johann Lund (1638-1686) indirekt über Wagenseil auf Portaleone in seinem Traktat über die jüdischen Altertümer (Die alten Jüdischen Heiligthümer, Hamburg 1738).68 In den Exercitationes und Dissertationes des 17. Jahrhunderts über die „Jüdischen Heiligtümer" werden oft die Shilte ha-gibborim erwähnt, die aber meistens aus indirekten Quellen bekannt waren.69 65

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Menasseh ben Israel, El Conciliador ο de la Conviniencia de los lugares de la S. Escritura, que repugnantes entre si parecen, 4 Bde., Amsterdam 1633-1651: Bd. 1, S. 203: „Neque miretur quisquam tantum temporis tarn facili arti impensum: nam ut R. Abraham haRophe, in ingenioso opere suo Silte a-Gibborim probat, Levitae ex arte cantabant." Siehe auch Fürst, Bibliotheca, Bd. Π, S. 355. Die in Lipmanns Kommentar zitierten Shäte ha-gibborim sind nicht mit dem gleichnamigen Werk des Yehoshua Bo'as Barukh zu verwechseln. J. Chr. Wagenseil, Sota. Hoc est: Uber Mischnicus de uxore adulterii suspecta una cum Libri En Yakob excerptis Gemarae versicme latina, et commentario perpetuo, Altdorf 1674. Siehe auch Fürst, Bibliotheca, Bd. ΠΙ, S. 489. Siehe zum Beispiel S. 595 nach der von Johann Christoph Wolf herausgegebenen Ausgabe (Hamburg 1738). So zum Beispiel Oelreich in: Urim we-Tumim. Dissertatio Phäologica posterior, quam Deo annuente in inclita Leucorea publicae συμφιλολογούντων disquisitioni submittunt Praeses M. Johannes Oelreich scanus et respondens Christianus Hausee, Görlicio Lusatus in auditorio minori ad diem XIII. Octobr. MDCLXXVII, Wittebergae Typis Matthaei Henckelii Academ. Typogr. (ohne Seitenzahl); Opitz in: Disquisitio Historico-Philologica de Candelabri Mosaici admirabili structura, eiusdemque positu in Sancto ad illustrationem plurimorum Schripturae S. Locorum ac cumprimis Ex. XXV,31-40 et Num. VIII, 2-4 instituta α Μ. Josia Henrico Opitio, Jenae 1708 (Portaleone wird auf S. 10 und 53 erwähnt); Quandt in: Exercitatio

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Einleitung

Athanasius Kircher stützte sich auf Portaleone für die Beschreibung der Musikinstrumente, die während der Kultausführung im Tempel benutzt worden waren.70 Kircher machte die musikalische Ausführung Portaleones den christlichen Musikhistorikern bekannt. So wurden die Shilte ha-gibborim zum Beispiel von Andreas Sennert in seinen Exercitationum philologicarum: IV. De musica (Wittenberg 1677, S. 187, 189), in dem Traktat von Wolfgang Caspar Printz (Historische Beschreibung der Edelen Sing- und Klingkunst, Dresden 1690) sowie von John Hawkins (History of the science and practice of music, London 1785) und Johann Nikolaus Forkel {Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788) angeführt.71 Erwähnt wird Portaleone auch in der Einleitung R. Yoel Lows, alias Brill, zur Psalmenausgabe mit der deutschen Übersetzung von Moses Mendelssohn (Berlin 1788), allerdings mit der kritischen Bemerkung, daß „die angeführten Belege für die Identifizierimg der Musikinstrumente sehr dünn sind."72 Konrad Iken benutzte das Buch in seinen hebräischen Altertümern73 stark und plante eine vollständige lateinische Übersetzung, die jedoch nicht zustande kam.74 Eine lateinische Übersetzimg einiger Kapitel des ersten Teils der Shilte ha-gibborim wurde von Biagio Ugolini für seinen Thesaurus angefertigt, und zwar von den Kapiteln 2-3,14-47 in Bd. IX, 4-13 in Bd. ΧΧΧΠ, von Kapitel 78 bis zu einem Teil des Kapitels 88 in Bd. XI. Die Kapitel 44-47 werden in Bd. XIII nochmals angeführt.75 Die lateinische Übersetzung Ugolinis ist leider sehr

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Rabbinico-Talmudica de Γ7 seu atramento Hebraeorum [...]. Praeses M. loh. Iacobus Quanät et respondens Christopherus Gaube, Regiomonti 1713, auf S. 181 wird ein Auszug aus den Shilte ha-gibborim angeführt. Musurgia Universalis, sive Ars Magna consoni et dissoni in X libros digesta. Qua Vniversa Sonorum doctrina, et Philosophia, Musicaeque tarn theoricae, quam practicae scientia, summa varietate traditur; admirandae Consoni, et Dissoni in mundo, adeoque Universa Natura vires effectusque, uti nova, ita peregrina variorum speeiminum exhibitione ad singulares usus, tum in omnipoene facultate, tum potissimum in Philologia, Mathematica, Physica, Mechanica, Mediana, Politica, Metaphysica, Theologia aperiuntur et demonstrantur, Romae 1650, S. 48-54. Siehe D. Sandler, The Music Chapters of Shilte ha-gibborim, Tel Aviv University 1980 (hebräisch), S. 54. Zitiert nach Sandler, The Music Chapters, S. 56. Κ. Iken, Antiquitates hebraicae, secundum triplicem Hebraeorum statum, Bremen 1732. Siehe auch Fürst, Bibliotheca, Bd. Π, S. 90. Wolf, Bibliotheca, Bd. IV, S. 759; Fürst, Bibliotheca, Bd. III, S. 114 Anm. 3. B. Ugolini, Thesaurus antiquitatum sacrarum complectens selectissima clarissimorum virorum opuscula, in quibus veterum Hebraeorum mores, leges, instituta, ritus sacri et civiles illustrantur: opus ad illustrationem utriusque Testamenti, & ad philologiam sacram & profanam utilissimum, maximeque necessarium, 34 Bde., Venetiis 1744-1769. Über Ugolini siehe: A. Vivian, „Biagio Ugolini et son Thesaurus Antiquitatum Sacrarum: Bilan des etudes juives au milieu du XVIIIe sifecle", in: C. Grell/F. Laplanche (Hrsg.), La Republique des lettres et V histoire du juda'isme antique XVIe-XVIIIe siecles, Paris 1992, S. 115-147.

Die Forschungslage

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unzuverlässig. Seitdem ist das Buch in Vergessenheit geraten und wurde nur mehr in bibliographischen Verzeichnissen kurz erwähnt.76

4. Die Forschungslage Abraham Portaleone ist, abgesehen von einigen Spezialisten, auch unter Judaisten heute kaum bekannt. Eine gewisse Bekanntheit unter den Gelehrten hatte Portaleone noch am Ende des 18. Jahrhunderts, als Biagio Ugolini Auszüge aus den Shilte ha-gibborim, dem Hauptwerk von Portaleone, mit lateinischer Ubersetzung in den Thesaurus antiquitatum sacrarum einfügte. Der Thesaurus des Biagio Ugolini stellt aber wohl das Ende einer Epoche dar.77 Zunz bemerkte hierzu: „Ugolini fing damals (1744 bis 1768) seinen geistlosen thesaurus an, aber er kam schon zu spät. Denn mittlerweile hatte Spinoza die biblische Kritik zugleich mit der Philosophie eingeführt, die Kritiker in Frankreich und England, die Schriften des freien Holland machten die Monumente des Mittelalters wanken, die Theologie und das Latein traten zurück und ein neues Leben, eine frische Poesie, zog in die deutsche Sprache und in die deutschen Seelen ein. Da zogen auch die jüdischen Studien, mit Theologie, Haß und Latein verknüpft, in den Hintergrund ab."78 Infolge der antinomistischen Tendenzen der Aufklärung entsprach ein religiös-halakhisches Werk wie das Portaleones, das sich mit den rituellen Vorschriften des Tempels und mit der talmudisch-rabbinischen Tradition befaßt, nicht mehr dem Zeitgeist. Ab dem 19. Jahrhundert stieß die Arbeit Portaleones auf Ablehnung und Unverständnis. Den positivistisch geprägten Gelehrten des vorletzten Jahrhunderts erschien das Buch Portaleones nur als eine Anhäufung von Kapiteln verschiedenen Inhalts ohne jegliche Struktur. So beurteilte H. Graetz Portaleone als „halbnärrischen jüdischen Arzt und langweiligen Schriftsteller".79 Von da an wurde Portaleone nur noch im Rahmen von bio- und bibliographischen Forschungen berücksichtigt, sein Hauptwerk dabei nur noch nebenbei erwähnt, ohne ihm eine eingehende Untersuchung zu widmen. Das gilt für die Arbeiten von Günther Wolf, Moritz Steinschneider, Marco Mortara, Giuseppe Jare, Leone Luzzatto und Vittore Colorni.80 76

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n 80

Portaleone wird zum Beispiel in dem Autoren- und Rabbinerverzeichnis des Samuel Ghirondi (Toledot gedolei Israel, Triest 1853, S. 42-45, Nr. 103) aufgeführt. Dort ist die Lebensbeschreibung, die Portaleone zum Schluß der Shilte ha-gibborim hinzugefügt hat, wiedergegeben. Vivian, „Biagio Ugolini", S. 115-147:145. L. Zunz, Zur Geschichte und Literatur, Berlin 1845 [Ndr. Hildesheim/New York 1976], S. 15-16. Siehe dazu auch Vivian, „Biagio Ugolini", S. 143-145. H. Graetz, Geschichte der Juden, Leipzig 1907 [Ndr. Berlin 1996], Bd. 9, S. 452. Für die bibliographischen Angaben dieser Autoren siehe oben S. 1 Anm. 1.

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Einleitung

Unter den modernen Autoren war Cecil Roth der erste, der seine Aufmerksamkeit auf die Shilte ha-gibborim richtete. In The Jews in the Renaissance bietet er eine erste Beschreibung des Werkes Portaleones. Er bemerkt dabei, daß "the motivation of the work was wholly medieval; the treatment, in some ways, surprisingly modern."81 Er relativiert das strenge Urteil von Graetz als „preposterously unfair", aber er gibt zu, daß Portaleone „was, to say the least, discursive to the verge of eccentricity".82 Demgegenüber bietet Shulvass eine positivere Einschätzung der Shilte hagibborim. Er hält sie für ein „remarkable work" und bezieht sich oft auf das Werk Portaleones in seiner Geschichte der Juden in der Renaissance.83 Die Eigenartigkeit des Werkes Portaleones wurde schon von Isaac Barzilay bemerkt, der zu Recht das Buch als „unique" hervorhob.84 Es ist aber das Verdienst von Shapiro, die „Eigenart" des Buches in seinem enzyklopädischen Charakter erkannt zu haben.85 Er beschränkt sich in seinem Artikel nur auf eine Beschreibung der Shilte ha-gibborim, ohne auf die Quellen und das kulturelle Umfeld einzugehen, in dem das Werk entstanden ist. Dennoch hat seine Beschreibung den weiteren Verlauf der Forschung beeinflußt. Seitdem werden die Shilte hagibborim unter diesem Aspekt, nämlich als enzyklopädisches Werk, untersucht. Eine zusammenfassende Beschreibung der verschiedenen wissenschaftlichen Abhandlungen der Shilte ha-gibborim bietet Samuel Kottek in seinem Aufsatz über Portaleone.86 Daniel Sandler fertigte in seiner unveröffentlicht gebliebenen Dissertation87 eine kommentierte englische Übersetzung der Kapitel über die Musik an. Bedeutsam ist seine Arbeit auch deshalb, weil er gezielt die musikalischen Kenntnisse Portaleones im kulturellen Kontext seiner Zeit untersuchte. Dafür identifizierte Sandler die nichtjüdischen Quellen, auf die sich Portaleone für seine musikalischen Ausführungen bezogen hatte, und wertete sie aus. In diese Richtung gehen auch die Untersuchungen von Abraham Melamed. In seiner unveröffentlichten Dissertation über die politischen Auffassungen der Juden in der Renaissance88 analysierte Melamed zuerst die Kapitel der 81

C. Roth, The Jews in the Renaissance, New York 1959, S. 315.

82

Ibid., S. 318. M. A. Shulvass, The Jews in the World of the Renaissance, Leiden/Chicago 1973, S. 140. Isaac Ε. Barzilay, Between Reason and Faith. Anti-Rationalism in Italian Jewish Thought, 1250-1650, The Hague/Paris 1967, S. 68.

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Siehe oben S. 1 Anm. 1.

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S. Kottek, „Jews between Profane and Sacred Science in Renaissance Italy: The Case of Abraham Portaleone", in: J. Helm/A. Winkelmann (Hrsg.), Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century, Leiden/Boston/Köln 2001, S. 108-118. Siehe oben S. 24 Anm. 71. A. Melamed, Wisdom's Little Sister: The Political Thought of Jewish Thinkers in the Italian Renaissance, Tel Aviv 1976 (hebräisch).

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Die Forschungslage

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Shilte ha-gibborim über die Sozialstruktur und Staatsverwaltung der Israeliten und stellte die ideologischen Gemeinsamkeiten der jüdischen Intellektuellen und der Jesuiten zur Zeit der Gegenreformation heraus.89 In dieser ersten Phase seiner Forschung legte Melamed aber noch keinen Schwerpunkt auf den enzyklopädischen Charakter der Shilte ha-gibborim, vielmehr ging er noch davon aus, daß dem Werk Portaleones jegliche Struktur fehle und die verschiedenen Themen lediglich durch Assoziationen miteinander verknüpft seien.90 In den späteren Arbeiten revidierte Melamed - mit Shapiro übereinstimmend - seine Meinimg. Er betrachtete die Shilte ha-gibborim als „encyclopaedic and antiquarian"91 und bemühte sich, sie in den kulturellen Kontext der Zeit einzuordnen. Die Tempeldarstellung der Shilte ha-gibborim sei vom Neuplatonismus und Hermetismus der Spätrenaissance beeinflußt. Darüber hinaus betrachtete er die Einfügung von Abhandlungen über profane Wissenschaften in den religiösen Kontext des Tempels entweder als ein Zeichen der geistigen Krise Portaleones, zerrissen zwischen Ablehnimg und Zuneigung zur Wissenschaft, oder nur als Tarnung, um der Zensur der Inquisition zu entgehen.92 Die Thesen von Melamed sind meines Erachtens nicht ausreichend begründet, wie ich in meiner Arbeit nachzuweisen versuchen werde, wohl aber stimmt der Ansatz seiner Untersuchung. Melamed betonte zu Recht: „This peculiar structure of Shiltei ha-Gibborim can also be explained in terms of the contemporary intellectual scene"; und dabei wies er auf die symbolische Bedeutung des salomonischen Tempels hin.93 In diese Richtung wird auch meine Untersuchung gehen. Die Einstellung von Portaleone gegenüber Wissenschaft und Tradition ist auch der Schwerpunkt der Forschungen von Alessandro Guetta.94 Ihm kommt 89

» 91

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*> 94

Ibid., S. 221. Ibid., S. 215. A. Melamed, „The Perception of Jewish History in Italian Jewish Thought of the Sixteenth and Seventeenth Centuries. A Re-Examination", in: Italia Judaica. Gli Ebrei in Italia tra Rinascimento ed Etä barocca, Roma 1986, S. 139-170: 155; id., „Hebrew Italian Renaissance and Early Modern Encyclopedias", in: M. Fumagalli (Hrsg.), „Momenti e modelli nella storia dell' enciclopedia. II mondo musulmano, ebraico e latino a confronto sul tema dell' organizzazione del sapere", in: Rivista di Storia della Filosofia XL (N.S. 1/1985), S. 91-112: 103-104. Dieser letzte Aufsatz ist umgearbeitet und wieder veröffentlicht worden: „The Hebrew Encyclopedias of the Renaissance", in: S. Harvey (Hrsg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy (Amsterdam Studies in Jewish Thought Bd. 7), Dordrecht/Boston/London 2000, S. 441-464. Melamed, „Hebrew Italian Renaissance", S. 104-105 (= „The Hebrew Encyclopedias", S. 455). Ibid. A. Guetta, „Avraham Portaleone from Science to Mysticism", in: J. Targarona Borräs/A. Säenz-Badillos (Hrsg.), Jewish Studies at the Turn of the Twentieth Century. Proceedings of the 6°· EA]S Congress Toledo July 1998, Leiden 1999, Bd. 2, S. 40-47; id.,

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Einleitung

das Verdienst zu, ausgehend vom De auro (Venedig 1584), dem früheren lateinischen Werk Portaleones über die möglichen therapeutischen Wirkungen des Goldes, die Shilte ha-gibborim untersucht zu haben. Aus der Gegenüberstellung beider Werke kommt Guetta zu dem Schluß, daß die Shilte ha-gibborim das Ergebnis einer geistigen Umorientierung vom Vertrauen in den Empirismus der Wissenschaft zu einem ausgeprägten Mystizismus seien. Die Shilte hagibborim sind für Guetta keine allumfassende Enzyklopädie, sondern eine Darstellung des Tempels, in der die Erörterung wissenschaftlicher Disziplinen für eine bessere Kenntnis der rituellen Handlungen notwendig sind.95 Diese Einschätzung basiert zwar auf der Feststellung, daß der erste enzyklopädische Teil der Shilte ha-gibborim lediglich eine Vorbereitung für den folgenden religiösen Teil ist. Doch kann die Behandlung profaner Themen nicht allein mit der Funktion eines besseren Verständnisses des Tempels und der Liturgie erklärt werden. Allein die ausführliche Beschreibung der Themen wie Kriegsführung, Waffen und Münzen paßt in diese Funktionalisierung profaner Themen kaum, wie dies übrigens auch schon Portaleone selbst bemerkte.96 In der Tat sind die Shilte ha-gibborim ein eigentümliches Werk, das nicht eindeutig einer literarischen Gattung zugeordnet werden kann. Sie können sowohl als ein Erbauungsbuch als auch als eine Enzyklopädie oder eine antiquarische Beschreibimg des salomonischen Tempels angesehen werden. Die literarische Form und das Auswahlkriterium der ausgeführten profanen Themen sind meines Erachtens nur durch einen Vergleich mit ähnlich strukturierten Werken der christlichen Umwelt zu erklären. Bis heute fehlt eine eingehende Untersuchung des Werkes und seines Autors, die den nichtjüdischen kulturellen Kontext weitgehend berücksichtigt.

„Avraham Portaleone, le scientifique repenti", in: G. Freudenthal/J.-P. Rothschild/ G. Dahan (Hrsg.), Tora et science: perspectives historiques et theoriques. Etudes offerts ä Charles Touati, Paris/Louvain/Sterling (Virginia) 2001, S. 213-227. 95 96

Guetta, „AvTaham Portaleone, le scientifique repenti", S. 226. Siehe zum Beispiel Kap. 43, S. 42a: „Ich weiß, daß es viele Gelehrte gibt, deren Seele an der Torah hängt und die ihr Herz nicht einmal für einen Augenblick anderen wissenschaftlichen Interessen zuwenden wollen, auch wenn es um den Fortschritt der Gesellschaft geht, denn sie verachten, mit einsichtigen Worten (Prv 1,2) zu wissen, wie die Krieger fallen und von den Waffen getötet werden. Deshalb werden sie mir vorwerfen, daß ich meinen Mund geöffnet habe und meine Zunge sehr viel mehr als nötig über die Wurfmaschinen, die Bogen, die Kugeln, die Schwerter, die Lanzen, die Spieße, die Speere und die anderen Waffen und ferner über die Regeln der Kriegskunst gesprochen hat." Weitere Beispiele am Ende des Kapitels 52, S. 56a und des Kapitels 86, S. 52b.

Ausrichtung und Aufbau der Untersuchung

29

5. Ausrichtung und Aufbau der Untersuchung Die Autoren, die sich in den letzten Jahren mit Portaleone beschäftigt haben, sind sich trotz einiger Interpretationsunterschiede darin einig, daß seine beiden Werke (Shilte ha-gibborim und De auro) in das zeitgenössische Milieu der nichtjüdischen Kultur einzuordnen sind. Dieser Ansatz der Untersuchung über Portaleone entspricht den Erkenntnissen der jüngsten Geschichtsforschung über die Kultur der italienischen Juden in der Zeit der Gegenreformation. Trotz der päpstlichen Politik der Ausgrenzung der Juden löste die Gegenreformation nicht unbedingt die völlige Trennung der jüdischen Kultur von der christlichen Umwelt aus.97 Die Einrichtung der Ghettos hat auf Dauer sicherlich zu einer materiellen und geistigen Verarmimg ihrer Einwohner geführt, aber bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ist eine rege kulturelle Tätigkeit im italienischen Judentum der Gegenreformation zu beobachten. Die Mauern des Ghettos hatten nämlich eine zwiespältige und widersprüchliche Wirkung. Auf der einen Seite waren sie eine Einschränkimg der Bewegungsfreiheit des einzelnen und ein deutliches permanentes Zeichen der Bekehrungs- und Unterdrückungsversuche der christlichen Außenwelt, auf der anderen Seite dienten sie auch paradoxerweise als Schutz der jüdischen Tradition. Sie verschafften einen abgegrenzten Raum, wo die Juden trotz der prekären Lebensbedingungen und der Nachteile der Überbevölkerung ihre Bräuche und Religion pflegen durften. Die Ghettos waren in ihrer Widersprüchlichkeit so auch eine Art Kloster, wie Attilio Milano sie nennt,98 die die Juden in ihrer Identität und ihrem Zusammenhalt stärkten. Auf diese Weise wurde die Aufnahme von Themen, Motiven und Formen der christlichen Kultur, die durch die Mauern des Ghettos von der Außenwelt herausgefiltert wurden, sogar erleichtert.99 Vergleichende Untersuchungen haben zum Ergebnis geführt, daß die Rabbiner das gleiche Anliegen wie die katholische Kirche hatten, nämlich ihre eigene Tradition den kulturellen, sozialen und politischen Veränderungen anzupassen. Gerne und oft haben sich die Rabbiner die katholische Kirche als Vorbild genommen und einige Formen ihres Rituals und Inhalte ihrer Morallehre nach den passenden Umarbeitungen zu eigen gemacht, wie Bonfil in mehreren Studien bewiesen hat.100 97

98 99

100

Für eine allgemeine Darstellung der jüdischen Geschichte in Italien zur Zeit der Gegenreformation siehe R. Segre, „La Controriforma: espulsioni, conversioni, isolamento", in: Corrado Vivanti (Hrsg.), Storia d' Italia. Gli Ebrei in Italia, 2 Bde., Torino 1996: Bd. 1, S. 709-778. A. Milano, Storia degli ebrei in Italia, Milano 1963, S. 538. A. Foa, Ebrei in Europa. Dälla peste nera all' Emanctpazione: XW-XVIII secolo, Roma/Bari 1992, S. 188-189,202. Siehe zum Beispiel Bonfil, Gli ebrei in Italia nell' epoca del Rinascimento, Firenze 1991; id., „Preaching as Meditation between Elite and Popular Cultures: the Case of Judah Del

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Ginleitung

Shulvass hat in seiner Geschichte der Juden in der Renaissance darauf hingewiesen, daß katholische Katechismen und christliche, erbauliche Literatur die jüdischen Handbücher für moralische und religiöse Unterweisungen beeinflußt haben. So verfaßte Abraham Yagel sein Moralbuch Lekhah tov (Venedig 1595) nach der Vorlage des Katechismus von Peter Canisius; und der Semah saddiq (Venedig 1600) von Leone Modena ist praktisch eine Übersetzung des moralischerbaulichen Traktates Fior di Virtü eines unbekannten christlichen Autor ins Hebräische, wobei die christlichen Beispiele von Tugenden aus den Heiligenlegenden durch Beispiele aus der rabbinischen Literatur ersetzt wurden.101 Ruderman hat Parallelen zwischen den italienischen Rabbinern (zum Beispiel Yehudah del Bene, Leone Modena, Simone Luzzatto) und den Jesuiten in ihrer Einstellung gegenüber den profanen Wissenschaften bemerkt. Beide, sowohl die Rabbiner als auch die Jesuiten, zeigten ein großes Interesse an den Naturwissenschaften und waren ebenso darum bemüht, sie gemeinverständlich zu verbreiten. Beide neigten zu einem praktischen Eklektizismus und vermieden abstrakte und theoretische Erörterungen. Entsprechend dem Bestreben, das Profane in die religiöse Sphäre einzuverleiben, erfolgte die Darlegung wissenschaftlicher Themen zumeist innerhalb religiöser Werke (Bibelkommentare, Sammlungen von Predigten und Moralliteratur).102 Der Einfluß der Jesuiten auf die Gestaltung der jüdischen Kultur in Italien in der Zeit der Gegenreformation ist auch in der Bildimg erkennbar. Gerade in Mantua wurden Vorschläge zu einer Reform der Erziehungsmethode nach dem Vorbild des Lehrsystems der jesuitischen Gymnasien von David Provenzali und seinem Sohn Abraham, der übrigens einer der Lehrer Portaleones war, ausgearbeitet.103 Mit Blick auf diese Erkenntnisse zielt die vorliegende Untersuchung darauf ab, die Shilte ha-gibborim in den kulturellen Kontext ihrer Zeit einzuordnen. Dabei wird insbesondere darauf zu achten sein, Anregungen und Einflüsse auf Portaleone außerhalb der jüdischen Tradition zu berücksichtigen und herauszustellen, wie sie von Portaleone verarbeitet wurden. Ausgangspunkt der Untersuchimg ist nämlich die These, daß sich die eigenartige Struktur der Shilte ha-gibborim nur durch einen Vergleich mit ähnlichen Werken aus der

101 102

103

Bene", in: David B. Ruderman (Hrsg.), Preachers of the Italian Ghetto, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992, S. 67-88; id., Rabbis and Jewish Communities in Renaissance Italy, London/Washington 1993. Shulvass, The Jews, S. 209,232,290. D. B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modem Europe, New Haven/London 1995, S. 197-198. G. Miletto, „The teaching program of David ben Abraham and his son Abraham Provenzali in the historical-cultural context of the time", in: D. Ruderman/G. Veltri (Hrsg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004, S. 127-148.

Ausrichtung und Aufbau der Untersuchung

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nichtjüdischen Welt erklären läßt. Auch wenn nicht immer eine direkte Verbindung anhand der Quellen nachweisbar ist, ist es dennoch meines Erachtens offensichtlich, daß sich Portaleone bei der Abfassung seines Hauptwerkes an gewisse Modellen orientierte, die weit verbreitete Motive der damaligen Kultur widerspiegeln. Um die Shilte ha-gibborim interpretieren zu können, muß man sich den kulturellen Kontext vor Augen halten, in dem sie entstanden sind. Es handelt sich um eine Weltanschauung, eine Denkweise, die die Kultur der Zeit allgemein und überkonfessionell prägte und von der auch Portaleone beeinflußt wurde. Cecil Roth sieht Portaleone von einer noch mittelalterlichen Weltanschauung geprägt, die ihn zur Abfassung der Shilte ha-gibborim bewegt hat. Mit Recht hat Roth jedoch bemerkt, daß die Shilte ha-gibborim wegen ihrer literarischen Form und der Art und Weise der Ausführung der wissenschaftlichen Themen ein modernes Werk sind, das sich in keine der Gattungen der jüdischen Literatur eindeutig einordnen läßt. Diesen Gedanken hat Roth nicht weiter ausgeführt. Es stellt sich nämlich die Frage, ob und inwieweit die Beweggründe für das Verfassen der Shilte ha-gibborim noch „mittelalterlich" und die Art und Weise der Ausführung schon „modern" sind. Eine mit der damaligen Kultur der christlichen Umwelt vergleichende Untersuchung kann demgegenüber zeigen, daß die Shilte ha-gibborim sowohl in der Motivation ihrer Entstehung als auch in ihrer Ausführung absolut im Einklang mit dem Geist ihrer Zeit stehen. Im Vorwort erklärt Portaleone, daß ihn eine plötzliche Erkrankimg zum Schreiben seines Werkes veranlaßt habe. Es ist aber schwer vorstellbar, daß Portaleone, schwer erkrankt und halb gelähmt, ein solch aufwendiges und umfangreiches Werk nur innerhalb eines Jahres104 in so relativ kurzer Zeit hätte anfertigen können. Die vorgebrachte Begründung der Erkrankimg zur Entstehung seines religiösen Werkes soll vielmehr als literarischer Topos betrachtet werden, hinter dem sich ein langsames Umdenken verbirgt. Die beteuerte plötzliche Ablehnung des profanen Wissens ist in Wirklichkeit ein Umdenken, eine veränderte Einstellung, wonach das profane Wissen dem Wort Gottes untergeordnet wird und im Wort Gottes seine Berechtigung hat. In dieser Hinsicht stellt die Aufnahme wissenschaftlicher Themen in den religiösen Kontext der Tempelbeschreibung keinen Widerspruch dar, sondern nur die folgerichtige Ausführung dieser neuen Auffassimg des Wissens. Gleiche Ziele, nämlich das Wissen theologisch zu begründen und es der Theologie unterzuordnen, hatte sich auch die katholische Kirche gesetzt. Besonders die Jesuiten bemühten sich, die Kultur entsprechend den gegenreformatorischen Vorstellungen neu zu gestalten. Dafür wurde unter anderem auch In seiner Autobiographie behauptet Portaleone, er habe beim Passah-Fest des Jahres 1606 angefangen, die Shilte ha-gibborim abzufassen, und sie im Monat „Elul" (= August/September) des Jahres 1607 beendet.

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Einleitung

der salomonische Tempel, dem die christliche Schriftauslegung schon mehrfach allegorische Bedeutungen zugeschrieben hatte, mit neuen symbolischen Funktionen eingesetzt. Der Tempel wurde als vollkommenes, von Gott entworfenes Bauwerk angesehen, das die Harmonie der gesamten Schöpfung widerspiegelt. Darin war auch die politische und soziale Ordnung mit einbezogen. Salomo war wegen seiner Weisheit und Gottesfurcht der vorbildliche Herrscher für den katholischen Souverän. Der Tempelkomplex als religiöses und politisches Zentrum wurde zum Symbol einer theokratischen Auffassung der weltlichen Macht, die den Vorstellungen eines streng katholischen, gegenreformatorischen Königs wie Philipp II. von Spanien entsprach. Nach diesen Vorstellungen wurde der Escorial gebaut und schon von den Zeitgenossen, wie zum Beispiel Fray Jose de Sigüenza, als neuer salomonischer Tempel betrachtet.105 Parallel dazu wurde das traditionelle Motiv des Tempels als „Domus sapientiae", das die christliche Exegese aus der Auffassung des Tempels als irdischen Sitzes der Weisheit Gottes und aus der sprichwörtlichen Weisheit Salomos abgeleitet hatte, auf die theologische Begründimg des profanen Wissens erweitert. Entsprechend dem Geschmack der Zeit für die visuelle, fast sinnlich faßbare Darstellung abstrakter Begriffe diente der salomonische Tempel entweder indirekt und anspielend wie in dem „Theatro" von Giulio Camillo Delminio oder direkt wie in der Tempelbeschreibung des Jesuitenpaters Villalpando als architektonische Kulisse für die Strukturierung des Wissens oder für die Darlegung wissenschaftlicher Themen. Da nichts derartiges in der jüdischen Literatur vor Portaleone zu finden ist, läßt sich meines Erachtens die „Eigenart" der Shilte ha-gibborim nur durch einen Vergleich mit ähnlichen christlichen Werken erklären. Entsprechend los

p r a y Jose de Sigüenza (um 1544-1606), Mönch des Ordens des hl. Hieronymus und Schüler von Arias Montano, lebte im Kloster Escorial. Von König Philipp II. sehr geschätzt, war Josi de Sigüenza mit Ambrosio de Morales und Benito Arias Montano an der Aufstellung der königlichen Bibliothek des Escorial maßgeblich beteiligt. Sigüenza widmete das 22. Gespräch der La Fundaciön del Monasterio de El Escorial (Madrid 1986, S. 418ff.) dazu, den Escorial mit dem salomonischen Tempel zu vergleichen: „Aqui como en otro templo de Salomon a quien nuestro patron y fundador fue imitando en esta obra, suenan dia y noche las divinas alabanzas [...]. El templo de Salomon no fue tanto ο no fue mäs edificio que el de esta casa, si miramos a los lugares proprios donde la Escritura hace historia de el," zitiert nach C. Sänchez Rodriguez, Perfil de un humanista: Benito Aris Montano (1527-1598), Huelva 1996, S. 3 7 38. Sigüenza will allerdings durch den Vergleich des Escorial mit dem salomonischen Tempel beweisen, daß König Philipp II. mit geringeren Kosten und zum moralischen und wirtschaftlichen Vorteil des ganzen Königreiches ein noch größeres und herrlicheres Bauwerk als Salomo erschaffen und somit diesen übertroffen hat. Siehe dazu J. A. Ramirez, „La visiön de Sigüenza: gastos y beneficios de el Escorial", in: J. A. Ramirez/A. Corboz/R. Taylor/R. Jan van Pelt (Hrsg.), Dios arquitecto. ]. B. Villalpando y el templo de Salomon, Madrid 1991 [1994], S. 220-225.

Ausrichtung und Aufbau der Untersuchung

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wird die vorliegende Untersuchung aufgebaut sein. Zuerst (Teil II) werden die mittelalterlichen jüdischen Enzyklopädien beschrieben und den Shilte hagibborim gegenübergestellt. Die Entwicklung der Mnemotechnik und ihre Bedeutung in bezug auf die Gestaltung der Enzyklopädie im 16. Jahrhundert sind ein weiterer Schwerpunkt dieses Teils. Im ΠΙ. Teil wird versucht, das kulturelle Umfeld zu rekonstruieren, das Portaleone bei der Planung und Abfassung der Shilte ha-gibborim beeinflußte. Insbesondere wird die Symbolik des salomonischen Tempels in der Kunst und in der Architektur des 16.-17. Jahrhunderts sowie ihre andauernde Wirkung, noch nach Portaleones Lebzeiten, auf die pansophischen Systeme des 17. Jahrhunderts untersucht. Anschließend (Teil IV) wird die Frage zu behandeln sein, inwieweit die Shilte ha-gibborim Teil dieses kulturellen nichtjüdischen Umfeldes sind. Es soll nämlich erörtert werden, welche Auffassung vom Tempel Portaleone hatte und an welchen nichtjüdischen Modellen er sich dabei orientierte, um die profanen Wissenschaften in die Beschreibung des Tempels einzufügen. Dazu werden konkrete Beispiele von wissenschaftlichen Abhandlungen in den Shilte hagibborim vorgelegt. Als Anhang werden die Quellen der Shilte ha-gibborim mit einer Beschreibung, wie sie Portaleone bearbeitete und in sein Werk einfügte, aufgelistet und einige bis heute unveröffentlichte Archivurkunden über Portaleone sowie eigenhändige Briefe von ihm wiedergegeben. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, eine Geschichte der Enzyklopädie zu schreiben, sondern Portaleone und sein Hauptwerk in den kulturellen Kontext seiner Zeit einzuordnen. Deshalb werden die früheren mittelalterlichen enzyklopädischen Werke nur insofern berücksichtigt, als sie einen Vergleichspunkt anbieten, um die Neuheit der Shilte ha-gibborim einschätzen zu können. Der Schwerpunkt liegt vielmehr in der Darstellving jener mnemotechnischen Tradition, die zur Vorliebe des 16. Jahrhunderts für die bildhafte Wiedergabe abstrakter Begriffe und Kenntnisse führte und in den „Theatra memoriae" sowie in den Wunderkammern ihre konkrete, praktische Umsetzung erlebte. Parallel dazu soll untersucht werden, wie der salomonische Tempel, dem die christliche sowie die jüdische Tradition verschiedene symbolische Bedeutungen zugewiesen hatte, den neuen kulturellen Ansprüchen angepaßt wurde. Es lassen sich meines Erachtens deutliche Parallelen zwischen den utopischen Vorstellungen, die im salomonischen Tempel fokussierten, und den pansophischen Systemen des 17. Jahrhunderts ziehen. Deshalb wird diesem Aspekt im ΠΙ. Teil ein Sonderkapitel gewidmet. Ich hoffe, mit dieser Untersuchung, die als Ergänzung meiner deutschen Übersetzung der Shilte ha-gibborim (Die Heldenschilde, Peter Lang Verlag, Frankfurt a.M. 2003) gedacht ist, eine überaus interessante Persönlichkeit der jüdischen Kultur mit ihren vielen Facetten auch dem breiteren Kreis der auf Spätrenaissance und Frühbarock spezialisierten Historiker zu erschließen.

Teil II

Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie Unserer modernen Auffassung nach ist eine Enzyklopädie entweder die Katalogisierung der Kenntnisse, die zu einer bestimmten Zeit als maßgeblich gelten, oder die Einordnung des Wissens nach einem einheitlichen organisatorischen Kriterium mit dem Ziel, der Bedeutung des erworbenen Wissens für das Leben der Menschen nachzuforschen und neue Grundlagen für seine zukünftige Entwicklung zu schaffen. Man kann, anders formuliert, von „statischen" Enzyklopädien sprechen, in denen die Kenntnisse einfach registriert und aufbewahrt werden, oder von „Projekt-Enzyklopädien", die neben einer einheitlichen Einordnimg des Wissens dessen veränderungsfähige Wirkung auf die Gesellschaft fördern. Selbstverständlich können beide Aspekte in demselben Werk vorhanden sein.1 Auf der Basis dieser Voraussetzung allein wäre es sehr problematisch, in den Shilte ha-gibborim eine Enzyklopädie zu erkennen. Man muß jedoch berücksichtigen, daß es sich um eine „jüdische" Enzyklopädie des frühen 17. Jahrhunderts handelt. Jede Kultur und jedes Zeitalter hat seine eigenen „Enzyklopädien". Jede Zivilisation hat das Bedürfnis, sich seine eigenen „Enzyklopädien" zu schaffen, nämlich Werke, in denen die Gesamtheit des errungenen Wissens zusammengefaßt und entsprechend einer bestimmten Weltanschauung geordnet ist. Die Suche nach einem ordnenden Kriterium des Wissens gestaltete sich im 16./17. Jahrhundert in sehr komplizierten und vielfältigen Formen und brachte Werke hervor, die sich aufgrund ihres unterschiedlichen Inhalts nicht in unseren modernen Begriff der Enzyklopädie einstufen lassen, sondern als philologische, poetische, polyhistorische Werke bezeichnet werden können.2 Ihr enzyklopädischer Charakter besteht aber in einer mehr oder weniger systematischen Darlegung des gesamten Wissens oder jener Kenntnisse, die vom Verfasser für den Leser als nützlich und notwendig gehalten wurden, und in den pädagogischen Absichten, denen jedoch meistens eine untergeordnete Bedeutung beigemessen wird. Die Humanisten prägten dafür ein neues Wort έγκυκλιοπαιδεία, das heißt wörtlich „im Kreise laufende Fumagalli, „Momenti e modelli nella storia dell' enciclopedia", S. 3 - 4 . Über die Komplexität und die Vielfältigkeit der Enzyklopädie in der Renaissance

siehe A. Serrai, Storia della Bibliografia. Bibliografia e Cabala: le Enciclopedie rinascimentali, Bd. I, Roma 1988, S. 135-137.

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Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie

Bildung", das seinen Ursprung in der klassischen Tradition hat.3 Damit war nicht ein bestimmtes Werk gemeint. Es ist vielmehr ein Gattungsbegriff mit einer breiten Anwendimg. Durch die Metapher des Kreises4 wollten die Humanisten Die Griechen (cfr. Dionysius Halicarnassensis, De compositione verborum 25; Plutarch 2.1135d, Alexander 7) bezeichneten mit dem Ausdruck εγκύκλιος (= „zyklisch". Aus dem Bild des Kreises, als gleichmäßig wiederkehrende geometrische Figur, wurde die Bedeutung von „üblich", „geläufig" abgeleitet) παιδεία (= „Bildung", „Erziehung") die geläufige, zu höheren Studien propädeutische, allgemeine Grundbildung eines freien Menschen. Quintilian (Institutio oratoria 1,10,1) erwähnt diesen griechischen Ausdruck folgendermaßen: orbis ille doctrinae quem Graeci έγκύκλιον παιδείας vocant. Die Form έγκυκλιοπαιδεία ist von den Humanisten im 15. Jahrhundert geprägt worden. Dazu siehe H. Fuchs, s.v. „Enkyklios Paideia", in: Reallexikon für Antike und Christentum 5 (1962), S. 366-398; L. M. De Rijk, „εγκύκλιος παιδεία. Α Study of its Original Meaning", in: Vivarium ΠΙ/1 (1965), S. 24-93; J. Henningsen, „Enzyklopädie. Zur Sprachund Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs", in: Archiv für Begriffsgeschichte 10 (1966), S. 217-362; Serrai, Storia della Biblwgrafia, S. 145-148 und R. L. Fowler, „Encyclopaedias: Definitions and Theoretical Problems", in: P. Binkley (Hrsg.), Pre-Modem Encyclopaedic Texts. Proceedings of the Second COMERS Congress, Groningen 1-4 July 1996, Leiden/New York/Köln 1997, S. 6-7,14-15,27-29. In der pythagoreischen und neuplatonischen Tradition galt der Kreis als die vollkommene geometrische Figur. In dem lullianischen System, das auf die Mnemotechnik der Renaissance einen großen Einfluß ausübte, symbolisiert der Kreis den Himmel und die Bewegung der Gestirne. Die humanistische Auffassung des Menschen als Mikrokosmos und seiner Bedeutung innerhalb der kosmischen Ordnung wird von Pico della Mirandola durch die Figur des Kreises ausgedrückt: „Constat homo ex corpore et anima rationali. Rationalis animus coelum dicitur. Nam et coelum animal a seipso motum vocat Aristoteles, et animus noster (ut probant Platonici) substantia est seipsam movens: Coelum circulus est, et animus itidem est circulus, quinimo, ut scribit Plotinus, ideo coelum circulus, quia animus eius circulus est. Coelum in orbem movetur, animus rationalis a causis ad effectus se transferers, rursusque ab effectibus recurrens in causas ratiocinationis orbe circumvoluitur" („Der Mensch besteht aus Körper und rationaler Seele. Die rationale Menschenseele heißt Himmel. Denn Aristoteles nennt Himmel ein Lebewesen, das sich selbständig bewegt, und unsere Seele, wie die Platoniker beweisen, ist eine Substanz, die sich von selbst bewegt. Der Himmel ist kreisförmig, und auch die Seele ist kreisförmig. Und noch mehr, wie Plotin schreibt, der Himmel ist ein Kreis, weil seine Seele ein Kreis ist. Der Himmel bewegt sich in einem Kreis; die rationale Seele wandelt von den Ursachen zu den Wirkungen, und von den Wirkungen kehrt sie zu den Ursachen wieder zurück, in einer rationalen Sphäre kreisend", Heptaplus IV,1). Siehe auch L. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Bd. IV, New York 1934, S. 510. Diese Theorie fand auch in Kunst und Architektur Resonanz. Man denke an die berühmte Zeichnung von Leonardo da Vinci über die vollkommenen Proportionen des menschlichen Körpers nach der vitruvianischen Lehre (cfr. Vitruv, De architectura 111,1,2-4), in der ein Mann mit offenen Armen und Beinen in einem von einem Kreis eingeschlossenen Quadrat dargestellt wird. (Die Zeichnung ist in Venedig in der Galleria dell' Accademia aufbewahrt). Offensichtlich ist die metaphysische Bedeutung der zwei geometrischen Figuren: Das

Die jüdische Enzyklopädie im Mittelalter

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die Einheit und Vollkommenheit des Wissens betonen, und dafür bemühten sie sich, in der klassischen Tradition ein allgemein gültiges Kriterium zu finden, das auch den Anforderungen ihrer Zeit gerecht sein konnte. Inwieweit sich die Shilte ha-gibborim in diese Vorstellung von Enzyklopädie einordnen lassen, welche modernen Aspekte sie beinhalten und worin ihre „jüdische" Eigenart besteht, läßt sich besser verstehen, wenn sie mit den früheren mittelalterlichen Enzyklopädien5 und mit denen zur Zeit Portaleones verglichen werden.

1. Die jüdische Enzyklopädie im Mittelalter Das Leben eines frommen Juden ist von dem Gedanken geleitet, unter der Offenbarung Gottes zu stehen, die durch die Torah, nämlich „Weisung", „Lehre", ausgedrückt ist. Unter diesem Begriff kennt die jüdische Tradition eine zweifache Überlieferung der Torah. Bei der Offenbarung Gottes auf dem Sinai bekam Mose neben einer schriftlichen Torah, die 613 Ge- und Verbote enthält, eine weitere, gleichwertige, mündliche Torah. Diese Torah ist der Komplex an göttlichen Anweisungen in allen Lebensbereichen, die laut Tradition seit Mose kontinuierlich mündlich überliefert und schließlich um 200 n. Chr. in der Mischna kodifiziert wurden. Prinzipiell wurde die ganze Torah, in ihrem gesamten schriftlichen und mündlichen Umfang, Mose auf dem Sinai ein für allemal geoffenbart und von ihm über eine ununterbrochene Traditionskette Quadrat verweist auf die vier Grundelemente der Welt: nämlich Luft, Wasser, Erde und Feuer, und der Kreis auf den Himmel und seine Korrelation zur Seele des Menschen. Daß Leonardo sich den Menschen als Mikrokosmos vorstellte, wird von ihm explizit dargelegt. In dem Codice Atlantico (fol. 55v) schreibt Leonardo: „Y uomo e detto da Ii antichi mondo minore." Auch in der Architektur sollten der Kreis und die anderen mit ihm verbundenen geometrischen Figuren wie das Sechs-, Acht- und Zehneck die bevorzugte Form bei der Anlage einer Kirche sein, wie der Architekt und Bautheoretiker Leon Battista Alberti vorschrieb, weil die runde Form für die Natur, nämlich Gott, die angemessene Form sei. Siehe R. Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1949, S. 27 und F. A. Yates, The Art of Memory, London 1966, S. 342-367, bes. S. 359-367. An der Universität Zürich wird ein Forschungsprojekt über „Enzyklopädien als Indikatoren für Veränderungen der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen, Bildung und Information" unter der Leitung von Madeleine Herren (Historisches Seminar der Universität Zürich), Paul Michel (Deutsches Seminar der Universität Zürich) und Francis de Capitani (Schweizerisches Landesmuseum) durchgeführt. Im Internet (www.enzyklopaedie.ch) findet man auch eine vorzügliche Bibliographie über die Enzyklopädie im Mittelalter. Hier möchte ich nur auf W. N. Richard (Hrsg.), Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter: Perspektiven ihrer Erforschung (Wissensliteratur im Mittelalter 1), Wiesbaden 1987, verweisen.

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Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie

weitergegeben.6 Die rabbinische Auslegung hat der Torah nichts Neues hinzugefügt, sondern nur, was von der ursprünglichen Offenbarung vergessen wurde bzw. unbeachtet blieb, wiederentdeckt und ihren Wortlaut klar gemacht.7 Die Torah ist nicht nur eine gottgegebene Lebensregel. Sie wird der göttlichen Weisheit gleichgesetzt, mit der Gott die Welt erschaffen hat.8 Als Schöpfungsprinzip bekommt die Torah eine ontologische und kosmologische Bedeutung. In ihr ist im Kem alles enthalten, und sie ist zugleich das Weltgesetz, das den ganzen Kosmos bestimmt und zusammenhält. Wenn der Mensch sie befolgt, steht er also im Einklang mit der gesamten Schöpfung.9 Das Lernen ist eine unverzichtbare Bedingung für das Befolgen der Vorschriften der Torah. Nicht nur die Rabbinen, sondern jeder ist nach seinen Möglichkeiten zum Lernen verpflichtet, entsprechend dem biblischen Gebot: „Dieses Gesetzbuch soll nie von deinem Mund weichen, Tag und Nacht sollst du darüber nachsinnen, damit du darauf achtest, genau so zu handeln, wie darin geschrieben steht" (Jos 1,8). Höher als das Gebet in der Synagoge wird das Studium geschätzt, und das Schulhaus ist der Synagoge an Rang überlegen.10 Das Studium der Torah fand später bei den Kabbalisten auch eine kosmologische Begründung. Mit dem Grundgedanken der Übereinstimmung der ganzen Schöpfung, und also auch des Menschen mit der Torah, die als Fundament der Schöpfimg und als welterhaltende Kraft aufgefaßt wird, ist die besonders bei den Kabbalisten beliebte Vorstellung verbunden, daß der Gelehrte, der sich mit dem Studium der Torah beschäftigt, an Gottes Schöpfungswerk teilnimmt und zur Erhaltung der Welt beiträgt. Eine schöne Darstellung der engen Korrespondenz zwischen der Torah und dem Weltganzen und, entsprechend der Mikro-/Makrokosmos-Vorstellung, zwischen der Torah, dem Kosmos und der Struktur des menschlichen Körpers im Sinne einer umfassenden Einheit wird im Buch Zohar („Lichtglanz")11 dargeboten, dem umfang- und einflußreichsten Werk der kabbalistischen Literatur:

6

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9 10 11

Siehe mAv 1,1: „Mose empfing die Torah auf dem Sinai, überlieferte sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synode." G. Stemberger, Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, München 1979, S. 128-129. Siehe BerRab 1,1. Für weitere Beispiele siehe P. Capelli, „La parola creatrice secondo il giudaismo della tarda antichita", in: C. Conio (Hrsg.), La parola creatrice in India e nel Medio Oriente. Atti del Seminario della Facoltä di Lettere dell Universitä di Pisa, 29-31 maggio 1991, Pisa 1994, S. 155-172. Stemberger, Das klassische Judentum, S. 127. Ibid., S. 108-109. Das Werk entstand in Spanien zwischen 1280 und 1286 und wurde bis ins 14. Jahrhundert überarbeitet und ergänzt. Es wurde pseudepigraphisch Rabbi Shimon Bar Yohai (2. Jahrhundert n. Chr.) und seinem Kreis zugeschrieben. Schon bald aber vermu-

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„Als Gott die Welt formte und den Menschen erschuf, sagte Er zu ihr: , 0 Welt, ο Welt! Du und deine Gesetze sind nur auf der Torah gegründet, und daher habe ich auf dir den Menschen geschaffen, auf daß er sich mit ihrem Studium bemüht, sonst werde ich dich wieder zum Chaos verwandeln.' Daher heißt es: ,Ich habe die Erde gemacht und die Menschen auf ihr geschaffen.' (Jes 45,12) Wahrlich ruft die Torah ständig den Menschen zum Studium auf, aber niemand hört darauf. Und siehe, wer sich mit dem Studium der Torah bemüht, festigt die Welt und ermöglicht, daß jeder ihrer Bestandteile seine Funktion erfüllt. Denn jedes Glied des menschlichen Körpers entspricht einem der in der Welt geschaffenen Elemente. Wie der Körper des Menschen aus verschiedenen Gliedern besteht, die stufenweise strukturiert sind und aufeinander einwirken, so daß sie einen Organismus bilden, verhält es sich ebenso bei der Welt. Alle ihre geschaffenen Glieder und Teile sind hierarchisch strukturiert, und wenn sie aufeinander einwirken, bilden sie einen Organismus." (Zohar 1,134 a-b) 12 Die Bildung wird also z u einem religiösen Gebot, das in seiner idealen Erfüllung die ganze Torah, also Bibel und Talmud, umfassen soll. Die meisten beschränken sich aber auf eine elementare Bildung, die das Studium der Bibel, angefangen v o m Buch Leviticus, und teilweise die Mischna betrifft. Nur wenige gelangen zur höheren Stufe des Traditionsstudiums, z u m Talmud, der die Summe der jüdischen Bildung darstellt. 13 Diese zentrale, allumfassende Funktion der Torah im Leben und in der Weltanschauung der frommen Juden hatte einen entscheidenden Einfluß auf das Bildungssystem und auf die Auffassung des Wissens in der jüdischen Tradition und gab ihnen eine „jüdische" Prägung. Zur Zeit der Entstehung des babylonischen und jerusalemischen Talmuds (3.-4. Jahrhundert n. Chr.) gestaltete sich die jüdische Lösimg der Frage bezüglich der Anordnimg des Wissens nach einem organisatorischen Kriterium und nach d e m Zweck seiner Anwendung

anders

Enzyklopädien.

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als bei den zeitgenössischen

griechischen

und

römischen

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tete man aufgrund der zahlreichen Anachronismen den angeblichen Abschreiber der alten Schrift, Moshe ben Shem Τον von Leon (gest. 1305), als den eigentlichen Autor. Siehe auch Zohar IV, 161a-b: „Bei der Erschaffung der Welt hatte nichts einen festen Bestand, bis Er (=Gott) beschloß, den Menschen zu schaffen, damit er sich mit der Torah beschäftige und dadurch die Welt bestehen könne. Daher ermöglicht derjenige, der auf die Torah schaut und sie studiert, daß die ganze Welt besteht. Der Heilige, gepriesen sei er, schaute auf die Torah und schuf die Welt, und der Mensch schaute auf die Torah und läßt die Welt bestehen. Daraus ergibt sich, daß Triebkraft und Fundament der ganzen Welt die Torah ist." Stemberger, Das klassische Judentum, S. 114. Über die lateinischen Enzyklopädien siehe F. Deila Corte, Enciclopedisti latini, Genova 1989; B. Zimmermann, „Osservazioni sulla encyclopedia nella letteratura latina", in: M. Picone (Hrsg.), L' enciclopedismo medieoale. Atti del convegno „/' enciclopedismo medievale" San Gimignano 8-10 ottobre 1992, Ravenna 1994, S. 41-51.

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In der Kultur der Spätantike wurden die verschiedenen Wissenschaften je nach ihrem Beitrag zur Bildung des Geistes bewertet. Ihre Bedeutung wurde an ihrer Fähigkeit gemessen, als Mittel zu dienen, um eine praktische Wahrheit erlangen zu können. Sie wurden nicht wegen ihrer Inhalte, sondern wegen ihrer „Trainingsfunktion" des Geistes (exercitationes animi) geschätzt und in das Lehrsystem eingefügt. In der hellenistischen Tradition stellten sich die artes liberales, nämlich Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie als jene Disziplinen heraus, die am besten diese Funktion erfüllen konnten. Sie waren die ideale Bildung jedes freien Menschen. Cicero und Qu intili an betrachteten sie als die unentbehrliche Grundlage für die Bildung des doctus orator.15 Anfang des 5. Jahrhunderts wurden sie von Martianus Capella16 in seinem einzigartigen Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii (abgefaßt zwischen 410 und 439) beschrieben und somit in die christliche Kultur des Mittelalters eingeführt, das sie in literarische Disziplinen (trivium) und in mathematische (quadrivium) einteilte.17 Zur gleichen Zeit bot Augustin die theoretische Rechtfertigung für die Anwendung dieses Bildungsprogramms.18 Das Christentum fand in der neuplatonischen Philosophie ein Gedankensystem, das am besten zur christlichen Weltanschauung paßte. Die Aufwertung der übersinnlichen Welt gegenüber der unteren, physischen Welt führte zur geistigen Sammlung und zur Abkehr von der Sinnenwelt. Dieses Zusammenspiel von Neuplatonismus und Christentum ist klar erkennbar im Traktat De ordine, den Augustin (354-430) kurz vor seiner Bekehrung zum Christentum etwa um 386 in der Ruhe von Cassiciacum abfaßte. Voraussetzung für die Erlangung der Wahrheit, das heißt die Kontem15 16

17

Cicero, De Oratore 1,187; 111,127. Quintilian, Institutio oratoria 1,10,1-48. Über Martianus Capella siehe W. H. Stahl, Martianus Capella and the Seven Liberal Arts, 2 Bde.: Bd. 1, „The quadrivium of Martianus Capella: Latin Traditions in the Mathematical Sciences 50 B.C.-A.D. 1250, by William Harris Stahl; with a Study of the Allegory and the Verbal Disciplines by Richard Johnson with E. L. Bürge", New York 1971; Bd. 2, „The Marriage of Philology and Mercury translated by William Harris Stahl", New York 1977. Über die artes liberales und ihren Anteil am mittelalterlichen Bildungssystem siehe H I. Marrou, Histoire de V iducation dans Γ antiquite, Paris 1948 [Ndr. 2 Bde., 1981], die Beiträge von P. Lacoste, E. Gilson, H.-I. Marrou in: Arts liberaux et philosophie au Moyen Age. Actes du quatrieme Congres International de Philosophie Medieoale, Universite de MontrM, 27 aoüt-2 septembre 1967, Montreal/Paris 1969, S. 2-29, und I. Hadot, Arts liberaux et philosophie dans la pensäe antique, Paris 1984. Das mittelalterliche Bildungsprogramm der artes liberales war bereits ab dem 5. Jahrhundert festgelegt, die übliche Bezeichnung von trivium und quadrivium ist aber erst ab dem 9. Jahrhundert belegt.

18

Siehe Μ. T. Beonio/Brocchieri Fumagalli, Le enciclopedie dell' occidente medieoale, Torino 1981, S. 12-14, 18. Über die Einstellung Augustins gegenüber der Kultur der Spätantike siehe H.-I. Marrou, S. Augustin et lafin de la culture antique, Paris 1958.

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plation Gottes, ist für Augustin die Wahrnehmung und das Erfassen der Ordnung, mit der die Welt zusammengehalten und geleitet wird.19 Das fällt aber den meisten Menschen schwer und gelingt sehr selten, weil sie sich der Übermacht der Sinne nicht entwinden und daher die Führung der Vernunft (ratio) nicht befolgen können. Solange der Geist nicht in sich einkehrt und sich statt dessen in der Zerstreutheit der Gedanken verliert, kann der Blick der Seele die allgemeine Harmonie und Übereinstimmung nicht sehen. Der Geist, der von den Sinnen gefangen ist, kann die Schönheit des Universums nicht überblicken. Er ist wie ein Mensch, der auf einem Mosaikpflaster steht und dessen kurzer Blick nicht über das kleine Ausmaß eines einzigen Steinchens reicht. Er entdeckt in der Vielfalt jenes kleinen Feldes nur Unordnung und übersieht den ganzen Plan des Werkes, das aus den verschiedenen Mosaiksteinchen gebildet ist. Das Erfassen der Weltordnung und somit das Erlangen der Weisheit ist nur durch eine sittliche Läuterung, eine asketische Meditation und wissenschaftliche Schulung möglich.20 Diese erfolgt durch die exercitatio animi in den sieben artes liberales, in denen sich die Ordnung als ein System von Zahlenverhältnissen offenbart und deren Erlernen den menschlichen Verstand progressiv und kontinuierlich bis zur Erkenntnis der Wahrheit, das heißt zur Kontemplation Gottes, aufsteigen läßt.21 Nur wer die in allem herrschenden Zahlenverhältnisse auf ihr einheitliches, einfaches Grundprinzip, das in den vielen Wissenschaften verschiedenartig waltet, zurückgeführt hat, darf sich Gebildeter nennen. Der Bildungsgang durch die sieben artes liberales, die von Jugend auf eingehend und fleißig erlernt werden sollen, bietet die beste Vorbereitung, um zur Erkenntnis der kosmologischen Ordnung zu gelangen.22 Demgegenüber bezieht sich Augustin, bereits Bischof geworden, in dem Traktat De doctrina Christiana, den er etwa um 396 begann und um 426 vollendete, auf die Bibel, die den Hortensius und die Lektüre der Platoniker ersetzt hat. Der Weg zur Weisheit, das heißt zur ewigen Rettung, ist für Augustin das Wort Gottes, das in der Bibel festgelegt ist. In der Bibel wird das, was für den Menschen wichtig ist, nämlich die Glaubens- und Sittenlehre, klar dargelegt.23 Es gibt jedoch in den heiligen Schriften zahlreiche, verschiedene Unklarheiten und zweideutige Ausdrücke, die den vorwitzigen Leser täuschen. Gott hat den Schriftsinn absichtlich verborgen, um den Hochmut der Menschen zu zähmen

19 20 21

22 23

Augustin, De ordine 1,1. Ibid., 1,2-4. Ibid., 11,14; 35-44. Bereits in der einfachsten Wissenschaft, der Grammatik, zeigt die unterschiedliche Dauer von Ton und Silbe und das abhängige Verhältnis der langen und kurzen Silbe, daß Zahlenverhältnisse der Ordnung zugrunde liegen. Siehe De ordine 11,36. Ibid., 11,44. Augustin, De doctrina Christiana Π,9.

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und ihren Geist anzuregen.24 Das Verständnis der Heiligen Schrift ist aber durch die sieben Gaben des Heiligen Geistes möglich, zu denen auch die Wissenschaft gehört.25 Eine der Folgen der Ursünde ist die Entstehung der Sprache als notwendiges, aber inadäquates Kommunikationsmittel. Die Worte und die Schriftzeichen spiegeln den Mangel der Sprache wider, und daher soll eine richtige Textdeutung über die Worte hinaus zielen.26 Nach der Ursünde gewinnt man Kenntnis nicht mehr durch eine einfache Intuition, sondern durch ein mühseliges Erlernen der Erfahrungen anderer Menschen, die uns in den Büchern überliefert worden sind.27 Die heidnische griechische und lateinische Kultur wird somit in das Lehrprogramm Augustins aufgenommen, soweit sie zum Verständnis der heiligen Schrift nützlich sein kann.28 Die sieben artes liberales, denen Augustin in De doctrina Christiana noch die Naturwissenschaften und die Geschichte hinzufügt, deren wissenschaftliche Bedeutung jetzt anerkannt wird, sind für ihn die zu einem gründlichen Bibelstudium erforderliche Vorbildung.29 Somit werden diese Inhalte der heidnischen Kultur, die Augustin als nützliches Lehrmittel für ein besseres Verständnis der Bibel legitimiert hat, in das christliche Bildimgssystem aufgenommen und bleiben so die kulturelle Grundlage auch noch der mittelalterlichen Enzyklopädien. Das jüdische Bildungssystem war hingegen nicht nach einigen bestimmten Disziplinen mit einer zu höheren Erkenntnissen einführenden Funktion aufgebaut. Das Lernen wird von Anfang an schon beim Lesen und Schreiben des Textes der Torah geübt: „Sobald der Knabe zu sprechen beginnt, spricht sein Vater mit ihm in der heiligen Sprache und lehrt ihn Torah" (SifDev § 46).30 Auch die „Mündliche Torah", das heißt die Mischna („Wiederholung, Lehre") mit den darauf aufbauenden Traditionen der Gemara („Vollendung"), die zusammen den Talmud („Lehre") bilden, ist nicht nach einem System bestimmter Disziplinen geordnet. Eine einheitliche Strukturierung des Wissens ist nicht erkennbar. Denn die Einheit ist bereits vorgegeben, nämlich im Wort Gottes, das sich in unendlich verschiedenen gleichwertigen Möglichkeiten verwirklicht.31 Das Wissen stammt also aus einer unerschöpflichen, immer 2" 25 26 27 28 29

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31

Ibid., Π,6. Ibid., Π,7,9-11. Ibid. Π,4,5-5,6. Vgl. Confessiones IV,11,17 und De doctrina Christiana, prologus 4-9. Augustin, De doctrina Christiana Π,18. Ibid., 11,28-29, 31, 36-38. Im früheren Traktat, De ordine, hatte Augustin wohl die Geschichte als einen Teil der Grammatik betrachtet, aber ihren Wert als wissenschaftliche Disziplin geringgeschätzt (siehe De ordine 11,37). Siehe G. Stemberger, Das klassische Judentum, S. 109. Die zitierte Stelle ist nach der Ubersetzung von Stemberger angeführt. G. B. Sermoneta, „Le enciclopedie nel mondo ebraico medievale. Tre trattati neoplatonizzanti a carattere enciclopedico", in: Rivista di Storia della Filosofia XL N.S. I

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gleich bleibenden Quelle, und trotz der verschiedenen Arten und Weisen, in denen sich Gott in seiner Schöpfung dem Menschen offenbart, führt jedes Forschungsverfahren zu derselben Quelle zurück. Die Vielzahl der unterschiedlichen Themen, die im Talmud diskutiert werden und die zu den verschiedenen Wissensgebieten gehören, haben den gleichen Wert, weil sie immer nur einen Teil der unergründlichen und sich ständig offenbarenden Weisheit Gottes dokumentieren. Damit erklärt sich das Fehlen einer Klassifizierung des Wissens in den talmudischen Traktaten, die sich als eine Art Sammlung unterschiedlicher Kenntnisse aus allen Wissenschaftsgebieten, zu denen man zur Zeit ihres Verfassens gelangt war, präsentieren. In diesem Sinn kann man den Talmud als eine Art „Enzyklopädie" betrachten, die eine in den religiösen Texten bereits latent vorgegebene Wahrheit durch die dialektische Auslegung konkreter Fragen und Erfahrungen offenbart, um ihr eine Anweisung zur richtigen Lebensführung (Halakhah) zu entnehmen. Der praktische Charakter des talmudischen Wissens lehnt jegliche Theorie ab. Denn die Welt, die aus einer unerschöpflichen Quelle hervorgeht, verändert sich kontinuierlich, und der Mensch ist mit einem sich ständig verändernden Umfeld konfrontiert. Der biblische Text, in dem das Verhältnis zwischen Gott und Mensch geregelt wird, weist, genauso wie sein göttlicher Verfasser, unendliche Aspekte auf. Die durch die Auslegung des biblischen Textes erworbene Kenntnis kann also nur eine pragmatische Antwort auf eine konkrete Frage bieten, da jeder Einzelfall je nach der historischen Kontingenz immer anders sein wird.32 Der Talmud hatte eine dauerhafte Wirkimg auf die Bildimg des jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Die Auffassung, daß das Wissen immer praktischen Zwecken dienen sollte, führte den jüdischen Autor wissenschaftlicher Werke, meistens ein Arzt oder ein Philosoph, dazu, den praktischen Charakter seiner Arbeit hervorzuheben. Von den arabischen und lateinischen Vorlagen, auch von denen, die als „echte" Enzyklopädien bezeichnet werden können, wurden die theoretischen Prämissen ausgelassen und dem Leser nur die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft und die aktuellsten Kenntnisse zusammengefaßt vorgelegt.33 Man wollte dem Leser, der über eine durchschnittliche Bildung verfügte, eine Art Handbuch zur Verfügung stellen, auf das er zurückgreifen konnte, um eine schnelle Antwort auf seine Fragen zu finden, wobei zugleich sein Glaube gestärkt werden sollte.34 Besonders ab dem 13. Jahrhundert, als

32 33 34

(1985), S. 7-49: 9. Über die Argumentationsmethode im Talmud siehe L. Jacobs, Studies in Talmud Logic and Methodology, London 1961; id., The Talmudic Argument. A Study in Talmudic Reasoning and Methodology, Cambridge 1984. Sermoneta, „Le enciclopedie", S. 10-12. Ibid., S. 12-13. Das ist zum Beispiel der Fall bei dem enzyklopädischen Traktat Yesodot ha-tevunah umigdal ha-emunah des R. Abraham Bar Hiyyah (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts), bei

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man von den neuplatonischen auf die aristotelischen Enzyklopädien überging, wurde diese Tendenz stärker.35 Shem Tob ibn Falaquera hatte sich zum Beispiel bei der Abfassung seines Sefer de'ot ha-filosofim („Das Buch der Meinungen der Philosophen") zwei Ziele gesetzt: Er wollte dem jüdischen Leser ermöglichen, die Lehre der alten Philosophen entsprechend der Erläuterung der arabischen Kommentatoren auf hebräisch zu lesen, und ihre wesentliche Übereinstimmung mit der Torah nachweisen.36 Vor diesem Hintergrund sollen auch jene Traktate, wie beispielsweise biblische oder philosophische Kommentare, bewertet werden, die im ersten Augenblick nicht als Enzyklopädien stricto sensu bezeichnet werden können. Hier fehlt eine planmäßige Behandlung der verschiedenen Wissensgebiete; nur der Text, der kommentiert wird, dient als Leitfaden. Dennoch gaben die biblischen oder philosophischen Texte dem Kommentator Anlaß, Exkurse einzuführen, in denen dem Leser die neuen Ergebnisse der zeitgenössischen Wissenschaft vorgestellt wurden. Und oft stehen solche Exkurse mit dem ursprünglichen Vorhaben des Autors nur in einer sehr vagen Verbindung, so daß sie beim unerfahrenen Leser den Eindruck erwecken können, es mit einem strukturlosen Werk zu tun zu haben. In direktem Zusammenhang mit dem Talmud steht der Mishneh Torah („Die Wiederholung der Torah") des Maimonides, die als eine Rechtsenzyklopädie betrachtet werden kann.37 Ihr enzyklopädischer Charakter besteht in der systematischen, allumfassenden Darlegung des jüdischen Rechts mit dem Ziel, eine so weit als möglich geordnete und überschaubare Zusammenfassung aller verbindlichen Anweisungen für eine korrekte Lebensführimg anzufertigen. Der Mishneh Torah war aber nicht nur als Nachschlagewerk gedacht. Er sollte vielmehr eine vollständige Vorstellung der jüdischen Tradition in ihrer gesetzlichen Entwicklung bieten und zur geistigen Vervollkommnung verhelfen. Notwendige Voraussetzimg für ein besseres Verständnis der Gesetze und für eine vollkommene Erfüllung der Gebote war für Maimonides entsprechend seinem aristotelischen Rationalismus eine adäquate philosophische

35

36

37

den christlichen Scholastikern unter dem Namen „Savasorda" bekannt. Über ihn siehe Sermoneta, „Le encidopedie", S. 26-37. Ibid., S. 13 Anm. 6. Zum Einfluß der (neu)platonischen und aristotelischen Lehre auf die Klassifizierung der Wissenschaften in jüdischen mittelalterlichen Werken siehe Η. A. Wolfson, „The Classification of Sciences in Medieval Jewish Philosophy", in: id., Studies in the History of Philosophy and Religion, hrsg. von I. Twersky/G. H. Williams, 2 Bde., Cambridge, Mass. 1973-1977: Bd. 1, S. 493-550. Siehe Μ. Zonta, Un dizionariofilosoficoebraico del XIII secolo. L' introduzione al „Sefer De of ha-Filosofim" di Shem Tob ibn Falaquera, Torino 1992, S. 11-12. Siehe J. R. Woolf, „Reflections on the Place of Maimonides' Mishneh Tora in the Tradition of the Medieval Encyclopedia", in: S. Harvey (Hrsg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, S. 123-139.

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Bildung. Die profanen Wissenschaften hatten für Maimonides eine ergänzende Funktion beim Studium der Halakhah. Denn nur durch ihre Kenntnis kann man den tiefliegenden Sinn des Gesetzes begreifen und zu jener intellektuellen und geistigen Vollkommenheit gelangen, die das Endziel des Befolgens der Gebote ist. Diese einheitliche Auffassung des Wissens wird von Maimonides theologisch durch seinen göttlichen Ursprung begründet. Für Maimonides stammt das Wissen in all seinen Formen von Gott und findet im Wort Gottes seine Einheit. Der Mishneh Torah hat insofern είης zentrale Stellung in der Geschichte der jüdischen Enzyklopädie, weil er der erste und noch heute unübertroffene Versuch ist, eine rationale Darstellung des Judentums in seiner gesetzlichen Essenz darzubieten und die profane Bildung, insbesondere die aristotelische Philosophie, für eine bessere Darlegung der Gesetze zu rechtfertigen. Die einheitliche Auffassung des Wissens liegt auch der ersten jüdischen philosophisch-wissenschaftlichen Enzyklopädie, der Yesode ha-tevunah u-migdal ha-emunah, zugrunde, die etwa 50 Jahre vor dem Mishneh Torah im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts von R. Abraham Bar Hiyyah, auch als Savasorda bekannt, verfaßt wurde.38 Seine Enzyklopädie hatte eine praktische Ausrichtung. Bar Hiyyah erklärt am Anfang seines Werkes, er habe das Buch nicht aus eigenem Entschluß verfaßt, um Ehre und materielle Vorteile für sich zu erwerben, sondern auf Anforderung der größten Gelehrten seiner Zeit, weil es kein hebräisches Buch in Sefarad, das heißt Katalonien und Provence, gab, wo alle Wissenschaften beschrieben werden. Unter Bezugnahme auf arabische Vorlagen wollte Bar Hiyyah eine synthetische Darlegung jener Wissenschaften anfertigen, die alle erforderlichen Grundkenntnisse vermitteln, um die letzte, höchste Wahrheit erreichen zu können. Die Wissenschaften, die in seinem Buch dargelegt werden, stellen an und für sich nicht die Weisheit dar. Sie sind nur eine Einführimg oder, wie der Titel lautet, die Grundlage, um das wahre Wissen, nämlich die Kenntnis von Gott, zu erreichen. Dementsprechend plante Bar Hiyyah seine Enzyklopädie als ein „Bauwerk" in zwei Hauptteilen. Den ersten Teil nannte er „Die Fundamente des Verständnisses". Die „Fundamente" bestanden nämlich aus vier Traktaten, die verschiedene Abhandlungen („Säulen") von profanen Wissenschaften beinhalteten. Die „Fundamente" mit ihren „Säulen" bildeten die Grundlage, auf die der „Turm des Glaubens", so heißt der zweite Teil der Enzyklopädie, gebaut werden sollte. Von dem gesamten enzyklopädischen Bauwerk sind nur die Einleitung und das erste „Fundament" mit zwei „Säulen", das heißt den Abhandlungen über Mathematik und Geometrie, die auch Optik einschließt, und dem Anfang der dritten, die sich mit der Musik befaßt, überliefert. Aus der Einleitung erfahren wir, welche Dis38

Siehe M. Rubio, „The First Hebrew Encyclopedia of Science: Abraham Bar Hiyya's Yesodei ha-Tevunah u-Migdal ha-Emunah", in: S. Harvey (Hrsg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, S. 140-153.

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ziplinen die weiteren „Fundamente" und „Säulen" bildeten: Astronomie und Logik waren die zwei weiteren „Säulen" des ersten „Fundamentes", Physik war in acht „Säulen" des zweiten „Fundamentes" behandelt, mit Ethik und Politik befaßte sich das dritte „Fundament" und mit Metaphysik und Theologie das vierte und letzte „Fundament" des ersten Teils der Enzyklopädie. Erst wenn man alle diese Disziplinen erworben hat, kann man zum zweiten Teil der Enzyklopädie übergehen. In der Einleitung wird über die konkrete Gestaltung des zweiten Teils des Buches nichts gesagt, man kann aber nach dem Titel vermuten, daß der „Turm des Glaubens" eine Darlegung der Torah oder eine Zusammenfassung der Grundsätze des Glaubens beinhaltete. Die Enzyklopädie des Bar Hiyyah zeigt sich also als ein geschlossenes, integriertes Lehrsystem, das entsprechend seiner Weltanschauung und seiner Auffassung vom Menschen als Mikrokosmos aufgestellt ist. Ausgangspunkt für seine Darlegung der Weisheit ist Jer 9,22-23: So spricht der HERR: Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums; sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, daß er Einsicht habe und mich erkenne, daß ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden! Denn an solchem habe ich Wohlgefallen, spricht der HERR.

Bar Hiyyah betrachtet das Sein ids hierarchisch in eine vegetative, sensitive und rationale Ebene gegliedert. Diese Ordnung wird von der menschlichen Seele mit ihrem vegetativen, sensitiven und rationalen Vermögen widergespiegelt.39 Dem dreifachen Vermögen der Seele gehören jeweils drei Tugenden an: „Reichtum", „Stärke" und „Weisheit". Weisheit ist das Hauptziel des Menschen, der sich eben aufgrund seiner Rationalität von allen anderen Lebewesen dieser Welt unterscheidet. Weisheit wird erst erreicht, wenn die rationale Seele in der Lage ist, die zwei anderen ihr untergeordneten Funktionen, nämlich die vegetative und sensitive, zu leiten. Auf diese drei Tugenden ist das Verständnis der Torah, und letztendlich die Erkenntnis Gottes, gegründet. Die Wissenschaften, die in den vier „Fundamenten" mit ihren „Säulen" dargelegt sind, sollen im Menschen diese Tugenden entwickeln, und zwar führt das erste „Fundament" mit Mathematik, Geometrie, Musik, Astronomie und Logik zur „Weisheit", das zweite „Fundament" der Physik ist mit der Tugend der „Stärke" verbunden, von dem dritten mit Politik und Ethik hängt die Tugend des „Reichtums" ab. Diese drei Tugenden sind unentbehrlich, um zum vierten „Fundament" übergehen zu können, das sich mit der

39

Bar Hiyyah gibt keine eindeutige Beschreibung der Seele. Er schwankt zwischen der platonischen Auffassung von drei Seelen und der aristotelischen einzigen Seele, die ein dreifaches Vermögen aufweist. Siehe dazu Sermoneta, „Le enöclopedie", S. 36 Anm. 47.

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Theologie sowie mit der Metaphysik befaßt, die Bar Hiyyah als die Wissenschaft der Wissenschaften bezeichnet. Mit dem vierten „Fundament" bekommt man schließlich „Einsicht" und die Kenntnis der göttlichen Wissenschaften. Diese höchste Stufe der Weisheit, nämlich die Erkenntnis Gottes, derer sich der Mensch rühmen kann, ist aber nur möglich, wenn der Geist Gottes dabei hilft, die Worte der Propheten richtig zu deuten und zu verstehen. Sehr wahrscheinlich hat Bar Hiyyah sein enzyklopädisches „Bauwerk" nie vollendet, und dennoch hat sein Werk, trotz seines geringen Einflusses und seiner begrenzten Verbreitung, eine besondere Bedeutung in der Geschichte der jüdischen Enzyklopädie im Mittelalter erlangt: Seine Enzyklopädie ist nämlich die erste Darstellung des Wissens nach der aristotelischen Klassifizierung und weist bereits jene Eigenschaften auf, die mehr oder weniger alle späteren jüdischen Enzyklopädien charakterisieren. Die Aufnahme der aristotelischen Auffassung des Wissens in die jüdische Tradition zieht eine Aufwertung der Physik nach sich. Für die platonisch geprägte jüdische Tradition des Frühmittelalters, die insbesondere in dem Traktat des Sefer yesirah40 ersichtlich ist, bestand das Wissen in der Entdeckung der Grundsätze der Schöpfung durch die Erforschung der Zusammenstellung der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets mit den zehn Sefirot, den ideellen Entitäten von quantitativer und qualitativer Natur. Da der Mensch als Mikrokosmos betrachtet wurde, in dem sich die Weltstruktur widerspiegelt, waren die Grundprinzipien der Schöpfung im Menschen selbst zu finden. Das Wissen bestand also in der Erklärung des Schöpfungsprozesses und nicht in der Suche nach einer metaphysischen Wahrheit, die für den Menschen immer unerreich40

In dem zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert in Palästina verfaßten Sefer yesirah („Das Buch der Schöpfung") wird behauptet, daß Gott „durch zweiunddreißig Wunderpfade der Weisheit" die Welt geschaffen habe. Diese „zweiunddreißig Wunderpfade der Weisheit" setzen sich aus den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und aus den zehn „Sefirot", wörtlich „Grundzahlen", zusammen. Die zehn „Sefirot" sind die Grundprinzipien der Welt, nämlich die vier Grundelemente (göttlicher Geist, Äther, Wasser, Feuer) und die sechs Dimensionen des Raums (Oben, Unten und die vier Himmelsrichtungen). Diese „Sefirot" dürfen aber nicht mit den späteren „Sefirot" der Kabbalisten verwechselt werden. Obwohl diese den Namen und bestimmte Ansätze von hier abgeleitet hatten, wurden die kabbalistischen Sefirot als die zehn Wirkkräfte der Gottheit im Rahmen eines neuen Weltbildes interpretiert, das sich durch das Bestreben nach der Integration der Gegensätze, und damit von Gut und Böse überhaupt, auszeichnet. Die Buchstaben, die die Schöpfung tragen, sind nach bestimmten phonetischen Kriterien in drei Gruppen eingeteilt: 1) drei „Mütter", nämlich '(alef), M(em), Sh(in), 2) sieben „Doppelte", die BGDKPT mit R, die zweifach (weich/hart) ausgesprochen werden können, 3) die zwölf restlichen „einfachen" Konsonanten. Jede Buchstabengruppe wird kosmologisch (die sieben Wochentage, die sieben Planeten, die zwölf Tierkreiszeichen) gedeutet und daher im Rahmen der Mikrokosmos-Vorstellung und des astrologischen Determinismus mit dem Menschen in Relation gesetzt.

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bar bleiben würde. In diesem Erkenntnisprozeß waren die propädeutischen Wissenschaften, Logik, Rhetorik, Grammatik, Physik, bedeutungslos. Denn jedes Phänomen ist α priori erklärbar, wenn man die richtige Zusammenstellung der einzelnen Buchstaben und der Sefirot kennt. Der Aristotelismus, der durch die arabischen Vorlagen in die jüdischen Enzyklopädien des 12. und 13. Jahrhunderts gelangt war, führte zu einer neuen Auffassung des Erkenntnisprozesses. Logik, Rhetorik, Grammatik und Physik werden als propädeutische Wissenschaften betrachtet, als Hilfsmittel für ein besseres Verständnis des Wortes Gottes. Oberstes Ziel ist die Erkenntnis Gottes, die Wahrheit schlechthin. Das wird erreicht, indem man die Außenwelt erforscht und durch einen diskursiven Erkenntnisprozeß stufenweise bis zur letzten Ursache hinaufsteigt. Die Forschung der Naturphänomene bleibt aber immer in den Grenzen einer biblisch-theologischen Weltanschauung. Jede Kenntnis der profanen Wissenschaften wird auf den biblischen Text bezogen, der als Wort Gottes, als Wahrheitskriterium gilt. Hier zeigt sich eine Kompromißlösung zwischen den neuen aristotelischen Einflüssen und dem Neuplatonismus. Denn der höchste Grad der Weisheit wird nur erreicht, wenn Gott seinen Beistand leistet. Nicht durch ein rationales Erkenntnisverfahren kann man den tieferen Sinn des Wortes Gottes begreifen, sondern nur durch seine Erleuchtung. Dieses Streben nach einer Integration der profanen Wissenschaften in die jüdische Tradition ist in allen späteren jüdischen Enzyklopädien deutlich erkennbar. Das Studium der Wissenschaften wurde nicht als Ablenkung vom Studium der Torah verurteilt, sondern als unverzichtbare geistige Vorbereitung betrachtet. Unter den Autoren bestanden aber Unterschiede bei der Bewertung der Disziplinen, die dafür angebracht sind. Einer der wenigen Autoren, die von der Enzyklopädie des Bar Hiyyah beeinflußt wurden, war R. Levi ben Abraham aus Villefranche.41 Als überzeugter Anhänger des Maimonides sah er in der maimonidischen Lehre die beste und wahrhaftigste Darlegung der Grundsätze des jüdischen Glaubens. Dennoch setzte der Führer der Unschlüssigen des Maimonides bei seinen Lesern eine ausreichende wissenschaftliche und philosophische Bildung voraus, um richtig verstanden zu werden. Mit dem Ziel, den Führer der Unschlüssigen jedermann zugänglich zu machen, verfaßte R. Levi ben Abraham einen enzyklopädischen Traktat als Einführung in die maimonidische Lehre, in der alle erforderlichen wissenschaftlichen Kenntnisse vermittelt werden sollten. Sein enzyklopädischer Traktat Liviat hen ist nach dem Muster der Enzyklopädie des Bar Hiyyah in zwei Teilen abgefaßt, die er nach den zwei Säulen, die sich in der Vorhalle des 41

Siehe dazu W. Zev Harvey, „Levi ben Abraham of Villefranche's Controversial Encyclopedia", in: S. Harvey (Hrsg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, S. 171-188.

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salomonischen Tempels befunden hatten, „Jachin" und „Boaz" nannte. In „Jachin" werden die profanen Wissenschaften und in „Boaz" die Traditionslehre nach der rationalistischen Interpretation des Maimonides behandelt. Beide „Säulen" ergänzen einander und bilden zusammen eine integrierte Darlegung des profanen Wissens und der Grundsätze des jüdischen Glaubens. Zu den profanen Wissenschaften zählt R. Levi ben Abraham die „praktische" Philosophie, das heißt Politik und Ethik, und die „theoretische" Philosophie, nämlich Mathematik, Physik und Metaphysik. Die Mathematik beinhaltet Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Astrologie und Musik, das heißt das Quadrivium des mittelalterlichen Lehrsystems, und die Mechanik. Abweichend von Maimonides, der die Astrologie als Aberglauben verurteilte, glaubt R. Levi ben Abraham an die magische Kraft der Sterne und an ihren Einfluß auf das Schicksal der Menschen. Abgesehen von der Astrologie, bei der sich R. Levi ben Abraham auf Bar Hiyyah und Ibn Ezra bezieht, folgt seine Darlegung der profanen Wissenschaften der aristotelisch-maimonidischen Klassifizierung. Einige Abweichungen von diesem wissenschaftlichen System weisen die zwei anderen bedeutenden jüdischen Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts auf: der Sha'ar ha-shamayim des Gershon ben Shlomo aus Arles (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) und der Midrash ha-hokhmah des Yehudah ben Shlomo haKohen aus Toledo, der zwischen 1245 und 1247 in Italien abgefaßt wurde. In der Einleitung zum Midrash ha-hokhmah werden die wissenschaftlichen Disziplinen aufgelistet, die zum Büdungssystem der Zeit gehören.42 Diese sind nach der aristotelischen Klassifizierung in Physik, Mathematik und Metaphysik eingeteilt, was wiederum der dreigliedrigen Ordnung des Kosmos (Welt der Zeugimg und der Verwesung, Welt der Sphären und die göttliche Welt) entspricht. Dennoch werden in der Enzyklopädie nur einige der aristotelischen Disziplinen berücksichtigt, und zwar von der Logik nur die ersten vier Bücher des Organon und von der Mathematik nur die Geometrie und die Astronomie. Physik und Metaphysik werden dagegen vollständig nach den Kommentaren des Averroes dargelegt. Es fehlt komplett eine Erläuterung der „praktischen" Philosophie: Weder Politik noch Ökonomie oder Ethik werden in der Einleitung erwähnt oder in der Enzyklopädie behandelt. In die Erläuterung der profanen Wissenschaften sind drei Abhandlungen über die Bibelexegese, über haggadische Teile des Talmud und über die Buchstaben des hebräischen Alphabets eingefügt. Die Darlegung von profanen Wissenschaften mit Texten und Themen der jüdischen Tradition entspricht den apologetischen und erzieherischen Absichten des Autors. Mit seinem Werk wollte Yehudah ben Shlomo seinen Lesern eine aktualisierte Zusammenfassimg der verschiedenen 42

R. Fontaine, „Judah ben Solomon ha-Cohen's Midrash ha-Hokhmah: Its Sources and Use of Sources", in: S. Harvey (Hrsg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, S. 191-210.

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Bereiche des Wissens anbieten, um der Kritik der Nichtjuden entgegenzutreten, die sich dieser Disziplinen rühmten und beteuerten, die Juden seien ohne Wissen. Andererseits war sein pädagogisches Ziel, jene jüdischen Gelehrten, die sich dem Studium der Philosophie gewidmet hatten, wieder zur Torah zurückzuführen. Denn wahrhaftige und zuverlässige Kenntnisse können vom Wort Gottes gewonnen werden. Nur wer sich ständig mit der Offenbarung Gottes beschäftigt, erreicht den höchsten Grad der Weisheit. Die Philosophie, und damit ist die aristotelische Philosophie gemeint, ist nur eine menschliche Konstruktion - unzuverlässig und irreführend. Entsprechend dieser ablehnenden Haltung gegenüber der Philosophie im allgemeinen und der aristotelischen im besonderen ergänzt Yehudah ben Shlomo die Zitate aus den aristotelischen Traktaten mit kritischen Bemerkungen, um die Unstimmigkeiten und Widersprüche der aristotelischen Lehre hervorzuheben. Mehr als eine Enzyklopädie zeigt sich der Midrash ha-hokhmah als ein pädagogischer Traktat, der seinen Lesern einen kritischen Umgang mit den profanen Wissenschaften beibringen will. Trotz der polemischen Darlegung der aristotelischen Philosophie, die im Rahmen der damaligen anti-maimonidischen Kontroverse zu sehen ist, weist der Midrash ha-hokhmah einen enzyklopädischen Charakter auf, indem sich der Autor bemüht, für das breitere Publikum eine klare und bündige Darlegung der Grundkenntnisse seiner Zeit in einem leicht zugänglichen Werk abzufassen. Eine allgemeinverständliche Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse ist Ziel des Sha'ar ha-shamayim.*3 Der Name ist von der biblischen Erzählung von Jakobs Traum (Gen 28,17) abgeleitet, entsprechend ist auch der Traum der Ausgangspunkt für die Einteilung der Wissenschaften in Physik, Astronomie und Metaphysik nach der Interpretation des Shmuel ibn Tibbon. Die Leiter in Jakobs Traum mit den hinauf- und herabsteigenden Engeln und Gott an der Spitze wird nämlich als ein aufsteigender Erkenntnisprozeß, der von den niedrigeren Kenntnissen, das heißt der Physik und Astronomie, bis zur höchsten Kenntnis führt, das heißt zur Metaphysik, die Gershon ben Shlomo der Theologie gleichsetzt und „göttliche Wissenschaft oder Wissenschaft der Einheit" nennt. Die Astronomie ist die einzige Disziplin des Quadriviums, die zu diesem Lernprozeß gehört. Arithmetik, Geometrie, Musik sowie Logik, Ethik, Ökonomie und Politik werden nicht berücksichtigt. Anders als die anderen enzyklopädischen Traktate, die nur handschriftlich erhalten sind und nie wirklich verbreitet und populär wurden, erlangte das Werk des Gershon ben Shlomo einen hohen Bekanntheitsgrad (Erstdruck Venedig 1547) und beeinflußte andere Autoren, wie zum Beispiel R. Meir ben Siehe J. T. Robinson, „Gershom ben Solomon of Arles' Sha'ar ha-shamayim: Its Sources and Use of Sources", in: S. Harvey (Hrsg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, S. 248-274.

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Isaak Aldabi, dessen Sheoile ha-emunah (um 1360, Erstdruck Riva di Trento 1559) zum großen Teil aus dem Sha'ar ha-shamayim abgeleitet ist. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, daß Gershon ben Shlomo in der eklektischen Anlage von Aristotelismus und Neuplatonismus ein zugängliches und lehrreiches Nachschlagewerk von wissenschaftlichen Kenntnissen abfassen wollte, das in konservativen Kreisen keinen Anstoß erregen sollte. Ein direkter Einfluß auf die Shilte ha-gibborim läßt sich weder durch den Sha'ar ha-shamayim noch durch die anderen mittelalterlichen jüdischen Enzyklopädien nachweisen. Sicher: Portaleone hat die gleichen apologetischpädagogischen Ziele seiner mittelalterlichen Vorgänger vor Augen. Auch er will die Überlegenheit der jüdischen Kultur nachweisen und zugleich seine Glaubensgenossen in einer Zeit der Krise zur Besinnimg auf ihre eigene Tradition zurückführen, indem der Ursprung aller wissenschaftlichen Kenntnisse in der Torah gesehen wird. Ziel und Verfahren sind nicht neu. Neu sind aber zum Teil die kulturellen Inhalte, die in der Bibel gesucht werden, sowie die Art und Weise ihrer Darlegung, die in die Beschreibving des salomonischen Tempels eingefügt wird. Unter den früheren enzyklopädischen Traktaten jüdischer Autoren weist nur der Miqdash me'at („Der kleine Tempel") des Mose da Rieti (1388-1460) einige Analogien zu den Shilte ha-gibborim auf. Der Miqdash me'at ist nach dem Vorbild von Dantes Göttlicher Komödie als ein didaktisch-enzyklopädisches Werk verfaßt.44 In der poetischen Form der „terza rima" werden alle wichtigen Disziplinen des damaligen Wissens dargelegt. Der erste Teil befaßt sich mit den vier Disziplinen des Quadriviums, das heißt Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Sie vermitteln die erforderliche, propädeutische Bildimg, um zum zweiten Teil des Werkes überzugehen, in dem, der dreifachen Einteilung des Tempels folgend (Ulam = Vorhalle, Hekhal = Tempelhalle und Devir = Allerheiligstes), die Physik, die Metaphysik und die Ethik, die auch Politik einschließt, erläutert werden. Der Miqdash me'at gehört, was seine Inhalte angeht, zu den mittelalterlichen enzyklopädischen Traktaten. Seine literarische Form aber kündigt schon die typische Vorliebe der Renaissance für die architektonische Darstellung wissenschaftlich-philosophischer Themen an. Portaleone 44

Das Lehrgedicht des Mose da Rieti wurde erst 1851 durch Jakob Goldenthal veröffentlicht: II Dante ebreo ossia il picciol santuario: Poema didattico in terza rima contenente lafilosofia antica e tutta la storia letteraria giudaica sino all' etä sua dal Rabbi Mose, medico di Rieti, Wien 1851. Ein weiterer unvollendeter didaktisch-enzyklopädischer Traktat von ihm, welcher in einer einzigen Handschrift auf italienisch mit hebräischen Buchstaben erhalten ist, wurde erst im 20. Jahrhundert von Irene Hijsmans-Tromp herausgegeben (Filosofia naturale efatti de Dio. Testo inedito del secolo XV, Leiden 1989). Über Mose da Rieti mit einer englischen kommentierten Übersetzung der ersten zwei conti des ulam siehe: R. P. Scheindlin/A. Guetta/D. Bregman, „Miqdash Me'at by Moses da Rieti (1388-c. 1460)", in: Procftexts. A Journal of Jewish Literary History 23/1 (2003), S. 1-93.

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Die Shüte ha-gibborim als Enzyklopädie

erwähnt weder Mose da Rieti noch den Miqdash me'at. Doch eine ideelle Verbindung zwischen beiden Werken ist die ähnliche literarische Form, die ihren Ursprung in der mnemotechnischen Tradition hat.

2. Auf der Suche nach einer neuen Einheit: Die Restrukturierung des Wissens im 15.-16. Jahrhundert Die Enzyklopädien des 15.-16. Jahrhunderts spiegeln die intellektuelle und ethische Krise ihrer Zeit wider. Die mittelalterlichen kulturellen Muster wurden allmählich angesichts der neuen Instanzen als unzulänglich empfunden. Geographische und technische Entdeckungen führten zu einer neuen, mit der Vergangenheit brechenden Weltanschauung, die die bis zu dieser Zeit unumstrittenen Grundprinzipien der Weltordnung in Frage stellte.45 Trotz der andauernden Wirkung veralteter Strukturen46 bemühte man sich, neue Systeme zu erarbeiten, die die Angleichung der neuen Kenntnisse an die traditionellen Werte und somit die Erhaltung einer Einheitsauffassung des Wissens ermöglichen sollten.47 Die Enzyklopädisten dieser Zeit legten zumeist dem ersten Teil der Bezeichnung „Enzyklopädie" Bedeutung bei: Gegenüber dem pädagogischen Charakter überwiegt der Anspruch, allumfassend, beständig und normativ, nämlich „universal" zu sein.48 Die Begründung dieser Universalwissenschaften beruhte auf einer neuen Auffassimg vom Menschen und Kosmos. Die mittelalterlichen „Enzyklopädien" waren nur als Darstellung der gesamten Kenntnisse mittels der Zusammenstellung verschiedener Texte konzipiert, wobei die Theologie als die „Summa" jeder Wissenschaft galt. Die Beschäftigimg mit den philosophischen und Naturwissenschaften war nur als eine Annäherung an das Mysterium Gottes gerechtfertigt, das sich dem Menschen in den Naturgeheimnissen offenbart. Der Mensch, der Grenzen bewußt, die seiner Intelligenz und Forschung gesetzt sind, durfte die Naturgeheimnisse nur mit Ehrfurcht unter-

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Über das Verhältnis von Mittelalter und Renaissance und die Auswirkung der neuen geographischen und astronomischen Entdeckungen auf eine neue Weltanschauung siehe E. Garin, Medioeuo e Rinascimento, Roma/Bari 1990, bes. S. 85-100. Vor allem die Universitäten zeigten sich sehr konservativ und den kulturellen Neuerungen abgeneigt. Siehe zum Beispiel E. Garin, Scienza e vita civile nel Rinascimento italiano, Roma/Bari 1993, S. 119-122. Siehe Α. Η. T. Levi, „Ethics and the Encyclopedia in the Sixteenth Century", in: P. Sharatt (Hrsg.), French Renaissance Studies. 1540-70. Humanism and the Encyclopedia, Edinburgh 1976, S. 170-184. Siehe W. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, S. Xni-XXV, 31-66.

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suchen, oder besser gesagt, beobachten. Hieronymus' Übersetzung der Worte des Paulus μή υψηλά φρονεί άλλά φοβοϋ (Rom 11,20) mit noli altum sapere, sed time wurde nicht als eine moralische, sondern als eine intellektuelle Mahnung verstanden.49 Der Mensch kann nur die unergründliche Weisheit Gottes, die sich in der Pracht seiner Schöpfung widerspiegelt, wahrnehmen. Der Spiegel wird zur geläufigen Metapher dieser Einstellung, die den enzyklopädischen Werken des Mittelalters, die ihr Musterbeispiel in dem Speculum maius bzw. Speculum mundi des Vinzenz von Beauvais haben, zugrunde liegt. Die Schwierigkeit, die sich schon im 12. Jahrhundert abgezeichnet hatte, nämlich das Wissen in das System der sieben freien Künste einzuordnen, wurde mm deutlich. Das Zuordnungsschema der artes liberales reichte nicht mehr, um das gesamte Spektrum der menschlichen Erfahrung abzudecken. Dennoch gab es noch im ausgehenden 15. Jahrhundert Versuche, die Krise zu überwinden und die mittelalterliche Wissenschaftskonzeption durch eine Erweiterimg des traditionellen Bildvingssystems den neuen Bedürfnissen anzupassen. Ein solcher Versuch ist Gregor Reischs (1467-1525) Margarita Philosophical Sein enzyklopädisches Werk (Erstdruck Freiburg im Breisgau 1503, herausgegeben von Johann Schott)51 war eigentlich als propädeutisches Lehrbuch für die Studenten der Theologie, Medizin und Jurisprudenz konzipiert und dementsprechend inhaltlich aufgebaut. In Form von Fragen und Antworten zwischen Discipulus und Magister werden neben den sieben freien Künsten, denen die ersten sieben Bücher gewidmet sind, jene Themen aufgegriffen, die in den aristotelisch orientierten philosophischen Kursen gelehrt wurden, und zwar: Naturphilosophie (Bücher 8-9), Psychologie (Buch 10), 49

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Siehe J. R. Veenstra, „Cataloguing Superstition: A Paradigmatic Shift in the Art of Knowing the Future", in: P. Binkley (Hrsg.), Pre-Modern Encyclopaedic Texts, S. 169180:171. Gregor Reisch zählt zu den größten Persönlichkeiten unter den deutschen Humanisten. Er korrespondierte mit Erasmus und hatte unter seinen Schülern auch Johann Eck. Reisch, Abt der Kartause von Freiburg im Breisgau, war von 1509 bis 1519 Beichtvater und Berater Maximilians I. Er wurde während des Bauernaufstandes von 1525 getötet, siehe Robert Ritter von Srbik, Maximilian I. und Gregor Reisch, hrsg. von Alphons Lhotsky, Wien 1961. Das Buch hatte großen Erfolg und wurde an den deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts zum klassischen Lehrbuch, das als Einleitung in die artistischen Fakultäten diente. Es wurde mehrmals nachgedruckt und überarbeitet. Ein kommerzieller Kampf entbrannte zwischen den beiden ersten Herausgebern, Johann Schott und Johann Grüninger. Hierzu siehe Serrai, Storia della Bibliografia, S. 104-105, 276-277. Eine italienische Ubersetzung wurde erstaunlicherweise noch im Jahre 1599 von Giovanni Paolo Gallucci angefertigt: Margarita Filosofica del R. P. F. Gregorio Reisch nella quale si trattano tutte le dottrine comprese nella ciclopedia. Accresciuta di molte belle dottrine da Oronio Fineo matematico regio. Accresciuta di molte belle dottrine da Gio. Paolo Gallucci in Vinegia 1599. Presse Barezzo Barezzi e Compagni (siehe Serrai, Storia della Bibliografia, S. 280-281).

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Logik (Buch 11) und Ethik (Buch 12). Der Mangel an einer systematischen Gliederung des Wissens führte zu kontinuierlichen Hinzufügungen, um die späteren Auflagen den neuen Kenntnissen und kulturellen Bedürfnissen einzupassen.52 Es war klar, daß das Problem im Modell selbst lag. Man mußte ein Modell finden, in dem sich die Vielfalt der Wirklichkeit in ein einheitliches Gebilde einordnen ließ, das zugleich die Grundelemente des menschlichen Erkenntnisprozesses enthielt. Der allumfassende, universale Kompetenzanspruch konnte nur durch eine Übereinstimmung von Metaphysik und Logik begründet werden. Die geordnete Darstellung der konstitutiven Elemente der Wirklichkeit sollte die innere Struktur des Kosmos erkennen lassen und ihre Übereinstimmung mit der Referenz der Kategorien, die die Wahrheit der Kenntnis garantieren. Der Anspruch auf eine metaphysische Wahrheit ließ sich aber nur theologisch als Teilhabe am göttlichen Wissen legitimieren. Der Erkenntnisprozeß sollte also einer Rekonstruktion der Schöpfung gleichkommen. Ein solches Darstellungsmodell sollte auf diese Weise zu einem universalen, unveränderlichen System werden, das alle möglichen geschichtlichen Veränderungen aufnehmen und einordnen kann.53 Das Modell, das solche hohen Ansprüche erfüllen konnte, wurde in dem artistischen Modell der Topik gefunden. Dafür wurde aber eine Veränderung des Begriffs von Topos, das heißt „Ort", nötig. In der klassischen Tradition betrachtete man die Topik als jenen Bestandteil der Rhetorik, der dem Redner Anweisungen zum erfolgreichen Auffinden von Argumenten gibt.54 Die Topik vermittelte dem Redner bestimmte Denkprinzipien, die als Suchpfade zu imaginären „Orten" (griechisch topoi, lateinisch loci) seiner Phantasie dienten, an welchen die Grundbegriffe für die Bildung der Argumente zu finden waren. Die erste Phase des rhetorischen Verfahrens, die inventio,55 wurde, anders als in der modernen Poetik, nicht als kreativer Moment gefaßt, sondern als das Auffinden der Ideen durch das 52 53 54

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Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 34-35. Ibid., S. XIII-XVII. Siehe J. Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik: Einführung in die Theorie der persuasiven Kommunikation, Stuttgart 1973, S. 140. Für eine allgemeine Einführung in die Rhetorik siehe auch H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München 1949 [Ndr. 1990], Cicero (De Inventione 1,9) gibt folgende Einteilung der Rhetorik: „Quare materia quidem nobis rhetoricae videtur artis ea, quam Aristoteli visam esse diximus; partes autem eae, quas plerique dixerunt, inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio. Inventio est exeogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant; dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio; elocutio est idoneorum verborum [et sententiarum] ad inventionem accommodatio; memoria est firma animi rerum ac verborum ad inventionem pereeptio; pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio."

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Gedächtnis, die nach der platonischen Lehre als copia rerum bereits in unserer Seele existieren und durch eine passende Technik und dauernde Übung in das Gedächtnis zurückgerufen werden können. Das Gedächtnis wurde also als ein in verschiedene „Orte" eingeteilter Raum aufgefaßt, in dem die einzelnen Gedanken und Ideen aufbewahrt sind. In dieser Hinsicht weist die Topik einen heuristischen Charakter auf, denn sie ist die Lehre von den Fundstätten der Argumente. Die topoi bzw. loci communes bilden ein System von allgemeinen Suchkategorien, die im Gedächtnis nach einer bestimmten Ordnimg aufbewahrt sind, axis denen sich die benötigten Argumente herleiten lassen.56 Ein wesentlicher Aspekt der Kunst der Topik besteht in dem Einprägen der Suchkategorien ins Gedächtnis. Dafür wurden schon in der Antike verschiedene Mnemotechniken entwickelt, die hauptsächlich auf der Anwendung bildlicher Vorstellungshilfen (imagines agentes) in den „Orten" des Gedächtnisses beruhten. Die klassische Tradition schreibt die Entstehung der Gedächtniskunst der griechischen Rhetorik zu. Die beste Darstellung wird aber von dem anonymen rhetorischen Traktat Ad Herennium (etwa 85 v. Chr.) geliefert, der sich auf ältere, heute verschollene griechische Quellen bezieht. Die Rhetorica ad Herennium, die fälschlicherweise unter dem Namen Ciceros weiter tradiert wurde, übte einen dauerhaften und tiefgreifenden Einfluß auf die späteren Entwicklungen der mnemotechnischen Tradition bis ins 16. Jahrhundert hinein aus. Sie ist also von fundamentaler Bedeutung für die Geschichte der Gedächtniskunst.57 Der Autor der Rhetorica ad Herennium unterscheidet zwischen dem natürlichen und dem künstlichen Gedächtnis.58 Während das erste eine Naturgabe ist, kann das künstliche Gedächtnis durch eine geeignete Technik erworben werden und das natürliche stärken. Grundlage dieser Technik sind die „Orte" (loci) und die „Bilder" (imagines).59 Die loci sind natürliche oder künstliche 56

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Die einzelnen topoi sind nach der klassischen Definition von Quintilian nicht die Argumente selbst, sondern die „Orte" (sedes argumentorum), wo sie aufzusuchen sind: „Excutiamus nunc argumentorum locos, quamquam quibusdam hi quoque, de quibus supra dixi, videntur. Locos appello non, ut vulgo nunc intelleguntur, in luxuriem et adulterium et similia, sed sedes argumentorum, in quibus latent, ex quibus sunt petenda" (Institutio oratoria V,10,20). Yates, The Art of Memory, S. 5. Rhetorica ad Herennium 111,28: „Sunt igitur duae memoriae: una naturalis, altera artificiosa. Naturalis est ea, quae nostris animis insita est et simul cum cogitatione nata; artificiosa est ea, quam confirmat inductio quaedam et ratio praeceptionis." Ibid. 111,29: „Constat igitur artificiosa memoria locis et imaginibus. Locos appellamus eos, qui breviter, perfecte, insignite aut natura aut manu sunt absoluti, ut eos facile naturali memoria conprehendere et amplecti queamus: ut aedes, intercolumnium, angulum, fornicem et alia, quae his similia sunt. Imagines sunt formae quaedam et notae et simulacra eius rei, quam meminisse volumus: quod genus equi, leonis, aquilae; [memoriam] si volemus habere, imagines eorum locis certis conlocare oportebit."

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Orte, die leicht und schnell vom Gedächtnis erfaßt werden können, wie zum Beispiel ein Haus, ein Bogen, eine Statue etc. Die imagines sind Formen, Zeichen oder Symbole der Dinge, an die erinnert werden soll. Diese sind an den einzelnen Orten anzubringen, die nach einer bestimmten Ordnung aufgereiht wurden. Um die Gattung des Pferdes, eines Löwen oder eines Adlers in Erinnerung zu bringen, soll man nur das entsprechende Bild an seinem Ort wieder finden. Das Erinnern gleicht also einem ideellen Lauf durch die Orte des Gedächtnisses, in denen die Bilder der Dinge bzw. Worte60 wiedergefunden werden können. Die systematische Aufstellung der Orte garantiert die Orientierung und ermöglicht, sich von einem Ort zum anderen nach Belieben zu bewegen. Das Verfahren der Mnemotechnik gleicht einem inneren Schreiben. Die loci entsprechen einem Wachstäfelchen oder einem Blatt Papyrus und die imagines agentes den Buchstaben. Die loci sollen mit großer Sorgfalt ausgewählt werden, weil sie im Gedächtnis behalten werden sollen.61 Die imagines agentes hingegen werden in den loci bewahrt, solange man sie braucht, um die mit ihnen verbundenen Dinge bzw. Worte in Erinnerung zu rufen. Wenn die imagines agentes nicht mehr gebraucht werden, werden sie ausgelöscht, so wie man die Buchstaben aus einem Wachstäfelchen ausradiert. Die frei gewordenen loci sind daher bereit, andere imagines agentes aufzunehmen. Nicht alle Bilder sind als Erinnerungshilfe geeignet. Die Leistungsfähigkeit der Bilder ist von ihren charakteristischen Merkmalen abhängig. Nur seltsame Bilder, die sich aufgrund ihrer Auffälligkeit leicht und dauerhaft unserem Gedächtnis einprägen, können die Phantasie anregen und dadurch die Begriffe, Gedanken und Worte, die mit ihnen verbunden sind, durch einen Assoziierungsvorgang in Erinnerung bringen. Die gewöhnlichen Bilder Diese Technik hätte nicht nur die Erinnerung an „Dinge", das heißt Begriffe, und an den Hauptgedanken einer Rede (memoria rerum) erleichtert, sondern auch an Worte (memoria verborum). Theoretisch hätte man sich dank dieser Kunst an die einzelnen Wörter einer langen Rede erinnern können. Da aber für jedes Wort nur eine imago agens und ein locus zugeschrieben wird, wäre eine ungeheure Menge von loci und imagines agentes nötig! Ibid. 111,30-31: „Oportet igitur, si volumus multa meminisse, multos nos nobis locos conparare, uti multis locis multas imagines conlocare possimus. Item putamus oportere ex ordine hos locos habere, ne quando perturbatione ordinis inpediamur, quo setius, quoto quoquo loco libebit, vel ab superiore vel ab inferiore parte imagines sequi et ea, quae mandata locis erunt, edere possimus: nam ut, si in ordine stantes notos quamplures viderimus, nihil nostra intersit, utrum ab summo ein ab imo an ab medio nomina eorum dicere incipiamus, item in locis ex ordine conlocatis eveniet, ut in quamlibebit partem quoque loco lubebit imaginibus commoniti dicere possimus id, quod locis mandaverimus: quare placet et ex ordine locos conparare. Locos, quos sumpserimus, egregie commeditari oportebit, ut perpetuo nobis haerere possint: nam imagines, sicuti litterae delentur, ubi nihil utimur; loci, tamquam cera, remanere debent."

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dagegen, die sich auf normale, übliche Ereignisse und Dinge beziehen, sind als Erinnerungshilfe ungeeignet, weil sie selbst schnell vergessen werden.62 Die Bedeutung, die in der Gedächtniskunst dem Vorstellungsvermögen beigemessen wird, ist mit der aristotelischen Erkenntnislehre, wie sie in De anima dargelegt wird, in Zusammenhang zu bringen. Die aus den fünf Sinnen gewonnenen Wahrnehmungen werden von der Einbildungskraft bearbeitet und in Bilder (die phantasmata der Scholastiker) umgewandelt, die dann vom Denkvermögen aufgenommen werden. In dem Erkenntnisvorgang vermittelt also die Einbildungskraft zwischen Wahrnehmimg und Denken. Ohne die Bilder, die von der Einbildungskraft geschaffen werden, wären für Aristoteles keine Gedanken möglich.63 Von den Vorstellungsbildern abhängig sind auch das Gedächtnis und das Erinnern, die Aristoteles voneinander unterscheidet. Denn das Gedächtnis ist für Aristoteles eine Sammlung von Vorstellungsbildern aus vergangenen Wahrnehmungen, was Menschen und Tiere gemeinsam haben.64 Das Erinnern ist hingegen die Rückgewinnimg vergangener Erkenntnisse und Perzeptionen. Das ist eine Gabe, die nur die Menschen haben, weil sie in einem geistigen Verfahren besteht, das vom Verstand geleitet wird.65 Der Erinnerungsprozeß wird von Aristoteles als eine geistige Bewegung aufgefaßt, bei der die Bilder, die im Gedächtnis enthalten sind, durch Assoziationen kombiniert werden, um den Verlauf vergangener Erlebnisse zu rekonstruieren.66 Damit die Bewegung des Erinnerungsverfahrens den Verlauf des Vergangenen verfolgen kann, ist eine Ordnung bei der Aufstellung der Vorstellungsbilder vonnöten.67 Für die weitere Entwicklung der Mnemotechnik ist die aristotelische Lehre von besonderer Bedeutung. Sie liefert eine philosophische Erklärung für die Anwendung der Bilder in der Gedächtniskunst. Da sie als unentbehrliche Voraussetzung für die Entstehung der Gedanken betrachtet werden, sind sie nicht mehr nur ein künstliches Hilfsmittel für die Rhetorik, sondern ein essentieller Teil der logischen Funktion. Das ist ein erster Ansatz, der erst im 16. Jahrhundert bis zu den äußersten Folgen getrieben wird: die Lösung des Gedächtnisses von der Rhetorik und seine Aufnahme in die Logik. Durch das Einbeziehen des Einbildungsvermögens in das Erkenntnisverfahren hat 62 63 64 65 66

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Ibid., 111,35-37. De anima 431b 2,432a 9,432a 17. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 32. Aristoteles, De memoria et reminiscentia 1,450a 15. Ibid., 2,453a 6. Aristoteles benutzt zwar nicht das Wort „Assoziation", aber dieses Prinzip ist impliziert, wenn er sagt, daß der Erinnerungsvorgang von etwas ausgehen soll, „das dem zu erinnernden Objekt ähnlich aussieht oder sein Gegenteil ist oder noch mit ihm in einem engen Zusammenhang steht" (De memoria et reminiscentia 1, 451b 18-20). Siehe Yates, The Art of Memory, S. 34. De memoria et reminiscentia, 452a 8-16. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 34.

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Aristoteles die Voraussetzung für die Erweiterung der Kompetenz der Vorstellungsbilder geschaffen. Ihre Leistungsfähigkeit wird über die Rhetorik hinaus bis in den Bereich der Logik und der Metaphysik reichen. Der Übergang des Gedächtnisses von der Rhetorik zur Dialektik erfolgt durch die Ethik. Der Weg, auf den Aristoteles hingewiesen hatte, wurde von Albertus Magnus und Thomas von Aquin eingeschlagen. Beide sahen in der Bedeutung, die die aristotelische Erkenntnistheorie der Imagination zuweist, die philosophische Rechtfertigung für die Gedächtniskunst der Rhetorik. Die Beschreibung des Erinnerungsvorgangs, den Aristoteles in De memoria et reminiscentia nach Prinzipien der Assoziation und der Ordnung erörtert hatte, wurde von Thomas von Aquin und der ihm folgenden Gedächtnistradition als die psychologisch begründete Bestätigung für die Anwendung der Bilder in der Gedächtniskunst der Rhetorik angesehen. Die Zusammenstellung der aristotelischen Lehre mit den Regeln der Rhetorik steht mit dem Bestreben von Albertus Magnus und Thomas von Aquin in Zusammenhang, die aristotelische Philosophie in das christliche Dogma zu integrieren. Auf dem Gebiet der Ethik bedeutete dies eine Umgestaltung des traditionellen Schemas der Tugenden und Laster, wobei der Kardinaltugend der Prudentia eine neue Wertschätzung zugewiesen wurde. Cicero hatte in De inventione die memoria als Teil der prudentia betrachtet und folgendermaßen definiert: Prudentia ist das Wissen dessen, was gut und was schlecht und was weder gut noch schlecht ist. Ihre Teile sind: Gedächtnis, Einsicht, Voraussicht. Gedächtnis ist die Fähigkeit, mit der der Geist das Geschehene zurückruft; Einsicht ist die Fähigkeit, mit der der Geist betrachtet, was ist; Voraussicht ist die Fähigkeit, mit der der Geist sieht, daß etwas sich ereignen wird, bevor es sich ereignet.68

Diese Einteilung der prudentia wird von Albertus Magnus in seinem Traktat De bono übernommen, wobei er sich ausdrücklich auf Cicero bezieht: Dicit enim Tullius in fine primae Rhetoricae: „Partes prudentiae sunt memoria, intelligentia, Providentia."69

Anschließend erörtert Albertus Magnus erstens, was die memoria ist, die nur Cicero als Teil der prudentia ansieht, und zweitens, was die ars memorandi ist, 68

De inventione 11,53,160: „Prudentia est rerum bonarum et malarum neutrarumque scientia. Partes eius: memoria, intellegentia, Providentia. Memoria est, per quam animus repetit ilia, quae fuerunt; intellegentia, per quam ea perspicit, quae sunt; Providentia, per quam futurum aliquid videtur ante quam factum est."

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Albertus Magnus, De bono, in: Opera omnia, hrsg. von H. Kühle/C. Feckes/B. Geyer/ W. Kübel (Monasterii Westfalorum in aedibus Aschendorff XXVIII), Münster 1951, S. 245. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 62.

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von der Cicero spricht. Die in der für die Scholastik typischen Form der disputatio gehaltene Erörterung des Albertus Magnus widerlegt die zwei Haupteinwände, die gegen eine Einbeziehung der memoria in die prudentia erhoben werden können: erstens, die memoria sei als sensitiver Teil der Seele zu betrachten und könne deshalb nicht zur prudentia gehören, weil dieser rationaler Teil der Seele sei; zweitens sei die prudentia eine moralische Haltung, die memoria dagegen nur eine Aufzeichnung vergangener Eindrücke und Ereignisse. Für die Widerlegung beruft sich Albertus Magnus auf die Unterscheidung des Aristoteles zwischen Gedächtnis (memoria) und Wiedererinnerung (reminiscentia): Diese letzte sei der rationale Teil der memoria, mit dem wir aus den aus dem Gedächtnis zurückgerufenen Erfahrungen der Vergangenheit eine Anweisimg für eine kluge Lebensführung in der Gegenwart und für eine kluge Vorausschau der Zukunft gewinnen können. Nur die Wiedererinnerung gehöre zur prudentia. Zur Wiedererinnerung und folglich zur prudentia gehöre die ars memorandi, das heißt das künstliche Gedächtnis. Denn das künstliche Gedächtnis gehöre zum rationalen Teil der Seele und sei eine Haltung.70 Auf diese Weise vollzieht Albertus Magnus als erster die Verschmelzung der aristotelischen Lehre von der Wiedererinnerung mit der Gedächtnisschulung, wie sie in dem pseudo-ciceronianischen Traktat Ad Herennium dargelegt ist. Weiterhin beschäftigt sich Albertus mit den Regeln für die Orte und Bilder. Aus seinen Erklärungen läßt sich ableiten, daß Albertus allein die Aufstellung von realistischen topoi, die man in wirklichen Bauwerken anbringen soll, empfiehlt und nicht die Errichtung imaginärer Systeme im Gedächtnis. Als Gedächtnisorte eignen sich für Albertus am besten diejenigen, die „erhaben und ausgefallen" sind.71 Yates hat vermutet, es seien damit religiöse Bauwerke, wie zum Beispiel Kirchen, gemeint. Was die Gedächtnisbilder anbelangt, untermauert Albertus die ciceronianischen Vorschriften für ihre Anwendimg. Den möglichen Einwand, sie seien nur ein unnötiger Ballast, der das Gedächtnis eher behindert als unterstützt, widerlegt Albertus mit der Begründung, daß sich mehrere Tatsachen mit wenigen Metaphern erinnern lassen und die Metaphern, obwohl sie Dinge und Tatsachen nicht präzis darstellen können, für die Seele eine bewegende Kraft besitzen, die die Erinnerung anregt und erleichtert.72

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Ibid., S. 245-246. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 62. Albertus Magnus, De bono, S. 250: „Locus autem praecipue solemnis distinguit per hoc, quod non omnium memorabilium est locus unus, et movet per hoc, quod est solemnis et rarus. Solemnibus enim et raris fortius inhaeret anima, et ideo fortius ei imprimuntur et fortius movent." Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 63. Albertus Magnus, De bono, S. 251: „in veritate imagines illae multum conferunt ad memoriam [...] propria sunt multa, sed translative dicta sunt pauca ad multa habentia similitudinem, et ideo licet propria magis certificent de re, tarnen metaphorica plus

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Auch für Thomas von Aquin ist die memoria Teil der prüden tia, weil diese die Erfahrung aus der Vergangenheit für die zukünftige Lebensführung nutzt. Von Albertus Magnus abweichend unterscheidet Thomas von Aquin aber nicht zwischen Gedächtnis und Wiedererinnerung. Dennoch erkennt er, daß nur diese dem Menschen eigen ist. Noch deutlicher als sein Meister vertritt er die These, daß das künstliche Gedächtnis die Zugehörigkeit der memoria zur prudentia beweist. Dabei stützt sich Thomas auf die Theorie der Orte und Bilder der Mnemotechnik sowie auf die aristotelische Lehre der Wiedererinnerung. Ausgangspunkt ist die Erkenntnislehre des Aristoteles: „Nihil potest homo intelligere sine phantasmate."73 Die memoria nimmt die Wahrnehmungen auf, welche die Einbildungskraft in Bilder bearbeitet, die dann Objekt des abstrahierenden Intellekts werden. Die memoria gehört also eigentlich zum sinnlichen Teil der Seele, aber sie ist auch per accidens dem intellektuellen Teil zuzurechnen, weil der abstrahierende Intellekt an den in ihr enthaltenen Bildern (phantasmata) arbeitet. Da das gesamte Wissen von den Sinnen ausgeht, sind die groben und sinnlich erfahrbaren Dinge leichter vom Gedächtnis zu erfassen als abstrakte Begriffe, die mit Bildern verknüpft werden müssen, um sie in Erinnerung zu behalten, wie Cicero in seiner Rhetorik lehrt. Die Verwendung von Bildern im künstlichen Gedächtnis wird somit von Thomas aus psychologischen Gründen gerechtfertigt: Durch Bilder und Gleichnisse sei es für den Menschen leichter, abstrakte Begriffe zu erfassen. Aus diesem Grund benutzt die Heilige Schrift Metaphern und Gleichnisse körperhafter Dinge, um Geistiges zu vermitteln, „weil es für den Menschen natürlich ist, zu den geistigen Dingen (intelligibilia) über die Sinnendinge (sensibilia) zu gelangen."74 Die Verschmelzung der Lehren von Cicero und Aristoteles wird mit dem Hinweis auf die Bedeutimg von Assoziation und Ordnung weitergeführt: Man muß für die Wiedererinnerung einen Ausgangspunkt nehmen, von dem aus man beginnen kann, sich wiederzuerinnern. Deshalb kann man auch manche sehen, die von den Orten her, an denen etwas gesagt oder getan oder gedacht wurde, wiedererinnern, wobei sie die Orte sozusagen als Ausgangspunkt für die Wiedererinnerung verwenden; denn der Zugang zu dem Ort ist wie ein Ausgangspunkt für all jene Dinge, die darin aufgestellt sind. Deswegen lehrt Tullius in seiner Rhetorik, man solle, um sich leicht zu erinnern,

movent animam et ideo plus conferunt memoriae." Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 65. Thomas Aquinas, In Aristotelis libros de sensu et sensato, De memoria et reminiscentia commentarium, hrsg. von R. M. Spiazzi, Torino/Roma 1949, S. 92. Summa Theologica 1,1 Quaestio 1, articulus 9: „conveniens est sacrae Scripturae divina et spiritualia sub similitudine corporalium tradere. Deus enim omnibus providet secundum quod competit eorum naturae. Est autem naturale homini ut per sensibilia ad intelligibilia veniat: quia omnis nostra cognitio a sensu initium habet." Siehe auch Yates, The AH of Memory, S. 78.

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sich eine bestimmte Reihenfolge der Orte vorstellen, an denen Bilder (phantasmata) all jener Dinge, an die wir uns erinnern wollen, in einer bestimmten Ordnung verteilt sind.75

Die Notwendigkeit der Ordnung und eines Ausgangspunktes, um die Bewegung der Wiedererinnerung einzuleiten, wie Aristoteles in De memoria et reminiscentia lehrt,76 wird von Thomas an die in Ad Herennium dargelegte Vorschrift einer ordentlichen Reihenfolge bei der Aufstellung der Gedächtnisorte angeknüpft. Die loci communes der Gedächtniskunst erhalten damit eine rationale Begründung in der aristotelischen Theorie der Wiedererinnerung. Das hat aber weitreichende Folgen: Das ist der erste Schritt der Lösung der Gedächtniskunst von der Rhetorik. In der theologisch geprägten Weltanschauung des Mittelalters wird die klassische Gedächtniskunst in einem religiösen, demütigen Sinn interpretiert. Die Gedächtnisbilder dienen nicht mehr rhetorischen Zwecken, sondern der Darstellung von „subtilen und geistigen Intentionen". Sie sind zu „körperhaften Gleichnissen" von Glaubensartikeln, Tugenden und Lastern geworden. Unter Albertus Magnus und Thomas von Aquin wird jene Verlagerung der Gedächtniskunst aus dem Kontext der Rhetorik, wo sie entstanden ist, zur Ethik hin vollzogen.77 Vielleicht waren Albertus und Thomas nicht die Erfinder dieser Umgestaltung der klassischen Gedächtniskunst, aber es ist ihr Verdienst, die mit ethischer, gottesfürchtiger Absicht veränderte Mnemotechnik in die aristotelische Theorie der Wiedererinnerung eingefügt zu haben. Bemerkenswert ist die Rechtfertigung der Anwendung von Bildern, Metaphern und Gleichnissen trotz der Geringschätzung von Dichtkunst und Grammatik in der Bildungsskala der Scholastik. Die Betonung, als Gedächtnisbilder „körperhafte Gleichnisse" anzuwenden und sich für die Aufstellung der Gedächtnisorte nach konkreten, „erhabenen und ausgefallenen" Bauwerken zu orientieren, kann als ein Zeichen für die Wechselwirkung zwischen der eigentlichen bildenden Kunst und der Gedächtniskunst gewertet werden. Wenn die Inhalte, die die christliche didaktische Kunst durch Bildnisse vermitteln wollte, den Dingen gleichen, die durch innere Gedächtnisbilder in Erinnerung aufbewahrt 75

76 77

Thomas Aquinas, In Aristotelis libros de sensu et sensato, De memoria et reminiscentia, S. 107: „Quia enim oportet reminiscentem aliquod principium accipere, unde incipiat procedere ad reminiscendum, inde est quod aliquando homines videntur reminisci a locis, in quibus aliqua sunt dicta vel facta vel cogitata, utentes loco quasi quodam principio ad reminiscendum: quia accessus ad locum est principium quoddam eorum omnium quae in loco aguntur." De memoria et reminiscentia, 452a 8-16. Yates (The Art of Memory, S. 77) nennt diese ethische Umarbeitung der klassischen Mnemotechnik „the medieval transformation of the classical art of memory". Yates vermutet aber, daß diese Umgestaltung schon vor Albertus Magnus und Thomas von Aquin stattfand.

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werden sollen, ist anzunehmen, daß beide Künste gleiche Bilder und „Orte" verwendet haben.78 Diese philosophisch und psychologisch begründete Rechtfertigung für die Anwendung der Gedächtrasbilder hatte eine dauerhafte Wirkung auf die weitere Entwicklung der Mnemotechnik. Auch die lullistische Gedächtniskunst, die, anders als die scholastische Tradition, in der platonisch-augustinischen philosophischen Tradition und in dem Neuplatonismus von Scotus Eriugena stand, konnte auf die visuelle Kraft der Bilder nicht völlig verzichten. Das lullistische System basiert auf der Annahme, daß die Namen oder Attribute Gottes (Bonitas, Magnitude, Eternitas, Potestas, Sapientia, Voluntas, Virtus, Veritas, Gloria), die Lullus „Dignitates Dei" nannte, Grundlage des Seienden seien, die nach triadischen Strukturen die gesamte Schöpfung gestalten.79 Die Attribute Gottes sind aber auch die Grundsätze des gesamten Wissens, so daß jede Wissenschaft in ihnen ihre Wurzeln hat. Und in der Tat hat Lullus seine Auffassung der Einheit von Wissen und Kosmos in seiner Enzyklopädie Arbre de Sciencia durch Diagramme in Form von Bäumen dargestellt. Die achtzehn Wurzeln des „Baumes des Wissens" (Arbor sdentiae) entsprechen den neun dignitates Gottes, das heißt den absoluten Prädikaten, sowie den neun relativen Prädikaten (differentia, concordantia, contrarietas, prineipium, medium, finis, maioritas, aequalitas, minoritas), und die sechzehn Zweige, die aus dem Baumstamm abgehen, symbolisieren je eine Disziplin. Die Einheit des Wissens und des Kosmos, das heißt die Übereinstimmung von Logik und Metaphysik, ist dadurch gewährleistet, daß beide die gleichen „Wurzeln" haben.80 Da alles auf die neun absoluten Prädikate reduzierbar ist und alle Wissenschaften und alle Formen des Seienden auf die gleichen Grundsätze zurückzuführen sind, ermöglicht das lullistische System als Wissenschaft der Wissenschaften, das gesamte Wissen nach einem logischen Prinzip zu ordnen, nach dem die Struktur des Kosmos und des Wissens übereinstimmen. Dieser enzyklopädische Aspekt der lullistischen Kunst wird später Bestandteil der Pansophie des 17. Jahrhunderts, die Kosmos und Wissen als ein einheitliches Ganzes zu erfassen versucht.81 Neben dem Lullismus wurden die pansophischen Systeme des 17. Jahrhunderts auch von der rhetorischen Mnemotechnik in einer veränderten Form 78

Ibid., S. 81. Yates hat die These aufgestellt, daß Thomas seine Summa nach dem Muster einer gothischen Kathedrale memorierte (ibid., S. 79).

79

Yates (ibid., S. 178) hat in dieser lullistischen Auffassung der kosmologischen Struktur einen Einfluß der neuplatonisch ausgerichteten Philosophie des Johannes Scotus Eriugena festgestellt. In der kosmologischen Vorstellung von Eriugena sind die Namen Gottes die ersten Ursachen, aus denen die vier Elemente direkt hervorgehen.

80

P. Rossi, Clavis Universalis. Arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Bologna 1983, S. 75.

81

Ibid.

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beeinflußt. Die Tendenz, die Mnemotechnik von der Rhetorik zu lösen, die von Albertus Magnus und Thomas von Aquin eingeleitet worden war, wurde im 15. Jahrhundert vollzogen und hatte zur Folge, daß sich die topoi von Fundorten rhetorischer Argumente zu Ordnungsprinzipien des Wissens wandelten. Die scholastische Zusammenstellung der aristotelischen Logik mit der dceronianischen Rhetorik fand Nachhall unter den Humanisten. Die kritische Philologie der Humanisten führte zu einem neuen Gefühl für die Geschichte und zu einer neuen Einstellung gegenüber den auctoritates der Tradition. Die alten Autoren wurden in ihrem historischen Kontext gelesen und interpretiert, ihre Werke wurden wieder in ihre historische Grenzen zurückgeführt. Während das Mittelalter die klassischen auctoritates als unübertreffliche Vertreter der Wahrheit verehrt und ihre Lehre als imbestreitbar angesehen hatte, wagten es die Humanisten, deren Autorität anzufechten. Die alten Autoren konnten wohl hohe Gipfel bei ihrer Suche nach der Wahrheit erreicht haben, aber sie blieben immer Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der fortschreitenden Entwicklung der Kultur wirkten und deren Lehre geschichtlich bedingt war.82 Soweit ihre Werke in ihrer originalen Fassung gelesen wurden, ohne die Entstellungen, die über die Jahrhunderte hinweg die Kommentatoren hinzugefügt hatten, boten sie eine Anleitung zum Wissen. Dieses Geschichtsbewußtsein der Humanisten, ihre originelle Auffassimg der menschlichen Kultur und Bildung führte zu einer neuen Weltanschauung, die natürlich auch auf die Wissenschaft und Philosophie Einfluß ausübte.83 Hauptthema der humanistischen Erneuerung der Bildung war die Beziehung zwischen Logik und Rhetorik, ihre Bedeutung im Erkenntnisprozeß und ihre Stellung innerhalb der Disziplinen. Die Hochschätzimg der Humanisten für das Wort und seine Macht, die Gemüter der Menschen ohne Zwang und Gewalt zum Guten und zum allgemeinen Nutzen zu bewegen, stellte die Rhetorik in den Mittelpunkt der neuen Bildung, die nun die Dialektik von ihrem Platz verdrängte. Da aber die Denkprozesse durch die Rede konkretisiert und vorgetragen wurden, war die Rhetorik mit der Dialektik verbunden. Poliziano (1454—1494) betrachtete die Dialektik als ein „Werkzeug" (instrumentum) der Rhetorik, das fast wie ein Zeigefinger (quasi quodam mentis digito) die allgemein verbindlichen Bedeutungsbeziehungen erkennt und die Gedanken zu einem Verstandesgebilde verknüpft.84 Das bedeutete die

„Aristotelem [...] summum quidem hominem, sed hominem tarnen fuisse puto, ut non omnia primus invenerit, ita aliis post se invenienda aliqua reliquerit", sagt Rudolph Agricola (De iiwentione dialectica 1,3). Garin, „La storia nel pensiero del Rinascimento", in: Medioevo e Rinascimento, Roma/ Bari 1990, S. 179-195:192-193. Angiolo Ambrogini, Poliziano genannt, Praelectio dialectica, in: Opere, Lugduni 1528, II, S. 458ff., zitiert nach Garin, „Discussioni sulla retorica", in: Medioevo e Rinascimento, S. 117-138:122.

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Rückkehr zur echten aristotelischen Auffassung der Logik. Denn Aristoteles hatte sie „Analytik" genannt, nämlich eine Untersuchung des Denkprozesses, und nicht als eine eigenständige Wissenschaft betrachtet, sondern nur als eine allgemeine Einleitung zu allen anderen Wissenschaften. Zutreffend hatte Andronikos von Rhodos, der erste Herausgeber der Werke des Aristoteles, die Schriften über die Logik unter dem Titel Organon („Werkzeug") zusammengefaßt. Der Zusammenhang von Dialektik und Rhetorik war bereits von Aristoteles und Cicero erkannt worden, die Scholastik ließ aber durch ihre abstrakten syllogistischen Analysen die Dialektik „entarten" und von ihrer ursprünglichen Funktion abwenden: Sie wurde zur Einleitung in die Metaphysik. Die Dialektik mußte also zu ihrer natürlichen Aufgabe zurückgeführt und von jeglicher metaphysischer Zielsetzung gelöst werden. Befreit von den Hindernissen der Tradition und der Autorität wurde auch die aristotelische Theorie des Erkenntnisprozesses einer kritischen Prüfung unterzogen. Die aristotelische Erkenntnislehre nach der scholastischen Interpretation wurde von Lorenzo Valla (1407-1457) in Dialectica libri tres angefochten und nicht als die definitive, absolute Erläuterung des menschlichen Erkenntnisprozesses angesehen, wie sie die Scholastik dargestellt hatte, sondern nur als eine persönliche Theorie des Aristoteles, die bestimmte, geschichtlich bedingte kulturelle Prämissen voraussetzte.85 Eine neue Interpretation der aristotelischen Logik auf der Basis der klassischen Rhetorik war das Ziel, das sich Rudolph Agricola (latinisierter Name von Roelof Huysmann, 1444-1485) in De inventione dialectica setzte.86 Ausgehend von der Analytik und der Topik des Aristoteles, die Agricola durch die Summulae Logicales des Petrus Hispanus beziehungsweise die Kommentare des Boetius und Temistius kannte, stellte er die aristotelische Logik der ciceronianischen Argumentationslehre gegenüber.87 In der Topik hatte Cicero die Argumentation in inventio und iudicium gegliedert.88 Die inventio sucht die Argumente, die der Redner für die Beleuchtung des Gegenstandes seiner Rede braucht, in den Orten des Gedächtnisses, und das iudicium Garin, „La cultura fiorentina nell' Rinascimento italiano, S. 57-85: 62. Beziehung zwischen Philosophie Dialettica eßlosofia in Lorenzo Valla,

etä di Leonardo", in: id., Scienza e vita civile nel Für eine umfangreiche Untersuchung über die und Philologie bei Valla siehe M. Laffranchi, Milano 1999.

Rudolph Agricola, De inventione dialectica libri tres, Köln 1528 [Ndr. Hildesheim 1976 mit einem Vorwort von W. Risse]. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 7. Über Rudolph Agricola siehe auch W. Kühlmann (Hrsg.), Rudolf Agricola: 1444-1485, Protagonist des nordeuropäischen Humanismus, zum 550. Geburtstag, Bern u.a. 1994. „Ratio diligens disserendi duas habeat partes: unam inveniendi alteram iudicandi" (Cicero, Topik 11,7).

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verknüpft die invenierten Argumente in eine geordnete Reihenfolge. Das topische Verfahren verbindet also Rhetorik und Logik, wenn die inventio und die dispositio, das heißt die Einordnung der invenierten Argumente, in der Einteilung der Rhetorik als Begriffsbildung beziehungsweise als Urteilsbildung (indicium) der Logik aufgefaßt wird.89 Aristoteles hatte seine Untersuchung des Denkprozesses als „Analysis", das heißt „Lösung", bezeichnet. Das Wort in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung verweist auf das Verfahren, mit dem die Behauptungen „gelöst" werden, um ihre logische Folgerichtigkeit zu überprüfen. Jede formal richtige Schlußfolgerung (griechisch „syllogismos", wörtlich „Zählung, Aufzählung") gliederte Aristoteles in Begriffe, Urteile und Schluß. Das klassische Beispiel hierzu: „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Sokrates ist sterblich." Mensch, Sokrates, sterblich sind Begriffe, die Sätze „Alle Menschen sind sterblich", „Sokrates ist ein Mensch" und „Sokrates ist sterblich" sind je Urteile, wovon die ersten zwei als Prämisse dienen, die zum dritten Urteil, dem Schluß, führen. Die Dialektik von Agricola ist auf dem rhetorischen Modell der Topik gebaut. Während sich die aristotelische Topik mit Schlüssen befaßt, die aus wahrscheinlichen Prämissen abgeleitet werden, ist die Topik nach der Interpretation des Agricola inhaltsorientiert: Die aristotelischen Schlüsse werden durch Begriffe ersetzt, die nach dem Muster der aristotelischen Kategorien gebildet und entsprechend der ciceronianischen Interpretation als topoi, Orte der Argumente, aufgefaßt werden. Da aber die aristotelischen Kategorien sowohl eine ontologische als auch eine logische Valenz haben, bekommen die rhetorischen topoi auch eine substantielle Bedeutung. Denn sie sind in der Interpretation von Agricola nicht nur „Sitz der Argumente", sondern stellen gleichzeitig auch die metaphysische Grundlage dar. Demzufolge gehören sie zur Substanz der Dinge selbst und liefern ihre substantiellen Unterscheidungskriterien. Die Topik von Agricola hat zum Ziel, die Prädikation einer Sache vollständig zu erfassen, damit ihre Unterscheidungsmerkmale erkannt werden können und ihre Zuordnung in die Vielfältigkeit des Seienden ermöglicht wird.90 Dafür erweitert Agricola die zehn aristotelischen Kategorien um weitere Begriffe, die er hauptsächlich der rioeronianischen Topik entnimmt, und bildet eine Liste von 24 topoi, die nach Begriffsgruppen gegliedert sind. In ihnen sind also die substantiellen und die dialektischen Ordnungsprinzipien des Seienden enthalten. Die Definition einer Sache erfolgt durch die „dialektische Invention", das heißt durch die Zuschreibung der zugehörigen Prädikate Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 10. Agricola, De inOentione dialectica, S. 8: „Res autem numero sunt immensae, et proinde immensa quoque proprietas atque diversitas earum," und weiter S. 159: „definienda erunt ista, et ostendendum quid sint, quo fadlius queant distingui."

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der einzelnen loci. Definieren ist also „lokalisieren", das heißt die Substanz einer Sache in die passenden Prädikate der loci einordnen. In diesem dialektischen Prozeß sind für Agricola inventio und iudicium mit eingeschlossen.91 Ziel des dialektischen Prozesses ist es, jene Argumente zu finden, die die These des Redners glaubwürdig machen,92 und sie so einzuordnen, daß sie in einer verständlichen und eleganten Rede ausgedrückt werden können.93 Die nach dem Inventionsmodell der Topik umgestaltete Dialektik von Agricola wird zur Fundamentalwissenschaft, die die zwei Teile der Rhetorik inventio und dispositio, diese als iudicium aufgefaßt, mit einbezieht und zu kognitiven Instrumenten macht. Die Umgestaltung der Logik zur Topik hatte aber eine entscheidende Folge für die Umstrukturierung der Wissenschaften. Die loci, die nur mit Begriffen zu besetzen waren, konnten für alle Wissenschaften angewandt werden. Im Anschluß an Agricola erarbeitete der Antwerpener Humanist Joachim Sterck van Ringelbergh ein neues Bildungsmodell, das nach topoi disponiert war.94 Seine enzyklopädische Bildungsauffassung ist humanistisch auf dem rhetorischen Leitideal des Ciceronianismus gegründet. Die Integration der Wissenschaften in das traditionelle Schema des Triviums und des Quadriviums erfolgt durch eine Erweiterung und Umdisponierung der artes liberales. In der Bildung der Rhetoriker und der Dichter hebt Ringelbergh den Anteil hervor, den Mnemotechnik, Geschichte und die griechische Sprache haben sollen. In dem Bereich der Realwissenschaften, dem Quadrivium, werden

Ibid., S. 158: „Judicandi enim partem hoc ipso quod faciendae fidei apta invenire debere praescribo, comprehensam in praesentia velim." Siehe auch Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 10. Agricola, De inoentione dialectica, S. 158: „Hic itaque finis erit dialectices, docere pro facilitate rei de qua disseritur, i.[e.] invenire quae fidei faciendae sind apta, et inventa disponere, atque ut ad docendum quae accomodatissima sint ordinäre. Iudicandi enim partem, hoc ipso quod faciendae fidei apta invenire debere praescribo, comprehensam in praesentia velim." Siehe auch Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 10,12. Agricola, De inventione dialectica, S. 158: „ Alia [= rerum perspicuitas] est, quam ordine disponendisque consequimur rebus, quoniam ut aliquid ante postve dictum est, ita plus minusve intelligendo alteri confert." Joachim Sterck van Ringelbergh, bekannt auch unter dem humanistischen Namen Joann Fortius Ringelbergius, wurde etwa 1499 in Antwerpen geboren. In seiner Jugend war er am Hof Maximilians I., und wie Reisch zählte auch er zum humanistischen Kreis um Erasmus. Unermüdlich reiste er durch Deutschland und Frankreich und hielt in seinen kurzen Aufenthalten Vorträge und Vorlesungen über verschiedene Themen. Er starb um 1536. Seine Werke, die unter verschiedenen Titeln erschienen, sind 1967 (Nieuwkoop, B. De Graaf) nachgedruckt worden. Siehe Serrai, Storia della Bibliografia, S. 292-294 und Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 35.

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Optik, Zeitmessung, Divination, Psychologie und Physiologie eingeführt.95 Der rhetorischen Zielsetzung entspricht die Unterteilung der Dialektik in topike, das heißt die ciceronianische inventio, und kritike, das heißt die dispositio. Der erste Teil betrifft das Verfahren der Bildung der Begriffe und der zweite das Verfahren ihrer logischen Einordnung und Korrelation, nämlich das Urteil. Die Unterteilung der Dialektik in inventio und judicium hat auch einen universalwissenschaftlichen Charakter. Denn die topoi sind nicht nur Fundstätten rhetorischer Argumente, sondern stellen auch in ihrer hierarchischen Aufstellung von Ober- und Unterbegriffen die innere Ordnung des Wissens dar.96 Die topisch strukturierte Dialektik von Agricola und die Ansätze ihrer Anwendung in das Dispositionsmodell von Ringelbergh dienten Petrus Ramus97 als Vorlage für die Bearbeitung seiner Methode. In Agricola sah Ramus denjenigen, der „als erster, seit den glücklichen Zeiten der Griechen und der Römer, die Lehre der Logik erneuerte und dafür sorgte, daß die Jugendlichen von den Dichtern und Rednern lernten, nicht nur klar und stilvoll zu reden, sondern auch mit Scharfsinn zu denken und bedacht zu beurteilen."98 Ramus vollzog die Ausgliederung der memoria99 aus dem Bereich 95

„Summo oratori, aut poetae futuro cum primis necessariae formae loquendi, disserendi, dicendi. Grammatica aditum praebet ad alias artes: quo si careamus, caeci per omnes disciplinas aberrabimus, nullam unquam optimarum pulcherrimarumque rerum cognitionem consecuturi. Dialectica docendi modum exprimit: Rhetorica eloquendi. Ad hanc memoriae artificium pertinet. Graeca lingua adeo necessaria, ut vix quemquam dixerim eruditum, qui earn ignoraverit. Nec omnitendae historiae: praestant enim et copiam orationis, et rerum experientiam. Mathematicae artes simul dignitate quadam pollent sua, tractant enim rerum sublimium descriptiones: simul ad varietatem orationis faciunt. Astronomia legem naturamque docet eorum, quae ab extremo circuitu mundi usque ad elementa sunt, hoc est, pene orbem universum." Ringelbergh, Opera, Lyon 1531 [Nieuwkoop 1967], S. 16, zitiert nach Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 35.

96

Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 37-39. Pierre de la Ramie, Hugenotte, wurde 1515 geboren und 1572 in der Bartholomäusnacht umgebracht. Seine Dialecticae institutiones erschienen zuerst 1543 und wurden bis zur letzten Ausgabe in seinem Todesjahr 1572 von Ramus selbst und seinem Freund Audomarus Talaeus (Omer Tale) mehrmals neu bearbeitet. Von ihrer ersten Auflage an verursachte die Dialektik von Ramus große Aufregung und hatte eine entscheidende und außerordentliche Wirkung auf die europäische Kultur. Walter Ong (Ramus and Talon Inventory, Folcroft, Pa. 1969, S. 196, zitiert nach Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 40) hat bis 1572 39 Auflagen der Dialektik und bis 1950 über 260 Auflagen aufgezählt. Über Ramus siehe die grundlegende Arbeit von Walter J. Ong, Ramus, Method, and the Decay of Dialogue, New York 21974. P. Rami et Audomari Talaei, Collectaneae praefationes, epistolae, orationes, Paris 1577, S. 93. Siehe auch Garin, „Discussioni sulla retorica", S. 122-123. Memoria wird hier als Erinnerungsvermögen verstanden und von der Gedächtniskunst oder Mnemotechnik unterschieden.

97

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der Rhetorik und ihre Aufnahme in die Dialektik. Das zog die Abschaffung der Mnemotechnik nach sich. Ramus pflegte seine Reform der Dialektik als eine Rückkehr zur ursprünglichen aristotelischen Lehre vorzustellen, die nach seiner Einsicht von der Scholastik kompliziert und entstellt worden war.100 Das Gedächtnis wird durch topoi und Bilder in ein künstliches System gestaltet, das mit dem natürlichen Erinnerungsprozeß nichts zu tun hat. Die Reform der Dialektik bedeutet für Ramus gleichzeitig die Schaffung einer Methode, mit der das Gedächtnis ohne Bilder und topoi, sondern auf natürliche Weise nur durch „Gliedern und Zusammenfügen" memorieren kann, wie schon Quintilian angeraten hatte.101 Die neue Methode basiert nicht mehr auf der Vorstellungskraft, die sich eine Reihe von aus Kirchen oder anderen Bauten entnommenen Orten einbildet und das Gedächtnis durch emotional eindrucksvolle Bilder anregt, sondern auf der abstrakten Ordnung der Dialektik, die für Ramus „natürlich" ist, weil er sie dem menschlichen Verstand für eigen hält.102 Diese Ordnung verwirklicht sich in ein kontinuierliches wissenschaftliches Feld, in dem die Begriffe, als topoi aufgefaßt, nach einer gedanklichen und sachlichen Hierarchie geordnet werden. Dies erfolgt in der Weise, daß man von den Oberbegriffen durch eine absteigende Reihe dichotomischer Klassifikationen zu den speziellen Begriffen gelangen kann. Wie Schmidt-Biggemann bemerkt, ist die ramistische Methode „die erste Ausprägung des neuzeitlichen Begriffs von System. Sie bildete zugleich den Übergangsbeginn von der Syllogistik zu einer Logik der Umfänge von Begriffen."103 In dem dialektischen Verfahren setzt Ramus zwischen inventio und iudicium die Betonimg auf letzteres. In der ersten Fassung der Dialektik (1543) betrachtete Ramus das iudicium 1) als Syllogismus, 2) als Definition und Zuordnung einzelner Urteile (definitio et dispositio) und 3) als Korrelation aller Wissenschaften und Verbindung mit Gott.104 Das iudicium war also im platonischen Sinn als Aufstieg zu einem sicheren Wissen dargestellt und auf der Kongruenz von Natur und Dialektik begründet. Denn die Naturangemessenheit der ramistischen Dialektik bestand darin, daß die natürliche Ordnimg durch das iudicium rekonstruiert und vom Gedächtnis behalten wird.105 In der zweiten Fassung seiner Dialektik gab Ramus diese platonisierende Interpretation des iudicium auf. Die Gültigkeit seiner Methode wird jetzt nicht mehr metaphy-

100

Rossi, Claois Universalis, S. 156-157.

101

Uber die Kritik von Quintilian gegen die Anwendung von loci und Bilder als Hilfsmittel, um Teile einer Rede oder Begriffe zu behalten, siehe Institutio oratoria XI, 23-26. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 232-233.

102



Yates, The Art of Memory, S. 216. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 40. Ibid., S. 41.

us

Ibid., S. 42.

103

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sisch, sondern auf ihre logische Stringenz hin begründet. Die neu definierte Methode wird als eine collocatio, das heißt eine subsumptive Zusammenstellung von topoi verstanden, die durch Definition und Division im Verfahren des indicium und nach Kriterien von Deduktion, Kohärenz und Stetigkeit, das heißt bruchlose Verkettung, erfolgt.106 Entscheidend für den Einfluß, den die Methode von Ramus auf die pansophischen und universalen Systeme des 17. Jahrhunderts ausübte, war die Aufstellung eines topischen Modells, das auf Ordnung basierte und für jede Disziplin anwendbar war. Zu bemerken ist noch, daß Ramus trotz seiner erklärten Ablehnung von Bildern darauf nicht völlig verzichten konnte: Die Darstellung der topoi durch Diagramme und Schemata, die Dispositionsbäume der Dichotomien haben eine sinnliche Valenz, die für die Strukturierung des Wissens im 1 6 17. Jahrhundert von wesentlicher Bedeutung sein wird.

3. Die Darstellung des Wissens im 16. Jahrhundert: Das Theater des Giulio Camillo Lullus und Ramus gestalteten die klassische Gedächtniskunst zu einem logisch-methodischen System um, mit dem die Strukturprinzipien der Wirklichkeit und die Vielfalt des Seienden erfaßt werden konnten. Ramus schrieb in seiner neuen Auffassung der Dialektik dem Gedächtnis eine ordnende Funktion zu, die auf jedes beliebige Thema anwendbar war. Die Dialektik von Ramus bot sich als eine Methode, mit der die gesamte Wirklichkeit klassifiziert und geordnet werden konnte, an. Vor Ramus hatte Lullus ein System entwickelt, das durch einen Vorgang von Kombination und Kalkulation der absoluten Prinzipien (der Dignitates det) den Entfaltungsprozeß Gottes und seine Präsenz in der Schöpfung erklären sollte. Aufgrund seiner platonischen Weltanschauung fand der Lullismus in der von Hermetismus, Neuplatonismus und Kabbala geprägten Kultur des 16. Jahrhunderts große Resonanz. Die Wiederentdeckung des Lullismus wurde aber der Vorliebe und Verehrung für die klassische Welt angepaßt. Man bemühte sich nämlich, die Iullistische Kombinatorik mit der Tradition der „ciceronianischen" Gedächtniskunst zu vereinbaren. Das bedeutete die Aufwertimg der Bilder, die in dem abstrakten lullistischen System keine Verwendung gefunden hatten und durch geometrische Figuren und Buchstaben ersetzt worden waren. Ibid., S. 45.

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In seinem Kommentar zum Gedächtnis-Traktat von Lullus Uber ad memoriam confirtnandam teilt Bernardus de Lavinheta die Dinge, die im Gedächtnis bewahrt werden sollen, in wahrnehmbare (sensibilia) und spekulative Objekte (intelligibilia) ein.107 Zum Erinnern der sensibilia taugt für Lavinheta die klassische Mnemotechnik mit ihren Orten und Bildern, aber für die intelligibilia, die von den Sinnen und von der Vorstellungskraft nicht erfaßt werden können, ist die traditionelle Gedächtniskunst unzulänglich. Für diese muß man das verfeinerte Erinnerungsverfahren von Lullus anwenden, dessen Ars generalis alles Wißbare in wenige Orte des Gedächtnisses einschließt. Wer sich die Ars von Lullus zu eigen macht, der kann nach Lavinheta durch die Kombination der absoluten Prädikate mit den Relationsprädikaten mittels der geometrischen Figuren die Grundprinzipien, die die verschiedenen Disziplinen gemeinsam haben, erlernen und die Korrelation der Wissenschaften und ihren einheitlichen Ursprung erkennen. Für Lavinheta ist die lullistische Kunst zugleich eine Logik und eine Mnemotechnik, die als Universal-Schlüssel dazu dient, die Grundsätze der einzelnen Disziplinen zu prüfen. Seine Auffassung der Ars des Lullus als Universalwissenschaft, mit der alle anderen Wissenschaften zu einer Einheit zurückgeführt werden können, hat Lavinheta in seiner Introductio in artem Raymundi Lullii deutlich dargelegt: Es ist eine allgemeine Kunst vonnöten, die allgemein geltende Grundprinzipien besitzt, mit denen die Prinzipien der anderen Wissenschaften geprüft und untersucht werden können [...]. Denn die Künste und die einzelnen Wissenschaften sind zu weitläufig, und das kurze menschliche Leben erfordert für den Verstand ein Universalinstrument.108

Lavinheta hatte ein enzyklopädisches System erarbeitet, das zugleich auf der traditionellen rhetorischen Mnemotechnik und auf der Kombinatorik von Lullus basierte. Dennoch bleibt das klassische Erinnerungsverfahren nur auf 107

Nur weniges ist von seinen Lebensumständen überliefert. Ob Lavinheta Spanier, Katalane, Portugiese oder Franzose war, ist ebenso ungeklärt wie seine genauen Lebensdaten, die man allgemein mit ca. 1470-1523 annimmt. Er gehörte zum Orden der Franziskaner und lehrte zwischen 1514 und 1523 in Lyon, Paris, Köln und Salamanca. In Paris, wo Lavinheta den neu eingerichteten Lehrstuhl für Lullismus an der Sorbonne innehatte, pflegte er intensiven Umgang mit den französischen Humanisten Faber Stapulensis und Bovellus; dort muß er auch die Werke des Cusaners kennengelernt haben, von dessen Gedanken sich einiges bei Lavinheta findet. Sein Hauptwerk ist die Explanatio compendiosaque applicatio artis Raymundi Lulli (Lugduni 1523). Heinrich Aisted ließ das Werk von Lavinheta im Jahre 1612 wieder drucken, Bernardi De Lavinheta opera omnia quibus tradidit artis Raymundi Lullii compendiosam explicationem et eiusdem applicationem ad logica rhetorica physica mathematica mechanica medica methaphysica theologica ethica iuridica problematica, edente Johanne Henrico Alstedio, Coloniae Sumptibus Lazari Zetzneri bibliopolae 1612.

108

De Lavinheta, De necessitate artis, erwähnt bei Rossi, Clavis Universalis, S. 97.

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die sensibilia beschränkt und von niedrigerem Rang im Vergleich zur Kunst von Lullus. Eine grundlegende Funktion haben dagegen die Bilder in dem enzyklopädischen System von Cornelio Gemma (1535-1577). Als Arzt und Astronom war Gemma vor allem an der Medizin interessiert. In De arte cyclognomica stellte Gemma eine „kreisförmige Methode" auf, die die Lehren von Hippokrates, Piaton, Galen, Aristoteles vereinbaren und sowohl für die Medizin als auch für jede andere Wissenschaft gelten sollte.109 Das kreisförmige Vorgehen verweist auf die enzyklopädischen Ziele seiner Methode. Durch die Ars cyclognomica soll die universale Ordnung mit den verborgenen Verbindungen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos ersichtlich werden.110 Entsprechend seinen neuplatonischen und neupythagoreischen Vorstellungen stehen für Gemma die drei Seelenvermögen des Menschen - das rationale, das intellektuelle und das imaginative - mit der Sonne, den Fixsternen und den Planeten in Relation. Ausgehend von der Erkenntnis dieser Verbindung zwischen dem Menschen und dem Makrokosmos und der Korrelation zwischen dem Denkvorgehen und der Universalordnung111 kann der menschliche Verstand die allgemeinen Verknüpfungen und den universalen Zusammenhang erfassen. Daher ist die Ars cyclognomica auch in der Lage, die Grundsätze der einzelnen Disziplinen festzustellen und sie entsprechend ihrer Korrelationen zu klassifizieren. Unter allen Wissenschaften läßt sich die Ars cyclognomica am besten auf die Medizin anwenden, weil diese die Zusammenhänge zwischen Gestirnen und Menschen erforscht.112 109

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Comelii Gemmae Lovaniensis Medicinae Professoris, De arte cyclognomica tomi III doctrinam ordinum universam, unaque philosophiam Hippocratis, Piatonis, Galeni et Aristotelis in unius communissimae ac circularis methodi speciem referentes, quae per animorum triplices orbes ad spherae caelestis, similitudinem fabricates, non medicinae tantum arcana pandit mysteria, sed et invenieniis costituendisque artibus ac scientiis caeteris viam compendiosam patefacit, Antwerpiae ex officina Christophori Plantini, 1569. De Arte cyclognomica, S. 5 (zitiert nach A. Serrai, Storia della bibliografia II. he enciclopedie rinascimentali, Bd. II. Bibliografi universali. A cura di Maria Cochetti, Roma 1991, S. 91): „Solem illos et Lunam, una cum stipatricibus stellis, stellarum circulis, circulorum partibus, contends et animalibus, in universa methodo in artium et scientiarum omnium Encyclopedia iubeam contemplari, omnemque intendere mentis aciem, ut ambientis mundi singulas formas, conversiones atque connexus mutuos, causa rum omnium et affectuum necessitudines in hominem transferat, ex anima, spirituque et corpore constitutum." Nach der Vorstellung von Gemma ist die Sonne zugleich Sitz der rationalen Ordnung und Symbol für Gott. Siehe Serrai, Storia della bibliografia II, S. 91. De Arte cyclognomica, S. 10 (zitiert nach Serrai, Storia della bibliografia II, S. 91-92): „Habet [hoc opus] totius Physicae, Metaphysicae, et Logicae complexum admirabilem, qui Medicinam praecipue, deinde et facultates artesque caeteras per universalem Methodum cum illa Philosophia triplici componat atque conglutinet."

τι

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Bei der Aufstellung seiner Methode unterstreicht Gemma die grundlegende Bedeutung der Bilder sowie der symbolischen Darstellungen und der geometrischen Figuren bei Lullus; das ganze Buch ist voll von Schemata und Diagrammen. Sie sind nicht als nebensächliche Erläuterungen anzusehen, sondern als wesentlicher Bestandteil der Klassifizierung aller Dinge, die die Welt ausmachen.113 Das enzyklopädische Projekt, das die klassische Mnemonik und die mnemonische Logik von Lullus mit den neuplatonischen, hermetischen und kabbalistischen Tendenzen dieser Epoche am deutlichsten kombinierte, war das Theater von Giulio Camillo Delminio.114 Sein Theater wie auch seine Persönlichkeit waren schon zu seinen Lebzeiten sowohl berühmt als auch umstritten. Von einigen wurde Camillo als „göttlich" gepriesen, von anderen dagegen als Scharlatan bezeichnet. Seine Person war von Legenden umwoben, die er selbst auch schürte. Er wurde um 1480 in Friaul als Sohn eines Kroaten geboren. Der Familienname ist unbekannt. Camillo selbst fügte seinem Namen den Beinamen „Delminio" zur Erinnerung an die Herkunft seines Vaters 113 114

Siehe De Arte cyclognomica, S. 27 und dazu Rossi, Claois Universalis, S. 78. So berühmt wie er war, ist Giulio Camillo seit dem 18. Jahrhundert in Vergessenheit geraten. Erst die moderne Forschung hat Camillos Bedeutung für die hermetische und kabbalistische Kultur des 16. Jahrhunderts neu entdeckt. Zu erwähnen sind: E. Garin, Testi umanistici sulla retorica, Roma/Milano 1953, S. 32-35; R. Bemheimer, „Theatrum mundi", in: The Art Bulletin 38 (1956), S. 225-247; P. Walker, Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella, London 1958, S. 141-142; F. Secret, „Les cheminements de la Kabbale ä la Renaissance: le Theatre du Monde de Giulio Camillo Delminio et son influence", in: Rivista critica di storia della filosofia 14 (1959), S. 418-436; id., Les kabbalistes Chretiens de la Renaissance, Milano 1985, S. 186, 291, 302, 309-312, 314, 318, 321, 350; P. Rossi, „Studi sul Lullismo e sull' arte della memoria: i teatri del mondo e il lullismo di Giordano Bruno", in: Rivista critica di storia della filosofia 14 (1959), S. 28-59; id., Claois Universalis, 96-100; Yates, The Art of Memory, Kap. VI-VII; A. Quondam, „Dal teatro della corte al teatro del mondo", in: M. de Panizza Lorch (Hrsg.), II teatro italiano del Rinascimento, Milano 1980, S. 135-150; L. Bolzoni, II teatro della memoria. Studi su Giulio Camillo, Padova 1984; C. Vasoli, „Tra retorica, arte della memoria ed eresia: ipotesi su Giulio Camillo Delminio ed i suoi discepoli", in: Bollettino della Societä di Studi Valdesi 138 (1975), S. 81-95; id., „Note su uno scritto religiöse di Giulio Camillo Delminio", in: Scritti in onore di Cleto Carbonara, Napoli 1976, S. 1007-1035; id., „Uno scritto inedito di Guilio Camillo ,De Γ humana deificatione'", in: Rinascimenti 2. Ser. 24 (1984), S. 191-227; id., „Su alcuni scritti ,religiosi' di Giulio Camillo", in: Filosofia e religione nella cultura del Rinascimento, Napoli 1988, S. 279-321; id., „Tra retorica, cabala, arte della memoria e religiositä: G. Camillo Delminio", in: V. Branca/C. Ossola (Hrsg.), Crisi e Rinnooamenti nell' autunno del Rinascimento a Venezia, Firenze 1991, S. 133-154; id., „Giulio Camillo Delminio et 1' ,art transmutatoire'", in: J. C. Margolin/S. Matton (Hrsg.), Alchimie et Philosophie ä la Renaissance. Actes du colloque international de Tours (4-7 Decembre 1991), Paris 1993, S. 193-204. Für weitere Bibliographie siehe G. Stabile, s. v. „Delminio", in: Dizionario Bibliografico degli Italiani 17 (1974), S. 218-230.

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hinzu.115 Obwohl seine Familie nicht besonders wohlhabend war, konnte Camillo studieren und wurde zu einer berühmten Persönlichkeit im kulturellen Kreis der venezianischen Akademien. Er unterrichtete eine Zeitlang in Bologna, Udine, doch sein ganzes Leben widmete er seinem Projekt einer Enzyklopädie des Wissens, die nach der klassischen Rhetorik organisiert und in Gestalt eines Theaters konkretisiert werden sollte. Das Theater betrachtete Camillo als das Gebäude eines Universalgedächtnisses sowohl für Wörter als auch für Begriffe (die memoria verborum und die memoria rerum der klassischen Mnemonik), in dem die enge Verbindung der Rhetorik mit der Weisheit dargestellt werden könnte. In einem Brief an Marcantonio Flaminio schilderte Camillo sein Vorhaben mit folgenden Worten: [...] in dieser Konstruktion werde ich in kurzer Zeit und mit weniger Mühe nicht nur Wörter, sondern auch zugleich Dinge anbringen können und damit ein Bild jener Verbindung von Weisheit und Eloquenz schaffen, die mit großem Unrecht von Sokrates gelöst wurde. Auf diese Weise [...] wird jeder, der etwas verfassen will und nur die Bedeutungen der Orte von mir erfahren hat [...], nach Belieben in jedem Ort zwei Wälder finden, einen aus Dingen und einen aus Wörtern.116 Die Konstruktion, von der Camillo spricht, ist noch nicht das Theater, sondern der menschliche Körper, dessen Teile als topoi für die Kollokation von Dingen und Wörtern benutzt werden.117 Anstatt eines Theaters hatte Camillo zuerst 115 116

117

Die alte Hauptstadt Dalmatiens hieß auf lateinisch „Delminium". „[...] in questa medesima fabbrica potrö in brevissimo tempo e con poca fatica, non solamente le parole, ma anche le cose insieme allogare, e cosi rendere una imagine di quel vincolo della sapienza et eloquenza da Socrate a gran torto disciolto, onde, lasciando ora il dirvi un altro mio pensiero d' intorno a questa opera, qualunque, volendo comporre et havendo solamente udito da me le significazioni de' luoghi, che sono cento sopra quel di Metrodoro sol ch' io abbia un poco di tempo di votare lo alfabeto e di ciö empire questa fabrica, poträ a suo piacere trovare in ciascuno due selve, una di cose, 1' altra di parole." Der Brief wurde im Jahr 1560 in Venedig von dem Drucker Gabriel Giolito im ersten Band der zweibändigen Ausgabe der Opera omnia von Camillo herausgegeben. Die hier und im folgenden zitierten Abschnitte sind dem modernen Nachdruck L' idea del teatro e altri scritti di retorica (Torino 1990, S. 9) entnommen. In der klassischen Mnemonik war in der Regel ein Gebäude als locus memoriae empfohlen. Quintilian (Institutio oratorio XI,2,21-22) erzählt, daß Metrodorus von Skepsis ein Gedächtnissystem erdacht habe, das nach dem Zodiakus konstruiert sei. Camillo hält das Gebäude der ciceronianischen und pseudo-ciceronianisehen Mnemonik für nicht angemessen und das System von Metrodorus für zu kompliziert und nimmt den Körper des Menschen als locus memoriae. Der Körper des Menschen eignet sich für Camillo am besten als Sitz der topoi, weil alle Körperteile als Mikrokosmos mit den Bestandteilen der Welt in Zusammenhang stehen. Alle Dinge und die Wörter, die sie

74

Die Shilteha-gibborim als Enzyklopädie

vor, in einem Buch seine Ideen darzulegen. Dennoch sind die zwei Grundgedanken, die er später im Theater umsetzen wird, hier schon deutlich formuliert, nämlich die Übereinstimmung von Wörtern und den ausgedrückten Dingen und die Bedeutung der Bilder für eine wahrnehmbare Vermittlung des Wissens. Für Camillo ist die Rhetorik viel mehr als nur eine Redekunst; ihr wird eine kosmologisch-ontologische Valenz beigemessen. Im Rahmen einer neuplatonischen und christlich-kabbalistischen Weltanschauung steigt die Rhetorik zum Deutungs- und Ordnungsprinzip des gesamten Kosmos. Das hatte - oder besser gesagt - wollte Camillo durch sein berühmtes Theater realisieren. Wie sein Autor, so ist auch sein Werk von Legenden umwoben. Das Modell des Theaters existiert heute nicht mehr und war schon im 17. Jahrhundert verschollen.118 Wir wissen aber dank eines Briefes von Viglius Zuichemus (humanistischer Name von Wigle van Aytta) an Erasmus, daß Camillo in Venedig ein Gebilde aus Holz in Gestalt eines Theaters gebaut hatte, das Viglius, von Camillo begleitet, besichtigen konnte. In seinem Brief an Erasmus gibt Viglius folgende Beschreibung des Theaters: Das Werk ist aus Holz mit vielen Bildern versehen und voll von kleinen Kästchen; es gibt verschiedene Ordnungen und Zonen darin. Er hat jeder einzelnen Figur und jedem Ornament seinen Platz gegeben. Er zeigte mir eine solche Menge Papier, daß ich, obwohl ich immer gehört hatte, daß Cicero die Quelle der reichsten Beredsamkeit sei, wohl kaum gedacht hätte, daß in einem Autor so viel enthalten sei oder daß aus seinen Schriften solche Massen zusammengetragen werden könnten [...]. Er hat für dieses sein Theater viele Namen, mal nennt er es einen gebauten oder gestalteten Geist oder Seele, mal sagt er, es sei mit Fenstern versehen. Er gibt vor, daß alles, was der menschliche Geist erfassen kann und was wir mit dem körperlichen Auge nicht sehen können, nachdem es durch sorgfältige Meditation gesammelt worden sei, durch gewisse körperhafte Zeichen in einer solchen Weise zum Ausdruck gebracht werden könne, daß der Betrachter mit seinen Augen sogleich alles

bezeichnen, finden daher entsprechend ihrer Natur und Eigenschaft die passende Kollokation im Körper des Menschen. In dem erwähnten Brief an Marcantonio Flaminio drückt Camillo seine auf den menschlichen Körper bezogene Gedächtniskunst mit folgenden Worten aus: „Ma veggendo ne Γ una poca dignitä, ne V altra molta difficultä, et ambedue forse piü alia recitazione che alia composizione acconcie, rivolgemmo tutto Ί pensiero alia meravigliosa fabbrica del corpo umano. Awisando, se questa e stata chiamata picciol mondo per avere in se parti che con tutte le cose del mondo si confacciono, potersi a qualunque di quelle accomodare secondo la sua natura alcuna cosa del mondo, e conseguentemente le parole quelle significanti" (Lettern α Μ. Marc'Antonio Flaminio, in: L' idea del teatro, S. 6). 118

Der französische Antiquar Montfaucon stellte vergeblich Nachforschungen an. Siehe Yates, The Art of Memory, S. 133.

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begreifen kann, was sonst in den Tiefen des menschlichen Geistes verborgen ist. Und wegen dieser körperlichen Anschauung nennt er es Theater.119 Die notwendigen Mittel für den Bau dieses Modells erhielt Camillo v o m französischen König Franz I. In den französischen Hof wurde Camillo durch den französischen Botschafter in Venedig, Lazare de Baif, eingeführt, der bei Elia Levita in Venedig Hebräisch gelernt hatte und Kontakte mit

den

italienischen kabbalistischen Kreisen pflegte. 120 Wahrscheinlich baute Camillo für den König eine zweite Kopie seines Theaters in Paris. 121 Die finanzielle Unterstützung des Königs erfolgte aber nicht so, wie sich Camillo erhofft hatte. Dank der Vermittlung seines Freundes Girolamo Muzio fand Camillo einen weiteren Gönner in dem spanischen Gouverneur v o n Mailand, Alfonso d'Ävalos Marquis Del Vasto, der ihm eine Pension zusicherte, u m von ihm „das Geheimnis" des Theaters zu lernen. Als Pensionär

des spanischen Gouverneurs

starb Camillo im Jahre 1544 in

Mailand. Gegen Ende seines Lebens, als er in Mailand in Diensten Del Vastos stand, diktierte Camillo binnen einer Woche Girolamo Muzio die Grundzüge seines Theaters. 122 Erst im Jahre 1550 w u r d e seine Beschreibung in drei

119

„Opus est ligneum multis imaginibus insignitum, multisque undique capsulis refertum: tum varii in eo ordines et gradus. Singulis autem figuris et ornamentis sua loca dedit, tantamque mihi chartarum molem ostendit ut, etsi semper audierim Ciceronem ubenimum eloquentiae fontem esse, vix tarnen induci ante potuissem ut crederem unum auctorem tarn late patere, totque ex eo volumina consarcinari potuisse [...]. Hoc autem theatrum suum auctor multis appellat nominibus, aliquando mentem et animum fabrefactum, aliquando fenestratum: fingit enim omnia quae mens humana concipit, quaeque corporeis oculis videre non possumus, posse tarnen diligenti consideratione complexa signis deinde quibusdam corporeis sie exprimi, ut unusquisque oculis statim pereipiat quiequid alioqui in profundo mentis humanae demersum est. Et ab hac corporea etiam inspectione theatrum appellavit" (Opus epistolarum Des. Erasmi Roterdami denuo recognitum et auetum per P. S. Allen, 12 Bde., Oxford, 1906-1958: Bd. 10, S. 29-30). Der Brief ist von Yates (The Art of Memory, S. 131-132) zitiert. Die deutsche Ubersetzung habe ich der deutschen Ausgabe des Buches von Yates entnommen (Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 2001, S. 124-125 ohne Angabe des Übersetzers).

120

Siehe G. E. Weil, Elie Levita. Humaniste et massorete (1469-1549), Leiden 1963, S. 234238. Elia Levita lehrte zwischen 1516-1527 in Rom den Kardinal Egidio da Viterbo Hebräisch, mit dem auch Camillo Kontakt hatte (siehe dazu Secret, Les kabbalistes, S. 310). Es ist mir nicht bekannt, ob sich Camillo und Elia Levita kannten, aber es ist sehr wahrscheinlich, da sie den gleichen Bekanntenkreis hatten. Yates, The Art of Memory, S. 133. Eine Anspielung auf das Theater des Giulio Camillo ist wahrscheinlich auch in der „pantotheca" des venezianischen Gelehrten Paolo Coroneo zu sehen, die in dem Jean Bodin zugeschriebenen Colloquium Heptaplomeres beschrieben wird. Yates, The Art of Memory, S. 133-134.

121

m

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verschiedenen und textlich leicht abweichenden Ausgaben in Florenz und Venedig gedruckt.123 Über das Theater von Camillo hat Yates ausführlich geschrieben und dessen Bedeutung herausgestellt.124 Ich möchte mich lediglich mit einigen Aspekten des Theaters von Camillo befassen, die, insbesondere in bezug auf die salomonische Tempeldarstellung, für Portaleone nicht unerheblich sind. Camillo entwarf sein mnemonisches Bauwerk nach dem Muster des vitruvianischen Theaters und veränderte dieses entsprechend seinen

123

La idea del theatro dell' eccellentiss. Μ. Giulio Camillo. In Vinegia. Appresso Baidassar Constantini al segno de San Georgia. Per Pietro et Gioanmaria fratelli de Nicolini da Sabbio. Ne V anno del Giubileo, 1550. V idea del theatro, dello eccellente M. Giulio Camillo In Vinegia. Appresso di Agostino Bindoni, 1550. L' idea del theatro dell' eccellen. Μ. Giulio Camillo. Stampato in Fiorenza appresso Lorenzo Torrentino impressor Ducale nel mese d' Aprile V anno 1550. Alle Ausgaben enthalten den Widmungsbrief des Herausgebers Lodovico Domenichi an Don Diego Hurtado de Mendoza, den spanischen Botschafter beim Heiligen Stuhl (1515-1564). Lodovico Dolce besorgte eine erste Ausgabe verschiedener Schriften von Giulio Camillo, denen auch L' idea del theatro hinzugefügt wurde. Die erste Ausgabe erschien im Jahre 1552 unter dem Titel: Tutte le opere, cioe Discorso in materia del suo theatro. Lettera del riuolgimento dell' huomo a Dio. La idea. Due trattati: V uno delle materie, V altro della imitatione. Due orationi. Rime del detto, in Vinegia appresso Gabriel Giolito de Ferrari et fratelli, 1552. Bei demselben Drucker Giolito erschien im Jahr 1560 eine zweibändige Ausgabe der opera omnia von Camillo Delminio. Der erste Band enthält neben den Werken der Ausgabe von 1552 eine rhetorische Abhandlung, Dei verbi semplici, und einige Briefe. Der zweite Band wurde von Francesco Patrizi besorgt und enthält verschiedene, zum Teil bis damals noch ungedruckte Werke. Der vollständige Titel dieser Ausgabe lautet: Opere di M. Giulio Camillo, cioe Discorso in materia del suo theatro. Lettere del rivolgimento dell' huomo α Dio. La Idea. Due trattati: V uno delle materie, l' altro della imitazione. Due orationi. Rime del detto, con alcune di nuovo aggiunte De' verbi semplici non piu stampato, & lettere del detto, di nuovo rivedute e ristampate II secondo tomo dell' opere di M. Giulio Camillo Delminio, cioe, La topica, overo dell' elocutione. Discorso sopra V idee di Hermogene. La grammatica. Espositione sopra il primo & secondo sonetto del Petrarca. In Vinegia appresso Gabriel Giolito de' Ferrari, 1560. Im 16. Jahrhundert folgten verschiedene Ausgaben. Danach wurden Camillos Schriften nicht mehr gedruckt. Erst im 20. Jahrhundert ist, parallel zu den Forschungen über die Mnemonik, auch das Interesse für die Schriften Giulio Camillos geweckt worden. Von den modernen Ausgaben sind mir folgende bekannt: Della imitazione, Delle materie, La topica, hrsg. von B. Weinberg, in: Trattati di poetica e di retorica nel Cinquecento, Bari, 1975; L. Bolzoni, II teatro della memoria. Studi su Giulio Camillo, Padova 1984. Von dem Turiner Verlag RES ist aus verschiedenen alten Drucken eine Auswahl der Abhandlungen und Briefe von Giulio Camillo über die Rhetorik (darunter auch L' idea del teatro) gedruckt worden: L' idea del teatro e altri scritti di retorica, Torino 1990. Die hier zitierten Auszüge aus Camillos Schriften sind dieser letzten modernen Ausgabe entnommen.

124

Yates, The Art of Memory, Kap. 6-7.

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mnemonischen Zwecken.125 Nach Vitruv standen die stufenweise hinaufsteigenden Sitzplätze für die Zuschauer im Halbkreis vor der Bühne und waren durch sieben Gänge geteilt. Camillos Theater stieg zwar in sieben Rängen an, die ebenso durch sieben Gänge unterteilt wurden, doch an jeden der sieben Gänge setzte Camillo sieben Bogen und Tore an, die mit verschiedenen Bildern, meistens mythologischen Darstellungen, verziert waren. Tore und Bogen mit ihren Bildern nahmen daher den Platz ein, der sonst für die Zuschauer bestimmt war. Die übliche Funktion des Theaters wurde also umgestellt. Denn das Schauspiel erfolgte in diesem seltsamen Theater nicht auf der Bühne! Der Betrachter sollte sich dort, wo sonst die Bühne stand, die Bilder auf den Toren und Bogen über den sieben ansteigenden Rängen anschauen. Die zahlreichen, verschiedenen Bilder dienten als Gedächtnisorte, in denen die Ordnung der ewigen Wahrheit, die sich durch die verschiedenen Stufen des Seienden entfaltet, vor den Augen des Betrachters wie eine Art Schauspiel aufgeführt wurde.126 Die Verbindung des mnemonischen Theaters Camillos mit dem des Vitruv ist nicht nur auf den Klassizismus der Renaissance und auf das von venezianischen Humanisten erweckte Interesse für die vitruvianische Architekturtheorie zurückzuführen, die später von Andrea Palladio (man denke an das Teatro Olimpico von Vicenza) auf die eleganteste Weise realisiert wurden.127 Das klassizistische Theater nach den vitruvianischen Theorien paßte sehr gut auch zu den hermetischen und kabbalistischen Vorstellungen Camillos. Denn nach Vitruv sollte der Grundriß des Theaters, bezogen auf die zwölf Tierkreiszeichen, die auf den musikalischen Einklang der Gestirne hindeuteten, die Harmonie des Kosmos widerspiegeln. Dafür sollte das Theater so geplant sein, daß vier imaginäre gleichseitige Dreiecke innerhalb eines Kreises, dessen Mittelpunkt das Zentrum der Orchestra war, gezeichnet werden konnten; und 125

126

127

Camillo erwähnt Vitruv nicht, aber aus dem Zusammenhang der Beschreibung in L' idea del theatre und aus den Berichten der Zeitgenossen von Camillo, die das Bauwerk besichtigten, läßt sich mit Sicherheit schließen, daß sich Camillo am römischen vitruvianischen Theater orientierte. Siehe dazu Yates, The Art of Memory, S. 131, 136137. Siehe Giulio Camillo, L' idea del teatro, S. 64: „Ma per dar, per cosi dir, ordine all' ordine con tal facilitä che facdamo gli studiosi come spettatori, mettiamo loro davanti le dette sette misure sostenute dalle misure de' sette pianeti in spettaculo, ο dir vogliamo in teatro distinto per salite" [Um sozusagen Ordnung der Ordnung auf eine so einfache Weise zuzufügen, daß wir die Gelehrten zu Zuschauern machen, führen wir ihnen die erwähnten sieben Maßeinheiten, getragen von den sieben Planeten, als Schauspiel vor, oder wir können sagen, in Form eines Theaters, das durch ansteigende Gänge eingeteilt ist.]. Über mögliche Verbindungen zwischen dem Theater von Camillo und dem Umfeld der venezianischen Renaissance siehe Yates, The Art of Memory, Kap. VII und besonders S. 158-159.

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zwar in der Weise, daß die Lage der sieben Gänge zwischen den Sitzplätzen und der fünf Zugänge zur Bühne durch die Eckpunkte der vier gleichseitigen, in dem Kreis eingeschriebenen Dreiecke bestimmt war. Diese Dreiecke - sagt Vitruv, dabei pythagoreische Einflüsse aufweisend - entsprechen denen, die die Astrologen nach der Harmonie der Gestirne in den Zodiakus einzeichnen. So lautet der Text von Vitruv: Das Theater selbst aber muß folgendermaßen gestaltet werden: Im Mittelpunkt eines Platzes, der so groß wie der Umfang des untersten Teils [das heißt der Orchestra] sein soll, setze man den Zirkel ein und schlage einen Kreis, und in diesen zeichne man vier gleichseitige Dreiecke ein. Diese sollen [mit ihren Spitzen] in gleichen Abständen den Kreis berühren - nach denen die Astrologen bei der Darstellung der zwölf Sternbilder nach der Musik die Verhältnisse der Sterne berechnen. Mit der Seite desjenigen der Dreiecke, dessen Seite dem Bühnenhaus am nächsten liegt, soll in der Richtung, in der sie das Kreissegment abschneidet, die Vorderwand des Bühnenhauses abgegrenzt werden. Und parallel dazu soll man durch den Mittelpunkt eine Linie ziehen, die die Bühne, das Proskenion, von dem Orchestraplatz trennen soll. So wird ein größerer Bühnenraum geschaffen als beim Theater der Griechen, weil alle Darsteller auf der Bühne spielen, in der Orchestra aber Stufenreihen für die Sitze der Senatoren abgegrenzt sind. Die Höhe dieser Bühne soll nicht mehr als fünf Fuß betragen, damit die, die in der Orchestra sitzen, die Gestikulation aller Schauspieler sehen können. Die Keile des Zuschauerraums im Theater aber sollen so eingeteilt werden, daß die Dreiecksecken, die ringsum auf der Krümmung der Kreislinie liegen, die Richtung der Aufstiege und Treppen zwischen den Keilen bis zum ersten Gürtel bestimmen. Darüber aber sollen die oberen Keile in ihrer Mitte weiterhin jeder durch eine Treppe gespalten werden. Die [Dreiecksecken] aber, die ganz unten sind und die Richtung der Treppe bestimmen, sollen an Zahl sieben sein. Die übrigen fünf bezeichnen die Gliederung des Bühnenhauses etc. [...].128

128

Vitruv, De architectura V,6: „[1] Ipsius autem theatri conformatio sie est facienda, uti, quam magna futura est perimetros imi, centro medio conlocato circumagatur linea rotundationis, in eaque quattuor scribantur trigona paribus lateribus; intervallis extremam lineam circinationis, tangant, quibus etiam in duodeeim signorum caelestium astrologia ex musica convenientia astrorum ratiocinantur. Ex his trigonis cuius latus fuerit proximum scaenae, ea regione, qua praecidit curvaturam circinationis, ibi finiatur scaenae frons, et ab eo loco per centrum parallelos linea ducatur, quae disiungat proscaenii pulpitum et orchestrae regionem. [2] Ita latius factum fuerit pulpitum quam Graecorum, quod omnes artifices in scaena dant operam. In orchestra autem senatorum sunt sedibus loca designata, et eius pulpiti altitudo sit ne plus pedum quinque, uti, qui in orchestra sederint, spectare possint omnium agentium gestus. Cunei spectaculorum in theatro ita dividantur, uti anguli trigonorum, qui currunt circum curvaturam circinationis, dirigant ascensus scalasque inter cuneos ad primam praecinctionem; supra autem alternis itineribus superiores cunei medii dirigantur. [3] Hi autem, qui sunt in imo et dirigunt scalaria, erunt numero VII; reliqui quinque scaenae designabunt compositionem etc. [...]". Deutsche Übersetzung von Curt

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Neben den vitruvianischen Theorien wurde Camillo sicher auch von dem verbreiteten literarischen Topos der Welt als Theater beeinflußt, der schon bei Philo zu finden ist.129 Das Theater Camillos ist entsprechend seiner neuplatonischen und kabbalistischen Weltanschauung errichtet und eingeteilt. Auf der Basis des gesamten Bauwerks stehen die sieben Säulen des salomonischen Hauses der Weisheit, auf denen die gesamte Schöpfung ruht: Salomo sagt im neunten Kapitel der Sprüche, die Weisheit habe ein Haus erbaut und auf sieben Säulen gegründet.130 Diese Säulen, welche auf unveränderliche Ewigkeit hinweisen, sollen wir als die sieben Sephirot der oberen Welt betrachten, die die sieben Maße des Baus der himmlischen und der unteren [Welt] sind, in denen die Ideen aller Sachen, die zur himmlischen und der unteren [Welt] gehören, enthalten sind, so daß wir ohne diese Zahl uns nichts vorstellen können.,Sieben' ist eine vollkommene Zahl, weil sie das eine als auch das andere Geschlecht enthält. Denn sie besteht aus Gerade und Ungerade etc.131 Im Theater von Camillo hat die Nummer „Sieben" eine grundlegende Bedeutung. „Sieben" ist eine mystische Zahl, das Symbol der Vollkommenheit, weil sie - so die Erklärung von Camillo - durch die ungerade Zahl „Drei" und die gerade Zahl „Vier", die in der Zahl „Sieben" beinhaltet sind, beide Geschlechter in sich enthält. Schon Philo interpretierte die ungerade und die gerade Zahl als Symbol für das männliche bzw. weibliche Geschlecht.132 Auch

129

130 131

132

Fensterbusch: Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Curt Fensterbusch, Berlin 1964, S. 229-231. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 170-171. Uber den Grundriß der griechischen und römischen Theater auf der Basis von vier Dreiecken bzw. drei Vierecken, die in den Kreis der Orchestra eingepaßt sind, siehe den Kommentar von Antonio Corso und Elisa Romano zur oben erwähnten Stelle (Vitruvio, De Architecture a cura di Pierre Gros, traduzione e commento di Antonio Corso e Elisa Romano, 2 Bde., Torino 1997:1, S. 697-700 Aran. 212). Siehe De opificio mundi, 78. Um zu erklären, warum der Mensch zuletzt geschaffen wurde, vergleicht Philo die Schöpfung mit einem Bankett oder einer theatralischen Darstellung, zu der der Mensch von Gott eingeladen wurde. Siehe Prv 9,1: „sapientia aedificavit sibi domum excidit columnas Septem." „Salomone al nono de' Proverbi dice la sapienza haversi edificato casa et haverla fondata sopra sette colonne. Queste colonne significanti stabilissima eternitä habbiamo da intender che siano le sette saphirot del sopraceleste mondo, che sono le sette misure della fabbrica del celeste e dell' inferiore, nelle quali sono comprese le Idee di tutte le cose al celeste e all' inferiore appartenenti: di che, fuori di questo numero, cosa alcuna non possiamo immaginare. Questo settenario e numero perfetto, perciö che contiene Γ uno e Γ altro sesso per esser fatto di pari e di dispari etc." (1/ Idea del Theatro dell Eccelent. Μ. Giulio Camülo, in Fiorenza, 1550, S.9, 11 [= Torino 1990, S.61], erwähnt auch von Yates, The Art of Memory, S. 137 und von Rossi, Clams Universalis, S. 121). De opificio mundi, 13.

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in der Zahlensymbolik von M o wird die Zahl „Sieben" auf besondere Weise bewertet. Bei dem Schöpfungsvorgang mißt Philo der Zahl „Sieben" eine verwirklichende Funktion (telesföros nennt sie Philo) bei: Sie vermittelt die Form der ewigen, unveränderlichen Ideen der Materie.133 In ihr ist das Rechteck enthalten, aus dem alle Formen und Eigenschaften entstehen.134 „Sieben" verweist auf die Unveränderlichkeit Gottes und durchdringt zugleich alle Dinge der Welt.135 Durch seine vermittelnde Funktion zwischen unkörperlichen und körperlichen Dingen, zwischen der oberen und der unteren Welt drückt die Zahl „Sieben" die Harmonie des Kosmos aus.136 In der Weltauffassung von Camillo hat die Zahl „Sieben" eine ähnliche Bedeutung und wird kabbalistisch interpretiert. „Sieben" verweist nämlich auf die Planeten, die Camillo als Abbildung von den sieben Sephirot (oder „Saphirot", wie er sie nennt) betrachtet. Diese sind die „Maßeinheiten" der Welt, die Grundsätze der Schöpfung, Emanation Gottes. Sie sind in Gott und durchdringen dennoch den gesamten Kosmos. Der menschliche Verstand kann sie nicht erfassen, nur die Propheten hatten eine annähernde Kenntnis von ihnen. Da sie so weit entfernt von der menschlichen Vorstellungskraft liegen, hat Camillo sie durch die sieben Planeten dargestellt, weil diese bekannt sind und ihre Bilder leichter als Gedächtnisbilder erfaßt werden können. Mit jedem Planeten bzw. mit jeder Sephirah wird noch ein Engel assoziiert. Die Zusammenhänge zwischen Planeten, Sephirot und Engel lassen sich schematisch folgendermaßen darstellen: Planeten

Sephirot

Engel

Luna (Diana) Merkur Venus Sol Mars Jupiter Saturn

Malchut Jesod Hod und Nezach Tifereth Gebura Chessed Bina

Gabriel Michael Honiel Raphael Camael Zadkiel Zaphkiel

Von den ursprünglichen zehn Sephirot der jüdischen Kabbala hat Camillo die beiden höchsten Sephirot, Kether und Hokhmah, absichtlich ausgelassen, weil er nicht über die Bina hinaus aufsteigen wollte, zu der Mose gelangt war.137

•33 Ibid., 102. 134 135 136 137

Ibid., 97. Ibid., 100,111. Ibid., 107-110. V idea del teatro, S. 64. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 148.

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Als Beleg für seine Interpretation der Zahl „Sieben" führt Camillo einige Stellen des Alten und Neuen Testamentes an, die unmittelbar einem Zitat aus Vergil und aus dem Poimandres des Corpus Hermeticum

folgen:

In der Tat, da die Gottheit diese sieben Maßeinheiten nach außen hin entfaltet hat, ist es ein Zeichen, daß sie in der Tiefe seiner Gottheit enthalten sind, deshalb, weil „Keiner geben kann, was er nicht hat". Diese Säule nennt Jesaja Weiber, dort wo er sagt: „Sieben Frauen klammern sich an einen einzigen Mann" (Jes 4,1). Und er nennt sie Weiber, das heißt „passive", nämlich „Produkte". Wenn aber Paulus sagt, „er trägt das All durch sein machtvolles Wort" (Hebr 1,3), und anderswo „Eines in allen und alles in einem"138 und an die Kolosser (1,15-16) „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen", dann folgt daraus, daß wir keinen passenderen Sitz finden können als den von Gott. Nun, wenn die antiken Rhetoriker in dem Wunsch, die vorzutragenden Teile der Rede von einem Tag auf den anderen festzuhalten, sie vergänglichen Orten als vergängliche Dinge anvertrauten, dann ist es wohl rechtens, daß wir in dem Wunsch, auf ewig die ewige Natur aller Dinge, die in der ewigen Natur der Rede ausgedrückt werden kann, aufzubewahren, ihr ewige Orte zuweisen. Unsere große Anstrengung ist es deshalb gewesen, eine Ordnung in diesen umfassenden und untereinander verschiedenen sieben Maßeinheiten zu finden, die den Geist aufmerksam erhält und das Gedächtnis bewegt.139

Die Bilder auf den sieben Toren und Bögen über den sieben Rängen des Theaters erfüllen diesen Wunsch Camillos: Sie geben eine strukturierte Darstellving

138

139

Das Zitat ist nicht korrekt wiedergegeben. Ahnliche Ausdrücke in den Paulusbriefen sind IKor 15,28, Eph 4,6, Kol 3,11. L' idea del teatro, S. 61-62: „E nel vero, avendo la divinita esplicate fuori queste sette misure, segno e che nello abisso della sua divinitä siano ancor implicatamente contenute, perciö che Nemo dat quod tum habet. Queste colonne Esaia le chiama femine, quando dice: Septem midieres apprehenderunt sibi virum unum e chiamale femine, che vuol dir passive, αοέ produtte. Ma se, come dice Paolo, Portat omnia verbo virtutis suae, et altrove, Unum in omnibus et omnia in uno, et a' Colossensi, Est imago Dei invisibilis primogenitus omnis creaturae quoniam in ipso condita sunt universa in coelis et in terra, visibüia et invisibüia, sme throni sive dominationes sive principatus sive potestates omnia per ipsum et in ipso creata sunt, segue che non possiamo trovar magion piü capace che quella di Dio. Or se gli antichi oratori, volendo collocar di giorno in giorno le parti delle orazioni che avevano a recitare, le affidavano a luoghi caduchi, come cose caduche, ragione έ, che volendo noi raccomandar eternalmente gli etemi di tutte le cose che possono esser vestiti di orazione con gli etemi di essa orazione, che troviamo a loro luoghi etemi. L' alta adunque fatica nostra έ stata di trovare ordine in queste sette misure, capace, bastante, distinto e che tenga sempre il senso svegliato e la memoria percossa."

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der ewigen Natur der sieben Maßeinheiten und regen das Gedächtnis zu ihrer Erinnerung an. Sieben Tore über sieben Rängen, insgesamt also 49 Tore, hat das Theater. Und neunundvierzig als Potenz von „Sieben" ist eine andere mystische Zahl, die neben ihrer kosmologischen Valenz (die sieben Sephirot und die sieben Planeten) auch eine theologische Bedeutung hat: Sie ist die Zahl der Vergebung. Denn neunundvierzig Male stieg Mose zur Bina, w o er mit dem Engel Mitrathon sprach, und aus genauso vielen Wörtern besteht das Gebet Jesu, das heißt das „Vater unser" nach der Fassung des Matthäus-Evangeliums: Nachdem Mose zur Bina, wo ein Engel namens Mitrathon, das heißt princeps facierum,lv> seinen Dienst verrichtet, gelangt war, führte er mit diesem Engel seine Gespräche. Da er Sieben mal Sieben, was 49 ergibt, das heißt die Zahl der Vergebung - und Jesus Christus wollte, daß wir durch das Gebet an den Vater zu dieser Zahl hinaufsteigen, deshalb besteht das Gebet, das wir „das Gebet des Herrn" nennen, nach der Fassung des hebräischen Textes des Matthäus141 aus 49 Wörtern -, haben wir mit dem Ziel, den Schatten dieser Aufstiege wiederzugeben, sieben Tore oder Stufen oder Ränge, wie immer wir sie nennen wollen, jedem Planeten zugeordnet.142 Die Reihenfolge der Bilder spiegelt die Stufen der Schöpfung wider. Auf dem untersten Rang, der in den antiken Theatern für die bedeutendsten Leute reserviert war, sind die Ersten Ursachen durch die sieben Planetenbilder dargestellt. 143 Beim Hinaufsteigen der Gänge der sieben Planeten wird gezeigt, wie sich die Wirkungen der sieben überhimmlischen Maßeinheiten durch die Schöpfung entfalten. Jeder der sechs oberen Ränge hat eine eigene symbolische Gesamtbedeutung, die durch sechs verschiedene Bilder, die der griechischen Mythologie entnommen sind, ausgedrückt wird. Das Bild, das die Bedeutung

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Mitrathon für Metatron oder Mitatron, den höchsten aller Engel in der mystischen jüdischen Tradition, auch als sar ha-panim, das heißt „Fürst des göttlichen Angesichts", bezeichnet. Siehe G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957 [Frankfurt a. M. 1980], S. 72-75. Camillo meint hier die patristische Tradition (cfr. Eusebius, Historia Ecclesiastica 111,39,16), wonach das Matthäus-Evangelium ursprünglich auf hebräisch, oder besser gesagt aramäisch, verfaßt wurde. L' idea del teatro, S. 64: „Et essendo Mose arrivato alla Binä, nella quale έ un officio di angelo detto Mitrathon, cioe princeps facierum, con quello ebbe i suoi ragionamenti. Essendo egli adunque salito sette volte sette fiate, che sono quarantanove, numero della remissione - al qual numero ancor Iesu Cristo volse che ascendessimo facendo orazione al Padre, impercio che la orazione che dominical chiamiamo, secondo Γ ebreo testo scritto da Matteo, e di quarantanove parole - Γ ombra di queste salite imitando noi, abbiamo dato sette porte, ο gradi, ο distinzioni che dir le vogliamo, a ciascun pianeta."

"3

Ibid., S. 64-65.

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jedes einzelnen Ranges darstellt, wird auf jedem der sieben Tore des jeweiligen Ranges wiederholt. So steht auf jedem der sieben Tore des zweiten Ranges ein Bankett gemalt. Homer erzählt, daß Okeanos ein Bankett für alle anderen Götter veranstaltete. Für Camillo verbirgt diese Erzählung einen erhabenen, geheimnisvollen Sinn. Und zwar verkörpert Okeanos die Urwasser der Weisheit, und die eingeladenen Götter symbolisieren die Ideen oder Sephirot. In der homerischen Erzählung findet Camillo eine Anspielung auf die Worte des Johannes-Evangeliums „Am Anfang war das Wort" sowie auf die Eröffnungsworte der Genesis „Am Anfang". Der zweite Rang ist also der erste Schöpfungstag, und das Bankett ist die bildliche Darstellung der Elemente der Schöpfung in ihrer einfachen, unvermischten Gestalt.144 Auf den Toren des dritten Ranges ist eine Höhle gemalt. Das ist die Nymphenhöhle, die von Homer (Odyssee XIII,102ff.) beschrieben wird, in der die Nymphen weben und wo Bienen hinein- und herausfliegen. Sie deutet auf die Vermischung der Elemente zur Bildung des Geschaffenen entsprechend dem Einfluß der verschiedenen Planeten hin. Zur Erläuterung dieses zweiten Ranges bezieht sich Camillo auf Zitate des Alten und Neuen Testaments sowie auf klassische und hermetische Werke. Der vierte Rang erinnert an die Erschaffung des inneren Menschen, nämlich seines Geistes und seiner Seele. Das Symbolbild auf allen sieben Toren dieses Ranges zeigt die drei Gorgonen-Schwestern, die, wie Hesiod (cfr. Schild des Herkules 230) erzählt, zusammen nur ein Auge haben. Das wird von Camillo als eine Anspielung auf die drei Seelen des Menschen entsprechend der kabbalistischen Ansicht interpretiert.145 Auf dem fünften Rang wird die Vereinigung der Seele des Menschen mit seinem Körper durch das Leitbild von Pasiphae mit dem Stier dargestellt. Auf den Toren des sechsten Ranges sind die Sandalen und der andere Schmuck, den Merkur anlegt, wenn er eine Botschaft bringen soll, dargestellt. Das soll an all jene Tätigkeiten erinnern, die der Mensch auf natürliche Weise und ohne jede Kunst ausführen kann. „Der siebte Rang ist allen schönen Künsten zugeordnet, den erhabenen und den niederen, und über jedem Tor ist Prometheus mit einer brennenden Lampe."146 Den Künsten und Wissenschaften fügt Camillo auch Religion und Gesetz hinzu.147

144 145 146 147

Ibid., S. 73-74. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 139. V idea del teatro, S. 96-108. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 140. L' idea del teatro, S. 118. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 141. U idea del teatro, S. 120.

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Unter dem Leitbild, das die Bedeutung des Ranges zeigt, sind auf jedem Tor unterschiedliche Bilder gemalt, die auf die je nach Rang verschiedenen Wirkungen der einzelnen Planeten hinweisen.148 Zur Erörterung seiner Bilderwelt zieht Camillo klassische Autoren und Philosophen neben Schriften des Corpus Hermeticum und der jüdischen Kabbala zusammen mit dem Alten und Neuen Testament heran. Der Zohar der jüdischen Kabbala, der Poimandres und der Asclepius aus dem Corpus Hermeticum sind zusammen mit den Paulusbriefen und der Genesis zitiert.149 Camillo folgt der Tradition der Prisca theologia von Ficino, Pico della Mirandola und der florentinischen „Accademia platonica".150 Seine christliche Weltanschauung ist durchdrungen von Neuplatonismus, Hermetismus und Kabbala, die in die Tradition der klassischen Mnemonik eingefügt werden. Das Gedächtnisverfahren der klassischen Gedächtniskunst ermöglicht, sowohl res, das heißt Begriffe und Tatsachen, die der Gegenstand der Rede sind, als auch verba, das heißt die Wörter, mit denen der Gegenstand der Rede ausgedrückt werden soll, zu memorieren. Bei der Beschreibung seines Theaters stellt Camillo nun allerdings heraus, daß unter den einzelnen Toren sich Bänder befinden, in denen Abschnitte aus den Schriften der klassischen Redner, Philosophen und Dichter enthalten sind, die zu dem in den Bildern anklingenden Thema in Beziehimg stehen.151 Das klassische Gedächtnissystem für Begriffe und Wörter wird nach der Vorstellung von Camillo zu einem kosmologischen System umgestaltet, in dem die Einordnimg des Seienden parallel zur Einordnung der Rhetorik erfolgt. Damit hatte sich Camillo den Tadel seiner Kritiker zugezogen, er habe die Kunst der Antike verdorben, um eine Erfindung von sich einzuführen. Im Discorso in materia del suo teatro, einer Rede, die Camillo in einer venezianischen Akademie hielt, wehrte er sich gegen seine Kritiker: Fern sei von ihm 148 149 150

151

Für eine detaillierte Beschreibung siehe Yates, The Art of Memory, S. 143-144. Siehe zum Beispiel L' idea del teatro, S. 96-97. Der Begriff Prisca theologia stammt wahrscheinlich aus Georgios Gemistos Plethon. Nach der Vorstellung der Prisca theologia existierte eine außerbiblische uralte Tradition von Weisheit, die die christliche Wahrheit andeutet. Der Ägypter Hermes (oder Mercurius) Trismegistos und der Perser Zoroaster waren die ersten prisci theologi, die ersten Vertreter einer ununterbrochenen Traditionskette, die bis Pythagoras und Piaton reicht. Ficino drückt im Argumentum, das er seiner lateinischen Übersetzung des Poimandres vorangestellt hat (in Opera, Basel 1576, S. 1836), seine Vorstellung dieser uralten Weisheit so aus: „Es gibt also eine Theologie der Antike (prisca theologia) [...], die in Merkur ihren Ursprung und in dem göttlichen Piaton ihren Höhepunkt hat." In Theologia platonica 17,1 setzt Ficino Zoroaster an den Anfang dieser Traditionskette. Dazu siehe F. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964 [Chicago 1991], S. 14-15; M. Muccillo, Platonismo Ermetismo e „prisca theologia". Ricerche di storiografiafilosoficannascimentak, Firenze 1996. Yates, The Art of Memory, S. 144.

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der Gedanke, die Kunst der Antike wegen einer eigenen Erfindung zu verderben. Ganz im Gegenteil! Er halte keine seiner Erfindungen für gut, wenn er sie nicht von der Kunst der Antike untermauert sehe.152 Sein Bestreben, die Disposition seines Theaters ständig an die klassische Rhetorik anzupassen, wird bis zum Äußersten geführt, bei den heidnischen Autoren die elegantesten stilistischen Formen zu suchen, um die christliche Wahrheit auszudrücken: Obwohl Cicero von Christus und vom Heiligen Geist nie gesprochen hat [...] habe ich eine ganze Menge aus den Schriften Ciceros zusammengetragen, womit man den Namen des Sohnes und des Heiligen Geistes nach dem ciceronianischen Stil einkleiden kann.153

Der florentinische Hermetismus der platonischen Akademie wird von Camillo mit dem venezianischen Klassizismus und mit dem Kult Ciceros vereinbart. Die Eloquenz ist aber für Camillo mehr als nur die Kunst, die Wahrheit mit schönen und eleganten Worten „einzukleiden". In der Eloquenz ist die Wahrheit überliefert, und alle anderen Wissenschaften sind in ihr enthalten. Auf dem siebten Rang in der Merkur-Reihe wird unter dem Leitbild des Prometheus ein Band aufbewahrt, „in dem alle Wissenschaften ohne Ausnahme eingeordnet nach ihrer Verkettving und schließlich die Eloquenz als Behältnis und Verzierung von allen gezeigt werden."154 Die rhetorischen Werke der Antike zeigen den Weg zur Wahrheit, weil sie die siebenförmige Essenz der Eloquenz kannten. Camillo eröffnet eine seiner rhetorischen Abhandlungen mit folgender Bemerkung: Es sind viele, ich bestreite dies nicht, die Schönheiten der Eloquenz, aber jene, die nur zur Vielfalt der Sprache gehören, so daß sie mit ihrer Substanz erfaßt werden können, wenn ich gut durchschaue, was uns das göttliche Licht in so tiefer Finsternis gnädig zeigt, sind nicht mehr als sieben. In der Tat, nachdem die Antike an diese Sieben-Zahl gelangt war, erkannte sie, daß sie die äußersten Grenzen der Eloquenz erreicht hatte, und sie dachte, nicht versuchen zu wollen, in ihren Schöpfungen diese Grenzen zu überschreiten, zumal es sehr selten geschehen ist, daß die Ewige Triebkraft aus besonderer Gnade einem der Sterblichen diese sieben Gaben erteilt hat.155 152 153

154

155

„In materia del suo teatro", in: V idea del teatro e altri scritti di retorica, S. 14. L' idea del teatro, S. 123: „Quantunque Cicerone non abbia mai parlato di Cristo ne dello Spirito Santo [...] ho apparecchiato gran selva tratta dagli scritti di Cicerone, con la qual ciceronianamente si poträ vestire il nome del Figliolo e dello Spirito Santo." Ibid., S. 121: „Adunque contenerä un volume molto ben distinto, nel qual si vederanno ordinate senza eccezione tutte le scienze, con tutti gli anelli appartenenti alle loro particolari catene, e finalmente la eloquenza come ricetto et ornamento di tutte, la eloquenza, dico, appartenente alia orazione sciolta in tutte le sue speci." La topica ο vero della Elocuzione, in: L' idea del teatro e altri scritti di retorica, S. 207: „Sono molte, non nego, le bellezze dell' eloquenzia, ma quelle ch' appartengono solamente

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Die Übereinstimmung zwischen res und verba, zwischen Wirklichkeit und Rhetorik, gründet metaphysisch-mystisch auf der kosmischen Zahl „Sieben". Die Wirkungen der sieben Maßeinheiten, die durch die sieben Planeten dargestellt werden, durchziehen die verschiedenen Stufen der Schöpfung bis zum siebten Rang des Theaters und finden unter den menschlichen geistigen Tätigkeiten in der Eloquenz die beste Ausführung. Die Eloquenz ist nicht nur eine subjektive Schöpfung des Menschen. Der Einfluß der überhimmlischen Kräfte gewährt eine objektive Übereinstimmung der rhetorischen Eleganz mit der Wirklichkeit. Der göttliche Ursprung des Menschen kommt in der Eloquenz zum Vorschein, in ihr verwirklicht der Mensch die schöpferische Kraft seines Geistes. Eng verbunden mit der Eloquenz ist die Funktion der zahlreichen Bilder, mit denen das Theater gefüllt ist. Denn die Eloquenz richtet sich cinders als die Philosophie an die Sinne, und dementsprechend soll sie bewertet werden.156 Außer das Gedächtnis zu unterstützen, dienen die Bilder dazu, die Wahrheit vor der Profanation zu schützen. Wie die alten Philosophen ihre Lehre, nachdem sie sie den Anhängern erklärt hatten, mit mythologischen Erzählungen einkleideten, tun sie zu verbergen und vor der Profanation zu schützen, so hat auch Camillo in seinem Theater symbolische Bilder verwendet, um seine Lehre zu schützen und das Gedächtnis anzuregen.157 Damit schürte Camillo weiter die Gerüchte, die seinem Theater ein in den Bildern verborgenes

alia selva della lingua si che si possono cogliere con la sostanzia di quella, se ben riguardo a ciö che Ί celeste lume fra si folte tenebre degna mostrarci, non sono piü che sette. Ε nel vero, a questo settenario numero giunti, gli antichi conobbero esser agli ultimi termini dell' eloquenzia pervenuti; Ii quali tanto meno giudicarono nelle lor composizioni doversi tentar di passare, quanta a ran de' mortali e avenuto che questi sette doni gli abbia Γ Eterno Motore per spezial grazia felicemente conceduto." 156

„In materia del suo teatro", in: U idea del teatro e altri scritti di retorica, S. 16: „Tanto voglio ancor dire, che la eloquenzia non έ come la filosofia ο altra speculativa facultä, della qual solo Γ intelletto si abbia da appagare, imperö che, essendo gran parte di lei tutta del senso, fa bisogno che col senso sia quasi misurata." Diese Erklärung über die Funktion der Bilder in seinem Theater hat Camillo in der Einleitung seiner Beschreibung aufgeführt (siehe U idea del teatro, S. 59-60).

157

L' idea del teatro, S. 103: „Ma tempo έ ormai ch discendiamo alle nostre immagini, il che faremo se prima avremo detta una cosa, non pure appartenente a' teologici simboli che ho da dare a questa porta [das heißt das Tor der Gorgonen], ma a tutte le immagini del mio Teatro. Appresso gli antichi adunque era in costume che quei filosofi medesimi i quali insegnavano e mostravano le profonde dottrine a' cari discepoli, poi che le avevano chiaramente dichiarate, le coprivano di favole, a fin che cosi fatte coperte le tenessero nascoste e cosi non fossero profanate [...]. Ad imitazione adunque di cosi grandi filosofi, poi che io ho chiaramente rivelato il secreto delle anime e de' tre intelletti."

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Geheimnis zuschrieben und ihm die Anschuldigung einbrachten, ein Magier zu sein.158 Durch die Betrachtung der Bilder sollte der „Zuschauer" in der Lage sein, die Ordnung des Universums zu erfassen. Das Theater ist für Camillo nicht nur ein locus memoriae, ein Gedächtnisort, sondern ein Ort der Weisheit, weil

alles Wißbare von seinen Ursachen erfahren wird. Diese hohe und unvergleichliche Anordnung erfüllt nicht nur die Aufgabe, für uns die Dinge, Wörter und Künste zu bewahren, die wir ihm übergeben, so daß, wann immer wir sie brauchen, wir sie auf einmal finden können, sondern sie gibt uns auch die wahre Weisheit, aus deren Quellen wir zur Erkenntnis der Ursache der Dinge, nicht nur ihren Wirkungen nach gelangen.159

Camillo hat mit seinem Theater die klassische Mnemonik zu einer kosmologischen Darstellung umgestaltet, in dem die Rhetorik logische und ontologische Funktionen übernimmt. Die Korrelation der symbolischen Bedeutung der Leitbilder und der unter ihnen aufbewahrten Schriften der klassischen Autoren entspricht dem Versuch, die Grundsätze der rhetorischen Kunst mit dem Gefüge des Seins zu vereinbaren.160 Das Theater Camillos weist fast das gesamte Spektrum der charakteristischen Züge der Kultur seiner Zeit auf. Kabbala, Hermetismus, Neuplatonismus, die Vorliebe für eine visuelle, sinnlich erfaßbare Vermittlung des Wissens sind mit der rhetorischen Grundlage des Theaters verflochten. Dies erklärt seinen Erfolg und die Berühmtheit seines Autors, aber auch, daß er in Vergessenheit geraten ist, weil das Modell den veränderten kulturellen Bedürfnissen nicht mehr entsprach. Wir kennen den Einfluß, den Camillo auf seine Zeitgenossen auch über die italienischen Grenzen hinaus von Samuel Quicchelberg161 (1529-1567) bis hin zu Robert Fludd (1574-1637) Anfang des 17. Jahrhunderts ausübte.162 Porta158

159

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161 162

Siehe dazu Yates, The Art of Memory, S. 155, 157, 168-172. Yates erkennt im Theater Camillos einen deutlichen Einfluß von Ficinos Theorie über die Talismane. Die Planetenbilder sind nicht Symbole der Sephirot, sondern sind als Talismane anzusehen, die die himmlische Kraft der Sephirot in das Theater und in die anderen Hilfsbilder herabziehen und dem Betrachter ihre Wunderkraft weiterleiten. U idea del teatro, S. 62: „Questa alta et incomparabile collocazione fa non solamente officio di conservarci le affidate cose, parole et arte, che a man salva ad ogni nostro bisogno informati prima le potremo trovare, ma ci dä ancor la vera sapienza, ne' fonti di quella venendo noi in cognizion delle cose dalle cagioni e non dagli effetti." Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 143. Die deutsche Übersetzung ist der deutschen Ausgabe (Gedächtnis und Erinnern, S. 133) entnommen. Siehe E. Garin, „Alcuni aspetti delle retoriche rinascimentali", in: Testi umanistici sulla retorica, Roma/Milano 1953, S. 32 und Rossi, Clevis Universalis, S. 119. Uber ihn siehe weiter unten. Siehe Yates, The Art of Memory, Kap. ΥΠ.

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leone erwähnt Giulio Camillo Delminio zwar nicht, aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß er von dem berühmten Theater nichts wußte. Es scheint also nicht abwegig zu untersuchen, ob der salomonische Tempel von Portaleone einige Nachklänge des Theaters von Camillo enthält.

4. Die Verräumlichung des Wissens im 16.-17. Jahrhundert Die klassische Kultur hatte eine Mnemonik entwickelt, in der verba und res ihre eigenen imagines agentes hatten. Das Mittelalter assoziierte den Erinnerungsbildern theologische und moralische Bedeutungen. Im 16. und 17. Jahrhundert erhielt die Mnemonik unter Hinzufügung von Ramismus und Lullismus eine epistemologisch-kosmologische Valenz. Sie wurde zu einer Art Universalschlüssel, der das pansophische Tor öffnete und sinnlich erkennbar machte, daß die Strukturen der Redekunst denen des Universums und daher dem Entfaltungsvorgang der göttlichen Ideen gleichkommen. In diesem Sinn hatte schon Giulio Camillo sein Theater gebaut, und so wurde es auch von seinen Bewunderern verstanden. Francesco Patrizi, der Herausgeber der Topica von Giulio Camillo, pries ihn als den Erfinder einer neuen, allumfassenden Rhetorik mit kosmologischer Valenz: „Er hatte sie [das heißt die Rhetorik] so weitgehend ausgedehnt, daß er sie über alle weiten Orte des Theaters der ganzen Welt ausweitete."163 Aufgabe der Rhetorik war für Camillo nicht nur, die Regeln und Gesetze des schönen Redens darzulegen, sondern eine Darstellung des ganzen Universums zu bieten. Giulio Camillo war überzeugt, daß die Rhythmen und Gesetze der Redekunst den Rhythmen und Gesetzen des Kosmos entsprechen, daß die Wortverbindungen und Relationen, die sich im Gefüge der Rede aufbauen und ihre „Harmonie" bestimmen, den Verbindungen und Verknüpfungen aller Dinge des Universums gleichen. In seinen rhetorischen Untersuchungen konzentrierte sich daher Camillo auf die Analyse der Metapher, des „artificio", nämlich jenes rhetorischen Verfahrens, das die Redefiguren durch eine analoge Beziehimg mit der Wirklichkeit bildet. Metapher, Epitheta, Metonymien, Synekdochen spiegeln das Zusammenspiel der Verknüpfungen und Wechselbeziehungen aller Dinge wider, die dadurch ein harmonisches Gefüge bilden. Die Eleganz der Redekunst war für Camillo Spiegelbild der Universalharmonie.164 163

Opere di M. Giulio Camillo, Bd. 2, S. 74: „Γ allargö in guisa che la distese per tutti gli amplissimi luoghi del theatro di tutto il mondo"; zitiert nach L. Bolzoni, La stanza della memoria, Torino 1995, S. 52. Über Giulio Camillo und Patrizi siehe C. Vasoli, „Le teorie del Delminio e del Patrizi e i trattatisti d' arte fra '500 e '600", in: V. Branca/C. Ossola (Hrsg.), Cultura e societä nel Rinascimento tra riforme e manierismi, Firenze 1984, S. 2 4 9 270.

164

Vasoli, Le teorie del Delminio, S. 252-257.

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Sein Theater, das Camillo nach dem Modell der klassischen Rhetorik baute, ist nicht nur ein „topisches" System von Orten, in denen alle möglichen Gegenstände („materie") der Redekunst angesammelt sind, sondern zugleich eine Darstellung des gesamten Universums. Durch das Zusammenspiel der Bilder werden nicht nur die rhetorischen Verbindungen zwischen ihnen und den Texten der klassischen Autoren vorgeführt, vielmehr wird die Innenstruktur des Universums, die sich in den Regeln und in den Mechanismen der klassischen Eloquenz widerspiegelt, vor den Augen des Betrachters dargestellt. Die Bilder veranlassen ein raffiniertes Spiel von allegorischen Assoziationen, die entsprechend der synkretistischen Kultur der Renaissance und im Sinne der neuplatonisch-hermetischen Vorstellungen, wonach sich eine ewige Wahrheit unter dem Schleier der mythologischen und poetischen Erzählungen verbirgt, die klassische Mythologie mit den Allegorien der Bibelexegese und der christlichen Ikonologie vereinbaren und kombinieren. Das Theater von Giulio Camillo hatte eine folgenschwere Auswirkung. Die klassische Mnemonik lehrte, ein Bildersystem in einem imaginären Gebäude aufzustellen, das fiktiv, innerlich in dem Gedächtnisvermögen errichtet werden sollte. Giulio Camillo dagegen veräußerlicht und „verräumlicht" das mnemonische System der klassischen Rhetorik in das konkrete, reale Bauwerk seines Theaters. Das imaginäre Bauwerk mit den symbolhaften Bildern, die auf Begriffe, Worte und Dinge hindeuten, nimmt eine konkrete Gestalt an, und die mnemonische Bildersammlung wird im begrenzten Raum des Theaters aufgestellt und eingeordnet. Da die Bilder zugleich auf die Grundprinzipien des Kosmos verweisen, wird die Grundstruktur des Kosmos selbst im Raum des Theaters rekonstruiert und schauspielartig aufgeführt. Der Übergang von den ideellen Räumen des Gedächtnisses zu konkreten architektonischen Konstruktionen wurde insbesondere dadurch begünstigt, daß das Gedächtnis mit seinen Gedächtnisorten, als „Behälter" der Erinnerungsbilder, nach räumlichen Dimensionen aufgefaßt wurde. In der Rhetorica ad Herennium (111,16) wird das Gedächtnis mit einer Schatztruhe verglichen, in der man die Kostbarkeiten der Rhetorik und der Eloquenz aufbewahrt: „Nunc ad thesaurum inventorum atque omnium partium rhetoricae custodem, memoriam, transeamus." So auch bei Quintilian (Institutio oratoria XI,2,1): „Exemplorum, legum, responsorum, dictorum denique factorum quasdam copias, quibus abundare quasque in promptu semper habere debet orator, eadem ilia vis praesentat neque immerito thesaurus hic eloquentiae dicitur."165 Augustinus erweiterte die Metapher der Schatztruhe in weitere, sehr viel größere Dimensionen. „Ich komme" - so sagt Augustinus in den Confessiones „Dieses Vermögen [das heißt das Gedächtnis] zeigt eine Menge von Gesetzen, Rechtsprechungen, Sprüchen und schließlich Taten, die der Redner besitzen und immer bereit haben soll; und nicht mit Unrecht wird sie Schatztruhe der Eloquenz genannt."

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(Χ,8,12) - „zu den Feldern und zu den weiten Palästen des Gedächtnisses, dort, wo sich die Schätze der unzähligen Bilder befinden."166 Und noch weiter: „Damit beschäftige ich mich in dem weiten Palast des Gedächtnisses."167 Die Erfindung des Buchdrucks verstärkte diese dimensionale Vorstellung. Der Erinnerungsort wurde allmählich dem auf Papier gesetzten und gedruckten Text gleichgestellt, der die Gestalt eines Diagramms, eines Schemas, eines „Baumes" annahm; oder er fiel mit dem topischen Ort zusammen, der eine physische, räumliche Dimension bekam, wie Aristoteles in den Topica schon angedeutet hatte.168 Die ordentliche Darstellung der topischen Orte („dispositio" nach dem rhetorischen Terminus technicus) entsprach daher dem geordneten Verlauf der mnemonischen Orte.169 Die räumliche Dimension ruft weiterhin die Idee einer geistigen Bewegung hervor. Das Buch wird als ein Behälter der topischen/mnemonischen Orte aufgefaßt und mit einem Gebäude verglichen. Der Rhetorik-Lehrer und Herausgeber Orazio Toscanella (ca. 1520-1579), der zu seinen Lebzeiten einen außerordentlich guten Ruf genoß, drückte sich in einer seiner rhetorischen Abhandlungen über die topischen Orte so aus: „durch die einzelnen Grundsätze kann ich in die Verzeichnisse bzw. Tafeln der Antiche lettioni des Celio Rodigino, in die Varie lettioni des Pietro Vittorio eintreten."m Das Buch nimmt eine architektonische Dimension an, wird als ein Bauwerk aufgefaßt, in das man „eintritt". Darauf weisen auch die Titelblätter

166

Confessiones X,8,12: „Venio in campos et lata praetoria memoriae, ubi sunt thesauri innumerabilium imaginum." Siehe dazu W. Hübner, „Die ,praetoria memoriae' im zehnten Buch der ,Confessiones'. Vergilisches bei Augustin", in: Revue des etudes Augustiniennes XXVII (1981), S. 245-263, zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 267 Anm. 7. Siehe dazu auch Yates, The Art of Memory, S. 46.

167

Confessiones X,8,14: „intus haec ago, in aula ingenti memoriae." Siehe dazu W. Schmidt-Dengler, „Die ,aula memoriae' in den Konfessionen des heiligen Augustin", in: Revue des etudes Augustiniennes XIV (1968), S. 69-89, zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 267 Anm. 7.

168

Aristoteles, Topica VIII,15,163b. Über die physische Dimension, die die topischen Orte infolge der Erfindung des Buchdrucks erreichten, siehe W. J. Ong, Interfaces of the World, Ithaca 1977.

169

Bolzoni, La stanza della memoria, S. 196-197. O. Toscanella, „Modo di trovar materia da discorrere in ogni occorrente concetto, ο pensiero che si voglia chiamare", in: Discorsi cinque, Venezia 1575, S. 50 zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 72: „con ciascuno di essi capi a uno per uno, potrö entrare ne gli indici ο tavole delle Antiche lettioni di Celio Rodigino, nelle Varie lettioni di Pietro Vittorio." Für weitere Beispiele von anderen zeitgenössischen Autoren (Ludovico Castelvetro, Francesco Panigarola) siehe Bolzoni, La stanza della memoria, S. 65-78.

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der Werke dieser Zeit hin, die oft architektonische Motive (Fassaden von Palästen, Tore, Säulen, Tempel) zeigen.171 Neben der Typologie des Buches als Bauwerk und des Autors als Architekt entsteht eine weitere Typologie, wonach der inhaltliche Aufbau des Buches nach architektonischen Elementen gedeutet wird. Die verschiedenen Textteile werden den Bestandteilen eines Gebäudes gleichgestellt. Unter den verschiedenen und zahlreichen Beispielen, die die italienische Literatur der Renaissance darbietet,172 ist für unser Vorhaben ein Traktat des 17. Jahrhunderts von besonderem Interesse. Paolo Aresi (1574-1644), Bischof von Tortona,173 fordert in seinem Handbuch über die Sakralrhetorik174 den Leser dazu auf, sich nicht beim Vorwort aufzuhalten, denn er habe dort schon einiges über die Sakralrhetorik erklärt, doch wer glaubt, aufgrund dessen, was er dort erfahren hat, eine vollständige Kenntnis gewonnen zu haben, von dem könnte man sagen, er gleiche einem, der einen königlichen Palast erreicht hat und vor seinem Tor stehenbleibt, um die Fassade zu bestaunen, und nachdem er die Höhe des Daches, die Größe der Anlage, die Vorzüglichkeit des Marmors, die Feinheit der Machart, die Proportionen der Bauteile - das also, was auf den ersten Blick als schön und anmutig erfaßt wird - bestaunt hat, glaubt, es gebe nichts anderes zu sehen, und sich nicht bemüht, hineinzutreten und die Säle, die Räumlichkeiten, die Arkaden, die Gärten und alle anderen wunderschönen Dinge, die der Palast in seinem Inneren enthält, zu schauen, welche, wenn sie von ihm gesehen würden, wegen ihrer Erstaunen erregenden Schönheit das aus seinem Geist tilgen würden, was er davor an der Fassade als schön und anmutig bestaunt hat. So - sage ich - wäre der Leser, welcher, zufrieden mit dem, was er in dem Vorwort erfahren hat, sich nicht die Mühe machte, die Kenntnis dieser Kunst weiter zu vertiefen; denn diese Kunst kann man einen königlichen Palast nennen, ja, den edelsten und prächtigsten, den es je gab; einen Palast, der von 171

172 173

174

Siehe dazu F. Barben, IL FRONTESPIZIO nel libro italiano del Quattrocento e del Cinquecento, Milano 1969, 2 Bde. in 4 Teilen; id., „II frontespizio nel libro italiano del Seicento", in: La bibliofilia 85/1 (1983), S. 49-72. Dazu siehe Bolzoni, La stanza della memoria, S. 198-203. Siehe F. Andreu, „Paolo Arese (Aresi)", in: Dizionario biografico degli italiani, Bd. IV, Roma 1962, S. 84-85. Arte di predicar bene, nella quale, oltre a' precetti de' retori a questo proposito applicati, si danno nuove regole, per tesser' ordinatamente una predica, per arricchirla di concetti, per ispiegarla convenevolmente, e per recitarla con decoro: con un trattato della memoria: & un' altro della imitatione; [...] Del padre D. Paolo Aresi, In Venetia: appresso Bernardo Giunti, Gio. Battista Ciotti, & compagni, 1611. Neue erweiterte Auflage: Arte di predicar bene, divisa in due parti. Nella quale, oltre α' precetti de' retori α questo proposito applicati, di danno nuooe regole, per tesser' ordinatamente una predica, [...]: con un trattato della memoria, & un' altro della imitatione; e con alcune osseroationi retoriche sopra una predica in lode di S. Tomaso d' Aquino; [...] Di monsig. Paolo Aresi [...] Di nucmo doli' auttore corretta, e d' altri utilissimi precetti ampliata, [...] In Milano per Gio. Batt. Bidelli, 1627,2 Bde.

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Die Shilte ha-gtbborim als Enzyklopädie der Weisheit auf den höchsten Säulen gebaut wurde, um einen würdigen Raum zu schaffen, um einen Tisch mit himmlischen und köstlichen Speisen zu richten, die das Wort Gottes sind, gerichtet an die durch das Blut Christi erlösten Seelen. Von diesem Palast haben wir im Vorwort gerade die Fassade und seine Pracht gezeigt, indem wir über seine Höhe und Würde, über die Schwierigkeit und die Feinheit seines Werkes und über Derartiges im allgemeinen gesprochen haben. Wir haben aber viel mehr vor, (nämlich) den Leser in die heimlichsten Räume einzuführen und ihm nicht nur alle Säle und die einzelnen Zimmer, eines nach dem anderen, sondern auch die Schätze, die sie enthalten, zu zeigen und zu erklären, wozu jedes Ding, das er dort sehen wird, dient, und darüber hinaus ihm alles zu schenken, was ihm gefallen wird.175

Der Metapher des königlichen Palastes, mit dem das Buch und sein Inhalt verglichen wird, wird ein weiteres Sinnbild hinzugefügt. Die Vorstellung des Palastes, der auf höchsten Säulen steht, ist eine klare Anspielung auf das biblische „Haus der Weisheit", das nach dem Buch der Sprüche auf sieben Säulen gebaut ist: „sapientia aedificavit sibi domum, excidit columnas Septem" (Prv 9,1). Die Säulen als Symbole des „Hauses der Weisheit" bzw. des salomonischen Tempels waren ein geläufiger Topos auch in der Architektur und in der bildenden Kunst. Der Leser wird also fast wie ein Gast eingeladen, durch den „Fassaden-Eingang" des Vorwortes in das Buch/den Palast bis in die innersten Räume einzutreten, um die Köstlichkeiten des Wortes Gottes zu genießen. 175

P. Aresi, L' arte di predicar bene [...] con un trattato della memoria, S. 51-52, zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 201: „ma chi si credesse, per quel poco che colä ha inteso, perfetta cognitione haveme, dir si potrebbe che fosse simile a colui, il quale arrivato ad un palazzo reale si fermasse avanti alia porta a rimirar il frontespicio di lui, e dopo haver considerate con suo non picciolo stupore 1' altezza del tetto, Γ ampiezza del sito, la finezza de' marmi, la sottigliezza de' lavori, la proportione delle sue parti, e quanta in somma nel primo incontro si vede di vago e di leggiadro, si credesse altro non vi essere, che vedere, ne si curasse di penetrar piü dentro, e mirar le sale, le stanze, i portici, i giardini, e altre cose bellissime, che nel suo seno Γ istesso palagio rinchiude, e che se da lui fossero vedute, con lor vaghezza e maraviglia scancellerebbero dalla sua mente quanto prima nel frontespicio haveva di bello vagheggiato. Tal dico sarebbe il lettore, che contento di quanto ha inteso nella prefatione, non si curasse di penetrar piü a dentro nella cognitione di quesf arte, percioche palagio reale, et il piü nobile, e superbo che sia mai stato al mondo, si puö dire che questa sia; palagio fabricate dalla sapienza sopra altissime colonne, accioche fosse degna stanza, in cui si apprestasse la mensa carica di celesti e delicatissime vivande, che sono la parola di Dio all' anime redente col sangue di Christo, del qual palagio non appena habbiamo dimostrato il frontespicio nella prefatione, ragionando dell' altezza e dignitä del lui, della difficoltä e sottigliezza de' suoi lavori in generale et altre cose tali. Ma ben piü siamo per introdurre il lettore nelle sue piü secrete stanze e mostrargli non solo e tutte le sale, e le camere una per una, ma etiandio le ricchezze, che in loro contengono et a qual fine ciascuna cosa, che ivi vedrä, possa servire, et di piü con fargli dono di tutto do ch' egli dimostrera di gradire."

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Fast eine literarische Parallele zum mnemonisch-enzyklopädischen Theater des Giulio Camillo ist die Tipocosmia des Alessandro Citolini (1500-1583?).176 Das natürliche Gedächtnis wird mit einem Zimmer verglichen, das zu eng ist, um darin alles geordnet aufzubewahren. Dagegen soll das künstliche Gedächtnis Abhilfe schaffen. In der literarischen Fiktion wird das künstliche Gedächtnis einem Landhaus gleichgestellt, in dem der Besitzer, der Graf Collaltino, seine Gäste durch die verschiedenen Räume führt und ihnen den Inhalt der verschiedenen Säle erklärt. Durch sechs Räume, entsprechend den sechs Tagen der Schöpfung, wird der gesamte Kosmos den Gästen stufenweise dargelegt. Im siebten Saal zeigt der Gastgeber eine große begehbare Erdkugel, die eine Zusammenstellung dessen ist, was die Gäste davor in den sechs Räumen bereits gesehen haben: Er zeigte ihnen eine riesige Erdkugel, in die man hineingehen konnte. Und als sie dorthin eintraten, sahen sie rundherum den Himmel und in der Mitte die Erde, und sie sahen die hier eingeordneten Dinge in einer Weise, die mehr für das Auge des Körpers als das des Intellektes geeignet war.177

Damit geben sich aber die Gäste nicht zufrieden. Sie halten dieses Schauspiel für kindisch und für wahrhaftige Gelehrte unbefriedigend. Alle waren sich schließlich einig, dies wäre mehr für Kinder passend als für Wißbegierige. Der Graf führte sie also dann in sein Arbeitszimmer, und nachdem er ein sehr großes Buch geöffnet hatte, fing er an, ihnen seine neue und künstliche Welt darzulegen.178

Die Hausbesichtigung endet im privaten Arbeitszimmer des Grafen, wo die Gäste in die Geheimnisse der in den Räumen des Hauses künstlich rekonstruierten Welt eingeweiht werden. Das Studierzimmer des Grafen Collaltino in der Tipocosmia des Citolini, wo die Naturgeheimnisse aufbewahrt und nur erlesenen Gästen offenbart werden, ruft ein anderes, sehr viel berühmteres Studierzimmer ins Gedächtnis zurück, nämlich das „Studiolo" des Francesco I. de' Medici (1541-1587) im Palazzo 176

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Über Alessandro Citolini siehe L. Firpo, „Alessandro Citolini", in: Dizionario biografico degli italiani, Bd. XXVI, Roma 1982, S. 39-46; Serrai, Storia della bibliografia, S. 243-256; Bolzoni, La stanza della memoria, S. 250-252,257-259. A. Citolini, La Tipocosmia, In Venetia, Appresso Vincenzo Vdgrisi, 1561, S. 548; zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 252: „moströ loro una grandissima palla, ne la quale entrar vi si potea. Ε quivi entrati si videro dintorno il cielo, e nel mezzo la terra, e videro le cose quivi ordinate in modo assai piü grado a Γ occhio de' 1 corpo che a quello de 1' intelletto." Tipocosmia, S. 549; zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 252: „tutti finalmente conclusero queste esser cose piü tosto da fanciulli che da desiosi di sapere. Menolli poi il conte ne lo studio suo, e aperto un libro di estrema grandezza, incomnciö a mostrar loro questo suo nuovo ed artificioso mondo."

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Vecchio in Florenz.179 In dem engen Raum des Studierzimmers, wo der Herzog „seltene und kostbare Dinge" („cose rare et pretiose") angesammelt hat, wird die Geheimstruktur des Kosmos, in seinen zwei spiegelbildlichen Aspekten von Makro- und Mikrokosmos, durch ein raffiniertes System von Symbolen und Korrespondenzen dargestellt. Entsprechend der alchimistischen Auffassung von einer Zusammenwirkung von Natur und menschlicher Kunst gehören zu den Sammlungsstücken Mineralien, Edelsteine sowie Preziosen der Goldschmiedekunst und zahlreiche Gerätschaften, mit denen der Herzog seiner alchimistischen Experimentierlust nachging. Die verschiedenen Gegenstände der Sammlung sind nach dem Prinzip der vier Grundelemente der Natur (Wasser, Erde, Feuer und Luft), die nach der antiken Tradition auch mit den menschlichen Temperamenten in Verbindung stehen, in den Wandschränken geordnet. Die Gemälde auf den Seitenwänden verweisen fast wie ein visueller Katalog auf den Inhalt der einzelnen Wandschränke. Das ikonographische Programm (die „inventione") des „Studiolo" wird in den Briefen erklärt, die der Philologe und Historiker Vincenz(i)o Borghini180

Siehe dazu L. Berti, Π principe dello studiolo, Francesco I dei Medici e la fine del Rinascimento fiorentino, Firenze 1967, S. 61-83; G. Lensi Orlandi, Cosimo e Francesco de' Medici alchimisti, Firenze 1978, S. 109-135; F. Gandolfo, Π ,Dolce Tempo'. Mistica, Ermetismo e Sogno nel Cinquecento, Roma 1978, S. 263-311; L. Bolzoni, „V ,invenzione' dello Stanzino di Francesco I", in: he Arti del Principato Mediceo, Firenze 1980, S. 255-299; id., La stanza della memoria, S. 255-257. 180 Vincenz(i)o Maria Borghini wurde am 29. Oktober 1515 in Florenz geboren. Er stammte aus einer adligen und wohlhabenden Familie. 1531 trat er in den Benediktinerorden ein. Er hatte eine umfangreiche und tiefe Kenntnis der lateinischen und griechischen Literatur, in seiner privaten Bibliothek befanden sich Werke des Erasmus wie auch Melanchthons. Cosimo I. de' Medici, der Borghini wegen seiner vorbildlichen religiösen Führung, seiner Besonnenheit und Bildung sehr schätzte, ernannte ihn 1552 zum Prior des Waisenhauses von Florenz („Ospedale degli Innocenti"). Das war für Borghini eine schwierige Aufgabe, eine „servitus", wie er in seiner Korrespondenz mit seinen Freunden schrieb, die ihn sehr beschäftigte, weil sich diese alte wohltätige florentinische Einrichtung damals in einer tiefen Krise befand. Borghini hatte dieses Amt sein ganzes Leben lang inne und behauptete sich so gut, daß ihm dazu noch die Verwaltung des Waisenhauses von Pisa auferlegt wurde. Er fühlte sich mit seiner Heimatstadt so verbunden, daß er die Ernennung zum Erzbischof von Pisa ablehnte. Trotz zahlreicher anderer religiöser Aufgaben pflegte Borghini seine kulturellen Interessen (unter anderem auch Kunst und Architektur) und wurde zu einer der führenden Persönlichkeiten des kulturellen florentinischen Lebens. Er starb am 15. August 1580 in Florenz und wurde in der Kirche des Waisenhauses begraben. Über ihn siehe G. Dolci, s. v. „Borghini Vincenzo", in: Enciclopedia Italiana Treccani, Roma 1949, Bd. VII, S. 474; G. Folena, „Borghini Vincenzio Maria", in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. XII, Roma 1970, S. 680-689. 179

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zwischen 1570 und 1571 an seinen Freund Giorgio Vasari (1511-1574) geschrieben hat. Das kleine Zimmer, das gebaut werden soll [- schreibt Borghini -], soll, soweit ich weiß, dazu dienen, seltene und kostbare Dinge wegen ihres Wertes und ihrer Machart, wie zum Beispiel Juwelen, Medaillen, geschliffene Edelsteine, bearbeitete Kristalle, Vasen, Kunststücke und ähnliches zu bewahren, die nicht zu groß sind und in eigenen Schränken je nach ihrer Art zurückgelegt werden sollen. Die „inventione" soll meines Erachtens dem Thema und der Eigenschaft der Dinge entsprechen, die dort zu bewahren sind, so daß sie das Zimmer angenehm macht und nicht unpassend ist. Im Gegenteil, sie soll als Zeichen und fast als Verzeichnis dienen, um die Dinge zu finden, da die Bilder und die Gemälde auf den Wandschränken und um sie herum gewissermaßen darauf verweisen, was sie drinnen bewahren.181 Entsprechend der manieristischen Auffassung einer unlösbaren Verflechtung von Natur und Kunst werden naturalia und artificialia zusammengestellt. Die Natur wird als ein lebendiger, beweglicher Organismus betrachtet, auf den der Mensch einwirken kann. Die Sammlung von Naturalien und Kunsterzeugnissen, von unbearbeiteten Edelsteinen und kunstvoll angefertigten Gegenständen der Goldschmiedekunst soll die Mitwirkung von Natur und Mensch bezeugen. [...] in Anbetracht dessen, daß derartige Dinge [ - schreibt Borghini weiter in bezug auf die Sammlungsstücke -] nicht alle der Natur oder der Kunst angehören, sondern beide daran beteiligt sind, da sie einander helfen, wie, um ein Beispiel anzuführen, die Natur den Diamanten oder den Karfunkel oder den Kristall gemischt mit anderem rohem, unförmigem Stoff liefert und die Kunst sie säubert, schleift und graviert [...], habe ich daher gedacht, daß diese „inventione" ganz der Natur und der Kunst gewidmet sein soll [...], und deshalb soll in dem Medaillon in der Mitte des Himmels die Natur in Begleitung von Prometheus abgebildet sein etc.182 K. Frey, Der literarische Nachlaß Giorgio Vasaris, 3 Bde., München 1930 [= Hildesheim 1982], Bd. Π, S. 886-887: „Lo Stanzino, che di nuovo si fabrica, per quello intendo, ha da servire per una guardaroba di cose rare et pretiose et per valuta et per arte, come sarebbe a dire gioie, medaglie, pietre intagliate, cristalli lavorati et vasi, ingegni et simil cose, non di troppa grandezza, riposte ne propri armadi, ciascuna nel suo genere. L' inventione mi pare che si domandi conforme alia materia et alia qualitä delle cose che vi si hanno a riporre, talcM la renda la stanza vaga et non sia interamente fuor di questo proposito, anzi serva in parte come per un segno et quasi inventario da ritrovar le cose, accennando in un certo modo le figure et le pitture che saranno sopra et intorno et negl' armadi, quel ch' e' serbano dentro da loro." Siehe auch Bolzoni, La stanza della memoria, S. 255. 182 Frey, Der literarische Nachlaß, S. 887: „[...] considerando che simil cose non son tutte della natura, ηέ tutte dell' arte, ma vi hanno ambedue parte, aiutandosi Γ una Γ altra,

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Das Studierzimmer wird in verschiedene Abschnitte eingeteilt, die von Gemälden und Statuen mit einer besonderen allegorischen Bedeutung gekennzeichnet sind. Entsprechend der Abbildung des Wassers an der Decke sollen zum Beispiel zwei Statuen von Frauen unten stehen, „weil das Wasser eine große erzeugende Kraft hat" („perche 1' acqua e molto generativa").183 Die Statuen sollen Venus und Amphitrite bzw. eine andere Nymphe darstellen, die Bernstein und Koralle in der Hand hält, und alles, was mit dem Wasser zu tun hat, wird hier seinen „Ort" haben („et se altre cose ci sono che dependino dall' acque, sarä qui il luogo loro").184 Das „Studiolo" gestaltet sich also als ein visuelles mnemonisches System, in dem die verschiedenen Aufteilungen als topische Orte dienen und die Gemälde, Abbildungen und Statuen den Erinnerungsbildern der Mnemonik gleichen. Daraus ergibt sich ein durchdachtes ikonographisches Programm („L' e quasi una historia continuata", bemerkt Borghini),185 in dem Bilder und Statuen an und für sich und in ihren Wechselbeziehungen mehrfache symbolische Bedeutungen aufweisen, die dem Betrachter jene geheimnisvolle Verkettung vermitteln soll, die alle Dinge der Natur verbindet und das Ganze zusammenhält.186 Das Vorgehen von Borghini erinnert deutlich an das Theater von Giulio Camillo. Borghini aber gestaltet sein mnemonisches System im intimen Raum des Studierzimmers, der den geheimnisvollen, esoterischen Charakter der Naturforschung unterstreicht. Im Theater von Camillo wird die Grundstruktur des Seins trotz der hermetischen Elemente dagegen wie ein öffentliches Schauspiel vorgeführt. In dem engen, privaten Raum des „Studiolo" offenbart die Natur ihre Geheimnisse nur demjenigen, der sie in meditativer Abgeschiedenheit beschaut. Es ist zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert eine Wechselbeziehung zwischen der Mnemotechnik und der Sammelleidenschaft dieser Zeit zu beobachten.187 Etwas überspitzt formuliert kann man sagen, daß die dimensionale come, per dare un esempio, la natura da il suo diamante, ο carbonchio, ο cristallo, et riunite altra materia rozza et informe, et 1' arte gli pulisce, riquadra, intaglia etc., perö havea pensato che tutta questa inventione fosse dedicata alia natura et all' arte [...]. Et perö nel tondo del mezzo che έ nel cielo sarä dipinta la Natura che harä in compagnia sua Prometheo etc." Siehe auch Bolzoni, La stanza della memoria, S. 256. 183 Ibid. i« Ibid. iss Frey, Der literarische Nachlaß, S. 888; Bolzoni, La stanza della memoria, S. 257. 186 Frey, Der literarische Nachlaß, S. 889, siehe auch Bolzoni, La stanza della memoria, S. 256: „il legamento et la convenientia che ha Γ uno elemento con Γ altro, mediante la quale vengono a unirsi et legarsi insieme et far quella mirabil catena della natura che conserva il tutto." 187 Über den Einfluß der Mnemonik auf die Sammlungen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert siehe K. Pomian, Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris, Venise:

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Vorstellung des Gedächtnisses als eine architektonische Struktur in eine architektonische Darstellung des Gedächtnisses selbst übergeht. Die Rolle, die Giulio Camillo mit seinem Theater und den Theorien hierzu auch außerhalb Italiens spielte, wird von Samuel Quic(c)helberg bzw. Quiccheberg (1529-1567) deutlich bezeugt.188 Der junge Arzt, der sich seit Jahren im Dienste der Fugger und des Herzogs Albrecht V. von Bayern (1528-1579) mit Bibliotheken und Sammlungen beschäftigte, veröffentlichte 1565 durch den Münchener Verleger Adam Berg einen kleinen Traktat mit dem langen Titel: „Inschriften bzw. Überschriften des umfangreichsten Theaters, welches die einzelnen [Lehrstoffe und die wichtigsten Abbildungen aus der Gesamtheit aller Dinge enthält, so daß man es mit Recht ein Archiv der künstlichen und merkwürdigen Dinge sowie eines vollständigen seltenen Schatzes und kostbarer Ausstattung, Struktur und Gemälde nennen kann. Alle diese Dinge werden hier, im Theater, gleichzeitig und sorgfältig angesammelt, damit man durch ihre häufige Betrachtung und Behandlung eine sonderbare Kenntnis und eine wundervolle Erfahrung der Dinge schnell, leicht und sicher gewinnen kann".189 Der Traktat war von Quicchelberg sehr wahrscheinlich als programmatische Vorarbeit für die Anfertigung eines Theatrum sapientiae gedacht, wo alle Produkte der Natur und der Künste, alle Kenntnisse und Wissenschaften wie in einer Art visueller Enzyklopädie aufgelistet und eingeordnet werden sollten.190 Anders als viele andere Autoren,191 die die Metapher des Theaters nur

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XVI'-XVIII' siecle, Paris 1987. Siehe aber auch G. Olmi, L' inventario del mondo. Catalogazione della natura e luoghi del sapere nella prima metä modema, Bologna 1992, S. 176 Anm. 40; L. Bolzoni, „Das Sammeln und die ars memoriae", in: A. Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammeins 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 129-167; P. Findlen, Possessing Nature: Museums, Collecting and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley 1994. Über Quicchelberg siehe J. Schlosser, Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, Leipzig 1908; Ε. M. Hajos, „References to Giulio Camillo in Samuel Quicchelberg's ,Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi'", in: Bibliotheque d' Humanisme et Renaissance XXV (1963), S. 207-211; Bolzoni, La stanza della memoria, S. 245-247; H. Roth (Hrsg.), Der Anfang der Museumslehre in Deutschland: das Traktat „Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi" von Samuel Quiccheberg, lateinisch-deutsch hrsg. und kommentiert, Berlin 2000. Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi, complectentis rerum universitatis singulas materias et imagines eximias, ut idem recte quoque did possit: Promptuarium artificiosarum miraculosarumque rerum, ac omnis ran thesauri et pretiosae suppellectilis, structurae atque picturae, quae hic simul in theatro conquiri amsuluntur, ut eorum frequenti inspectione tractationeque singulari aliqua rerum cognitio et prudentia admiranda, cito fädle ac tuto comparari possit autore Samuele α Quiccheberg Bdga, München 1565. Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 227-228. Quicchelberg erwähnt als Beispiel das Theatrum humanae vitae des Theodor Zwinger und Le Theatre des bans engins des Guillaume de la Perrtere. Siehe Bolzoni, La stanza della memoria, S. 246.

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als literarische Fiktion benutzten, sollte sein Theater ein konkretes Gebäude nach dem Vorbild des Theaters von Giulio Camillo sein, das Quicchelberg bezeichnenderweise „Museum" nannte.192 Er empfand sein Vorhaben fast wie eine Mission und forderte alle diejenigen, die „Museen, Theater bzw. Galerien aufgestellt haben", dazu auf, ihren Beitrag zu leisten. Er wollte „Könige, Fürsten und Herren" davon überzeugen, „Theater bzw. Galerien der Weisheit" zu errichten.193 Persönliche Kontakte hatte Quicchelberg auch mit italienischen Sammlern wie dem Bologneser Ulisse Aldrovandi194 (1522-1605) und dem paduanischen Juristen Marco Mantova Benavides195 (1489-1582), die er während seiner zahlreichen Reisen nach Italien kennengelernt hatte. Ihre Sammlungen sowie das Theater von Giulio Camillo waren die Vorbilder für sein Projekt des Theatrum sapientiae. Die explizite Bezugnahme auf Giulio Camillo und die Art und Weise, wie Quicchelberg mit lobenden Worten die Sammlungen von Aldrovandi und Mantova Benavides erwähnte, bezeugt, wie zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert die Mnemotechnik und das Sammeln sich sowohl in der Praxis als auch in der Aufstellung von Theorien und Projekten196 gegenseitig beeinflußten und aufeinander einwirkten. Beide hatten das gemeinsame Ziel, eine Methode zu erarbeiten, die es ermöglichen sollte, die Innenstruktur des Seins zu durchschauen und sich den Zugang zu einem enzyklopädischen Wissen zu verschaffen, das das dichte Netz von Analogien und Korrespondenzen, die Makro- und Mikrokosmos verbinden, entziffern kann. Auf diese Weise hoffte man durch die Entschlüsselung des Geheimkodexes der Natur, sich jener Kräfte zu bemächtigen, die den tiefgreifenden Rhythmus der Wirklichkeit bestimmen, um mit ihnen eine innere Verwandlung zum Göttlichen zu bewirken.197 Theater, Galerien, Studierzimmer und Sammlungen stellten die konkrete Umsetzimg jener Konstruktionen dar, die die mnemonischen Traktate im Inneren des menschlichen Geistes aufzustellen lehrten. Beide waren Ausdruck 192

Quicchelberg, Inscriptiones, S. D4a: „Theatri etiam nomen hic assumitur non improprie, sed vere pro structure grandi, vel arcuata, vel ovali, vel a formam ambulacri [...]. Monere hic oportet Iulii Camilli museum semicirculo suo recte quoque theatrum dici potuisse." Zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 267 Anm. 2.

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Quicchelberg, Inscriptiones, S. 30b: „musea, vel theatra, vel promptuaria instruxerunt"; ibid., S. 16a: „cogito seguentibus annis plurimos reges, principes ac optimates in fondandis sapientiae theatris ac promptuariis incitare." Zitiert nach Bolzoni, La stanza della memoria, S. 268 Anm. 22.

194

Über Aldrovandi und seine Sammlung siehe Olmi, L' inventario del mondo, S. 21-117. Siehe L. Polacco, „II museo di Marco Mantova Benavides e la sua formazione", in: Arte in Europa. Scritti di storia dell' arte in onore di Edoardo Arslan, 2 Bde., Milano 1966: Bd. 1, S. 665-673.

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196 197

Bolzoni, Das Sammeln und die ars memoriae, S. 132,141. Ibid., S. 140.

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einer Kulturkrise und bezeugten den Versuch, sie zu überwinden.198 In den virtuellen architektonischen Gebäuden der mnemonischen Systeme oder in den realen Räumen der Studierzimmer und der Galerien wurde die Vielfältigkeit der Wirklichkeit, die lebendig und beweglich erschien, eingeordnet und klassifiziert. Die neuen astronomischen und geographischen Entdeckungen hatten die Grenzen der Welt und des Universums in bis dahin imbekannte Dimensionen erweitert. Ebenso hatten die politischen, religiösen und wirtschaftlichen Umwälzungen das vertraute Weltbild gründlich verändert und die traditionellen Denkschemata in Frage gestellt. Mnemonische Handbücher, Theater der Weisheit und Sammlungen waren das Produkt einer intellektuellen Reaktion gegen diesen Umbruch. Man versuchte, die ersehnte und scheinbar verlorengegangene Universalordnung in einem mnemonischen System wiederherzustellen, das mit Hinzufügung von Lullismus und Ramismus durch Diagramme und Tafeln das Vorgehen des Gedächtnisses sowie der Wirklichkeit nachvollziehbar machte. Dem Bild einer unbegrenzten, flüchtigen, schwer erfaßbaren Welt wurde der begrenzte Raum des Theaters, des „Studiolo", der Sammlung entgegengesetzt, der von der Kunst des Menschen konstruiert wurde und deshalb kontrollierbar war. In ruhiger Abgeschiedenheit wurde die Welt neu umgebildet, klassifiziert und in dem begrenzten Raum auf ein menschlich erfaßbares Maß reduziert. „Klassifizieren" bedeutete aber nicht, die Natur nach modernen, wissenschaftlichen Kriterien zu erforschen, sondern die unsichtbare, ununterbrochene Verkettung des Seins wiederzugeben, von der auch der Mensch Teil ist. Die Zusammenstellung von naturalia und artificialia, von Naturprodukten und künstlichen Objekten, zeigte die tiefe Verbindung von der schöpferischen Kraft der Natur und des Menschen. Im Hinblick auf diesen Drang, sich die Welt wieder anzueignen und die zentrale Lage des Menschen in der Schöpfung wiederherzustellen, bekam die fürstliche Sammlung, die Wunderkammer, eine politische Bedeutung. Die „seltenen und kostbaren" Stücke der Sammlung, die nur eines Fürsten würdig waren, verliehen ihm einen kulturellen Glanz und Ruhm. Im Zentrum der Sammlung stand symbolisch der Fürst, der den ideellen Konvergenzpunkt der Naturkräfte darstellte und entsprechend der Universalordnung die politische Ordnung verkörperte.199 Unter den architektonischen Modellen, die als Kulisse für die Aufführung des Wissens dienten, wurde neben dem Theater, der Galerie und dem Palast der Tempel herangezogen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erschien die Metapher des Tempels im Titel zahlreicher Werke: Tempio d' amore des Niccolo Franco (Venedig 1536), Tempio della Fama in lode d' alcune gentil donne venetiane des Girolamo Parabosco (Venedig 1548), Del tempio alia divina signora Giovanna 198 m

Ibid., S. 137,139-141; Olmi, U inventario del mondo, S. 262-264. Olmi, U inventario del mondo, S. 264,268.

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d' Aragona, fabricate da tutti i piü getitili spiriti, et in tutte le lingue principali del mondo, herausgegeben von Gerolamo Ruscelli (Venedig 1555), Le imagini del tempio della signora donna Giovanna Aragona des Giuseppe Betussi (Florenz 1556, Venedig 1557), II Tempio della divina signora donna Geronima Colonna d' Aragona des Ottavio Sammarco (Padova 1568), Templum omnium iudicum pontificiae, Caesareae, regiae, inferiorisque potestatis des Corradi Laneellotto (Venedig 1575) sind nur einige Beispiele.200 Der Tempel war zunächst, entsprechend dem klassizistischen Geschmack, vor allem der antike Tempel. Gian Paolo Lomazzo (1538-1600) setzte in seinem Traktat L' idea del tempio della Pitturam die Beschreibung der sieben Teile der Malerei (nämlich Proportion, Bewegung, Farbe, Licht, Perspektive, Komposition und Form, die sich jeweils in sieben verschiedenen Arten und Weisen gestalteten) in einen Tempel mit dem antiken kreisförmigen Grundriß ein.202 Innerhalb des Tempels tragen sieben Säulen die Kuppel mit einer Laterne, wodurch das Sonnenlicht das Innere des Gebäudes beleuchtet. Die sieben Säulen symbolisieren wie in dem Theater Giulio Camillos, auf das sich Lomazzo ausdrücklich bezieht, die sieben Planeten, die wie Säulen die Weltstruktur tragen. Die Laterne, die das Licht von oben aus ins Innere ausstrahlt, versinnbildlicht das Licht Gottes, das sich über die sieben Planeten auf alle Geschöpfe verteilt. Wie jeder Planet von einem Engel regiert wird, so sind in 200 201

202

Siehe Bolzoni, La stanza della memoria, S. 202. Idea del Tempio della Pittura, di Gio. Paolo Lomazzo pittore, nella quale egli discorre dell' origine e ftmdamento delle cose contenute nel suo trattato dell' Arte della Pittura, Milano 1590. Zuerst hatte Lomazzo die Idea als erstes Buch des Trattato dell' Arte de la Pittura di Gio. Paolo Lomazzo milanese pittore. Diviso in 7 libri, ne' quali si contiene tutta la Theoria, et la Prattica d' ess α pittura (Milano 1584) geplant. Während der Abfassung entschied er aber, nur einige Auszüge der Idea zusammen mit dem Trattato zu veröffentlichen, und ließ die Idea später als eigenständiges Werk drucken. Vom Trattato erschien in demselben Jahr 1584 eine andere Ausgabe mit leicht geändertem Titel: Trattato dell' Arte de la Pittura di Gio. Paolo Lomazzo milanese pittore. Diviso in 7 libri, ne' quali si contiene tutta la Theoria, et la Prattica d' essα pittura, scoltura et architettura. Dazu siehe die Einführung von Robert Klein zu seiner kritischen Ausgabe mit französischer Ubersetzung der Idea Lomazzos: Idea del Tempio della Pittura. Edizione commentata e traduzione di Robert Klein, 2 Bde., Firenze 1974: Bd. II, S. 468,470,502-506. G. P. Lomazzo, Idea del Tempio della Pittura, Firenze 1974, Bd. I „Proemio al lettore", S. 13: „Io ho deliberate di trattar in queste carte della nobilissima arte della pittura, et andar formando di lei come un tempio, in cui tutte le parti d' essa si vederanno distintamente e con ordine disposte." Und weiter S. 21: „E queste [das heißt die fünf Teile der Praktik und die zwei der Theorie] saranno le parti circolari, che formano tutto il nostro tempio della pittura, come sette pareti; collocando le prime cinque nel piü basso, e le seconde due nel cielo, cioe la prattica nella inferiore, e la forma nella superiore parte di quello, in cui tutta la pittura intiera e vaga, co' suoi membri insieme composti, ognuno poträ scorgere, che, tratto da ardente desiderio della cognizione di lei, lo considerarä, e con diligenza änderet notando a parte a parte tutta la struttura."

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den Säulen sieben Regenten abgebildet, die Lomazzo unter den berühmtesten italienischen Künstlern ausgewählt hat.203 Im Inneren des Tempels sind vom Fußboden bis zur Kuppel alle Teile der Malerei beschrieben. Auf dem Fußboden wird eine allgemeine Einführung („discrezione") zur Malerei dargestellt. An den Wänden des Tempels sind von unten nach oben die fünf Teile der Theorie, nämlich Proportion, Bewegung, Farbe, Licht und Perspektive, dargelegt. Die Beschreibimg der zwei Teile der Praktik, nämlich die Komposition und die Form, nimmt die Kuppel und die Laterne ein, wobei die Darstellung der Form am höchsten Platz nahe an der Laterne erfolgt, wodurch das Licht in den Tempel scheint.204 Jeder der sieben Künstler, die die Regenten darstellen, verkörpert ein bestimmtes künstlerisches Temperament, das vom Einfluß des jeweiligen Planeten bestimmt wird und die künstlerische Ausdrucksweise prägt. Entsprechend der Natur der einzelnen Planeten werden die sieben Teile der Malerei bei jedem Künstler in einer besonderen Form ausgedrückt, so daß jeder der sieben Hauptteile der Malerei sieben verschiedene Formen aufweist.205 Die Beschreibung der künstlerischen Temperamente wird um eine umfangreichere Behandlung von Tugenden und Lastern erweitert, wobei die traditionellen moralischen allegorischen Bedeutungen von Metallen und Tieren sowie die antiken Philosophen, Poeten oder biblische Persönlichkeiten

203

G. P. Lomazzo, Idea del Tempio della Pittura, Firenze 1974, Bd. I, Kap. IX „Fabrica del Tempio della Pittura e dei suoi Governatori", S. 101: „In quella guisa che questo mondo e retto e governato da sette pianeti, come da sette colonne, le quali, pigliando ciascuna la sua luce da la prima luce, che έ Iddio, la vanno poi qua giü appartatamente infondendo a beneficio di tutte le create cose, sara parimenti questo mio Tempio di Pittura sostenuto e retto da sette governatori, come da sette colonne, et imitero in ciö Giulio Camillo nella Idea del suo Teatro, ancora che troppo umile e rozza sia questa mia apetto a quella fabrica. Io ho adunque eletto prima i governatori del tempio, i quali tanti sono, quante colonne e governatori sono nei cieli. Quindi a sembianza di colonne gli ho collocati tutti in figura circolare, ugualmente distanti in sui piedistalli. [...] Sono questi governatori, di si soprana luce risplendenti, nati tutti nella Italia, madre feconda in ogni tempo d' uomini illustri in tutte Γ arti, per ornamento eterno dell' arte della pittura."

204

Ibid., S. 103. Ibid., Kap. X „Del fondamento delle sette settenarie parti principali della pittura e da chi esse si reggano", S. 109: „Sette governatori abbiamo fin qui collocati nel nostro tempio, che quasi colonne lo sostentano. Ora, perch£ sette anco sono le parti principali della pittura, che di giä abbiamo detto esser proporzione, moto e le altre, et in ciascuna di loro sette maniere eccellenti tutte e degne d' imitazione si ritrovano, si come sette sono i governatori, che tutti hanno avuto una particolare e propria lor maniera di dar per essempio proporzione, moto e colore; anderö discorrendo per tutte esse sette parti, notando in ciascuna di loro i suoi sette generi, ο vogliamo dire maniere, et applicandole a' suoi governatori."

205

102

Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie

mit einbezogen werden.206 So ist zum Beispiel der erste Regent, Michelangelo, der unter dem Einfluß von Saturn steht, in einer Statue aus Blei abgebildet, weil Blei auf „eine starke und beständige Kontemplation" hinweist.207 Die Kunst Michelangelos wird weiter mit dem Drachen verglichen, der „ein furchterregendes, träges und umsichtiges Tier" ist. Denn Michelangelo hat dank seiner außerordentlichen anatomischen Kenntnisse seinen Figuren ein furchterregendes, schwerfälliges und dennoch würdevolles und majestätisches Aussehen mit melancholischen Zügen verliehen, die für diejenigen, die sich den Studien und der Kontemplation widmen, typisch sind. So waren auch sein Charakter und seine Lebensführung, so daß er einem Sokrates unter den Malern glich.208 Wie Robert Klein nachgewiesen hat,209 standen der hermetisch-neuplatonische Symbolismus des Tempels von Lomazzo und die Art, wie er die Eigenschaften der verschiedenen Künstler durch die astrologischen Einflüsse deutete, direkt in Zusammenhang mit dem Hermetismus von Ficino, insbesondere mit der Schrift De vita coelitus comparanda, und mit dem Okkultismus von De occulta philosophia des Cornelius Agrippa, von denen auch Giulio Camillo beeinflußt gewesen war. Lomazzo ist nicht das einzige Beispiel am Ende des 16. Jahrhunderts für die Anwendimg des Bildes des Tempels als topischen Ortes allegorischer Darstellungen. Um dieselbe Zeit, als Lomazzo an seiner Idea arbeitete, verfaßte der Florentiner Bartolomeo Delbene am französischen Hof Henris ΙΠ. das allegorische Gedicht Civitas veri sive morum über die Nikomachische Ethik des Aristo206

Ibid., S. 115: „Laonde anco gli antichissimi matematici babilonii, i quali attribuirono a ciascun dei pianeti un animale di natura a lui conforme, come a Saturno il drago per la terribilitä, a Giove Γ aquila per Γ altezza, a Marte il cavallo per la fierezza [...]. Η si come ognun dei governatori del nostro tempio corrisponde ad un dei governatori del cielo, cosi a ciscuno si puö applicare uno di questi animali"; weiter S. 147: „Perche si puö ancor con ragion matematica, come di sopra dissi, probabilmente concludere che la conformitä della natura, che hanno avuto essi governatori con la natura di quelli animali, abbi cagionato che nel suo dipingere si siano applicati ad una maniera di formar le cose a loro conforme."

207

Ibid., S. 105: „Or, tornando alla forma dei nostri governatori dell' arte [...] quella del primo e fatta di piombo, con cui si viene a mostrare la salda e stabile contemplazione [...] in Michelangelo Buonarroto fiorentino etc." Ibid., S. 147-149: „A Michelangelo dunque ho dato il Drago, di natura terribile, tardo e prudente; perche egli ha dato alle figure sue una forma terribile, cavata dai profondi secreti dell' anatomia da pochissimi altri intesi, tarda ma piena di dignita e maestä, con le arie e gli affetti malinconici, quali sono degli uomini dati alio studio et alla contemplazione. Ε perche egli era tale ancora nei suoi costumi, si puö dire che sia stato fra' pittori come un Socrate."

208

209

R. Klein, La forme et I' intelligible. Ecrits sur la Renaissance et V art moderne, Paris 1970, S. 174-192 und siehe die Einführung zu Idea del Tempio della Pittura, Bd. II, S. 480-483.

Die Verräumlichung des Wissens im 16.-17. Jahrhundert

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teles, das erst nach dem Tod von Delbene 1609 gedruckt wurde.210 Die Paläste der Stadt sind allegorische Darstellungen der ethischen Tugenden. Mitten in der Stadt auf einem hohen Berg stehen vier kreisförmige Tempel, an deren Innenwänden die dianoethischen Tugenden dargestellt sind. So sind zum Beispiel im Templum scientiae die Wände in fünf Felder eingeteilt, auf denen die Wissenschaft im allgemeinen, Astrologie, Musik, Arithmetik und Geometrie im besonderen abgebildet sind. In ähnlicher Weise sind Kriegskunst, Poetik, Rhetorik, Medizin, Architektur, Grammatik und Landwirtschaft auf den in sieben Feldern eingeteilten Innenwänden des Templum Artis dargestellt. Sehr ähnlich war auch die Sonnenstadt von Campanella strukturiert.211 Mitten auf dem Land erhebt sich die Sonnenstadt auf einem Hügel in sieben aufsteigenden Kreisen, die auch einen weiten Teil des um den Hügel liegenden Landes einfassen. Die sieben Stadtkreise werden mit den sieben Planeten in Zusammenhang gebracht und nach ihnen benannt. Durch vier Tore, entsprechend den vier Himmelsrichtungen, gelangt man in die Stadt, wo vier Straßen kreisförmig aufsteigend zur Stadt führen.212 Auf den Mauern der Paläste sind die verschiedenen Wissensbereiche abgebildet, die nach den einzelnen Kreisen der Stadt eingeteilt sind. Auf den Mauern der Paläste des ersten Kreises sind Geometrie und Landeskunde mit den Sitten und Alphabeten aller Völker dargestellt.213 210

Civitas veri sive morum Bartholomei Delbene Patricii Florentini ad Christianissimum Henricum III Francorum et Poloniae Regem Aristotelis de Moribus doctrinam, carmine et picturis complexa, et illustrata Commentariis Theodori Marcilii, Professoris Eloquentiae Regii, Paris 1609. Siehe F. A. Yates, The French Academies of he Sixteenth Century, London 1947 [1988], S. 111-116.

2.1

Der politische Traktat wurde von Campanella um 1602 auf italienisch unter dem Titel La Cittä del Sole abgefaßt. Eine erste Ausgabe wurde 1623 in Frankfurt auf lateinisch unter dem Titel Civitas solis von Tobia Adami herausgegeben. Eine zweite, umgearbeitete Ausgabe wurde von Campanella selbst in Paris 1637 veröffentlicht. Die originale italienische Fassung ist in verschiedenen Handschriften erhalten und wurde erst 1904 von Edmondo Solmi ediert. Siehe dazu den Beitrag von Germana Ernst in: Campanella. La cittä del Sole, hrsg. von Luigi Firpo, Milano 1997, S. 63-101. Die hier angeführten Zitate folgen der Ausgabe von Firpo.

2.2

T. Campanella, La cittä del sole, Dialogo fra Ospitalario e Genauese Nochiero del Colombo, S. 4,15-23: „Sorge nell' ampia campagna un colle, sopra il quale sta la maggior parte della cittä; ma arrivano i suoi giri molto spazio fuor delle radici del monte, il quale e tanto, che la cittä fa due miglia di diametro e piü, e viene ad essere sette miglia di circolo; ma, per la levatura, piü abitazioni ha, che si fosse in piano. 6 la cittä distinta in sette gironi grandissimi, nominati dalli sette pianeti, e s' entra dall' uno all' altro per quattro strade e per quattro porte, alii quattro angoli del mondo spettanti etc."

213

S. 8,100-104: „Nel dentro del primo girone tutte le figure matematiche, piü che non scrisse Euclide ed Archimede, con la lor proposizione significante. Nel di fuore, vi e la carta della terra tutta, e poi le tavole d' ogni provinzia con Ii riti e costumi e leggi loro, e con Γ alfabeti ordinari sopra il loro alfabeto."

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Die Shilte ha-gibborim als Enzyklopädie

Der zweite Stadtkreis ist den Edelsteinen und Mineralien gewidmet. Außerdem werden edle Flüsse, Seen und Meere mit allen Arten von Weinen, Ölen und Heiltrank gezeigt.214 Im dritten Kreis sind alle Arten von Pflanzen, Kräutern und Fischen dargestellt. Es werden ihre Beziehungen zu den Planeten und dem Menschen auch in Hinsicht auf ihre medizinische Verwendung erklärt.215 Im vierten und fünften Stadtkreis werden alle Vögel und Tiere mit ihren Eigenschaften und Wirkungen beschrieben. Der sechste Kreis ist den mechanischen Künsten, Kriegsgerät und Druckkunst eingeschlossen, gewidmet. Der siebte Kreis umfaßt ein Areal, auf dem ein kreisförmiger Tempel mit einem Kuppelgewölbe, getragen von hohen Säulen, steht. Mitten in diesem Tempel, direkt unter der Öffnung der Laterne im Kuppelgewölbe, durch das das Sonnenlicht das Innere des Tempels beleuchtet, steht ein Altar, und oberhalb des Altars hängen zwei große Kugeln, von denen eine den gesamten Himmel zeigt und die andere die gesamte Erde. Innerhalb des Kuppelgewölbes sind noch die wichtigsten Sterne abgebildet. Zu Ehren der sieben Planeten brennen ständig sieben Kerzen im Tempel.216 Die gesamte Stadt gleicht somit einer Art visueller Enzyklopädie, die in einer ständigen Steigerung zum Tempel führt, in dem die kosmischen Korrelationen zwischen Erde und Himmel, die im Laufe der Besichtigung der einzelnen Stadtkreise im Zusammenhang mit den verschiedenen Wissensbereichen schon erklärt worden sind, zusammengefaßt werden.

Ibid., 105-111: „Nel dentro del secondo girone vi son tutte le pietre preziose e non preziose, e minerali, e metalli veri e pinti, con le dichiarazioni di due versi per uno. Nel di fuore vi son tutte sorti di laghi, man e fiumi, vini ed ogli ed altri liquori, e loro virtü e origini e qualita; e ci son le caraffe piene di diversi liquori di cento e trecento anni, con Ii quali sanano tutte Γ infirmitä quasi." Ibid., 112-120: „Nel dentro del terzo vi son tutte le sorti di erbe ed arbori del mondo pinte, e pur in teste di terra sopra il rivellino e le dichiarazioni dove prima si ritrovaro, e le virtu loro, e le simiglianze d hanno con le stelle e con Ii metalli e con le membra umane, e Γ uso loro in medicina. Nel di fuora tutte maniere di pesci di fiumi, laghi e mari, e le virtü loro, e Ί modo di vivere, di generarsi e allevarsi, a che serveno; e le simiglianze c' hanno con le cose celesti e terrestri e dell' arte e della natura." Ibid., S. 6,52-69: „II tempio έ tondo perfettamente, e non ha muraglia che lo circondi; ma sta situato sopra colonne grosse e belle assai. La cupola grande ha in mezzo una cupoletta con uno spiraglio, che pende sopra 1' altare, ch' e uno solo e sta nel mezzo del tempio [...]. Sopra 1' altare non vi e altro ch' un mappamondo assai grande, dove tutto il cielo e dipinto, ed un altro dove e la terra. Poi sul cielo della cupola vi stanno tutte le stelle maggiori del cielo, notati coi nomi loro e virtü, d hanno sopra le cose terrene, con tre versi per una [...]. Vi sono sempre accese sette lampade nominate dalli sette pianeti."

Die Verräumlichung des Wissens im 16.-17. Jahrhundert

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Im Laufe der kulturellen Umgestaltung durch die Gegenreformation übernahm allmählich der salomonische Tempel die topische Funktion der Paläste und der antiken Tempel. Die enzyklopädischen Bestrebungen wurden von den Theatern des Giulio Camillo und Quicchelberg auf den salomonischen Tempel übertragen und ihre hermetischen und kabbalistischen Motive, die in den hermetischen, heterodoxen venezianischen Kreisen große Resonanz gefunden hatten,217 beseitigt oder im Sinne der gegenreformatorischen Weltanschauung umgedeutet. Dieser Prozeß gipfelte in der Tempelbeschreibimg von Villalpando. Die Innenräume des Tempels wurden von Villalpando etwa wie die Galerie eines Fürsten, eine Art Wimderkammer, beschrieben, in der die Weisheit Gottes alle Dinge der Welt aufgelistet und dargestellt hatte: Fuit huius aedificii sacri proprium, fuisse illud Dei Optimi Maximi sapientia conditum: quod, quamvis illi sit cum mundi fabrica commune, hoc tarnen est proprium et in templi fabrica admirandum magis, quod in ea tamquam in parva quadam, depictaque tabella, rerum omnium, quae sub vasto caeli ambitu continentur, arte mirabili Deus imaginem efformavit.218

In den pansophischen Modellen des 17. Jahrhunderts, sowohl in den katholischen als auch in den protestantischen (Leon de Saint Jean, Comenius), wurde der Aufbau der enzyklopädischen Systeme durch die Struktur des salomonischen Tempels veranschaulicht. Das salomonische Gebäude wurde zum „Templum sapientiae", nämlich zum symbolischen Bauwerk, in dessen architektonischem Rahmen die Umgestaltung des Wissens im Sinne einer theologischen Weltanschauung stattfinden sollte.

217

Über die heterodoxen Tendenzen der kabbalistischen und hermetischen Vorstellungen von Giulio Camillo und seine Beziehungen zu Persönlichkeiten wie Alessandro Citolini, Giovan Battista Pallavicini und Jacopo Broccardo, die bei der Inquisition im Verdacht der Häresie standen, siehe C. Vasoli, „Tra retorica, arte della memoria ed eresia: ipotesi su Giulio Camillo Delminio ed i suoi discepoli", in: Bollettino della Societä di Studi Voidest 138 (1975), S. 81-95; id., „Su alcuni scritti ,religiosi' di Giulio Camillo", insbesondere S. 280-290; id., „Tra retorica, cabala, arte della memoria e religiositä", S. 135-139.

218

„Das Wesentliche an diesem heiligen Bauwerk war, daß es durch die Weisheit Gottes entworfen wurde. Obwohl dies auch dem Bauwerk der Welt gemeinsam ist, war das Wesentliche und das Bewundernswerte am Bauwerk des Tempels eben, daß in ihm so wie in einem kleinen Bild Gott mit einer wunderbaren Kunst das Bild aller Dinge, die unter dem weiten Himmelsgewölbe enthalten sind, angefertigt hatte" (Villalpando, In Ezechielem Explanations, Bd. 2, Roma 1604, S. 461). Und noch weiter S. 473: „Hoc enim maxime decuit Deum Optimum Maximumque, eundemque sapientissimum rerum omnium opificem et huius aedificii Architectum, in quo rerum omnium imago quaedam ac similitudo continetur [...]".

Teil III

Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae" In einer Ausgabe des Lullischen Uber de ascensu et descensu intellectus (Valencia 1512) aus dem frühen 16. Jahrhundert ist auf einem Holzschnitt der Intellekt in Gestalt eines jungen Mannes dargestellt, der in der Hand die Lullische Kombinationsfigur des Kreises hält und über eine Treppe hinaufsteigt, deren einzelne Stufen die verschiedenen Grade der Schöpfung, von dem niedrigeren Grad der Steine und Mineralien der materiellen Welt bis zu den Engeln hin und Gott an der Spitze, zeigen.1 Die Treppe führt zu einem edlen Gebäude, das von einer mit Zinnen versehenen Schutzmauer umgeben ist. Über dem Gebäude, das sowohl ein Palast als auch eine Kirche sein könnte, steht die Inschrift: Sapientia aedificavit sibi domum.2 Der Intellekt, nachdem er über die verschiedenen Stufen der Schöpfung gestiegen ist, kann in das Haus der Weisheit eintreten. Albertus Magnus hatte „erhabene und ausgefallene" Gedächtnisorte empfohlen, weil sie sich am besten dafür eignen, das Gedächtnis anzuregen.3 Was auch immer Albertus Magnus unter „locus solemnis et rarus" verstand, der Sakralbau (Kirche, Kathedrale, Abtei) wurde bei der mittelalterlichen Umgestaltung der Gedächniskunst für ethische und theologische Zwecke zum bevorzugten Gedächtnisort der Gedächtnis-Traktate des 14.-15. Jahrhunderts. Das ist in der mnemonischen Literatur deutlich zu sehen, die in der scholastischen Tradition stand und in den Dominikanern Johannes Romberch (1480-1532) und Cosma Rosselli (gestorben 1579) ihre Hauptvertreter hatte.4 In seinen 1 2 3

4

Der Holzschnitt ist von Yates (The Art of Memory, S. 180) wiedergegeben. Siehe Prv 9,1: „sapientia aedificavit sibi domum, excidit columnas Septem." Albertus Magnus, De bono, solutio 7, in: Opera omnia, S. 250: „Locus autem praecipue solemnis distinguit [memorabilia] per hoc, quod non omnium memorabilium est locus unus, et movet per hoc, quod est solemnis et rarus." Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 63. Johannes Host (auch Romberg oder Romberch nach seinem Geburtsort genannt) ist Autor eines mit zahlreichen Abbildungen versehenen Gedächtnis-Traktates, der eine Art Materialsammlung zum künstlichen Gedächtnis darstellt: Congestorium artificiose memorie. V.P.F. loannis Romberch de Kyrspe. Regularis observantie predicatorie: Omnium de memoria preceptiones aggregatim complectens: opus omnibus Theologis, predicatoribus et confessoribus, iuristis, iudicibus, procuratoribus, advocatis et notariis, medicis, philosophis. Artium liberalium professoribus. Insuper mercatoribus, nunciis et tabeilariis pemecessarium.

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Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae"

Anweisvingen für die Auswahl des geeignetsten Gedächtnisortes rät Romberch dazu, sich eine Abtei mit ihren Nebengebäuden vorzustellen, und Rosselli beschreibt in seinem Thesaurus artificiosae memoriae, wie man aus Kirchen und Klöstern Gedächtnisorte bilden kann.5 Auch andere Autoren, die nicht direkt in der Tradition der scholastischen Mnemonik standen, wie Petrus von Ravenna6 und Lavinheta/ empfahlen den Kirchenbau als den am besten geeigneten Gebäudetyp zur Bildung eines Gedächtnisortes. Im 16. Jahrhundert, als sich die Gedächtniskunst in ein Darstellungssystem der Universalordnimg umwandelte, übernahm der salomonische Tempel Vinter

dem Einfluß hermetischer und kabbalistischer Vorstellungen die Funktion, die Kirchen und Klosteranlagen in der traditionellen Gedächtniskunst ausübten, und bot direkt wie bei Portaleone oder indirekt wie bei Giulio Camillo die architektonische Kulisse für die Aufführungen des Wissens. Diese aber entsprachen bestimmten Weltanschauungen, spiegelten gewisse Erwartungen sozialer, politischer und religiöser Ordnimg und Harmonie wider. Der salomonische Tempel, der bereits durch eine jahrhundertelange Tradition mehrfach symbolische Bedeutungen bekam, war daher der Träger solcher Erwartungen und wurde zu einem sehr verbreiteten, beliebten Motiv, das sowohl die Gegenreformation als auch die Protestanten als propagandistisches Mittel für die Vertretung und Verbreitung der jeweiligen Auffassungen der Universalordnung in der Architektur sowie in den pansophischen Traktaten verwendeten. In den engen Beziehungen zwischen Architektur und Literatur zeigt sich, wie aktuell das Motiv des salomonischen Tempels in dem intellektuellen Umfeld des 16.-17. Jahrhunderts war. Oft waren dieselben Theologen und Impressum Venetijs in edibus Georgij de Rusconibus in contrata sancti Fantini die 9. Iulii 1520. Das mnemonische Handbuch des Romberch hatte einen großen Rezeptionserfolg und wurde mehrmals nachgedruckt. Eine Umarbeitung in dialogischer Form ohne Erwähnung des originalen Werkes und des Autors ist die italienische Übersetzung von Lodovico Dolce (1508-1568) Dialogo di M. Lodovico Dolce. Nel quale si ragiona del modo di accrescere, & conservar la memoria, in Venetia appresso Giouanbattista Sessa, &fratelli, 1586. Thesaurus artificiosae memoriae, concionatoribus, philosophis, medicis, iuristis, oratoribus, procuratoribus, caeterisque bonarum litterarum amatoribus: negociatoribus insuper, aliisque similibus, tenacem, acfirmam rerum memoriam cupientibus, perutilis. Ac omnes sui amatores, et possessores valde locupletans, insimulque decorans, cum rerum coelestium atque terrestrium tenax, ac tutum scrinium esse possit. Authore R. P. F. Cosma Rossellio Florentino, Sacri Ord. Praedic. minimo Professore. Cum indicibus locupletissimis, tum capitum, tum rerum omnium insigniorum, Venetiis 1579. ApudAntonium Paduanium, Bibliopolam Florentinum. Petrus Tomasius bzw. Tommai (Ravenna 1448-Mainz 1508), Jurist und Autor eines erfolgreichen mnemonischen Traktates: Fornix Domini Petri Ravennatis memoriae magistri. Bernardinus de Choris de Cremona impressor delectus impressit Venetias Die X Ianuarii 1491. Siehe auch Yates, The Art of Memory, S. 113. Siehe Rossi, Clavis Universalis, S. 99.

Die Symbolik des salomonischen Tempels im 16.-17. Jahrhundert

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Philosophen, die sich mit mehr oder weniger historischen Rekonstruktionen und Beschreibungen des salomonischen Tempels befaßten, auch Architekturtheoretiker oder selbst Architekten und hatten einen wesentlichen Anteil an den Bauplänen einiger Bauwerke ihrer Zeit. Im letzten Kapitel über die Pansophie des 17. Jahrhunderts („Die Enzyklopädie als Utopie im 17. Jahrhundert" [siehe unten S. 144-175]), auch wenn es sich dabei um Autoren handelt, die nach Portaleone wirkten, möchte ich einen Überblick über die Beweggründe der Pansophisten und die Art und Weise ihrer Ausführungen geben, um dann in dem anschließenden Teil IV zu versuchen festzustellen, ob und inwieweit Portaleones Tempelbeschreibung als Glied in der Kette zwischen Theatra memoriae und Pansophie zu betrachten ist.

1. Die Symbolik des salomonischen Tempels im 16.-17. Jahrhundert Ginige Bauwerke, die in der Bibel erwähnt sind, wie die Arche Noach, die Bundeslade oder der Turm von Babel, haben eine dauerhafte Wirkung auf die Phantasie der Menschen ausgeübt und zu minuziösen und gleichwohl unrealistischen Rekonstruktionen geführt. In den Vorstellungen der späteren Generationen nahmen sie verschiedene Gestalten an, die weit über ihre historische bzw. symbolische Bedeutung hinausgingen und den kulturellen Auffassungen und Erwartungen der Zeit angepaßt wurden.8 Ein solches Schicksal hatte auch der salomonische Tempel. Nach seiner Zerstörung und dem Verlust seiner historischen, reellen Gestalt wurde er zu einem der mythos-behafteten biblischen Bauwerke und konnte als solches neue Symbolfunktionen übernehmen.9 In der hermetischen Weltanschauung der Neuzeit wurde der Bauplan des salomonischen Tempels als ein mystisches Abbild der himmlischen und der irdischen Ordnung betrachtet. Die mystische Deutung des historischen Bauwerks von Salomo zu einem geistigen Bau, in dem sich der Schöpfungsplan 8

9

Dazu siehe Henri de Lubac, Exegese medieoale. Les quatre sens de V Ecriture, 4 Bde., Paris 1959-1964: Bd. Π/2, S. 41ff.; über die Verbreitung dieses Symbolismus zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert siehe J. Rykwert, On Adam's House in Paradise: the Idea of Primitive Hut in Architectural History, New York 1972. Über die Wirkung des salomonischen Tempels in der europäischen Geistesgeschichte siehe R. Taylor, „Architecture and Magic", in: Essays in the History of Architecture presented to Rudolf Wittkower, London 1967, S. 131-403; B. Vogelsang, Archaische Utopien: Materialien zu Gerhard Schotts Hamburger „Bühnenmodell" des Templum Salomonis, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, Köln 1981, und P. von Naredi-Rainer, Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer. Mit einem Beitrag von Cornelia Limpricht, Köln 1994.

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Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae"

widerspiegelt, wurde auch von der Bibel selbst begünstigt, die den Entwurf des Tempels Gott selbst zuschreibt. Im ersten Buch der Chronik (IChr 28,1119) wird berichtet, daß David seinem Sohn Salomo die Baupläne des Tempels und die Anweisungen seiner Inneneinrichtungen übergab, die er „aus der Hand des Herrn" bekommen hatte. Der literarische Topos von Gott als Architekt10 des Weltalls fand eine Parallele in der Bibel von Gott als Architekt seines Tempels. Daraus wurde die Vorstellung abgeleitet, daß Gott dieselben harmonischen Maße, die seiner Schöpfung zugrunde liegen, auch für den Bau seines Tempels angewandt hat.11 Auf dieser Vorstellung von überhimmlischen Maßeinheiten, die die Universalordnung der Schöpfung bestimmen, ist das Theater von Camillo gebaut. Sein Bauwerk, in dem der Kosmos sich zur Schau stellt, wird von Camillo mit dem überhimmlischen, auf sieben Säulen ruhenden „Haus der Weisheit" in Zusammenhang gebracht, von dem Salomo in seinem neunten Buch der Sprüche erzählt.12 Camillo hat seine mystische Weltanschauung in Gestalt eines Theaters aufgestellt. Im Vordergrund steht die Idee der Aufführung der heimlichen Struktur des Kosmos, der Abhängigkeit aller Teile voneinander. Die Aufführung findet aber in einem religiös-mystischen Rahmen statt, der durch gehäufte biblische Anspielungen unterfüttert ist und so der Aufführung ihren sakralen Charakter verleiht. In der Darlegung des Theaters, die Camillo in L' idea del teatro niedergeschrieben hat, wird der Tempel von Salomo nicht direkt erwähnt. Doch ist das „Haus der Weisheit" eine deutliche Anspielung auf den salomonischen Tempel. Die „Domus sapientiae" ist ein sehr verbreiteter Topos der christlichen Bibelexegese, der in einer über die Jahrhunderte erhaltenen Tradition ikonographisch als siebensäulige Architektur dargestellt wird, die abbreviaturhaft auf den salomonischen Tempel hinweist.13 Die sieben Säulen des Weisheitstempels deuten zugleich auf die sieben Gaben des Heiligen Geistes sowie auf das Salomo zugeschriebene Buch der Sprüche hin, wonach „die Weisheit ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen hat" (Prv 9,1). Salomo wird in der Bibel als „der Weise" schlechthin dargestellt, den Gott reichlich mit außerordentlicher Weisheit versah.14 Frucht dieser Weisheit war der Tempel, mit dessen Bau Gott Salomo beauftragt hatte. Die Verbindung von Salomo mit 10

Für diesen Topos in der klassischen und christlichen Literatur bis ins Spätmittelalter siehe E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954 [erste Auflage Bern 1948], S. 527-529.

11

Siehe Uber sapientiae 11,21: „sed omnia mensura et numero et pondere disposuisti", und Hieronymus, der in bezug auf den Tempel in seinem Ezechiel-Kommentar sagt: „Nihil enim absque ratione et mensura in templo Dei, et maxime in sancta sanctorum a Deo factum est" (Commentariorum in Ezechielem lib. XII, Cap. XLI, PL V-VI, S. 402).

12

Siehe oben S. 92. von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 104. Siehe lKön 5,9-14.

13

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dem „Hans der Weisheit" ist auch in der mittelalterlichen Allegorese deutlich zu erkennen.15 Die „Weisheit" wird unter anderem durch Salomo als herrschenden König verkörpert. Andernfalls gilt Salomo auch als Präfiguration Christi, der als inkarnierte göttliche Weisheit in Maria („sedes sapientiae") Wohnung nahm. Weiterhin wird Maria als Tempel Christi der „Ecclesia" gleichgesetzt und oft in Zentralbauformen dargestellt, die aufgrund einer irrtümlichen Assoziation des Felsendoms mit Salomo den salomonischen Tempel symbolisieren.16 Eine direkte Bezugnahme auf den Tempel Salomos im Theater von Camillo ist das Bild des wertvollsten Gegenstandes, der im Inneren des Tempels aufbewahrt war, nämlich der Bundeslade. Auf dem dritten Rang des Theaters, dem Rang der „Höhle", ist auf dem Tor, das zur Planetenreihe von Saturn gehört, unter anderem die Bundeslade abgebildet. In den Maßen der Bundeslade sieht Camillo die kosmische Zahl Neun enthalten, die auf die neun Himmelskreise hindeuten, während der zehnte Himmel von der Decke der Bundeslade symbolisiert wird.17 Für diese mystische Interpretation der Maße der Bundeslade sowie für seine kabbalistischen Kenntnisse war Camillo von dem Franziskanermönch Francesco Giorgi (venezianisch Zorzi oder auch als Francesco Giorgio Veneto bekannt) abhängig.18 Francesco Giorgi (Venedig 1460 oder 1466-Asolo 1540) ist eine der herausragenden Persönlichkeiten unter den italienischen Kabbalisten, dessen Bedeutung über die italienischen Grenzen hinausreichte.19 Aus einer venezianischen Patrizierfamilie abstammend, trat Giorgi 1480 in den Minoritenorden ein. Der mystischen Tradition der Franziskaner fügte er den Hermetismus und die 15

16

17

18 19

Für eine ausführlichere Erörterung mit beigefügten Abbildungen der aufgeführten Ikonographie siehe von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 104-107. Über die fehlerhafte Tradition, die den islamischen Felsendom Salomo zuschreibt, siehe von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 68-90. L' idea del teatro, S. 91: „Perciö che era [Γ area del patto] talmente fatta che un cubito e mezzo la misurava si per lungo come per largo, e ciascun cubito constando di sei palmi, segue che nove palmi fosse per lungo e nove per traverso; il qual numero aveva da signifkare i nove Cieli, et il decimo era figurata per lo coperchio d' oro etc. [...]". Secret, Les kabbalistes, S. 310. Uber die kabbalistische Bildung von Francesco Giorgi in seinem geistesgeschichtlichen Zusammenhang siehe Secret, Les kabbalistes, S. 126-140 und id., Hermetisme et Kabbale, Napoli 1992. Für eine umfassende Untersuchimg von Giorgi und seinen Werken siehe C. Vasoli, Profezia e ragione. Studi sulla cultura del Cinquecento e del Seicento, Napoli 1974, S. 129-403; id., „Marsilio Ficino e Francesco Giorgio Veneto", in: G. C. Garfagnini (Hrsg.), Marsilio Ficino e il ritomo di Piatone, 2 Bde., Firenze 1986: Bd. 2, S. 533-554; id., „Dali' ,Apochalypsis Nova' al ,De Harmonia Mundi'. Linee per una ricerca", in: I Frati minori tra '400 e '500. Atti del XII convegno internazionale. Assisi 18-20 ottobre 1984, Assisi 1986, S. 261-291.

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christliche Kabbala von Reo und Ficino hinzu. Die christliche Kabbala der florentinischen Tradition wurde aber von Giorgi, der über eine gute Kenntnis der hebräischen Sprache verfügte, durch andere, neue kabbalistische Werke, die die vertriebenen spanischen Juden mit nach Venedig gebracht hatten, bereichert.20 In der Kabbala sah Giorgi die Bestätigung der christlichen Wahrheit, und er betrachtete sie als das einzige exegetische Mittel, das den wahren, verborgenen Sinn der Heiligen Schrift offenbaren konnte. Jeder hebräische Buchstabe der Heiligen Schrift weist für Giorgi mannigfaltige Bedeutungen auf, die nur allmählich im Lauf der Generationen deutlich werden und auf die unergründliche, ewige Weisheit Gottes hinweisen.21 Diese ewige Weisheit durchwebt die ganze Geschichte der Menschheit und bildet eine ununterbrochene Traditionskette, die jeglichen Unterschied von Glauben und philosophischen Lehren überwindet.22 In der Natur zeigt sich die Weisheit Gottes in einer harmonischen Ordnung der Vielfalt des Seins, die in der göttlichen Einheit seinen Grund hat. Seine Vorstellung der Weltordnung hat Giorgi in De harmonia mundi totius Cantica tria (Venedig 1525) dargelegt.23 Die Ordnung der Schöpfung wird platonischneupythagoreisch als eine Folge von Zahlenverhältnissen aufgefaßt, die eine musikalische Harmonie ergeben. Nur der Weise kann durch göttliche Erleuchtung die scheinbare Verschiedenheit der Weltformen durchschauen und in ihrer Vielfalt ein Zusammenspiel von anagogischen Zusammenhängen erkennen, das eine kosmische Harmonie bildet. Solche Weisen waren Mose und Salomo. Den Maßen der Bundeslade, die Mose anfertigen ließ, und den Maßen des salomonischen Tempels liegt die Dezimalordnung zugrunde, die die Quintessenz der Harmonie ist, wie die pythagoreische und platonische Philosophie

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F. Yates, The Occult Philosophy in the Elizabethan Age, London/New York 1979, S. 29; Vasoli, Profezia e ragione, S. 237-238.

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Siehe Vasoli, Profezia e ragione, S. 156. Ibid., S. 402-403. Das umfangreiche Werk von fast 600 Seiten in Folio wurde von Guy Le Fevre de la Boderie (1550-1613) ins Französische übersetzt (Paris, 1579). Das Werk von Giorgi stellt fast die Summe der hermetischen, neuplatonischen und kabbalistischen Tradition der italienischen Renaissance dar. Es ist daher selbstverständlich, daß sich die Kritiker dieser Tradition bevorzugt gegen Francesco Giorgi richteten. Einer von ihnen war Marin Mersenne (1588-1648), Freund von Descartes und Gegner einer spiritualisierten Auffassung der Natur. Die kabbalistisch angelegte biblische Exegese von Giorgi (In Scripturam Saaam Problemata, Venezia 1536) widerlegte Mersenne mit seinen Quaestiones celeberrimae in Genesim cum accurata textus explicatione in hoc volumine athei et deistae impugnantur, et expugnantur et Vulgata editio ad haereticorum calumnijs vindicatur. Graecorum, et Hebraeorum Musica instauratur. Francisa Georgii Veneti Cabalistica dogmata fuse refelluntur, quae passim in illius problematibus habentur. Opus Theologis, Philosophie, Medicis, Iurisconsultis, Mathematkis, Musicis vero, et Catoptricis praesertim utile, Lutetiae Parisiorum, Sumptibus Sebastiani Cramoisy, 1623.

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lehren.24 Gott selbst gab Mose den Bauplan für die Bundeslade und befahl ihm, sie nach dem Modell anzufertigen, das er auf dem Berg gesehen hatte.25 Für Giorgi beinhaltet dieses Modell die gleichen Proportionen, die der gesamten Schöpfung zugrunde liegen. Dementsprechend baute auch Salomo den Tempel, den irdischen Wohnsitz Gottes. Gott weilt aber nicht nur in einem materiellen Bauwerk, sondern auch im Menschen selbst, wie Paulus in seinem Brief an die Korinther sagt: „Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?" (IKor 3,16). Der Tempel ist also für Giorgi eine Abbildung der himmlischen, übermateriellen Universalordnung, die Vermittlung zwischen Himmel und Erde, in dem die Meißeinheiten des Makrokosmos und des Mikrokosmos zusammenfallen. Diese mystische Interpretation des Tempels gehört zu einer antiken Tradition, die schon im 5. Jahrhundert in den pseudepigraphischen Schriften des Dionysius Areopagita belegt ist. In De coelesti hierarchia (1,3) ist nämlich der Tempelbau nach Dionysius Areopagita die materielle Darstellung der immateriellen Formen der himmlischen Hierarchien.26 Diese mystische Vorstellung des salomonischen Tempels setzt sich im Mittelalter vor allem dank der lateinischen Übersetzung der dionysianischen Schriften durch Johannes Scotus Eriugena (9. Jahrhundert) fort. Der Scholastiker Petrus Abaelardus (1079-1142) sieht in den Proportionen des Tempels die gleichen Zahlenverhältnisse, die auch die Harmonie der Sphären bestimmen und musikalischen Konsonanzen entsprechen. Das Verhältnis der Länge (60 Ellen), der Breite (20 Ellen) und der Höhe (30 Ellen) des Tempels zueinander werden in pythagoreisch-platonischem Sinn als musikalische Konsonanzen gedeutet, nämlich 60:20 = Oktave + Quinte; 60:30 = Oktave; 30:20 = Quinte.27 Im Klassizismus der Renaissance wurde diese Vorstellung des Tempels mit den vitruvianischen Architekturtheorien des menschlichen Körpers als idealer Maßstab zusammengefügt. In dem Bestreben nach der Wiedergabe der göttlichen Universalharmonie in den Bauwerken fokussierten die kosmologischästhetischen Architekturtheorien der Renaissance im salomonischen Tempel,

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De Harmonia mundi, 1,4,32, fol. LXXXffl-1,4,34, fol. LXXXIV. Siehe auch Vasoli, Profezia e ragione, S. 262 und W. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt am Main 1998, S. 498. Siehe Ex 25,40. Nach den Anweisungen für den Bau der Bundeslade, des Tisches und des Leuchters sagt Gott zu Mose: „Siehe zu, daß du all dies nach dem Muster ausführst, das du auf dem Berg gesehen hast." Siehe dazu Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 385. Petrus Abaelardus, Theobgia Christiana (Corpus Christianorum. Series Latina, Continuatio medievalis Bd. 12), I, 80, S. 104ff. Siehe auch von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 54,209 Anm. 180-181.

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der als von Gott inspiriertes Bauwerk „die göttlichen Proportionen, die vom Himmel herabkamen", aufweist.28 Der Wirkungsgrad dieser mystischen, kosmologisch bezogenen Vorstellung des Jerusalemer Tempels in der europäischen Geistesgeschichte zeigt sich auch in ihrer konkreten Umsetzung bei mehreren Bauwerken des 16.-17. Jahrhunderts. Am 15. August 1534 wurde vom Doge Andrea Gritti der Grundstein der Kirche von San Francesco della Vigna gelegt, deren Bau Jacopo Sansovino aufgetragen worden war. Als kurz danach Meinungsverschiedenheiten über die Maßverhältnisse des Entwurfs von Sansovino entstanden, beauftragte der Doge den Mönch Francesco Giorgi vom nahegelegenen Franziskanerkloster, ein Gutachten zu erstellen.29 Das Gutachten, das Giorgi am 1. April 1535 dem Doge vorlegte, stellt die konkrete Anwendung seiner Theorien in der Baukunst dar. Nach der Zahl „Drei", als erster und göttlicher Zahl („numero primo e divino"), soll sich der gesamte Entwurf richten.30 Die Länge des Schiffs soll 27 Schritte, das heißt drei mal neun, und die Breite neun Schritte, also ein Drittel der Länge, betragen. Die Hauptkapelle („cappella grande"), die fast wie der Kopf eines menschlichen Körpers an der Spitze des Schiffs steht, soll neun Schritte lang und sechs breit sein, so daß die Länge der Hauptkapelle der Breite des Schiffs entspricht und die Breite in Relation von 2 zu 3 mit der Breite des Schiffs in Übereinstimmung steht. Gleiche Maße soll auch der Chor haben. Diese Zahlenverhältnisse entsprechen wiederum musikalischen Intervallen. Denn die Proportion der- Breite und der Länge des Schiffes (9:27) bildet ein Diapason oder Oktave und eine Diapente oder Quinte, wenn sie progressiv 28

Das Zitat stammt vom französischen Architekten Philibert de Γ Orme (Lyon 1514Paris 1570), der mit den venezianischen Kreisen in Beziehung stand. Nach seiner Vorstellung sollten in der Baukunst die gleichen Proportionen gelten, die in der Bibel offenbart sind: „Les divines proportions venues du del". Im Jahre 1567 veröffentlichte de Γ Orme Le Premier Tome de Γ architecture (Paris 1567, nachgedruckt 1568, 1626, 1648). In einem zweiten Band, der nie erschienen ist, wollte er die göttlichen Proportionen „conformemant avec les mesures et proportions qui se trouvent en la saincte Bible" ausführlich erörtern. Dazu siehe R. Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism („Studies of the Warburg Institute" Bd. 19), London 1949 [Chichester 1998], S. 115-116.

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Das Gutachten von Giorgi ist in englischer Übersetzung von Wittkower wiedergegeben worden. Siehe Wittkower, Architectural Principles, S. 138-140. „Drei" ist nicht nur Symbol der Dreieinigkeit. In der pythagoreischen Zahlentheorie ist die Nummer „Drei" Anfang, Mitte und Ende. Die pythagoreische Interpretation der Zahl „Drei" wurde dann von Piaton übernommen und durch die lateinische Ubersetzung von Ficino in der florentinischen „Accademia Platonica" bekannt: „Trinitas numerorum prima, principium et medium, finemque rerum continere videtur, atque sola inter numeros ratione quadam individua continere" (Ficino, Opera, 1576, Bd. II, S. 1459). Siehe dazu Wittkower, Architectural Principles, S. 105.

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9:18:27 aufgefaßt wird: 9:18 = 1:2, das heißt eine Oktave und 18:27 = 2:3, das heißt eine Quinte. 31 Ebenso entspricht die Proportion 2:3 der Maße der Hauptkapelle und des Chors dem Intervall der Diapente. Die Vorschläge von Giorgi wurden größtenteils akzeptiert und umgesetzt, was beweist, daß seine Theorien keinesfalls nur Ausdruck eines kleinen esoterischen Kreises waren. 32 Das Ansehen von Giorgi und die gegenseitigen Beziehungen zwischen bildender Kunst, Architektur und Rhetorik zeigen sich auch durch die Persönlichkeiten, die dazu gerufen wurden, ihre Einschätzung über die Betrachtungen von Giorgi abzugeben: ein Maler, Tizian, ein Architekt, Sebastiano Serlio, 33 und ein Humanist, Fortunio Spira 34 . Der Fall der Kirche von San Francesco della Vigna ist aufgrund der Dokumentation sicher sehr aufschlußreich, um das kulturelle Umfeld seines Entwurfs zu rekonstruieren, aber es ist nicht das einzige Beispiel. Die Bezugnahme auf den salomonischen Tempel in der bildenden Kunst und in der Architektur hatte schon vor Francesco Giorgi eine alte Tradition, die auf der allegorischen Bibelexegese der Kirchenväter gründete. Seit Origenes von Alexandria 35 (um 185-254) wurde der salomonische Tempel oder der Tempel der ezechielischen Vision, so nach Tertullian (um 150-230) und Hieronymus (347-um 420), als Präfiguration der Kirche Christi gedeutet. Diese grundsätzliche Metapher des Tempels, 31

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Wittkower, Architectural Principles, S. 105. Der Pythagoreer Philolaos hatte zuerst die Zahlenverhältnisse unter den Intervallen der vier Saiten der Lyra festgesetzt, deren Länge sechs, acht, neun und zwölf Einheiten betrugen. Aus diesen Verhältnissen ergeben sich drei Konsonanzen in Oktave-Akkord, nämlich 6:12 = 12 Intervall des Diapason oder Oktave, 6:9, 8:12 = 2:3, die Diapente oder Quinte, und die Quarte oder Diatessaron (6:8,9:12 = 3:4). Über den Einfluß der musikalischen Harmonie auf die Weltanschauung und auf die Architektur in der venezianischen Renaissance siehe C. Vasoli, „II tema musicale e architettonico della ,Harmonia Mundi' da Francesco di Giorgio Veneto all' Accademia degli Urania e a Gioseffo Zarlino", in: Musica e storia 6/1 (1998), S. 193-210. Sebastiano Serlio (1475-1554); sein Beitrag ist mehr als für die Architektur selbst für die Geschichte der Architekturtheorie von Bedeutung. Sein Hauptwerk sind 7 sette libri deW architettura, Venezia 1584, die einzeln zwischen 1537 und 1575 erschienen und in den Niederlanden, in Frankreich und in England die Architekturtheorien der italienischen Renaissance verbreiteten. Fortunio Spira, gestorben um 1560, ist heute fast unbekannt. Zu seinen Lebzeiten genoß Spira hohes Ansehen. Mit verehrenden Worten wird er von Jacopo Sansovino (Francesco Sansovino, Veneria citta [sie] nobilissima et smgolare, descritta in XIIU libri da M. Francesco Sansovino, nella quale si contengono tutte le guerre passate, con V attioni illustri di molti senatori, le vite dei prineipi & gli scrittori veneti del tempo loro, le chiese, fabnehe, edifici & palazzi publichi & privati, le leggi, gli ordini & gli vsi antichi & moderni, con altre cose appresso notabili & degne di memoria. In Venetia, appresso lacomo Sansovino, 1581) und Pietro Aretino (Del primo libro delle lettere) erwähnt. Siehe Wittkower, Architectural Principles, S. 107. Origenes, Contra Celsum Vm,19-20.

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die mit einigen Variationen jahrhundertelang gültig blieb und in einigen katholischen Bibelausgaben noch heute rezipiert wird, wurde durch eine weitere metaphorische Interpretation der Meißangaben des Tempelbaus erweitert. 36 Im 13. Jahrhundert gehörte jedenfalls die Vorstellung des salomonischen Tempels als Vorbildes der christlichen Kirche, auch was ihre konkrete Bauform betraf, zu einer etablierten Tradition, die Durandus in seinem Rationale divinorum officiorum folgendermaßen darlegte: Die Errichtung eines Gebetshauses oder einer Kirche ist sicher nichts Neues. Denn der Herr befahl Mose auf dem Sinai, ein Stiftszelt mit Vorhängen wundervoller Machart zu errichten: dies war durch einen Vorhang in zwei Bereiche unterteilt, von denen der äußere Bereich „das Heilige" hieß, wo das Volk seine Opfer darbrachte, und der innere Bereich „das Allerheiligste", wo die Priester und die Leviten ihren Dienst verrichteten, wie es im Vorwort zum vierten Teil37 erklärt wird. Als das Stiftszelt veraltet war, befahl der Herr, den Tempel zu errichten, den Salomo in wunderbarer Form baute. Er hatte zwei Teile wie das Stiftszelt, [vgl.] III. Buch der Könige Kapitel δ.38 Von beiden, das heißt vom Stiftszelt und vom Tempel, bekamen unsere Kirchengebäude ihre Form: in ihrem vorderen Teil hört das Volk zu und betet, während im heiligen Bereich der Klerus betet, predigt, Gott preist und dient.39 Neben der patristischen Gebäudemetaphorik spielten auch politische Überlegungen eine wesentliche Rolle für die Tempelrezeption in der Baukunst. Die Bezugnahme auf den salomonischen Tempel als Muster für die Kirchenbauten 36

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Uber die Zahlendeutung von Augustinus bis zum Mittelalter siehe H. Meyer, Die Zahlenallegorese im Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 25), München 1975; H. Meyer/R. Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 56), München 1987. Für eine Zusammenfassung der Deutungsvarianten der Tempelmaße in der christlichen Bibelexegese seit Hieronymus und Augustinus bis ins 12. Jahrhundert siehe von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 51-54. Das Rationale divinorum officiorum ist in vier Teile gegliedert. Traditionellerweise werden die zwei Bücher Samuel als Teile der Bücher der Könige betrachtet. Nach der heute üblichen Bibeleinteilung ist also das 3. Buch der Könige das erste. A. Davril/T.M. Thibodeau (Hrsg.), Guillelmi Duranti Rationale divinorum officiorum I-IV (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis CXL), 1,1,4-5, S. 13-14: „Sane non est nova oratorii sive ecclesie institutio. Praecepit namque Dominus Moysi in monte Synai ut faceret tabemaculum de cortinis mirifice fabricatis: divisum enim erat interposito velo in duas partes cuius pars prior saneta ubi populus sacrificabat, interior vero saneta sanctorum ubi sacerdotes et levite ministrabant dicebatur, ut dicetur in prohemio quarte partis. Quod postquam vetustate consumptum est, iussit Dominus fieri templum quod Salomon edifieavit opere mirificum, duas habens partes ut in tabemaculum [sie!], ΙΠ R. c. VIII. Ab utroque vero, scilicet a tabernaculo et a templo, nostra materialis ecclesia formam sumpsit in cuius parte anteriori populus audit et orat, in sanetuario vero clerus orat, predicat, iubilat et ministrat."

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ermöglichte ihren Bauherren, sich in die Tradition des Königs Salomo und in den Glanz seiner Weisheit zu stellen. Der Prunk ihrer nach dem Muster des salomonischen Tempels errichteten Bauwerke sollte die prachtvolle Macht des Königs Salomo in Erinnerung rufen und zugleich die Macht der Bauherren betonen. Wie Gott Salomo Macht und Weisheit verliehen hatte, so wollten die Päpste, Kaiser und Könige, die sich bei dem Bau ihrer Kirche durch mehr oder weniger anschauliche Anspielungen auf die Tempelarchitektur beriefen und sich als Nachfolger Salomos darstellten, ihre Macht auf dem Willen Gottes gegründet zeigen. Da sich die biblischen Beschreibungen des Tempels vor allem auf die Maße und Inneneinrichtung konzentrieren und keine genauen Vorstellungen von seiner architektonischen Gestalt vermitteln, erfolgten die Anspieltingen auf den salomonischen Tempel neben der Pracht der Dekoration durch Übernahme der Maße bzw. der Maßverhältnisse. Diese ließen sich auf Bauwerke jeder Größenordnung und formalen Gestalt anwenden, unabhängig von der zugrunde gelegten Maßeinheit des Vorbildes. Auf welche Weise sie umgesetzt wurden, zeigen zwei für Form und Größe unterschiedliche Kultbauten, in denen die propagandistischen Absichten ihrer Bauherren deutlich erkennbar sind. Zwischen 532 und 537 ließ Kaiser Justinian (527-565) die Hagia Sophia in Konstantinopel bauen. Das neue Sakralbauwerk hatte nicht nur wegen seines Ranges als Staatskirche, sondern auch wegen der politischen Ziele, die mit seiner Errichtung verbunden waren, eine besonders repräsentative Funktion zu erfüllen. Der prächtige Bau sollte auch die aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Dynastie des Bauherren zelebrieren.40 Durch die Bezugnahme auf den Jerusalemer Tempel konnte sich Justinian in einer König Salomo vergleichbaren Rolle als von Gott auserwählten König darstellen und seiner Macht eine göttliche Legitimation verleihen. Daß Justinian bewußt solche propagandistischen Ziele verfolgte, bezeugt auch der Ausruf, den er bei dem feierlichen Einzug in die neuerbaute Kirche getan haben soll: „Ruhm und Ehre dem Allerhöchsten, der mich für würdig hielt, ein solches Werk zu vollenden. Salomo, ich habe dich übertroffen!"41 Die Verbindung zum salomonischen Tempel erfolgte auf mehrfache Weise. Zum Reliquienbesitz der Kirche (der übrigens während des vierten Kreuzzuges 1204 geplündert wurde) gehörten unter anderem die wesentlichen Ausstattungsstücke des Allerheiligsten im salomonischen Tempel, nämlich die Bundeslade, die Gesetzestafeln des Mose sowie der Tempelvorhang. In der Vorhalle der Kirche war ein Gefäß aufgeJustin I. (Kaiser von 518 bis 527), Onkel von Justinian, stammte aus einer illyrischen Bauernfamilie. Diegesis 111,57, in: Th. Preger (Hrsg.), Scriptores originum Constantinopolitanarum, Leipzig 1901-1907:1901, S. 237. Das Zitat ist aus Paul von Naredi-Rainer (Salomos Tempel, S. 118 und 219 Anm. 361) entnommen.

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stellt, das vermutlich dem „Ehernen Meer", dem bronzenen Gefäß für die Ablutionen der Priester im Vorhof des salomonischen Tempels, entspricht. In ihrer architektonischen Gestalt unterscheidet sich zwar die Hagia Sophia als Kombination aus Zentralbau und Basilika von dem langräumigen Bau des Jerusalemer Tempels. Ihre Hauptmaßverhältnisse aber stimmen mit denen des salomonischen Tempels überein. Denn die Länge des salomonischen Tempels betrug 60 Ellen, die Breite 20 Ellen und die Höhe 30 Ellen, also im Verhältnis 6:2:3. Die Gesamtlänge der Hagia Sophia einschließlich des zum Innenraum gehörenden Esornathex, beträgt 300 byzantinische Fuß, die Breite des Innenraums in der Mitte 100 byzantinische Fuß und die Höhe der ursprünglichen, im Jahre 552 eingestürzten und in erhöhter Form wiederaufgebauten Kuppel betrug wahrscheinlich 150 byzantinische Fuß, hatte also eine Proportion von 6:2:3 wie der salomonische Tempel.42 Eine ähnliche Anspielung auf den salomonischen Tempel durch die Übernahme seiner Maßverhältnisse für propagandistische Zwecke läßt sich auch in der nach seinem Bauherren, Papst Sixtus IV. (1471-1484), benannten Sixtinischen Kapelle feststellen.43 Die Kapelle spiegelt ihr alttestamentliches Vorbild auch in ihrer architektonischen Form wider. Denn gemäß der biblischen Beschreibung des Tempels als dreigeschossigen, langräumigen Aufbaues ist ihr rechtwinkliger Innenraum durch zwei Gesimse in drei Geschosse geteilt. Wie der Tempel in das Allerheiligste und in das Heilige unterteilt war, so trennte ursprünglich eine Schranke den Altarraum mit dem Papstthron von der übrigen Kapelle. Die Verbindung zum salomonischen Tempel wird aber vor allem durch den Vergleich der Maßverhältnisse bestätigt. Die Breite der Kapelle beträgt 13,41 Meter, ihre Länge 40,23 Meter, das heißt das Dreifache der Breite wie beim salomonischen Tempel, und die durchschnittliche44 Höhe entspricht wie beim biblischen Vorbild etwa der Hälfte ihrer Länge. Auch die Ermittlung der möglichen verwendeten Maßeinheiten untermauert die Verbindung der Sixtinischen Kapelle zum salomonischen Tempel. Wenn man als Maßeinheit den römischen palmo ä 22,35 Zentimeter nimmt, mißt die Sixtinische Kapelle 180 palmi in der Länge und 60 palmi in der Breite. Es ist auch vorgeschlagen worden, die palästinische Elle a 67 Zentimeter als Maßeinheit anzunehmen, deren Wert sich innerhalb der Schwankungsbreite des römischen braccio bewegt. Nach dieser Maßeinheit würden die Maßzahlen des Kapellen-

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von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 118. Siehe E. Battisti, „Roma apocalittica e re Salomone", in: Rinascimento e Barocco, Torino 1960, S. 72-95. Wegen der Wölbung und der Stichkappen der Decke kann nur ein durchschnittlicher Wert herangezogen werden.

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grundrisses (60,04 χ 20,01) fast genau mit denen des salomonischen Tempels (60 χ 20 Ellen) übereinstimmen.45 Auch zur Zeit der Gegenreformation bezog sich die katholische Kirche auf den salomonischen Tempel, um ihr Ideal von Kultur und Gesellschaft bildhaft durch architektonische Formen zu vermitteln. Angesichts der Brüchigkeit des Staats- und Soziallebens, der sich verändernden traditionellen Werte symbolisierte der biblische Tempelbau aufgrund seiner mathematisch-kosmologischen Proportionsgesetze und Harmonien eine statische, unabänderliche, von Gott selbst festgesetzte Universalordnimg. In den veränderten politischen und kulturellen Zuständen stellte der salomonische Tempel das „utopische" Gegenbild jener idealen Ordnimg dar, die man in seiner Umwelt bemängelte.46 Die Bezugnahme auf den salomonischen Tempel erfolgte neben der Wiedergabe der Maße oder der Maßverhältnisse auch durch die symbolische Nachbildung einiger signifikanter Bauelemente oder Architekturmotive seiner Inneneinrichtung. Vom 12. bis zum 18. Jahrhundert waren vor allem die gewundenen Säulen ein beliebtes Architekturmotiv, das insbesondere in der Tabernakelausstattung zur Anwendung kam und eine mehrfache symbolische Bedeutung aufwies.47 Zum einen wiesen sie auf die zwei freistehenden Säulen aus Bronze hin, die an der Vorhalle des salomonischen Tempels aufgestellt waren.48 Ihre Namen „Jachin" und „Boas", die im Sinne von Standhaftigkeit und Stärke interpretiert wurden, deuteten außerdem auf den Bestand des Tempels als Kirche Christi hin, die im Tabernakel, analog zur Bundeslade des Allerheiligsten, den Leib Christi aufbewahrt. Prominentestes Beispiel für die Verwendimg dieses architektonischen Motivs ist der Papstaltar sowie das Ciborium von Gian Lorenzo Bernini im Petersdom49 Die Anspielung auf den Topos des salomonischen Tempels als „Domus Sapientiae" zeigt sich in der zwischen 1642 und 1660 erbauten römischen Universitätskirche Sant' Ivo della Sapienza, deren Gestaltung die gegenreformatorische Vorstellung einer auf dem Wort Gottes gegründeten Kultur versinnbildlichen sollte.50 Der Architekt, Francesco Borromini, entwickelte den Grundriß aus der Figur des Sechssternes, sehr wahrscheinlich ein Hinweis auf das 45

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Siehe dazu Battisti, Roma apocalittica, S. 93 und von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 122. Diese Auffassung des alttes tarnentlichen Tempels als Symbol einer idealen Norm, die auch im Staat und in der Gesellschaft realisiert werden sollte, kommt im 17. Jahrhundert auch in den protestantischen Ländern zum Ausdruck. Siehe darüber Vogelsang, Archaische Utopien, S. 82-92. von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 142. lKön 7,15-21. Für weitere Beispiele siehe von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 139-154. Siehe dazu Pierre de la Ruffinifcre du Prey, „Solomonic Symbolism in Borromini's Church of S. Ivo alia Sapienza", in: Zeitschriftßr Kunstgeschichte 31 (1968), S. 216-232.

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„Siegel Salomos", worüber der Jesuit Athanasius Kircher (1601-1680), der als Ratgeber der Päpste einen großen Einfluß auch auf die Architektur ausübte, zu dieser Zeit geschrieben hatte.51 Die Verbindung zum „Domus Sapientiae" ist außerdem durch drei in einem Fries angebrachte Zitate aus dem Buch der Sprichwörter verdeutlicht, und zwar „Sapientia aedificavit sibi domum, excidit columnas Septem. Immolavit victimas suas, miscuit vinum et proposuit mensam et bibite vinum quod miscui vobis."52 In der Innendekoration aus Palmenzweigen und Engelsköpfen ist die Wirkung eines weiteren Jesuiten, Jaun Bautista Villalpando (1552-1608) erkennbar, dessen einflußreiche Tempelrekonstruktion nur wenige Jahrzehnte zuvor erschienen war.53 In der Restaurationspolitik der katholischen Kirche spielten vor allem die Jesuiten eine besondere Rolle, die in dem traditionsträchtigen Symbol des salomonischen Tempels ein ideales Darstellungsmodell ihrer kulturellen und politischen Vorstellungen fanden.

2. Der salomonische Tempel zwischen Utopie und historischer Rekonstruktion Das auf Origenes und auf Augustinus aufbauende mittelalterliche System der Bibelexegese ist nach einer hermeneutischen Theorie strukturiert, wonach das von Gott in der Bibel geofferibarte Wort einen vierfachen Sinn aufweist. Neben dem literal-historischen Buchstabensinn (sensus litteralis) erkennt die mittelalterliche Bibelexegese einen höheren, geistigen Sinn, der aufsteigend analogisch, tropologisch und anagogisch zu deuten ist.54 In der Summa Theologien faßt Thomas von Aquin diese Bibelauslegungsmethode folgendermaßen zusammen:

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A. Kircher, Oedipus Aegyptiacus, 3 Bde., Roma 1652-1654: Bd. 2/1, S. 397. Siehe auch von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 137,222 Anm. 413. Prv 9,1-2.5. von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 137. Dazu siehe Henri de Lubac, Exigese medievale, Bd. 1,1,2,11,1,2. B. Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1952; F. Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter", in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 80 (1958/59), S. 1-23 (= Darmstadt 1966). Auch die jüdische Tradition hat im Mittelalter eine eigene Vorstellung eines mehrfachen Schriftsinns entwickelt. Mit dem Akronym PARDES werden die vier Schriftsinne bezeichnet: Peshat (einfacher Wortsinn), Remez (allegorischer Sinn), Derash (rabbinisch-homiletische Auslegung) und Sod („Geheimnis", mystische Deutung). Umstritten ist die Beziehung zur christlichen Tradition. Siehe dazu Ch. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Köln 1996, S. 128-129.

Der salomonische Tempel zwischen Utopie und historischer Rekonstruktion

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Urheber der Heiligen Schrift ist Gott, in dessen Macht steht, um etwas zu bezeichnen und kundzugeben, nicht nur Worte zu verwenden, was auch der Mensch tun kann, sondern die Dinge selbst. Während also in allen Wissenschaften die Worte die Bezeichnungsfunktion ausführen, hat diese Wissenschaft das Eigentümliche, daß die durch die Worte bezeichneten Dinge selbst wieder etwas bezeichnen. Die erste Bedeutung also, nach der die Worte die Dinge bedeuten, wird durch den ersten „Sinn", nämlich den geschichtlichen oder Wort-Sinn, wiedergegeben. Die andere Bedeutung aber, wonach die mit den Worten bezeichneten Dinge selbst wieder andere Dinge bezeichnen, wird durch den geistigen Sinn wiedergegeben, der im Wortsinn gründet und diesen voraussetzt. Dieser geistige Sinn wird dreifach eingeteilt. So sagt zum Beispiel der Apostel in dem Brief an die Hebräer, Kapitel 7: „Das Alte Gesetz ist Vorbild des Neuen". Das Neue Gesetz selbst ist wiederum, wie Dionysius in der Ecclesiae Hierarchie5 sagt, Vorbild der zukünftigen Herrlichkeit. D.h.: auch im Neuen Gesetz ist das, was am Haupte [= Christus] geschehen ist, Zeichen und Vorbild dessen, was wir [= die Glieder] tun sollen. Soweit also die Geschehnisse des Alten Testamentes die des Neuen vorbilden, haben wir den allegorischen Sinn; soweit das, was an Christus selbst oder an seinen Vorbildern geschah, zum Vorbild und Zeichen für unser eigenes Handeln wird, haben wir den moralischen Sinn; soweit es aber das vorbildet, was in der ewigen Herrlichkeit sein wird, haben wir den anagogischen Sinn.56

Während der allegorische Sinn auf den heilsgeschichtlichen Aspekt des Textes hinweist, beleuchten der tropologische und der anagogische Sinn die moralische Anweisung beziehungsweise den eschatologischen Aspekt des entsprechenden Wortes oder Textes. Nach dieser Auslegungsmethode bezeichnet zum Beispiel das Wort „Jerusalem" in seinem wörtlich-historischen Sinn eine bestimmte Stadt in Palästina, im allegorischen die Kirche Christi, im tropologischen die Seele des Menschen und im anagogischen die himmlische 55 56

Siehe Dionysius Areopagita, PG 3, S. 502. Quaestio 1,10: „Auetor sacrae Scripturae est Deus, in cuius potestate est, ut non solum voces ad significandum accomodet, quod etiam homo facere potest, sed etiam res ipsas. Et ideo, cum in omnibus scientiis voces significent, hoc habet proprium ista scientia, quod ipsae res significatae per voces etiam significant aliquid. Illa ergo prima significatio, qua voces significant res, pertinet ad primum sensum, qui est sensus historicus vel litteralis. Illa vero significatio qua res significatae per voces, iterum res alias significant, didtur sensus spiritualis; qui super litteralem fundatur, et eum supponit. Hi autem sensus spiritualis trifariam dividitur. Sicut enim dicit Apostolus ad Hebr. 7: ,Lex vetus figura est novae legis', et ipsa nova lex, ut Dionysius dicit in Eccles. Hierarchia, est figura futurae gloriae: in nova etiam lege, ea quae in capite gesta sunt, sunt signa eorum quae nos agere debemus. Secundum ergo quod ea quae sunt veteris legis, significant ea quae sunt novae legis, est sensus allegoricus; secundum vero quod ea quae in Christo sunt facta, vel in iis quae Christum significant, sunt signa eorum quae nos agere debemus, est sensus moralis; prout vero significant ea quae sunt in aeterna gloria, est sensus anagogicus." Über den vierfachen Schriftsinn siehe auch Durandus, Rationale divinorum officiorum, Prohemium 9-12.

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Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae"

Gottesstadt. 57 Im Mittelpunkt des Interesses der mittelalterlichen Schriftauslegung steht vor allem der geistige Sinn des Textes. Das bezeichnende Wort und das bezeichnete Ding werden als Zeichen aufgefaßt, die auf eine höhere, geistige,

unsichtbare Realität verweisen.

Dabei kommt

dem

literarisch-

historischen Wortsinn und dem damit bezeichneten konkreten Ding der geringste Eigenwert zu, insofern dieses nur Träger des spirituellen Sinnes ist. 58 Auf den salomonischen Tempel angewandt, stellt dieses Interpretationsmodell hauptsächlich

die typologisch-allegorische 59

Bedeutung

des Tempels

als

Präfiguration der neutestamentlichen christlichen Kirche bzw. als Metapher des Leibes Christi heraus. 60

So bei Hrabanus Maurus (Migne, PL 112, Sp. 331): „Igitur praedictae quatuor figurae in unum ita si volumus confluunt, ut una eademque Hierusalem quadrifariam possit intelligi, secundum historiam civitas Judaeorum, secundum allegoriam Ecclesia Christi, secundum anagogen Civitas Dei, ilia coelestis, quae est mater omnium nostrum, secundum tropologiam anima hominis, quae frequenter hoc nomine increpatur aut laudatur a Domino." Grundlegend ist die insbesondere in De doctrina Christiana dargelegte augustinische Lehre über das Verhältnis von Zeichen und Sache (signum und res). Dazu siehe C. P. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus, Würzburg 1969 und H.-J. Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, München 1972, S. 9. Während die Allegorie, die schon in der Antike für die Mythendeutung angewandt wurde, die geistige Interpretation eines Wortes oder eines Dings zum Ziel hatte, ist die Typologie die heilsgeschichtliche Deutung historischer Geschehnisse, die nach dem Prinzip der Analogie in Vorbild und Spiegelbild gegliedert werden. Nach der typologischen Auslegungsmethode werden die alttestamentlichen Ereignisse als Vorbildung {praeftguratio) der neutestamentlichen, die als ihr Spiegelbild verstanden werden, aufgefaßt. Die zeitlich getrennten Ereignisse werden durch eine analogische Wechselbeziehung in einen Sinnbezug der Steigerung gesetzt, so daß sich das Alte im Neuen erfüllt. Nach dieser Interpretationsmethode wird das Neue Testament als die Vollendung dessen, was im Alten Testament ansatzweise im voraus dargestellt wird, ausgelegt. Siehe dazu Spitz, Die Metaphorik, S. 8-9. Über die geschichtliche Entwicklung der Typologie siehe E. Auerbach, „Figura", in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436-489; id., Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur, Krefeld 1953; id., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946 [Tübingen 1994]; F. Ohly, „Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung", in: Miscellanea Mediaevalia 4 (1966), S. 350-369 (= Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977 [1983], S. 313-337). Uber das Verhältnis der Auslegungsmethode der vierfachen Stufung des Schriftsinnes zu der Gebäudemetaphorik ist immer noch gültig die Arbeit von J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters: mit Berücksichtigung von Honorius Augustodunensis Sicardus und Durandus, Freiburg i. Br. 1902 [2. vermehrte Aufl., Freiburg i. Br. 1924 = Münster 1964]. Uber die theologische Interpretation des Tempels im Judentum und im frühen Christentum siehe G. Faßbeck, Der

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Neben dieser geistigen Interpretation des salomonischen Tempels bildete sich bereits in der patristischen Exegese der Gedanke heraus, daß der salomonische Tempel auch Prototyp des Kirchengebäudes sei. So war für Eusebius von Caesarea (265-339) eine ganz konkrete Kirche Nachbildung des Jerusalemer Tempels. In seiner Kirchengeschichte vergleicht er den Bauherrn der Kirche von Tyrus, den Bischof Paulinus, „der dem Tempel Gottes eine viel größere Pracht als die frühere verliehen hat,"61 mit dem König Salomo sowie mit Zorobabel und Bezaleel, der den Bau der Bundeslade und die Innenausstattung des Stiftszeltes ausgeführt hatte. Und für Theodoret von Cyrus (393-466) hatte Gott nicht David, sondern seinen Sohn Salomo zum Bauen des Tempels auserwählt, weil Salomo und sein Tempel auf Christus, den Gründer aller Kirchen, hindeute, der in seiner menschlichen Natur von David abstammte.62 Diese Vorstellung des Tempels als Prototyp des Kirchengebäudes führte zu einer neuen Besinnimg auf die konkrete Baugestalt des Tempels und zur Beachtung seiner biblischen Beschreibung. Die Aufmerksamkeit für den Buchstabensinn und das Bemühen um eine sorgfältige wörtliche Auslegung des Textes, um die Anschaulichkeit des beschriebenen Bauwerks zu vermitteln, unterscheidet den schmalen Ezechiel-Kommentar des Richard von St. Viktor (gest. 1173) von den anderen üblichen Kommentaren seiner Zeit. Die allegorisch-typologische Deutung des biblischen Textes wurde von Richard von St. Viktor zwar nicht abgelehnt, er betrachtete aber den wörtlichen Schriftsinn als die unentbehrliche Grundlage für die spirituelle Deutving.63 Um Klärung des historischen Schriftsinns bemühte sich auch der Franziskaner und Professor an der Sorbonne, Nikolaus von Lyra (um 12701340). In seiner zwischen 1322 und 1331 verfaßten Postillü litterulis super Bibliu

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Tempel der Christen. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Aufnahme des Tempelskonzepts im frühen Christentum, Tübingen/Bonn 2000. Eusebius, Historia ecclesiastica X,4. Zitiert nach Vogelsang, Archaische Utopien, S. 129. Theodoret, Quaestiones in librum I Paralipomenon, Cap. XXIV-XXV, PG 80, 811-814: „Itaque ob aliam causam, non ipse [das heißt David], sed eius filius templum aedificavit. Nam quoniam Christus, secundum carnem quidem Davidis filius, ut Deus autem, dominus et herus Davidis, erat aedificaturus ecclesias quae sunt in toto orbe terrarum, non sivit Davidem aedificare templum Judaicum: sed iussit illius filium hoc facere, cuius appellatio praefigurabat pacem nostri Servatoris [...]." Zitiert nach Vogelsang, Archaische Utopien, S. 122. Siehe auch von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 208 Anm. 123. Richard von St. Viktor, Opera Pars I. Exegetica: In Visionem Ezechielis, PL 196, S. 527: „Multis divinae Scriptuxae multo amplius dulcescunt, quando congruum in eis aliquem secundum litteram intellectum pereipere possunt. Et tunc, ut eis videtur, spiritualis intelligentiae structure firmius statuitur quando in historici sensus solido apte fundatur. Supervacuum enim et inane quis possit solidum aliquid fundare, vel firmiter statuere?"

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Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae"

überprüft er den Vulgata- anhand des hebräischen Textes und der jüdischen Kommentare, insbesondere des Kommentars des Rashi.64 Daraus resultiert eine synopsenartige Kommentargestaltung, einmal „secundum doctores catholicos" und daneben „secundum doctores hebreos", die auch zu einer doppelten Anordnung von den zur Erläuterung des Kommentars beigefügten Illustrationen führt. Abgesehen von dem Heranziehen jüdischer Quellen ist dennoch die Absicht von Nikolaus von Lyra die gleiche wie die des Richard von St. Viktor, nämlich ein besseres Verständnis des Textes, um eine zuverlässige Grundlage für die darauf bauende geistige Interpretation zu schaffen. Bei der Tempelbeschreibung unterscheidet Nikolaus von Lyra den salomonischen Tempel von dem der ezechielischen Vision. Dieser wird aber zuerst als konkretes Bauwerk verstanden und entsprechend den biblischen Angaben beschrieben. In seinem Kommentar führt dann Lyra den wörtlichen in den allegorischen Schriftsinn über: Der ezechielische Tempel ist für Lyra Symbol der Kirche Christi, und damit weist er die von Rashi vertretene rabbinische Interpretation zurück, die die ezechielische Tempelbeschreibimg als Entwurf des bei der Ankunft des Messias neu in Jerusalem zu errichtenden Tempels deutet. Durch die Geburt Christi sei die messianische Erwartung erfüllt worden - so Lyra - und der ezechielische Tempel in der neuen Kirche Realität geworden. Die Postilla des Nikolas von Lyra hatte einen großen und dauerhaften Rezeptionserfolg: Sie prägte bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts mit zahllosen Handschriften und Drucken die nachfolgende christliche Bibelexegese.65 Ahnlich angelegt sind die Commentaria des spanischen Theologen Alfonso Fernandez Madrigal Tostado de Ribera66 (1400-1455), Bischofs von Avila (daher auch „Abulensis" genannt), der neben Nikolaus von Lyra die weitere Entwicklung der christlichen Schriftexegese maßgeblich beeinflußte. Seine umfangreichen Kommentare zum Alten und Neuen Testament wurden nach der ersten venezianischen Ausgabe von 1507-1531 bis zur letzten von 1728 mehrmals aufgelegt. Die exegetische Arbeit des Nikolaus von Lyra war durch die Pariser Revision des Textes der Vulgata (zwischen 1236-1256) vorbereitet und hatte in

Lyra im zweiten Prolog der Postilla litteralis: „Similiter intendo non solum dicta doctorum catholicorum sed etiam hebraicorum, maxime Rabbi Salomonis [= Rashi, Abkürzung für Rabbi Shlomo ben Isaak], qui inter doctores hebreos locutus est rationabilius, ad declarationem sensus litteralis inducere." Vogelsang, Archaische Utopien, S. 143-146; auch von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 158. Siehe F. Stegmüller, „Alfonsus Tostatus de Madrigal", in: Lexikon fiir Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 1, Freiburg i. Br. 1957, Sp. 334.

Der salomonische Tempel zwischen Utopie und historischer Rekonstruktion

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Hugo Cardinalis67 (um 1200-1263) seinen Wegbereiter. Das humanistische Interesse an der hebräischen Sprache im 15. und 16. Jahrhundert, als die Kenntnis der hebräischen Sprache neben Latein und Griechisch die ideale Bildung des „homo trilinguis"68 darstellte, förderte die philologische Forschung am biblischen Text und stellte den wörtlich-historischen Schriftsinn in den Vordergrund. Die textgetreuen Rekonstruktionen des salomonischen Tempels durch die Hebraisten dieser Zeit dienten nicht mehr vorwiegend zum Verständnis der Bedeutung des Tempels als Typus der Kirche Christi, vielmehr sind sie als Ausdruck des humanistischen antiquarischen Interesses anzusehen. Wie eine philologisch ausgerichtete Bibelexegese die Ikonographie des salomonischen Tempels beeinflußte, zeigen die fünf Holzschnitte, die der Verleger Robert Estienne (Paris 1503-Genf 1559) als Anhang zu seiner Pariser Bibelausgabe von 1540 beigab.69 Zwei der Holzschnitte betreffen die Rekonstruktion der Tempelanlage sowie des Tempelgebäudes, einmal mit und einmal ohne Dach aus der Vogelperspektive. Von den früheren Rekonstruktionen von Richard von St. Viktor und von Nikolaus von Lyra zeichnen sich die Darstellungen der EstienneBibeledition durch ihr Bestreben aus, den Grundriß der Tempelanlage textgetreu wiederzugeben, wobei fast völlig darauf verzichtet wurde, die Tempelgebäude mit zeitgenössischen Bauelementen zu schmücken. Die offenen Rundbogenportale, ihre Architrave mit Rollwerkaufsätzen und das Kranzgesims, das das schmale, langrechteckige Tempelgebäude mit Flachdach abschließt, sind die einzigen Konzessionen an die zeitgenössische Baukunst. Der Name des

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Uber Huge von St. Cher (nahe Vienne) siehe Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 5, Freiburg i.Br. I960, Sp. 517-518. Über die Vulgata siehe S. Berger, Histoire de la Vulgate pendant les premiers siecles du moyen äge, Paris 1893 [=Burt Franklin Bibliographical Series, Bd. 14, New York 1958], Als „trilinguis" hatte sich schon Hieronymus bezeichnet, um seine Kenntnisse in der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache hervorzuheben, so zum Beispiel in Contra Rufinum 11,22,25: „Ergo et apostoli, et apostolici viri, qui Unguis loquebantur, in crimine sunt, et me trilinguem bilinguis ipse ridebis?" und weiter 111,6,25: „Ego philosophus, rhetor, grammaticus, dialecticus, hebraeus, graecus, latinus, trilinguis." Im Humanismus wurde „homo trilinguis" genannt, wer außer Latein auch Griechisch und Hebräisch kannte. Erasmus zum Beispiel erwähnt einen Humanisten und Hebraisten wie Reuchlin mit folgenden lobenden Worten: „Egregius ille trilinguis eruditionis phoenix" (Colloquia familiaria, XVII Apotheosis Capnionis). Über die Bedeutung der hebräischen Sprache in der humanistischen Bildung siehe I. Zinguer (Hrsg.), L' hibreu au temps de la Renaissance, Leiden/New York/Köln 1992. Nach dieser ersten Ausgabe von 1540 wurden die Holzschnitte in weiteren EstienneBibeleditionen in lateinischer und französischer Sprache wiederverwendet, und zwar Paris 1545, 1546, Genf 1557, 1565, Frankfurt 1571 (lateinische Ausgaben), Lyon 1551, Genf 1560, Paris 1566 und 1573 (französische Ausgaben). Siehe darüber Vogelsang, Ardmische Utopien, S. 153, 531 Anm. 626; von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 227 Anm. 468.

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Künstlers, der diese Holzschnitte geschaffen hat, ist unbekannt. Fest steht aber, daß sie entsprechend den Kommentaren und Überlegungen des französischen Hebraisten und Professors an der College de France, Fran?ois Vatable (gest. 1547), entworfen wurden. Vatable selbst hinterließ zwar keine Veröffentlichungen, die Mitschriften seiner Vorlesungen gelangten aber an Robert Estienne, der sie für die Illustration der Tempelbeschreibung verwendete. Eine weitere Tempelrekonstruktion, die eine noch größere Resonanz finden sollte, war die des spanischen Theologen und Orientalisten Benito (oder Benedito) Arias, genannt Montano (1527-1598).70 Sein Lebenswerk war die Antwerpener Polyglotten-Bibel „Biblia Regia", so genannt nach dem königlichen Auftraggeber Philipp II. von Spanien, oder auch „Plantiniana", nach dem Drucker Christopherus Plantinus, deren Editionsarbeiten Arias von 1568 bis 1572 leitete.71 Arias lehnte die traditionelle allegorische Auslegung sowie die zu dieser Zeit geläufigen mystisch-hermetischen Spekulationen ab. Entsprechend seiner historisch-kritischen Einstellung betrachtete Arias den salomonischen Tempel nicht als Werk Gottes, das die Grundsätze einer universal geltenden göttlichen Ordnung widerspiegele, sondern als ein zeitbedingtes Menschenwerk, das wie andere Bauten verschiedene Schicksale und Veränderungen erfahren habe. In Übereinstimmung mit den historischen Quellen unterscheidet Arias zwischen drei Tempelbauten: dem salomonischen, dem serubbabelschen und dem herodianischen, für deren Beschreibungen er neben der Bibel nach dem hebräischen Text auch die Erläuterungen der Mischna, der Haggada und jüdischer Exegeten, wie R. David Qimhi und R. Levi ben Gershon, heranzieht. Eine Rekonstruktion des ezechielischen Tempels lehnt er als historisch unbegründbar ab, zieht aber die Maßangaben des Buches Ezechiel als Ergänzung zu den anderen biblischen Tempelbeschreibungen hinzu.72 Die Herausgabe der Polyglotte brachte Arias Ruhm ein, aber seine rationalistisch-kritische 70

Uber Arias Montano siehe: A. Scheler, „Geschichte der Entstehung der berühmten Plantinschen Polyglottenbibel und Biographie des mit dieser beauftragten Arias Montano", in: Serapeum (1845), S. 265-272; F. G. Bell, Benito Arias Montano, London 1922; L. Pfandl, Geschichte der spanischen Nationalliteratur, Freiburg i.Br. 1929; J. Carreras y Artau, s.v. „Arias, Benito, gen. Montanus", in: Lexikon fiir Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 1, Freiburg i. Br. 1957, Sp. 849.

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Biblia Sacra. Hebraice, Chaldaice, Graece et Latine. Philippi II. Reg. Cathol. Pietate et studio ad sacrosanctae Ecclesiae usum. Antwerpiae, Christoph. Plantinus (1569-1572) in 8 Bänden. Mit dem Jerusalemer Tempel beschäftigt sich Arias ausführlich in seiner Schrift Exemplar sive de sacris fabricis liber in Communes et familiares hebraicae linguae idiotismi, omnibus Bibliorum interpretationibus, ac praeeipue latinae Santis Pagnini versioni accomodati, atque ex variis doctorum virorum laboribus et observationibus selecti et explicati; Benedicti Ariae Montani Hispalensis Opera. Ad Sacrorum Bibliorum Apparatum. Antwerpiae exeudebat Christopherus Plantinus Prototypographus Regius. Anno 1572, einer seiner gelehrten historischen und geographischen Abhandlungen, die im 7. Band der Polyglotte enthalten sind.

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Haltung gegenüber den Aussagen der Bibel, die Verwendung jüdischer Quellen und der Targumim verstießen gegen den traditionsbewußten Geist der Gegenreformation. Leon de Castro, Professor in Salamanca, klagte Arias Montano als der Ketzerei, der Neigung zum Judentum und der Fälschung von Bibeltexten verdächtig vor der Inquisition an, weil er die Targume in die Polyglotte aufgenommen und sich über die Jesuiten frei ausgesprochen habe. Arias mußte mehrfach nach Rom reisen; es gelang ihm aber, sich zu rechtfertigen, so daß er freigesprochen wurde. Seine Auseinandersetzung mit den Jesuiten betraf unter anderem die Rekonstruktionsvorstellungen sowie die symbolischen Bedeutungen des Jerusalemer Tempels. Denn die Auffassung von Arias über den salomonischen Tempel stand entschieden im Gegensatz zu den weitreichenden mystischen, hermetischen Vorstellungen des spanischen Jesuiten Juan Bautista Villalpando (um 1552-1608), dessen Ezechiel-Kommentar Arias Montano noch vor der Veröffentlichung bekannt war.73 Der Grundgedanke einer konventionellen Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn, wonach die zukünftige Kirche Christi in der auf den salomonischen Tempel zurückverweisenden Tempelvision Ezechiels symbolisch angekündigt wird, steigert sich in dem monumentalen Werk Villalpandos zu einem spekulativen Theorieentwurf. Im Gegensatz zu Arias Montano hält Villalpando den Jerusalemer Tempel für ein von Gott inspiriertes Bauwerk, dessen Bauplanung und Proportionen in zweifacher Weise Salomo und dem Propheten Ezechiel geoffenbart wurden. Das aufgrund seines göttlichen Ursprungs vollkommene Bauwerk ist für Villalpando der Archetypus aller 73

Siehe R. C. Taylor, „El padre Villalpando (1552-1608) y suas ideas estheticas", in: Academia. Anales y Boletitt de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando ΠΙ/1 (19511952), S. 409-473: 409; A. Rodriquez y Gutierrez de Ceballos, „Juan de Herrera y los jesuitas Villalpando, Valeriani, Ruiz, Tolosa", in: Architrum historicum Societatis Iesu 35 (1966), S. 285-321. Uber Villalpandos Leben ist wenig bekannt. Geboren um 1552 in Cordoba trat er 1575 (oder vielleicht 1574) dem Jesuitenorden bei. Unter Anleitung von Juan de Herrera studierte Villalpando Mathematik und Architektur. Seit 1583 arbeitete Villalpando zusammen mit dem Mitbruder Jerönimo Prado (1547-1595) an dem Ezechiel-Kommentar. Vermutlich in Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Ezechiel-Kommentars unternahm Villalpando 1592 eine Reise nach Rom und starb 1608 wahrscheinlich auch dort. Zusammen mit Jerönimo Prado verfaßte Villalpando einen sehr ausführlichen Kommentar zum Buch Ezechiel in drei Bänden: Hieronymi Prodi et loannis Baptistae Vülalpandi e Societate Iesu In Ezechielem explanationes et apparatus urbis, ac templi Hierosolymitani commentariis et imaginibus illustratus opus tribus tomis distinctum, quid vero singulis amtineatur, quarta pagina indicabit, Romae 1596-1605. Von dem dreibändigen Werk sind nur die letzten zwei Villalpando zuzuschreiben. Der erste Band, ein konventioneller Kommentar der ersten 28 Kapitel des Buches Ezechiel, wurde hingegen von Jerönimo Prado verfaßt.

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Architektur. Nach der humanistischen Auffassung der Zeit galten aber die vitruvianischen Proportionsgesetze als Maßstab jedes vollendeten Bauens. Villalpando bemüht sich daher nachzuweisen, daß die Strukturierung der gesamten Tempelanlage und die Maßverhältnisse der einzelnen Bauelemente zueinander die gleichen anthropometrischen und musikalischen Proportionen der vitruvianischen Architekturtheorie aufweisen. So stellt Villalpando die Grundlage der Säulengänge zwischen den Höfen des Tempels entsprechend den anthropometrischen Proportionsvorstellungen Vitruvs dar, und ebenso sich auf Vitruv beziehend wird das Gebälk des Tempels nach musikalischen Zahlenverhältnissen rekonstruiert. 74 Die nach den ästhetischen Grundsätzen der klassischen Architektur erläuterte biblische Tempelbeschreibung wird im Sinne der pythagoreisch-platonischen Vorstellungen dieser Zeit unter Berufung auf Philo von Alexandrien (De Vita Mosis ΙΠ) darüber hinaus ins Kosmologische erweitert. Denn Villalpando bringt die quadratische Grundrißdisposition der Tempelanlage, deren innere Unterteilung durch je vier symmetrische Längs- und Quertrakte in weitere neun quadratische Innenhöfe auf die Anordnung der Lager der zwölf Stämme Israels um die Bundeslade zurückgeführt wird, mit den Tierkreiszeichen in Zusammenhang und ordnet die vier Außenmauern des innersten Quadrats den vier Grundelementen sowie die sieben 75 quadratischen Höfe den sieben Planeten zu. 76 Die Maße des Jerusalemer Tempels spiegeln also für Villalpando die gleichen Gesetzmäßigkeiten wider, die im menschlichen Körper (Mikrokosmos) und in der Welt (Makrokosmos) erkennbar sind.77 In dem nach den göttlichen Anweisungen errichteten Tempelgebäude sieht Villalpando die Veranschaulichung jener Universalharmonie, die der gesamten göttlichen Schöpfung zugrunde liegt und das Zusammenhängen aller ihrer Teile bestimmt. 78 Vor diesem Hintergrund bekommt die Tempelrekonstruktion Villalpandos, die in ihrer Grundkonzeption gleichermaßen der Beschreibung der ezechielischen Vision als Präfiguration der Kirche Christi wie der Offenbarungsvision des Johannes als Präfiguration des Himmlischen Jerusalem entspricht, eine besondere Bedeutung, die weit über die religiöse Allegorese hinausgeht und politische und soziale Aspekte

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Villalpando, In Ezechielem Explanations, Bd. 2, Roma 1604, S. 448, 471. Siehe auch von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 174-177. Von den neun quadratischen Innenhöfen sind zwei zur Bildung des innersten Hofes, wo der Brandopferaltar und das Tempelhaus standen, vereinigt. Villalpando, In Ezechielem Explanationes, S. 469: „Atria vero septem nullus est qui non videat totidem indicare posse errantes stellas, quas planetas vocant Astrologi." Ibid., S. 470: „Neque vero in hoc aedificio humanis commodis et utilitati dicato deesse potuit similitude, quasi minoris cuiusdam mundi, qui ex quatuor constatur humoribus, ut elementis mundus, et duodecim stellis deducitur per septem vitae huius aetates etc." Siehe oben S. 105 Anm. 218.

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aufweist. Angesichts der Brüchigkeit des Staats- und Soziallebens gewinnt der historisch-biblische Tempelbau Salomos paradigmatischen Charakter für das 17. Jahrhundert. In seiner doppelten Funktion von religiösem Zentrum als Gotteshaus und von Staatsverwaltung als Sitz verschiedener Ämter (Steuerund Schatzverwaltung, Gerichtsstätte, Gesundheitswesen) und auch wegen seiner Lage in der unmittelbaren Nähe zum Königspalast versinnbildlicht der Tempelkomplex darüber hinaus eine durch göttlichen Willen institutionalisierte politische und soziale Ordnung. Der Tempel als ideales, vollkommenes Kunstwerk, dessen Architektur von universalgültigen, weil von Gott selbst stammenden, mathematisch-kosmologischen Proportionsgesetzen geregelt ist, wird zum utopischen Abbild einer von Gott gesetzten, unabänderlichen Norm, nach der die Sozialstruktur und das politische Leben gestaltet werden sollen. Der sich verändernden Wirklichkeit wird eine stabile, statische soziale und politische Ordnung entgegengesetzt, die in der Bibel ihr Modell hat. Von solchen Überlegungen ist auch der Entwurf des Escorial inspiriert worden, dessen quadratischer Grundriß mit symmetrisch eingeteilten Innenhöfen und der zentral herausragenden Kirche deutliche Anspielungen auf den salomonischen Tempel aufweist. In seiner doppelten Funktion als königlicher Sitz und als Kloster ist der Escorial die architektonische Darstellung einer sakralen Konzeption der weltlichen Macht, die in König Salomo und in dem von ihm errichteten Tempel ihr biblisches Vorbild hat.79 Kaum erklärbar ist die gegenseitige Beeinflussimg zwischen dem Bau des Escorial und der Tempelrekonstruktion Villalpandos auch angesichts der Beziehungen zwischen Villalpando und dem zweiten Architekten des Escorial Juan de Herrera. Wenn man die Chronologie der Ausführung der Bauarbeiten am Escorial und der Ausgabe des Ezechiel-Kommentars berücksichtigt, wäre anzunehmen, daß Villalpando von seinem Lehrer angeregt wurde, sich für den salomonischen Tempel zu interessieren. Die Bauarbeiten am Escorial begannen 1563 nach dem Entwurf von Juan Bautista de Toledo. Bei dessen Tod 1567 war nur ein geringer Teil des Baukomplexes fertiggestellt. Von 1567 bis zur Vollendung des Escorial 1586 übernahm Juan de Herrera die weitere Bauleitung 79

Siehe Cornelia von der Osten-Sacken, San Lorenzo el Real de El Escorial. Studien zur Baugeschichte und Ikonologie, Mittenwald 1979, S. 207-216. Skeptisch bezüglich eines direkten Zusammenhangs zwischen dem Escorial und dem Jerusalemer Tempel ist dagegen Sylvaine Hansel, „Architektur des 16. Jahrhunderts. Das Kloster San Lorenzo de El Escorial", in: S. Hänsel/H. Karge (Hrsg.), Spanische Kunstgeschichte. Eine Einfiihrung, Berlin 1992, Bd. 2, S. 9-30; beide zitiert nach von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 231 Anm. 511. Nach der jüngsten Forschung läßt sich jedoch die Interpretation des Escorial als neuer salomonischer Tempel durch historische Dokumente belegen. Dazu siehe zum Beispiel J. R. de la Cuadra Blanco, „El Escorial y el Templo de Salomon", in: Anales de Arquitectura 7 (19%), S. 5-15; id., „El Escorial y la recreacion de los modelos histöricos", in: Arquitectura 311 (1997), S. 47-52.

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und modifizierte teilweise die ursprüngliche Planung. Der Escorial war also zehn Jahre vor dem Druck des ersten Bandes des Kommentars von PradoVillalpando errichtet. Dennoch: Noch vor Erscheinen seines Werkes waren die Ideen Villalpandos über den Jerusalemer Tempel bekannt. Arias Montano hatte sie in seinem Bibelkommentar kritisiert und widerlegt, während sich Herrera dagegen über die Tempelauffassung Villalpandos in enthusiastischen Tönen geäußert hatte.80 Außerdem legte Villalpando schon 1580 dem König Philipp Π. einen Grundriß des salomonischen Tempels nach seinen Vorstellungen vor und könnte damit die Bauplanung des Escorial beeinflußt haben. Wie auch immer: Die Tempelrekonstruktion Villalpandos und der Baukomplex des Escorial sind die architektonische Verkörperung einer Auffassung der Weltordnung und eines politischen Ideals, die den Restaurationsbestrebungen der katholischen Kirche entsprachen und am Hofe Philipps II. große Resonanz fanden. An ihrer Gestaltung und Verbreitung waren vor allem die Jesuiten beteiligt. Wegen seiner vielseitigen Interpretationsmöglichkeit sowohl im Sinne der traditionellen Schriftexegese als auch im kosmologisch-staatstheoretischen Sinne als Abbild einer absoluten universalen Ordnimg und einer theokratischmetaphysisch begründeten Herrschaft wurde der salomonische Tempel zu einem beliebten Leitmotiv der jesuitischen Publizistik. Schon vor Villalpando hatte der Jesuit Francisco (de) Ribera (Villacastin/Segovia 1537-Salamanca 1591), Professor für Bibelexegese am Kolleg in Salamanca, eine Tempelbeschreibung in fünf Büchern nach dem vierfachen Schriftsinn abgefaßt.81 Im Vordergrund steht die mystische Interpretation des Tempels als Vorbild der Ecclesia Christi und der Himmelsstadt der Apokalypse. Manchmal erfolgte die Tempelbeschreibung innerhalb exegetischer Abhandlungen. So zum Beispiel bei Johannes Maldonatus,82 in dessen Werken apologetische Töne und rhetorische Gewandtheit gegen Calvinisten und Lutheraner die historischen und philologischen Interessen überwiegen.

Über die Meinung von Juan de Herrera über die Tempelrekonstruktion Villalpandos siehe Bd. 2, S. 18 des Ezechiel-Kommentars. Siehe dazu auch von Naredi-Rainer, Salomes Tempel, S. 185. De Templo, et de iis quae ad templum pertinent, libri quinque, Salamanca 1591 (Lugduni 1592, Antwerpen 1593,1602). Johannes Maldonatus (Las Casas de la Reina 1534-Rom 1583), spanischer Jesuit, war Lehrer für Philosophie in Paris und ab 1581 an der Septuaginta-Ausgabe in Rom beteiligt. Er ist Autor der Commentarii in Prophetas IIII: Jeremiam, Baruch, Ezechielem et Danielem. Accessit expositio Psalmi CIX et epistola de collatione Sedanensi cum Calvinianis, Köln/Mainz 1611 [Universitätsbibliothek zu Halle-Wittenberg Signatur: AB 59 408]. Für die hier kurz skizzierte Darstellung der jesuitischen Abhandlungen über den salomonischen Tempel beziehe ich mich auf Vogelsang, Archaische Utopien, S. 175ff.

Der salomonische Tempel zwischen Utopie und historischer Rekonstruktion

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Im zweiten Band seiner Commentaria83 (im 3. Buch, Kapitel X-XL, S. 166195) beschäftigt sich der portugiesische Jesuit Sebastian Barradas mit dem Jerusalemer Tempel. Trotz wahrscheinlicher Beeinflussungen Villalpandos unterscheidet Barradas entsprechend den biblischen Berichten zwischen den drei historischen Tempelbauten, dem salomonischen, dem serubbabelschen und dem herodianischen, ohne dabei den ezechielischen Tempel zu berücksichtigen. Außer der Baugestalt des Tempelhauses beschreibt Barradas auch die Tempelgeräte und die liturgische Ordnung. Neben der Bibel ist Flavius Josephus die Hauptquelle Barradas. Das Erscheinen von Villalpandos Ezechiel-Kommentar prägte maßgeblich die nachfolgende Tempelrezeption und löste eine heftige Auseinandersetzung aus. Seine Spekulationen wurden auch von anderen Mitgliedern des Jesuitenordens geteilt. Zu den ersten geradezu begeisterten Bewunderern Villalpandos gehörte der spanische Jesuit Johannes de Pineda.84 De rebus Salomonis Regis libri octo (Lyon 1609; 2. Auflage Mainz 1613) ist eine exegetische Deutung des Lebens und der Taten Salomos mit Blick auf das Neue Testament als Präfiguration des Lebens Christi und seiner Kirche. Für die Beschreibung des salomonischen Tempels (im 5. Buch, Kapitel 5) folgt de Pineda Villalpando getreulich, auch teilweise gegen Flavius Josephus. Mit Villalpando übereinstimmend betrachtet de Pineda die quadratische Anlage des Tempelareals und der Himmelsstadt der Apokalypse, die als Tempel interpretiert wird, als Symbol für den Zusammenhang zwischen den Proportionen des menschlichen Körpers und des Kosmos.85 Ein anderer Jesuit, Martin Esteban, verfaßte 1617 auf Spanisch eine Zusammenfassung des Kommentars Villalpandos (Compendio del Rico Aparato y hermosa Architectura del Templo de Salomon, Alcalä de Henares 1617) und trug damit zur Popularisierung der Tempelrekonstruktion Villalpandos bei. Auf das Compendio von Martin Esteban berief sich der Jesuit Fray Lorenzo de San Nicolas, dessen 1617 verfaßter Architekturtraktat Arte y uso de Architectura erst 1736 in Madrid gedruckt wurde. Ein wesentlicher Teil des Traktates befaßt sich mit der Frage des Kirchenbaus und mit der Anforderung des Tridentiner Konzils, den kreuzförmigen Langhaustypus gegenüber dem

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R. P. Sebastiani Barradi, Olisiponensis et Societate Iesu Doctoris Theologi, in Eborensi Academia quondam Sacrarum Literarum professoris, Commentaria in amcordiam et historiam evangelicam, Moguntiae 1627. Erste Auflage Coimbra 1599. Johannes de Pineda (Sevilla 1558-1637) war vermutlich jüdischer Abstammung. Er lehrte 18 Jahre lang Bibelexegese in Cördoba, Sevilla und Madrid. Seit 1628 bekleidete er das Amt des Generalvisitors der spanischen Bibliotheken. De rebus Salomonis Regis libri octo VA S. 338.

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Zentralbau zu bevorzugen. Fray Lorenzo sieht in dem Jerusalemer Tempel den biblischen Prototyp dieser architektonischen Form.86 Mit Villalpandos Vorstellungen anthropometrischer Proportionen im salomonischen Tempel entsprechend der vitruvianischen Architekturtheorie stimmt auch der belgische Jesuit Cornelius Cornells a Lapide überein.87 Seine exegetischen Traktate88 sind im Sinne der Gegenreformation nach der traditionellen vierfachen Auslegung strukturiert, wobei dem „sensus litteralis" keine große Bedeutung beigemessen wird. Der salomonische Tempel wird allegorisch als „Ecclesia Christi" gedeutet, tropologisch als die Seele des Gläubigen, anagogisch als der himmlische Tempel. Diese allegorische Interpretation wurde von Jacobus Tirinus, einem Schüler von Cornells a Lapide, in seinem Commentarius in Vetus et Novum Testamentum (3 Bde., Antwerpen 1632 und bis 1882 mehrmals nachgedruckt) aufgenommen.89 Für die Rekonstruktion des Jerusalemer Tempels verweist Tirinus kurz auf Villalpando. Mit der Rekonstruktion Villalpandos stimmt auch die Tempeldarstellung überein, die der Jesuit Giovanni Stefano Menochio (1575-1656) in seiner De Republica Hebraeorum libri octo (Paris 1648) darlegte.90 Die Tempelauffassimg Villalpandos stieß aber zugleich auch innerhalb der katholischen Kirche auf Kritik und Ablehnung. Einer der ersten Kritiker der Thesen Villalpandos war der Barnabit Agostino Tornielli.91 In seinen noch im 86

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Fray Lorenzo de San Nicolas, Arte y uso de Architecture Madrid 1736, S. 49: „En el Templo de Gerusalen, traza que fue dada por el Espiritu Santo, loque se llamaba Sancta Sanctorum, ο Casa de Dios, fue edificado en forma de cruz; y assi lo muestro el Padre Martin Esteben en su Compendio de Aparato, y hermosa Arquitectura del Templo de Gerusalen. Fui traza segün las que aora se hacen a lo moderno." Zitiert nach Vogelsang, Archaische Utopien, S. 353. Latinisierter Name für Cornells Cornelissen van den Steen (Borchoet bei Lüttich 1567Rom 1637). Er besuchte die Jesuitenkollegien in Maastricht, Köln, Douai und Löwen. 1596 wurde er Professor für Bibelexegese und hebräische Sprache in Löwen. 1616 wurde er in das Collegium Romanum berufen. Commentaria in quatuor Prophetas Maiores: Isaias, Jeremias, Ezechiel et Daniel. Auetore R. P. Cornelia Cornelii α Lapide, e Societate Iesu, olim in Laoaniensi, nunc in Romano Collegio Sacrarum Litterarum Professore, Antwerpiae, apud Martinum Nutium et Fratres anno 1622. Jakob Tierens/Le Thiry (Antwerpen 1580-1636), Jesuit. Auszüge aus dem Commentarius sind in die Biblia Magna Commentariorum Literalium (5 Bde., Paris 1643) aufgenommen worden. Die Beschreibung des salomonischen Tempels findet sich im 5. Buch, Kapitel 8 „De Templo Ierosolymitano a Salomone aedificato", Sp. 436-445 [Universitätsbibliothek zu Halle-Wittenberg, Signatur: lc 2043,20], Agostino Tornielli (Marengo 1543-Mailand 1622), Kirchenhistoriker und Ordensgeneral der Barnabiten. Autor der Annales Sacri ex Profanis praeeipui, ab orbe condito, ad eundem Christi passieme redemptum, cum Sacrosanctae Scripturae et Ethnicorum collatis inter

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Sinne der mittelalterlichen heilsgeschichtlichen Auffassung der Weltchronik aufgebauten Annales widerlegt Tornielli Villalpandos Geschichtsbild des Jerusalemer Tempels. Für Tornielli ist die Kernthese Villalpandos, der Tempel der ezechielischen Vision sei mit dem salomonischen identisch, historisch und philologisch unvertretbar. Beschreibungsunterschiede zwischen den beiden Gebäuden, wie etwa bezüglich der Zellen um das Tempelhaus, widersprächen der These Villalpandos. Die ezechielische Beschreibung sei eher auf den serubbabelschen und herodianischen Tempel zu beziehen. Ebenso historisch falsch ist für Tornielli der Versuch Villalpandos, den gleichen klassischen Architekturstil im salomonischen Tempel nachzuweisen. Denn jede Epoche, so Tornielli, entwickelt ihre eigene Architektur und führt - leider nicht immer zum Besseren - Neuerungen ein. Zu Zeiten Salomos unterschied sich der Baustil in Syrien von dem späteren der Griechen und der Römer genauso sehr wie die moderne Architektur von der mehr als 200 Jahre alten Gotik.92 Dementsprechend bemüht sich Tornielli in seiner Darstellung, den Tempel als ein auf eine sehr alte Zeit zurückgehendes Bauwerk zu charakterisieren, indem „primitive" Aspekte seiner Architektur akzentuiert werden. Im Gegensatz zu den weitläufigen, symmetrisch angeordneten und klassisch proportionierten Gebäudeeinheiten Villalpandos zeigt Tornielli in Anspielung auf die Rekonstruktion von Vatables einen blockhaften Bau am Westende der vorgelagerten Tempelhöfe. Villalpandos aufwendige, von über 1500 Säulen rhythmisch gegliederte Prachtarchitektur ändert sich in Torniellis Rekonstruktion zu

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se ad veritatem temporibus vere ordinateque dispositi. Auetore Augustino Torniello, Novariensi, Congregationis S. Pauli Clerico Regulari, Opus eximium illustr. cardinalis Baronij Annalibus praevium & connexum, [...] nunc primum editum. Cum figuris aeneis. Prostant Francofurti: apud loannem Theobaldum Schon Wetterum, 1611. Erste Auflage Mailand 1609 und weiter bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nachgedruckt. Annales, Antwerpen 1620, Bd. 2, S. 12: „Et haec sunt quae de externo intimi Tempil ornatu ex Sacris libris colligi posse videntur. Utrum autem insuper idem Templum, ab extra tot talibusque architecturae ordinibus, atque ornamentis fabrefactum esset, quot qualibusque ipsum repraesentat Villalpandus in suis elegantissimis eiusdem Tempil descriptionibus ac typis, affirmare non ausim, cum probabilius sit, illis temporibus architecturae artem, nondum adeo fuisse perfectam, quin etiam omnino convinci posse non videatur, tunc temporis eximios illos eiusdem artis ordines regulasque in usu fuisse apud Hebraeos, quae postea apud Graecos ac Romanos excellenter admodum floruerunt. Quem ad modum enim ab his valde differet illud architecturae genus, quod ducentis et amplius ab hinc annis, in Germaniae regionibus, vigebat, ac etiam in Italiam introduci coeperat, et ad cuius normam templum maius Mediolani aedificatum videmus. Ita potuit illud, quo in Syria, Salomone vivente, uti consueverant, in multis differre ab eo, quod deinde Graeci, Romanique in usum induxerunt. Solent enim tempore a prioribus diversa introducere, aliquando quidem priscis minus perfecta, ut plurimum autem multo perfectiora" [Universitätsbibliothek zu Halle-Wittenberg, Signatur: lc 1592].

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einem massiven Mauerwerk mit winzigen, schartenartigen Fenstern. Dennoch kann sich Tornielli dem suggestiven Vorbild Villalpandos nicht völlig entziehen: Die Säule Jachin und Boaz gestaltet er zwar disproportionierter und ungefüger, aber dennoch stimmt er in ihrer Ornamentation mit Villalpando überein.93 Die Idee der Identität des salomonischen mit dem ezechielischenTempel sowie die kosmologischen Spekulationen Villalpandos wurden auch von Caramuel94 kritisiert. Wegen seines Rationalismus sind ihm die neuplatonischen Vorstellungen Villalpandos und dessen theologische Darstellung der Geschichte und der Weltordnimg, die er vom Jerusalemer Tempel ableitet, fremd. Vielmehr weist die Architekturauffassung Caramuels schon einige Ideen auf, die später von den Uluministen entwickelt werden.95 Entsprechend seinem Probabilismus96 bestreitet er die absolute und allgemeine Geltung eines idealen

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Vogelsang, Archaische Utopien, S. 189-190. Juan Caramuel von Lobkowitz (Madrid 1606-Vigevano 1682), spanischer Zisterzienser und Universalgelehrter des 17. Jahrhunderts, der in seiner Zeit bewundert wurde. Seine hinterlassenen Schriften umfassen 262 Titel in meist mehrbändigen Folioausgaben! Mit dem salomonischen Tempel und der Rekonstruktion Villalpandos setzt er sich auseinander in seinem Traktat Architectura civil recta y obliqua, considerada y dibuxada en el Templo de Jerusalem [...] promovida a suma perfeccion en el templo y palacio de S. Lorengo cerca del Escurial que inoento con su divino ingenio, delineo y dibuxo con su Real mano, y con excessivos gestos empleando lo mejores architectos de Europa erigio el Rey D. Philippe II. Por Don Juan Caramuel. En Vegeoen. En la Emprenta Obispal. Por Camillo Corrado, 1678 [Nachdruck Madrid 1984, Vigevano 1997]. Über Caramuel siehe D. Pastine, Juan Caramuel: probabüismo ed enciclopedia, Firenze 1975. J. A. Ramirez, „Caramuel: Probabilista eclectico y ,deconstructor"', in: J. A. Ramirez/A. Corboz/R. Taylor/R. Jan van Pelt (Hrsg.), Dios arquitecto. J. B. Villalpando y el templo de Salomon, Madrid 1991 [1994], S. 109-114:110. Bezüglich der Frage der moralischen Verbindlichkeit eines „zweifelhaften" Gesetzes, wenn nämlich anzunehmen ist („opinio probabilis"), daß erhebliche Wahrscheinlichkeitsgründe gegen seine Geltung sprechen, wurde die Morallehre aufgestellt, daß ein solches Gesetz nicht einzuhalten sei („Lex dubia non obligat"). Diese vor allem von Jesuiten vertretene probabilistische Moralauffassung wurde von Jansenisten und auch von Dominikanern angefochten und die Geltung auch eines solch zweifelhaften Gesetzes verteidigt („Tutiorismus"). Siehe dazu K. Hörmann, s.v. „Moralsysteme", in: Lexikon der christlichen Moral 1976, Sp. 1097-1099. Caramuel war an den Moralstreitigkeiten seiner Zeit stark beteiligt. Als Vertreter des Probabilismus versuchte er in seiner Dialexis de non-certitudine (1675), den Probabilismus erkenntnistheoretisch zu begründen, und erhoffte dadurch die Aufstellung einer „moralischen Wissenschaft", die von der natürlichen gut abgegrenzt ist und eine eigene Logik besitzt, die von der aristotelischen verschieden ist. Das ist die „logica moralis" oder sogar „logica caramuela": Wahrheit ist zum Beispiel nicht „index sui", sondern erträgt ein „minus" oder „maius". Siehe J. Schmutz, s.v. „Caramuel", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XVII (2000), Sp. 224-232.

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Architekturstils, den die Humanisten von den Griechen und von den Römern als am besten verwirklicht betrachteten. Die Kritik, die Caramuel gegen die Tempelrekonstruktion Villalpandos einwendet, entspricht in der Tat einer systematischen Zerstörung des klassischen architektonischen Systems. Im Gegensatz zur symmetrischen Anordnung Villalpandos und in Übereinstimmung mit dem Grundriß von Yaqov Yehudah Leon97 setzt Caramuel das Tempelhaus nicht in die Mitte, sondern auf eine Seite der Esplanade, entsprechend seiner probabilistischen Auffassimg, daß unter bestimmten Umständen die Regeln der Architektur nicht mehr gelten.98 Caramuel gibt zu, daß sich die modernen Architekten durch den Tempel, den Tabernakel und die Arche Noach inspirieren lassen können, aber er hält es für unmöglich, daß jene alten Pläne nochmals verwirklicht werden können, weil sich alles mit der Zeit ändert („mutados los tiempos se mudan tambien todas las cosas") 99 Doch im Vorwort („Tratado proemial") preist er König Philipp II. als neuen Salomo, der mit dem Bau des Escorial den verlorengegangenen Tempel, aber in weit prächtigeren Formen nach der ezechielischen Beschreibung, wiedererrichtet habe. Unter den Dingen, die den ersten salomonischen vom zweiten serubbabelschen Tempel unterschieden, erwähnt Caramuel drei Türme, die zum Schutz errichtet worden seien. Dies führt zu der eigentümlichen Bemerkung, daß Gott der erste Militäringenieur gewesen sei und daß der Jerusalemer Tempel alle Regeln des modernen Militärbaus lehrbuchmäßig aufweise („para gobemar la regia y compäs en todo genero de fortificadones").100 Die Thesen Villalpandos wurden von einem anderen Jesuiten, Jacques Salian (1558-1640), in den sechsbändigen Annales Ecclesiastici Veteris Testamenti (Köln 1614-1624) gegen seine Kritiker in spitzfindiger Argumentationsweise verteidigt.101 Wenn man nämlich davon ausgeht - argumentiert Salian - , daß der Tempel nach der von Gott selbst geoffenbarten Planung gebaut wurde, wie kann man behaupten, daß der Tempel doch ein nicht perfektes, primitives Bauwerk gewesen sei, wie Tornielli meint? Das würde bedeuten, daß entweder die göttliche Planung unvollkommen war und der Tempel nur durch spätere Ergänzungen und Hinzufügungen ausgebessert wurde oder für mehr als 500 Jahre unvollendet blieb. Wenn der Tempel, trotz der genauen Maßangaben und Anweisungen Gottes, zuerst unvollkommen und mangelhaft gebaut und nur später vollendet und verbessert wurde, dann müßte man annehmen, daß die 97 98

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Siehe unten. Caramuel, Architectura civil, Bd. 1, art. 4, S. 28: „suelen intervener circunstancias que dispensan en todo genero de leyes", zitiert nach Ramirez, Caramuel, S. 111. Caramuel, Architectura civil, Bd. 2, art. 4, S. 9, zitiert nach Ramirez, Caramuel, S. 112. Caramuel, Architectura civil, Bd. 1, art. 3, S. 20, zitiert nach Ramirez, Caramuel, S. 113. Mit der Tempelfrage beschäftigt sich Salian im 4. Band S. 407-408.

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Weisheit und Kunst späterer Architekten höher und größer zu veranschlagen sei als die Weisheit Gottes. Oder sind vielleicht die biblischen Anweisungen mißverstanden und nicht fachgerecht ausgeführt worden? Das kann man aber nicht beweisen.102 Neben den polyhistorisch-künstlerischen, ökonomischen, religionsgeschichtlichen und sozialpolitischen Interessen, die sich im Jerusalemer Tempel vereinigten, trug zum literarischen Erfolg des salomonischen Tempels nicht zuletzt die Auseinandersetzung bei, die sich zwischen Katholiken und Protestanten über den Kirchenbau, vor allem über die Innendekoration der Kirche, entfachte. Auch wenn die Annahme eines speziell gegenreformatorisch-jesuitischen Baustils historisch zu relativieren ist, war die architektonische Form des Sakralbaus ein Thema der Gegenreformation.103 Zentraler Punkt der Kontroverse war nicht an sich die Gestalt des Gebäudes, sondern vielmehr die Weihe und die aufwendige künstlerische Ausschmückung als

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Bd. 4, S. 407: „At si verum esset, oporteret aut ideam templi huius, quam angelus accurate describit, valde imperfectam fuisse, quae processu temporis variis adiectionibus perficeretur ac corrigeretur, aut certe ad Herodis tempora, per quingentos et amplius annos, unquam fuisse hoc templum suis numeris absolutum. Et si Angelus Domini de industria coelitus mittitur, qui omnes partes huius aedificii longitudines, latitudines, altitudines, cum suis ornamentis, usque ad palmum unum exactissima diligentia metiatur, num maiorem in terris post aliquot saecula architecturae peritiam, quam tunc in coelo fuisse putamus? An Dominus in templi sui fabrica artis elegantiam desiderari voluerit, cuius praecepto ac voluntate etiam parietes ipsi, atque adeo tabulatum, tum pretiosissimis lapidibus Stratum, tum laminis etiam aureis erat convestitum? Aut quae a Scriptura designantur infideliter explicate, vel ambitiöse amplificata sunt, vel male ex artis principiis, et ratione ipsa deducta? Quod qui contra sentiunt demonstrare non possunt" [Universitätsbibliothek zu Halle-Wittenberg, Signatur: AB BB 325(4)].

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Das ausführlichste Programm des posttridentinischen Katholizismus zum Kirchenbau wurde von Carlo Borromeo (1538-1584) in den Instructions fabricae et suppellectilis ecclesiasticae (1577) verfaßt. In den Instructiones (1,2) gilt die basilikale kreuzförmige Architektur als die geeignetste und bewährteste für den Kirchenbau, die schon seit den ersten Zeiten des Christentums bevorzugt war. Der Zentralbau sei hingegen ungeeignet, weil dieser an die heidnischen Tempel erinnert: „[Forma ecclesiae] cum multiplex esse possit, ad earn sane deligendam, pro situs ratione, proque aedificationis amplitudine, architect! periti consilium Episcopus adhibere debebit. At vero illa huius aedificii ratio iam inde ab apostolicis fere usque temporibus ducta, potior est, quae cruris formam exhibet, ut plane ex sacris basilicis Romanis maioribus ad eum modum exstructis perspicitur. Illa porro aedificii rotundi species, olim idolorum templis in usu fuit, sed minus usitata in populo christiano etc." Diese Anweisungen betrafen in erster Linie die Mailänder Diözese und hatten keine allgemeine kirchliche Verbindlichkeit. Über den sogenannten „Jesuitenstil" siehe die Beiträge von J. Ackerman und R. Wittkower in dem Sammelband Baroque Art: The Jesuit Contribution, hrsg. von Rudolf Wittkower und Irma B. Jaffe, New York 1972.

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Zeichen seiner Heiligkeit und Würde. Sowohl für die Katholiken als auch die Protestanten 1 0 4 galt der dreiteilige Längsbau unter historisch-typologischer Bezugnahme auf den salomonischen Tempel als historisch sanktionierte Form. So schreibt der Jesuit Roberto Bellarmino (1542-1621) über die Gestalt der Kirche: „De forma ecclesiarum Christianorum non est quod multa dicamus, cum adhuc antiquissimae Ecclesiae visantur. Duo tarnen notanda sunt. Unum ad similitudinem templi Salomonis et Sancta Sanctorum, Ecclesias fere omnes habuisse tres partes [...] Porticus (Pronaos), Templum (Navis/Naos) et Sacrarium (Bema) etc." 1 0 5 Ebenso sollen für den reformierten Züricher Theologen Rudolf Hospinian 106 die Kirchen über alle anderen Gebäude „schicklich erbaut" hoch erhoben sein, „damit sie von allen Stadtteilen aus sichtbar sind. So waren auch das Stiftszelt und später der salomonische Tempel sowie die Tempel der Heiden gebaut." 1 0 7 Traditionsgemäß stellt Hospinian den salomonischen Tempel

Über den Kirchenbau in der Reformation siehe N. Müller, Über das deutsch-evangelische Kirchengebäude im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 1895. los Disputationes Roberti Bellarmini Politiani societatis lesu, de controversiis christianae fidei, adversus huius temporis haereticos, 3 Bde., Ingolstadt 1586, Bd. 1, 3. Buch, 7. Kontroverse, S. 2184 [„Von der Gestalt der christlichen Kirchen brauchen wir nicht viel zu sagen, weil die ältesten Kirchen noch immer zu sehen sind. Zweierlei ist dennoch zu bemerken. Zum ersten haben nach Vorbild des salomonischen Tempels beinahe alle Kirchen drei Teile, nämlich die Vorhalle, das Schiff und den Chor etc." Übersetzung zitiert nach Vogelsang, Archaische Utopien, S. 541], 106 Pseudonym für Rudolf Wirth (1547-1626), Theologe, Polemiker und Autor zahlreicher Werke. Vom salomonischen Tempel und vom Kirchenbau handelt der Traktat De origine, progressu et abusu templorum ac rerum omnium ad templa pertinentium libri V, Zürich 1587. Erst in der zweiten vermehrten Auflage erwidert Hospinian die Thesen von Bellarmino: De templis: Hoc est de origine, progressu et abusu templorum ac omnino rerum omnium ad templa pertinentium libri V. Editio secunda, sie emendata, aueta et locupleta cum [...] responsionibus ad Rob. Bellarmini, Zürich 1603 [Universitätsbibliothek zu Halle-Wittenberg, Signatur: lh 2768b, 4o (1)]. Über Hospinians Bedeutung für den protestantischen (lutherischen wie reformierten) Kirchenbau siehe G. Germann, Der protestantische Kirchenbau in der Schweiz. Von der Reformation bis zur Romantik, Zürich 1963. Unter anderem ist Hospinian Autor einer heftigen antijesuitischen Schrift, Rodolphi Hospiniani Historia lesuitica: Hoc est de origine, regulis, constitutionibus, primlegiis, incrementis, progressu et propagatione ordinis Iesuitarum, item de eorum dolis, fraudibus, imposturis, nefariis facinoribus, cruentis consiliis, falsa quoque seditiosa et sanguinolenta doctrina, Zürich 1619 (2. Auflage 1670).

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De templis, Zürich 1603, S. 57: „Et proprie sunt templa aedes sacrae, eleganter exstruetae, et in sublime supra alias aedes elevatae, ut a omnibus omni parte urbis conspici possint. Nam tale erat etiam Tabernaculum, et postea Salomonis Templum, et apud Gentiles ipsorum templa."

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als dreiteiliges Gebäude dar, und diese Gliederung gilt auch mit bestimmten historischen Einschränkungen für den Kirchenbau seiner Zeit.108 Im Gegensatz zu anderen theologisch orientierten zeitgenössischen Theoretikern ist Johannes Heinrich Aisted (1588-1638),109 Professor für Theologie und Philosophie an der calvinistisch-reformierten Hohen Schule zu Herborn, der Auffassung, daß die Baustruktur des salomonischen Tempels als Modell für die christliche Kirche wegen der unterschiedlichen, historisch bedingten Zweckbestimmung ungeeignet sei. Denn der salomonische Tempel wurde für die Opferdarbringung geplant und hatte verschiedene Eingänge wegen der verschiedenen Völker und Opferzeremonien. Der salomonische Tempel war ein mystisches Bauwerk, das als Musterbild für die christliche Kirche unpassend sei. Ihre Bauweise soll vielmehr von funktionellen und praktischen Kriterien geleitet werden. Sie soll nämlich an einem erhöhten, ruhigen und, womöglich, zentralen Ort in einem soliden, gegen Brand und Erdbeben sicheren Bau errichtet werden und der Größe der Gemeinde angepaßt sein. Ihre Ausschmückung soll moderat sein und - hier ist die Anspielung auf die katholischen Kirchengebäude offensichtlich - keinen Anlaß zum Aberglauben geben.110 Gegen Bellarmino richtet sich offenkundig die Schrift Johannes Aeschards (1574-1643) Examen disputationis R. Bellarmini De Templis (Halle 1617). Wie Aisted bestreitet Aeschard die Vorbildlichkeit des salomonischen Tempels für die zeitgenössische Sakralarchitektur. Wenn aber der Kirchenbau von seiner „Zweckdienlichkeit" und „Schicklichkeit" bestimmt wird, so lassen sich diese Forderungen von der traditionellen dreiteiligen Form am besten erfüllen: „Commodissime hac forma aedes, quin etiam elegantissime exstruuntur, non 108

Ibid., S. 83: „Facta est haec distinctio ad imitationem Hierosolymitani templi, quod partes tres praecipuas habuit."

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Als Polyhistor, Pädagoge, Theologe war Aisted ein äußerst fruchtbarer Schriftsteller. Von der Kirchenarchitektur und dem Tempel handelt seine Abhandlung Methodus admirandorum mathematicorum, Herbom 1613 (neu aufgelegt 1623, 1641, 1657). Über ihn siehe H. Hotson, Johann Heinrich Aisted 1588-1638. Between Renaissance, Reformation, and Universal Reform, Oxford 2001.

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Aisted, Methodus, S. 510: „Hic occurrit quaestio, an ex templi salomonici structure ratio architecturae sacrae petendae sit? Negamus, duas ob causas: Quia sacrificis erat dicatum, ideoque varia loca habebat illis destinata. Quia porticus illius distinguebantur pro varietate gentium, itemque sacrificiorum. Mysticum templum itaque hoc templum non erit idea nostra. Quin potius templa exstruentur secundum haec praecepta: Templum sit loco edition et silente, et medio, si fieri possit [...]. Templum testudinatum tutius ab incendio, contignatum a terrae motu. Illud ad venustatem durabilius, hoc ad gratiam venustius. Templum habebit proportionem ad amplitudinem urbis. Omatus templorum non aperiat fenestram superstitioni. Ornatum requirimus [...] medium teneatur; vitetur utrumque extremum", zitiert nach Vogelsang, Archaische Utopien, S. 194.

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tarnen necessario".111 Die dreiteilige Bauweise wird also nur aus praktischen und nicht aus historisch-theologischen Gründen empfohlen. Auch außerhalb der theologischen Kontroverse bemühten sich protestantische Gelehrte und Theologen um eine den biblischen Beschreibungen getreue Rekonstruktion des Jerusalemer Tempels, wobei der ezechielischen Beschreibung nur eine allegorische Bedeutung beigemessen wurde und unberücksichtigt blieb. Im Einklang mit dem zunehmenden Interesse an den biblischen Altertümern wurde der Tempel als historisches Bauwerk betrachtet, dessen architektonische Gestalt nicht nach mystisch-theologischen Überlegungen rekonstruiert werden sollte, sondern nach den historischen Quellen, die philologisch korrekt zu interpretieren waren. Die Tempelarchäologie zerstörte langsam die Tempelallegorie. Diese historisch orientierte Auffassung des Jerusalemer Tempels wurde von einem intensiveren Studium der hebräischen Sprache und der jüdischen Tradition besonders gefördert. Die lateinischen Übersetzungen talmudischer und rabbinischer Traktate von Constantin L' Empereur van Oppyck (15911648)112 machten die jüdischen Quellen auch für diejenigen zugänglich, die keine oder mangelhafte Kenntnisse der hebräischen Sprache hatten. Mit dem Tempel beschäftigte sich Constantin 1' Empereur van Oppyck in seiner lateinischen Middof-Übersetzung.113 Der mischnische Traktat ist die Grundlage seiner Tempelrekonstruktion, die sich ganz im Gegensatz zu Villalpando durch ihrer Asymmetrie auszeichnet. Der Grundriß des Tempelhauses entspricht, im wesentlichen mit Flavius Josephus übereinstimmend, einem umgekehrten Τ wegen der breiteren Vorhalle im Vergleich zum senkrecht darauf stehenden schmaleren Langhaus, das ins „Heilige" und „Allerheiligste" unterteilt war. Mit Bezugnahme auch auf Josephus Flavius und den Talmud unterzog Louis Cappel (1585-1658) in seiner Abhandlung Trisagion114 die Rekonstruk111

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Aeschard, Examen disputationis, fol. Β 8b: „Kirchen werden am bequemsten, ja sogar am schicklichsten, wenn auch nicht notwendigerweise, in dieser Form errichtet", zitiert nach Vogelsang, Archaische Utopien, S. 556. Reformierter Theologe und Hebraist. Er lehrte in Harderwijk und Leyden. Seine besondere Leistung sind die zahlreichen lateinischen Ubersetzungen talmudischer und halakhischer Schriften. Talmudis Babylonici Codex Middoth sive De Mensuris Templi, una cum versione latina. Additis, praeter accuratasfiguras,commentariis, quibus tota templi Hierosolymitani structura cum partibus suis, altari caeterisque eo pertinentibus, e Talmudistarum aliorumque Judaeorum scriptis distincte explicantur, variaque Scripturae S. loca illustrantur, Leiden 1630. Diese kommentierte Mü&fot-Übersetzung wurde dann in die lateinische Mischnaausgabe von Wilhelm Surenhus (6 Bde., Amsterdam 1698-1703) aufgenommen. Trisagion sive Templi Hierosolymitani triplex delineatio: Una ex Scriptura iuxta mentem Villalpandi et descriptionem ab eo factam, altera ex Josephi mente et descriptione, tertia ex Judaeorum in Talmude descriptione et iuxta mensuras ab ipsis isthic traditas, enthalten im 1. Band der Londoner Polyglotte oder auch nach seinem Herausgeber als Biblia

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tion Villalpandos einer kritischen Analyse. Die Einwände von Cappel gegen Villalpando betreffen unter anderem die Vielzahl an Höfen und die riesigen Substruktionen unter dem Tempelareal, die historisch nicht belegt seien. Außerdem wirft er Villalpando vor, einen falschen Maßstab verwendet zu haben. 115 Ausschließlich auf rabbinischen Quellen basierte auch die Rekonstruktion des englischen Theologen und Hebraisten John Lightfoot (1602-1675). 1 1 6 Da sich die jüdischen Quellen mehr für die Funktionsbestimmungen interessieren und kaum Angaben über die konkrete Gestalt des Tempels enthalten, beschränkte sich Lightfoot auf den Grundriß der Tempelanlage, in der wie beim L' Empereur die Innenhöfe und das Tempelhaus asymmetrisch angeordnet sind. Die alten jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewonheiten für

Augen

gestellt in einer ausführlichen Beschreibung des ganzen Levitischen Priesterthums (Hamburg 1701) 117 des protestantischen Pfarrers Johannes Lund (1638-1686)

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Waltoniana bekannt (Biblia Sacra Polyglotta [...]. Opus totum in sex tomos distributum edidit Brianus Waltonus, Londini imprimebat Thoams Roycrofi, 1655-1669). Über Cappel und seine in Critica Sacra (Paris 1650) dargelegte exegetische Lehre siehe F. Laplanche, L' eaiture, le sacre et V histoire. Erudits et Politiques protestants devant la Bible en France au XVII'stiele, Amsterdam/Maarssen 1986, S. 181-194,224-249. Cappel, Trisagion, S. 15. Vom Tempel handelt seine Schrift The Temple service as it stood in the days of our Saviour, London 1649; The Temple: especially as it stood in the dayes of our Savior, London 1650, wieder abgedruckt in der englischen (The Works of John Lightfoot, 2 Bde., London 1684) sowie in der lateinischen Gesamtausgabe seiner Werke (Opera omnia, Rotterdam 1686). Von besonderer Bedeutung ist sein Versuch, die Chronologie des Alten und des Neuen Testamentes anhand der talmudisch-rabbinischen Literatur zu harmonisieren: Harmonia, Chronica et Ordo Veteris Testamenti, 1647; Harmonia, Chronica et Ordo Novi Testamenti, 1653; The harmony chronicle and order of the New Testament, 1655 und sein Hauptwerk Horae hebraicae et talmudicae, Cambridge 1658-1678. Zu seinen Lebzeiten konnte Lund keinen Verleger für den Druck seines Werkes gewinnen, weil „der Auetor unter den Gelehrten nicht bekannt sey" (so J. Chr. Wolf in seinem Vorwort zur 5. Auflage 1738). Das erwies sich aber als keine kluge Entscheidung der Verleger. Denn das Werk erschien postum auf Veranlassung des Schleswiger General-Superintendenten Caspar Hermann Sandhagen zuerst in drei Oktav-Bänden mit unterschiedlichen Titeln, und zwar: Bd. 1 Oeffentlicher Gottes-Dienst der alten Hebräer (Hamburg 1695). Bd. 2 Levitischer Hoherpriester und Priester, darin Hohenpriesters Kleidung [...] beschrieben werden (Hamburg 1695). Bd. 3 Ausführliche Beschreibung der Hütte des Stifts, so auf Gottes Befehl in der Arabischen Wüste erbauet, wie auch des ersten und andern Tempels, davon jener zu Jerusalem durch Salomo, dieser aber durch Serubabel und den Hohenpriester Josua nach der Babylonischen Dienstbarkeit erbauet worden, wobey zu finden der Grundriß des Tempels, Hamburg 1696.

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waren der Versuch einer so weit wie möglich historisch getreuen Darstellving der biblischen Altertümer. Von keinem Nutzen für die Rekonstruktion des salomonischen Tempels war für Lund die ezechielische Beschreibung, die nur eine allegorische Bedeutung habe. Hilfreich seien dagegen die talmudischen und rabbinischen Berichte neben der Beschreibimg von Flavius Josephus, soweit er den rabbinischen Angaben nicht widerspreche: „Wir wollen im Namen Gottes in unserer Beschreibimg, weil doch in den fürnehmsten Stücken der erste und der andere Tempel überein treffen, der Schrifft, und dem Talmudischen Tractat Middoth, wie auch Josepho, wo er den Hebräern nicht zuwieder ist, oder doch sich mit ihnen vergleichen läßt, ungleichen Tamid, und Maimon [...] und diesem R. Judae Leoni folgen, wie auch aus andern, bey denen wir etwas gemercket, was nöthig ist, anführen, auch wo zwischen dem ersten und dem andern Tempel ein Unterschied ist, anmercken."118 Aus solchen antiquarischen Interessen sind mehrere Tempelmodelle hervorgegangen, die vor allem für Lehrzwecke in den theologischen Hochschulen gebaut wurden. Eines dieser Tempelmodelle aus Holz wurde 1717 in den Franckeschen Stiftungen errichtet, auch wahrscheinlich mit der Absicht, dieses dem Hamburger Tempelmodell entgegenzusetzen, das der Jurist und Ratsherr Gerhard Schott Ende des 17. Jahrhunderts nach der Beschreibung Villalpandos herstellen ließ.119 Die Vorlage des Hallenser Modells läßt sich nicht deutlich feststellen. Klar ist aber die Absicht, sich von den Vorstellungen Villalpandos zu distanzieren und eine historisch glaubwürdigere Rekonstruktion zu liefern. Die rationalistisch-historisch begründeten Einwände konnten das dominierende Leitbild der Tempelrekonstruktion von Villalpando in Frage stellen und im Geist des üluminismus sein Modellversuch als „curioses Artefactum"120 vorführen, doch seine antihistorischen Vorstellungen eben aufgrund ihrer

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Die erste vollständig bebilderte Ausgabe erschien 1701 in Hamburg mit weiteren Auflagen (1704,1711,1722,1738). Lund, Die Alten jüdischen Heiligthümer (1738), Bd. 3, S. 295-296. Siehe auch Vogelsang, Archaische Utopien, S. 299. Das Modell der Franckeschen Stiftungen ist verlorengegangen. Seine Beschreibung ist aber in einer anonymen, Christoph Semler zugeschriebenen Erläuterung erhalten: Der Tempel Salomonis, nach allen seinen Vorhäfen, Mauren, Thoren, Hallen, heiligen Gefdssen [...] nebst allen und jeden in folgender Beschreibung, und beygefügten Kupferstücken enthaltenen Theilen desselben, in einem eigentlichen Modell und materieller Fürstellung in dem Waysenhause, zu Glaucha an Halle, zur Erläuterung sehr vieler Oerter der heiligen Schrift Anno 1717 aufgerichtet, Halle 1718. Über die Beziehungen zwischen Lunds Tempelbeschreibung und dem Tempelmodell von Halle siehe R. Jan van Pelt, „Lund y el modelo en Halle", in: J.A. Ramirez/A. Corboz/R. Taylor/R. Jan van Pelt (Hrsg.), Dios arquitecto, S. 131-138. So Wolf in seinem Vorwort zu Die Alten jüdischen Heiligtümer (1738) von Lund.

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utopischen Valenz konnten noch lange auch in protestantischen Kreisen ihren Einfluß ausüben. In völliger Übereinstimmung mit Villalpando schreibt Nicolaus Goldmann121 im 2. Kapitel („Von den Erfindern der Baukunst") seines Traktates über die Architektur Folgendes: „Die Erfindung der Baukunst rühret ohne Mittel her von der Hand des Herren; dann also bezeugt David seinem Sohn Salomon, nach dem er ihme das Muster oder Vorbild der Lauben des Tempels des Obersaales und der Kammern gegeben hat, daß er alles empfangen habe von der Hand des Herrn, damit daß er verstünde alle Werke des Vorbildes."122 Wie Villalpando, „welcher einer von den erfahrensten und verständigsten Baumeistern ist",123 glaubt Goldmann an die Baupracht des salomonischen Tempels, der „alle sieben Wunderwercke der Welt übertroffen habe", sowie an die Übereinstimmung der ezechielischen Beschreibimg mit dem historischen Bau von Salomo. Stark von ihm beeinflußt wurden Samuel Reyher (Schleusingen 1635-Kiel 1714) und Leonard Christoph Sturm124 (Altdorf 1669-Blankenburg 1719), die in dem salomonischen Bauwerk universale mathematische Gesetzmäßigkeiten widergespiegelt sahen.

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Nicolaus Goldmann (Breslau 1611-Leiden 1665) Jurist, Mathematiker und Architekturtheoretiker. Seine Architectura Sacra, die er vor 1660 verfaßt hatte, blieb unveröffentlicht. Abschriften der Architectura Sacra kursierten jedoch unter seinen Schülern und Bekannten. Auf eine handschriftliche Kopie der Architectura Sacra bezieht sich ausdrücklich Samuel Reyher in seiner Mathesis Mosaica (1679). Wesentliche Teile der Architectura Sacra wurden dann in das Hauptwerk Goldmanns, Anweisungen zu der Civil-Bau-Kunst, eingearbeitet, das erst nach seinem Tod von Leonard Christoph Sturm veröffentlicht wurde: Vollständige Anweisungen zu der Civil-Bau-Kunst [...] mit 74 grossen Rissen erläutert und mit verschiedenen Anmerckungen sonderlich einer weitläufftigen Vorstellung des Tempels zu Jerusalem vermehrt von Leonard Christoph Sturm, Wolfenbüttel 1696 und mehrmals nachgedruckt (zuletzt noch Baden-Baden 1962). Siehe dazu Vogelsang, Archaische Utopien, S. 261-266.

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Goldmann, Vollständige Anweisungen, S. 2ff. Ibid., S. 3. Architekturtheoretiker, Mathematiker und Theologe. Außer der Herausgabe der Vollständige Anweisungen zu der Civil-Bau-Kunst sind folgende Werke über den salomonischen Tempel zu erwähnen: Sciagraphia Templi Hierosolymitani ex ipsiis SS. literarum fontibus, praesertim ex visione Ezechielis ultima, architectonice quidem ita, tarnen concinnata, ut eam Architecturae ignari quoque legere possint; hinc inde etiam modicis in Villalpandum animadversionibus et figuris aeri incisis illustrata, Leipzig 1694; Die unentbährliche Regel der Symmetrie Oder: Des Ebenmaasses: Wie sie zuförderst an dem herrlichsten Exempel des Göttlichen Tempels von Salomons erbauet wahrzunehmen; nechst diesen aber vermittelst der Römer und Griechen Gebräuche in einigen Theilen vermehret worden von uns hingegen heut zu Tage in Ausübung zu bringen; Alles auf das deutlichste angewiesen und durch behörige Kupffer erklähret, Augsburg 1720.

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Die Vorstellungen Villalpandos fanden auch in den englischen hermetischen und um so mehr in den freimaurerischen125 Kreisen Nachhall und beeinflußten die englische Architekturtheorie bis ins 18. Jahrhundert. Während Sir Christopher Wren126 (1632-1723) sich gegen Villalpandos Rückbezug des korinthischen Stils auf den Tempel kritisch stellt, sieht John Wood d.Ä.127 (1704-1754) in Folge Villalpandos im Jerusalemer Tempel die Grundlegung aller klassisch-schönen Formenlehren.128 Auch Sir Isaac Newton (1643-1727) interessierte sich für Villalpandos Rekonstruktion.129 Newton kritisiert zwar Villalpandos historisch falschen Maßstab, setzt aber ein Modell des ezechielischen Tempels entgegen, das entsprechend einem idealtypisch symmetrischen System entworfen wird. Der von Villalpando entworfene Grundriß des Jerusalemer Bauwerkes faszinierte wegen seiner Symmetrie und formalen Qualität auch die spätere profane Architektur. Schon Nicolaus Goldmann hielt das Tempelschema für universal anwendbar und auch auf profane Anlagen wie zum Beispiel Schuleinrichtungen übertragbar.130 Sogar in dem Plangrundriß von New Haven lassen sich Villalpandos Einflüsse nachweisen.131 Noch in der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts sind Anklänge an die Tempelanlage Villalpandos deutlich erkennbar.132 Der 1938 vorgelegte 125

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Dazu siehe W. Kelsch, „Der salomonische Tempel. Realität - Mythos - Utopie", in: Quatuor Coronati Jahrbuch 19 (1982), S. 144 und C. Limpricht, „Der Salomonische Tempel und die Freimaurerei", in: Paul von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 260290, insbesondere S. 274-275. Vom Tempel handelt eine Schrift von Sir Christopher Wren („Of Architecture, and Observations on Antique Temples"), die in: Parentalia: or Memoirs of the family of Mathew Bishop of Ely, but chiefly of Sir Christopher Wren. A great number of original papers and records, published by Stephan Wren (London 1750) veröffentlicht wurde. John Wood, The Origin of Building or the Plagiarism of the Heathens Detected infiveBooks, Bath 1741. Über Wood siehe R. J. van Pelt, „John Wood y el origen de la edificacion", in: J. A. Ramirez/A. Corboz/R. Taylor/R. Jan van Pelt (Hrsg.), Dios arquitecto, S. 143147. Über die metaphysischen und hermetischen Bedeutungen, die im 16.-17. Jahrhundert dem salomonischen Tempel beigemessen wurden, siehe F. Yates, The Occult Philosophy in the Elizabethan Age, London 1979, S. 30-32,97-98, über den Einfluß Villalpandos auf die englische Architektur siehe von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 183-184. Siehe von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 184. Die bis vor kurzem nur handschriftlich erhaltene Abhandlung von Newton über den ezechielischen Tempel ist neben dem Originaltext in spanischer Übersetzung veröffentlicht worden: Isaac Newton, El templo de Salomon. Edition critica, traduction espaüola y estudio ßolögico a cargo de Ciriaca Morano. Introduction de Jose Manuel Sänchez Ron, Madrid 1998. Goldmann, Vollständige Anweisungen, S. 131ff. Siehe auch von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 186. Siehe auch von Naredi-Rainer, Salomos Tempel, S. 187.

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Entwurf von Wilhelm Kreis für ein nationalsozialistisches Forum des Oberkommandos des Heeres erinnert - ob beabsichtigt oder nicht - mit der symmetrischen Anordnung der Flügelbauten und mit dem zentral herausragenden Hauptgebäude an die Anlagen des Tempels und des Escorial. Damit erfolgt leider der Mißbrauch des utopischen Modells zum Zweck einer politischen Perversion.

3. Die Enzyklopädie als Utopie im 17. Jahrhundert Die Interpretationsgeschichte des Jerusalemer Tempels verläuft im 17. Jahrhundert fast parallel zur Geschichte der Enzyklopädie. Die gleichen Erwartungen und utopischen Vorstellungen, die im salomonisch-ezechielischen Tempel fokussierten, findet man in den pansophisch-enzyklopädischen Projekten des 17. Jahrhunderts wieder. Es ist daher nicht verwunderlich, daß mehrere Autoren, die sich für den Tempel interessierten, gleichzeitig auch mit der Aufstellung enzyklopädischer Systeme beschäftigt waren, die ermöglichen sollten, die Vielfältigkeit der Kenntnisse und der Erfahrungen in eine einheitliche architektonische Struktur einzuordnen. Jenseits jedes konfessionellen und philosophischen Unterschieds waren diese enzyklopädischen Vorhaben von der Auffassung einer kosmischen Ordnimg geleitet, die sich in einer organischen Verkettung der Wissenschaften widerspiegelte. Vertreter der hermetisch-kabbalistischen Tradition, wie Robert Fludd und Jacques Gaffarel, und ihre Kritiker, wie Marin Mersenne, Pierre Gassendi und Johannes Kepler, waren sich letztendlich einig in der Auffassung einer Universalordnung und Harmonie.133 Der Streit betraf eher die Interpretation und die Entschlüsselung der Weltharmonie. Infolge der neuen physikalischen und astronomischen Kenntnisse betrachtete man das Universum als einen berechenbaren Mechanismus, der von mathematischen Gesetzen geregelt wird, im entschiedenen Gegensatz zu den Vorstellungen einer beseelten Natur (anima mundi) mit ihren magischen Implikationen (magia naturalis) der Hermetisten der Renaissance. Der Zusammenbruch der klassischen Kosmologie bedeutet aber nicht unbedingt die Preisgabe des Glaubens an die harmonia mundi. Dieser kulturelle Mythos fand im Gegenteil eben in dieser Zeit der geistigen und politischen Irrungen neuen Nährboden. In der organischen Darstellung der Wissenschaften wollte man auch jene soziale und politische Ordnung wiederherstellen, die man in der eigenen Umwelt vermißte. In seiner Encyclopaedia schreibt Aisted 132 133

Ibid., S. 188-189. C. Vasoli, L' enciclopedismo del Seicento, Napoli 1978, S. 13. Über die Kontroverse zwischen Fludd, Mersenne, Gassendi und Kepler siehe F. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, S. 436-447.

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folgende, fast wie eine Hymne klingende Worte, die als Programm der enzyklopädischen Bemühungen seiner Zeit angesehen werden können: Daß es nichts schöneres, nichts fruchtbareres als die Ordnung gibt, kann keiner übersehen, es sei denn, er ist blinder als Teiresias. Die Ordnung verschafft auf dem riesigen Theater dieser Welt allen Dingen Wert und Rang und ist wie ihre Seele. Die Ordnung ist in der Kirche Gottes der Nerv des Corpus Mysticum. Die Ordnung ist das stärkste Band im Staats- und Familienleben. Und im wissenschaftlichen Leben, abgesehen davon, daß sie der Klebstoff der Schulgemeinde ist, haucht die Ordnung den Lehr- und Lerngegenständen die Seele ein.134

Gegenüber einer sich verändernden Wirklichkeit und den abbröckelnden traditionellen Strukturen stellten die Enzyklopädien den Versuch dar, die neuen Erkenntnisse und Erfindungen in das alte vertraute Weltbild einzuordnen. In der systematischen Gliederung der Wissenschaften und in der Aufstellung ethisch-politischer Modelle zeigte sich die Bemühung, eine stabile, theologisch abgesicherte Wahrheit zu vermitteln, die als fester Orientierungspunkt in diesem Leben dienen sollte. Denn diese enzyklopädischen Konstruktionen waren noch auf einer theologischen Grundlage errichtet, die nur langsam im Verlauf des Jahrhunderts ins Wanken kommen sollten. Wie bei den mittelalterlichen Enzyklopädien wurde die Naturforschung als Wahrnehmung der göttlichen Macht und Annäherung zur Kontemplation der absoluten, ewigen Wahrheit gerechtfertigt. Diese theologisch-metaphysische Grundlage erklärt, warum sich den enzyklopädischen Unternehmungen meistens Theologen widmeten, die ihre pansophischen Systeme durch eine Verankerung in der Bibel absichern wollten. Man versuchte nachzuweisen, daß jene mathematischen Gesetzmäßigkeiten, die die Harmonie des Universums bestimmen, schon in der Bibel enthalten sind. Durch die Mathesis Mosaica sollte die Übereinstimmung von Wissenschaft und Offenbarung und die biblische Grundlage aller Wissenschaft demonstriert werden.135 134

Johannis-Henrici Alstedii Encyclopaedia Septem tomis distincta (Herborn 1630), Bd. 1, S. 1: „Ordine nihil pulchrius, nihil fructuosius esse nemo non videt, nisi forte Tiresia sit caecior. Ordo siquidem in amplissimo huius mundi theatro rebus omnibus conciliat dignitatem, et ipsum est velut anima. Ordo in Ecclesia Dei est nervus corporis mystici. Ordo in republica et familia est vinculum firmissimum. Ordo denique in schola, praeterquam quod est gluten societatis scholasticae, rebus docendis et discendis animam inspirat."

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Noch 1816, als Papst Pius VII. auf Anregung des Staatssekretärs, Kardinal Consalvi, den Lehrstuhl für „Physica sacra" oder „Physica mosaica" errichtete und den Astronom und Physiker, Abt Feliciano Scarpellini (1762-1840), als Dozent berief, sollte der neue Lehrstuhl dazu dienen, „per far conoscere le moderne scoperte della scienza, onde ingrandire le idee che ci offrono la magnificenza e 1' ordine di tutto il creato, ed affinch^ tali cose non s' ignorino da chi deve rispondere all' abuso che di esse fa la

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Die Suche nach einer „methodus unica", nämlich nach einer vereinigenden Norm aller Wissenschaften, war von den Bestrebungen nach Versöhnung und Erneuerung der christlichen Gesellschaft, und für Comenius sogar der ganzen Menschheit, geleitet, die auch teilweise von utopischen, eschatologischen Erwartungen motiviert war. Aus der Reform des Wissens sollte eine renovatio der Menschheit hervorgehen. Die neue Methode sollte die allgegenwärtige Konfusion aller Kenntnisse, aus der die Verwirrung und die moralische Dekadenz der Gesellschaft entstanden war, beseitigen und die grundsätzliche Einheit und Harmonie des Universums wahrnehmen lassen. Durch die Grundlegung eines einheitlichen und universalgültigen Wissens, das die einheitliche Struktur des Universums und den Verlauf der menschlichen Geschichte nach einem von der Vorsehung bestimmten Plan zeigte, sollte die Menschheit ihre innerlichen Konflikte überwinden und sich auf Gott richten und sich nach seinen Gesetzen verhalten. Eine neue Menschheit kann aber nur von den neuen Generationen realisiert werden. Daher bemühten sich die Autoren der pansophischen Systeme dieses Jahrhunderts auch um eine grundlegende Reform des Bildungswesens und der Lehrmethode, die von dem gleichen Ordnungsprinzip ihrer enzyklopädischen Vorstellungen inspiriert war. Die Palingenesis der Menschheit setzt eine renovatio scholastica voraus, die auch eine Sprachreform mit einbeziehen konnte. Denn um die sprachlichen Barrieren zu überwinden und allen Menschen den Weg zum neuen Wissen zu ebnen, wurde auch teilweise an dem Entwurf einer Universalsprache gearbeitet. Die Vorstellung einer vollkommenen, universalen Sprache ist eine alte Utopie.136 Sie bekam aber im 17. Jahrhundert weitere Impulse durch die neuen Kenntnisse exotischer Sprachen wie Chinesisch und die Bilderschrift der alten amerikanischen Völker, die durch Missionare, insbesondere Jesuiten, und durch

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miscredenza" (das heißt „um die modernen wissenschaftlichen Entdeckungen zu vermitteln, um die Vorstellung, die uns die Pracht und Ordnung der gesamten Schöpfung bietet, zu vergrößern, und auf daß solche Dinge denjenigen, welche die Ungläubigen, die diese Kenntnisse mißbrauchen, widerlegen sollen, nicht unbekannt sind."). Der Lehrkurs war in sechs Teile gegliedert entsprechend den sechs Tagen der Schöpfung. Siehe dazu M. Grazia Ianniello, Feliciano Scarpellirti (1762-1840), unter der Internet-Adresse www.phys. uniromal .it/DOCS/MUSEO/scarpellini.html. Grundlegend ist die Arbeit von A. Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über den Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 6 Bde., Stuttgart 19571963. Siehe aber auch H. Arens, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg/München 1969 (2. Auflage); C. G. Dubois, Mythe et langage au seizieme siecle, Bordeaux 1970; G. F. Strasser, Lingua universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1988; W. P. Klein, Am Anfang war das Wort, Berlin 1992. Für eine allgemeine Darstellung siehe U. Eco, Laricercadella lingua perfetta nella cultura europea, Roma/Bari 1993.

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Kaufleute in Europa bekannt wurden. Neben dem anhaltenden Kult für die ägyptischen Hieroglyphen, die seit der Bekanntgabe der Hieroglyphica schon die Humanisten fasziniert und in Athanasius Kircher noch einen begeisterten Verehrer hatten,137 und neben dem Glauben mit mystischen (zum Beispiel Jakob Böhme) und esoterisch-magischen Zügen (siehe zum Beispiel die Confessio fraternitatis Rosae cruris, 1615)138 an eine ursprüngliche, verlorengegangene Natursprache, die aus einer exakten analogen Korrespondenz zwischen Zeichen und den damit ausgedrückten Begriffen bestanden habe, dachte man daran, eine künstliche, „philosophische" Sprache zu entwerfen, die jenen Forderungen nach einer vollkommenen Übereinstimmimg zwischen Bezeichnving und Sinngehalt und nach praktischer Anwendung genügen sollte, die man bei anderen „uralten", „göttlichen" Sprachen vergeblich erwartet hatte (siehe zum Beispiel Leibniz, Lingua generalis, 1678 und die Theorien der Engländer Seth Ward, George Dalgarno und vor allem John Wilkins, Essay towards a Real Character and a Philosophical Language, 1668).139 Wenn sich auch Protestanten und Katholiken darin einig waren, daß die Erneuerung der Christenheit nur durch eine Erneuerung der Kultur vollzogen werden konnte und beide Konfessionen die gleichen Ziele von Einheit und Versöhnung durch eine neue Gestaltung des Wissens erreichen wollten, lagen die Meinungen über die Interpretationen, die Motivationen und die konkreten Vorstellungen dieser Hoffnungen gleichwohl weit auseinander. Dennoch lassen sich die protestantischen und katholischen pansophischen Modelle im Hinblick auf ihre philosophische Grundlage nicht deutlich unterscheiden. Nachdem der Vorrang des Aristotelismus im Verlauf des 16. Jahr137

Die Hieroglyphica sind eine spätantike, etwa im 5. Jahrhundert n. Chr., auf griechisch verfaßte Schrift, die pseudepigraphisch Horapollo (dem ägyptischen Gott Horns) zugeschrieben wird. 1419 wurde die Handschrift auf der Insel Andros vom Florentiner Cristoforo Buondelmonti aufgefunden und nach Florenz gebracht, wo sie eine sofortige enthusiastische Rezeption erfuhr. Bis ins 17. Jahrhundert war sie weit verbreitet und wurde in zahlreiche Nationalsprachen übersetzt. Über den Mythos von Ägypten in der Renaissance siehe K. Giehlow, „Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance", in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses ΧΧΧΠ/1 (1915), S. 1-232; E. Iversen, The Myth of Egypt and its Hieroglyphs, Kopenhagen 1961; P. Castelli, I geroglifid e il mito dell' Egitto nel Rinascimento, Firenze 1979.

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Siehe Μ. L. Bianchi, Signatura rerum. Segni, magia e conoscenza da Paracelso a Leibniz, Roma 1987, S. 109-156. Über die Bedeutung des Hebräischen als ursprüngliche, göttliche Sprache in der Renaissance siehe M. L. Demonet, La τmix du signe. Nature et origine du langage a la Renaissance (1480-1580), Paris 1992 und den Sammelband: I. Zinguer (Hrsg.), L' hebreu au temps de la Renaissance, Leiden/New York/Köln 1992. Über das Rosenkreuz siehe F. Yates, The Rosicruciart Enlightenment, London/New York 1972 [1999], S. 256-257.

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Eco, Laricerca,S. 225-299; Rossi, Clavis Universalis, S. 221-257.

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hunderte in Frage gestellt worden war, erfolgte zu dieser Zeit durch die Leistung der dominikanischen und jesuitischen Theologen von Coimbra, wie Francisco de Vitoria und Juan Suärez, eine Erneuerung der Scholastik, die zusammen mit dem Aristotelismus Melanchthons auch die Reform beeinflußte.140 Einer der protestantischen Autoren, der um die Jahrhundertwende diese enzyklopädisch-pädagogische Tradition im protestantischen Raum am besten vertrat, war der reformierte Theologe Bartholomaeus Keckermann (1571 oder 1573-1608).141 Wie Melanchthon hält Keckermann das Wissen und die Bildung für ein Mittel zu einer ethischen und religiösen Erziehung, die mit einem klaren und geordneten System erfolgen soll. In ihm überwiegt die pädagogische Sorge und die Suche nach einer Methode, die die spezifischen Grundsätze und Ziele der einzelnen Disziplinen berücksichtigen und zugleich ermöglichen soll, alle in eine artikulierte Einheit einzuordnen.142 Eine aristotelisch angelegte Enzyklopädie erfüllt für Keckermann am besten diese Bedingungen und entspricht seiner theologischen Vorstellung eines von ewigen Gesetzen geleiteten Universums, in dem sich die Weisheit Gottes widerspiegelt.143 Der Aristotelismus soll aber bereinigt von der Scholastik auf die echte, ursprüngliche Lehre des Aristoteles zurückgeführt und in eleganten humanistischen Formen dargelegt werden. Um jedoch die Klarheit zu bewahren, lehnt Keckermann die Anwendung von Metaphern, Analogien und rhetorischen Figuren ab, die sich auf die Emotionen beziehen und die Erkenntnisfunktionen des Intellekts verhindern.144 Als überzeugter Aristoteliker kritisiert Keckermann Ramus wegen seiner Polemik gegen Aristoteles und wirft Lullus und seinen Anhängern vor, eine konfuse, widersprüchliche Logik zu vertreten, die fast einer Alchimie gleichkommt. Er erkennt die Fortschritte der Jesuiten in der Strukturierung des 140

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C. Vasoli, „Comenio e la tradizione enciclopedica del suo tempo", in: Nouvelles de la Republique des Lettres I (1996), S. 17-37:19. Über den Aristotelismus und die Scholastik in den reformierten Ländern siehe P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921; E. Lewalter, Spanischjesuitische und deutschlutherische Metaphysik des XVII. Jahrhunderts, Hamburg 1935; B. Jansen, Die Scholastische Philosophie des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 89; C. Vasoli, „Logica ed enciclopedia nella cultura tedesca del tardo Cinquecento e del primo Seicento: Bartholomaeus Keckermann", in: V. M. Abrusci - E. Casari - M. Mugnai (Hrsg.), Atti del Convegno intemazionale di storia della logica, Bologna 1983, S. 97-116; id., „Bartholomaeus Keckermann e la storia della logica", in: La storia della fllosofia come sapere critico. Studi offerti α Mario did Pra, Milano 1984, S. 240-259. Systema Systematum clarissimi viri Dn. Bartholomaei Keckermanni, omnia huius autoris scripta philosophica uno volumine comprehensa lectori exhibens, idque duobus tomis, Hanoviae 1613,1, S. 26-27. Siehe auch Vasoli, „Comenio", S. 22. Vasoli, „Logica ed enciclopedia", S. 98. Systema Systematum, I, S. 29. Siehe auch Vasoli, „Comenio", S. 22.

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Wissens und in der Ausarbeitung eines wirksamen Lehrsystems für die Verteidigung ihres „Aberglaubens".145 Es sei daher absolut notwendig, eine enzyklopädische Darstellung des Wissens aufzustellen, die die kulturellen Mittel liefern soll, um den „römischen Antichristen" zu bekämpfen.146 Durch die systematische Darstellung des Wissens soll für Keckermann die Macht und Weisheit Gottes ersichtlich gemacht und dadurch die Übereinstimmung der Bibel mit der Naturwissenschaft bewiesen werden.147 Dementsprechend verteidigt er die traditionelle aristotelisch-ptolemäische Astronomie gegen die Theorien von Kepler, Kopernikus und Tycho Brahe.148 Keckermanns Vorstellung von einer Enzyklopädie weist schon jene Grundzüge auf, die sowohl die protestantischen als auch die katholischen pansophischen Konstruktionen des 17. Jahrhunderts gemeinsam haben werden, nämlich die theologische Ausrichtung gegen die atheistischen und skeptischen Weltanschauungen und die apologetisch-religiöse Zielsetzimg der Bildimg. Das Vorhaben Keckermanns wurde in den protestantischen Ländern weitergeführt, auch wenn sein Aristotelismus mit dem Lullismus und Ramismus „verunreinigt" wurde und mystische Elemente bekam, die Keckermann absolut fremd waren. Denn den späteren protestantischen enzyklopädischen Projekten lagen meist chiliastisch-apokalyptische Erwartungen zugrunde. Der große Herborner Polyhistor und calvinistische Theologe Johann Heinrich Aisted (15881638), der einen großen Einfluß auf andere „Enzyklopädisten" ausübte und als Musterbeispiel genommen werden kann, hatte in seinem Thesaurus chronologiae (erste Auflage Herborn 1624) das Weltalter, von der Schöpfung angefangen, in sechs Epochen eingeteilt. Die letzte hatte mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, die typologisch auf das Ende der Welt hinweist, begonnen und sollte bis 1694 dauern, danach wird das 1000jährige apokalyptische Reich gegründet. Die ersten Anzeichen der kommenden Endzeit sieht Aisted im 30jährigen Krieg, dem Endkampf zwischen Gog und Magog, dem die 1000jährige Herrschaft der Auserwählten, das heißt der Calvinisten, folgen wird. Seine apokalyptischen Erwartungen wiederholte Aisted später in einer Streitschrift gegen Bellarmino (Diatribe de mille annis apocalypticis, non Ulis chiliastarum et phantastarum, sed BB. Danielis & Johannis, erste Auflage Frankfurt 1627) und begründete sie mit Bezugnahme auf Daniel und die Johannes-Apokalypse.149

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Systema Systematum, I, S. 32. Siehe auch Vasoli, „Comenio", S. 22. Ibid. Systema Systematum, Π, S. 419-420. Siehe auch Vasoli, „Comenio", S. 23. Systema Systematum, Π, S. 102. Siehe auch Vasoli, „Comenio", S. 23. Siehe dazu Schmidt-Biggemann, Philosophia perentiis, S. 689-691, der aber die Erscheinungsjahre der zwei Werke falsch wiedergibt und den Druck des Thesaurus nach der Diatribe festsetzt.

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Im Hinblick auf die bevorstehende Herrschaft der Gerechten soll das gesamte Wissen gesammelt, geprüft und geordnet werden. Die Fülle des Wissens hatte aber ursprünglich Adam besessen, der von Gott mit Bruchstücken der göttlichen Weisheit versehen wurde und noch die Schöpfungssprache kannte.150 Wie Augustin (De civitate Dei XVI,11) und Hieronymus (Ep. 144) glaubt Aisted, daß die Ursprache das Hebräische gewesen sei. Diese vollkommene hebräische Ursprache verlor aber nach dem Turmbau von Babel ihren göttlichen Charakter und ist zu einer irdischen Sprache geworden.151 Ihre Vollkommenheit zeigte sich dadurch, daß sie das Wesen des bezeichneten Dinges ausdrücken konnte. Adam benannte jedes Ding und Lebewesen nach den Eigenschaften seiner spezifischen Natur, die er dank der Teilnahme an der göttlichen Weisheit unmittelbar durch eine natürliche Erleuchtung erkannte. Die Namen sind also Ausdruck des Wesens ihrer Träger und verweisen auf die primordiale göttliche Weisheit.152 Obwohl die Ursprache verlorengegangen ist, sind jedoch Funken der adamitischen Ursprache durch die Namen in allen irdischen Sprachen enthalten. Konsequent bemüht sich Aisted, durch etymologische Assonanzen Spuren der adamitischen Ursprache in den deutschen biblischen Namen wieder zu entdecken. Der Name Adam wird als eine Zusammenfügung von „hat" und „dam", das heißt „Haß" und „Damm", interpretiert, als Hinweis darauf, daß Adam der Versuchung der Schlange widerstehen sollte, wie der Damm den Fluten des Meeres widersteht. Eva wird von „Ev" und „Vat" abgeleitet, das heißt „ewig" und „Vase", weil Eva das Gefäß der zukünftigen Generationen sein sollte, oder auch von „E" = „Eid" und „Vat" = „Vase", das heißt das Gefäß des Eides, der Verheißung des Samens.153 Die Geschichte jedes Wesens ist in den Namen prophetisch schon angedeutet, und durch die Etymologie kann sie erkannt werden.

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J. H. Aisted, Thesaurus chronologiae, Herborn 1650, S. 479: „Adam insignis fuit philosophus, utpote qui multa retinuit veluti rudera istius sapientiae, quam Deus ipsi implantaverat [...]", zitiert nach Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 692.

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Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 693. J. H. Aisted, Encyclopaedia Septem tomis distincta, Herbom 1630, Bd. 4, S. 2025, Abschn.

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5: „Imposuit autem ista nomina cuique rei pro naturae ipsius proprietate, quae fluit a forma, quam norat lumine naturali. Absque hac cognitione si fuisset, perfecta sapientia ipsi defuisset", zitiert nach Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 692. 153

J. H. Aisted, Encyclopaedia, Herborn 1630, Bd. 4, S. 2025, Abschn. 5: „Adam dicitur quasi hat dam id est odium et ager: quia monebatur ut fortiter invidiae serpentis resisteret, non aliter quam agger Oceani fluctibus perpetuo verberandus [...] Eva, q. Ευ id est evig et vat id est vas totius seculi: vel ex Ε id est juramento, et vat quia fuit vas juramenti, id est promissionis de semine," zitiert nach Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 692.

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Noch vor dem Sündenfall wurden im Paradies die soziale und politische Ordnung in Form der Ehe gegründet. Nach der Vertreibimg aus dem Paradies wurde das adamitische Wissen durch die Institution der Kirche bewahrt und von Generation zu Generation weitertradiert. Zuerst bestand die Kirche aus der Familie Seth, die die Gabe der Prophezeiung hatte und sich mit der Theologie und der Astrologie beschäftigte, dann aus der Familie Abrahams und Jakobs bzw. Israels, und nach Christus ist sie aus allen Familien gebildet.154 Die Kirche verlor ihre ausschließliche Bewahrung und Verwaltung des Wissens nach der Sintflut, als die Söhne Noahs ihre Stämme gründeten und ihren Völkern das Wissen mitteilten. Wenn die Gesamtwissenschaft aus diesem ursprünglichen Wissen stammt, ist ihre systematische Darstellung das Erkennen ihres göttlichen Ursprungs und der göttlichen Ordnimg, die die Welt und ihre Geschichte durchwaltet.155 Die Enzyklopädie ist also für Aisted eine Klassifizierung und methodische Anordnung aller Dinge und Kenntnisse („methodica comprehensio rerum omnium in hac vita homini discendarum"),156 so daß man durch die Darstellung ihrer Verknüpfungen und Korrelationen die göttliche Ordnung, die sich sowohl in der Struktur des Universums als auch in der Geschichte entfaltet, wahrnehmen kann. Entsprechend seiner theologisch-biblischen Auffassung des Wissens ist Aisted bereit, die Lehre der Mathesis Mosaica anzunehmen. Alsteds Auffassimg von der Einheit des Wissens ist von einer innerlichen, zum Teil auch von den historischen Ereignissen bedingten Entwicklung gekennzeichnet, was eine kurze Darstellung ihrer philosophischen Grundlage ziemlich erschwert.157 Zuerst versuchte Aisted Ramismus und Aristotelismus mit der lullistischen Kombinatorik zu vereinbaren.158 Denn Ramus hatte sein System auf eine Dialektik gegründet, die sich in inventio und judicium einteilte. Während sich Ramus für den Inventionsteil auf die topoi von Agricola bezogen hatte, machte das judicium den Schwerpunkt seines Systems aus. Das judicium wurde als dispositio aufgefaßt, nämlich als Anordnung und Bestimmung des Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 694-6%. '55 Ibid., S. 698-700. 156 J. H. Aisted, Encyclopaedia, Bd. 1, S. 1. 157 Eine eingehende Untersuchung würde über das Ziel dieser Arbeit hinausgehen. Deshalb beschränke ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung. Für eine ausführliche Erörterung der philosophischen Aspekte siehe Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 100-139. iss Zu dieser ersten Periode gehören folgende Werke von Aisted: Clavis artis lullianae, et verae logices duos in libellos tributa, Straßburg 1609; Panacea philosophicam seu Encyclopaediae universae discendi methodus criticus de infinito armonico philosophiae Aristotelicae, Lullianae et Rameae, Herborn 1610; Theatrum scholasticum, Herborn 1610; Trigae canonicae, Frankfurt 1612; Philosophia digne restituta, Herborn 1612. 154

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Zusammenhangs einzelner Urteile entsprechend den Axiomen der Vollständigkeit, der Homogenität und der Deduktion. Die ramistische Dispositionskunst zielte nicht auf die Erkenntnis von Gegenständen, sondern auf die Ordnung der einzelnen Urteile. Die folgende aristotelische Auseinandersetzung mit der ramistischen Methode, die von Jacopo Zabarella eingeleitet und von Bartholomäus Keckermann weitergeführt wurde, hatte die Anwendung der ramistischen Dispositionskunst nach dem Prinzip der Homogenität auf die theoretischen und praktischen Wissenschaften in Frage gestellt.159 Aisted versuchte, diese Schwierigkeit durch ein „allgemeines lullistisches Alphabet" zu umgehen, nämlich eine Tafel, die alle kategorialen Denkmöglichkeiten enthalten sollte. Jeder Begriff sollte dadurch in den topischen Rahmen dieser Tafel eingeordnet werden können. Durch die Vollständigkeit dieses kategorialen Schemas sollte dann ein Lexicon philosophicum generale realisierbar sein, das heißt eine „bibliotheca universalis locorum communium", in der die Gesamtwissenschaft zusammengestellt werden sollte.160 In der Memoria, die als eine psychologische Topik aufgefaßt wurde, vereinigte Aisted Lullismus und Ramismus. Denn beide basierten auf dem Ordnungsprinzip, das auch Voraussetzung der Memoria ist. Somit wird in der Interpretation von Aisted das Gedächtnis, das Ramus mit dem judicium identifiziert, neben dem Intellekt als selbständiges Vermögen des menschlichen Geistes aufgewertet. Zugleich begründet Aisted theologisch die Notwendigkeit der Gedächtniskunst. Wie der Intellekt durch die Erbsünde geschwächt und verdunkelt sei und durch die logische Kunst gestützt werden müsse, ebenso müsse das Gedächtnis durch eine eigene Kunst unterstützt und gestärkt werden.161 In dieser ersten Phase der Grundlegung der Enzyklopädie deutete Aisted das menschliche Wissen als Folge der Teilhabe an der göttlichen Weisheit: „Quia Deus est sapiens, etiam homo est sapiens; utpote conditus ad illius imaginem." 162 In diese neuplatonische Auffassimg der Wissenschaft paßte das lullistische Alphabet hinein, das auf den Prädikationen des Dionysius Areopagita gegründet war. Ein Wendepunkt in den enzyklopädischen Überlegungen von Aisted war seine Teilnahme als Professor der Theologie an der Synode von Dordrecht 159 160 161

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Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 105-106. Aisted, Panacea, S. 16. Siehe Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 111. J. H. Aisted, Systema Mnemonicum duplex. 1. Minus, succinto praeceptorum ordine quatuor libris adornatum. II. Maius, pleniore praeceptorum Methode, et Commentariis scriptis ad praeceptorum illustrationem adornatum Septem libris, Frankfurt 1610, la, S. 3: „Memoriae eodem peccato labefactatae artem peculiarem esse repertam autumo, qua possit iuvari et confirmari", zitiert nach Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 114. Aisted, Philosophia digne restituta, S. 6, zitiert nach Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 122.

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(1618/19). Im Streit zwischen Arminianern und den gemäßigten protestantischen Orthodoxen Schloß sich Aisted den Orthodoxen an und unterschrieb die These über die Verderbnis nicht nur des Willens, sondern auch der Vernunft des Menschen. Angesichts dieser tief pessimistischen anthropologischen Auffassung war die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Weisheit nicht mehr vertretbar. Demzufolge entfällt in den weiteren Enzyklopädien von 1620 (Cursus philosophici encyclopaedia: libris 27, complectens universae philosophiae methodum, serie praeceptorum, regularum et commentariorum perpetua, Herborn 1620) und 1630 (Encyclopaedia Septem tomis distincta, Herborn 1630) auch das lullistische Alphabet, das die universalwissenschaftliche Einheit begründet hatte. Die Einheit wurde nunmehr metaphysisch durch den Vorzug der idealen Einheit der Philosophie vor der realen Vielfalt des Wissens begründet.163 In der letzten Fassung seiner enzyklopädischen Theorie betonte Aisted ihren methodischen Aufbau: „Encyclopaedia est methodica comprehensio rerum omnium in hac vita homini discendarum."164 Die „methodische" Darstellung besteht in einem dichotomischen Verfahren, das an das ramistische System erinnert. Von den vier Grundkenntnissen (praecognita) ausgehend, auf die alle Wissensfächer zurückzuführen sind, unterscheidet Aisted sechs Wissensbereiche, nämlich „philologia", „philosophia", „theologia", „jurisprudentia", „mediana" und „artes illiberales". Der entscheidende Unterschied zur Enzyklopädie von 1620 besteht aber in der wiedergefundenen theologischen Grundlage der Wissenschaft im Rahmen einer mystisch-apokalyptischen Weltanschauung. In diesem letzten Entwurf wird die strikte Trennung zwischen Theologie und Philosophie aufgegeben. Der Erkenntnispessimismus ist verschwunden, aber der universale Kompetenzanspruch der Enzyklopädie bleibt auf diese Welt, „in hac vita", eingeschränkt. Ihr Ziel ist nicht mehr die Beschreibung der Kontinuität transzendenten und weltimmanenten Wissens, wie es sich der Lullismus vorgestellt hat, sondern die methodische Darstellung der Gesamtwissenschaft, in der sich die göttliche Universalordnung der Schöpfung und der Weltgeschichte widerspiegelt, die kurz vor ihrem Abschluß stehen. Die vollständige, abgeschlossene Einheit aller wissenschaftlichen Disziplinen und Künste kündigt die letzte Epoche an, die den Kreis der Weltepochen abschließen wird. Ahnliche millenaristische Erwartungen durchdrangen auch das enzyklopädische Projekt von Jan Arnos Komensky bzw. Comenius (1592-1670), der in 163 Neben theologischen Motivationen könnte auch die philosophische Erkenntnis der kategorialen Unzulänglichkeit des lullistischen Alphabets Aisted dazu geführt haben, die Grundlage seiner Enzyklopädie zu ändern. Siehe Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 125-127. 164

Aisted, Encyclopaedia, Bd. 1, S. 49 zitiert nach Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 132.

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Herborn Schüler von Aisted gewesen war. Unter dem Einfluß von Aisted und Johann Valentin Andreae (1586-1654) glaubte Comenius durch eine Bildungsreform zugleich auch eine moralische, religiöse, soziale und politische Reform der gesamten Christenheit bewirken zu können. Unentbehrliche Voraussetzung für die Grundlegung eines allumfassenden und einheitlichen Wissens ist die „methodus unica", nämlich die Anwendimg eines methodischen Verfahrens, um die Vielfalt der Wissenschaften auf eine Einheit zurückzuführen. Die Wiederherstellung der Einheit der Wissenschaft könnte die kulturelle Verwirrung eliminieren und die Universalharmonie der göttlichen Schöpfung erfaßbar machen. Damit aber alle Menschen dies begreifen können, ist für Comenius zugleich eine Bildungsreform erforderlich, die sich nach dem gleichen methodischen Prinzip der Enzyklopädie orientieren soll. Nur eine Lehrmethode, die von den ersten allgemeinen Grundsätzen beginnend stufenweise die Verkettung und den Zusammenhang aller Disziplinen zeigt, kann die grundlegende Harmonie und mathematische Ordnung des Kosmos begreiflich machen. Eng verbunden mit diesem pansophischen Ideal von Harmonie ist die utopische Vorstellung einer universalen gemeinsamen Sprache, die die rhetorischen und politischen Grenzen des Lateinischen überwinden kann. In der Via lucis (1668),165 in der Comenius' utopische Vorstellungen seines pansophischen Modells am deutlichsten hervortreten, wird eine künstliche philosophische Sprache vorgeschlagen, die in der Lage sein soll, die Wirklichkeit unmißverständlich und getreu auszudrücken. Eine komplette Darstellung einer solchen Sprache hat Comenius aber nie zustande gebracht. Immerhin mehrere Werke widmete Comenius dem Sprachunterricht. In seinen didaktischen Anweisungen wurde insbesondere die Bedeutung des Vorstellungsvermögens und der Sinneswahrnehmung im Lernprozeß hervorgehoben. Um die mnemonische Aufnahme zu erleichtern, empfiehlt er zum Beispiel, Bilder zu verwenden. Der Orbis sensualium pictus quadrilinguis: Hoc est omnium fundamentalium in mundo rerum et in vita actionum pictura et nomenclatura germanica, latina, italica et gallica cum titulorom iuxta atque vocabulorum indice (Nürnberg, 1666)166 ist eine bildhafte Darstellung der wichtigsten Dinge und Tätigkeiten mit einer Beschreibung des Alphabets, in der die einzelnen Buchstaben mit dem Bild eines Tieres assozüert werden, dessen Stimme den Laut des Buchstabens wiedergibt. So steht zum Beipiel auf dem Buchstaben „S" das Büd einer Schlange mit der Erklärung: „die Schlange zischet, serpens

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Via Lucis, Vestigata et vestiganda, hoc est rationabilis disquisitio, quibus modis intellectualis animorum Lux, Sapientia, per omnes omnium hominum mentes et gentes, jam tandem sub mundi vesperam feliciter spargi possit, Amsterdam 1668 (aber bereits verfaßt im Jahre 1641 während seines Aufenthaltes in London).

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[Universitätsbibliothek zu Halle-Wittenberg, Signatur: Ga 1470]. Die erste Ausgabe von 1658 war nur zweisprachig, Latein und Deutsch.

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sibilat, il serpe fischia, le serpent siffle". Die Bilder dienen nicht nur dazu, die phonetischen Merkmale der zu lernenden Mutter- und Fremdsprache zu vermitteln, sondern auch Dinge und die damit verbundenen Begriffe. Das Bilderbuch gleicht also einer Kinder-Enzyklopädie, die die Kinder leicht und spielerisch in die ersten Grundkenntnisse ihrer Schulbildung einführen soll.167 Die Methodus Linguarum Novissima (1644-1646) verbindet Sach- und Sprachunterricht in einem ideellen architektonischen Rahmen, der an die enzyklopädischen Konstruktionen der theatra memoriae erinnert.168 Die Aufgabe der Pädagogik besteht nach Comenius darin, „Glauben und Gottesfurcht, Sitten und Tugenden und sodann Wissenschaft der Sprachen und allerlei Künste" der heranwachsenden Generation zu vermitteln. Die Erziehung und der Unterricht sollen den Menschen für seine letzte Bestimmung, die ewige Seligkeit in Gott, vorbereiten. Der Lehrstoff wird somit zur Universaldarstellung einer christlichen Pansophie, zu einem Templum sapientiae: 167

Comenius, Orbis sensudium. Vortrag an den Leser: „Es ist, wie ihr sehet, ein kleines Büchlein aber gleichwol ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache, voller Figuren oder Bildungen, Benamungen und der Dinge Beschreibungen. Die Bildungen sind aller sehbaren Dinge (zu welchen auch die Unsichtbaren etlicher massen gezogen werden) in der ganzen Welt Vorstellungen [...]. Dieses Büchlein auf diese Art eingerichtet wird dienen, wie ich hoffe: Erstlich die Gemüter herbey zu locken, daß sie ihnen in der Schul keine Marter, sondern eitel Wollust einbilden. Dann bekanndt ist, daß die Knaben (straks von ihrer Jugend an) sich an Gemälden belustigen und die Augen gerne an solchen Schauwerten weiden. [...] Darnach dienet dieses Büchlein zuerwecken den Sachen anzuhäfften und immer je mehr und mehr auszuschärffen die Aufmerksamkeit, welches auch etwas grosses ist. Dann die Sinnen (die vornehmsten Führer des zarten Alters als bey denen das Gemüte sich noch nit in die unkörperliche Betrachtung der Dinge erschwinget) suchen allemahl ihren Gegenstand und wann sie denselben nit haben, werden sie abgenützet und kehren sich an sich selber Verdruß habend bald da bald dorthin; wann aber selbiger verhanden ist, werden sie erfrölicht und gleichsam lebendig und lassen sich, bis sie die Sache recht ergriffen haben, geme daran häfften. [...] Daraus wird der dritte Nutz erfolgen, daß nemlich die Knaben hieher gelocket und zur Aufmerksamkeit angebracht die Wissenschaft der vornemsten Welt Dinge spiel- und scherzweiß in sich ziehen. Mit einem Wort: den Vorhoft und die Sprachenthür desto annehmlicher zu bewandeln und zu behandeln wird dieses Büchlein dienen, dahin es auch vornemlich gemeynt ist. [...] Sodann würde diese Schule ein wahrhaftiger Schauplatz der sichtbaren Welt und der Verstand-Schulen Vorspiel seyn."

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Erwähnt sei auch: die Janua Linguarum Reserata, 1631; Informatorium maternum, 1633; Schola ludus, 1654. Sein didaktisches Hauptwerk ist die Didactica magna (erste Auflage auf tschechisch 1632, auf lateinisch Amsterdam 1657). Die Ausbildung soll nach Comenius im ganzen 24 Jahre umfassen, und zwar: Vom 1.-6. Jahr die Mutterschule; vom 7.-12. Jahr sollen alle Kinder ohne Unterschied die Volksschule besuchen. Vom 13.-18. Jahr vermittelt die Lateinschule die wissenschaftliche Vorbildung. Vom 19.-24. Jahr wird durch die Akademie die Bildung abgeschlossen.

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„Pansophiae christianae templum ad ipsius supremi Architecti Omnipotentis Dei ideas, nonnas, legesque instruendum, et usibus Catholicae Iesu Christi Ecclesiae, ex omnibus gentibus, tribubus, populis et linguis collectae et colligendae consecrandum."169 Die Metapher des Tempels wird von Comenius ausführlich erklärt. Die Römer bezeichneten mit „templum", das Comenius von „ad tuendum amplum spatium" ableitet, einen offenen Platz, von wo aus man einen freien Blick haben konnte. Der Name wurde dann auf das für den Kult bestimmte Gebäude übertragen, weil die Opferdarbringung ursprünglich auf den Anhöhen stattfand. Daher hat er seine Enzyklopädie „Templum" benannt, weil sie sich dem Geist der Menschen wie eine Art Universalbauwerk darbietet, wo der menschliche Verstand alles überschauen kann, die sichtbaren wie die unsichtbaren Dinge, die profanen wie die ewigen, übernatürlichen, sofern sie uns geoffenbart wurden.170 Außerdem verdient seine Enzyklopädie diese Bezeichnving, weil sie alles enthält und aufzeigt, was die Ewige Weisheit in der Heiligen Schrift mit den Attributen von „Templum", „Sanctuarium", „Tabernaculum", „Dornum" erwähnt, und zwar: 1) seine Ewigkeit (vgl. Jes 57,19); 2) den Kosmos, der aus Himmel und Erde besteht (vgl. Jes 66,1); 3) den Jerusalemer Tempel (vgl. lKön 5,5); 4) das zerknirschte Herz (vgl. Jes 57,19); 5) die Kirche (vgl. lTim 3,15) und 6) den Leib Christi (vgl. Kol 2,9).'71

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J. A. Comenius, Pansophiae prodromus et conatuum pansophicorum dilucidatio. Accedunt didactica dissertatio de sermonis latini studio perfecte absolvendo, aliaque eiusdem, London 1639, S. 122-165, zitiert nach Rossi, Clauis Universalis, S. 206-207. Diese Schriften sind dann im ersten Band der Opera didactica omnia, Amsterdam 1657 [=Prag 1957] nachgedruckt worden. Die nachfolgenden Zitate sind dem Prager photolithographischen Abdruck entnommen. J. A. Comenius, Conatuum pansophicorum dilucidatio, in: Opera didactica omnia, Amsterdam 1657, Bd. I, Teil 1, S. 464-465: „Atque haec prima est causa, cur novae nostrae Encyclopaediae Tempil nomen indendum putamus: quia hic menti humanae universalis quaedam fabrica paratur, unde quaquaversum prospectando omnia quae usquam sunt, visibilia et invisibilia, temporalis et aeterna, (modo revelata sint) jucunde contemplari queant." Ibid., S. 465: „Altera causa sublimioris est considerationis, quam nobis ipsa divina Scriptura suggessit; nempe quod quidquid aeterna Sapientia TEMPLUM suum, HABITACULUM suum, DOMUM suam, TABERNACULUM et SANCTUARIUM suum appellare dignata est, id omne hic repraesentatur. Appellavit autem Deus habitaculum suum 1) Aetemitatem suam, Ies. 57,19. 2) Mundum hunc, coelo et terra constantem, Ies. 66,1. 3) Dornum nomini suo aedificatam, IReg. 5,5. 4) Cor contritum ac humile, Ies. 57,19. 5) Ecclesiam, lTim. 3,15. 6) Christi humanitatem, quam tota divinitatis plenitudo inhabitat corporaliter, Coloss. 2,9. Quae omnia ut hic veras suas accipiant delineationes, seria datur opera."

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In den pansophischen Tempel soll der Mensch vermittelst seines Verstandes, den er von Gott bekommen hat, alles, was in den zwei großen Büchern Gottes, nämlich in der Natur und in der Bibel, enthalten ist, ansammeln und ordnen, um eine allumfassende, vollständige Darstellung des Universums zu gewinnen.172 Die Enzyklopädie besteht also aus einem Inventar und einer Klassifizierung aller Naturgüter und aus ihrer Zuordnimg entsprechend ihren Verhältnissen zueinander und zur gesamten Struktur des Universums.173 Das Vorbild für seine systematische Darstellung des universalen Wissens findet Comenius in der Einteilung des Stiftszeltes und des Jerusalemer Tempels. Die pansophische Architektur richtet sich nach denselben göttlichen Kriterien und Proportionen, die Gott in seiner Weisheit für seine Kulterrichtungen angelegt hat.174 In den verschiedenen Bauwerken ist jedoch eine Steigerimg an Schönheit zu beobachten. Während sich das Stiftszelt nur in „Atrium", „Sanctuarium" und „Sancta Sanctorum" gliederte, war der salomonische Tempel ein prachtvolles Bauwerk mit drei Höfen vor dem Allerheiligsten. Der Tempel der ezechielischen Vision unterscheidet sich darüber hinaus von dem salomonischen in seiner Anlage, die nicht nur die Oberfläche des Berges Moria einnahm, sondern mit seinen Nebengebäuden bis zur Flanke reichte. Die hinaufsteigende Tempelanlage endete nach der Beschreibung Ezechiels mit dem herausragenden zentralen Bau des Allerheiligsten, der von überall zu sehen war. Dies wollte Gott so, nicht weil er seine Pläne ausgebessert oder geändert hätte, sondern aufgrund der vorbildlichen Bedeutung des Tempels, der die Ecclesia Christi und ihre Entwicklung präfiguriert.175 172

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Comenius, Pansophiae Praeludium, in: Opera didactica omnia, Bd. I, Teil 1, S. 406: „Grate

proin agnoscendum est divinae misericordiae opus, non solum quod sapientiae suae theatra Naturae et Scripturae nobis aperuit, sed et instrumentis nos ea spectandi, lumenque sapientiae colligendi, sensu et ratione, suaque divina, sensus et rationis defectus supplente, revelatione instruxit." Ibid., S. 427: „Ad universalem rerum omnium cognitionem, possessionem, usum, non puto perveniri posse, nisi per novam et universalem 1) Recognitionem omnium bonorum, una cum inventariis omnibus; 2) Collationem inventariorum cum rebus, an ita se habeant res ipsae, ut rationaria ilia nostra, seu regesta, referunt; 3) Dispositionen! eorum, quae reperta fuerint, novam et universalem, ad novos universales usus." Comenius, Conatuum pansophicorum, S. 470: „Sequitur dicendum, cur Pansophiae hoc

Templum ad ipsius architect! Summt Dei ideas, normas, legesque amstrui dicamus? Ratio

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in promptu est: quia totius dimensione partiumque numero, situ, usu, exemplar sequimur, quod ipsa sibimet delineavit Sapientia Dei. Primum apud Mosen, in erigendo Tabernaculo; deinde apud Salomonen in extruendo Templo; tandem apud Ezechielem, in gloriosius restaurando diruto Templo." Ibid., S. 470-471: „Observandum autem est posteriorem quamque formam pleniorem ac perfectiorem fuisse priore. Non quod Deus temporis et operarum progressu proficeret, et opera sua emendaret (quemadmodum hominibus in architectando

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Nach dem Entwurf des letzten (ezechielischen) Tempels ist das pansophische Modell aufgebaut. Comenius unterscheidet sieben Hauptteile (man denke an die symbolische Bedeutung dieser Zahl im Theater von Giulio Camillo!), und zwar: zuerst eine allgemeine Beschreibung der Tempelanlage mit ihren Maßangaben, dann das Osttor, das in die Tempelanlage hineinführte; drittens der erste Hof („Atrium vulgi seu extimum"), zu dem man durch drei Tore über sieben Stufen hinaufstieg; viertens der Mittelhof („Atrium medianum"), wo die Musikinstrumente aufbewahrt waren und die Leviten ihren Dienst verrichteten; fünftens der Innenhof („Atrium intimum"), wo der Brandopferaltar stand; sechstens das Tempelhaus mit dem Heiligen und Allerheiligsten („Vestibulum" und „Sanctum Sanctorum") und schließlich das fließende Wasser, das von der Tiefe emporsteigend durch die drei „Atria" hervorströmte und das ganze Land fruchtbar machte. Dementsprechend beginnt Comenius seine Pansophie mit einer allgemeinen Darlegung ihrer Inhalte, Anwendimg und Ziele („Prolegomena generalia").176 Durch das „Osttor" der Grundkenntnisse, die allgemein akzeptiert sind und keiner Demonstration bedürfen, wird man in die Pansophie eingeführt. Im ersten Hof („Atrium Vulgi") werden die Naturwissenschaften erlernt und alles, was mit unseren Sinnen erfaßbar ist. Der Mittelhof („Atrium medianum") ist die vierte Stufe der Pansophie. Hier gehören die Vorstellungsbilder hin, die die Einbildungskraft unserer Seele bearbeitet und zwischen den Sinnen und dem Intellekt stehen, sowie die Rhetorik. Das „Atrium intimum" vermittelt die intellektuellen Kenntnisse, mit denen der Mensch das Innerste seines Geistes kennenlernt und wahrnimmt, daß er einen freien Willen hat. Unter der Führung seines Verstandes ist er in der Lage, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen wie ein absoluter König. Hier denkt der Mensch über das Mysterium seines Schicksals und über seine Beziehung zu Gott nach und erkennt, wie überlegen die Lehre der Kirche gegenüber den Theorien der Philosophen

evenit, ut posteriores cogitationes videantur, et sint meliores); sed quia sic Ecclesiae suae profectus, cum tempore ventures, praefigurare voluit. Non enim sua, sed nostri causa, ista figurari jusserat. TABERNACULUM ergo Mosaicum, non nisi tripertitum fuit, Atrio, Sanctuario et Sancto Sanctorum constans, uti ex 40. Cap. Exodi liquet. Salomonis Templum habuit ante ultimum illud et intimum penetrale (Sanctum Sanctorum dictum) exteriora Atria tria: Atrium vulgi, Atrium Levitarum, Atrium Sacerdotum, tandemque illud soli Sacerdoti summo semel anno patens, Sanctum Sanctorum. Ezechieliani Templi structure tantodem partium numero constabat (quanquam pluribus muris et portis) situ tamen diverso. Salomonicum enim Templum in monte Moriah jacebat, sed in montis piano totum; Ezechieliani vero Templi exteriora in acclivitate montis sita erant, quovis interiore Atrio gradibus aliquot supra proximum elevato; ut tandem ipsum Templum, hoc est Sanctum Sanctorum, in summo montis constitutum splendissime quaquaversus fulgeret." 176

Ibid., S. 471-472.

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ist, wie hoch über alle andere Berge sich der Berg Gottes erhebt. Nur dann kann der Mensch in das Allerheiligste eintreten und die Herrlichkeit Gottes wahrnehmen. Hier erkennt der Mensch, daß alles von Gott stammt und alles auf Gott zurückgeht. Alles, was in den Geschöpfen anmutig, schön, gut und wünschenswert ist, besitzt Gott im höchsten Grad und auf vollkommene Weise. Daher sehnt sich der Mensch nach dieser Vollkommenheit und möchte von dieser ewigen Seligkeit genießen.177 Die siebte und letzte Stufe der pansophischen Weisheit ist durch das vom Tempel herausströmende Wasser dargestellt. Hier zeigt sich der Sinn des „Wassers der Weisheit", wie die Bibel oft bildhaft die Weisheit ausdrückt. Das Wasser verweist auf die evangelische Botschaft, die erst wie ein Rinnsal fließt und ständig in ihrem Lauf anwächst, bis sie zu einem unaufhaltsamen, kräftigen Fluß wird. In dieser letzten Stufe der Pansophie setzt sich der Mensch mit der evangelischen Wahrheit auseinander und prüft, ob und wieviel von diesem „Wasser" in seine Seele eingeströmt ist und wie er dieses in sich einlassen kann, damit die Gärten seiner Seele fruchtbar begossen werden.178 Der Tempel ist nicht nur Vorbild für die Einteilung der Wissenschaft, sondern auch für die Methode des wissenschaftlichen Verfahrens. Grundlage des Tempels, das heißt der Wissenschaft, ist die „Visio Dei", die Kontemplation Gottes, auf die man durch alle sichtbaren Dinge, die von der Weisheit, Macht und Güte Gottes durchdrungen sind, gelangt. Mit Holz, Metall und Steinen wurde der Tempel gebaut. Der Tempel der Weisheit soll aus der Sinneswahrnehmung, dem Verstand und der Offenbarung („sensus, ratio, revelatio") bestehen. Mit Edelsteinen, purem Gold und kostbarem Holz war der Innenraum des Tempelhauses verkleidet, und die Fußböden waren mit Gold belegt (vgl. 2Chr 3,5-7 und lKön 6,30). Dementsprechend sollen der Boden und die Wände des Tempels der Weisheit so ausgelegt werden, daß die Wahrheit sinnlich erfaßbar und von der Beweisführung der Ursachen gefestigt vom Glanz der göttlichen Beweise beleuchtet wird. Keinen Streit und keine Unstimmigkeit soll es bei seiner Errichtung geben, so wie der salomonische Tempel nur durch vollkommen behauene Steine, ohne Anwendung von Hämmern und anderen eisernen Werkzeugen, gebaut wurde. Dogmen und Glaubenslehren sollen nicht aufgehäuft, sondern durch Gleichnisse sollen sie dem Verstand angepaßt und begreiflich gemacht werden.179 Alles soll aus den vorausgesetzten Grundsätzen so vollkommen und vollständig hervorgehen, daß keine Risse und Unebenheiten in der gesamten Struktur entstehen, sondern daß sich alles wunderbar zusammenfügt. Nach vollkommenen mathematischen Proportionen wurde der salomonische Tempel gebaut, ebenso 177 178 179

Ibid., S. 473-474. Ibid., S. 475. Ibid., S. 477.

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soll der Tempel der Weisheit nach der Universalsymmetrie errichtet werden, damit unser labiler Verstand feste Anhaltspunkte hat. Der Tempel war mit Palmenzweigen und Verzierungen geschmückt, so soll man auf die stilistische Eleganz achten, um einen harmonischen Aufbau zu erreichen. Die Tempelanlage war von einer Mauer umgeben, die das Heilige vom Unheiligen trennte (vgl. Ez 42,20), ebenso ist alles heilig, was im Tempel der Weisheit enthalten ist, sowohl an und für sich als auch für ihre Zielsetzung, nämlich unsere Bestimmungen zu erkennen und ihnen zu folgen, um zur herrlichen Seligkeit Gottes zu gelangen, auf den alles vom höchsten bis zum niedrigsten Rang zurückzuführen ist.180 Auf diese Weise wird der Tempel der christlichen Pansophie errichtet, bei den Grundbegriffen beginnend, die für alle selbstverständlich und bekannt sind und auch die Ungläubigen zur unbekannten Wahrheit führen, so daß man ihn besser „Tempel der menschlichen Pansophie" nennen sollte.181 Die Enzyklopädie, oder besser die Pansophie, soll wie eine Art Leiter, „scala beata ad Deum", durch die verschiedenen Stufen der Schöpfung zur Kontemplation Gottes führen.182 Durch die Pansophie werden die Menschen den tieferen Sinn der Heiligen Schrift begreifen und die Geheimnisse der Natur entschlüsseln und schließlich den besseren Weg zur ewigen Seligkeit erkennen.183 Trotz der theologischen Zielsetzung werden das praktische Wissen und die „nützlichen Künste" nicht abgelehnt oder abgewertet, sondern als Bestandteil der Pansophie, angesehen.184 Die Durchführung einer so anspruchsvollen Unternehmung, nämlich die Vielfalt der Wirklichkeit auf ein einheitliches Bild zurückzuführen, ist für

Ibid., S. 478. Ibid., S. 469-470. 182 Comenius, Pansophiae Praeludium, in: Opera didactica omnia, Bd. I, Teil 1, S. 423. 183 Comenius, Conatuum pansophkorum, S. 458-459: „Per quae [das heißt durch eine Zusammenfassung der Bücher Gottes, nämlich der Natur, der Bibel, und des menschlichen Verstandes (ccmscientiae humanae)] voluimus, 1) Reddere Christianis Scripturam Sacram familiariorem, quam fere hactenus. 2) Tradere in manus clavem, pleraque maxima Naturae et Scripturae mysteria reserantem. 3) A studiis vitae huius ad Studium aeternae magis magisque traducere homines. Idque viis, per quas posse in melius profici iudicarunt, et judicant, quicqunque haec a fundamento cognoverunt." 184 Ibid.: „Describenda igitur ilia omnia sunt hominibus, legis instar, plane et lucide [vgl.] Deut. 27,8. Et quia accurate describenda, videndum, ne quid praetereatur. [...] non praetereundi sunt, qui materias inferiores tractarunt, Philosophi, Medici, Juris consulti, Mechanici, rerum variarum inventores, Historici, Cosmographi, ut ex omnibus particularibus scientiis, una tandem universalis scientiarum scientia, et ars artium, hoc est, Pansophia confiat." 180 181

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Comenius möglich, weil die gleichen göttlichen Gesetzmäßigkeiten sowohl in der Natur als auch in der Wissenschaft („Kunst") vorhanden sind.185 Das pansophische Modell soll aber wirklich „universal" realisiert werden. Damit dieses alle menschlichen Erfahrungen und Kenntnisse der Vergangenheit sowie der Gegenwart enthält und die zukünftigen Entdeckungen aufnehmen kann, ist die Mitarbeit aller Gelehrten erforderlich, die trotz der Glaubensunterschiede durch eine gleiche Forschungsmethode vereinigt nach demselben Ziel streben. Der Beitrag von allen Gelehrten, Christen wie Heiden, soll in das pansophische Modell einflieiSen. Auch der salomonische Tempel wurde mit der Beute von fremden Völkern, mit dem Zedernholz aus dem Libanon und mit Hilfe von ausländischen Architekten, gebaut.186 Nur auf diese Weise kann das pansophische Modell das Universum widerspiegeln und seine grundlegende Harmonie allen Menschen ersichtlich machen. Durch die Teilnahme aller Menschen an der Aufstellung der Pansophie wird - so glaubt Comenius - eine neue „Societas Christiana" entstehen, die befreit von den Irrtümern und den Verwirrungen, die von der Unordnung der Kenntnisse verursacht werden, ihr gemeinsames, harmonisches Zusammenleben im Einklang mit der Universalharmonie gestalten wird.187 Die endgültige Darlegung seines utopischen Glaubens an die erneuernde Kraft der Pansophie in der menschlichen Geschichte hat Comenius in De rerum humanarum emendatione consultatio catholica. Ad genus humanuni ante alios vero ad eruditos, religiosos, potentes (1645) ausgeführt. Seine pansophischen Vorstellungen fanden Anhänger, insbesondere in England, wo Gelehrte wie Samuel Hartlib, Theodor Haak und John Dury gleiche millenaristische und utopistische Hoffnungen hegten.188 Auf der anderen Seite weist die pädagogische Lehre von Comenius Aspekte auf, die Einflüsse von früheren Autoren vermuten lassen. Das Bedürfnis einer Reform der Lehrmethode, die schrittweise der geistigen Entwicklung der Schüler angepaßt sein soll, die Idee eines „aktiven" Lernens, das den Schüler in seiner Gesamtheit von Geist und Körper betrachtet und dementsprechend nicht nur die Psyche und den Intellekt berücksichtigt, sondern auch seine körperliche Potentialität in den Lernprozeß integriert, die Aufwertung der Sinneswahrnehmung als Unterstützung des Gedächtnisses, all dies ist

185

186 187



Ibid., S. 435: „Eadem proinde sunt rerum rationes nec differunt, nisi existendi forma: quia in Deo sunt ut in Archetipo, in natura ut in Ectypo, in arte ut in Antitypo". Siehe auch Rossi, Claois Unwersalis, S. 210. Ibid., S. 428-430. Siehe ibid., S. 423. Vasoli, L' enciclopedismo, S. 38.

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schon in den Schriften des Rabbi Low (c. 1525-1609), dem Maharal von Prag, und in der ratio studiorum der Jesuiten zu finden.189 Denn im Zuge der Neugestaltung der katholischen Kirche zur Zeit der Gegenreformation gab es auch auf der katholischen Seite Pläne um eine pansophische Restrukturierung des Wissens, die zugleich auch mit einer Bildungsreform verbunden war. Vor allem die Jesuiten, die zu gegenreformatorischen Bemühungen um eine kulturelle und theologische Neubestimmung einen wesentlichen Beitrag leisteten, nahmen an diesen pansophischen Projekten teil.190 Ihre pansophischen Modelle unterschieden sich nicht in der methodischen Grundlage, die sich im wesentlichen wie die protestantischen Modelle auf eine lullistische Taxonomie beriefen. Ebenso beanspruchten die katholischen Enzyklopädien, Spiegelbild einer kosmischen Ordnung zu sein, die durch die zweifache göttliche Offenbarung, nämlich die Bibel und die Natur, erfaßt werden könne, und ebenso wollten sie durch die Darstellung dieser Ordnung die gloria Dei preisen. Der Unterschied lag vielmehr in den politischen und sozialen Interpretationen der universalen „Ordnimg". Während die pansophischen Arbeiten der protestantischen Theologen im Rahmen apokalyptischer und chiliastischer Erwartungen als kulturelle Vorbereitung der bevorstehenden Herrschaft der Gerechten, wie beim calvinistischen Aisted, oder einer neuen versöhnten „Soäetas Christiana", wie bei Comenius, abgefaßt wurden, zielten die katholischen Darstellungen eines einheitlichen Wissens auf die Restauration der alten politischen und religiösen Ordnimg der Christenheit, die sich in dem römisch-katholischen Glauben wieder vereinigen sollte. Sie versuchten, sich den Herausforderungen der wissenschaftlichen Erneuerungen zu stellen, indem die neuen Erkenntnisse und Entdeckungen, die man nicht mehr leugnen konnte, einem institutionalisierten kulturellen Modell angepaßt wurden, wo alles in eine theologische Weltanschauung 189

A. F. Kleinberger, „The Didactics of Rabbi Loew of Prague", in: Scripta Hierosolymitana 13 (1963), S. 32-55; O. D. Kulka, „The Historical Background of the National and Educational Teaching of the Maharal of Prague" (hebräisch), in: Ζ ion 50 (1985), S. 277320; C. K. Ingall, „Reform and Redemption: the Maharal of Prague and John Amos Comenius", in: Religious Education 89 (1994), S. 358-375. Die Ratio atque Institutw Studiorum Societatis Iesu, deren pädagogische Grundzüge auf die Exerzitien von Ignatius von Loyola zurückgehen, hatte mehrere präparatorische Fassungen (1586, 1591), bis sie 1599 vom Ordensgeneral Aquaviva verabschiedet wurde. Siehe dazu L. Lukäcs, Monumenta Paedagogica Societatis Iesu, vol. 5, Roma 1986 und A. Demoustier/D. Julia/M. M. Compere, Ratio Studiorum. Plan raisonne et institution des etudes dans la Compagnie de Jesus, Paris 1997.

190

Siehe dazu C. Vasoli, „I Gesuiti e Γ enciclopedismo seicentesco", in: G. Demerson/ B. Dompnier/A. Regond (Hrsg.), Les Jisuites parmi les kommes aux XVIe et XVIIe siedes. Actes du colloque de Clermont-Ferrand, axrril 1985, organise par le Centre de recherches sur la Reforme et la Contre-Reforme de Γ Universite de Clermont II, Clermont-Ferrand 1987, S. 491-507.

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eingeordnet wurde. Trotz der konservativen und apologetischen Beweggründe blieben die Hauptvertreter der katholischen Pansophie nicht an den Aristotelismus der Scholastik gebunden. Vielmehr erkannten sie die kulturellen Herausforderungen und reagierten darauf scharfsinnig. Um ihre Auffassung der Weltordnung zu untermauern, griffen sie auf die neuplatonischen und hermetischen Theorien der Renaissance, auf rhetorisch und lullistisch angelegte Systeme zurück, die mit den suggestiven Vorstellungen der „magia naturalis" und der prisca theologia kombiniert wurden. Desgleichen interessierten sie sich für die praktischen Wissenschaften und für die Anwendungen der technologischen Entdeckungen (die „artes mechanicae"), aber immer mit dem Bestreben, alles durch Kompromisse und Mediation der Theologie unterzuordnen, die weiter den obersten Rang aller Disziplinen behalten und Maßstab der Wahrheit sein sollte.191 Um dem Erfolg der protestantischen Enzyklopädien entgegenzutreten, deren Einfluß auch in die katholischen Länder reichte, erschienen Mitte des 17. Jahrhunderts die ersten katholischen Enzyklopädien. Einer ihrer ersten Vertreter gehörte jedoch nicht dem Jesuitenorden an. Der Karmeliter Leon de Saint Jean (mit bürgerlichem Namen Jean Mace, 16001671), Mystiker und Prediger Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV., veröffentlichte schon 1635 in Paris seine Enzyklopädie mit dem bedeutungsvollen Titel Encyclopaediae praemessum, seu delineatio sapientiae universalis adumbrans atrium, templum, sacrarium, quibus praemittitur de virtutis scientiarum et eloquentiae corruptelis, deque earum restauratione [...] disquisitio.192 Nach seiner mystischen Auffassung des Kosmos ist die profane Wissenschaft nur die erste Stufe des Aufstiegs zur Kontemplation Gottes. Die Enzyklopädie soll vom „Atrium" der Naturwissenschaft über das „Templum" der metaphysischen Kenntnisse bis zum „Sacrarium" einer mystischen Erfahrung leiten. Die ordentliche, hierarchische Verkettung aller Wissenschaften ist ein Hinweis auf die ewige Weisheit Gottes. Eine so angelegte Enzyklopädie, die aufzeigt, wie sich die Weisheit Gottes in seiner Schöpfung entfaltet, widerlegt die Behauptungen der Atheisten und Skeptiker, die diese Weisheit verneinen. Die Grundlegung einer „Scientia de scientia" war das Anliegen auch des Jesuiten Sebastian Izquierdo (1601-1681), wie der lange Titel seines Hauptwerkes ankündigt: R. P. Sebast. Izquierdo Alcarazensis Soc. Iesu, supremi S. Inquisitionis Senatus Censoris, et olim Compluti SS. Theologiae Professoris PHARUS SCIENTIA191 m

Ibid., S. 493-494. Es folgten weitere enzyklopädische Werke: Studium sapientiae universalis, 1657; U academie des sciences et des arts pour raisonner de toutes choses et parvenir a la sagesse universelle, 1679. Dazu siehe C. Vasoli, „Tra mistica ed encyclopedia: lo ,Studium sapientiae' e ,Le portrait de la Sagesse universelle' di P. Leon de Saint Jean", in: Studi francesi XXVI/77 (1982), S. 211-232.

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RUM ubi quidquid ad cognitionem humanam humanitus acquisibilem pertinet, ubertim iuxta atque succincte pertractatur. Scientia de scientia, ad summam universalitatem, scientificisque iucundissima, scientifica methodo exibetur. Aristotelis Organum iam pene läbens restituitur, illustratur, augetur atque a defectibus absolvitur. Ars demum legitima, ac prorsus mirabilis sciendi, omnesque scientias in infinitum propaganda, et methodice digerendi; a nonnullis ex Antiquioribus religiose celata; a multis studiose quaesita; a paucis inventa; a nemine ex propriis prindpiis hactenus demonstrata, demonstrative, aperte, et absque involucris mysteriorum in lucem proditur. Quo vere Encyclopaediae orbis facile a cunctis circumvolvendus, eximio scientiarum omnium emolumento manet expositus (Lyon 1659).193 Trotz der Kritik, die Izquierdo gegen Lull us führt, bleibt seine Enzyklopädie lullistisch angelegt. Als lobenswert stellt Izquierdo den Versuch von Lullus und seinen Anhängern heraus, eine Universalwissenschaft zu gründen. Ihr Versuch sei aber gescheitert, weil dessen Kombinatorik auf die einzelnen Disziplinen nicht anwendbar sei.194 Ziel der Wissenschaft, die sich entweder auf die Physik oder auf die Metaphysik zurückführen läßt, ist es, eine universale Kenntnis zu erreichen, die alle anderen, besonderen Kenntnisse beinhaltet.195 Ihre Grundlage sind die Universalbegriffe („conceptus universales"), die sich in „conceptus primae intentionis" und „conceptus secundae intentionis" unterscheiden. „Conceptus primae intentionis" sind diejenigen, die an und für sich unabhängig von unserem Intellekt den Dingen angehören, wie zum Beispiel der Begriff von „Existenz", „Lebewesen", „Vernunft" und so weiter. „Conceptus secundae intentionis" werden den Dingen durch eine Handlung unseres Verstandes zugeschrieben. Begriffe „secundae intentionis" sind zum Beispiel der Begriff von Prädikat, von Handlung, der durch ein Verb ausgedrückt wird, von Form, Geschlecht, Gattung und ähnliches. Nur die „conceptus secundae intentionis" sind absolut allgemein, weil unsere Kenntnisnahme nur durch solche Begriffe erfolgt. Die Aufgabe der Enzyklopädie besteht nicht darin, alle Disziplinen anzusammeln und anzuhäufen, sondern die universal anwendbaren Grundsätze festzusetzen und die Gegenstände und die Mechanismen des menschlichen 193

194

195

Über Izquierdo siehe R. Cenal, „El P. Sebastian Izquierdo (1601-1681) y su Pharus Scientiarum", in: Reoista de Filosofia I (1942), S. 127-154; id., La combinatoria de Sebastian Izquierdo: „Pharus Scientiarum" (1659) Disp. XXIX. De Combinatione. Texto latino y traduction espaüola con una introduction: La „Disputatio de combinatione" de Izquierdo en la historia de la aritmetica combinatoria, Madrid 1974. Izquierdo, Pharus scientiarum, Teil II, S. 282: „Quarto quod non advertit, regulas suas non solum circa terminos universalissimos, quos prae se fert, sed insuper circa specialiores singularum scientiarum debere exerceri, ut harum veritates speciales per artem hanc inveniri queant. [...] Cum sit certissimum [...] atque ita ad deprehendendas specialiores uniuscuiusque scientiae specialiores uniuscuiusque scientiae terminos debere combinari." Ibid., Praefatio ad lectorem.

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Erkenntnisprozesses zu untersuchen. Die Enzyklopädie soll eine Universalwissenschaft sein, die sich selbst und alle anderen Wissensbereiche beinhaltet.196 Die Enzyklopädie soll daher aus zwei Hauptteilen bestehen, aus einem theoretischen Teil, der sich mit dem Erkenntnisprozeß und seinen Grenzen beschäftigt, und aus einem praktischen Teil, der die Bedingungen und die Mittel der Erkenntnis untersucht und auf diese Weise ermöglicht, das Wissen weiter zu vermehren.197 Ein wissenschaftlicher Erkenntnisprozeß soll nach einem „ordo geometricus" erfolgen, der, von einigen Axiomen ausgehend, deduktiv zur Demonstration imbestreitbarer Thesen gelangt. Izquierdo gibt zu, daß Lord Bacon zuverlässige Regeln für den experimentellen Erkenntnisprozeß festgesetzt hat, lehnt aber die These von Bacon ab, daß alles nur von empirischen Kenntnissen abhängt. Für Izquierdo liegt vielmehr ein „judicium verax", das sowohl von der Erfahrung als auch von einer intellektuellen Spekulation gewonnen werden kann, jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde. Ein wahres Urteil erfolgt nur durch die Verbindung („combinatio") von Subjekt und Prädikat. Nur eine Methode, die alle möglichen Kombinationen von Subjekt und Prädikat berücksichtigt, bietet ein zuverlässiges Wahrheitskriterium für eine Klassifizierung der Wissenschaft und für die weitere Forschung. Seine „ars combinandi", die die aristotelische Logik mit der lullistischen Kombinatorik und der Mnemonik vereinbart und ergänzt, erfüllt diese Voraussetzung („ars inveniendi medium, et quamlibet propositionem in qualibet scientia humana probandam") für die Aufstellung einer Enzyklopädie, in der sich die mathematische Harmonie der Schöpfung widerspiegelt, und für die systematische Entwicklung der Wissenschaft.198 Denn für Izquierdo wächst die „arbor scientiae" mit ihren zwei 1,6

Ibid.: „Suppono quinto. Encyclopaediam apud Antiques celebratissimam (quae latine scientia orbicularis, seu circularis dici potest) non iam in aggregato omnium scientiarum, ut aliqui putant, sed in speciali quadam scientia consistere ob summam suam universalitatem omnes omnino scientias humanas atque adeo et se ipsam suo ambitu complectente: ea autem est scientia de scientia, de scibilique in universum, id est, scientia habens pro obiecto scientiam humanam in toto hoc opere latissime pro omni notitia, pro omnive aggregato notitiarum (humanitus acquisibili)."

197

Ibid.: „Porro huiusmodi Encyclopaedia duas partes habet. Alteram theoricam, quae de natura, passionibusque scientiae humanae, obiectique humanitus cognoscibilis, atque adeo scibilis prout talis agit, alteram practicam, quae instrumenta praebet, regulasque sciendi in omni materia, atque adeo omnem omnino humanam scientiam novis in dies notitiis partis, ac veritatibus inventis, in infinitum propagandi methodiceque digerendi." Ibid.: „Et haec est Ars universalis, legitimaque sciendi, complectens quidem logicam integram, quae ars intelligendi perfectiva intellectus est: addens tarnen insuper artem memorandi perfectivam memoriae, et artem imaginandi perfectivam phantasiae, et artem experiendi perfectivam externorum sensuum. Dixi logicam integram: quia, quam ex Aristotele habemus, nondum integra est."

1,8

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Hauptzweigen der Physik und der Metaphysik ständig mit neuen Zweigen. Das menschliche Wissen entwickelt sich und vermehrt sich von Generation zu Generation und kann von keiner „Auctoritas" noch von der falschen Annahme, daß alles schon bekannt sei, aufgehalten werden.199 Entsprechend den Interessen des jesuitischen Ordens für die „artes mechanicae" finden die neuen technischen Entdeckungen (wie das Schießpulver, der Kompaß, das Fernrohr, die Druckkunst etc.) einen gebührenden Platz in der Enzyklopädie von Izquierdo, der auch unter anderem die Entdeckungen von Kepler und Galileo ohne Verurteilung erwähnt.200 Typischer Vertreter einer Pansophie im Dienste der Gegenreformation war der Jesuit Athanasius Kircher (1602-1680), eine der herausragendsten Persönlichkeiten der europäischen Barockkultur, wie dies sein Briefwechsel mit Gelehrten, Philosophen und Fürsten belegt.201 Seine über vierzig in Folio gedruckten Werke sind ein Musterbeispiel der kulturellen Strömungen und Interessen der Barockzeit. Der interdisziplinäre Charakter seiner Werke, denen der Glaube an die Einheit des Wissens und an eine allgemeine, unveränderliche Weisheit, die wie ein Leitfaden die ganze Geschichte der Menschheit durchdringt, zugrunde liegt, kann dem modernen Leser den Eindruck erwecken, sie seien nur eine unsystematische Ansammlung von wissenschaftlichen Kenntnissen und volkstümlichem Aberglauben. In der Tat ist nicht zu leugnen, daß bei Kircher trotz der zweifellos umfassenden Bildung eine gründliche und kritische Behandlung seiner Quellen mangelhaft war. Schon unter seinen Zeitgenossen war die Meinung über ihn geteilt. Einerseits war er als „prodigiosum nostri saeculi miraculum" gepriesen,202 anderer199

Ibid., Π, S. 270: „Scientiam humanam successu temporis esse sine termino augibilem, tum per novas veritates inventas, tum per veteres falsitates detectas, ipsi eventus scientiarum qui semper successu temporis evenerunt, satis superque manifestant." Siehe auch Vasoli, „I Gesuiti", S. 496-497.

200

Ibid., n,S. 270-271. Siehe J. Fletcher, „Athanasius Kircher and his Correspondence", in: J. Fletcher (Hrsg.), Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit, Wiesbaden 1988, S. 139-178. Die Briefe von Kircher sind bei der „Pontificia Universitä Gregoriana" in Rom, Ms. Pont. Univ. Greg. 555-568 (I-XIV) aufbewahrt. Über Kirchers pansophische Vorstellungen siehe Leinkauf, Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universahvissenschaft am Beispiel Athanasius Kircher Sf (1602-1680), Berlin 1993. Uber sein Interesse für Hermetismus und die prisca theologia siehe C. Reilly S.J., Athanasius Kircher. Master of a Hundred Arts, Wiesbaden 1974; D. Pastine, La nascita dell' idolatria. L' Oriente religiöse di Athanasius Kircher, Firenze 1978 und J. Godwin, Athanasius Kircher. A Renaissance Man and the Quest for Lost Knowledge, London 1979.

201

202

So Johann Kestler, Schüler und Assistent von Kircher, im Vorwort zur Physiologia Kircheriana Experimentalis, (Roma 1675, 2. Auflage Amsterdam 1680). Siehe auch L. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Bd. VII, New York 1958, S. 568 und Bd. VIII, S. 224.

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seits fehlten nicht kritische Stimmen, die ihm vorwarfen, zu leichtgläubig und allzu oberflächlich zu sein. In einem Brief an Galileo Galilei drückte Evangelista Torricelli seine Meinung über die Abhandlung von Kircher über den Magneten folgendermaßen aus: „Das gedruckte Werk ist ein sehr großer, ausschweifender Band über den Magneten. Sie werden von Astrolabien, Uhren, Windzeigern mit einer Menge von abstrusen Vokabeln hören. Unter anderem gibt es auch jede Menge von kleinen und großen Karaffen, Epigrammen, Distichen, Epitaphien, Inschriften, teils lateinisch, teils auf griechisch, teils auf arabisch, teils auf hebräisch und in anderen Sprachen. Unter so merkwürdigen Dingen wird auch die Partitur jener Musik angeführt, von der er behauptet, Heilmittel gegen den giftigen Biß der Tarantel zu sein. Damit genug! Herr Nardi, Magiotti und ich haben eine ganze Weile gelacht."203 Die Anlage dieser Abhandlung von Kircher, die mehr oder weniger in allen seinen Werken zu finden ist, entspricht einer Weltanschauung, die für die Vertreter einer physikalisch-mathematischen Weltvorstellung, wie Torricelli, Cartesio und Galilei, so fremd war wie auch für uns heute. Der feste Glaube an eine einzige, ewige Weisheit, die sich auf verschiedene Weise im Lauf der Geschichte der Menschheit zeigt und alle Dinge und Lebewesen der Schöpfung zusammenhält, erlaubt Kircher, die unterschiedlichsten Dinge zu vergleichen und die gewagtesten Theorien aufzustellen. Die Welt erscheint ihm als ein Gefüge von geheimnisvollen Analogien und Symbolen, die eine tiefere Wahrheit verbergen. Die Anlage seiner Werke spiegelt seine pansophisch-theosophische Auffassung des Wissens und seine Überzeugung wider, daß es dem Menschen möglich ist, den Geheimkodex der Schöpfung durch einen universalen, göttlichen Schlüssel zu entziffern. Dafür vereinbart er eklektisch seine scholastische Bildimg mit dem Hermetismus, Kabbala und der lullistischen Kombinatorik in der apologetischen Bestrebung, dem vertrauten Weltbild die neuen Entdeckungen und Kenntnisse anzupassen und die alte Ordnung des Universums mit der weltlichen Verherrlichung der „monarchiae spiritualis" und der „ecclesiae triumphantis" zu verteidigen.204

2)4

Le apere di Galileo Galüei, Edizione naziorude, 20 Bde. (Firenze 1890-1909), Bd. 18, S. 332; zitiert nach P. Rossi, La nascita della scienza modema in Europa, Roma/Bari 1997, S. 241: ,,L' opera stampata e un volume assai grosso sopra la calamita; un volume arricchito con una gran suppellettile di bei rami. Sentirä astrolabii, horologi, anemoscopi con una mano poi di vocaboli stravagantissimi. Fra le altre cose poi vi sono moltissime caraffe e caraffoni, epigrammi, distiri, epitaffii, inscrittioni, parte in latino, parte in greco, parte in arabico, parte in hebraico et altre lingue. Fra le cose belle vi e in partitura quella musica che dice essere antidoto del veleno della tarantola. Basta: il sig. Nardi, Magiotti et io habbiamo riso un pezzo." Vasoli, V ertciclopedismo, S. 42-44.

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Diese Kombination von Lullismus und Hermetismus war nicht nur ein typisches Merkmal der jesuitischen Pansophie dieser Zeit.205 Obwohl Isaak Casaubon in seiner Widerlegung der Annales ecclesiastici des Kardinals Cesare Baronio die Zuschreibimg des Corpus Hermeticum dem vermuteten eilten ägyptischen Priester Hermes Trismegistus bereits als historisch falsch nachgewiesen hatte, dauerte der Kult für die prisca theologia noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts an und fand Anhänger nicht nur unter den katholischen Gelehrten.206 Gerade drei Jahre nach dem Erscheinen der Arbeit von Casaubon veröffentlichte Robert Fludd (1574—1637) den ersten Band der Utriusque cosmi, maioris scilicet et minoris, methaphysica, physica atque technica historia (2 Bde., Oppenheim 1617-1619), die im entschiedenen Gegensatz zur Auffassung von Casaubon steht. Sich auf die von Marsilio Ficino angefertigte lateinische Übersetzimg des Corpus Hermeticum beziehend, hält Fludd Hermes Trismegistus für das Ebenbild Moses, des priscus theologus, bei weitem älter als Piaton. Für Fludd haben die hermetischen Schriften fast die gleiche Autorität wie die Bibel, weil sie die gleiche Wahrheit vermitteln. Weiterhin ergänzt Fludd den Hermetismus mit der christlichen Kabbala von Pico und Reuchlin.207 Diese Synthese von Kabbala und Hermetismus bildet die Grundlage der gesamten Arbeiten von Kircher. In seiner Suche nach Belegen für die prisca theologia widmete er sich der Forschung der Hieroglyphen sowie der neuen esoterischen Sprachen wie Chinesisch und die amerikanischen Ideogramme, die die jesuitischen Missionare nach Europa mitgebracht hatten. Obwohl seine Interpretationen aus heutiger Sicht falsch waren - immerhin erkannte Kircher schon die Bedeutung des Äthiopischen für die Entschlüsselung der Hieroglyphen! -, kam er bald in den Ruf, ein kompetenter Ägyptologe zu sein, und 205

206

207

Siehe Thorndike, History of Magic, Bd. VII, S. 577-578 und Rossi, Clavis Universalis, S. 215-216. Isaak Casaubon (1559-1614) mit De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI (London 1614) wollte das Werk des Kardinals Baronio einer kritischen Prüfung unterziehen. Er starb aber, ohne sein Vorhaben vollendet zu haben. Über Casaubon siehe F. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964 [Chicago, 1991], Kap. 21. Allerdings wurden schon vor Casaubon erste Zweifel über die Echtheit des Corpus hermeticum aufgeworfen. Siehe dazu: M. Mulsow (Hrsg.), Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance, Tübingen 2002. Die zwischen 1588 und 1607 erschienenen Annales ecclesiastici waren von Cesare Baronio als gegenreformistische Widerlegung der protestantischen Auslegung der Kirchengeschichte gedacht. Im ersten Band widmet Baronio ein langes Kapitel der heidnischen Prophezeiungen der Ankunft Christi mit Bezugnahme auf Lactantius, Hermes Trismegistus, Hystaspes und die Sybillen (allerdings ohne jegliche historische kritische Prüfung). Siehe dazu Secret, Les Kabbalistes Chretiens, S. 236. In einem anderen Werk, Philosophia moysaica (Gouda 1638), vergleicht Fludd die se/irai mit den himmlischen Hierarchien des Pseudo-Dionysius. Siehe Yates, Giordano Bruno, S. 405.

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wurde von Papst Urban VIII. zum Professor für Mathematik, Physik und Orientalische Sprachen ernannt.208 Seine zwischen 1652 und 1654 erschienene vierbändige Arbeit über die Hieroglyphen belegt sehr gut den hermetischkabbalistischen Ansatz seiner Forschungen.209 Kircher geht von der schon in der Renaissance verbreiteten Überzeugung aus, daß die Hieroglyphen symbolhaft christliche Mysterien andeuten, und glaubt, wie schon Ficino, Hermes Trismegistus sei ihr Erfinder gewesen.210 Hermes war für Kircher ein Zeitgenosse Abrahams und entsprechend dem Willen der göttlichen Vorsehung Verwahrer einer antiken Weisheit, die die christliche Wahrheit voraussagte.211 Nach ihm waren Orpheus, Pythagoras, Philolaos bis Piaton, mit dem die Traditionskette endete, Vertreter der prisca theologia.212 Nicht nur Theologe war Hermes Trismegistus, sondern auch Mathematiker. Noch vor Pythagoras beschäftigte sich Hermes mit der „scientia numerorum". Im zweiten Band des Oedipus Aegyptiacus ist ein ganzes Kapitel der Arithmetica Hieroglyphica gewidmet. Kirchers Auffassung der Zahlen folgt der hermetisch-pythagoreischen Tradition, wonach die Zahlen als Symbole einer mysteriösen Universalharmonie eine kosmologische und mystische Bedeutung haben.213 In seinem Vorwort zur Arithmetica Hieroglyphica warnt Kircher seinen Leser davor, die Zahlen in ihrer geläufigen Funktion als Berechnungsnüttel zu betrachten, sie seien vielmehr geheimnisvolle Symbole der göttlichen Weisheit, 208

Eigentlich hatte Kircher von seinen Vorgesetzten den Befehl erhalten, sich nach Wien zu begeben, um am Hof Ferdinands Π. die Stelle von Kepler, der 1631 gestorben war, anzutreten. Der französische Adlige Claude Fabri de Peiresc, der Kirchers Arbeiten kannte und mit ihm das Interesse für die Hieroglyphen teilte, schickte aber eine Bitte an den Papst und an den Kardinal Barberini, um Kirchers Versetzung nach Wien zu verhindern, und bewirkte damit seine Ernennung am Collegium Romanum. Siehe dazu J. Godwin, Athanasius Kircher. Α Renaissance Man and the Quest for Lost Knowledge, London 1979, S. 11.

209

Athanasii Kircherii e soc. Iesu Oedipus Aegyptiacus. Hoc est Universalis Hieroglyphicae Veterum Doctrinae temporum iniuria abolitae mstauratio. Opus ex omni Orientalium doctrina et sapientia conditum, nec rum viginti divinarum linguarum authoritate stabilitum, felicibus auspiciis Ferdinandi III austriaci sapientissimi et invictissimi Romanorum Imperatoris semper Augusti e tenebris erutum atque Bono Reipublicae literariae consecratum, Romae, Bd. 11652, W~ 2 1653,011654. Kircher, Oedipus Aegyptiacus, ID, S. 332-334,568. Vgl. Yates, Giordano Bruno, S. 420. Kircher, Oedipus Aegyptiacus, Π, S. 498: „Qui quidem inter Philosophos a Physicis et Mathematicis ad divinorum contemplationem primus se contulit, primus de Dei maiestate, Daemonum ordine, animarum mutationibus sapientissime disputavit, primus merito Theologiae Author." Ibid.: „Itaque verae priscae Theologiae undique sibi consona secta, ex Theologis sex miro quodam ordine conflata, exordium duxit a Mercurio, a Piatone penitus absoluta fuit." Die „misteria numerorum" behandelt Kircher ausführlich in Arithmologia sive de abditis numerorum mysteriis, Romae 1665.

210 211

212

2,3

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die in den vier Welten waltet, nämlich in der Urwelt bzw. der intelligiblen Welt, w o die Ideen aller Dinge, die im Verstand Gottes enthalten sind, ihren Sitz haben, der Engelwelt bzw. der intellektuelle Welt, Sitz der Engelchöre, der Sternenwelt und der Elementarwelt, die aus den Grundelementen (Luft, Wasser, Erde und Feuer) besteht. 214 Die „scientia numerorum" ist für Kircher Teil und Ergänzung der Theologie und drückt die Universalharmonie der Schöpfung auf vollkommene Art und Weise durch die Musik aus, der Kircher einen umfassenden Traktat (1152 Folioseiten!) gewidmet hat. Wie der umschreibende Titel ankündigt, weist seine Abhandlung über die musikalische Harmonie, die Kircher in allen Wissenszweigen sieht, einen enzyklopädischen Charakter auf: Musurgia Universalis, sive Ars Magna consoni et dissoni in X libros digesta. Qua Universa Scmorum doctrina, et Philosophia, Musicaeque tarn theoricae, quam practicae scientia, summa varietate traditur, admirandae Consoni et Dissoni in mundo, adeoque Universa Natura vires effectusque, uti nova, ita peregrirta variorum speciminum exhibitione ad singulares usus, tum in omnipoene facultate, tum potissimum in Philologia, Mathematica, Physica, Mechanica, Medicina, Politico, Metaphysica, Theologia aperiuntur et demonstrantur (Rom 1650). 215 Für Kircher gehört die Musik der ganzen Menschheit, die sie schon vor der Sintflut kannte. Sie ist nicht Erfindung eines einzelnen Volkes, vielmehr ist sie eines jener Dinge, die der Mensch auf natürliche Weise immer entdecken würde. 2 1 6 Dennoch hatten die Ägypter, auch von den zahlreichen Schilfrohren

214

Kircher, Oedipus Aegyptiacus, Π, Bd. 6: „Nemo, dum nos de Arithmetica tractaturos percipit, vulgarem illum mercatorum calculum tradituros existimet, sed reconditiorem illam numerorum scientiam, qua per occultam quandam analogiam arcanior Theologiae pars concluditur; quae uti ex mente divina et suprema monade perenni emanatione scaturit, ita omnia quoque quatuor Mundorum supra explicatorum, omniumque in iis contentorum mysteria involvit." Siehe auch Musurgia Universalis, Bd. II, S. 441: „Loquimur autem hic de numero non mathematico, sed de numero symbolico et rationali, qui ex divina mente procedit, cuius mathematicus imago quaedam est et similitudo, sicut enim mens nostra se habet ad mentem divinam, ita numerus mentis nostrae ad numerum mentis divinae."

215

Auf deutsch: „Musurgia Universalis, das heißt die große Kunst der Konsonanz und der Dissonanz in zehn Bücher eingeteilt, in denen die Theorie und Philosophie der Klänge und die Musikwissenschaft, sowohl die praktische als auch die theoretische, vollständig und ausführlich dargelegt wird; detailliert werden die Macht und die Auswirkungen der Konsonanz und der Dissonanz in der Welt und insbesondere in der Natur durch die Anführung neuer sowie wegen der außerordentlichen Anwendungen sowohl in fast allen Gelegenheiten als auch vor allem in der Philologie, Mathematik, Physik, Mechanik, Medizin, Politik, Metaphysik und Theologie ungewöhnlichen Beispiele erklärt."

216

Musurgia Universalis, Bd. I, S. 44: „Musica igitur non a Graecis aut Aegyptiis aut Chaldaeis, sed a primis ante diluvium hominibus primam habuit suae inventionis originem; immo si omnes homines e mundo iam tollerentur praeter paucos pueros

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begünstigt, die am Ufer des Nils wuchsen, das Verdienst, die nach der Sintflut in Vergessenheit geratene Musikkunst wieder entdeckt zu haben. Bei ihnen war die Musik hoch verehrt, wie selbst der Name „Mose", lateinisch „Moys", belegt, den Kircher von „Musica" ableitet.217 Von den Ägyptern wurde die Musikkunst dann über die Griechen und die Lateiner den anderen Völkern weiter überliefert. Daß die Hebräer die Musik sehr gut kannten, läßt sich für Kircher dadurch beweisen, daß David und Salomo von Gott mit einer vollkommenen Weisheit ausgestattet wurden. Der Tempel selbst - und damit knüpft Kircher an die Tempelinterpretation seines Mitbruders Villalpando wieder an - wurde von Salomo nach musikalischen Proportionen gebaut: Es besteht kein Zweifel, daß die Musik der Hebräer zur Zeit Davids und Salomos vollkommen war. Da sich David bereits als Kind mit der Musik beschäftigt hatte und von ihr in erstaunlicher Weise geprägt worden war, war es selbstverständlich, daß er sie auf alle möglichen Weisen förderte, als er ein höheres Amt bekleidete; Salomo war seinerseits auf natürliche Weise mit einem allumfassenden Wissen versehen, so daß man davon ausgehen kann, daß er von Gott besonders in der Musikkunst gelehrt wurde. Denn ich sehe nicht, wie er jenes göttliche Gebäude entsprechend den Regeln der harmonischen Proportionen mit allen Zahlen hätte bauen können, wenn er eine perfekte Kenntnis und Erfahrung der Musik nicht gehabt hätte. Daß alle Gegenstände des Tempels nach einer wunderbaren Ordnung verteilt waren und insbesondere die Musikinstrumente kunstvoll, mit großer Vielfältigkeit und höchstem Wissen angefertigt wurden, kann nur derjenige übersehen, der die ordentliche Aufstellung der einzelnen Dinge, die in diesem wunderbaren, göttlichen Bauwerk waren, nicht begriffen hat.218

217

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rerum ignaros, hosce tarnen tum necessitate cogente tarn [sie! richtig „tum"] casu et experientia cum tempore in varias inventiones humano generi necessarias incidere posse nihil dubito; inventiones enim rerum homini insitae sunt, nec libris solum discuntur, sed et intellectu aliqua insigni necessitate cogente, vel casu aut experientia vel genii suggestione eruuntur; Musicam igitur iam a prineipio fuisse, praeterquam quod Sacrae Literae id luculenter testentur, ipsa etiam ratio dictat, ut dixi, certe 4. cap. num. 21 Geneseos musicorum instrumentorum inventio Iubali aperte adscribitur [...]". Vgl. auch Oedipus Aegyptiacus, Bd. II/2, S. 120-121. Ibid.: „At vero post diluvium Aegyptii primi fuerunt perditae Musicae instauratores. Hi enim a Chamo et Mesraimo filio eius instrueti Musicam in tan tum illustrarunt, ut vel ab Aegyptio verbo Moys Musica etymon suam sumpserit, eo quod ad stagnantes Nili paludes, occasione arundinae, papyracaeque sobolis (ex qua litos suos efformabant) ibidem copiose repullulascentis inventa ac instaurata sit [---]". Ibid., Bd. I, S. 55: „Nullum dubium est, quin Musica Hebraeorum tempore Davidis et Salomonis fuerit perfectissima, cum enim David a puero Musicum [sie! richtig „Musicam"] ageret, eaque mirum in modum afficeretur, fieri certe non potuit, ut eam ad altiorem dignitatis gradum elatus non omnibus modis promoverit; Salomon vero infusa imbutus scientia, uti aliarum omnium rerum, ita vel maxime musica a Deo instruetum fuisse credi debet, quomodo enim Divinum illud aedificium iuxta harmo-

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Einleitung: Vom „Theatrum mundi" zum „Templum sapientiae"

Die prisca theologia als Deuteschlüssel der menschlichen Geschichte ist ein Aspekt jener Universalharmonie, die in der Mannigfaltigkeit der Naturphänomene durchscheint. U m den Zusammenhang der Weltanalogien zu erschließen und somit die Universalharmonie z u erfassen, ist für Kircher eine besondere Wissenschaft erforderlich, die die Seinsstrukturen in ihrer Vielfältigkeit erkennt und durch ihre Analogien kombiniert. Seine Vorstellung von einer solchen Universalwissenschaft hat Kircher in seinem Traktat Ars magna sciendi (Amsterd a m 1669) zusammengefaßt. Die Hauptsäulen, auf denen diese Wissenschaft gründet, sind das analogische und das kombinatorische Verfahren. In der Einleitung stellt er d e m Leser seine zweifache Methode so vor: Ich möchte dich, Leser, wissen lassen, daß sich das System dieser Erfindung [das heißt „artis magnae sciendi"] wie auf zwei Türangeln stützt, von denen die erste die Kombination der Grundsätze miteinander ist, was durch eine Synthese, die man Zusammensetzung nennt, erfolgt, und das ist nichts anderes als die Zurückführung der verschiedenen Prädikate auf ihre Einheit oder von ihrer Einheit auf die Vielfältigkeit der Dinge, ebenso wie die Verbreitung einer Quelle in zahlreiche Bächlein, was wir Auflösung nennen; die andere Türangel ist das analogische Verfahren, mit dem wir durch die verschiedenen Verschattungen, die kleinsten Dinge in den größten, die mittelgroßen in den niedrigsten sowie in den Ranghöchsten, die Ranghöchsten in den mittleren und in den niedrigsten, mit einem Wort alles in allem auf seine Art und Weise erfassen.219 Diese sind für Kircher die Grundformen eines Wissens, das beansprucht, universal zu sein, das heißt allgemein gültig, anwendbar und unabhängig von jeder anderen wissenschaftlichen Methodik. Der menschliche Intellekt, von Gott geleitet, rekonstruiert in sich selbst durch die Kombination und Zuordnimg nicarum proportionum regulas omnibus numeris elaboratum, sine maxima musicae scientia peritiaque fieri potuerit, non video; certe omnia templi vasa miro ordine distribute, tum maxime instrumenta musica summo artificio elaborata cum maxima varietate et sapientia condita fuisse, solus is nescire poterit, qui ordinem et dispositionem singularum rerum, in mirifica hac et divina fabrica occurentium, non intellexerit." A. Kircher, Ars Magna Sciendi, in XII libros digesta, qua nova et universali methodo per artifitiosum combinationum contextum de omni re proposita plurimis et prope infinitis rationibus disputari, omniumque summaria quaedam cognitio comparari potest. Ad Augustissimum Rom. Imperatorem Leopoldum Primum, Amsterdam 1669, S. 2a: „Scire velim, Lector, totius huius inventionis rationem, velut duobus cardinibus versari, quorum primus est ipsa Combinatio principiorum inter se, quod fit per Synthesim, quam compositionem vocant, nihilque aliud est, quam complurium principiorum praedicatorum ad unitatem reductio, vel ex unitate in multitudinem rerum, haud secus ac fontis in innumeros rivos deducti diffusio, quam analysin sive resolutionem dicimus. Alter cardo est, Ars Analogica, qua per diversas similitudinum umbras minima in maximis, media in infimis, supremisque, suprema in mediis, infimisque, verbo: omnia in omnibus suo modo esse deprehendimus."

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aller Konstitutivelemente des Seins, die in ihren analogischen Verbindungen erkannt werden, die Urform des Seins, die zugleich auch als Urform des Wissens betrachtet wird. Der Intellekt gestaltet sich mit anderen Worten am Ende des Erkenntnisverfahrens zu einem Wissensgebäude („absolutissimum humanae mentis aedificium").220 Der Weg zu dieser Wissenschaft wurde schon von Lullus und seinen Nachfolgern (Gregoire, Gemma, Pedro Sanchez, Yves de Paris) und zuletzt von Izquierdo gezeigt. Das lullistische Alphabet ist aber für Kircher inadäquat und unpräzise für eine wissenschaftliche Zuordnung aller Begriffe. Die Arbeit von Izquierdo ist für Kircher sicher grundlegend und scharfsinnig, aber zu kompliziert für diejenigen, die keine metaphysischen Vorkenntnisse haben.221 Kircher schlägt dagegen ein Alphabet vor, das auch aus Symbolen, Zeichen und Zahlen besteht, was eine leichtere und präzisere Beschreibung ermöglichen sollte.222 Die Vorstellungen von Kircher fanden auch bei anderen Jesuiten Nachklang. Die Via regia des Jesuiten Caspar Knittel, Mathematiker, Philosoph und Rektor der Prager Universität, ist der Versuch, das analogisch-kombinatorische Modell von Kircher in einer vereinfachten Form darzulegen.223 Für Knittel gibt es keine bessere Methode, die geheimnisvollen Analogien, mit denen wie mit einer aurea catena der physische Kosmos mit dem politischen Kosmos und dem Menschen verbunden ist, zu erfassen. Auf diese Weise, da man die Innenstruktur des Seins und das Universalsystem von Korrelationen erkannt hat, ist man in der Lage, über jedes beliebige Thema zu diskutieren und bei jedem

220

Ibid., S. 1 a-b: „Artem Magnam, sive Combinatoriam, felici Numinis ductu, auspicamur; Artem, inquam, artium, scientiarum officinam, foecundum mentium seminarium, totius humanae cognitionis clavem, qua ad rerum omnium, quae sub intellectus notitiam, cognitionemque, quovis modo pertinent, aditus patet amplissimus; unde eam non meliori, quam Artis Magnae nomine, indigitandam duximus. Artem inscribimus Combinatoriam, quia sagaci mentis scrutinio, omnia singulis, et singulis singula, apte comparat, pulchre componit, et exacte distribuit, in absolutissimum humanae mentis aedificium." Siehe dazu Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 179-182; Leinkauf, Mundus combinatus, S. 163.

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Kircher, Ars Magna Sciendi, S. 3-4. Siehe auch Vasoli, I Gesuiti, S. 499. Für eine ausführliche und kritische Beschreibung des Kircherschen Modells siehe Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 179-186; Leinkauf, Mundus combinatus, S. 161-190. Caspari Knittelii e Societate Iesu Via regia ad omnes scientias et artes, hoc est Ars universalis Scientiarum omnium artiumque arcana facäius penetrandi, Et de quocumque proposito themate expeditius disserendi. Practice, clare, succincte curioso ac studioso lectori conscripta. Et cum adiunctis thesibus philosophicis curiosis propugnata, Pragae, Anno 1687. Über Knittel siehe C. Vasoli, „Π Gesuita Kaspar Knittel e la sua Via regia", in: Nouvelles de la Republique des Lettres 2 (1985), S. 149-165.

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Begriff die passenden Prädikate anzuwenden.224 Denn Ziel seines Handbuches ist es letztendlich, die Kunst erbaulicher Reden und Predigten für eine nützliche und ethische Belehrung beizubringen.225 Ein anderer Jesuit, Schüler von Kircher am Collegio Romano, Francesco Lana Terzi, pflegte die enzyklopädischen Interessen seines Meisters weiter. In seinem enzyklopädischen Werk, Prodromo Overo saggio di alcune inventioni nuove premesso all' Arte maestra opera che prepara il P. Francesco Lana [...] per mostrare Ii piü reconditi principij della naturale filosofia (Brescia 1670), zeigt sich Lana sehr interessiert an den neuen Entdeckungen und an den wissenschaftlichen Fortschritten. Er ist für ein „praktisches" Wissen, das für eine bessere Lebensqualität angewandt werden kann. Sein großes Anliegen ist es aber, das Neue der theologischen Weltanschauung der katholischen Kirche anzupassen. Dafür bemüht er sich, Kompromißlösungen auszuarbeiten, die die galileische Physik mit der hermetisch-kabbalistischen Tradition, die experimentelle Wissenschaft mit der „magia naturalis" zu vereinbaren versuchen.226 Um Kompromißlösungen auf der Basis seines „Probabilismus", um die Streitfälle zwischen den verschiedenen Theorien zu überwinden, aber immer mit dem Ziel, die katholische Ordnimg zu verteidigen, ist auch Caramuel bemüht. Wie wir schon bei seinen architektonischen Theorien gesehen haben, wird Caramuel auch in der Frage der Universalwissenschaft von seiner probabilistischen Theologie geleitet. Trotz seiner Auffassung, daß alle menschlichen Wissenschaften letztendlich nur ausgeklügelte „Träume" bleiben, hält er dennoch eine ordentliche und systematische Darstellung der Gesamtwissenschaft für möglich und notwendig, wenigstens aus praktischen Gründen, um den Menschen eine Führung anzubieten, denn die Innenstruktur des Seins bleibt unergründlich. Dafür ist Caramuel bereit, die enzyklopädischen Theorien der Meister von Herborn mit dem analogisch-kombinatorischen System von Kircher und dem Lullismus in seinen Apparatus philosophicus227 aufzunehmen. Da für ihn das pansophische Modell immer nur auf einer hypothetischen Ebene bleibt und die Innenstruktur der Weltordnung nicht wiedergeben kann, wird die Kombinatorik von Izquierdo und Kircher in die semantischen Formen einer hypothetischen Universalsprache aufgelöst, die als praktische Antwort auf die Bedürfnisse der Menschheit betrachtet wird.228 Caramuel ist wie in seinen Ardütekturtheorien auch in seinen pansophischen Vorstellungen der typische Vertreter einer Kultur, die in einer tiefen

224 225 226 227 228

Ibid., S. 30. Siehe Vasoli, I Gesuiti, S. 502. Ibid., S. 112. Siehe Vasoli, I Gesuiti, S. 502. Vasoli, / Gesuiti, S. 501. Caramuelis Apparatus philosophicus quatuor libris distinctus, Coloniae 1665. Pastine, Juan Carauel, S. 168-174,180,201-202.

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Krise steckt, und der versucht, den Auflösungserscheinungen entgegenzuwirken.229 Rationalistische, cartesianische Tendenzen sind auch in den pansophischen Modellen zu beobachten,230 sie bleiben aber zweitrangig. In ihnen überwiegt vielmehr die Vorstellung einer Rekonstruktion der Universalordnung, die oft durch archtitektonische Metaphern ausgedrückt wird. Wegen des geprägten theologischen Ansatzes der Pansophie sieht man im Bild des Tempels den passenden Rahmen für die Aufstellung ihrer Modelle. Der salomonische Tempel bekommt so eine neue allegorische Bedeutung. Das vierfache mittelalterliche Interpretationsmuster wird jetzt ins Epistemologische ausgeweitet. Der salomonische Tempel wird zum topologischen Ordnungsprinzip des Wissens, was schon in seiner kosmologischen Valenz nach der Interpretation von Villalpando impliziert war.

229 230

Vasoli, L' enciclopedismo, S. 49-53. Siehe zum Beispiel Charles Sorel und seine vierbändige Science universelle (Paris 1668). Über ihn siehe Vasoli, U enciclopedismo, S. 54-71.

Teil IV

Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Der salomonische Tempel war natürlich auch bei den Juden ein traditioneller Forschungsgegenstand. Mit dem Tempelbau beschäftigt sich eingehend der Mischna-Traktat Middot, und viele andere Mischna-Traktate behandeln Themen wie Opferdarbringungen, Reinheitsvorschriften, Steuerabgaben, die direkt oder indirekt mit dem Tempel in Zusammenhang stehen. Ein besonders lebhaftes Interesse an Salomo und seinem Tempel ist zur Zeit Portaleones aber eben in Mantua zu beobachten. Moshe Cases1 kommentierte verschiedene talmudische und mischnische Traktate, darunter auch einen Kommentar zum Traktat Middot, den Portaleone in seinen Shilte ha-gibboritn erwähnt.2 Der Dramaturg Leone (Yehudah) de' Sommi Portaleone hatte bei sich zu Hause ein detailliertes Modell des Jerusalemer Tempels, das er seinem Freund Abraham Yagel bei einem Besuch zeigte.3 Yagel selbst arbeitete sein Leben lang an einem umfangreichen enzyklopädischen Werk, das ca. 200 Kapitel umfaßt und aus zwei Hauptteilen mit den Titeln Bet ya'ar ha-Levanon („Haus des Waldes von Libanon", vgl. lKön 10,1721) und Be'er Sheva (vgl. Gen 21,31) besteht. Der Titel Bet ya'ar ha-Levanon, mit dem der Palast Salomos wegen der zahlreichen Zedernsäulen, die wie ein Wald in ihm standen, in der Bibel (vgl. lKön 7,2) bezeichnet wird, ist eine deutliche Anspielung auf Salomos enzyklopädisches Wissen. Wie bei Giulio Camillo gilt auch bei Yagel König Salomo als Vorbild einer vollkommenen esoterischen Weisheit.4 Mit dem Theater des Giulio Camillo beschäftigt sich Yagel im Bet ya'ar ha-Levanon.5 Das ist ein weiterer Beweis, daß einige Themen zu dieser Zeit gemeinsames Gut sowohl für jüdische als auch für christliche Gelehrte waren. Die Enzyklopädie des Yagel ist bis heute nur handschriftlich erhalten und scheint keinen Einfluß auf Portaleone ausgeübt zu haben, obwohl 1 2 3

4

s

Simonsohn, History of the Jews, S. 637, 701. Siehe unten S. 271. Siehe D. Β. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a SixteenthCentury Jewish Physician, Cambridge, Mass./London 1988, S. 23, 122; id., A Valley of Vision. The Heavenly Journey of Abraham ben Hananiah Yagel, Philadelphia 1990, S. 13. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science, S. 19. Ibid., S. 113-114.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

einige Motive, wie Tierkunde oder die Beschreibung der Edelsteine auf dem Efod des Hohenpriesters, von beiden Autoren unter Berufung auf gleiche Quellen behandelt werden. Mehr als durch einen möglichen gegenseitigen Einfluß ist dies meines Erachtens durch die damalige Aktualität der gemeinsamen Thematik erklärbar, zumal Yagel sein enzyklopädisches Werk nie veröffentlichte und bis zu seinem Tod daran arbeitete. Eine Datierimg des heranwachsenden Materials ist also fast unmöglich, tun festzustellen, wer von beiden Autoren dem anderen als Vorbild diente.6 Portaleone erwähnt nie Yagel, obwohl es anzunehmen ist, daß beide sich kannten. Daß Portaleone seinen Zeitgenossen und Kollegen Yagel nicht erwähnt, ist nicht verwunderlich, denn Yagels magische und kabbalistische Vorstellungen waren Portaleone völlig fremd.7 Noch bevor Portaleone die Shilte ha-gibborim abfaßte, gab Yom Τον Lipmann Heller seine Beschreibung des ezechielischen Tempels (Surat bet ha-miqdash, Prag 1602) heraus. Portaleone scheint aber diese Schrift nicht gekannt zu haben.

1. Die Auffassung vom Tempel in den Shilte ha-gibborim Die Beschreibung des Jerusalemer Tempels erfolgt bei Portaleone in strikter Anlehnung an die rabbinischen Quellen, wobei neben dem Talmud seine wichtigsten Gewährsleute Maimonides und Bertinoro sind. Lange Auszüge aus dem Mishneh Torah des Maimonides und aus dem Mischna-Kommentar Bertinoros umfassen teilweise ganze Kapitel der Shilte ha-gibborim,8 Ziel von Portaleone ist es, eine historisch getreue Rekonstruktion der gesamten Tempelanlage und des Tempeldienstes anhand „kanonischer" Quellen anzufertigen. Für die Tempelbeschreibung werden nämlich Philo von Alexandrien und Josephus weder direkt noch indirekt berücksichtigt. Nur einmal erwähnt Portaleone Philo, und zwar in Kapitel 35: Tatsächlich schrieb mein meistens auf griechisch für das Volk, das zur Zeit des zweiten Tempels die griechische Sprache besser als die heilige Sprache verstand. Beweis dafür ist Yedidyah, nämlich Philo, Judäus genannt, der in den letzten Jahren des zweiten Tempels lebte und viele sehr wichtige Bücher über die Torah auf griechisch schrieb, die ins Lateinische übersetzt worden sind. So schön war sein Stil in dieser Sprache, daß das Sprichwort entstanden ist, entweder ist es Philo, der mit der Sprache Piatons spricht, oder es ist Piaton, der mit der Sprache Philos spricht. Da er ein großer Gelehrter war, wurde er nach Rom gesandt, um für das ganze Volk Israel zu bitten, jedoch 6 7 8

Ibid., S. 65-66. Siehe weiter unten S. 203. Die Kapitel 57-71; 73-75 über die Vorschriften der verschiedenen Opferdarbringungen sind eine wörtliche Abschrift aus dem Mishneh Torah des Maimonides und aus dem Mischna-Kommentar Bertinoros.

Die Auffassung vom Tempel in den Shilte ha-gibborim

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kann man aus seinen Schriften entnehmen, daß er die heilige Sprache nicht so gut konnte wie die griechische, in der er schrieb.9 Philo ist für Portaleone zwar „ein großer Gelehrter", aber er wird als Beispiel der Hellenisierung der jüdischen Kultur zur Zeit des zweiten

Tempels

angeführt. Trotz der Bewunderung für die griechische Bildung Philos und für den feinen, eleganten Stil seiner griechischen Sprache, die in der humanistisch geprägten Kultur des 16.-17. Jahrhunderts gegenüber den Christen mit Stolz erwähnt werden konnte, läßt Portaleone jedoch kritische Töne durchklingen. So gut und anmutig die griechische Sprache Philos sein mag, seine Schriften lassen dennoch erkennen, daß seine Kenntnis der heiligen Sprache mangelhaft w a r u n d daß er sie nicht so gut beherrschte wie die griechische Sprache. Womöglich sieht Portaleone mit versteckter Bescheidenheit in Philo seinen Vorgänger, der wegen seiner Vorliebe für die griechische Kultur die Tradition der Väter vernachlässigt hat. Überhaupt nicht berücksichtigt wird die allegorische Interpretation des Tempels, die Philo in De vita Mosis

(II [III] §§ 66-186) im

Sinne neuplatonisch-kosmologischer Vorstellungen ausführte. Ebenfalls keinerlei Erwähnung findet Josephus Flavius. Wahrscheinlich liegt der Grund darin, daß Josephus und Philo eine der bevorzugten Quellen der christlichen Tempelbeschreibungen waren und von Azariah de' Rossi 10

9 10

Shilte ha-gibborim, S. 31b. Die antijüdische Apologetik zur Zeit der Gegenreformation hatte, auch durch den Beitrag abtrünniger Juden, nicht mehr ihren Schwerpunkt in theologischen Fragen. Sie war vielmehr auf jene Aspekte der rabbinischen Tradition ausgerichtet, die logischen Einwänden nicht standhalten konnten. Als Reaktion gegen solche Einwände wollte Azariah de' Rossi mit seinem Me'or 'eynayim (Mantova 1574) den jüdischen Glauben und die rabbinische Tradition auf eine festere Basis stellen, indem er die essentiellen Aspekte der jüdischen Tradition, nämlich die Halakha, von jenen Aspekten, die nur historisch bedingt zu betrachten sind und die er „nebensächliche Aspekte" (milleta be'alma) nennt, unterscheidet. Alles, was die alten Meister über moralische und theologische Fragen sagten, ist als Teil der Offenbarung Gottes anzusehen, und ihre Autorität ist so weit unbestritten. In solchen Fragen ist ihre Lehre nicht historisch bedingt, sondern beständig und unveränderlich. Was aber die Rabbinen bezüglich wissenschaftlicher Fragen, wie beispielsweise Astrologie und Chronologie, sagten, ist als ihre persönliche Meinung zu betrachten, die entsprechend den damaligen Kenntnissen formuliert wurde. Das betrifft den Bereich des menschlichen Wissens, das sich ständig entwickelt und von Generation zu Generation weiter wächst: hierüber ist eine persönliche Meinung legitim. Die apologetischen Absichten von de' Rossi wurden sowohl von seinen Glaubensgenossen als auch von den Christen mißverstanden. Sein Buch brachte ihm heftige Kritik und die Anklage wegen Häresie ein, die von Rabbi Katzenellenbogen und anderen konservativen Rabbinern, meist aschkenasischer Herkunft, gegen ihn erhoben wurde. Zu den Thesen von de' Rossi über die Beziehungen zwischen Religion und Wissenschaft siehe L. Segal, Religious Consciousness and Religious Tradition in Azariah de' Rossi „Meor Einayim", Philadelphia 1988 und G. Veltri, „The

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

herangezogen wurden. Das ließ sie als besonders „verdächtig" und unpassend für ein Werk erscheinen, das im Einklang mit der rabbinischen Tradition abgefaßt sein wollte. Portaleone will an der Tradition festhalten und bezieht sich daher nur auf die biblischen und rabbinischen Beschreibungen des Tempels. Biblische und rabbinische Quellen werden miteinander verglichen und teilweise zusammengesetzt, ohne auf die unterschiedliche historische Datierung ihrer Abfassung zu achten. Denn trotz des unterschiedlichen Alters und der vielen Abweichungen zwischen den Texten ist der Tempel für Portaleone ein und dasselbe Bauwerk, das im Buch der Könige, der Chronik, des Ezechiel und im Traktat Middot beschrieben wird, dessen Architekt Gott selbst war. Auch die Tempelbeschreibung der ezechielischen Vision wird von Portaleone als konkreter Entwurf für den zukünftigen messianischen Tempel angesehen, der als Grundlage den salomonischen Tempel hatte. Daher fühlt er sich im Zweifelsfall berechtigt, die Beschreibimg in Ezechiel heranzuziehen, wenn die anderen Quellen undeutlich oder mangelhaft sind. So stützt sich Portaleone zum Beispiel in bezug auf die Zellen im Frauenhof auf Ezechiel: Der Frauenhof war vollkommen quadratisch, da er im Inneren 135 Ellen lang und 135 Ellen breit war. Und vier Zellen befanden sich in seinen vier Ecken, deren Länge 40 Ellen bei einer Breite von 30 Ellen gleichen Ausmaßes war, wie es im Buch Ezechiel geschrieben steht (Ez 46,22). Gewiß hatten sie auch im zweiten Tempel dasselbe Maß. Der Tannait war nicht darauf bedacht, das darzulegen, weil es schon in diesem Satz erläutert war: Sie waren nicht überdacht (mMid 11,5). Und so werden sie in der Zukunft zur Zeit unseres Gesalbten sein, der bald zu unserer Zeit kommen möge, Amen!11

Die im Traktat Middot fehlende Angabe über die Maße der vier Zellen im Frauenhof ergänzt Portaleone durch Ezechiel und achtet dabei darauf, die beiden Texte in Einklang zu bringen. Der Tannait habe nicht für nötig gehalten, die Länge und die Breite der vier Zellen anzugeben, weil sie nicht überdacht waren und deshalb in die gesamte Abmessimg des Hofes mit einbezogen wurden. Die ersten 90 Kapitel, die sich mit der Beschreibung der Tempelanlage und der liturgischen Vorschriften befassen, dienen als unentbehrliche Einleitung zu den folgenden zwei „Schilden" mit der täglichen Gebetsordnung und mit Humanist Sense of History and the Azariah de' Rossi Critique of Philo Alexandrinus", in: Jewish Studies Quarterly 2/4 (1995), S. 372-393; id., „Azaria de' Rossi Kritik an Philo von Alexandrien", in: Gegenwart der Tradition. Studien zur jüdischen Literatur und Kulturgeschichte, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 282-304. Eine englische kommentierte Ubersetzung des Me'or 'eynayim ist durch Joanna Weinberg erschienen: Azariah de' Rossi, The Light of the Eyes. Translated from the Hebrew with an Introduction and Annotations by Joanna Weinberg, New Haven/London 2001. 11

Ibid., Kap. 3, S. 3a.

Die Auffassung vom Tempel in den Shilte ha-gibborim

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Auszügen aus der Torah sowie aus kabbalistischen und rabbinischen Schriften zur Erfüllung des Gebots bezüglich des Studiums der Torah: Nun auf! meine lieben Söhne, holt und nehmt euch bereitwillig diese meine Schilde mit klarer, reiner Seele und vernachlässigt nicht diese 90 Kapitel, die ich davor geschrieben habe. Ich habe sie mit dem Namen „Heldenschilde" betitelt, und sie dienen zur Verwendung der [folgenden] zwei von den drei erwähnten Kapiteln [...]. Nun, damit ihr euch im Haus eurer Gebete ganz auf den Himmel hin ausrichten könnt, und so, als ob ihr in diesem großen, heiligen [Tempel]haus wäret zur Zeit, in der ihr die Abschnitte der Opferungen zu ihrer rechten Zeit lest, um vor dem H(erm) Wohlgefallen zu finden, wie [es mir] heute mit Hilfe dessen, der im Himmel wohnt, durch diese 90 Kapitel, die den Schilden vorangehen, [geschieht], will ich aus dem Traktat Middot, aus dem Rambam, sein Andenken zum Segen, und aus dem Rav Bertinoro, sein Andenken zum Segen, einige Teile bezüglich des Heiligtums abschreiben, die unser Vorhaben betreffen. Mit ihnen will ich auch die für den Dienst notwendigen Geräte entsprechend der Torah und der Verordnung erwähnen.12

Entsprechend der traditionellen Gebetsmystik, dem Prinzip der kawwanah, das heißt der contemplatio, soll die akribische und minuziöse Beschreibung des Tempels - eine Akribie, die das Lesen sehr erschwert - den Betenden in die Lage versetzen, sich tatsächlich im Tempel zusammen mit den Dienst verrichtenden Priestern zu fühlen: Ihr wißt doch, meine Söhne, daß es unmöglich ist, das Opfer einer Person darzubringen, ohne daß sie dabei steht (Ta'anit, Kapitel be-sheloshah peraqim [mTaan IV,1]), und daß die Opfer der Gemeinde für ganz Israel dargebracht werden. Es war aber unmöglich, daß alle Israeliten zur Zeit der Opferdarbringung im Tempelhof standen, daher hatten die ersten Propheten verordnet, unter den Israeliten reine und fromme Männer als Gesandte aller Israeliten auszuwählen, um bei den Opfern zu stehen, und das waren die, welche „die Standmannschaft" genannt werden, die zusammen mit der Dienstabteilung der Priester und der Leviten des betreffenden Schabbattages in den Tempel gingen und alles ausführten, was ich in den vorherigen Kapiteln geschrieben habe. Sie heiligten sich also und richteten ihr Herz auf ihren Vater im Himmel mit Gebet, mit Flehen und Buße, mit zerknirschtem und demütigem Herzen, und beteten zum H(erm), daß er mit Wohlgefallen dieses Opfer der Gemeinde annehme. Daher sollt ihr, meine Söhne, zur Zeit der Lektüre der Ordnung des täglichen Morgenopfers euch in euren Gedanken vorstellen, daß ihr die Männer einer Dienstabteilung seid, und zum H(errn) beten, daß er dieses regelmäßige Opfer annehmen möge, (ganz so), als ob es für ganz Israel vorschriftsgemäß dargebracht worden sei.13 12 13

Ibid., S. 3a. Ibid., Kap. 89, S. 101a. Uber die Bedeutung der Konzentration beim Gebet und die mystischen Einflüsse sowohl aus der kabbalisitschen Tradition als auch aus dem christlichen Umfeld der Gegenreformation siehe R. Bonfil, „Change in the Cultural Patterns of a Jewish Society in Crisis: Italian Jewry at the Close of the Sixteenth Cen-

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Das Gebet und das Studium der Torah werden entsprechend der talmudischen Lehre14 der Opferdarbringung gleichgestellt. Sie ersetzen die Opferdarbringungen nach dem Verlust des Tempels und ermöglichen den Gläubigen, nach der Zerstreuung des Volkes Israels sich beim Gebet in einem spirituellen Tempel mystisch zu versammeln. Doch Portaleone beschränkt sich nicht nur auf eine Beschreibung der Tempelanlage und der Kultverrichtungen. Die zahlreichen Themen, die mit dem Tempel in Zusammenhang stehen, geben ihm Anlaß, sich mit unterschiedlichen Aspekten der Kultur seiner Zeit auseinanderzusetzen. Das Buch erweist sich somit als eine Enzyklopädie, in der vor dem Hintergrund des Tempels die wichtigsten Bereiche des Wissens vom Blickpunkt eines gebildeten Juden des 16./17. Jahrhunderts aus dargelegt werden. Es ist ein einzigartiges Werk von religiösem und profanem Inhalt, das in der jüdischen Literatur nahezu beispiellos ist.15 Nehmen wir einige Beispiele heraus: Portaleone beschäftigt sich in den Kapiteln 4—13 bei der ausführlichen Beschreibung der Musikinstrumente und der Tempelmusik mit den Musiktheorien der Renaissance. tury", in: Jewish History 3/2 (1988), S. 11-30; Ε. Horowitz, „Coffee, Coffeehouses and the Nocturnal Rituals of Early Modern Jewry", in: Journal of Social History 23 (1989), S. 45-69; Foa, Ebrei in Europa, S. 202-203; A. Guetta, „Avraham Portaleone from Science to Mysticism", in: J. Targarona Borräs/A. Säenz-Badillos (Hrsg.), Jewish Studies at the Turn of the Twentieth Century. Proceedings of the 6a EAJS Congress Toledo July 1998, Leiden 1999, Bd. 2, S. 40-47. Siehe bMen 110a: „An jeglichem Orte wird mir geräuchert und meinem Namen dargebracht (Mal 1,11) An jeglichem Orte, wieso dies? R. Shemuel b. Nahmani erwiderte im Namen R. Yonathans: Das sind die Schriftgelehrten, die sich an allen Orten mit der Torah befassen; ich rechne es ihnen an, als würden sie mir räuchern und Opfer darreichen. [...] Ein Stufenlied. Preist den Herrn, alle Diener des Herrn, die ihr in den Nächten im Hause steht. (Ps 134,1) Was heißt: in den Nächtenl R. Yohanan erwiderte: Das sind die Schriftgelehrten, die sich nachts mit der Torah befassen; die Schrift rechnet es ihnen an, als würden sie sich mit dem Opferdienste befassen. Ewig dies für Israel. (2Chr 2,3) [...] R. Yohanan sagte: Das sind die Schriftgelehrten, die sich mit den Vorschriften über den Opferdienst befassen; die Schrift rechnet es ihnen an, als würde der Tempel in ihren Tagen erbaut worden sein. [...] R. Isaak sagte: Es heißt: dies ist das Gesetz des Sündopfers, dies ist das Gesetz des Schuldopfers. (Lev 6,18) Wenn jemand sich mit dem Gesetz des Sündopfers befaßt, so ist es ebenso, als würde er ein Sündopfer darbringen, und wenn jemand sich mit dem Gesetz des Schuldopfers befaßt, so ist es ebenso, als würde er ein Schuldopfer darbringen." Deutsche Übersetzung nach L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, 12 Bde., Berlin 1929-1936 [1966], Bd. 10, S. 748-749. Für weitere Beispiele siehe SifDev § 41 und BerRab XVI,5. Das einzige einigermaßen vergleichbare Werk, das mir bekannt ist, ist die Miqdash Me'at des Mose da Rieti (1388-1460). Siehe oben S. 51.

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Die Erläuterung der unterschiedlichen Aufgaben der Priester und der Leviten beim Tempeldienst bietet Portaleone die Gelegenheit, die soziale und politische Struktur des alten Staates Israel zu erklären (Kap. 40-43). Die Gewänder des Hohenpriesters leiten eine umfangreiche Abhandlung über Edelsteine, ihre Anwendung in der Medizin und ihren Wert ein, wobei sogar die aktuellen Handelspreise angegeben und Ratschläge erteilt werden, wie Fälschungen zu erkennen sind (Kap. 48-49). Die Tieropfer und der Weihrauch veranlassen eingehende Ausführungen zur Tier- und Pflanzenkunde anhand der jüngsten Erkenntnisse nach der Entdeckung der „Neuen Welt" (Kap. 50-56,77-85). Das Kapitel 76 über verschiedene Salzsorten ist eigentlich ein alchimistischer Traktat. Diese Vermischung von religiösen und profanen Themen ist dem modernen Leser fremd und vermittelt den Eindruck einer scheinbar mangelnden Struktur des Werkes. Es ist die These aufgestellt worden, daß der religiöse Rahmen, in den die verschiedenen wissenschaftlichen Abhandlungen eingefügt sind, nur eine Art Tarnung sei, um möglichen Vorwürfen von konservativen rabbinischen Kreisen oder von der Inquisition her zu entgehen.16 Das Bekenntnis Portaleones in Form eines an seine drei Söhne gerichteten Briefes, der als Vorwort dient und von seiner Reue über die Vernachlässigung der Torah und seine zu intensive Vorliebe für die profanen Wissenschaften handelt, wäre also nur als rhetorische Redeweise zu verstehen, die auch bei anderen Autoren dieser Zeit vorkommt.17

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Melamed, „Hebrew Italian Renaissance", S. 104-105; id., „The Hebrew Encyclopedias of the Renaissance", in: S. Harvey, The Medieval Hebrew Encyclopedias, S. 441-464:455. Siehe zum Beispiel das Vorwort von Azariah Figo zu den Giddulei terumah: „Der allwissende Gott, Er weiß es: Kaum habe ich die Zeit der Kindheit und der Jugend hinter mir gelassen - diese Zeit ist eitel, und dieser Eitelkeit bin ich gefolgt, wie die Liebe nichtjüdischer Kinder zu fremden Studien verschiedener Art - und sobald ich an die Jünglingszeit gelangt war, ließ mich Der, der Schuldigen Gutes erweist, Gnade finden, so daß die Augen meines Unverstandes sich auftaten und ich mir die Schmach meiner Jugend zu Herzen nahm, als ich die Hauptsache zur Nebensache und die Nebensache zur Hauptsache gemacht hatte. Geschämt habe ich mich, da meine Hände mir niedergesunken sind beim Studium der Wurzel, der Worte der Torah, und beim Studium der Gemara, und bei allem, was sich mit ihr verbindet, bei den Büchern, die sich mit ihr befassen, aus denen hervorgeht, wie man zum Glück durch die Einhaltung Seiner Satzungen, gesegnet sei Er, kommt [...]. Auch mein innerer Geist hat die frühere Vernachlässigung bereut und war besorgt, daß mir die Begierde nach der Umarmung der fremden Frau anhaften und mich daran hindern würde, mich am Glanz der Gazelle der Liebe und der anmutigen Gemse zu ergötzen usw." Deutsche Übersetzung nach R. Reichman, „,Was aus der Hebe erwächst, ist wie die Hebe selbst' (Mischna, Terumot, 9,4). Zum hermeneutisehen Anliegen Azarja Figos in seinem

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Betrachtet man aber die Shilte ha-gtbborim im kulturellen historischen Kontext und vergleicht sie mit anderen nichtjüdischen Werken dieser Zeit, erkennt man die klare Gliederimg, nach der das Werk Portaleones aufgebaut ist. Die profanen Themen, die Portaleone in die Tempelbeschreibung einfügt, lassen sich insgesamt folgendermaßen zusammenfassen: Das griechische und lateinische Alphabet mit anderen Alphabeten von realen und imaginären Sprachen als Einführung zu den darauffolgenden 90 Kapiteln. Musik und Musikinstrumente (Kap. 4-13), Physiognomie (Kap. 38 mit Hinweis auf den aristotelischen Traktat De historia animalium), Politik und Staatsverwaltung (Kap. 40), Kriegskunst und Waffen mit Beschreibimg der Bohrwinde (Kap. 41-43), Edelsteine und Mineralien mit Beschreibung ihrer Wirkungen und mit einer Erklärung, wie man Fälschungen erkennen kann (Kap. 48-49, 54), Tierkunde und ihre medizinische Anwendung (Kap. 50-53), Münzen und Medaillen mit ihren Wechselkursen und die Preisliste von Edelsteinen und Perlen (Kap. 55-56), Maß- und Gewichtseinheiten mit einer Beschreibung der Waage (Kap. 72), verschiedene Öl- und Weinsorten, nebenbei wird der Fisch torpedo (auf deutsch „Marmelzitterrochen") kurz erwähnt (Kap. 75), verschiedene Salzsorten und die Beschreibung ihrer Gewinnung (Kap. 76), Kräuter, Spezereien und Duftstoffe (Kap. 78-β8), wobei in Kapitel 86 Ratschläge über die Lagerung und Zubereitung von Wein und Essig erteilt werden und in Kapitel 88 das Destillationsverfahren erläutert wird. Diese Themenvielfalt zeigt deutliche Parallelen zu den Inhalten der Wunderkammern (oder auch „Kunstkammern" genannt) der Fürsten am Ende des 16. Jahrhunderts auf. Der Kurfürst Albrecht V. von Bayern besaß zum Beispiel eine Wunderkammer, an deren Aufstellung Quiccheberg maßgeblich beteiligt war.18 Quicchebergs Traktat Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi ist zwar weder eine Beschreibung noch ein Inventar der Kunstkammer des bayerischen Herzogs, wohl aber eine Darlegung der Sammlungstheorien von Quiccheberg, die auf seiner Erfahrung in der Betreuung der herzoglichen Kunstkammer sowie auf der persönlichen Besichtigung zahlreicher Sammlungen von wohlhabenden Gelehrten und Fürsten gegründet ist.19 Man kann daher mit Recht seine Sammlungstheorien als Musterbeispiel für die Rekonstruktion einer fürstlichen Wunder- bzw. Kunstkammer dieser Zeit nehmen.20

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halakischen Kommentar Giddule Teruma", in: G. Veltri/A. Winkelmann (Hrsg.), An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance, Leiden/Boston 2003, S. 108-125:110. Siehe Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 7-11. Ibid., S. 97, 227-228. Für Anführung und Beschreibung der Struktur verschiedener Sammlungen im 1 6 17. Jahrhundert siehe B. Hoppe, „Kunstkammer der Spätrenaissance zwischen Kuriosität und Wissenschaft", in: A. Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo, S. 243-263.

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Die Sammlungsgegenstände werden von Quiccheberg in fünf Hauptklassen eingeteilt, die sich wiederum in zehn oder elf Unterklassen bzw. „Überschriften" („Inscriptiones") gliedern. Die erste Hauptklasse besteht aus einer Sammlung von Bildern und Bildhauerwerken sowie Modellen von verschiedenen Gebäuden und Maschinen. An erster Stelle sollen Bilder oder Statuen mit biblischen und heilsgeschichtlichen Darstellungen gezeigt werden.21 Dann folgt („Inscriptio secunda") die Ahnengalerie des Theatergründers mit einem ausführlichen Stammbaum seines Geschlechts. Unter die dritte „Überschrift" („Inscriptio tertia") fallen die Porträts des Gründers der Kunstkammer in verschiedenen Lebensabschnitten mit seiner Familie. Zur vierten und fünften „Überschrift" gehören Landkarten und geographische Abbildungen, wobei das Land und das Herrschaftsgebiet des Fürsten den Schwerpunkt der geographischen Thematik darstellen. In der sechsten „Überschrift" werden kriegerische Darstellungen und in der siebten „Überschrift" Schauspiele, Triumphzüge und andere festliche Veranstaltungen des höfischen Lebens gezeigt. Große Tierbilder insbesondere von seltenen heimischen Tieren sind unter der achten „Überschrift" gesammelt. Man soll nach Quiccheberg vor allem darauf achten, daß die Abbildungen wegen ihrer Seltsamkeit Bewunderung erregen. Modelle von besonderen Gebäuden und Städten, Burgen und Befestigungen sowie von Schiffen und Wagen bilden die neunte „Überschrift". Schließlich werden in der zehnten „Überschrift" Modelle verschiedener Maschinen und Werkzeuge ausgestellt. Unter der zweiten Hauptklasse werden Objekte des Kunstgewerbes gesammelt. Dazu gehören neben neuen und antiken Standbildern von Göttern, Kaisern, Königen und berühmten Persönlichkeiten aus Stein, Holz oder Metall kunstvolle Gegenstände der Goldschmiedekunst, Vasen, Gerätschaften und andere kostbare Artefakte, die wegen ihrer Seltenheit, des Materialwertes oder der außergewöhnlichen Virtuosität der Ausführung bewundernswert sind. Besonders interessant im Hinblick auf Portaleone ist, daß Quiccheberg unter den Vasen fremder Herkunft und den archäologischen Funden Gefäße aus Tempeln und von antiken Opferzeremonien unter der fünften „Überschrift" erwähnt.22 Zu den Artefakten zählen auch („Inscriptio sexta") Maße, Gewichte und Meßgeräte, die in fremden Ländern verwendet werden, sowie („Inscriptio septima") alte und neue Münzen verschiedener Prägungsstätten.

Quiccheberg, Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi, hrsg. von H. Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 40 „Inscriptio prima signum Mercurio": „Tabulae sacrarum historiarum: tarn pictae, quam sculptae, aut alio quovis artificio factae: quae in sacro thesauro, quippe ex biblicis, et aliis Christianis historiis productae, primo loco ponuntur: atque ita ob eximium aliquod artificium summopere venerantur." Ibid., S. 48: „Item quaedam templorum vasa, et antiquorum sacrificiorum."

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Die Naturprodukte (naturalia) werden in der dritten Klasse der „Inscriptiones" erläutert. Zu den naturalia zählen Tiere, mit besonderer Vorliebe für exotische und wundersame Tiere („animalia miraculosa et rariora"),23 Versteinerungen, Mineralien, Kräuter, Samen, Früchte, Gewürze, Pflanzen und verschiedene Holzarten. Die Exponate bestehen sowohl aus echten Exemplaren, wobei aus Konservierungsgründen von den Tieren nur Körperteile (Zähne, Krallen, Felle, Skelette) und von Kräutern, Früchten und Pflanzen nur getrocknete Exemplare gezeigt werden können, als auch aus Nachbildungen in Form von Abgüssen aus Metall, Gips oder Ton, von Radierungen oder in Form von kleinen Kunstobjekten und Gemälden.24 Als eine vorbildliche Zusammen- und Ausstellung von naturalia und artificialia betrachtet Quiccheberg die Sammlung von Ulisse Aldrovandi, die Quiccheberg während einer seiner italienischen Reisen besichtigen konnte.25 Der vierten Klasse gehören verschiedene Instrumente sowie Handwerksund Haushaltsgeräte an. Dieser Gruppe werden unter anderem Musikinstrumente, Waffen und Rüstungen zugeordnet.26 Die fünfte und letzte Klasse stellt eine echte Kunstsammlung aus Kupferstichen, Aquarellen und Ölgemälden dar. Sie sind eine Art Bildarchiv („promptuarium imaginum"),27 das inhaltlich fast einen Querschnitt durch alle vorangehenden Klassen und „Überschriften" bildet. Denn die Bilder sind für Quiccheberg nicht nur eine Verzierung und Ausschmückimg der Sammlung. Vielmehr betrachtet Quiccheberg die Bilder nach der Tradition der rhetorischen Mnemonik als ein Lehrmittel, als eine psychologische Unterstützimg des 23 24

Ibid., S. 54. Ibid., S. 54 „Inscriptio secunda": „Animalia fusa: ex metallo, gyp so, luto, facticiaque materia qualicumque, qua arte apparent omnia viva etc."; ibid., S. 54-55 „Inscriptio tertia": „Animalium grandiorum partes, nec non et minorum, si quae memorabiles: asservanturque hie cornua, rostra, dentes, ungulae, ossa, innati lapides, pelles, pennae, ungues, exuviae et quicquid est reliquarum partium, quod aliquam varietatem afferre potest."; ibid., S. 56, „Inscriptio sexta": „Herbae, flores, ramusculi, termites, cortices, ligna, radices etc. quae quidem exiccata, vera et selecta, per classes disposita. Aut eiusmodi metallo fusa, aut serico texta, aut nova quadam arte depicta. Hie et lignorum genera omnia particulati asservantur."

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Ibid., S. 122: „Summamque [sic! zu lesen, „sumamque"] adhuc aliud exemplum praeter nostras Germanos. Ulysis Aldrobandi Itali, cuius in his omnibus incredibili numero asservandis, labor semper commendandus commendatusque mihi fuit fere adolescenti, donee in virili aetate, ipse eum museumque suum Bononiae visitarem: tum certe omnia longe maiora, quam ante audiveram meis oculis spectavi; vidique eum in naturalibus prorsus nihil omisisse, quin vel per particulas quaedam, aut exicca aliqua tota animalia, vel saltern ad vivum depicta (ut in piscibus facere consuevit) conservaret."

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Ibid., S. 60-68. Ibid., S. 138.

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Gedächtnisvermögens, die das Gelernte „mehr als die tägliche Lektüre vieler Seiten" einprägt.28 An die Kunstkammer sind „Museen, Werkstätten und Lagerräume" angeschlossen, teilweise auch in gesonderten Gebäuden innerhalb der Hofanlage untergebracht, die ihre ideelle Fortführung und Ergänzung darstellen.29 Sie verbinden die theoretische Betrachtung der Kunstkammer mit der Lerntätigkeit und der Praxis. Die Einordnung der Bibliothek steht in engem Zusammenhang mit der Einordnung der Kunstkammer, wobei die Theologie wie bei den „Inscriptiones" als erstes Fach erwähnt wird. Die Bibliotheksordnung umfaßt aber auch die Universitätsfächer (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) mit den Studia Humanitatis und den Artes Mechanicae.30 Zu den „Officinae" zählen die Druckerei, die Drechslerwerkstatt, Arzneiund Essenzensammlung („pharmacotheca seu myrothedum"), eine Gieß- und Prägewerkstatt, eventuell ein Lagerraum für Musikinstrumente und schließlich das Zeughaus.31 Der pädagogische Zweck der Kunstkammer wird hier mit dem zweiten Teil der Bibliothek und der Werkstatt ergänzt und erfüllt. Eventuelle inhaltliche Lücken, die in der Kunstkammer wegen besonders komplizierter Sachverhalte oder nicht vorhandener Objekte entstanden sind, können hier durch die Bibliothek theoretisch erschlossen und abgedeckt werden.32 In den Werkstätten kann der Besucher konkret erfahren, wie die kunstvoll angefertigten Sammlungsgegenstände hergestellt werden. In den Werkstätten wird experimentiert und produziert, in ihnen findet das durch die kontemplative Betrachtung der Kunstkammer gewonnene Wissen seine praktische Umsetzimg.33 Kunstkammer, Bibliothek und Werkstatt bilden eine einheitliche, integrierte Darstellung und Erläuterung aller Wissensgebiete und Aspekte des Universums. Sie sind ein in sich geschlossenes enzyklopädisches System mit einer pädagogischen und zweckorientierten Ausrichtung, in dem sich die dreidimensionale Welt der Gegenstände der Sammlung, die das Wissen faßbar und anschaulich macht, mit der textbezogenen, theoretischen Ebene der

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Ibid., S. 138: „[...] plus enim quandoque praestat memoriae inspectio solum alicuius picturae quam diuturna lectio multarum paginarum." Ibid., S. 78: „Musea et Officinae, ac Reconditoria, qualia ad sapientiae et iucundi artificii supellectilem quandoque peculiaria in regiis extruuntur, quandoque vero coniunctim habentur." Siehe dazu den Kommentar von Harriet Roth, ibid., S. 249-251. Siehe H. Roth, ibid., S. 252-253. Ibid., S. 78-87, vgl. auch den Kommentar von Roth S. 252-258. Ibid., S. 258. Siehe dazu P. Findlen, „Die Zeit vor dem Laboratorium: Die Museen und der Bereich der Wissenschaft 1550-1750", in: A. Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo, S. 191207.

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Bibliothek verbindet.34 Sie bilden zusammen das Theatrum sapientiae, in dem das Gesamtwissen zur Schau gestellt wird. Die Kulisse dieser enzyklopädischen Aufführung setzt sich aus verschiedenen kulturellen Tendenzen der Zeit zusammen. Zuerst die Mnemotechnik. Die Hauptklassen mit ihren „Überschriften" dienen als topische Orte, an denen Dinge und Bilder gesammelt werden sollen. Wie die loci der ars memoriae eine geordnete Struktur für die imagines agentes darstellen, so sind die „Inscriptiones" die Wegweiser in der dreidimensionalen Welt der Kunstkammer. Inscriptionis vocabulo sic in theatro nostro utimur, ac si quis forte rex, aut prineeps, aut alius quispiam patronus ita res singulas collectas, ad certa loca [mein Kursivdruck] inscripsisset, aut sie adhuc inscribere deliberasset.35

Die Betrachtung der unter den topischen Verweisen der „Inscriptiones" angesammelten Sammlungsstücke und Bilder, die einander ergänzen, ruft ein vielfältiges Assoziationenspiel hervor. Die Gegenüberstellung von Kunstobjekten und Naturprodukten hält zugleich die schöpferische Kraft der Natur und die mit der Natur selbst konkurrierende Intelligenz sowie Kunstfertigkeit des Menschen vor Augen. Die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf das „kuriose" Objekt. „Kurios" kann sowohl ein Kunstobjekt sein, das wegen seiner „sorgfältigen", „mühevollen" Machart („kurios" aus dem lateinischen „cura") ins Auge fällt, als auch ein Naturprodukt. Die Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen zerfließen in der Sammlung solcher nebeneinander ausgestellter Gegenstände.36 Das Außergewöhnliche, die Rarität, die Monstrosität wird entsprechend der neuplatonisch-okkultistischen Weltanschauung als Beweis einer tieferen Realität von geheimnisvollen Kräften angesehen, die man in dem geschlossenen Raum der Sammlung bewundert, erforscht und sich zu eigen machen will.37 In diesem Sinne ist das Symbol des Merkur oder Hermes zu verstehen, unter dessen Zeichen der gesamte Traktat Quicchebergs steht. Merkur weist

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Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 246,262. Quiccheberg, Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi, hrsg. von H. Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 106: „In unserem Theater gebrauchen wir das Wort ,Überschrift' so, als ob vielleicht ein König, Fürst oder irgendein anderer Stifter einzelne gesammelte Dinge an festen Orten so überschrieben oder noch erwogen hätte, sie so zu überschreiben etc." Deutsche Übersetzung nach H. Roth, ibid., S. 107. L. Daston, „Neugierde als Empfindung und Epistemologie in der frühmodernen Wissenschaft", in: A. Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo, S. 35-59: 46, siehe auch K. Pomian, „Collection-microcosme et la culture de la curiosite", in: Scienze, credenze occulte, livelli di cultura, Firenze 1982, S. 535-557. Siehe Olmi, V inventario del mondo, S. 265.

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mehrere allegorische Bedeutungen auf.38 Für die Antike war Hermes, den die Römer mit Merkur identifizierten, unter anderem der Schutzpatron des Handels und des Kunstgewerbes, der Erfinder des Alphabets, der Künste und der Musik. Kunstgewerbliche Objekte, Musikinstrumente und Alphabete sind ein wesentlicher Bestandteil der Sammlungsbeschreibung Quicchebergs. In der hermetischalchimistischen Tradition ist Merkur der Geist des Quecksilbers, das in der Alchimie als die Wandlungssubstanz schlechthin gilt. Man stellt ihn als einen Zwitter, imbeständig und wandelbar, dar. Dem Gott Merkur sind Luft und Wasser linterstellt, und ihm wird die Metallverwandlungskunst zugeschrieben. Aus der Vereinigung von Sonne und Mond ist er hervorgegangen. Darauf weist sein astrologisches Zeichen hin: die Mondsichel mit der Sonnenscheibe. Er symbolisiert die Vereinigung von Gegensätzen und gilt als Universalvermittler. Dementsprechend basiert das Vorstellungsmuster der Sammlung auf einer Gegenüberstellung von gegensätzlichen Objekten, von naturalia und artificialia, von Altem und Neuem, von Bekanntem und Exotischem, von Giften und Gegengiften, um dadurch die Besonderheit der einzelnen Sammlungsstücke hervorzuheben. Die astrologischen und alchimistischen Anspielungen werden aber in eine biblische und christliche Ikonographie eingearbeitet. Sowohl in der Kunstkammer als auch in der Bibliothek steht die Bibel an erster Stelle. Bilder und Statuen mit biblischen und heilsgeschichtlichen Darstellungen sollen am Anfang der Kunstkammer ausgestellt werden. Parallel dazu ist die Theologie das erste Fach in der Einteilung der Bibliothek.39 König Salomo spielt eine zentrale Rolle in der biblischen Ikonographie. Zum Abschluß des Traktates40 wird der Text von lKön 4,29-34 angehängt, in dem die Weisheit Salomos und seine Naturkenntnisse gepriesen werden: Dedit quoque Deus sapientiam Salomoni et prudentiam multam nimis et latitudinem cordis quasi arenam quae est in litore maris et praecedebat sapientia Salomonis sapientiam omnium Orientalium et Aegyptiorum et erat sapientior cunctis hominibus sapientior Aethan Ezrahite et Heman et Chalcol et Darda filiis Machol et erat nominatus in universis gentibus per circuitum. Locutus est quoque Salomon tria milia parabolas et fuerunt carmina eius quinque milia et disputavit super lignis a cedro quae est in Libano usque ad hysopum quae egreditur de pariete et disseruit de iumentis et volucribus et reptilibus et piscibus et veniebant de cunctis populis ad audiendam sapientiam Salomonis et ab universis regibus terrae qui audiebant sapientiam eius.

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Siehe dazu Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 38 Anm. 228-230. Ibid., S. 78: „Bibliotheca omnis generis librorum instructissima, in suas classes (quae fiunt per facultates, disciplines ac linguas) distincta hoc modo, ut peculiariter disponantur libri, Primo Theologici. Π Iuridici, ΙΠ Medici, ΠΙΙ Historici, V Philosophic! etc." Ibid., S. 214.

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Salomo, der über alle Pflanzen und Tiere sprach, ist der Prototyp des enzyklopädischen Gelehrten der Renaissance, der sich in gleichem Maße durch seine Tugenden, Eloquenz und Naturkenntnisse auszeichnete. Er war der erste Sammler, der alles kategorisierte und erforschte. Diese vollkommene Weisheit wurde ihm von Gott gegeben. Sein profanes Wissen war letzten Endes auf Gott gegründet. Salomo verkörpert also die überpersönliche, göttliche Ordnung des Traktates, der die Weisheit Gottes und die Bibel über alles Wissen stellt. Mit Salomo verbindet sich aber auch die Idee des Tempels, den Salomo nach göttlichen Anweisungen erbauen ließ. Der Tempel als irdischer Wohnsitz Gottes und architektonische Darstellung seiner Weisheit kann als eine Art Kunst- und Wunderkammer, als das Vorbild des Theatrum sapientiae betrachtet werden.41 Nach Salomo fügt Quiccheberg das Beispiel des Königs Hiskia (2Kön 20,12-13) an, der den Gesandten des babylonischen Königs Merodach-Baladan das „Haus" mit Stolz zeigte, in dem er die mannigfaltigen Gewürze, Salben, Düfte, Gefäße aus Gold und Silber aufbewahrte. Das Unheil, das der Prophet Jesaja dem König für die nächste Zukunft prophezeite, ermahnte ihn zur Demut, weil alle Schätze der Sammlung nur dazu dienen, Gott zu preisen und dem Menschen zu nutzen. Daran erinnern auch die anschließenden Worte des „Predigers" (Sir 38,6): „Dedit hominibus sdentiam Altissimus honorari in mirabilibus suis".42 Das Wissen ist eine Gabe Gottes, soll keinen Anlaß zum Stolz geben, sondern nur darauf gerichtet sein, Gott zu ehren. In diesem ethischen Sinn soll auch die Sammlung der Kunstkammer aufgestellt werden. Neben dem astrologisch-religiösen Ordnungssystem des Traktates ist eine klare hierarchische Struktur zu erkennen. Der göttlichen Ordnung, die für Quiccheberg über allen anderen Ordnungen steht, ist die fürstliche Ordnung unterstellt.43 Nach den Bildern und Statuen mit biblischen und religiösen Motiven folgt die Ahnengalerie des Fürsten mit Porträts des Fürsten selbst und seiner Familie. Die Sammlung bekommt daher auch eine politische Bedeutung, indem sie die Herrschaft des Fürsten direkt von Gott abhängig und in ein kosmologisches Ordnungssystem eingefügt darstellt. Die Grundprinzipien des Theatrum sapientiae von Quiccheberg spiegeln eine allgemein verbreitete Auffassung der Kunstkammer wider. Mehr oder weniger alle Kunstkammern dieser Zeit sind von dem Gedanken geleitet, die ganze kosmische Ordnung nach einem Maßstab, der für den Menschen erfaßbar sein soll, zu rekonstruieren und durch ein durchdachtes allegorisches Spiel zwischen Bildern und Gegenständen der Sammlung die unsichtbaren, übersinnlichen Verbindungen und Korrelationen aller Dinge der Schöpfung zu veranschauli41 42 43

Siehe dazu Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland, S. 31,231-232,314. Ibid., S. 214-216,314. Ibid., S. 29-31,231-232,246.

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chen. Es ist daher berechtigt zu untersuchen, ob und inwieweit Portaleone bei der Beschreibung des salomonischen Tempels von dem Modell einer Kunstkammer seiner Zeit beeinflußt wurde, zumal ihm ein solches Modell auch wegen seines Berufes entsprechen sollte. Viele der privaten Sammler dieser Zeit waren Apotheker und Ärzte, die in der Sammlung ein Instrument sowohl der Studien und der Forschung als auch der Legitimation und des sozialen Aufstieges sahen.44 Ein gemischtes Kabinett, in dem mit medizinischen Präparaten artificialia und naturalia angesammelt waren, gehörte zum Bon-ton eines Arztes oder Apothekers. Noch am Anfang des 18. Jahrhunderts riet der paduanische Arzt Alessandro Knips Macoppe seinen jungen Kollegen dazu, sich eine Sammlung von Kunstgegenständen, insbesondere von Antiquitäten und Naturobjekten, überwiegend von exotischen und außergewöhnlichen Exemplaren, aufzustellen, um sich berufliches und soziales Ansehen zu schaffen 45 Weitere Anregungen zur Gestaltung des Tempels als einer Wunderkammer fand Portaleone in Mantua selbst. Sehr wahrscheinlich kannte Portaleone die Sammlung des mantuanischen Apothekers Filippo Costa (1550-1587). Dank der Beschreibung, die ein anderer Mantuaner, Giovanni Battista Cavallara, verfaßte, erfährt man, daß die Sammlung - neben Zähnen und Knochen eines Riesen - „Gefäße, Medaillen, Münzen, Gemälde, Bildhauerwerke, Gipse und Bücher" („i vasi, le medaglie, le monete, le pitture, le scolture, i gietti, i libri") beinhaltete, auf die Cavallara nicht weiter eingeht, weil sie zwar „die edle Seele" („il nobil animo") ihres Besitzers bezeugen, aber der natürlichen Thematik der Sammlung nicht entsprechen („sono fuori del subietto fisico"),46 ein Beweis, daß der Schwerpunkt der Sammlung trotz ihrer Mischung aus naturalia und artificialia entsprechend den beruflichen Bedürfnissen und Interessen des Besitzers auf den naturalia lag. Eine weitere, sehr viel berühmtere Sammlung, die Portaleone bei der Beschreibung des salomonischen Tempels vor Augen hatte, war die Kunst- und Wunderkammer der Herrscherfamilie von Mantua, der Herzöge Gonzaga. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ergänzten die Herzöge Guglielmo, Vincenzo und schließlich Ferdinando VI. Gonzaga die schon vorhandene Sammlung von

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Siehe dazu G. Olmi, „Die Sammlung. Nutzbarmachung und Funktion", in: A. Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo, S. 169-189: 174-175, 180; Ch. Habrich, „Zur Typologie medizinischer Sammlungen im 17. und 18. Jahrhundert", in: ibid., S. 371396; P. Dilg, „Apotheker als Sammler", in: ibid., S. 453-474.

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Olmi, L' inventario del mondo, S. 310-311.

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D. A. Franchini/R. Margonari/G. Olmi/R. Signorini/A. Zanca/C. Tellini Perina, La

scienza α carte. Colleziortismo eclettico, natura e immagine a Mantooa fra Rinascimetito e Manierismo, Roma 1979, S. 49-51. Über Filippo Costa siehe auch A. Galassi/R. Sarzi,

Atta Syrern. Spezieria del '600 in Mantcma, Mantova 2000.

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Kunstobjekten und Antiquitäten mit Naturerzeugrassen, insbesondere mit seltenen und außerordentlichen Dingen, entsprechend dem Zeitgeschmack.47 Eine Erwähnung in den Shilte ha-gibborim bezeugt, daß Portaleone die Wunderkammer der Gonzaga wenigstens einmal gesehen hatte. In bezug auf die Beschreibimg des Motwcerote, über dessen Aussehen die von Portaleone angeführten Quellen (Plinius und Ludovico de Varthema) nicht übereinstimmend sind, erinnert Portaleone, daß der Herzog Vincenzo in seiner Kunstkammer ein Horn dieses Tieres besitze - oder genauer gesagt, was davon übrigblieb, nachdem seine Vorfahren einen guten Teil für medizinische Zwecke abgesägt hatten. Seine Hoheit Vincenzo, Herzog von Mantova und Monferrato, unser Herr seine Hoheit werde erhoben! - , hat in seiner Schatzkammer ein Horn des monocerote, das fast zwei Ellen lang ist. Einst haben seine Ahnen die Spitze des Homes mit einer Säge abgesägt, so daß mehr als eine gute Handbreit vom Horn fehlt.

Hatte Portaleone bei der Auswahl der wissenschaftlichen Themen die Kunstkammer der Gonzaga oder die Sammlungen einiger seiner Kollegen vermutlich vor Augen, so kann sehr wohl auch die Tempelbeschreibung von Villalpando ein weiteres literarisches Vorbild von Portaleone für die Einfügimg profaner Themen in den religiösen Kontext des Tempels gewesen sein. Direkte textliche Verbindungen zwischen den Shilte ha-gibborim und den Explanationes des Villalpando sind nicht nachweisbar. Dennoch lassen sich einige eindeutige Parallelen beim inhaltlichen Aufbau beider Werke ziehen, wie man bei der Beschreibung des israelitischen Heeres und bei der Erörterung von biblischen Maßen, Gewichten und Münzen erkennen kann.

2. Die Kriegsführung und das „Armamentarium" der Israeliten Die zahlreichen Feldzüge, die in Italien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Franzosen und Spaniern geführt wurden, hatten nicht nur politische, sondern auch kulturelle Auswirkungen. Man studierte das Kriegswesen in allen seinen politischen und technischen Aspekten, und man verglich dabei die moderne Kriegsführung mit der der alten Römer, entsprechend dem humanistischen Empfinden dieser Zeit. Die Kriegsführung wurde zu einer „Ars militiae", „Arte della guerra", zu einer Kunst mit eigenen Regeln, die erforscht und gelernt werden mußte. Wie bereits Jacob Burckhardt bemerkt hat: „In Italien gab es zuerst eine Wissenschaft und Kunst des gesamten im Zusammenhang behandelten Kriegswesens; hier zuerst begegnen wir einer neutralen Olmi, L' inventario del mondo, S. 262.

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Freude an der korrekten Kriegführung als solcher, wie dies zu dem häufigen Parteiwechsel und zu der rein sachlichen Handlungsweise der Condottieren paßte".48 Von besonderer Bedeutung für den Fortschritt der Militärtechnik waren die ersten vierzig Jahre des 16. Jahrhunderts. Auf den Schlachtfeldern traten die Schußwaffen auf, die trotz der zuerst relativ geringen effektiven Nutzung die traditionelle Kriegsführung veränderten.49 Die Anwendung der Artillerie und ihre Wirkung wurde zum Hauptthema in den Diskussionen der Kriegstheoretiker. Machiavelli erörterte zum Beispiel diese Frage mehrmals in seinen politischen Traktaten.50 Diese neue Wissenschaft blieb aber den jüdischen Intellektuellen fremd. Dennoch hing der Beruf vieler Juden mit dem Krieg zusammen. Als Ärzte, Güterlieferanten, Bankiers, Militäringenieure und Waffenexperten waren sie mit dem Militärwesen vertraut,51 wie zum Beispiel Abraham Colorni aus Mantua (1544-1599), ein Zeitgenosse Portaleones, halb Genie - er erfand sogar ein automatisches Gewehr! - und halb Scharlatan, der als Militäringenieur im Dienste des Herzogs von Mantua, des Kaisers Rudolph II. und des Herzogs Friedrich von Württemberg tätig war.52 Viele seiner Schriften sind als Manuskript erhalten. Nur ein Buch von ihm, das sich mit Geheimschriften beschäftigt, wurde veröffentlicht.53 Entsprechend seinem Vorhaben, ein Werk zu verfassen, das den religiösen und materiellen Bedürfnissen seiner Leser und deren kulturellen Interessen entgegenkommt, widmet Portaleone der Kriegsführung der Israeliten drei lange Kapitel (41-43). Das Thema ist im jüdischen kulturellen Umfeld dieser Zeit absolut ungewöhnlich und wird von Portaleone mit gründlicher Fachkenntnis behandelt. Portaleone selbst behauptet, die neuesten Bücher über die Kriegskunst gelesen zu haben: „Ich habe alles, was von ihren Fachleuten geschrieben 48

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J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (I860), hrsg. von H. Günther, Frankfurt a. M. 1989, S. 107. Siehe H. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, 4 Bde., Berlin 1900-1920: Bd. IV, S. 42-43; E. Fueter, Geschichte des europäischen Staatensystems von 1492 bis 1559, München - Berlin 1919, S. 20; F. Braudel, La Mediterranie et le Monde mediterraneen ä V epoque de Philippe II, 2 Bde., Paris 1979, hier Bd. II, S. 166-167. Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, Buch II, Kap. XVII: „Quanto si debbino stimare dagli eserciti ne' presenti tempi le artiglierie; e se quella opinione che se ne ha in universale e vera; U arte della guerra, Buch ΙΠ: Come si ordina un esercito a battaglia. Schieramento e combattimento. La questione delle artiglierie." Uber die Bedeutung der spanischen Juden als Kanoniere und Waffenexperten für die technische Verbesserung des türkischen Heeres siehe Yosef ha-Kohen, Emeq ha-baka, Krakau 1895, S. 168. Simonsohn, History of the Jews, S. 704-705. Scotografia, overo scienza di scrwere oscuro (Prag 1593), auf deutsch: „Dunkelschrift, nämlich die Wissenschaft verschlüsselt zu schreiben".

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

wurde, die diesbezüglich viel in der Fremdsprache geschrieben haben, und von den Werken, die von Hand zu Hand unter all denen, die sich für diese Wissenschaft interessieren, verbreitet werden, abschnittsweise abgeschrieben, sobald sie im Druck erschienen sind."54 Er will dabei seinen Lesern beweisen, daß die alten Israeliten die modernen Theorien der Kriegsführung und die modernen Kriegsmaschinen schon gekannt hatten. Der Ausgangspunkt ist die Auffassimg, die dem Konzept seines gesamten Werkes zugrunde liegt, daß die Bibel nämlich alles enthält, was der Mensch braucht. Denn: Es ist jedem, der Wissen und Verstand hat, wohl bekannt, daß unsere heilige Torah ein Heilmittel ist, in dem alles enthalten ist. Wie uns ihre Gebote und Vorschriften nicht unzugänglich sind, die uns zur ewigen Glückseligkeit führen, um uns zu ergötzen im Glanz der Gottesgegenwart, im Licht des Lebens der zukünftigen Welt, so fehlt in ihr nichts von dem, was nützlich ist, um den Menschen jederzeit zur Vervollkommnung des politischen Lebens anzuleiten. Während einige Weisen der Völker alle Tage ihres Lebens darauf verwandten, zu erkennen, was in Friedens- und Kriegszeiten getan werden muß, erleuchtet die Torah ohne Mühe und Anstrengung unsere Augen und zeigt uns in einem Augenblick von den Wegen der Welt denjenigen an, den wir gehen müssen, und was wir tun müssen, um im Schatten der Weisheit vor dem Frevel der Weltvölker verschont zu bleiben.55

Der erste Vergleich gilt dem römischen Heer: Bei der Aufstellung des Kriegslagers, das auf griechisch stratopedon heißt und auf lateinisch im Plural castra, das die auserwähltesten ihrer Gelehrten in mehreren Büchern und in unendlichen Studien beschrieben haben, sahen sich nach mehreren nutzlosen Diskussionen alle Völker und Nationen schließlich zuzugeben gezwungen, daß von allen möglichen Aufteilungen, die sie erfunden hatten, keine in der Anordnung der Aufstellung der Armeen besser war als die Anordnung, die uns die Torah vorschreibt [...]. Mose hatte schon viele Generationen vor ihnen [das heißt vor den Römern] auf Befehl des Herrn das ganze Lager Israels in vier Armeen aufgeteilt, jede Armee zu drei Stämmen und jeden Stamm in Sippen [...]. Und sie hatten Befehlshaber für je 10, 50,100 und 1000 Mann [vgl. Ex 18,21 und 18,25]. Und wie unser Meister Mose den Stämmen eine große und dem Wind ausgesetzte Flagge für die drei Stämme gemeinsam erhob, damit man sie von weitem sehen konnte, und dazu noch zwei andere, kleinere Flaggen für jeden einzelnen Stamm bestellte, die in seiner Vereinigung waren, taten auch die Römer desgleichen nach seinem Vorbild, auch wenn sie zahlreiche Flaggen hinzufügten und je 180 Soldaten eine Flagge zuteilten, wie derjenige weiß, der ihre Bücher gelesen hat. Jedoch soll man das überflüssige als mangelhaft betrachten, und es soll euch die Zahl der Flaggen ausreichend sein, die uns die Torah anweist. Sie taten das nicht nur in der Aufstellung der Lager, sondern auch beim Anrücken zum Kampf.

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Shilte ha-gibborim, Kap. 43, S. 42a. Ibid., Kap. 41, S. 35b-36a.

Die Kriegsführung und das „Armamentarium" der Israeliten

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Sie folgten der Torah auf Schritt und Tritt, und sie setzten dem Volk weise und kluge Männer vor, die ihm passende und ermutigende Worte zu Gehör bringen konnten, um dem furchtsamen und feigen Herzen Mut einzuflößen, damit man dem Feind den Rücken nicht zukehrte und das Herz der Soldaten nicht hinschmolz, wie sein eigenes Herz, wie man in ihren Büchern liest, wie zum Beispiel in Sallust, Tacitus, Livius und so weiter.56

Die Römer hatten nicht nur entsprechend den biblischen Anweisungen ihr Heer aufgestellt und den Krieg geführt. Wenn man die Bibel richtig interpretiert, sind für Portaleone auch Waffen und Kriegsmaschinen, die als moderne Erfindungen angepriesen werden, schon in ihr erwähnt. Anhand biblischer Zitate will Portaleone beweisen, daß die Kriegsausrüstung der Israeliten weit fortgeschritten war: Ich habe schon kurz gesagt, daß unsere Väter, ihr Andenken zum Segen, bereits die Artillerie gekannt haben, wie daraus ersichtlich ist, was die Schrift sagt [...]: und er wird gegen dich „solela"57 werfen [...], und „qaballo"5* wird er zum

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Ibid., Kap. 41, S. 36a. Portaleone hat zuvor (Kap. 40, S. 34b) dieses Wort, das eigentlich „Sturmrampe" bedeutet, als „Artillerie" interpretiert. Denn das Verb salal bedeutet „Straße aufschütten, anlegen, einen Weg herrichten", und die Kugeln bahnen sich ihren Weg in den Rohren der Schußwaffen, wenn sie von der Kraft des Schießpulvers herausgeschleudert werden. Die Erklärung Portaleones lautet wie folgt: „Wisset, meine Söhne, daß artiglieria in den Büchern der ersten Propheten solelot genannt wird, weil diejenigen, die in den Krieg ziehen, wenn sie das Lager aufschlagen, immer einen hohen Erdhügel aufbauen, der sehr fest und dazu geeignet ist, diese Maschinen darauf zu stellen, um die eisernen Kugeln schleudern zu können, die in ihrem Inneren fest eingeschlossen sind. Durch das Kunstpulver, das in ihrem Inneren angezündet wird, bahnen sich die Kugeln stark und gewaltig eine Bahn im Rohr dieser Maschine, und deswegen heißen sie bei uns solela, und werden mit einem gewaltigen Schuß herausgeschleudert, um gegen Wälle zu geraten oder die Mauern der Festungen einzubrechen und gleichzeitig auch viele Menschen umzubringen. Dazu paßt genau, was die Schrift sagt: Fällt ihre Bäume und baut,solela' gegen Jerusalem auf (Jer 6,6), und weiter: Schon kommen die ,solelot' bis an die Stadt heran, um sie zu erobern (Jer 32,24) und so weiter an anderen Stellen der Schrift. Denn ,ein hoher und erhabener Weg*, wie viele das Wort Solela interpretieren, ist überhaupt nicht geeignet, um zur wohnlichen Stadt zu gelangen (Ps 107,7) oder um sich bei ihrer Belagerung irgendwann ins Innere der Stadtmauern zu stürzen, vielmehr wird in der Unruhe des Krieges nur auf einer geraden Ebene der Weg zu einem hohen Hügel gegenüber den Stadtmauern zubereitet, so daß man von da aus die Mauer der lauten Stadt (lKön 1,41) in der Bedrängnis einer Belagerung beschießen kann, wenn man versucht, ihre Befestigungen durch jene großen und starken Holzgeräte zu zerstören, die eiserne und starke Spitzen haben, mit Nägeln befestigt, damit sie sehr stabil bleiben, wenn man mit jenen Geräten die Mauern einbricht, wie die Alten wußten, die sie,Sturmböcke' nannten" (Kap. 40, S. 34b). Portaleone hat davor (Kap. 42, S. 37a) dieses Wort als „Kanone" interpretiert: „ihr sollt die Wurfmaschinen, die 80, 90, 100 Pfund schwere Kugeln schießen und die wahr-

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Stoß (mekhi) gegen deine Mauern ansetzen (Ez 26,8-9). Ebenso wußten sie ganz genau, was mosdtettoni und archibugi alia spagnola sind. Der Beweis dafür ist das, was im Psalm Davids - der Friede sei mit ihm! - geschrieben steht und der bronzene Bogen drückte auf meine Arme herab (Ps 18,35). Denn David will damit sagen: als ich im Krieg Erfolg hatte, habe ich mich nicht meiner Stärke gerühmt, sondern Er [das heißt Gott] - Er sei gepriesen! - hat im Kampf meine Hand geführt, so daß der bronzene Bogen, das heißt aus starkem und sehr schwerem Eisen, wie eben der moschettone ist (denn auch er und der archibugio [Arkebuse], der etwas kleiner ist, werden in der Fremdsprache „hohle Bögen" genannt) herunterkam und in meiner Hand blieb und auf meinem Arm ohne Stütze des Gestells, das die moschettoni brauchen, gut liegen konnte [...]. Und in Hi 20,24-25 steht es ebenso geschrieben: flieht er vor den eisernen Waffen, durchbohrt ihn der Bogen aus Bronze. Er zückt, und es fährt fort aus dem Rücken, ein Blitz aus seiner Galle. Schrecken (Emim) gehen über ihn hin, das heißt, wenn der Frevler flieht und nicht bei demjenigen, der mit den eisernen Waffen schlägt, stehenbleiben will, um nicht verletzt zu werden, weil er ihm nah steht, und denkt, weit entfernt in Sicherheit vor seinen Schlägen zu sein, sagt Zofar [einer der Freunde Hiobs], nützt dies auch nichts, um zu entkommen, weil der archibugio, das heißt „der bronzene Bogen" [...], auch auf große Entfernung den getroffenen Körper durchdringt59. [...] Der Schütze zieht den „bronzenen Bogen" aus seiner Hülle und Scheide heraus [und das entspricht der biblischen Stelle „er zückt"] [...] und schießt von weitem aus dem Rohr des Bogens eine Kugel aus Blei mit der Stärke eines Blitzes, das heißt „der Blitz", nämlich das durch das Pulver angezündete Feuer, das „in seiner Galle" ist, das heißt, es ist innen im Bogen eingeschlossen, wie die mitten im Körper verborgene Galle, auf den Getroffenen „Schrecken" bringt, das heißt die Kugeln, die sich auch im Inneren des Rohrs des bronzenen Bogens befinden. [...] Aufgrund des großen Schreckens, in den die Menschen wegen des Einschlags der Kugeln versetzt werden, werden die Kugeln „Schrecken" genannt.60

Die Israeliten konnten außerdem auf eine Kriegsmarine zählen, die der berühmten venezianischen in nichts nachstand. Auf der israelitischen Werft wurden marcigliane,61 caravelle, galee (Galeere), schifi,62 fregate (Fregatte), briganti-

ni (Brigantinen) und galeoni (Galeonen) gebaut.63 Das ist für Portaleone im Bibelvers Jes 33,21 belegt, wo es heißt: Kein mächtiges Schiff (si addir) segelt

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scheinlich nach dem Ausdruck des Bibelverses mechi qabal [Sturmbock?] (Ez 26,9: Und seinen Sturmbock [qaballo] wird er zum Stoß [mekhi] gegen deine Mauern ansetzen) genannt werden, beiseite lassen, weil diese Wurfmaschinen dazu dienen, gegen die Mauern zu schießen und sie zu zerstören, denn,gegen' heißt auf aramäisch qobel [...]". „durchdringt" entspricht der zitierten Bibelstelle „durchbohrt ihn der Bogen aus Bronze". Shilte ha-gibborim, Kap. 42, S. 37a-b. Ein Handelssegler des 15.-17. Jahrhunderts. Eine Art Kahn. Shilte ha-gibborim, Kap. 40, S. 35a.

Die Kriegsführung und das „Armamentarium" der Israeliten

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darauf. Portaleone interpretiert den Ausdruck si addir als galeone. Was seine Zeitgenossen für eine neue Taktik hielten, ist schon in der Bibel enthalten, wie zum Beispiel die sogenannte incamisciata, das heißt der plötzliche Angriff mitten in der Nacht, mit weiß gekleideten Soldaten, damit sie sich in der Dunkelheit erkennen können: Und auch wenn die Feinde in der Mitte der Nacht in der Dunkelheit ausruhen, sollt ihr tausend Mann aus jedem Stamm zum Heer abstellen (Num 31,4), angezogen mit weißen Waffenröcken auf den Panzerhemden und auf den bronzenen Harnischen und mit weißen Kopftüchern auf den bronzenen und eisernen Helmen, damit sie sich gegenseitig mitten in der Nacht durch die weiße Farbe der Waffenröcke und der Kopftücher erkennen und sich nicht aus Versehen verletzen; denn auf diese Weise werdet ihr den Feinden einen schweren Schlag versetzen, und sie werden durch den großen Schrecken und vor Furcht vor euch ergriffen sein. So etwas wird von den Kriegsleuten incamisciata genannt, und unser Vater Abraham, ruhe er in Frieden, hatte als erster diese Kriegsregel erfunden, wie es geschrieben steht: In der Nacht überfiel er sie mit verstreuten Verbänden (Gen 14,15). Er überfiel sie nämlich mit weißen Waffenröcken über den Rüstungen der Brüder 'Aner, Eshkol und Mamre, wegen der Finsternis der Nacht, um die Männer, die mit ihm waren, von den Männern der vier Könige zu unterscheiden, die er bekämpfte.64 Auch Villalpando befaßt sich im zweiten Band seiner Tempelbeschreibung mit dem israelitischen Heer. 65 Er geht nicht so weit wie Portaleone und behauptet nicht, daß die Israeliten zu biblischen Zeiten schon Schießpulver und Kanonen gekannt hätten, aber das israelitische Lager während der Wanderung in der Wüste entsprach für Villalpando dem viereckigen römischen Lager, mit Stiftszelt und Bundeslade statt des Zeltes des Befehlshabers in der Mitte, die die Anwesenheit Gottes symbolisieren. Denn es ist offensichtlich, daß das Volk Gottes bei seinem Auszug aus Ägypten zum ersten Mal als „Heer" bezeichnet wurde: „An jenem Tag zog das Heer des Herrn aus Ägypten fort" (Ex 12,41), so die Bibel. Und sicherlich zu Recht wird das Volk so bezeichnet, da man in ihm fast endlose Heerscharen zählt, die immer militärisch geordnet marschieren. [...] Und wenn solche zahlreichen Heerscharen schon an und für sich bewundernswert sind, ist desto mehr die Aufstellung [ihres] Lagers sowie die Anordnung zu bewundern, die vom allerhöchsten Imperator, dem allermächtigsten Gott Israels, dargelegt worden ist, als er Mose, dem Befehlshaber, angeordnet hat, das Heer quadratisch aufzustellen: „Alle Israeliten - sagt die " 65

Ibid., Kap. 42, S. 40a. De postrema Ezechielis Prophetae visione loannis Baptistae Villalpandi Cordubensis e Societate Iesu. Tomi secundi explanationum pars secunda, in qua templi eiusque vasorum forma tum commentariis tum aeneis quamplurimis descriptionibus exprimitur, Romae 1604, Kap. XXIX, S. 466 „De Israelis circa Tabemaculum castramentatione, militum copiis et ducum insignibus".

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Bibel - sollen, eingeteilt nach Verbänden und Familien ihres Stammes, bei ihren Feldzeichen und Fahnen rings um das Offenbarungszelt lagern. (Num 2,2y-

Die zentrale Lage des Stiftszeltes in der Anordnung des Lagers ist nicht nur ein Zeichen von Verehrung. Sie symbolisiert die führende Funktion Gottes. Gott ist der Oberbefehlshaber, der summus imperator, und Mose ist sein Stellvertreter, der praefectus militiae, der nach den Anweisungen Gottes handelt. Die vollkommene taktische Anordnung der Stämme um die Bundeslade herum wurde von Gott selbst verordnet. Daraus kann man folgern, daß die Israeliten die beste militärische Taktik und Kriegskunst kannten, weil Gott selbst sie ihnen mitteilte. In seinem Bestreben nach einer Harmonisierung der humanistischen Tradition mit der Bibel läßt Villalpando diese Folgerung nur andeutungsweise ableiten. Nicht so Portaleone, der sich darum bemüht, die Überlegenheit der jüdischen Tradition gegenüber der fremden Umwelt nachzuweisen. Das ist eine der Zielsetzungen der Shilte ha-gibborim, die nicht nur, was die Kriegskunst angeht, offensichtlich ist, sondern auch für alle andere Wissensbereiche gilt.

3. Gewichte, Maßeinheiten, Medaillen und Münzen Das ganze Kapitel 72 der Shilte ha-gibborim erläutert verschiedene Meßverfahren, Gewichts- und Maßeinheiten, die in der Bibel erwähnt sind. Die biblischen Gewichts- und Maßeinheiten werden mit den griechischen, römischen und zeitgenössischen Maßen und Gewichten verglichen. Dafür bezieht sich Portaleone auf den Talmud sowie auf die klassischen und zeitgenössischen Autoren. Besonders interessant ist die ausführliche Beschreibung der Waage und der Laufgewichtswaage mit einem kurzen Hinweis auf mögliche Betrügereien beim Wiegen. Die Beschreibung beschränkt sich nur auf die Bauform und Funktion der Laufgewichtswaage, ohne auf die mathematischen Gesetze einzugehen. Hierzu begnügt sich Portaleone, seinen Leser auf den Traktat Mechanicorum libri (Pesaro 1577) des Guidobaldo del Monte zu verweisen, um Ibid.: „Populum enim Dei ex Aegypto primum egressum exercitum appellatum fuisse, compertum est: „Eadem, inquit, die egressus est exercitus Domini de terra Aegypti" (Ex 12,41). Et quidem merito hoc nomine censetur populus, in quo infinitae propemodum militum copiae recensentur, et quae castrorum more semper ordinatae procedunt. [...] Quod si admirabilis est tanta militum copia: multo certe admirabilior erit castrorum ordo, ac descripta dispositio a summo omnium Imperatore, fortissimo Deo Israel, qui exercitum quadrato schemate fieri praecepit a Moyse, militiae praefecto. ,Singuli, inquit, per turmas, signa, atque vexilla, et domus cognationum suarum castrametabuntur filii Israel per gyrum tabernaculi foederis"' (Num 2,2).

Gewichte, Maßeinheiten, Medaillen und Münzen

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„demjenigen nicht zur Last zu fallen, der sich von seiner Jugend her der Lehrer dieses Wissens nicht bedient hat." Eine ähnliche Behandlung ist auch in Villalpando zu finden. Der zweite Teil des dritten Bandes der Tempelbeschreibung beschäftigt sich unter anderem mit den biblischen Maßen, Gewichten und Münzen, die mit den griechischen, römischen und spanischen verglichen werden. Anders als Portaleone bietet aber Villalpando genaue Berechnungen der verschiedenen Werte.67 Das Verzeichnis des zweiten Teils des Bandes (S. XV-XVI) verweist auf folgende Kapitel: De Hebraeorum ponderibus, numismatis atque mensuris mathematicarum demonstrationum liber primus; De Romanis, Graecis, Hebraicisque ponderibus atque numismatis. Secundae partis apparatus Liber secundus in quatuor disputationes tributus-. De ponderibus et mensuris in universum; Romana antiqua pondera atque numismata·, Graecorum pondera atque numismata; Hebraeorum pondera atque numismata. Dabei erläutert Villalpando die Funktion der Waage, beschreibt verschiedene Verfahren zum Wiegen und gibt dem Leser Ratschläge, wie er sich vor Betrügereien schützen kann.68 Der Wertvergleich der israelitischen Münzen zu biblischen Zeiten mit den griechischen und römischen bezieht auch den Wert der silbernen und goldenen spanischen Münzen zur Zeit Villalpandos mit ein.69 Hinzugefügt wird zudem eine Beschreibung von Medaillen mit Erläuterung ihres Wertes. Dabei bezieht sich Villalpando auf Antonio Augustin70 und Leonardo Porzio71. Die Beschreibungen von Münzen und Medaillen

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Apparatus Urbis ac Templi Hierosolymitani Pars I et II Joannis Baptistae Villalpandi Cordubensis e Societate Iesu collato studio cum Prado ex eadem Societate, Romae 1604. Ibid., S. 349, Paragraph „Bilancis usus." Ibid., S. XVI: „Hispana auri pretia in singulis perfectionis gradibus, quos vocant quilates. Hispana argenti pretia in singulis perfectionis gradibus, quos vocant dineros." Villalpando erwähnt den Traktat Dialogo delle medaglie des Antonio Agostino. Genaugenommen handelt es sich um den Spanier Antonio Augustin, Erzbischof von Tarragona (1517-1586), Autor von verschiedenen juristischen und antiquarischen Werken. Seine Abhandlung über die Medaillen und andere Antiquitäten (Dialogos de medallas, inscriciones y otras antiquedades, Tarragona 1587) wurde ins Italienische übersetzt: Dialoghi di don Antonio Agostini arcivescovo di Tarraama intomo alle medaglie inscrittioni et altre antichita tradotti di lingua spagnuola in italiana da Dionigi Ottaviano Soda & dal medesimo accresciuti con diverse annotationi,& illustrati con disegni di molte medaglie & d' altre figure, in Roma appresso Guglielmo Facciotto, 1592. Im selben Jahr gab es in Rom eine weitere Ausgabe durch die Drucker Ascanio e Girolamo Donangeli mit verändertem Titel: Discorsi sopra le medaglie et altre anticaglie divisi in 11 dialoghi tradotti dalla lingua Spagnuola nell' Italiana con V agiunta di moltiritrattidi belle, e rare medaglie. Die italienische Übersetzung wurde noch bis 1736 mehrmals nachgedruckt. Das Werk wird nicht erwähnt. Es handelt sich um Leonardi de Portis [bzw. Portii] iurisconsulti Vicentini De sestertio pecuniis ponderibus et mensuris antiquis libri duo, Venezia um 1520. Das Werk wurde mehrmals mit verschiedenen Titeln aufgelegt und umge-

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

bilden einen wahren numismatischen Traktat, der in die Thematik des Tempels eingefügt wird. Ein ähnliches Interesse für Münzen, Medaillen und Gemmen zeigt auch Portaleone, der sich in drei langen Kapiteln der Shilte ha-gibborim

damit

beschäftigt. In Kapitel 5 4 erklärt Portaleone, wie man Fälschungen erstellt und erkennen kann. Die Kapitel 55 u n d 56 der Shilte ha-gibborim

sind ein Traktat

über den Handel von Edelsteinen, Perlen und Münzen, wobei Portaleone die Preise der Perlen angibt, die im Jahr 1606 in Venedig gehandelt wurden, sowie die Wertlisten von Edelsteinen u n d Perlen und die Wechselkurse verschiedener Münzen, die Meshullam aus Volterra im Jahr 1571 in Pesaro verfaßt hatte. Während Villalpando bei der Beschreibung von Münzen und Medaillen überwiegend von einem antiquarischen, numismatischen Interesse geleitet wird, will Portaleone seinem Leser nützliche Ratschläge für einen wirtschaftlich erfolgreichen, gewinnbringenden Handel erteilen. Damit euch nicht unzugänglich bleibt, was die Edelsteinhändler über die Gemmen betrügerisch planen, und damit ihr all ihre Details kennt, habe ich mir vorgenommen, euch ihre exakten Werte und Preise in diesem meinem Kapitel niederzuschreiben. Lest, Erwählte des H(errn), diese Tarife und handelt dementsprechend.72 Die drei Kapitel der Shilte ha-gibborim

gleichen einem Handbuch für Geld-

wechsler und Händler von Edelsteinen und Perlen. Auf diesem Gebiet zeigt Portaleone eine außergewöhnliche Fachkenntnis und Selbstsicherheit, die ihm erlaubt, Meshullam aus Volterra z u widersprechen und d e m Leser die besten Geldanlagen zu empfehlen. Wisse, ο Leser, daß ich, Abraham, von der Meinung dieses Weisen abweiche und glaube, daß die guten Diamanten wertvoller sind als die Rubine und die erlesenen Rubine teurer als die östlichen Smaragde und die östlichen Smaragarbeitet: Leonardi Portii iurisconsulti Vicentini De sestertio, talentis, pecunijs, ponderibus, mensuris, stipendiis militaribus antiquis, ac provinciarum, regum, populi romani, Caesarumque redditibus, libri duo, in quibus complura loca scriptorum dariss. Plinii, Columellae, Celsi, Livii, luvenalis, tum acri iudicio, tum acquisition doctrina castigantur, aperiuntur, illustrantur, Romae, in aedibus F. M. Calvi, 1524; Leonardi Portii. De sestertio, talentis, pecuniis, ponderibus, mensuris, stipendiis militaribus antiquis, ac prooinciarum, regum, populi Romani, Caesarumqlue] redditibus: libri duo, in quibus complura loca scriptorum clarissimorum [...] illustrantur; item index rerum scitu dignarum, Basilea 1530; Leonardi De Portis Iurisconsulti Vicentini De Sestertio, pecuniis, ponderibus et mensuris antiquis, libri duo, Freiburg im Breisgau 1547; De re pecuniaria antiqua: sestertio, talentis, ponderibus, mensuris, libri de nummis, ponderibus, mensuris, eorumque notis, et de vetere computandi per digitos ratione libri duo utilissimi auctore Leonhardo Portio Vicent. Item Johannis Aquilae de potestate atque utilitate monetarum opusculum, his additum. Item priscae monetae ad nostram supputatio, per Mameramnum collecta, Coloniae Henricus Mameranus excudebat, 1551. 71

Shilte ha-gibborim, Kap. 54, S. 58b.

Gewichte, Maßeinheiten, Medaillen und Münzen

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de teurer als die Saphire. Und wenn er gesagt hat, daß die Saphire teurer als die balasci sind, stimmt es, weil die balasci wie eine Art Gehäuse oder Behältnis oder Schale oder Hülle des Rubins sind, der in dem btdascio erzeugt wird. Die schön geschnittenen Rubine und Saphire, die antichi73 und unversehrt sind, sind besonders wertvoll und werden nur den Königen angeboten, denn es gibt davon einen von tausend. Auch die modemi sind, wenn sie schön und geeignet sind, Schriften auf ihnen zu prägen, besonders wertvoll, und wenn sie auch nicht so wertvoll wie die antichi sind, werden sie doch von allen Honoratioren geschätzt. Der Rest der gravierten Steine, auch wenn sie antichi sind, werden alle in der Fremdsprache fantasie genannt, und für sie soll man keine große Summe ausgeben, weil der ritratto7* meistens einer auf lange Sicht ist. Auch für die medaglie antiche und moderne75 aus Gold, Silber und Bronze ist keine höhere Summe auszugeben als ihr Prägungswert und etwas mehr, je nachdem, wie schön sie sind. Ebenso ist es mit den figure aus bronzo antiche76 und mit anderen Gegenständen wie Gefäße, archi,77 frecce,™ Leuchter und Abbildungen von Tieren, denn ihr Gewinn ist einer auf lange Sicht, und man soll in sie nichts investieren.79

Die Einfügung von numismatischen Abhandlungen in die Tempelbeschreibungen von Villalpando und Portaleone ist nicht nur von antiquarischen bzw. praktischen, wirtschaftlich orientierten Interessen motiviert. Sie entspricht auch einer verbreiteten kulturellen Mode. Medaillen, Münzen, Gemmen und eingravierte Kameen waren einige der beliebtesten Sammlungsstücke der Kunstkammern. Medaillen und Münzen wurden nicht nur als Geldanlage wegen ihres Sachwertes gesammelt, sondern auch wegen ihrer historischen Bedeutung. Infolge der humanistischen Wiederentdeckung der klassischen Vergangenheit dienten die alten Münzen einer visuellen Rekonstruktion der klassischen Welt. Ereignisse der antiken Geschichte, Kaiser und historische Persönlichkeiten, die man nur durch literarische Quellen kannte, bekamen durch die Prägungen der antiken Münzen und durch die eingravierten Abbildungen auf Kameen und Medaillen ein Gesicht. Münzen und Medaillen waren eine sichtbare Darstellung der antiken Geschichte.80 Antonio Augustin (oder Agostini), einer der von Villalpando erwähnten Autoren, erklärte folgendermaßen den Nutzen der Numismatik: Doch um auf den Nutzen, den man aus diesem Studium ziehen kann, zurückzukommen, wird sicher von nicht geringer Bedeutung die Tatsache sein, daß 73 74 75 76 77 78 79 80

Nach alten Mustern geschliffen. „Gewinn". „Für die alten und neuen Medaillen". „Alte Statuen aus Bronze". „Bögen". „Pfeile". Shüte ha-gibborim, Kap. 56, S. 60b. Olmi, V inventario del rtumdo, S. 169-170.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones man das abgebildete Gesicht und den Charakter vieler herausragender Persönlichkeiten wie Könige, Kaiser, Heerführer und andere außerordentliche Persönlichkeiten der Vergangenheit sehen und betrachten kann. Und so wie wir an der Lektüre der Ereignisse, die sich in der Vergangenheit an verschiedenen Orten zugetragen haben, Gefallen haben und uns nach denen sehnen, die ehrenwerte und wunderbare Taten vollbrachten, so möchten wir auch erfahren, was für ein Gesicht und Aussehen sie hatten.81

Ihre Fachkenntnis gehörte zur Grundbildung eines jeden, der in der Gesellschaft glänzen wollte. Baldassar Castiglione hält in seinem Traktat über den Höfling, II Libro del Cortegiano (1528), eine gute Kenntnis der Malerei für eine bessere Bewertung „delle statue antiche e moderne, di vasi, d' edificii, di medaglie, di camei, d' entagli e tai cose"82 für notwendig. Die Numismatik war ein wesentlicher Bestandteil jener „antiquitatum peritia", die für Gerolamo Capello die Bildung der Adligen charakterisierte.83 Die Numismatik und die Sammlung von Antiquitäten stand aber auch in engem Zusammenhang mit der Naturforschung. Man wollte in den klassischen Abbildungen jene Pflanzen und Tiere wiederfinden, die von den klassischen Autoren erwähnt und beschrieben worden waren. Münzen und Medaillen boten eine ikonographische Darstellung der antiken Naturwelt, die als Ausgangspunkt für die humanistisch geprägten Naturbeschreibungen des 16.-17. Jahrhunderts diente.84 Für Antonio Augustin bereiten die Medaillen mit ihren Abbildungen von merkwürdigen Tieren und Monstern Freude („Ma pur si prende anco tal volta diletto dal vedere i ritratti di alcune fiere strane, e di alcuni animali mostruosi."); von ihnen kann man lernen, „di che maniera si figuri il Crocodillo, Γ Hippopotamo, la Sfinge, e il Rinoceronte; e come figuravano gli antichi Scilla, la Chimera, il Pegaseo, le Sirene e altri somiglianti cose."85 Noch Ende des 17. Jahrhunderts schrieb Christopherus Arnoldus (16271685): 81

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Augustin, Dialoghi, 1650, S. 14: „Ma per tomare all' utilitä che si rieava da questo studio, non sarä di certo poca cosa il poter vedere, e considerare il ritratto dell' effigie, e dell' habito di tante persone segnalate di Re, d' Imperadori, di Capitani, e di altri Personaggi singolari de i secoli passati. Ε si come prendiamo diletto di andar leggendo le Historie delle cose awenute in diversi luoghi, e ci resta una grande affettione verso quelli, che fecero opere degne, e maravigliose, cosi parimente desideriamo sapere che effigie, e che fisionomia fu la loro." B. Castiglione, „II Libro del Cortegiano", in: C. Cordie (Hrsg.), Opere di Baidassare Castiglione, Giovanni della Cosa, Benvenuto Cellini, Milano/Napoli 1960, S. 86. Siehe auch Olmi, U inventario del mondo, S. 171. G. Capello, De disciplines ingenuis, urbe libera liberoque iuvene dignis, per compendium in capita resolutis, Padova 1570, S. 135, zitiert nach Olmi, L' inventario del mondo, S. 171. Olmi, U inventario del mondo, S. 300-302. Augustin, Dialoghi, 1650, S. 15. Siehe auch Olmi, L' inventario del mondo, S. 302.

Gewichte, Maßeinheiten, Medaillen und Münzen

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In der Tat lernt man heute von nirgendwo anders als von den Münzen, wie früher der Silphius oder der kyrenäische Laserpitius aussah; und auf einigen der berühmtesten ägyptischen [Münzen] wird die Blüte des Lotus, sowohl der Stiel als auch die Frucht, dargestellt; den Strobilus sehen wir in den antiken Münzen von Augustus [...]. Das bezeugt weiterhin die reichliche Anzahl von antiken Münzen, in denen man wie eine Art Abbildung oder Katalog die deutsche Tanne, den Sellerie aus Selinunte, den Olbaum von Athen, die Palme nicht nur von Tyrus [...], schließlich die Rose von Rhodos (wie man allgemein glaubt) anschaut.86

Die hermetisch-astrologische Tradition, von der die mnemonisch-enzyklopädischen Theater von Giulio Camillo und Quiccheberg geprägt worden sind und die noch Villalpando in seine Tempelbeschreibung eingearbeitet hat, wird von Portaleone kaum berücksichtigt, abgesehen von einer nebensächlichen Erwähnung von Hermes Trismegistus: Und siehe, Hermes, der größte Philosoph Indiens, schrieb, daß die Eigenschaften aller Dinge in den Geschöpfen der unteren Welt von der Kraft der Konstellation der Sterne und von deren Beobachtung, Licht und Bewegung in der Umlaufbahn des Gestirnkreises entstehen. Sie wird 'igul 'el 'or genannt (nämlich „der Lichtkreis", weil auf seiner Mittellinie ständig die Sonne kreist, die die ganze Welt erleuchtet. Diese Linie heißt in ihrer Sprache linea clitica). In ihnen, den zusammengesetzten Dingen, befinden sich jene Eigenschaften in geringerem und größerem Ausmaß der erstrebten Vollkommenheit, je nach der Dichtigkeit oder Durchsichtigkeit der Materie ihres Körpers, die vom Himmel und seinen Sternbildern herabkommen.87

Das ist eine fast wörtliche Übersetzung aus einem Traktat von Lodovico Dolce über die Edelsteine und ihre Eigenschaften: La onde Hermete intorno alle cagioni delle virtu cosi dice. Habbiamo per cosa indubitata, che le virtu di tutte le cose inferiori discendono dalle superiori. 86

„Etenim qualis olim fuerit figura Silphii, aut Laserpitii Cyrenaici, non aliunde hodie, quam ex nummis discitur; et praeclaris aliquot Aegiptiorum tum flos Loti, tum caulis, tum fructus exprimitur; Strobilum [...] videmus in vetustissimis Augusti nummis [...]. Id ipsum evincit ulterius copiosa veterum numismatum supellex, in quibus Abies Germaniae, Apium Selinuntorum, Olea Atheniensium, Palma non Tyri solum, [...] Rosa denique (ut vulgo existimatur) Rhodiorum vel insignia, vel quasi indices quidam conspiciuntur" (Ch. Arnoldus, Epistola de rei medicae simul ac nummariae scriptoribus praecipuis, in P. Parisius, Rariora Magnae Graeciae numismata Maximis Philippis Regt ac principi Hispaniarum a. C. 1592 primum oblata, cum enumerations Sanctorum Pontificum, Imperatorum, Regum, Ducum, Marchionum, Comitum, Baron um, Familiarumcjue Illustrium ex Calabria, Sicilia, regnoque Neapolita.no, originem suam trahentium et ipsis Magnae Graeciae tabulis inter se divisis, altera editione renovata. Accurante Joh. Ge. Volckamero Med. D. Accedit Praefatio Epistolica Christophen Arnoldi, [Nürnberg?] 1683, S. 7, zitiert nach Olmi, L' inventario del mondo, S. 303).

87

Shilte ha-gibborim, Kap. 48, S. 49b.

204

Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Percioche i corpi superiori con la loro sostanza, lume, dispositione, e movimento, et anco con la lor forma e figura influiscono ne gl' inferiori tutte le virtu, che si trovano nelle pietre. έ manifesto adunque [...] che le virtu delle pietre procedono dalle stelle, da i Pianeti, e dalle constellationi col mezo della puritä della loro complessione.88

U m die wundervollen Wirkungen der Edelsteine zu erklären, beruft sich Portaleone auf die geläufige scholastische Vorstellung, wonach aus den Gestirnen des Himmels alle Eigenschaften der Materie herabströmen. Die Erwähnung von Hermes Trismegistus dient Portaleone lediglich als zusätzlicher Beleg für seine Erläuterung. Der Hermetismus wird aber nicht als Grundlage für den Aufbau der Tempelbeschreibung genommen. 8 9 Die Behandlung der profanen Wissenschaften wird in das herkömmliche Muster der rabbinischen Tempelbeschreibungen und Kommentare

völlig

eingearbeitet. Portaleone bemüht sich, ein mit der rabbinischen Tradition übereinstimmendes Werk zu verfassen, ohne sich auf fremde kulturelle Strömungen einzulassen, die auch nur den geringsten Verdacht von Innovation hätten erwecken können. Dementsprechend unterscheidet sich die Gestaltung seines mnemonisch-enzyklopädischen

Tempels gegenüber

ähnlichen

christlichen

Modellen in einem wesentlichen Punkt: Und zwar erfolgt die Darstellung der Wissenschaften ohne Anwendung von Bildern. Wegen des biblischen Bilderverbots 90 wären sie absolut unverträglich im Kontext der Tempelbeschreibung. Die Räume und Kultgegenstände des Tempels ersetzen die imagines agetites der rhetorischen Mnemotechnik und werden als topische Orte verwendet. Die Reihenfolge der Darstellungen der verschiedenen Wissenschaften wird von

88

Libri tre di M. Lodooico Dolce, ne i quali si tratta delle diverse sorti delle gemme che produce la natura, della qualitä, grandezza, bellezza, & virü loro. In Venetia appresso Gio. Battista, Marchio Sessa, et fratelli, 1565 (Biblioteca Nazionale di Torino Dono.Ciaccio. 908), S. 21 v. [Deutsche Übersetzung: „Und siehe, Hermes sagt Folgendes über die Ursachen der Eigenschaften: Wir halten es für unbezweifelbar, daß die Eigenschaften aller niedrigen Dinge von den oberen stammen. Denn die oberen [Himmels]körper flößen durch ihre Substanz, Licht, Stand und Bewegung sowie durch ihre Form und ihre Gestalt in die niedrigen [Körper] all jene Eigenschaften ein, die sich in den Steinen befinden. Es ist also offensichtlich, daß die Eigenschaften der Steine von den Sternen, den Planeten und Sternbildern, je nach der Dichtigkeit oder Durchsichtigkeit der Materie ihres Körpers, herabkommen."]

89

Die These von Melamed, der diese kurze Erwähnung von Hermes Trismegistus als einen Beweis von neuplatonisch-hermetischen Einflüssen auf die gesamte Anlage der Shilte ha-gibborim ansieht, kann ich nicht teilen. Siehe Melamed, „Hebrew Italian Renaissance", S. 105; id., „The Hebrew Encyclopedias of the Renaissance", in: S. Harvey, The Medieval Hebrew Encyclopedias, S. 455-456. Ex 20,4: „Du sollst dir kein Götterbild machen, auch keinerlei Abbild dessen, was oben im Himmel oder was unten auf der Erde oder was in den Wassern unter der Erde ist."

90

Musik und Musikinstrumente

205

der architektonischen Gliederung des Tempels selbst und von der Beschreibung seiner Ausstattung und der liturgischen Verrichtungen bestimmt, ohne von vornherein von einer wie auch immer ausgerichteten theoretischen Einordnung beeinflußt zu werden. Der Tempel wird somit als eine fürstliche Kunstkammer mit der Ausstellving von artificialia und naturalia gestaltet. Die verschiedenen Gegenstände, wie beispielsweise die priesterlichen Gewänder, die Leuchter, die Tische und Altäre, das „Eherne Meer" für die rituellen Waschungen der Priester, gleichen wegen ihrer kunstvollen, bewundernswerten Ausfertigung den außergewöhnlichen Artefakten der Kunstkammern, an die die naturhistorischen Abhandlungen angehängt werden. Der Tempel bietet den idealen Rahmen für die Erläuterung einiger wissenschaftlicher Themen, die im Mittelpunkt der kulturellen Interessen jener Zeit standen. Wie Villalpando ist auch Portaleone in seiner Tempelbeschreibung darum bemüht, die neuen Erkenntnisse und Entdeckungen in die Tradition zu integrieren. Das läßt sich am besten durch einige Beispiele aus jenen Wissensbereichen darlegen, die in der damaligen kulturellen Debatte sehr aktuell waren, der Musik- und Staatskunst.

4. Musik und Musikinstrumente Zu den artificialia der Kunstkammern gehörten die Musikinstrumente. Damit beschäftigt sich Portaleone ausführlich in den Kapiteln 4-13 der Shilte hagibborim. Seine musikalische Darlegung wird von der Überzeugung geleitet, daß die künstlerische Musik in ihrer Vollkommenheit von den alten Israeliten geschaffen und im Tempel gespielt worden ist. Nach Portaleone ist die Vorstellung einiger Unwissender, die auch unter den Juden zu finden sind, absolut falsch, daß der Tempelgesang nur vokal oder mit sehr einfachen und primitiven Instrumenten erfolgte. Vielmehr hatte König David, von Gott inspiriert, viele Arten von Lobpreis und Gesängen nach edlen Regeln der musikalischen Kunst schon vor den Griechen erfunden: „Denn die heidnischen Gelehrten tappten in den Gesangsregeln im dunkeln, bis ihnen von demselben Gottauserwählten das Gesetz der Ruhe und der Festigkeit des Gesanges erklärt wurde, der aufgrund der Vortrefflichkeit und der Ehre ,Gottesgesang' und ,Zionsgesang' genannt wird."91 Unter Berufung auf Plutarch (De musica) und Piaton (Respublica) mit dem Kommentar von Marsilio Ficino erörtert Portaleone die Gesetze des Rhythmus, der Harmonie und der Metrik. Detailliert beschreibt Portaleone die Zusam91

Shilte ha-gibborim, Kap. 4, S. 4a.

206

Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

mensetzung verschiedener Töne und Intervalle für einen harmonischen, polyphonen Gesang: Nun müßt ihr wissen, daß der erste Ton unisono heißt, der zweite ditono oder semiditono, der dritte vollkommenes diapente oder perfetto, der vierte diapason, der fünfte diapason mit ditono oder semiditono, der sechste diapason mit vollkommenem diapente, in ihrer Sprache perfetto, der siebte disdiapason, der achte disdiapason mit ditono oder semiditono, der neunte disdiapason mit diapente perfetto, der zehnte dreifacher diapason, in ihrer Sprache triplicate, der elfte diapason triplicate mit ditono oder semiditono, der zwölfte diapason triplicate mit diapente perfetto. Die menschliche Stimme kann aufgrund ihrer Natur nicht höher oder tiefer als diese Töne sein. Wenn daher mehr als zwölf Sänger zusammen singen wollen, dürfen die zusätzlichen Sänger nur mit denselben Tönen der ersten singen und nicht anders. Deshalb ist es angemessen, zwölf Sänger in zwölf Sängergruppen zu unterteilen, und dann werden die Zuhörer Vergnügen haben, weil sie deutliche Stimmen hören und nicht alle durcheinander.92

Entsprechend diesen Regeln hatte König David die 288 als Sänger ausgebildeten Leviten in 24 Gruppen zu je zwölf Sängern eingeteilt, wie die Bibel (IChr 25) erzählt. Für ihre Aufgabe wurden die Leviten fünf Jahre lang geschult. Sie standen unter der Leitung von Chenanjahu (vgl. IChr 15,22), der mit allen Geheimnissen und Gesetzen des Kunstgesanges, so wie sie heute bekannt sind, vertraut war.93 Für die musikalische Begleitung eines so kunstvollen Gesanges waren auch erlesene Musikinstrumente erforderlich, deren Klänge zu den Stimmen der Sänger paßten, ohne sie zu übertönen. Die verschiedenen Musikinstrumente, die in der Bibel und in der Mischna erwähnt sind, werden von Portaleone aufgrund ihrer Namen oder ihrer Form mit den Musikinstrumenten seiner Zeit identifiziert und minuziös beschrieben. Vor allem werden jene Musikinstrumente wie die Laute, die Orgel und das Cembalo, die in der Renaissance sehr verbreitet und geschätzt waren, auf einen biblischen Ursprung zurückgeführt.*4 So ist für Portaleone zum Beispiel der ordablos, der im Traktat Arakhin (bAr 10b) erwähnt wird, eine fehlerhafte Wiedergabe des griechischen hydraulos und mit der Wasserorgel gleichgesetzt.95 Der Tof wird von ihm als die hebräische Bezeichnimg für das griechische kymbalon, cymbalum auf lateinisch und cembalo auf italienisch, erklärt, weil seine Form einem kleinen Schiff

92

*> 94

95

Ibid. Ibid., S. 4a-b. Über die Anwendung und Verbreitung der Laute, der Orgel und des Cembalos in der Musik der Renaissance in Italien siehe M. Mila, Breve storia della musica, Torino 1963 [1993], S. 95-100. Shilte ha-gibborim, Kap. 5, S. 5a.

Musik und Musikinstrumente

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gleicht, das auf griechisch tymba heißt.96 Die Form eines anderen Instruments, der magrefah, leitet Portaleone aus seinem Namen ab, der gleich wie der Name des Besens war, mit dem die Bäcker die Asche vom Ofen wegfegten. Nach den Angaben von Arakhin (bAr 10b-lla) und dem Kommentar von Rashi beschreibt Portaleone die magrefah als eine Art Orgel.97 Zu den Musikinstrumenten, die sich zur Begleitung des Gesangs im Tempel eigneten, zählten unter anderem der minnim, der nevel und der 'ugav. Der Name mintiim wird von Portaleone mit dem biblischen Vers (lSam 1,5) Hannah aber gab er einen doppelten Anteil (auf hebräisch „manah") in Zusammenhang gebracht und als Hinweis auf ein mehrteiliges Instrument angesehen. Das war seiner Meinung nach der clavicordo, „ein Instrument aus mehreren verschiedenen, stufenweise zusammengesetzten Teilen".98 Der nevel ist für Portaleone der „liuto" (= auf deutsch „Laute"). Er wurde so genannt, „entweder weil es durch seinen sehr angenehmen Klang alle anderen Arten von Musikinstrumenten verächtlich macht (hebräisch menabbel), wie im Midrash zu den Psalmen99 gesagt wird, oder weil es in seiner Form einem Weinschlauch (hebräisch nevel yayin) gleicht, innen ausgehöhlt, mit Bauch und Hals versehen."100 Der 'ugav war ebenfalls für Portaleone ein wertvolles Saiteninstrument, dessen Form an eine Art Laib Brot (hebräisch 'ugah) erinnerte. Das ist Grund genug für Portaleone, um den 'ugav mit der viola da gamba seiner Zeit zu identifizieren.101 Mit der Beschreibung der Musikinstrumente und mit der Erörterung der musikalischen Kenntnisse der Israeliten will Portaleone in Anlehnung an die Bibel und die rabbinischen Kommentare beweisen, daß die Polyphonie und die Instrumentalmusik in der Tempelliturgie eine zentrale Bedeutung hatten: In der Torah steht geschrieben: Er soll im Namen des Herrn, seines Gottes, wie alle seine levitischen Brüder Dienst tun (Dtn 18,7). Unsere Weisen, ihr Andenken zum Segen, legten dar: Welcher war der Dienst im Namen des Herrn? Sage: Das ist die [Tempel-Jmusik,102 und vornehmlich die vokale (bAr IIa).103

Dabei betont Portaleone, daß die musikalische Begleitung der Gesänge nur durch jene Instrumente erfolgte, die zum Gesang paßten, so daß sich ein harmonisches, kunstvolles Zusammenspiel von menschlicher Stimme und Instrument ergab: * 97 98 99 100 101 102

103

Ibid. Ibid., Kap. 6, S. 6a-b. Ibid., Kap. 7, S. 7b. Midrash Tehillim (hrsg. von Buber), zu Psalm 81,3. Shilte ha-gibborim, Kap. 4, S. 7b. Ibid., Kap. 10, S. 8a-b. Die Antwort wird aus einem Wortspiel abgeleitet: sheret/sherut (= „Dienst") und shirah (= „Gesang", in diesem Kontext als „Musik" zu interpretieren). Shilte ha-gibborim, Kap. 12, S. 9a.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Auf dem Podest befanden sich täglich der neoel, der kinnor, der silsal und die hasoserot, und an den Festen des Herrn wurden immer zwei andere Sorten von halilim beigegeben, nämlich die qarnayim und die flauti. Und am Fest des Bet ha-sho'evah gab es viele Musikinstrumente, die vortrefflich einzeln gespielt wurden, aber nicht zum Gesang, oder die dafür geeignet waren, zum Gesang angenehm zu klopfen oder zu blasen, wie die minttim und der 'ugav, die zum Gesang paßten, und der silsal teru'ah und Ahnliches, die zum Gesang außer in Sonderfällen nicht paßten.10·

Die biblischen Stellen, die anscheinend im Widerspruch dazu stehen, werden von Portaleone nach den Grundsätzen der Polyphonie seiner Zeit ausgelegt. Denn die Bibel (IChr 23,5) sagt einerseits, daß König David 4000 Leviten als Musiker ausgewählt hatte, und andererseits (IChr 25,7), daß sie zusammen mit den Sängern in Gruppen zu je zwölf Mann eingeteilt wurden, so daß es sich „wie ein einziger Klang" (2Chr 5,13) anhörte.105 Portaleone löst das Problem, indem er an der Einteilung in Gruppen zu je zwölf Mitgliedern entsprechend den zwölf Grundtönen der musikalischen Intervalle festhält: Nun erkennt, daß die Worte der Schrift in jedem Fall richtig sind, wonach bei der Tempelweihe 4000 Leviten und 120 Trompeten waren. Ihr könnt, wenn ihr wollt, die Musikinstrumente als Ergänzung dazu rechnen, die bestimmt da waren und die in der Schriftstelle nicht einzeln aufgeführt sind: 60 silsalim mit 120 Trompeten und noch 144 halilim, 180 neoalim und 240 kinnorot und dazu noch viele andere Instrumente! Und ihr werdet sehen, daß all dies sich auf zwölf Stimmen verteilt, weil 4000 Leviten mit einer einzigen Stimme aus zwölf Stimmen, mit 333 Leviten pro Stimme, sangen. Denn zwölf mal 333 ergibt 3996. Die übrigen waren die vier Leviten von vier der 4000, und sie stellen kein Problem dar, weil einer von ihnen sich einer Gruppe zu 333 Mitgliedern anschloß, so daß es vier Gruppen zu 334 Leviten und acht Gruppen zu 333 gab. Und die Stimme, die sich den 333 Stimmen hinzufügte, konnte man unter den 4000 Leviten nicht merken, weil sie in jedem Fall zwölf Stimmen derselben Art waren und nicht mehr. Teilt die 120 Trompeten ebenfalls in zwölf [Gruppen], und ihr findet, daß alle Zehner-Trompetengruppen mit einer einzigen Stimme von zwölf Stimmen klingen werden, und fünf ßilßalim klingen in einer von diesen Stimmen mit. Gleichfalls klingen zwölf halilim und 15 neoalim und 20 kinnorot nur in einer von diesen zwölf Stimmen, so daß die Sänger und Musiker zwölf Stimmen nicht überschreiten, wie ich geschrieben habe. Obwohl es mehrere Musikinstrumente waren, braucht man dies nicht so genau zu bezeichnen, weil kein Zweifel besteht, daß die Stimme der 4000 Leviten, wie gesagt, ihrer Regel nach zum Klang all dieser Instrumente kam.106

104 105 106

Ibid., Kap. 6, S. 7a-b. Siehe auch ibid., S. 5a, 9b-10a. Ibid., Kap. 13, S. 9b-10a.

Musik und Musikinstrumente

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Das Verhältnis von Instrumentalmusik und Stimme war die Hauptfrage der Musiktheorie zur Zeit Portaleones. Die Musik war in der Renaissance hauptsächlich polyphon. Ahnliche Auffassungen wie die von Portaleone wurden zum Beispiel von einem der größten Musiktheoretiker der Zeit, Gioseffo Zarlino (1517-1590), unter anderem in Le istitutioni harmoniche (Venedig 1558) vertreten. Zarlino ist sehr wahrscheinlich eine der Hautquellen der musikalischen Abhandlung Portaleones. Wie Portaleone unterscheidet Zarlino, unter Berufung auf Piaton und auf den Kommentar von Marsilio Ficino, im lyrischen Gesang drei Teile: die Erzählung (oratio), den Rhythmus und die Harmonie, die sich zusammenfügen und eine Einheit bilden, wobei die oratio den Vorrang hat. So auch Portaleone: Ihr müßt durch die Worte Piatons in dem genannten Dialog wissen, daß ritmo

und metro die armcmia zwingen, der orazione zu folgen, aber die orazione hingegen aufgrund von ritmo und metro nicht gezwungen ist, der armonia zu folgen.107

Die nie völlig gelöste Frage nach dem Verhältnis von Wort und Musik kommt Ende des 16. Jahrhunderts zum Ausdruck. Unter dem Einfluß des synagogalen Gesangs war der Gesang auch in der christlichen Liturgie zuerst monodisch. Gegenüber der Musik hatten schon die Kirchenväter eine zwiespältige Haltung. Einerseits konnte die Musik ein Mittel sein, um die Gläubigen zum Gebet anzuregen, andererseits konnte sie einen selbständigen Stellenwert annehmen und den Text überlagern. Eine solche Musik war bei den Kirchenvätern verpönt. Sie war nur berechtigt, wenn sie in den Grenzen ihrer Funktion blieb, nämlich das Gebet zu begleiten. Dafür mußte sich die Musik dem Wort unterordnen, sonst hätte sie durch ihre verführerische Macht die Sinne beherrscht und vom Gebet abgelenkt.108 Dennoch machte sich die Musik nach und nach im Laufe der Jahrhunderte vom Text immer selbständiger. Ab dem 9. Jahrhundert entwickelte sich, ausgehend von improvisierten Verzierungen der Choralmelodie, die Polyphonie, die ihre volle Blüte im 16. Jahrhundert erreichte. Die Polyphonie der Renaissance gestaltete sich durch die Aufwertung der harmonischen Tonalität, eine Steigerung der Chromatik und des Kontrapunkts in einen musikalischen Rhythmus, der von der Textverständlichkeit gelöst war. Das Wort wurde der Musik untergeordnet und als ein klingendes Objekt, als eine Zusammensetzung von rhythmischen Werten betrachtet. Das Wort, das im sakralen Gesang als Vehikel des Gebets immer im Vordergrund gestanden hatte, wurde jetzt unverständlich, völlig in den musikalischen Rhythmus eingegliedert.109 Die Instrumentalbegleitung, die unter dem Einfluß des profanen

107 108

109

Ibid., Kap. 4, S. 3b. Siehe zum Beispiel Augustinus, Confessiones X,33,49-50.

Siehe Mila, Breve storia della musica, S. 65,81-82.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Madrigals durch die „Venezianische Sehlde" in den Kirchengesang eingeführt worden war, schuf zwar eine herrliche, effektvolle sakrale Polyphonie, trug aber sicher nicht dazu bei, den Text verständlicher zu machen. Doch Ende des 16. Jahrhunderts kam es zu einem Wandel des musikalischen Geschmacks, der unter anderem von der Gegenreformation sowie von Musikern und Gelehrten vorangetrieben wurde, die sich seit 1580 in Florenz auf Anregung des Grafen Giovanni Bardi di Vernio als „Camerata dei Bardi" (oder „Camerata Fiorentina") zusammengeschlossen hatten. Das Konzil von Trient beriet auch die Sakralmusik. Man wollte sie von den profanen Einflüssen reinigen und in die Grenzen ihrer Funktion, nämlich als Gebetsbegleitung, zurückbringen. Vielleicht gab es sogar den Vorschlag, die Musik und den Gesang in der katholischen Liturgie ganz abzuschaffen. Es ist eine Legende, daß die Kardinäle durch die Missa Papae Marcelli des Palestrina umgestimmt worden sein sollen. Auf jeden Fall wurde die vokale Reinheit betont und die Instrumentalbegleitung verbannt. Der Gesang sollte ausschließlich im A-Cappella-Stil nach der Tradition der „Römischen Schule", die anders als die venezianische immer rein vokal geblieben war, erfolgen.110 Parallel dazu strebten die Mitglieder der „Camerata dei Bardi" in Anlehnung an den antiken griechischen Gesang einen auf Textverständlichkeit und Ausdruck gerichteten Sprechgesang an. Sie waren überzeugt, daß die alte griechische Lyrik wieder ins Leben gerufen werden könne. Dafür sollte man zur Monodie zurückkehren, wobei die Instrumentalbegleitung nur die Musikalität, die schon in den Worten enthalten ist, hervorheben und entfalten sollte.111 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die synagogale Liturgie an der Entwicklung der christlichen Musik nicht teilgenommen. Die christliche profane Musik hatte dennoch ihren verlockenden Reiz auch auf die jüdische Kultur ausgeübt. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis Anfang des 17. Jahrhunderts waren viele Juden in Mantua am Hof der Gonzaga als Musiker, Tänzer oder Sänger tätig. Zu ihnen zählten Abramo Halevi dall' Arpa Ebreo, Sänger und Schauspieler zwischen 1542 und 1566 unter dem Herzog Guglielmo (15551587), sein Neffe Abramino dall' Arpa, zwischen 1566 und 1587 der Lieblingsmusiker des Herzogs Guglielmo (1555-1587), Isacchino oder Jacchino Massarano (bzw. Massarani), der zwischen 1583 und 1599 als Lautenspieler, Sänger und Tänzer am Hofe des Herzogs Vincenzo I. (1562-1612) geschätzt war.112

110 111

112

Ibid., S. 80,82. Solche Auffassungen werden zum Beispiel von einem der bedeutendsten Mitglieder der „Camerata", Vincenzo Galilei, dem Vater von Galileo, in seinem Dialogo della tnusica antica et della moderna (Firenze 1581) vertreten. S. Simonsohn, History of the Jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977, S. 670-672. Über das musikalische Mäzenatentum der Gonzaga siehe I. Fenlon, Music and Patronage in Sixteenth-Century Mantua, 2 Bde., Cambridge (Engl.) 1980-1982.

Musik und Musikinstrumente

211

Der bedeutendste von allen war aber Salomone (de') Rossi, der im Jahr 1606 vom Herzog Vincenzo I. wegen seiner Verdienste als Komponist und Musiker von der Verpflichtung befreit wurde, das „gelbe Band", das erniedrigende jüdische Kennzeichen, zu tragen.113 Mehr als 40 Jahre war er zusammen mit seiner Schwester, die als Sängerin und Schauspielerin unter dem Künstlernamen „Madama Europa" bekannt wurde, und später mit seinem Neffen Anselmi Rossi, ebenso Musiker und Komponist, tätig. Besonders als Komponist von Madrigalen hat sich Salomone (de') Rossi in der Musikgeschichte einen bedeutenden Platz erworben.114 Unter seinen Kompositionssammlungen erschien 1622 in Venedig eine Sammlung von synagogalen Gesängen (Psalmen, Hymnen und Lobgesängen), die nach dem Muster des christlichen Sakralgesangs polyphon von drei bis acht Stimmen in Musik gesetzt waren.115 Das war der Versuch, den monodischen synagogalen Gesang nach dem polyphonen Stil der Zeit zu erneuern. Eine ähnliche Modernisierimg des traditionellen synagogalen Gesangs erfolgte Ende des 16. Jahrhunderts auch in anderen norditalienischen Gemeinden wie Venedig, Casale Monferrato, Padua und Ferrara. In dieser Gemeinde organisierte Leone Modena, einer der engagiertesten Befürworter dieser Erneuerungen, schon im Jahre 1605 in der Synagoge des italienischen Ritus einen Chor von sechs oder acht Stimmen nach den Regeln der Polyphonie.116 Diese

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116

Der Erlaß ist von Ed. Birnbaum (Jüdische Musiker am Hofe von Mantua von 1542-1628, Wien 1893, S. 22) veröffentlicht worden. Anscheinend erfand Salomone Rossi noch vor Claudio Monteverdi das fünfstimmige Madrigal. Siehe dazu Simonsohn, History of the Jews, S. 672 mit einer Liste der veröffentlichten Kompositionen des Salomone Rossi. Für die weitere Bibliographie über Salomone de' Rossi siehe Μ. A. Torrefranca, „,I canti di Salomone' di Salomone de' Rossi: una confluenza di tradizioni italo-ebraiche", in: Italia Judaica, Roma 1989, S. 115133, insbesondere S. 115 Anm. 1 und S. 119 Anm. 7; D. Harren, „Tradition and Innovation in Jewish Music of the Later Renaissance", in: Journal of Musicology 7/1 (1989), S. 107-130; id., Salamone Rossi: Jewish Musician in Late Renaissance Mantua, Oxford 1999; id. (Hrsg.), Salamone Rossi: Complete Works (Corpus Mensurabilis Musicae 100), 12 Bde., Neuhausen/Stuttgart 1995; id., „Salamone Rossi as a Composer of ,Hebrew' Music", in: Yuval 7 (2002), S. 171-200; id., „As Framed, So Perceived: Salamone Rossi Ebreo, Late Renaissance Musician", in: D. Ruderman/G. Veltri (Hrsg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, S. 178-215. Der hebräische Titel lautet auf deutsch wie folgt: „Die Gesänge von Salomo. Psalmen und Lobgesänge, die der verehrte Salomon de' Rossi, möge ihn sein Fels und Erlöser beschützen!, Bewohner der heiligen Gemeinde von Mantua, mit melodischem und musikalischem Wissen für drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Stimmen arrangiert hat, um den Herrn zu preisen und seinen erhabenen Namen in jeder heiligen Angelegenheit zu singen. Neu im Land." Siehe Α. Z. Idelsohn, Jewish Music in its Historical Deoelopment, New York 1929 [1992], S. 177.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Änderungen lösten jedoch einen heftigen Widerstand aus. Die Begründungen, die die Gegner der Erneuerungen vorbrachten, waren ähnlich wie die der kritischen Stimmen in der Gegenreformation gegen die Überbewertung der Musik und die Anwendung der Musikinstrumente in der Liturgie. Man befürchtete, daß die polyphone Umgestaltung des Gesangs den linearen Vortrag des Gebets ändern könnte, aufgrund der Wiederholung von Worten oder Satzteilen in der Verflechtung der Stimmen, die die Polyphonie von ihrer Natur aus erfordert.117 Das hätte nicht nur schwerwiegende Folgen für die Textverständlichkeit des Gebets, sondern auch für seine Gültigkeit, die unter anderem von einer korrekten Kantillation abhängig ist. Der Vortrag des biblischen Textes darf nur durch die richtige Modulation der Stimme erfolgen, die von den Akzenten (te'amim) vorgegeben und festgelegt ist.118 Die te'amim sind ein untrennbarer Bestandteil des biblischen Textes und bestimmen als Betonungs- und Interpunktionszeichen seine rhythmisch-syntaktische Skansion. Die musikalische Änderung des Gebetsvortrags wäre also gleichzusetzen mit einer Textänderung - argumentierten die Kritiker. Darüber hinaus hatte man Bedenken, daß der polyphone Gesang besondere technische Schwierigkeiten aufweisen könnte, so daß ihn nur Berufssänger hätten vortragen können und dabei die Gemeinde ausgeschlossen gewesen wäre.119 Solcher Schwierigkeiten mußte sich Salomone de' Rossi durchaus bewußt gewesen sein. Seine Kompositionen zeigen seine Bemühungen, einen Kompromiß zwischen den Erfordernissen der jüdischen Tradition und der Polyphonie zu finden. Er verzichtet nämlich auf die Instrumentalisierung des Gesangs, der rein vokal ist,120 und versucht so viel wie möglich die syntaktische Struktur des Textes zu bewahren, indem er die Wiederholung von Worten oder Sätzen in der Verflechtung der Stimmen beschränkt. Wie bei jeder Kompromißlösung war das Ergebnis auch in diesem Fall unbefriedigend. Denn die Gesänge waren trotz allem polyphon, das heißt, sie konnten nur von geschulten Sängern vorgetragen werden und wurden daher der Gemeinde entzogen. Die Struktur des Textes konnte auch nicht so eingehalten werden wie beim monodischen Vortrag. Zusätzliche Komplikationen verursachte die unterschiedliche prosodische und rhythmische Eigenschaft der hebräischen im Gegensatz zur lateinischen und italienischen Sprache.121 Gegen seine Kritiker bekam Salomone de' Rossi Unterstützung von Leone Modena. Er schrieb das Vorwort zu den „Gesängen von Salomo" und fügte 1,7

118 119 120 121

E. Fubini, La musica nella tradizione ebraica, Torino 1994, S. 97; Torrefranca, „,I canti di Salomone' di Salomone de' Rossi", S. 127-128,130-133. Uber die Pflicht, die Bibel melodisch vorzutragen, siehe bMeg 32a. Fubini, La musica nella tradizione ebraica, S. 97. Torrefranca, „,I canti di Salomone' di Salomone de' Rossi", S. 121-122. Ibid., S. 133; Fubini, La musica nella tradizione ebraica, S. 97-98.

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das Responsum hinzu, das er 1605 verfaßt hatte, um seine musikalischen Erneuerungen in der Synagoge von Ferrara zu rechtfertigen. Modena geht trotz seiner hervorragenden musikalischen Kenntnisse (1632 war er sogar Kapellmeister der Musikakademie im Ghetto von Venedig)122 nicht auf die technischen Fragen der Übertragung des neuen musikalischen Stils auf den biblischen Text sowie auf die Gebete der synagogalen Liturgie ein. Vielmehr befaßt er sich in dem Responsum mit den halakhischen Aspekten und liefert im Vorwort eine ideologische Rechtfertigung. Bei der Auseinandersetzung, die der Einführung des Chorgesangs in Ferrara folgte, wurde ihm hauptsächlich vorgeworfen, daß jeder Ausdruck allzu großer Freude nach der Zerstörung des Tempels verboten sei, wie es in der Bibel (Hos 9,1) heißt: „Israel, freu dich nicht, jauchze nicht wie die Völker (oder unter den Völkern)!" In Anlehnung an den Talmud und an Maimonides widerlegt Leone Modena in seinem Responsum, daß dieses Verbot nur gilt, wenn die Musik für profane Zwecke und zum Vergnügen ausgeführt wird. Es gibt aber Anlässe wie bei einem Hochzeitsbankett, wo die Musik ein Gebot ist. Und da der Schabbat oft mit einer Braut verglichen wird, soll man diese „Braut" mit Gesängen erfreuen und verehren. Außerdem ist der Mensch dazu verpflichtet, Gott mit allen Gaben zu preisen, die er von Gott bekommen hat. Wenn jemand von Gott mit einer schönen Stimme und Fachkenntnissen in der Musik versehen wurde, soll er damit den Herrn preisen.123 Das Responsum ergänzt das Vorwort, in dem Leone Modena für das jüdische Volk die Urheberschaft der Erfindung der Musik beansprucht. Von den alten Israeliten wurde sie erfunden und gepflegt. Dann folgte eine Zeit des Niedergangs. Jetzt ist aber Zeit, daß die Juden für sich ihr Erbgut wieder beanspruchen. Die Einführung der „modernen" Musik ist also nichts anderes, als zu den eigenen Ursprüngen zurückzukehren, auf jenen musikalischen Glanz der Väter, der in der Bibel belegt ist. Das ist auch der Gedankengang Portaleones. In seinen musikalischen Ausführungen in den Shilte ha-gtbborim gibt es zwar anscheinend kein Echo dieser Auseinandersetzungen, dennoch läßt die Art und Weise seiner Darstellungen kaum einen Zweifel, auf wessen Seite Portaleone steht, ohne ausdrücklich Namen zu erwähnen. Die Erörterung der Tempelmusik entsprechend den musikalischen Theorien der Renaissance, die Betonung, daß nur geschulte Sänger und Musiker im Tempel tätig waren, die Zurückführung des mehrstimmigen Gesangs im Tempel auf König David, der von Gott inspiriert war, sind eine deutliche Rechtfertigung der liturgischen Erneuerungen seiner Zeit. 122

123

Uber Leone Modena als Musiker siehe D. Harren, „Jewish musical culture: Leon Modena", in: R. C. Davis/B. Ravid, The Jews of Early Modern Venice, Baltimore 2001, S. 211-230. Siehe dazu Torrefranca, „,I canti di Salomone' di Salomone de' Rossi", S. 123-124 Anm. 16.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Portaleone geht sogar noch weiter als Leone Modena u n d Salomone de' Rossi, indem er den Tempelgesang von einem Orchester begleiten läßt, das den Orchestern in nichts nachstand, die an den fürstlichen Höfen der italienischen Renaissance spielten. Die musikalische Abhandlung in den Shilte ha-gibborim weist nicht nur das Streben Portaleones auf, das Neue in die Tradition z u integrieren, sondern auch seine apologetische Absicht, anhand biblischer Zitate zu belegen, daß die Wissenschaften und die Kultur, auch in jenen Formen, die sehr modern erscheinen, einen jüdischen Ursprung haben. Auch die Musik ist Erbgut des jüdischen Volkes, und in einem berühmten Vers Immanuello Romanos klagt sie: „ich wurde gestohlen, entführt aus dem Land der Hebräer" (Liqqutim mi-perush tehillim, Bd. 6, S. 172).

5. Die politische und soziale Struktur der Israeliten nach Portaleone In die Beschreibung der Aufgaben der Priester und der Leviten im Tempel fügt Portaleone eine Abhandlung (Kap.l 4 0 - 4 3 ) über die politische und soziale Struktur des Staates Israels ein. Es ist ihm bewußt, daß er damit neues Gebiet betritt. Es ist ein Thema, mit dem sich keiner vor ihm ausführlich beschäftigt hat, abgesehen z u m Teil v o n Maimonides. 124 Es ist allen wohl bekannt, daß die Söhne unseres Volkes in drei verschiedene Klassen unterteilt waren. Die erste war die Klasse der Priester, die von der Gesamtheit der Leviten für den Opferdienst abgesondert waren. Man mußte sie hoch ehren, und man mußte den Priester bei allem, was mit den Heiligtümern zu tun hatte, den Vortritt lassen: Als erster las er die Torah, als erster segnete er und als erster nahm er sich den besten Anteil. Die zweite Klasse war die der Leviten. Die dritte war die Klasse der Israeliten. In jeder Klasse waren verschiedene Unterklassen. Ich kenne niemanden, der sie alle einzeln aufzählte oder der sie als Hauptgegenstand beschrieb, der Rambam, sein Andenken zum Segen, ausgenommen, der in den Hilkhot Kle ha-Miqdash Kapitel 4, Paragraph 19, etwas über den Priester schrieb. Deshalb wollte ich euch über das, was in keinem Buch zu finden ist, meine Meinung kurz mitteilen.125

124

Vor Portaleone hatte sich auch schon Abravanel mit der Beschreibung des Staatswesens im alten Israel befaßt. Hier wird er aber von Portaleone nicht erwähnt, weil Abravanel nicht auf die Einteilung und auf die innere Struktur der drei Klassen des Volkes Israel eingeht. Abravanels Augenmerk ist eher auf die Erörterung der Staatsverfassung gerichtet. Uber Abravanel siehe B.-Z. Netanyahu, Don Isaac Abravanel, Statesman and Philosopher, Philadelphia 1973. Für eine Darstellung des Staatsrechts und der Staatsverfassung in der jüdischen Tradition mit einer reichen Auswahl von Texten siehe J. Maier, Kriegsrecht und Friedensordnung in jüdischer Tradition, Stuttgart/Berlin/ Köln 2000.

125

Portaleone, Shilte ha-gibborim, Kap. 40, S. 35a.

Die politische und soziale Struktur der Israeliten nach Portaleone

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Portaleone geht davon aus, daß alles, was der Mensch entdeckt und für eine Errungenschaft seiner geistigen Kräfte hält, in Wirklichkeit schon in der Bibel enthalten ist und von Gott dem Volk Israel mitgeteilt wurde:126 Die Bezugnahme auf das alte Volk Israel ist im Zusammenhang mit den zeitgenössischen christlichen Traktaten zu sehen, in denen die Theorien über die Staatsverwaltung und die Kriegskunst in Form von Kommentaren zu klassischen Werken griechischer und römischer Autoren oder als Überlegungen zur griechischrömischen Geschichte vorgestellt werden. Die Berufung auf die biblische Geschichte der Israeliten ist das jüdische Gegenstück jener Verehrung der Antike, typisch für die humanistisch geprägte Renaissance. Da aber die biblische Zeit sehr viel älter als die griechische und römische ist, führt die Beweisführung, daß die neuen Entdeckungen oder die Kenntnisse der klassischen Epoche schon in der Bibel enthalten sind, zur selbstverständlichen Schlußfolgerung, daß die jüdische Tradition als legitime Erbin und Vertreterin des biblischen Textes jeder anderen Tradition und Kultur, der christlichen Inbegriffen, überlegen sei. Die Sozialstruktur des alten israelitischen Staates wird von Portaleone traditionsgemäß pyramidal und dreifach aufsteigend in Israeliten, Leviten und Priester eingeteilt. Diese drei Klassen gliedern sich in weitere verschiedene Gruppen. Die Israeliten, die die Grundlage des Staates bilden, sind in zwei Kategorien eingeteilt. Nun, meiner bescheidenen Meinung nach bestand die Klasse der Israeliten aus zwei verschiedenen Kategorien. Die erste war die Kategorie derer, die für die gute und wünschenswerte staatliche Gesellschaft geeignete Bürger waren. Die zweite erfaßte die Weisen, die den Menschen den richtigen Weg in der Torah und in den Geboten zeigten [...]. Es werden jedoch alle Arbeiten, für deren Ausführung man Hände und Körperkraft braucht, in einer einzigen Kategorie eingestuft, um sie aufgrund ihrer Ausführung von den anderen zu unterscheiden, die mühelos verrichtet werden, und von den Kaufleuten, die ohne Anstrengung und Handarbeit alles verkaufen.127

Auf der unteren Stufe der ersten Kategorie der Israeliten stehen also Bauern und Handwerker. Auf einer höheren Stufe werden diejenigen aufgelistet, die keine Handarbeit ausführen. Nach der Bedeutung ihrer Berufe erfolgt eine Rangliste, beginnend mit den Kaufleuten und Geldwechslern, die den niedrigeren Rang besitzen, gefolgt von den Lehrern, Schreibern, Anwälten und

126 127

Siehe ibid., Kap. 41, S. 35b-36a, oben auf S. 194 angeführt. Ibid., Kap. 40, S. 35a. Alessandro Guetta („Le mythe du politique chez les Juifs dans Γ Italie des Cit£s", in: Christoph Miething [Hrsg.], Politik und Religion im Judentum, Tübingen 1999, S. 119-131) weist auf die Symphatie hin, die Portaleone bei der Beschreibung der Sozialstruktur der Israeliten für die handwerklichen Berufe und den Handel im Einklang mit dem neuen Geist des entstehenden Bürgertums zeigt.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Richtern, Soldaten und Wächtern, den verschiedenen Beamten des Staates bis hin zum König, der an der Spitze der ersten Kategorie der Israeliten steht. Die zweite Kategorie der Israeliten, die der ersten überlegen ist, besteht aus den „Weisen" (hakhamim), die in 17 verschiedene Rangordnungen eingeteilt sind. Darunter werden erwähnt „der wohltätige Mensch, fromm, gerecht, ausgebildet und immer mit dem Studium der Torah beschäftigt",128 die zwei Schreiber des Gerichts mit 23 Mitgliedern, die zwei Schreiber des Sanhedrin mit 71 Mitgliedern, verschiedene Grade von Toragelehrten bis hin zum Propheten. An der achten, zehn und elften Stelle erwähnt Portaleone den Rav, den Rabbi und den Rabban. Angesichts der aufsteigenden Bedeutung der Rangliste ist die Tatsache, daß diese rabbinischen Titel direkt vor den Mitgliedern des Sanhedrin und dem Propheten erwähnt werden, Zeichen der wachsenden Bedeutung der rabbinischen Autorität in den italienischen Gemeinden des 16. und 17. Jahrhunderts.129 Unter den Leviten, die die zweite Klasse bilden, unterscheidet Portaleone 31 verschiedene Ränge entsprechend der Dienstausführung im Tempel. In der dritten Klasse werden in 13 Stufen die Priester aufgelistet. Auf der niedrigsten Stufe steht der Priester, der wegen eines Körperfehlers den Dienst nicht verrichten darf. Den höchsten Rang hat der Hohepriester, der zugleich auch an der Spitze der pyramidischen Sozialstruktur steht. Insgesamt ergeben sich von allen drei Klassen 161 verschiedene Sozialstufen: nämlich 117 bei der Klasse der Israeliten (100 in der ersten Kategorie und 17 in der zweiten), 31 in der Klasse der Leviten und 13 in der Klasse der Priester. Diese Einteilung der Gesellschaft erinnert an die aristotelische Beschreibung der idealen polis. Nach Aristoteles sollte eine ideal strukturierte Gesellschaft nach einer aufsteigenden Ordnimg in 1) Bauern, 2) Handwerker, 3) Krieger, 4) Kaufleute, 5) Richter und Regierende, 6) Priester eingeteilt sein.130 Portaleone hat eine monarchische Auffassung vom Staat, wobei der König sich aber in der Sozialskala nur an der Spitze der ersten Kategorie der Klasse der Israeliten befindet. Über ihm stehen die „Weisen", das heißt die Torahgelehrten, und die Priester, deren höchste Autorität jeweils vom Propheten und dem Hohenpriester dargestellt wird. Man könnte daraus schließen, daß die weltliche Macht des Königs der geistlichen Macht des Propheten und des Hohenpriesters untergeordnet ist und von ihnen begrenzt wird. Das stimmt aber nur bedingt. Bei näherer Betrachtung ist in der Beschreibung des Staates der alten Israeliten in den Shilte ha-gibboritn, die hauptsächlich auf der maimonidischen Lehre gegründet ist, das Echo der politischen Debatte zur Zeit Porta128 129

130

Portaleone, Shilte ha-gtbborim, Kap. 40. Siehe dazu R. Bonfil, Rabbis and Jewish Communities in Renaissance Italy, London/ Washington 1993. Aristoteles, Politico Η 8ff.

Die politische und soziale Struktur der Israeliten nach Portaleone

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leones erkennbar. Portaleone beschreibt die Monarchie des alten Staates Israel entsprechend den absolutistischen Theorien seiner Zeit. Alle Beamten in der Staatsverwaltung sind nur vom König abhängig. Der König kann gegen denjenigen, der gegen seine Autorität rebelliert, sowie gegen einen Mörder auch Todesurteile „mit dem Schwert" verhängen, ohne Zustimmung des Sanhedrin.131 An der 60. Stelle erwähnt Portaleone den persönlichen Berater des Königs folgendermaßen: „der Berater des Königs für die Angelegenheiten des Krieges und für die Todesurteile, die vom König allein ohne die Zustimmimg des kleinen oder großen Sanhedritt gefällt werden."132 Wie erklärt sich der offensichtliche Widerspruch zwischen der politischen Macht des Königs und seiner Stellung in der Rangliste der Sozialskala? Damit der König nicht zum Tyrannen wird, soll er sich an bestimmte moralische Prinzipien halten, die unüberschreitbare Grenzen seiner Autorität darstellen. Der König soll seine Macht nur zum Wohl des ganzen Volkes, „das unter dem Schatten des Königs Schutz findet",133 ausüben. Nur wenn der König dies als oberstes Ziel hat, ist er gerecht. Um mit Gerechtigkeit zu regieren, muß sich aber der König wie jeder andere Israelit nach den Anweisungen und Geboten der Torah verhalten. Portaleone sagt es nicht ausdrücklich, aber das geht aus dem gesamten Kontext hervor. Wie Maimonides134 hat Portaleone eine totale Auffassung der Torah: als Gesetz Gottes ist sie allumfassend und vollkommen. Die Gesetze des Königs sind nur für die Staatsverwaltung bestimmt und dürfen auf keinen Fall mit der Torah in Widerspruch stehen oder auch nur teilweise gegen ihre Anweisungen verstoßen.135

131

132 133 134

135

Maimonides, Hilkh. Melakhim 111,8-10. Abgesehen von diesen Fällen waren alle Kapitalverfahren Kompetenz des Sanhedrin mit mindestens 23 Mitgliedern („Kleines Sanhedrin"). Die vom Sanhedrin verhängte Todesstrafe konnte außer durch das Schwert auch durch Steinigung, Verbrennung und Erdrosselung erfolgen. Siehe dazu mSan V,2; XIV, 1 und Maier, Kriegsrecht und Friedensordnung, S. 110-112. Portaleone, Shilte ha-gtbborim, Kap. 40, S. 35a. Ibid., S. 34b. Siehe auch Melamed, Wisdom's Little Sister, 229. Führer der Unschlüssigen 11,40; 111,27-28. Siehe A. Melamed, „Medieval and Renaissance Jewish Political Philosophy", in: D. Η. Frank/O. Leaman (Hrsg.), History of Jewish Philosophy, 2 Bde., London 1997, Bd. I, S. 415-449:425. Salomo Ibn Adret di Barcelona hat in einem seiner Responsa (Livorno 1657, Bd. 2, Toledot Adam, Responsum 134 = Bd. 6, Responsum nr. 149 nach der Ausgabe von Warschau 1868) in bezug auf das Urteil von Rabbi Mar Samuel dina de-malkhuta dina (das heißt „das Gesetz des Staates ist Gesetz") erklärt, daß dies nur für einen nichtjüdischen König gilt, dessen Gesetze befolgt werden müssen, solange sie nicht der Torah widersprechen. Ein hypothetischer jüdischer König würde aber keine gesetzgebende Gewalt haben, sondern nur eine Exekutive. Siehe dazu Y. Ch. Melamed, Diener von Königen und nicht Diener von Dienern. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden,

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Für eine korrekte Interpretation der Torah soll sich der König von den den „Weisen", leiten lassen, „die den Menschen den richtigen Weg in der Torah und in den Geboten zeigen".136 Ihnen steht in der Staatsverwaltung die Gerichtsbarkeit zu. Als Torahgelehrten liegt ihre Aufgabe in der Rechtsprechung. Sie bilden den „Großen Gerichtshof" (Sanhedrin) und ermahnen alle Israeliten, den König eingeschlossen, die Torah und die aus dieser abgeleiteten Nonnen für eine korrekte Lebensführung (halakha) zu befolgen. Sie haben keine effektive politische Macht, ihre Kenntnis der Torah verleiht ihnen aber eine moralische Autorität.137 Sie zeigen dem König, wie jedem anderen, „den richtigen Weg in der Torah und in den Geboten". hakhamim,

Der Prophet ist die höchste moralische Instanz und steht als Vermittler des Willens Gottes in moralischen und religiösen Fragen über der weltlichen Macht. Seine moralische Autorität kann auch folgenschwere politische Auswirkungen haben. Er kann Könige absetzen, neue Könige salben und neue Dynastien gründen, wie Samuel mit Saul und David. Die zwei folgenden Klassen der Leviten und Priester haben nur religiöskultische Aufgaben. Sie sind für die Dienstverrichtung im Tempel und seine Bewachung zuständig und haben keine politische Funktion. Als Diener Gottes stehen sie aber für Portaleone über den Israeliten in der Sozialskala entsprechend auch den Tempelbereichen, die sie betreten dürfen. Dem Hohepriester schreibt Portaleone die höchste Stelle in der sozialen Rangliste zu. Der König, der nur eine weltliche Funktion hat, befindet sich auf einer niedrigeren Stufe in der Ehrenskala als der Hohepriester. Das zieht jedoch keine politische Abhängigkeit nach sich. Die im Mittelalter stark diskutierte Frage des Verhältnisses zwischen weltlicher und geistlicher Macht wird von Portaleone entsprechend der halakhischen Tradition gelöst. Nach der halakhisch-maimonidischen Auffassung ist die Monarchie tendenziell erblich und der Torah-Autorität unterstellt, die vom Sanhedrin gehütet wird. Die Auslegung der Torah und die Kontrolle der Achtung ihrer Normen steht dem Sanhedrin zu. Die exekutive Macht des Königs, sofern sie nicht gegen die Torahnormen verstößt, ist jedoch vom SanVortrag gehalten an der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 19. Oktober 1993 und veröffentlicht von der Stiftung in der Reihe „Themen" im Jahre 1995, S. 30-31. 136 Portaleone, Shilte ha-gibborim, Kap. 40, S. 34a. Siehe auch Melamed, Wisdom's Little Sister, 230-231. 137 Melamed schließt aus der Teilung der Israeliten in die zwei Kategorien - nämlich die Kategorie der Staatsverwaltung mit dem König an der Spitze und die Kategorie der Weisen mit dem Propheten - auf einen Hinweis auf die Teilung der politischen Macht, wonach der König die Exekutivgewalt und die Weisen gesetzgebende Gewalt ausüben würden. Richtig ist meiner Meinung nach, daß Portaleone traditionsgemäß die Exekutive von der Gerichtsbarkeit trennt. Diese steht nur dem Sanhedrin zu, abgesehen von den oben erwähnten Fällen, für die der König zuständig ist.

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hedrin unabhängig. Der König ist nur verpflichtet, sich an die Torah zu halten und die Zustimmung des Sanhedrin mit 71 Mitgliedern zu beantragen, um einen Eroberungskrieg zu führen. Nicht aber im Fall der Verteidigung (milhemet miswah), die sowieso ein positives Gebot ist.138 Die Propheten haben im politischen Leben des Staates nur eine moralische Führung.139 Diese traditionelle Auffassung des Staates in den Shilte ha-gibborim bekommt aber eine neue Bedeutung, wenn sie im Hinblick auf die heftige Debatte über das Verhältnis zwischen Politik und Ethik betrachtet wird, die die Veröffentlichung von Machiavellis II Principe auslöste.140 Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts engagierten sich vor allem die Jesuiten, um im Geist der Gegenreformation die Staatsführung und königliche Macht der ethischen Lehre der katholischen Kirche entsprechend der thomistischen Interpretation unterzuordnen. Die politische Lehre von Thomas von Aquin ist auf seiner vom Stoizismus geprägten Auffassung des Naturrechts gegründet. Thomas unterscheidet vier Grundgesetze: das ewige Gesetz (lex aeterno), das heißt die Universalvernunft, die den gesamten Kosmos regiert und im Geist Gottes weilt;141 das Naturgesetz (lex naturalis), das in der menschlichen Seele als Reflex und Teil des ewigen Gesetzes geprägt ist; das menschliche Gesetz (lex humanä), das gerecht ist, soweit es sich dem überlegenen Naturgesetz anpaßt.142 Das menschliche Gesetz, das ausführlicher über das verfügt, was bereits im allgemeinen vom Naturgesetz berücksichtigt wurde,143 kann nicht als Gesetz gelten, wenn es dem Naturgesetz widerspricht, denn vom Naturgesetz, das die erste Regel der Vernunft ist, muß jegliches Gesetz der Menschen abgeleitet werden.144 Schließlich erwähnt Thomas das Gesetz Gottes (lex divina), das den Menschen zu seinem 138

Siehe Maimonides, Hilkh. Melakhim 5,1.

Maimonides befaßt sich mit der Bedeutung der Prophetie und ihrer politischen Wirkung im Führer der Unschlüssigen 11,32-48. Siehe dazu auch Melamed, „Medieval and Renaissance Jewish Political Philosophy", S. 426. MO Melamed hat schon auf enge Kontakte zwischen der jüdischen Tradition und den politischen Theorien der Gegenreformation, insbesondere der Jesuiten, hingewiesen. Melamed, Wisdom's Little Sister, S. 221,237,239. 141 S. Theol. 11,1, q. 91, a. 1; 11,1, q. 93, a. 1: „lex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directive omnium actuum et motionum." Ibid., Π,Ι, q. 91, a. 2-3. 143 Ibid., Π,Ι, q. 91, a. 3: „ex praeceptis legis naturalis, quasi ex quibusdam principiis communibus et indemonstrabilibus, necesse est quod ratio humana procedat ad aliqua magis particulariter disponenda. Et istae particulares dispositiones adinventae secundum rationem humanam, dicuntur leges humanae." 144 Ibid., Π,Ι, q. 95, a. 2: „Rationis autem prima regula est lex naturae [...]. Unde omnis lex humanitus posita infantum habet de ratione legis, inquantum a lege naturae derivatur. Si vero in aliquo, a lege naturali discordet, iam non erit lex sed legis corruptio." 139

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vorherbestimmten, übernatürlichen Ziel leitet, nämlich zur ewigen Glückseligkeit.1« Der Allgemeinheit steht das Recht zu, Gesetze zu verabschieden: „Das Gesetz hat als erstes und grundsätzliches Ziel, zum gemeinsamen Wohl zu lenken. Etwas in Hinsicht auf das gemeinsame Wohl zu verordnen steht der Allgemeinheit zu oder demjeinigen, der sie vertritt. Gesetze zu verabschieden ist also Recht der Allgemeinheit bzw. jener öffentlichen Persönlichkeit, die sich um die Allgemeinheit kümmert. Denn in allen Dingen kann nur derjenige zum Ziel führen, dem das Ziel auch gebührt."146 Thomas betrachtet im Ginklang mit Aristoteles die Monarchie als die beste Regierungsform, weil sie am besten der göttlichen Regierung des Universums entspricht.147 Die weltliche Macht kann die Menschen nur zur Tugend führen, nicht aber zu Gott, der das letzte Ziel des Menschen ist. Das ist Aufgabe jenes Königs, der nicht nur Mensch ist, sondern auch Gott, das heißt Christus. Wie das minderwertige Ziel dem oberen untergeordnet ist, so soll sich die weltliche Macht der geistlichen fügen, die Christus nur dem Papst verliehen hat. „Ihm, wie unserem Herrn Jesus Christus selbst, sollen alle Könige der christlichen Welt unterstellt sein. Denn demjenigen, dem die Pflege des letzten Ziels gebührt, sollen alle diejenigen, die sich um untergeordnete Ziele kümmern, unterstellt sein; diese sollen von ihm geleitet werden."148 Zur Zeit der Gegenreformation findet die thomistische Lehre ein neues Echo. Insbesondere sind es die Jesuiten, die die absolute Überlegenheit der geistlichen Macht gegenüber der weltlichen vertreten. So beteuert zum Beispiel



ibid., Π,Ι, q. 91, a. 4: „quia homo ordinatur ad finem beatitudinis aeternae, quae excedit proportionem naturalis facultatis humanae [...] ideo necessarium fuit ut supra legem naturalem et humanam, dirigeretur etiam ad suum finem lege divinitus data."

146

Ibid., Π,Ι, q. 90, a. 3: „lex proprie, primo et principaliter respicit ordinem ad bonum commune. Ordinäre autem aliquid in bonum commune est vel totius multitudinis, vel alicuius gerentis vicem totius multitudinis. Et ideo condere legem vel pertinet ad totam multitudinem, vel pertinet ad personam publicam, quae totius multitudinis curam habet." De regimine principum 1,2. Ibid., 1,14: „Ad illum igitur regem huiusmodi regimen pertinet, qui non est solum homo, sed etiam Deus scilicet ad Dominum nostrum Jesum Christum, qui homines filios Dei faciens in coelestem gloriam introduxit. Huius ergo regni ministerium, ut a terrenis essent spiritualia distincta, non terrenis regibus, sed sacerdotibus est commissum, et praecipue Summo Sacerdoti, successori Petri, Christi Vicario, Romano Pontifici, cui omnes reges populi Christian! oportet esse subditos, sicut ipsi Domino Jesu Christo. Sic enim ei, ad quem finis Ultimi cura pertinet, subdi debent illi, ad quos pertinet cura antecedentium finium, et eius imperio dirigi."

147 148

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Roberto Bellarmino, daß der Papst nach seinem unfehlbaren Urteil alle Könige und Fürsten ein- und absetzen kann.149 Unentbehrliche Voraussetzung eines guten Souveräns ist es für Botero, ehemaliger Jesuit und Berater des Herzogs von Savoyen, zu erkennen, von Gott abhängig zu sein und sich demzufolge seinen Gesetzen zu fügen. Der Souverän soll sich „ganz freiwillig vor der Majestät Gottes verbeugen und erkennen, daß das Königreich und die Folgsamkeit des Volkes von Gott abhängig sind; und je höher er über alle anderen gestellt ist, desto mehr soll er sich vor Gott erniedrigen, an kein Geschäft Hand anlegen und nichts unternehmen, wenn er sich nicht sicher ist, daß es dem Gesetz Gottes entspricht."150 Gott selbst befiehlt dem König in der Heiligen Schrift (siehe Dtn 17,18-20), bei sich ständig eine Kopie seines Gesetzes zu haben und sich sorgfältig daran zu halten. Daher fordert Botero den Souverän dazu auf, sich von einem aus Theologen und Doktoren im kanonischen Recht bestehenden „Gewissensrat" („consiglio di coscienza") beraten zu lassen, das ihm zu einer korrekten Interpretation des Gesetzes Gottes verhelfen soll. „Denn der Fürst sollte im Staatsrat nichts beschließen, was davor im Gewissensrat, an dem hervorragende Doktoren der Theologie und des kanonischen Rechts teilnehmen, nicht besprochen wurde. Sonst würde er sein Gewissen beladen und Dinge tun, die er dann später für nichtig erklären soll, wenn er seine Seele und die seiner Nachkommen nicht verdammen will."151 Wenn die Religion die Grundlage des Staates ist, dann sollen die Geistlichen in der Sozialskala eine besonders ehrenvolle Stellung haben und öffentlich von dem Souverän verehrt werden, denn es ist nicht möglich, die Religion zu achten, ohne ihre Vertreter zu schätzen.152

Disputationes de controversies ckristianae fidei adversus huius temporis haereticos, 3 Bde., Ingolstadt 1586,1588,1592. 150 Giovanni Botero, Deila ragion di stato libri died, Venezia 1589,11,90-91: „[II re deve] di tutto cuore humiliarsi innanzi la Divina Maestä e da lei riconoscere il Regno e Γ obedienza de' popoli; e quanto egli έ collocato in piü sublime grado sopra gli altri, tanto deve abbassarsi maggiormente nel cospetto di Dio, non metter mano a negotio, non tentar impresa, non cosa nissuna, ch' egli non sia sicuro esser conforme alia legge di Dio."

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Ibid.: „Per lo che sarebbe necessario che il Prencipe non mettesse cosa nissuna in deliberatione nel conseglio di Stato, che non fosse prima ventillata in un conseglio di coscienza, nel quale intervenissero Dottori eccellenti in Teologia e in ragione Cano nica, perchö altramente caricarä la coscienza sua e farä delle cose che bisognerä poi disfare se non vorrä dannare 1' anima sua e dei suoi successori." 152 Ibid., S. 96: „perchä come potrai honorare la religione, che tu non vedi, se non fai stima de' religiosi, che tu hai innanzi gl' occhi? Faccia scelta delle persone religiose d' eccellente dottrina e virtü, e mettale in tutto quel credito appresso il popolo ch' egli poträ." 151

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Der Souverän soll den Geistlichen die Macht lassen, über moralische und religiöse Fragen zu urteilen, und für die Vollstreckung ihrer Urteile sorgen.153 Die Achtung der Gesetze ist die Voraussetzung einer gerechten Regierung, die das gemeinsame Wohl verfolgt, was Ziel und Rechtfertigung der Macht eines Fürsten betrifft. Sie ist die unüberschreitbare Grenze, jenseits der die Monarchie in Tyrannei ausartet. Juan de Mariana widmet das Kapitel 5 des ersten Buches seines Traktates De rege et regis institutione libri III (Toledo 1599) der Festlegung der Eigenschaften, die einen guten König vom Tyrannen unterscheiden (Discrimen regis et tyranni). Dem König gebührt es, „tueri innoeentiam, coercere improbitatem, dare salutem, rempublicam bonis omnibus atque felicitate amplificare", die grenzenlose Macht des Tyrannen fußt dagegen auf Zügellosigkeit und Begierde, für deren Befriedigung er bereit ist, allerlei Verbrechen zu begehen.154 Die Gesetze sind auch für den König unverletzlich, ihnen soll er sich unterstellen (das Kapitel 9 des ersten Buches heißt Princeps rtoti est solutus legibus), obwohl er dem Reichstag neue Gesetze vorschlagen und die gegenwärtigen auslegen kann.155 Solange der König durch sein Vorbild die Gesetze achtet und keinem erlaubt, sie zu übertreten, werden sie die feste und unerschütterliche Grundlage des gemeinsamen Wohls und der Ordnung des Staates sein.156 Falls aber der Souverän in einen Tyrannen ausartet und seine Macht willkürlich ausübt, ohne auf die Gesetze zu achten, ist es legitim, ihn unter Gewaltanwendung abzusetzen, auch wenn man ihn töten muß. Mariana

153

Ibid., S. 98: „Ma, quanta al reggimento, lasci liberalmente a' Prelati il giudizio della dottrina, e Γ indirizzo de' costumi; e tutta quella giurisdittione che 1 buon governo dell' anima ricerca, e i canoni e le leggi loro concedono; e ne promuova egli per ogni via Γ essecutione, hör con 1' autoritä, hör con la potestä, hör col denaro, hör con Γ opera: perche quanto i sudditi saranno piü costumati e piü ferventi nella via di Dio, tanto si mostraranno piü trattabili e ubidienti al suo Prencipe."

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„Et cum regis veri partes sint, tueri innocentiam, coercere improbitatem, darem salutem, rempublicam bonis omnibus atque felicitate amplificare, tyrannus contra maximam potentiam in libidinis infinitae licentia atque fructu constituit, nullum scelus sibi dedecori fore putat, nullum est tantum facinus quod non aggrediatur [...]" (1,5). Ahnliche Thesen (Unterschied zwischen König und Tyrann, die Überlegenheit des Volkes und des Gesetzes gegenüber dem König, der die Gesetze ohne Zustimmung der Stände weder abschaffen noch ändern darf) wurden schon von dem Hugenotten Philippe Duplessis Mornay (1549-1623) in quaestio III der Vindiciae contra tyrannos (1579) vertreten. Mariana, De rege et regis institutione libri III, 1,9: „Postremo sit Principi persuasum, leges sacrosanctas, quibus publica salus stat, tum demum fore stabiles, si suo ipse eas exemplo sanciat. Ita ergo vitam instituat, ut neque quemquam alium plus legibus valere patiatur [...]. Cum enim fas iusque legibus contineatur in omni vitae parte, qui leges violat ab aequitate discedat, et a probitate necesse est; quod nulli conceditur, Regi multo minus: cuius cura et potestas aequitate sancienda, vindicanda pravitate consumitur."

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praktiziert bis zu den äußersten Folgen das thomistische Prinzip, daß die Souveränität beim Volk liegt und der Fürst nur dazu delegiert ist, sie für das gemeinsame Wohl auszuüben. Die Reformation hatte die Absolutheit der politischen Macht der Fürsten beteuert und zugleich die Macht und die Funktion der Kirche abgelehnt. Die Gegenreformation war dagegen darum bemüht, durch die direkte Ableitung von Gott die kirchliche Autorität vor jeglicher Anzweiflung und Begrenzung zu bewahren. Zugleich zielte sie aber darauf, die Bedeutung der Autorität der Fürsten zu mindern und ihre eigene Autorität hervorzuheben, indem sie den Ursprung der Macht der Fürsten auf den veränderlichen und unbeständigen Willen des Volkes zurückführte. Auch unter den Befürwortern des Absolutismus der Fürsten und ihrer Unabhängigkeit von der geistigen Macht der Kirche wird die These vertreten, daß die Absolutheit der Macht des Souveräns nicht mit Willkür gleichzusetzen ist. Sie hat ihre Norm im Gesetz Gottes und der Natur. „Der größte Unterschied zwischen einem König und einem Tyrannen sagt Bodin - besteht darin, daß sich der König den Gesetzen der Natur fügt, während sie der Tyrann übertritt. Der eine pflegt die Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit, hält sein Wort, während der andere weder Gott noch Treue oder Gesetz kennt."157 Wenn jedoch der Souverän zum Tyrannen158 wird, ist es trotzdem nicht erlaubt, ihn zu töten, weil seine Macht direkt von Gott stammt und den unergründlichen Plänen Gottes entspricht, denen sich der Mensch nicht widersetzen darf. Die Bibel beweist, daß auch ein tyrannischer König Teil der Pläne der göttlichen Vorsehimg ist, wie der Fall des Königs Nebukadnezar zeigt. Obwohl er den Tempel zerstört und das Volk Israel versklavt hatte, wurde er von Gott als sein Diener bezeichnet (siehe Jer 25,9; Ez 29,18-20), und die Israeliten, die nach Babylon ins Exil verschleppt worden waren, wurden von den Propheten aufgefordert, für das Wohlergehen des Königs und des Landes, wo sie lebten, zu beten (siehe Bar 1,11-12; Jer 29,7).159 Der Fürst ist für Bodin gleichsam der Vater des Landes, und der Untertan ist dazu verpflichtet, seinen Souverän zu respektieren und ihm zu gehorchen, genauso wie der Sohn seinem Vater verpflichtet ist. Mehr noch! Da der Souverän von Gott bestellt ist, soll er noch heiliger und unverletzlicher sein als der natürliche Vater. Man kann sich wohl weigern, seine Befehle auszuführen, falls sie den Gesetzen

157 158

w

Jean Bodin, Les six livres de la Republique, Paris 1576, Bd. Π, S. 4,246. Es handelt sich um eine Tyrannei ex parte exercitii, das heißt um einen legitimen Souverän, der die Gesetze Gottes nicht mehr befolgt. Der Tyrann ex defectu tituli ist hingegen der Usurpator, der mit Gewalt die Macht an sich gerissen hat. Ibid., Bd. Π, S. 5.

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Gottes und der Natur widersprechen, doch notfalls muß man eher den eigenen Tod hinnehmen, als die Hand gegen ihn zu erheben.160 Sogar ein entschieden antityrannischer Autor wie Mornay führt die Machtübernahme eines Tyrannen auf einen Plan Gottes zurück, dem man sich fügen soll. Auch ein Tyrann ex defectu tituli, der das Königreich nicht geerbt hat oder von einer Reichsversammlung zum König ernannt wurde, sondern die Macht unter Gewaltanwendung ergriffen hat, wird nach Momay zu einem legitimen Souverän, wenn seine Machtübernahme vom Volk auch widerwillig hingenommen wird: „denn dann hat er jenen Titel bekommen, den er vorher nicht hatte, und anscheinend besitzt er ihn nicht nur de facto, sondern auch de iure; obwohl das Volk dieses Joch widerwillig hinnimmt, ist es trotzdem recht, daß die Untertanen gehorchen und sich ruhig dem Willen Gottes beugen, der von Volk zu Volk die Königtümer nach seinem Belieben überträgt."161 Da Vitoria treibt die Auslegung der paulinischen Lehre, wonach sich der Christ der weltlichen Macht unterwerfen soll (Rom 13,1), bis zum Äußersten und beteuert, daß man auch gegenüber einem heidnischen oder ketzerischen Fürsten zu Gehorsam verpflichtet ist. Auf jeden Fall nicht dem einzelnen, sondern der Allgemeinheit steht das Recht zu, den Fürsten abzusetzen.162 Im Zusammenhang mit der zeitgenössischen politischen Debatte sollen die Beteuerungen von Treue dem legitimen Souverän gegenüber betrachtet werden, die man bei Portaleone und anderen jüdischen Autoren dieser Zeit, wie zum Beispiel Azariah de' Rossi, findet.163 Selbst ein Kritiker der Monarchie wie Abravanel bestreitet in seinem Kommentar zu Dtn 17,14, daß das Volk das Recht hat, sich gegen seinen Souverän aufzulehnen, geschweige denn, ihn zu töten, auch wenn es sich um einen bösen Fürsten handelt. Abravanel untermauert seine Behauptimg mit drei Begründungen: 1) das Volk hat mit seinem Souverän einen unwiderruflichen und unauflöslichen Vertrag von Gehorsam und Unterwerfung geschlossen; 2) der irdische Souverän ist wie der Souverän im Himmel, von dem er seine Macht bezieht; 3) da der König von Gott und nicht vom Volk bestimmt wird, hat das Volk kein Recht, ihn abzusetzen und gegen ihn zu rebellieren, denn das würde einer Rebellion gegen den Willen Gottes gleichkommen. In Kap. 43 fügt Portaleone nach einer ausführlichen Beschreibung der Kriegsführung und der Ausrüstung der Israeliten zum Schluß Folgendes hinzu: Wisse, Leser, daß so oder ähnlich die Worte des kriegsgesalbten Priesters lauteten, als das heilige Tempelhaus noch bestand, entsprechend dem Gesetz und dem Befehl (Dtn 20), als sich Gebal, die Ammoniter, die Amalekiter mit 160 161 162 163

Ibid. Mornay, Vindiciae contra tyrannos, quaestio ΙΠ. Francisco da Vitoria, De iustitia, quaestio CUV. Meor Eynayim, Kap. 55.

Die politische und soziale Struktur der Israeliten nach Portaleone

225

Assur und den Einwohnern von Tyrus und den anderen Feinden gegen sie erhoben, um sie mit jeglicher Zerstörungswaffe zu bekämpfen, um sie zu vernichten und aus dem Land zu verstoßen, das ihnen der H(err) als Erbe zugeteilt hatte. Aber jetzt, da wir unter den Schatten der Flügel unserer Herren und Fürsten - möge Gott sie beschützen und segnen, die täglich uns gegenüber so gnädig sind! - Zuflucht suchen, hütet euch bei euren Seelen davor, ihnen - Gott behüte! - untreu zu sein, und gegen sie zu rebellieren, sondern ihr müßt, wie es euch geboten wurde, ihnen gegenüber immer mit ganzem Herzen und ganzer Seele treue Diener sein, und gegenüber allen ihren Feinden, die sie bedrohen, besonders feindlich gesinnt sein. Diesbezüglich haben unsere Meister, ihr Andenken zum Segen, im Traktat Ketubbot, Kapitel shene dayyane gezerot (bKet l i l a ) zum Vers: Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter (Hld 2,7), gesagt: Rabbi Yosse ben Hanina' sagte: Wozu diese drei Schwüre? etc. [...] und einer ist der, mit dem er164 Israel beschwor, sich gegen die herrschenden Völker nicht aufzulehnen etc. [...], und ihr sollt jedenfalls nie vergessen, was unsere Meister, ihr Andenken zum Segen, auch im Traktat Abot, im 3. Kapitel, in der 2. Mischna gesagt haben: Man mußfiir das Wohlergehen des Reiches beten, weil tatsächlich auch unser Wohl in seinem Wohlergehen liegt. Ich habe euch diese Kenntnisse nicht beigebracht (Gott schütze uns!), um in euren Herzen Mißgunst und böse Gedanken zu wecken, weil das ein großes Übel und gegen den Willen unseres Schöpfers wäre, der unsere Seele im Leben unter ihre Herrschaft und ihr Königtum stellte, sondern ich habe alles, was von ihren Fachleuten geschrieben wurde, die diesbezüglich viel in der Fremdsprache geschrieben haben, und von [den Werken], die von Hand zu Hand unter allen denen, die sich für diese Wissenschaft interessieren, verbreitet werden, abschnittsweise abgeschrieben, sobald sie im Druck erschienen. Aufgrund dessen sollt ihr zur Kenntnis nehmen und wissen, daß sogar die Ungebildetsten von ihnen gebildeter sind als Daniel und daß unsere Könige und Fürsten, die uns regieren, wegen ihres großen Wissens und ihrer Weisheit sich ein Heer gebildet haben und wegen des Willens Gottes berechtigt sind, auf der Erde zu regieren.

Was auf den ersten Blick nur wie eine rhetorische Beteuerung von politischer Schicklichkeit aussieht, bekommt eine neue Bedeutung, wenn man die lebhafte politische Debatte der Zeit berücksichtigt. Portaleones Beteuerung entspricht einer religiösen Auffassung von der politischen Macht und der Uberzeugung, die die christliche und die jüdische Tradition gemeinsam haben, daß die Geschichte der Menschheit von der Vorsehimg geleitet wird. Portaleone befaßt sich nicht mit einer theoretischen Erörterung des Wesens der politischen Macht sowie der Grenzen und der Pflichten der Autorität des Souveräns. Wie bei ihm üblich, bevorzugt er es, der Bibel selbst den Beweis zu entnehmen, daß der alte Staat Israel die beste Regierungsform und Sozialstruktur hatte. Portaleone bleibt in den Grenzen der halakhisch-maimonidischen Tradition. Direkte textlich zu eruierende Berührungspunkte zwischen Portaleone 164

Gott.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

und einem bestimmten Autor aus dem christlichen Umfeld lassen sich nicht nachweisen, doch die Art und Weise der Ausführung ist im Einklang mit der politischen Publizistik der Zeit. Das ist insbesondere aus der historisch ausgerichteten Behandlung ersichtlich, die in der Vergangenheit die Entstehung und Bildung eines mustergültigen Staates sucht, eine Vergangenheit, die nicht nur unbedingt klassisch sein kann, sondern auch biblisch.165 Die Bezugnahme auf das Gesetz Gottes als Quelle jedes anderen Gesetzes und als Grenze jeder weltlichen Macht führt auch christliche Autoren auf das mosaische Gesetz und auf die alttestamentliche Monarchie zurück - wie bei Bodin, der dem Gesetz Gottes, wie es in der Torah kodifiziert ist, eine kosmische Bedeutung zuschreibt und als Widerspiegelung und Grundlage der Weltordnung auffaßt.166 Damit knüpft Bodin an einen Grundsatz der jüdischen Tradition an, der dem gesamten Konzept der Shilte ha-gibborim zugrunde liegt. Die Beschreibung des Staates und der Sozialstruktur der Israeliten in den Shilte ha-gibborim fußt auf dem festen Glauben Portaleones an die Torah als Quelle der Wahrheit. In ihr ist jede Wissenschaft bereits enthalten, soweit ihr Wortlaut „richtig" verstanden und ausgelegt wird. Das ist die Methode, die Portaleone auch für seine Darlegung der Naturwissenschaften anwendet.

6. Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim Eine der Hauptquellen Portaleones zur Naturkunde ist Mattiolis Kommentar zur Materia medica des Dioskurides, dessen Erstdruck im Jahr 1544 in Venedig erschien. Venedig und Padua waren zu dieser Zeit neben Florenz und Rom die wichtigsten Zentren für Naturforschung in Italien. Der botanische Garten von Padua wurde schon 1545 auf Dekret des „Consiglio dei Pregadi" der venezianischen Republik als Ergänzung zum Lehrstuhl für Arzneipflanzen (Lectura 165

Siehe dazu A. Melamed, „Jethro's Advice in Jewish and Christian Political Thought", in: Jewish Political Studies Review 2/1-2 (1990), S. 3 - 4 1 : 2 0 .

166

Siehe Colloquium Heptaplomeres sive de rerum sublimium arcartis abditis, urn 1593 verfaßt und veröffentlicht von L. Noack, Schwerin/Mecklenburg 1857, Bd. IV, S. 146. Bodin erwähnt dazu als eine seiner Quellen Abraham Ibn Ezra, den er durch die lateinische Ubersetzung von J. Merrier, In Decalogum commentarius [...] rabbi Abraham Aben Ezra, interprete Johanne Mercero, Lutetiae 1568, fol. 10 r-v. gekannt haben konnte. Siehe Margherita Isnardi Parente, I sei libri dello Stato. Introduzione, Bd. I, S. 30-31. Bodin zeigt in seinen Schriften eine gute Kenntnis der rabbinischen Literatur auch in Originalfassung. Er hatte Hebräisch wahrscheinlich in Paris am „College de quatre langues" während seines Aufenthaltes im Karmelitenkloster studiert, als er noch Mitglied des Ordens war. Eine Liste der jüdischen Quellen der Six livres de la Republique ist von R. Chauvire, Jean Bodin auteur de la Republique, Paris 1914, S. 73ff. zusammengestellt worden.

Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim

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simplicium) der Universität eröffnet, um Heilpflanzen anzubauen und Vorlesungen mit praktischen Übungen für die Medizinstudenten abzuhalten. Der Rezeptionserfolg von Mattiolis Kommentar und die Gründung des botanischen Gartens der paduanischen Universität bezeugen das zunehmende Interesse an Naturforschung und Naturgeschichte, das im Laufe des 16. Jahrhunderts von den medizinischen Fakultäten ausgehend immer breitere Kreise von Gelehrten erfaßte, die weder Ärzte noch Apotheker waren.167 Unter den venezianischen Gelehrten interessierten sich für Botanik und Naturgeschichte Andrea Navagero, Pietro Bembo, Giovanni Battista Ramusio, Gerolamo Fracastoro, von denen nur der letzte Arzt war.168 Selbst der botanische Garten der paduanischen Universität wurde von dem bergamaskischen Architekten Andrea Moroni nach dem Entwurf eines Humanisten, des venezianischen Patriziers Daniele Barbaro, errichtet. Die Aufwertung der naturgeschichtlichen Studien zeigt sich auch in der Ausstattung der Kunstkammern, die ab der Mitte des 16. Jahrhunderts immer mehr Naturobjekte enthielten und sich von ursprünglichen Sammlungen überwiegend von Antiquitäten und archäologischen Reperten in Wunderkammern von artificialia und naturalia wandelten.

Einer der Hauptgründe, die zu diesem kulturellen Umdenken führten, waren die geographischen Entdeckungen.169 Zuerst richtete sich das Augenmerk der Forschungsreisenden auf Gold, Silber, Perlen und Edelsteine. Aber schon Colombo erkannte, daß Pflanzen und Kräuter des „Neuen Indien" einen ebenso wertvollen Schatz in sich bergen konnten: Außerdem glaube ich, daß es auf diesen Inseln vielerlei Kräuter und Pflanzen, welche sehr wertvoll in Spanien sein könnten, um von ihnen Tinkturen zum Heilzweck zu gewinnen, und Spezereien gibt, die ich aber nicht kenne, und das bereitet mir große Sorge.170

167

168

169 170

Zum Studium der Botanik an den Universitäten im 16. Jahrhundert und zu seiner Auswirkung auf die allgemeine Bildung siehe O. Pedersen, „Tradition und Innovation", in: W. Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2, München 1996, S. 363-390: 377; L. Brockliss, „Lehrpläne", in: ibid., Bd. 2, S. 451-494: 487. Über die Errichtung von botanischen Gärten für den Universitätsunterricht siehe H. de RidderSymoens, „Organisation und Ausstattung", in: ibid., Bd. 2, S. 139-179:166-167. Siehe Olmi, L' inventario del mondo, S. 222-223. Siehe aber auch S. Grande, „Le relazioni geografiche fra Pietro Bembo, Gerolamo Fracastoro, Giovanni Battista Ramusio e Giacomo Gastaldi", in: Memorie della Societä Geografica Itcdiana ΧΠ (1905), S. 93-197. Olmi, V inventario del mondo, S. 256-260. C. Colombo, 12 giornale di bordo. Libro della prima naoigazione e scoperta delle Indie, Introduzione, note e Schede di P. E. Taviani e C. Varela, Roma 1988, S. 68: „[...] y aun creo que a en ellas muchas yervas y muchos Arboles que valen en Espana para tinturas y para medicinas de ββρβςβπ'β, mas yo no los cognozco, de que llevo grande pena", zitiert nach Olmi, L' bwentario del mondo, S. 221.

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Die erste umfassende naturkundliche Beschreibung der „Neuen Welt" wurde von Gonzalo Fernandez de Oviedo (1478-1557) verfaßt. Im Jahr 1526 erschien in Toledo sein erster Traktat Sumario de la natural y general historia des las Indias, und neun Jahre später folgte die Primera parte de la historia natural y general de las Indias (Sevilla 1535). Beide Werke waren das Ergebnis einer langjährigen direkten Erfahrung mit der amerikanischen Umwelt, die Oviedo während seiner Aufenthalte in den amerikanischen Kolonien als Gesandter der spanischen Krone mit verschiedenen politischen und verwaltenden Funktionen hatte sammeln können. Die zahlreichen französischen und italienischen Übersetzungen, die zwischen 1529 und 1566 angefertigt wurden, zeigen den schnellen Rezeptionserfolg von Oviedos Naturbeschreibungen. Die italienischen Übersetzungen, die als erste erfolgten,171 lassen sich auch wegen der persönlichen Kontakte mit den italienischen Gelehrten, die Oviedo während seines italienischen Aufenthalts in Mailand, Mantua und Neapel kennengelernt hatte, erklären. Insbesondere mit Retro Bembo, Giovanni Battista Ramusio und Gerolamo Fracastoro pflegte Oviedo auch später einen dauerhaften Briefwechsel.172 Mit dem Verlust des wirtschaftlichen Monopols über den Fernosthandel verlor Venedig auch die Möglichkeit, sich direkte Informationen über die neuen Länder zu verschaffen.173 Die venezianischen und italienischen Gelehrten im allgemeinen waren auf indirekte Informationsquellen angewiesen, und zwar auf persönliche Kontakte mit anderen europäischen Kollegen, auf die Berichte der diplomatischen Vertretungen in Lissabon und Madrid und auf die Berichte und Naturprodukte, die die Missionare, vor allem Jesuiten und Kapuziner, nach Italien brachten.174 Die zunehmenden Informationen über unbekannte Tiere und Pflanzen drängten zu einer Überprüfung der herkömmlichen Naturkenntnisse, die man bis dahin von den klassischen Autoren bezogen hatte. Die Entdeckung der

171

Die italienische Übersetzung des Summario wurde zuerst 1534 in Venedig unter dem Titel Libro secondo delle Indie Occidentali [...] Summario della naturale et generale historia dell' Indie Occidentali, composta da Gonzalo Ferdinando del Oviedo gedruckt und ein Jahr später in Rom. Die italienische Übersetzung der Primera parte de la historia natural y general de las Indias erschien in Venedig im Jahre 1556. Beide wurden ohne Angabe des Verlegers bzw. Druckers von Giovanni Battista Ramusio im dritten Band seiner ersten Ausgabe der Navigazioni et Viaggi (Venezia 1566) nachgedruckt.

172

J. Pardo Tomas, „Le immagini delle piante americane nell' opera di Gonzalo Fernandez de Oviedo (1478-1557)", in: G. Olmi/L. Tongiorgi Tomasi/A. Zanca (Hrsg.), Natura - Cultura. L' interpretazione del mondo fisico nei testi e nelle immagini. Atti del Convegno Internazionale di Studi. Mantova, 5-8 ottobre 1996 (Accademia Nazionale Virgiliana di Scienze, Lettere e Arti, Miscellanea 8), Firenze 2000, S. 163-188:164-168. Siehe dazu F. Ambrosini, Paesi e mari ignoti. America e colonialismo europeo nella cultura veneziana (secoli XVI-XVII), Venezia 1982. Olmi, V inventario del mondo, S. 226-231,250.

173

174

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„Neuen Welt" stellte die Weltanschauung in Frage, die von der noch nicht lange entdeckten klassischen Kultur überliefert worden war. Der Humanismus hatte unter anderem auch neue wissenschaftliche Texte der Antike bekannt gemacht und die Gelehrten mit neuen philologischen Kenntnissen versehen. Die mittelalterlichen Übersetzungen wurden infolgedessen einer strengen philologischen Prüfung unterzogen. Neue lateinische Übersetzungen vom Canon des Avicenna und den Werken des Aristoteles, Theophrast und Dioskurides wurden angefertigt. Plinius wurde neu ediert und kommentiert.175 Der Arzt Andrea Alpago aus Belluno, der sich lange Zeit in Damaskus aufgehalten und Arabisch gelernt hatte, fertigte eine emendierte lateinische Übersetzung von Avicennas Canon an, die einige Jahre nach seinem Tod von seinem Neffen Paolo Alpago herausgegeben wurde und die mittelalterliche, veraltete Übersetzung von Gerhard von Cremona ersetzte176. Der Arzt und Botaniker Jacques Dalechamps (oder Dalechamp) aus Lyon (1513-1587 oder 1588) veranstaltete eine neue Edition der Naturalis historia des Plinius (Lyon 1587, Frankfurt 1599). Die zunehmende Kenntnis der griechischen Sprache ermöglichte, die Werke des Aristoteles und Theophrast in der griechischen Textüberlieferung zu lesen und die fehlerhaften lateinischen Übersetzungen zu korrigieren.177 Die klassischen Autoren waren der Ausgangspunkt für die Naturbeschreibungen des 16. Jahrhunderts. Die Denkweise, mit der man der Natur der neuen Welt begegnete, war von den Naturbeschreibungen der antiken Autoren geprägt. Die Naturforschung bedeutete zuerst, Pflanzen, Tiere und Mineralien, die in den wissenschaftlichen Werken der Antike beschrieben waren, durch eine mehr oder weniger direkte Erfahrung zu prüfen, um die klassischen Quellen zu ergänzen und zu korrigieren. Das tat zum Beispiel Mattioli mit seinem Kommentar zu Dioskurides. Die kritische Überprüfung der antiken Naturbeschreibungen war aber möglich, solange es sich um jene geographischen Gebiete handelte, die auch in der Antike bekannt waren. Die „Neue Welt" stellte dagegen ein Problem dar. Sie vermittelte das Bild einer bis dahin unbekannten 175

176

177

Uber den Einfluß von Plinius auf die medizinische Ausbildung im 16. Jahrhundert siehe R. French, Pliny and Renaissance Medicine, in: R. French/F. Greenaway (Hrsg.), Science in the Early Roman Empire: Pliny the Elder, his Sources and Influence, London 1986, S. 252-281. Principis Avic. Libri canonis necnon de medicinis cordialibus et cantica ab Andrea Bellunensi ex antiquis Arabum originalibus ingenti labore summaque diligentia correcti atque in integrum restituti una cum interpretatione nominum arabicorum, quae partim mendosa partim incognita lectores antea morabantur, Venetiis 1527, in aedibus Luce Antonii Junta Florentini. Eine neue, von Paolo Alpago selbst verbesserte Ausgabe erschien auch wieder bei der Druckerei von Junta/Giunta im Jahre 1544. Die erste griechische Ausgabe der Werke von Theophrastus zusammen mit den Werken des Aristoteles geht auf Aldo Manuzio (1495-1498) zurück. Es folgte dann die Baseler Ausgabe von Johann Herbster, alias Johannes Oporinus (1541), und die sogenannte Aldina minor (1552).

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Natur. Es handelte sich hier nicht mehr lim Ergänzungen und Verbesserungen der herkömmlichen Naturauffassungen, sondern u m völlig neue Beobachtungen, die sich nicht in die traditionellen Klassifizierungen einordnen ließen. Die neuen geographischen Entdeckungen revolutionierten unter anderem auch die klassische Grundlage der Naturbeschreibungen. 178 Die neue Wirklichkeit zu akzeptieren hätte einen Umbruch der traditionellen Schemata der Naturvorstellungen nach sich gezogen, die sich in der Antike gebildet und in der moralistischen Interpretation der christlich-mittelalterlichen Ikonographie befestigt hatten. Die Reaktion der europäischen Gelehrten war angesichts dieses Dilemmas, das Unbekannte zu akzeptieren und das Bekannte zu verlassen, widersprüchlich, fast schizophren. Einerseits war man neugierig, das Unbekannte kennenzulernen, und darum bemüht, neues Material anzusammeln, andererseits war man sehr zögerlich, die neuen Erkenntnisse in die herkömmlichen Naturvorstellungen einzuarbeiten. Wie schwierig es war, die Neuigkeiten, die von jenseits des Ozeans nach Europa kamen, aufzunehmen und die eigenen Denkweisen und Schemata in Frage zu stellen, zeigt sich deutlich in der naturkundlichen Publizistik. Noch 1530 registrierte Otto Brunfels in seinen Herbarum vivae eicones keine einzige Pflanze aus der Neuen Welt. Leonhart Fuchs beschrieb zwar in seiner De historia stirpium (Basel 1542) amerikanische Pflanzen, hielt aber Mais und Kürbis für ursprünglich aus der Türkei stammend und führte somit diese neuen Pflanzen in ein bekanntes, vertrautes Gebiet zurück.179 Da man nicht bereit war, die sichere Tradition zu verlassen, versuchte man das Neue mit dem Alten zu vereinbaren. Man wollte die neuen Pflanzen und Tiere in den klassischen Beschreibungen von Plinius und Theophrast wiedererkennen. Das von den klassischen Autoren überlieferte Naturbild galt weiterhin als Bezugsmodell für die Wahrnehmung der „neuen" Naturwelt. Das Ergebnis dieser kulturellen Vorbildung waren imaginäre Tiere, die aus der Mischung des Alten und des Neuen in der Phantasie der Naturwissenschaftler entstanden. So konnte sich ein Naturwissenschaftler wie Aldrovandi trotz seiner Wertschätzung für die direkte Erfahrung und Beobachtung dem Einfluß seiner Imagination nicht völlig entziehen. Er glaubte zum Beispiel, daß zahlreiche Elefanten aus zwei verschiedenen Gattungen in Amerika leben. Das Rhinozeros von Aldrovandi war das Resultat der Beschreibung von Strabo, „cui magis credendum, quod ipsum videt",180 und der Abbildung von Dürer.

178

Olmi, U inventario del mondo, S. 233-234.

179

Ibid., S. 232,234. Bibliothek der Universität zu Bologna, Ms. Aldrovandi, Bd. VII, c. 292 und ibid., Bd. VIII, c. 27b: „Descriptio Rhinocerotis ex figura seu icone Alberti Duri pictoris insignis, cuius exemplar nos imitati sumus in nostro Rhinocerote", und noch weiter beschreibt Aldrovandi das Rhinozeros als „undique scutatum scutellis [...] durissimis magnitudine elephantis", zitiert nach Olmi, L' inventario del mondo, S. 43.

180

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Selbst ein afrikanisches Tier wie die Giraffe, die schon in der mittelalterlichen Tierkunde bekannt gewesen war, wurde von Aldrovandi als Mischung aus einem Ochsen und einem Kamel beschrieben. Die Tatsache einer völlig neuen, unbekannten Naturwelt löste einen Selbstschutzmechanismus aus: Man verarbeitete die Angst und die Verwirrung gegenüber einer fremden, andersartigen Natur, indem man das Exotische seinen vertrauten Vorstellungen anpaßte. So wurde die Giraffe mit dem heimischen Ochsen und dem exotischen, aber besser bekannten Kamel verglichen.181 Die Beteuerungen vieler Naturgelehrter, ihre Naturbeschreibungen nur auf direkte Erfahrungen und Beobachtungen zu gründen, blieben meist nur Wunschvorstellungen. Wegen der Schwierigkeiten, sich eine Dokumentation aus erster Hand zu beschaffen, beschränkte sich „die direkte Erfahrimg" auf Körperteile (Zähne, Knochen, Federn) von Tieren oder auf Abbildungen von Tieren und Pflanzen, die in den Kunstkammern ausgestellt waren. Die Zuverlässigkeit der literarischen Quellen, die man verwendete, blieb also von entscheidender Bedeutung. Selbst Oviedo, einer der wenigen Autoren, die sich kaum von den traditionellen Vorstellungen beeinflussen ließen und sich gegenüber Berichten Dritter sehr mißtrauisch zeigten, konnte nicht völlig auf die Hilfe zuverlässiger Zeugen verzichten.182 In seinem Vorwort zur Primera parte de la Historia natural y general de las Indios betont Oviedo, daß alles, was er niedergeschrieben hat, nur das Ergebnis seiner persönlichen Erfahrung während seines mehr als zweiundzwanzigjährigen Aufenthalts in Amerika sei: All diese Bücher sind nach der Art und Eigenschaft der in ihnen behandelten Gegenstände eingeteilt, und diese habe ich nicht von zwei Millionen Bänden entnommen, die ich gelesen habe, wie Plinius sagte. Daher scheint es, daß er schrieb, was er gelesen hatte, obwohl er auch von einigen Dingen berichtete, die die Antike nicht wußte oder die nur nach ihr entdeckt wurden. Hier spreche ich also nicht über das, was ich in mehreren Büchern gelesen habe, sondern ich beschreibe nur jene Dinge, die ich mit zwei Millionen von Mühen, Nöten, Gefahren während mehr als 22 Jahren im Dienste Gottes und meines Königs in diesem Indien persönlich gesehen und erlebt habe, nachdem ich acht Mal den Ozean überquert habe.1® 181 182

183

Olmi, V inventario del mondo, S. 43-44. Ibid., S. 236, 240-241. Siehe auch A. Gerbi, La natura delle Indie Nove. Da Cristoforo Colombo a Gonzalo Fernandez de Oviedo, Milano/Napoli 1975, S. 339; Pardo Tomas, „Le immagini delle piante americane", S. 166,168. Ich beziehe mich auf die italienische Übersetzung von Ramusio (Venezia 1556. Siehe die Ausgabe von M. Milanesi, 6 Bde., Torino 1978-1988: Bd. 5, S. 345-956), die in Pardo Tomas („Le immagini delle piante americane", S. 166) angeführt ist: „Tutti questi libri sono divisi secondo la maniera e qualitä delle materie che vi si discorrono, e le quali non ho io cavate da duomila migliaia di volumi che io letti abbia, come diceva Plinio avere esso fatto. Onde pare che egli scrisse quello che avea letto, benche egli dicesse anco alcune cose che non avevano gli antichi intese, ο che dopo la lor vita

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Dennoch gibt Oviedo die Erzählungen der Indianer über den Fang des Lamantins durch den Schiffshalter wieder und beendet seinen Bericht mit der Bemerkung: Ich hätte mich nicht getraut, dies zu schreiben, wenn es nicht offenkundig und allgemein bekannt wäre und wenn ich es nicht von absolut glaubwürdigen Leuten erfahren hätte.184

Da Portaleone nicht in der Lage ist, sich auf eigene direkte Beobachtungen zu stützen, ist auch er für seine Naturbeschreibungen auf zuverlässige, glaubwürdige Quellen angewiesen. Mattiolis Kommentar zu Dioskurides und die italienische Übersetzung der Werke von Oviedo, Nicolas Monardes (15121588) und Garcia da Orta sind neben den klassischen Autoren (Plinius, Theophrast, Aristoteles) seine Hauptquellen.185 Portaleone bemüht sich, seinen Lesern „wissenschaftliche", zuverlässige Auskünfte nach dem Stand der letzten Erkenntnisse zu erteilen, und bezieht sich dafür auf angesehene Autoren, die eine aktualisierte Darstellung der exotischen Natur der „Neuen Welt" vermitteln. Auch die mittelalterliche Literatur, die zum traditionellen Lehrstoff der medizinischen Fakultäten gehörte, wird so weit wie möglich nach den revidierten und neu kommentierten Editionen zitiert. So wird zum Beispiel der Canon Avicennas nach der neuen lateinischen, kommentierten Übersetzung des Andrea Alpago angeführt und nicht nach der mittelalterlichen Übersetzung Gerhards von Cremona. Als Beispiel, nach welchen Kriterien Portaleone seine Quellen auswählt, kann man seine Erörterung über die qillufah, eine der Spezereien für die Zubereitung des Räucherwerks, anführen: si ritrovarono. Non dico io qui adunque cose che abbi lette in molti libri, ma vi scrivo quelle solamente che con duo miglioni di travagli, di necessity, di pericoli, ho in piü di ventiduoi anni vedute e isperimentate con la mia stessa persona, servendo a Dio e al mio re in queste Indie, e con avere otto volte passato il grande mare Oceano." G. Fernandez de Oviedo, Deila naturale e generale historia dell' Indie, in: G. B. Ramusio, Navigazioni e viaggi, hrsg. von M. Milanesi, 6 Bde., Torino 1978-1988: Bd. 5, S. 345-956: 702: „[...] il che non avrei io ardire di scrivere se non fosse cosa assai publica e nota, e se non Γ avesse udito dire da persone di molto credito", zitiert nach Olmi, U inventario del mondo, S. 241. Die italienische Ubersetzung der Werke von Monardes und Garcia da Orta wurden zusammen gedruckt, um dem Leser ein Gesamtbild der Natur des „östlichen und westlichen Indien" anzubieten: Due libri dell' historia dei sempliä aromati et altre cose che vengono portate doll' Indie Orientali pertinenti all' uso della medicina. Di don Garzia Dali' Horto, medico portughese; con alcune brevi annotazioni di Carlo Clusio. Et due altri libri parimente di quelle che si portano doli' Indie Occidentali, di Nicolö Monardes medico di Smiglia. Hora tutti tradotti dalle loro lingue nella nostra Italiana da M. Annibale Briganti, Marrucino da Civitä di Chieti, dottore e medico eccellentissimo. Con privilegio. In Venetia appresso Francesco Ziletti, 1576 (nachgedruckt im Jahre 1582 und 1605).

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Die zehnte Spezerei von den Spezereien für das Räucherwerk ist die qillufah,186 und es besteht kein Zweifel, daß man von der wörtlichen Interpretation dieses Wortes mühelos und ohne Anstrengung an die Eigenschaft dieser für das Räucherwerk erforderlichen Spezerei gelangt, denn qillufah bedeutet „Rinde" [hebräisch qelippah], die bereits von ihrem Holz abgeschält wurde. Sie wird so ohne weitere Benennung aufgrund der Vorzüglichkeit dieser Rinde genannt, die unter allen Rinden die duftendste und aromatischste ist, und sie ist die cassia lignea, das heißt unsere cannella [= Zimt], und von ihr haben alle alten Autoren ausführlich gesprochen, die über den qinnamon [= Zimtbaum] als eine andere, von ihr unterschiedene Spezerei viel geschrieben haben, und sie haben voneinander abgeschrieben, und alle, ein Autor nach dem anderen, haben auf falsche und lügnerische Worte zurückgegriffen, wie ein Hund zu seinem Erbrochenen zurückkehrt. Denn Dioskurides hat dem in seinem ersten Buch zwei Kapitel gewidmet: In Kapitel 12 hat er von der cassia lignea und in Kapitel 13 vom qinnamon gesprochen, als ob dieser eine weitere Spezerei von der Rohrpflanze wäre, und er hat gesagt, der beste qinnamon sei der mosilitico, und er hat sich nicht erinnert, daß er bereits geschrieben hatte, der zigir sei die beste Art vom Rohr, und der mosilitico sei nach ihm die drittbeste, so daß nach seinen Worten das Rohr besser als der qinnamon ist, aber dies ist genau das Gegenteil seiner Absicht, wenn er wie die anderen griechischen Autoren wollte, daß der qinnamon das wertvolle Rohr an Qualität übertrifft. So hat auch Serapion, der Araber, in seinem Buch über die einfachen Spezereien in Kapitel 226 eingefügt, was er über diese Rinde wußte, und Plinius tat dies im 12. Buch, Kapitel 19, und Theophrast in seinem 9. Buch, Kapitel 5. Desgleichen schrieb Galen im ersten Buch der vorzüglichen Heilmittel, in ihrer Sprache De Antidotis, Strabon in seinem 9. Buch, Kapitel 13, und Avicenna im 2. Buch, Kapitel 127, was sie von ihr „nach der Vogelstimme" gehört haben und was nichtsnutzige und leichtfertige Menschen erdichteten. Und alle diese Autoren haben das Licht der Wahrheit nicht gesehen und sind im dunkeln getappt, so daß ich mich geschämt habe, ihre nutzlosen und sinnlosen Worte abzuschreiben. Ich habe mich also entschieden, den Worten der modernen Autoren unserer Zeit zu folgen, wie Clusio, Pena, Gomara,187 Arriano, Vartenia (!),188 Odoardo Barbosa,189

i« 187

188 189

Low, Die Flora, Bd. II, S. 113 und Bd. IV, S. 99. Francisco Löpez de Gömara (1510-um 1560). Als Missionar hielt er sich vier Jahre lang im „Westlichen Indien" auf. Nach seiner Rückkehr nach Spanien veröffentlichte er die Historia general de las Indios, con la Conquista del Mexico y de la Nueva-EspaHa, Medina 1553. Eine erste italienische Übersetzung von A. de Cravaliz erschien zuerst in Rom (1556), eine zweite ohne Angabe des Übersetzers (aber in Wirklichkeit von Lucio Mauro) ein Jahr später in Venedig. Von beiden Übersetzungen folgten zahlreiche Nachdrucke. So Portaleone, der richtige Name ist aber Ludovico de Vart(h)ema. Barbosa Duarte, portugiesischer Seefahrer des 16. Jahrhunderts. Er nahm an der Expedition von Magellan teil, die zur Entdeckung der philippinischen Inseln führte. Sein Reisebericht (Limo em que da relagao do que viu e ouviu no Oriente) wurde von Ramusio im ersten Band seines dreibändigen Werkes Delle navigationi et viaggi, Venezia 15501556, auf italienisch unter dem Titel Libro di Odoardo Barbosa portoghese veröffentlicht.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Thebeto190 und andere, die durch fast alle Weltteile gereist sind und gesehen haben, was die Alten, die in ihren Zelten in Ruhe gewohnt haben, nicht gesehen und [daher] voreilig Träume und Wahn geschrieben haben. Von allen habe ich nur die Worte des Garzia dall' Horto gewählt, weil sie flir den Verständigen klar sind (Prv 8,9), und ich habe nicht die Worte von allen diesen berühmten Autoren abgeschrieben, damit sie euch nicht lästig und nutzlos sind.191

Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie Portaleone methodisch vorgeht. Zuerst wird der status quaestionis, das heißt eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen Meinungen der Gelehrten, angeführt, und dann folgt seine Stellungnahme bzw. werden, wie in diesem Fall, die Worte jenes Autors wiedergegeben, die Portaleone für richtig hält. Wahrhaftig und glaubwürdig sind für Portaleone nur jene Autoren, deren Erzählungen aus eigenen Erfahrungen hervorgehen. Trotz seiner Achtung vor der Autorität der Antike ist Portaleone bereit, den modernen Autoren zu folgen, weil sie anders als die alten Autoren um die Welt gereist sind und selbst gesehen haben, was sie geschrieben haben. Fabelhafte Erzählungen, die „nichtsnutzige und leichtfertige Menschen erdichtet haben", sind für ihn nur „nutzlose und sinnlose Worte", die er seinem Leser nicht wiedergeben will. Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit sind dennoch nicht der einzige Maßstab, an dem sich Portaleone orientiert, um den Abschnitt des Werkes eines anderen Autors anzuführen. Er muß „verständlich und klar" sein. Darin zeigt sich die pädagogische Ausrichtung der Shilte ha-gibborim. Die hinzugefügten wissenschaftlichen Abhandlungen sind ein Abriß der aktuellen Kenntnisse nach den Werken der bedeutendsten Gelehrten und werden von Portaleone so abgefaßt, daß sie für den „Verständigen", das heißt für den Leser, der über eine durchschnittliche Bildung verfügt, verständlich sein können. Die Erörterung wissenschaftlicher Fragen wird der pädagogischen Zielsetzimg nach Klarheit und Verständlichkeit angepaßt. Portaleone stellt seinem Leser die Ergebnisse in einer zusammengefaßten Form vor, zu denen er bei seinen Forschungen und Lektüren gelangt ist. Dabei werden die Prämisse und die theoretischen Darstellungen ausgelassen bzw. auf das Nötigste reduziert, wie zum Beispiel im Kapitel 48 der Shilte ha-gibborim über die philosophische Darlegung der Wirkungen der Edelsteine und Perlen: 190

191

Andre Thevet (1516/17-1592), Gelehrter und Geograph. Er nahm im Jahre 1555 an einer französischen Expedition nach Brasilien teil. Er war der Autor einiger geographischer Werke, die schon zu seiner Zeit stark kritisiert wurden: Cosmographie du Levant, Lyon 1554,1556, Antwerpen 1556; Les singularitez de la France antarctique, autrement nommde Amerique et de plusieurs terres et isles decouvertes de notre temps, Paris 1558, Antwerpen 1558; La cosmographie universelle illustree de diverses figures des choses plus remarquables vues par Γ auteur, 2 Bde., Paris 1571,1575. Shilte ha-gibborim, Kap. 85, S. 89b.

Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim

235

Und siehe, die Schüler Piatons, wie Lucius Apuleius, und die Schüler des Aristoteles, wie Alexander von Aphrodisias, und die Schüler Avicennas disputierten eingehend über die Ursache, derentwegen in den Perlen und Edelsteinen die eindrucksvollen Wunderkräfte vorhanden sind, die im Munde eines jeden Menschen anders aussehen. Die einen widerlegten die Worte der anderen und diese die Worte jener in den Grundlagen der Naturphilosophie, und beinahe gibt es unter ihnen keine Entscheidung. Wer ihre Bücher nicht lange Zeit studiert hat, weiß nicht, was sie genau gesagt haben, und versteht nicht, worin sie verschiedener Meinung sind. Ich will mich also in diesem Kapitel nicht mit ihrer Diskussion beschäftigen, um nicht demjenigen lästig zu sein, der zu seiner Zeit griechische Weisheit nicht studiert hat. Es genügt mir, kurz meine Meinung wiederzugeben, obwohl sie teilweise von ihrer Theorie abweicht, weil auch ich über eine philosophische Bildung verfüge, so daß ich sie vertreten kann."2 Dem Leser werden die Grundkenntnisse angeboten, die für seine Bildung und das Verständnis der betreffenden wissenschaftlichen Abhandlung für erforderlich oder für seine Lebensbedürfnisse nützlich gehalten werden. 193 Die wissenschaftlichen Abhandlungen weisen auch eine apologetische Absicht auf. Die Werke von heidnischen oder christlichen Autoren werden so zitiert und interpretiert, daß eventuelle Zweifel an der Glaubwürdigkeit der jüdischen Tradition, die durch eine direkte Lektüre bei seinen Lesern entstehen könnten, zerstreut werden. Die Shilte ha-gibborim sollen, nach der Vorstellung von Portaleone, die Leser in ihrem Glauben stärken und das Heranziehen von Werken nichtjüdischer Autoren so weit wie möglich überflüssig machen, damit der Leser der Gefahr „ihrer verführerischen Worte" 194 nicht ausgesetzt ist. In Kapitel 81 setzt Portaleone dem langen Auszug aus der Naturalis historia des Plinius über den Weihrauch folgende Bemerkung vor: Plinius hat aber in seinem 12. Buch, Kapitel 14, über den Weihrauch etwas geschrieben, das Dioskurides nicht kannte. Ich will es hier wiedergeben, damit ihr, meine Söhne, die fremden Bücher der alten Heiden nicht heranziehen müßt, die irreführende und unnütze Worte reden, wie es dieser Autor an vielen Stellen getan hat.195 Die Shilte ha-gibborim sind wie eine Art Filter, die die Bücher der „fremden" Autoren von „unnützen" oder sogar „gefährlichen" Worten reinigen und ihre Inhalte der Traditionslehre der Meister anpassen. In ihnen kann der fromme 192 193

1,4 195

Ibid., Kap. 48, S. 49a. Siehe zum Beispiel die Anweisung für die Zubereitung verschiedener Salzsorten (Kap. 76), eines guten Essigs (Kap. 86) oder des Schießpulvers (Kap. 42). Siehe den Brief Portaleones an seine Söhne. Shilte ha-gibborim, Kap. 81, S. 84b. Ahnliche Bemerkungen in Kap. 43, S. 42a und in Kap. 48, S. 49b.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Jude ohne Gefahr für seinen Glauben alles finden, was er für seine Bildung braucht. Es ist eine kulturelle Anpassung, die fast einer Selbstzensur gleicht: Nur jene Inhalte der profanen Wissenschaften werden aufgenommen, die sich in die Tradition einarbeiten lassen, andere, wie zum Beispiel die astronomischen Entdeckungen, werden stillschweigend ignoriert. In seinem Bestreben, die Glaubwürdigkeit der Traditionslehre der Meister und der Bibel, die wortgetreu angenommen wird, gegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu verteidigen, stellt Portaleone auch gewagte Theorien auf, so wie im Fall des Balsams, einer der Zutaten des Räucherwerks. Die Bibel, die jüdischen und die heidnischen Autoren sind sich einig, daß das Land Israel früher reich an Balsambäumen war, die die allerbeste Sorte von Balsamsaft („opobalsamo") lieferten. Jetzt sind aber die zahlreichen Balsambäume, die früher in Israel gediehen, ausgestorben, ausgerottet von der Habgier der Menschen, die sie schonungslos ausgenutzt haben.196 Die Spanier haben jetzt aus dem westlichen Indien den Saft eines Baums nach Europa mitgebracht, der dem von den alten Autoren beschriebenen „echten" Balsamsaft sehr ähnlich sieht. Wie Monardes berichtet, wächst dieser Balsambaum, den die Indianer xilo nennen, spontan, „ohne von der Hand des Menschen gepflanzt zu werden".197 Wie läßt sich diese Tatsache mit den Erzählungen der Bibel und der heidnischen Autoren vereinbaren, die übereinstimmend bezeugen, daß es die allerbeste Sorte von Balsamsaft nur in Israel gab? Warum hat Gott zugelassen, daß die Balsambäume in Israel ausstarben? Portaleone hat sich folgende Erklärung ausgedacht: Ich habe in diesen meinen Kapiteln bereits geschrieben, daß die Römer, die das Haus unseres Gottes zerstörten, bezeugten, daß dieser Baum in unserem Land wachse. Wenn sich auch weder Wurzel noch Zweige dieser Pflanze jetzt dort befinden, wie wir wissen, soll man nicht glauben, daß der Balsam schon aus dieser Welt verlorengegangen und ausgestorben sei. Denn alles, was die Erde an Pflanzen, Kräutern und Tieren auf Befehl des H(errn) am sechsten Schöpfungstag erzeugt hat, bleibt in seinem Sinn für immer bestehen, bis diese Welt durch sein Wort wieder ins Chaos zurückkehrt, wie es früher war, und daher wird bei allen „nach seiner Art" bzw. „nach ihrer Art" dazu geschrieben, um uns mitzuteilen, daß sie für alle Tage der Welt als Art bestehen bleiben. Nun, wenn die Geschöpfe des H(erm) irgendwann nach langer Zeit am Ende [ihres Lebens] sind und an einem Ort umkommen, erzeugt sie die Erde von selbst anderswo, ohne irgendeine menschliche Bemühung. Habt ihr vielleicht nicht gesehen, daß an jenem Ort unserer Gegend, La volta genannt, der von vielen Hügeln umgeben ist und unter der Herrschaft der Hoheit unseres Herrn, des Herzogs Vincenzo - werde seine Herrlichkeit erhoben! steht, die Erde von selbst Granatapfelbäume erzeugt, ohne daß der Mensch daran Hand angelegt hat? Darin unterscheidet sich das, was auf Befehl des 196 197

Shilte ha-gibborim, Kap. 78, S. 82b. Ibid.

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H(errn) geschaffen wird, von dem, was durch die Hand des Menschen hergestellt wird, daß diese nämlich zu Ende gehen, wenn sich die Menschen um sie nicht immer wieder kümmern, und jene nicht zu Ende gehen. Kommt und seht, daß der dragone, der ein Kraut ist, dessen Blätter den Blättern des Ysop gleichen, durch die Flachssaat in einer Zwiebel oder in einer der Knoblaucharten, die in der Fremdsprache scalogne genannt werden, gezüchtet wird, in kurzer Zeit vom Erdboden verschwinden und nicht mehr wachsen würde, bis die Menschen ihn wieder erzeugen, wie sie schon früher getan haben. Desgleichen ist es auch beim Maultier, das durch die Hand des Menschen durch die Kreuzung einer Tierart mit einer anderen zur Welt kommt; es würde ihm nicht gelingen, weiter zu bestehen, wenn [die Menschen] einen Hengst mit einer Eselin oder einen Esel mit einer Stute nicht immer wieder kreuzen würden, denn der Maulesel zeugt nicht, und die Mauleselin gebärt nicht. Da die Erde auf Befehl des H(erm) an den Schöpfungstagen den Balsambaum erzeugt hat, ist es klar und offensichtlich, daß sie ihn in unserem heiligen Land wieder erzeugen und wachsen lassen wird, wenn es der H(err) will, und wir müssen ihn für die Mischung des Räucherwerks aufbewahren, das auf seinen Befehl im zukünftigen Tempel verbrannt werden wird, nachdem unser Messias gekommen sein wird. Möge er bald [noch] an unseren Tagen kommen, Amen!198

Der Balsambaum ist eine der Pflanzen, die von Gott selbst geschaffen wurden. Sie ist im Plan Gottes enthalten und wird weiter von der Erde bis zum Weltuntergang erzeugt. Wie Gott zugelassen hat, daß der Balsam aus Israel verschwand, so wird er auch eines Tages, wenn der neue Tempel bei der Ankunft des Messias errichtet sein wird, ihn wieder in Israel entstehen lassen. Denn für das Räucherwerk wie für alle anderen Opfer, die man im Tempel darbrachte, können nur Produkte aus dem Land Israel verwendet werden, die die vorzüglichste Qualität ihrer Art sind. Dioskurides (Materia medica 1,18) berichtet zwar, daß eine gleichwertige Sorte auch in Ägypten wuchs. Dies aber läßt sich nach Portaleone dadurch erklären, daß diese Sorte von Jakob seinem Sohn Josef als kostbares Geschenk von Palästina nach Ägypten geschickt und in Ägypten auch nach der Auswanderung der Israeliten weiter angebaut wurde.199 W 199

Ibid., Kap. 88, S. 95b. Ibid., Kap. 78, S. 83a: „Das beste Erzeugnis des Landes aber war sicher der Balsam, den es damals nirgendwo anders gab als in Israel. Vielleicht wurde der Balsam, den es vor langer Zeit in Ägypten gab, dort von dem Balsambaum erzeugt, den unser Vater Jakob dem Josef zum Geschenk geschickt hatte, sonst hätte er ihn, wenn es dort Balsam wie diesen gab, nicht als ein für Josef kostbares Geschenk gehalten. Damit dieser Balsam in seinen Augen wertvoll wäre, schickte er dazu auch zusammen mit dem Saft die Pflanze, die dank Jakobs auch in Ägypten nach der Befreiung unserer Väter von dort Früchte und guten Saft erzeugt. Und wenn dieses Harz wirklich Balsam ist, wie er in der Tat ist, braucht man nicht zu diskutieren, daß diese zuletzt erwähnten Balsamsorten nicht für das Räucherwerk verwandt wurden, weil nur der Balsam unseres Heiligen Landes tauglich war."

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Eine andere Zutat für das Räucherwerk war der qinnamon, den Portaleone der rabbinischen Tradition, Nahmanides und Yaqov ben Asher folgend, mit dem iuncus odoratus bzw. skoinanthe identifiziert. Die vorzüglichste Qualität dieser Pflanze, wie es Dioskurides beschrieb, ist aber nicht mehr zu finden. Es muß sie wohl aber in der Vergangenheit gegeben haben, weil nur das Beste im Tempel verwendet wurde. Nicht einmal aus der Neuen Welt kommt eine vergleichbare Pflanze, so daß die Tradition in diesem Fall mit den Angaben der Erfahrung absolut in Widerspruch zu stehen scheint. Sie ist kein menschliches Erzeugnis, sondern eine Pflanze, die von Gott selbst geschaffen wurde, so wie der Balsam. Wieso ist sie jetzt von der Erdfläche verschwunden und wächst nirgendwo anders weiter wie der Balsam? Diese anscheinend unlösbare Frage läßt sich für Portaleone folgendermaßen erklären: Denn weder ich, seitdem ich mich mit der Medizin beschäftigt habe, noch meine ausgezeichneten Meister haben seit ihren Tagen den skoinanthe gesehen, an dem sich alle seine erforderlichen Bedingungen vorfinden, das heißt: absolut rot, voll mit schmalen, intensiv duftenden Früchten, seine Teile sollen, wenn sie aufgebrochen werden, zur hellblauen Farbe übergehen, beim Reiben mit den Händen soll er einen angenehmen Duft wie eine Rose entfachen, scharf in seinem Geruch und beim Kauen sehr warm in seinem Geschmack sein.200 Vielleicht wurde der echte skoinanthe aus irgendeinem Grund von Gott fortgenommen, und wir werden ihn bis zur Ankunft des Erlösers nicht zurückbekommen, denn der Engel, der dafür zuständig ist, wird ihn dann auf Befehl des H(errn) schlagen und ihm sagen: „Gedeihe wohl mit überragendem Duft, richtig und mit vorzüglichem Geschmack wie an den Schöpfungstagen!"201

Die Achtung vor der jüdischen Tradition und die strikte Befolgung ihrer Reinheitsgesetze zeigt Portaleone auch in seinem medizinischen Beruf. Die offizielle Medizin hielt nach der Lehre des Dioskurides (11,38) den Leberlappen eines tollwütigen Hundes für ein bewährtes Heilmittel gegen seinen Biß. In der Mischna (mYoma VIII,6) hatten jedoch die Rabbinen die heilende Wirkung dieses unreinen Mittels angezweifelt und daher seine Verabreichung an einen an Tollwut Erkrankten am Versöhnungstag verboten. Portaleone vermutet, daß das Verbot vielleicht auch an den anderen Tagen des Jahres galt, denn die Rabbinen erlaubten nur bei bestehender Lebensgefahr etwas, das unrein ist, unter der Voraussetzung, daß seine Eigenschaft in der Behandlung sicher und unbestritten ist. Deshalb hat Portaleone auf dieses Mittel verzichtet und es seinen Patienten nie verabreicht, sondern immer andere Behandlungen ange-

200

201

Das sind die Eigenschaften der vorzüglichen Sorte nach der Beschreibung von Dioskurides (1,16), den Portaleone in Kap. 85 anführt. Shilte ha-gibborim, Kap. 88, S. %b.

Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim

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wandt, die mit der Hilfe des H(errn) erfolgreich waren. 2 0 2 So war das Reinheitsgesetz und sicher auch das Leben des Patienten gerettet! Pflanzen, Tiere, Steine und Mineralien werden von Portaleone insbesondere unter dem Aspekt ihrer medizinischen Anwendung beschrieben. Denn der Leser soll nach Portaleone immer einen Nutzen aus der Lektüre seines Buches gewinnen. Die „nutzlosen und sinnlosen Worte" der fabelhaften Erzählungen sollten in den Shilte ha-gibborim keinen Platz haben. Doch auch Portaleone kann sich der Verführung außergewöhnlicher Erzählungen nicht völlig entziehen, besonders, wenn diese von der rabbinischen Literatur oder von „glaubwürdigen" Autoren wiedergegeben werden. Er glaubt beispielsweise, daß die zehn verlorenen Stämme hinter dem Kaspischen Meer eingeschlossen sind. 203 Rabbinische Erzählungen über fabelhafte Tiere werden ohne irgendwelche kritischen Bemerkungen in die Shilte ha-gibborim aufgenommen und als wahr akzeptiert, wie z u m Beispiel die Existenz des Shamir, eines zauberhaften, nicht gut definierten Lebewesens, mit dem man die Namen der Stämme Israels auf den Edelsteinen, die in der Brusttasche des Hohenpriesters eingefaßt waren, eingravierte, ohne sie einzukratzen; 2 0 4 oder die Existenz des Tahash, eines einzigartigen einhörnigen 202 203

304

Ibid., Kap. 50, S. 52a. Shilte ha-gibborim, Kap. 76, S. 78a. Nach einer alten Tradition, die schon im Talmud (bSan 65b; ySan X,29c) und in der Midrash-Literatur (BerRab § 11, § 73) belegt ist, sind nur die zwei Stämme Benjamin und luda aus dem Exil zurückgekommen, und die zehn Stämme des Nordreiches Israels, die von den Assyrern nach der Eroberung Samarias (722 v. Chr.) deportiert worden waren, blieben durch den fabelhaften Fluß Sambation (bzw. Sanbation/Schabbatjon. Siehe dazu auch Plinius, Naturalis Historia XXXI,2,18 § 24 und Flavius Josephus, Bellum Judaicum VII,5 § 1) von der Außenwelt abgeschlossen im Exil. Zur Endzeit sollen sie wieder nach Israel zurückgeführt werden. Diese zehn verborgenen Stämme wurden unterschiedlich lokalisiert: zuerst in Indien, dann in Äthiopien (das Land von „Kusch") und im 16. Jahrhundert zwischen den kaspischen Bergen. Siehe dazu Salo Wittmayer Baron, Α social and religious History of the Jews, New York 1957, Bd. II, S. 61, HI, S. 116-117, 205, 329; D. A. Law, From Samaria to Samarkand: The Ten Lost Tribes of Israel, Lanham 1992; R. Clayton Brough, The Lost Tribes: History, Doctrine, Prophecies and Theories about Israel's Lost Ten Tribes, Bountiful 1993; Ariel Toaff, Mostri giudei. L' immaginario ebraico dal Medioevo alia prima eta moderna, Bologna 1996, Kap. II, IV, insbesondere S. 29,68-73. Shilte ha-gibborim, Kap. 46, S. 44a: „Im Traktat Sota Kapitel eglah arufah (Sota IX) ist gelehrt worden: Diese Steine wurden weder mit Tinte beschrieben noch mit einem Meißel gekratzt, denn es heißt: ,in ihrer Vollständigkeif (Ex 28,20); vielmehr schrieb man auf diese mit der Tinte, und von außen zeigte man ihnen den ,Shamir', und sie spalteten sich von selbst, wie eine Feige, die im Sommer aufbricht, ohne etwas zu verlieren, und wie eine Ebene, die sich in der Regenzeit spaltet, ohne etwas zu verlieren. Unsere Meister haben gelehrt: Dieser Shamir war ein gerstengroßes Lebewesen und wurde in den sechs Tagen der Schöpfung geschaffen. Und es gibt nichts, das so hart ist, daß es ihm widerstehen könnte. Worin wurde er verwahrt? In Lappen aus

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Tieres, das zur Zeit Moses lebte und aus dessen Fell das Stiftszelt angefertigt wurde.205 Eine ausführliche Behandlung widmet Portaleone einem alten und zu seiner Zeit noch sehr aktuellen Motiv der Tierkunde, nämlich der Beschreibung des mythischen Einhorns („monocerote")206 Plinius (Historia naturalis VIII,21,31 § 76) beschrieb seine Gestalt als eine Mischung von Körperteilen aus verschiedenen Tieren. Er habe nämlich „den Kopf eines Hirsches, die Füße eines Elefanten, den Schwanz eines Wildschweines und den Körper eines Pferdes", und sein einziges Horn sei etwa zwei Ellen lang. Seine „Elefantenfüße" deuten auf ein unreines Tier hin. Ein zeitgenössischer Autor, Ludovico de Varthema, einer jener Autoren, die Portaleone für glaubwürdig hält, beschrieb das Tier mit gespaltenen Klauen. Vielleicht - so vermutet Portaleone handelt es sich um zwei verschiedene Tiere: Das „Einhorn" von Plinius könnte der Wildesel sein, der auch „unicorno" genannt wird, und Varthema hat wahrscheinlich den „orige" (=oryx) beschrieben, den Aristoteles schon kannte.207 Portaleone bezieht keine klare Stellung, dennoch beschreibt er das Verfahren zum Fangen des „orige", den er mit dem biblischen zemer identifiziert, so, als ob es das Einhorn wäre: Der zemer ist der orige, den Aristoteles im zweiten Buch der „Tiergeschichte"208 beschrieben hat. Er hat ebenfalls ein Horn auf der Stirn, gespaltene Klauen und ist ein Wiederkäuer. Das ist nicht der Wildesel, weil dieser ungespaltene Klauen und auf der Stirn ein Horn hat, und da seine Klauen ungespalten sind, ist er auch kein Wiederkäuer. Der orige heißt zemer, weil er den Gesang sehr gerne hat. Denn er ist sehr schnell, und die Jäger können ihn nur unter großen Mühen fangen. Anstatt sich jedoch diese große Mühe zu machen, suchen sie eine schöne Jungfrau und entblößen sie, weil dieses Tier Jungfrauen sehr gerne hat; und wenn sie nackt ist, singt sie mit einer sanften, schönen Stimme in der Weise, daß das Tier, wenn es den Gesang hört und die Jungfrau nackt sieht, zu ihr läuft, auf die Knie fällt und seinen Kopf auf ihren Bauch legt. Die Jungfrau singt weiter, bis sich das Tier wegen des großen Genusses und Wohlgefühls hinlegt und wie betäubt ist, dann fesseln die Jäger seinen Fuß und legen ihm eine Kette um seinen Hals, so daß er zemer heißt, weil er durch den Gesang gefangen wird.209

205 206

207

206 209

Wolle, und man legte ihn in einen ,'itni shel 'ava/, das heißt in eine mit Gerstenkleie gefüllte Büchse aus Blei (bSot 48b)." Shilte ha-gibborim, Kap. 52, S. 55b. Siehe auch bShab 28b. Shilte ha-gibborim, Kap. 53. Über die Legende des Einhorns siehe Odell Shepard, The Lore of the Unicorn, London 1930 [London 1996], Shilte ha-gibborim, Kap. 53, S. 56a und 58a. Portaleone bezieht sich aber auf Bacci (Roma 1587, S. 78-79), der Vartema erwähnt. Aristoteles, Historia animalium 499b,20. Shilte ha-gibborim, Kap. 53, S. 58a.

Die Naturkunde in den Shilte ha-gibborim

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Durch etymologische Deutungen von biblischen Tiernamen entsprechend lexikalischen Assonanzen bemüht sich Portaleone nachzuweisen, daß die antike und neuzeitliche Zoologie schon in der Bibel enthalten ist. So wird der Elch, die „gran bestia", ein anderes beliebtes Motiv der italienischen Naturbeschreibungen Ende des 15. Jahrhunderts,210 mit dem biblischen aqcjo aufgrund der Ähnlichkeit des hebräischen und des griechischen Namens identifiziert: Im Norden, in von uns sehr weit entfernten Ländern, lebt ein Tier, das immer herdenweise herumwandert und mit unterschiedlichen Namen benannt wird. Einige nennen es elendo, was auf deutsch „ein harter Tag" oder „geboren mit einem unglücklichen Schicksal"211 bedeutet, entweder weil es wegen der Fallsucht oft hinfällt, was bei den anderen Tieren nicht vorkommt, außer bei drei Lebewesen, nämlich: bei dem Vogel, der „Wachtel" heißt, in der Fremdsprache coturnice oder quaglia, beim Menschen und beim hier beschriebenen Tier; oder es wird aufgrund der großen Angst so benannt, die es hat; denn es wird leicht verletzt, und wenn es sein Blut von sich abfließen sieht, stirbt es aus Angst.212 Andere nennen es „großes Tier", in der Fremdsprache gran bestia, andere bisonte, andere maqrin,m andere nennen es fehlerhaft onagro, das

210

Die Quelle Portaleones ist der Mailänder Arzt Apollonio Menabino, der lange Zeit am schwedischen Hof tätig war. Der Traktat Apollonia Menabeni [...] Tractatus de magno animali, quod alcen nonnulli vocant, Germani vero elend, & de ipsius partium in re medica facultatibus: item Historia cervi rangiferi, b gulonis filfros vocati [...] accessit Remb. Dodonaei [...]. De alce epistola, Coloniae apud Matemum Cholinum, 1581 kannte Portaleone in der italienischen Version von M. Costanzo Felici, der seiner Ubersetzung einen weiteren kurzen Traktat von sich selbst über die wundervollen Eigenschaften des Wolfes anhängte: Trattato del grand' animale ο gran bestia, cost detta volgarmente et delle sue parti e facultä e di quelle del Cervo, che servono a medici, d' Apollonio Menabeni medico efilosofo; e del medemo, Del cervo rangifero e del gulone. Dalla latina tradotto nell' italiana lingua da M. Costanzo Felici, medico e da lui aggiunto in molti luochi. Et del medemo M. Costanzo Delle virtü et proprietä del lupo. In Rimino per Giov. Simbeni & comp., 1584. Auf die Beschreibung des Elches von Menabino bezieht sich auch Andrea Bacci: Le XII pietre pretiose le quali per ordine di Dio tiella santa Legge adornavano i vestimenti del sommo sacerdote. Aggiuntevi il diamante, le margarite e V oro poste da S. Giovanni nell' Apocalisse in figura della Celeste Gerusalemme: con un sommario dell' altre pietre pretiose. Discorso dell' Alicomo e delle sue singolarissime virtü. Et della gran Bestia detta Alce da gli Antichi, Roma appresso Giovanni Martineiii, 1587.

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Vgl. das deutsche Wort „Elend". Apollonio Menabino, Trattato del grand' animale ο gran bestia, cost detta volgarmente et delle sue parti e facultä e di quelle del Cervo, che servono α medici, d' Apollonio Menabeni medico e filosofo; e del medemo, Del cervo rangifero e del gulone. Dalla latina tradotto nell' italiana lingua da M. Costanzo Felici, medico e da lui aggiunto in molti luochi. Et del medemo M. Costanzo Delle virtü et proprietä del lupo. In Rimino per Giov. Simbeni & comp., 1584 (Bibl. Vaticana Racc. I. V. 289 int. 2), S. 14-17. Wörtlich: „gehörnt", vgl. bHul 60a. Bacci (Roma 1587, S. 115) und Menabino (S. 8) erwähnen den Namen machlin.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones heißt „Wildesel", und andere βίοι214. Die meisten Gelehrten nennen es alkettm. Meiner Meinung nach ist es das vierte reine Tier, das in der Paraschah Re'eh erwähnt wird, und zwar: ayyal, .sein, yahmur, aqqo, dishon (Dtn 14,5), wobei das lamed nach dem alef hinzugefügt und das wow nach dem qof verlängert wurde, und daraus hat man ein nun gemacht. Das ist ein reines und eßbares Tier, dessen Form ich jetzt wie folgt beschreiben werde.216

Etwas weiter bekräftigt Portaleone seine Interpretation mit einer weiteren etymologischen Erklärung: Über den aqqo sage ich, daß dies das Tier ist, das herdenweise in Schweden lebt. Wie ich bereits geschrieben habe, nannten die Griechen es alken, mit hireq unter dem qof. Der römische Kaiser Julius Cäsar hat es im sechsten Buch seiner Commentarii (Caesar, Commentarii de Bello Gallico VI,27) alces genannt, und die Schweden nennen es alken. Vielleicht hat es unsere heilige Torah aqqo genannt, weil dieses Tier, wie einige Autoren gesagt haben, in seiner Körperform teils dem Hirsch und teils dem Kamel ähnelt, und wenn du den ersten Buchstaben des [Wortes] „Hirsch" [hebräisch ayyal] und den ersten Buchstaben des [Wortes] „Kamel" [hebräisch gamal] nimmst, lauten sie in ihrer Zusammensetzung ago, und das gimel und das qof sind miteinander leicht austauschbar, so daß ihr anstatt ago aqqo lesen werdet. Seine Beschaffenheit habe ich bereits oben vollkommen beschrieben.217 Auf die gleiche Weise erfolgt die Deutung anderer biblischer Tiernamen. Der yahmur ist für Portaleone eine Art Wildbock, der den „mosco" erzeugt, in der damaligen Parfümerie ein wertvoller Duftstoff. Für Aristoteles und Plinius entstand der „mosco" durch den heißen A t e m dieses Tieres, wenn es brünstig ist. Daher leitet Portaleone den Namen yahmur aus dem Hebräischen 'ur, Feuer, und yahem, wörtlich „sie waren brünstig", nach dem Vers von Gen 30,41 „Jedesmal, wenn die Tiere brünstig waren", ab. Für andere Autoren, mit denen Portaleone übereinstimmt (siehe Shilte ha-gtbborim, Kap. 50, S. 53a), ist der „mosco" eine A r t Blutabsonderung, die das Tier beim Laufen ausscheidet. Daher könnte yahmur der hebräische Name des tarandrus sein, der laut Plinius (Historia naturalis VIII,34,52 § 1 2 4 ) beim Laufen eine ätzende Absonderung ausscheidet. 2 1 8 Diese Identifikation wird auch von einer weiteren Deutung des Namens yahmur untermauert. Denn die Farbe des Felles des tarandrus sieht nach der Beschreibung des Plinius wie durch Asche und Lehm getrübtes Wasser aus. Darauf deutet nach Portaleone der N a m e yahmur hin, der in dem

214 215 216 217



Siehe Menabino (S. 14), der sich auf Albertus Magnus (De animalibus XXII,2) bezieht. Das ist die griechische Bezeichnung für Elch, Elentier, auf italienisch alce. Shilte ha-gibborim, Kap. 53, S. 56b. Ibid., S. 57b. Ibid.

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biblischen Vers (Ps 46,4) Wenn seine Wasserwogen tosen und schäumen (hebräisch yehmeru) eine Parallele hat.219 Das te'o ist ein schnell laufendes Tier, wie die griechische Bedeutung des Namens (fein bedeutet auf griechisch laufen) beweist. Das biblische Tier könnte also eine Art Gemse („camozza") oder der urus, der schnelle Auerochse, sein, von dem Cäsar (De hello gallico VI,25-28) und Plinius (Historia naturalis VIII,15) gesprochen haben. Mit ihnen stimmt auch übrigens Rabbi Yossi überein, der das te'o als den Auerochsen definiert hat (tKil 1,6). Nach d e m Reinheitsgesetz sei jedoch unwichtig, ob das te'o Gemse oder Auerochse sei, weil beide zum Verzehr zugelassen sind. 220 Ein weiteres sehr kurioses Tier, das für Portaleone nur w e g e n der ziemlich schwachen Begründung, daß es „auf vier Füßen geht" (Lev 11,42), schon in der Bibel erwähnt wird, ist der „gulone", der in Skandinavien lebende Vielfraß, dessen Beschreibung Portaleone Menabino entnimmt: Im Königreich Schweden lebt ein unreines Tier, in ihrer Sprache filfros genannt, einige nennen es rusomaca, andere gulone,221 Es ist etwas länger und größer als ein Fuchs, Art und Umfang des Körpers dieses Tieres gleichen denen eines großen Hundes. Seine Ohren und seine Kehle sind wie die einer Katze. Seine Pfoten sind kräftig und seine Krallen scharf und gekrümmt. Sein ganzer Körper ist von langen und feinen Haaren bedeckt. Seine Farbe ist fast schwarz, und sein Schwanz ist kurz wie der des Fuchses.222 Seine ganze Haut ist sehr schön, wenn man sie mit der Hand betastet, spürt man sie glatt wie Seide. Es heißt gulone, weil es ständig frißt und trotz des vielen Fressens nie satt wird; selbst wenn es bis zum Anschwellen des Bauches voll ist, ist es dennoch immer noch freßgierig, es sucht sich einen Platz mit zwei nebeneinander stehenden Bäumen, voneinander in der Weise entfernt, daß es zwischen den beiden Bäumen kaum durchkommt. Dann läuft es und drängt sich dort kräftig dazwischen, bis es zwischen den Bäumen durchkommt und infolge des Bauchdruckes die Exkremente absondert, und dann frißt es mit großer Gier weiter.223

219 220 221

222 223

Ibid. Ibid., S. 57b-58a. Siehe Menabino, S. 120: „Gulone ο Filfros, doe gran devoratore, citato anche da Cardano nel decimo libro del De subtilitatibus, descritto col nome di Rusomacha" [Übersetzung: „Gulone bzw. Filfros, das heißt der Vielfraß, wird auch von Cardano im 10. Buch der De subtilitatibus mit dem Namen rusomacha erwähnt"]. Es handelt sich um eine nördliche Marderart, dessen wissenschaftlicher Name „Gulo gulo" ist. „Filfros" ist aus dem norwegischen „fieldfross" (das heißt „Bergkater") abgeleitet (siehe G. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1971, S. 3873, s.v. „Vielfraß"). Der Name „gulone" (aus dem lateinischen gulo) deutet auf italienisch „goloso" bzw. „golosone", das heißt „eßgierig", „vielfräßig", hin. Menabino, S. 121-123. Ibid.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones Unsere Frauen nennen die eßsüchtigen Männer bol'amim, weil sie sich nur eins wünschen, nämlich den Rachen vollzustopfen. Deshalb wird es anstatt gulone bol'am genannt, auf griechisch polufagos oder gastrimargos, lateinisch helluo oder edax. In unserer heiligen Sprache zolel, auf aramäisch zalzil oder aset. Das Fleisch dieses Tieres ist ekelhaft und abscheulich, und man darf es nicht essen, weil es sehr fettig ist. Man hat gesagt, daß sein Blut dem Gaumen gut schmeckt und daß es nichts besseres gibt; wenn es mit Wasser und Honig vermengt getrunken wird, ist das ein Festmahl (Jes 25,6), ein königliches Gelage, und es wird zu den Hochzeiten mit großem Genuß getrunken. Die Eigenschaft seiner Krallen besteht darin, daß sie zusammen mit den Zähnen, so wie sie in der Natur vorkommen, getragen sehr nützlich sind und vom Schwindel, in der Fremdsprache vertigine genannt, heilen; wenn sie um den Hals gehängt werden, sind sie für die Ohren der Tauben gut, entfernen von ihnen die Störung und töten die Geister, die in ihnen sind. Die Zauberer verwenden sie mit den Zähnen des Tieres, um [ihre] Zaubereien zu vollbringen. Aus seinen Eingeweiden werden Saiten für Harfen und Geigen gewonnen. Wenn man unter seiner Haut schläft, führt sie bei Menschen zu Träumen, die der Natur dieses Tieres entsprechen, denn ihnen erscheinen in ihren Träumen Trinkgelage, Menschen, die speisen, und andere ihm ähnliche Tiere, die wie sie ständig fressen. Wenn man den Hunden und den Katzen die Krallen dieses Tieres nach seinem Tod zeigt, fliehen sie, wie es der kleine Vogel beim Anblick des Sperbers tut.224

Die Beschreibungen der wundervollen Wirkungen von Tieren, Pflanzen und Steinen werden, soweit sie von glaubwürdigen zeitgenössischen Autoren ausgeführt sind, v o n Portaleone registriert und in die Shilte ha-gibborim aufgenommen. So wie z u m Beispiel die Fähigkeit der Edelsteine, sich wie Lebewesen zu vermehren, was Theophrast, Plinius und noch zur Zeit Portaleones der flämische Arzt und Naturwissenschaftler Frangois de la Rue, 2 2 5 eine der bevorzugten Quellen Portaleones über die Steinkunde, der als „Francesco Roheo" zitiert wird, bezeugen; 2 2 6 oder die Reaktion des Türkis beim Tod seines Besitzers. Der Stein verliere an Glanz und an Schönheit, solange er keinen neuen Besitzer hat, wie Roheo selbst beobachten konnte. 227 Solche Naturwunder anzuzweifeln wäre für Portaleone eine Sünde, weil sie ein Beweis der dauerhaften Wirkung Gottes auf seine Schöpfung sind: Das ist, meine lieben Söhne, was ich über die Eigenschaften der Steine und die Teile der Tiere in diesen Kapiteln sagen wollte. Wisset also und seht: Wie wir glauben, daß die Edelsteine und die Teile der Tiere nach dem Willen des H(errn) bezogen auf die Krankheiten der Menschen und auf die Erhaltung der Gesundheit ihrer Organe und Glieder viele Eigenschaften haben, so

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Ibid., S. 123-125. Portaleone, Shilte ha-gibborim, Kap. 53, S. 58a. Siehe unten im Anhang das Kapitel „Die Quellen der Shilte ha-gibborim" (S. 267-296). Shilte ha-gibborim, Kap. 46, S. 46a. Ibid., Kap. 49, S. 51b.

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gereichte es uns zur Schuld, zum Anstoß und wäre Anlaß zu einer großen Sünde, wenn wir an alles glaubten, was diese Philosophen darüber gesagt haben, denn das sind zweifellos übertriebene, lügnerische Worte, die keine Wahrheit enthalten. Nur vom H(erm) kommen alle diese Wirkungen, und ihm gebühren Reichtum und Ehre, das Königtum, die Größe und die Kraft, der Ruhm und der Glanz und die Hoheit im Himmel und auf Erden, und in seiner Hand liegt es, einen jeden groß und stark zu machen (vgl. IChr 29,11-12) Mögen wir seinen Namen immer preisen, weil er unser Gott ist, erhaben über allen Preis und Ruhm! Er hat den Himmel und den Himmel der Himmel geschaffen und sein ganzes Heer, die Erde und alles, was auf ihr ist, die Meere und alles, was in ihnen ist, er erhält uns alle und das Heer des Himmels am Leben (vgl. Neh 9,5-6), und wir sind sein Volk, die Herde seiner Weide (Ps 100,3), mit Schrecken, Furcht, Zittern und Schweiß werfen wir uns vor ihm nieder.228 Diese Einstellung gegenüber der Natur wird noch weiter in den pansophischen Systemen des 17. Jahrhunderts vertreten und hatte in Athanasius Kircher den letzten Verteidiger gegen die sich anbahnende moderne mechanische Auffassung, in der Einhörner und Wunder der Vergangenheit angehören und keinen Platz mehr haben werden.

7. Erfahrung und Glauben Unter den Mineralien, die Portaleone in den Shilte ha-gibborim beschreibt, wird das Gold nicht erwähnt. Hierfür hatte er bereits früher einen Traktat verfaßt, auf lateinisch mit dem Titel Dialogi tres de auro, in quibus non solum de auri in re medica facultate, verum etiam de specifica eius et ceterarum rerum forma seu duplici potestate, qua mixtis in omnibus ilia operatur, ad Sereniss. Dom. Guil. Gonzagam (Venetiis 1584). 229 In diesem Traktat diskutieren Dynachrysus, der Portaleone darstellt, und Achryuasmus, sein Gegenspieler, nach dem Muster der platonischen und ticeronianischen Dialoge, ob das Gold irgendwelche medizinische Wirkung haben kann. Dynachrysus unterscheidet drei verschiedene Sorten von Gold: das mineralische, das in der Natur vorkommt, das chemisch verarbeitete Gold, das „per calcinationem, reverberationem, resolutionem, eementa-

228 229

Ibid., Kap. 53, S. 58b. Siehe L. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Bd. V, New York 1941, S. 645-647. Für eine eingehende Analyse zur Auffassung der Wissenschaft und der Bedeutung der Erfahrung für Portaleone in De auro und in den Shilte ha-gibborim siehe A. Guetta, „Avraham Portaleone, le scientifique repenti", in: G. Freudenthal/J.-P. Rothschild/G. Dahan (Hrsg.), Tora et science: perspectives historiques et theoriques. Etudes offerts ä Charles Touati, Paris/Louvain/Sterling (Virginia) 2001, S. 213-227.

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tionem et sublimationem"230 in ein Sublimat des natürlichen Minerals verwandelt wird, und das Gold der Alchimisten.231 Nur die zweite Sorte kann in der Medizin angewandt werden. Das mineralische, unverarbeitete Gold kann zwar von der Melancholie heilen, nicht aber durch Berührung bzw. mittels einer direkten oder indirekten therapeutischen Anwendung, sondern nur, wenn davon die Schatztruhe voll ist, gibt ironisch Dynachrysus zu!332 Die Erörterung der Eigenschaften des Goldes und seiner angeblichen Wirkungen wird um die Frage der Wechselbeziehungen aller Zusammensetzungen entsprechend ihren primären, sekundären und tertiären Qualitäten unter dem Einfluß der Sterne sowie um die Frage der Bedeutung der eigenen Erfahrimg gegenüber der Autorität der Tradition und der alten Autoren erweitert. Das Thema des Goldes entwickelt sich also zu einer epistemologischen Abhandlung über die Suche nach einem korrekten wissenschaftlichen Verfahren in der Naturforschung und über Wert und Grenze des menschlichen Wissens. Die Gegenüberstellung der Dialogi mit den späteren Shilte ha-gibborim zeigt deutlich die intellektuellen Folgen von Portaleones „Bekehrung" und hilft, die geistigen Hintergründe der Abfassung der Shilte ha-gibborim besser zu begreifen. Schon beim ersten Auftritt der zwei Darsteller zeigt Portaleone, welche Bedeutung er der persönlichen Erfahrung beim Studium der Natur beimißt. Es ist Karneval, die ganze Stadt feiert, Dynachrysus steht aber allein in seinem Arbeitszimmer, in seine Experimente vertieft, als ihn Achryuasmus besucht. Auf die Frage seines Besuchers, warum er sich nicht mit den anderen amüsiere, antwortet Dynachrysus, er habe immer Spiele und Vergnügungen gemieden, denn nicht mit ihnen werde man glücklich, sondern nur mit den mühseligen Beschäftigungen („operationibus"). Was er damit meint, zeigt seine merkwürdige Bekleidung: eine kurz am Gürtel durch mehrere Kordeln gebundene Tunika. Das ist die typische Bekleidung der Alchimisten, wenn sie mit ihren Experimenten beschäftigt sind, um schnell und ungehindert zur Feuerstelle ihrer Laboratorien laufen zu können. Er habe sich dennoch nicht der alchimistischen Kunst hingegeben, versichert Dynachrysus seinem Freund, 230 231

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Deauro, S.42. Ibid., S. 86: „D. [= Dynachrysus]: [...] Memento, quod triplex est aurum, nec nisi uni sane datur, id, quod proprie duobus aliis debetur. [...] Aurum vulgare de quo hactenus fuit sermo, unum existit, alterum vero Chimicum, et tertium Divinum fere est." Ibid., S. 77: „D. [= Dynachrysus]: ο Achryuasme charissime, quod primis a te relatis facultatibus aurum sit praeditum, ut tibi gTatum faciam, libenter assentior, laetificatur cor, et tetra melancholia ex ambitu totius propellitur, non quando ab aliis aurum mutuatur, per contactum enim tan tum mediatum vel immediatum, appensionemque directumve aspectum, quicquam boni haudquaquam operatur, verum quando ingentem ex huiusmodi metallo arcam refertam habeas, et tui sit iuris, gaudium profecto affert et melancholiae amurcam apprime detergit etc."

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er wolle nur mit eigenen Augen erfahren („Ut aperte scire, oculisque videre possim"),233 wie die Alchimisten ihre Präparate zubereiten und welche Wirkungen sie haben. Denn viele preisen die Heilkunst der offiziellen Medizin des Hippokrates und Galens, aber genauso viele sind bereit, auf die Erfindungen der Alchimisten zurückzugreifen. Dynachrysus möchte in beiden Bereichen der Heilkunst erfahren sein, so wie einer, der sich für ein Duell, an dem die Waffen, die eingesetzt werden sollen, unbekannt sind, vorbereitet und mit verschiedenen Waffen übt.234 Achryuasmus stimmt zu, daß nur die Erfahrung bei der Naturforschung zählt.235 Viele merkwürdige Dinge, die in der Natur vorkommen, lassen sich nicht wissenschaftlich erklären, sondern nur durch die Erfahrung beweisen. So wie zum Beispiel das Fleisch des Hirsches, das man bis zum Schwanz, der hochgiftig ist, ohne Gefahr verzehren kann.236 Oder die heilende Wirkimg des Hasenkopfes, der die Muskelkrämpfe heilt und die Nerven stärkt, während beim Geflügel der häufige Verzehr von Kopf und Hals blind macht. Die Frauen wissen nur durch Erfahrung, daß sie bei jedem Mondwechsel eine schädliche Substanz ausscheiden.237 Die Fähigkeit, zu experimentieren und Erfahrungen zu sammeln, unterscheidet den Menschen von den Tieren, die kein Urteilsvermögen haben.238 Aus den angesammelten Erfahrungen zieht der Mensch seine Folgerungen und versucht mit seinem Urteilsvermögen, die Ursache festzustellen. Er kann aber nur eine allgemeine Kenntnis der Dinge erreichen, die letzte, wahre Ursache der Naturphänomene bleibt ihm immer verborgen. D. Dennoch versucht manchmal der Verstand, die Ursache einiger Wirkungen zu bestimmen, warum beispielsweise dies erweichen kann, das verhärtet, 233 234

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Ibid., S. 17. Ibid., S. 18: „multi enim Hyppocratica, Galenicaque extollunt antidota, multi vero, Chimicorum inventa facile sequuntur, quamobrem, ut ille solet qui singulare certamen inire debet, instrumentis profecto sibi nondum ostensis, quibus pugnandum est, modo hoc, modo illud experitur, ac assuetis armis, inassuetisque militibus pro vita tutanda, hostisque ferocitate reprimenda, manum adaptat; ita et ego, in utrisque medicamentorum generibus me exercitatum esse volo, ut aeque dogmaticae mihi, empiricaeque res, iuxta hominum inclinationes, praesto sint." Ibid., S. 20: „Experientia quidem rerum omnium naturalium celebratur." Ibid., S. 34. Das Beispiel des Hirsches wird auch in den Shilte ha-gibborim (Kap. 50) angeführt. Portaleones Quelle ist Dioskurides nach dem Kommentar von Mattioli: 1 discorsi di M. Pietro Andrea Matthioli sanese, medico cesareo, el del serenissimo principe Ferdinando d' Austria etc. nelli sei libri di Pedacio Dioscoride Anazarbeo della materia medicinale. Hora di nuovo dal suo istesso autore ricorretti, et in piü di mille luoghi aumentati. In Venetia appresso Vincenzo Valgrisi 1568 (Biblioteca Nazionale di Torino 0154), 11,52. De auro, S. 36-37 und parallel dazu Shilte ha-gibborim, Kap. 48. De auro, S. 37: „Porro si haec, experientiam dico, multa nos a primo ortu non doeuisset, parvum ferme mundanis in rebus, inter nos et ratione expertia animalia, esset discrimen etc." Siehe auch Guetta, „Avraham Portaleone, le scientifique repenti", S. 217.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones jenes reinigt, abstößt, zerteilt, verdichtet, vermindert und andere ähnliche Wirkungskräfte hat [...]. Die Antwort im Vergleich [zur Komplexität] dieser Frage ist aber nur allgemeiner Natur: Der Verstand schreibt sofort als eine Art heilige Zuflucht der spezifischen Form bzw. der ganzen Substanz die wundervolle Wirkungskraft des Arzneimittels zu. A. Er fuhrt wohl dadurch das Schiff in einen sehr unsicheren Hafen, denn nur der allerhöchste Gott, der Gründer der ganzen Welt, kennt genau die exakte Substanz des Elementes, aus dem die wundervollen Wirkungen stammen. D. So ist es, denn die Dinge dieser Welt sowie ihre Kräfte sind fast unbegrenzt, und das unendliche Wissen geht aus dem Unendlichen hervor, während der Mensch sterblich ist, was als seine Entschuldigung gilt; doch jeder von uns soll aufs schärfste verurteilt werden, entweder wenn er aus Nachlässigkeit das ignoriert, was unser menschlicher Verstand begreifen kann, oder wenn er aus verfänglichen Gründen oder aus einer irreführenden Verführung die Wahrheit verleugnet.239

Die Anerkennung des begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens führt keineswegs zur Skepsis und zu einer resignierten Haltung. Ganz im Gegenteil ist der Mensch dazu verpflichtet, alle seine geistigen Fähigkeiten daran zu setzen, die Wahrheit zu erforschen, auch wenn die letzte Ursache aller Naturphänomene trotz aller Bemühungen für den Menschen unergründlich bleibt und die menschlichen Erkenntnisse nur eine Annäherung an die Wahrheit darstellen. Das zieht nach sich, daß metaphysische und theologische Spekulationen für Portaleone sinnlos sind, eine Haltung, die er auch später in den Shilte ha-gibborim weiter beibehalten wird.

Die Unfähigkeit des Menschen, die Ursache der Naturphänomene kennenzulernen, ist für Portaleone kein Anlaß, an die Magie zu glauben. Die spezifische Substanz besteht für ihn mit Bezugnahme auf Galen in einer harmonischen, aber letztendlich unbegreiflichen Mischimg der vier Grundqualitäten, nämlich Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit.240 Die Annahme, daß die Natur okkulte Kräfte oder eine Seele besitze, ist nur eine Folge unserer Unkenntnis.241 Achryuasmus glaubt, daß Steine und Metalle eine vegetative Seele haben, weil sie sich ernähren und wachsen können.242 „Soll ich dich vielleicht zu den Anhängern von Demokritos, Gerolamo Cardano und Paracelsus („Theophrasti 239

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De auro, S. 39. Das gleiche Zitat mit einer eingehenden Erläuterung ist auch von Guetta, „ Avraham Portaleone, le scientifique repenti", S. 217 angeführt worden. De auro, S. 29-30. Siehe dazu Guetta, „Avraham Portaleone, le scientifique repenti", S. 220. Portaleone legt durch Achryuasmus den alten (siehe zum Beispiel Plinius, Naturalis historia XXXVII,10,59 § 163) und noch zu seiner Zeit von Frar^ois de la Rue überlieferten Glauben dar, daß Edelsteine und Mineralien lebendig seien und sich vermehren können. Diese Tradition gibt Portaleone auch in den Shilte ha-gibborim (Kap. 46a-b) wieder. Die Wunderkraft der Diamanten, Ebenbilder zu erzeugen, erklärt Portaleone dort als eine Verhärtung der Luft durch den Willen des Herrn.

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Chimiä sectatores") zählen?", fragt ironisch Dynachrysus. Die Steine wachsen nicht, weil sie sich ernähren, erklärt er. Dies sei ein MißVerständnis. Denn nicht in einer inneren Ursache liegt ihr Wachstum, sondern in einer äußeren, nämlich durch eine Nebeneinandersetzung ihrer Bestandteile, so daß man eigentlich nicht von Ernährung, die eine vegetative Seele voraussetzt, sprechen sollte, sondern von Hinzufügung.243 Auch gegenüber der auctoritas alter, berühmter Autoren ist die eigene Erfahrung überlegen. Wenn ihre Behauptungen durch die Erfahrung nicht bewiesen werden können, sollen sie rücksichtslos verworfen werden. Nicht einmal Plinius bleibt verschont. D. Wisse, neugieriger Achryuasmus, daß es viele Autoren gibt, die das Gold preisen, und daß ich zahlreiche Schriftsteller gelesen habe, die einstimmig die Kraft dieses Metalls hoch loben und sich nicht schämen, es anzuwenden, aber keiner, soweit ich weiß, ist verwegener als Plinius. Er hat das, was du fragst [nämlich ob das Gold irgendwelche Wirkung hat], uns schriftlich hinterlassen. Seine Worte im 4. Kapitel des 33. Buches der Naturalis historia lauten wie folgt: „Das Gold besitzt verschiedene therapeutische Wirkungen. Es wird auf Verletzte und Kinder angewandt, um die Schäden der Vergiftungen zu mindern. Es hat eine unheilvolle Kraft, wenn es auf dem Kopf getragen wird. Es wird als Heilmittel für Küken und kleine Lämmer angewandt, indem man diejenigen, die man heilen möchte, damit wäscht und es auf sie streut." Bis hier Plinius. A. Und du? Was sagst du? Glaubst du ihm etwa nicht? D. Ich merke, daß du erwartest, daß ich mich kaum traue, die Behauptungen des Plinius zu verleugnen. A. Ach! Würdest du etwa einen solchen Mann widerlegen?! D. Sehr wohl! A. Und aus welchem Grund? D. Weil er vieles angenommen hat, das zu überprüfen war.244

Gleiche Kritik bleibt nicht einmal Averroes erspart. Im 5. Buch, Kapitel 24 des Colliget (so die lateinische Wiedergabe des Werkes des Averroes Kitab alkulliyyat) behauptet er, daß Straußvögel Gold fressen und es verdauen können. Dynachrysus hat jedoch erfolglos probiert, Straußvögeln Eisenstücke zum

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De auro, S. 52-54: „D. Adverte ο Achryuasme, quod lapides omnes, et metalla, aequivoce nutriuntur, et aequivoce augmentantur. Nam ab intrinseco numquam principio, sed ab extrinseco tantum augescunt, et per iuxta positionem partium increscunt, ita quod, nec vera nutritio, nec propria auctio, sed additio potius censeri debet; unde mixta praedicta penitus carere anima, perhibemus." Ibid., S. 74.

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Fressen zu geben, so daß er die Behauptung des Averroes mit großem Entsetzen von Achryuasmus für falsch hält.245 Das naive Festhalten an der Lehre der Antike und das Zögern des Achryuasmus, ihre allgemein angenommenen Meinungen zu widerlegen, aus Angst, fast orientierungslos zu bleiben, erinnern an eine andere, sehr viel berühmtere literarische Figur, nämlich an den Aristoteliker Simplicio von Galilei (1564-1642). Gegenüber der vernichtenden Kritik, die Salviati und Sagredo, die Widersacher von Simplicio, gegen jene Philosophen führen, die auch gegen die offenkundigen Angaben der Erfahrung der aristotelischen Lehre blind folgen, fühlt sich Simplicio wie verloren und fragt verzweifelt, welchen anderen Autor als Anführer man nehmen solle.246 Einzige Anführer sind unsere Augen, antwortet Salviati dem armen Simplicio.247 In der Naturforschung gelten für Galilei nur das direkte, gezielte Experimentieren und das eigene Urteilsvermögen gegen jede Autorität und Dogmatismus. Sinnlos ist es für Galilei, sich auf die Antike als Zeugen für etwas zu berufen, das wir selbst in jedem Moment erfahren können. Vielmehr ist es sogar eine Sünde, die Sinne und das Urteilsvermögen, das uns Gott gegeben hat, nicht zu nutzen.248 245

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Ibid., S. 130: „D. De hac ave dicitur, quod ferrum comedat, et digerat, sed ego non sum expertus, quia ferrum a me pluribus struthionibus obiectum, comedere noluerunt, ita ut etiam Averroem falsa sentire, suspicandum esset." A. Heu, quid ais? falsa credere? Summum philosophum demonstrationibusque assuetum, talia scribere sibi inexperta proponis? D. Et quid ni? Si istis praesertim (ut aiunt) subligacula cadunt? etc." Das Experiment, das Dynachrysus angeblich durchgeführt hat, ist in Wirklichkeit ein Zitat aus dem De Mineralibus (S. 645) des Albertus Magnus: „De hac ave dicitur, quod ferrum comedat et digerat: sed ego non sum hoc expertus: quia ferrum a me pluribus struthionibus obiectum comedere noluerunt." Galileo Galilei, Dvdogo [...] sopra i due massimi sistemi del mondo Tolemaico e Copernicano, Firenze 1632, in: Le apere di Galileo Galilei, Edizione nazionale, 20 Bde., Firenze 18901909: Bd. 7, S. 138: „Ma quando si lasci Aristotile, chi ne ha da essere scorta nella filosofia? Nominate voi qualche autore." Ibid.: „Ci e bisogno di scorta ne i paesi incogniti e selvaggi, ma ne i luoghi aperti e piani i ciechi solamente hanno bisogno di guida; e chi e tale, e ben che si resti in casa, ma chi ha gli occhi nella fronte e nella mente, di quelli si ha da servire per iscorta." Id., Π Saggiatore (1623), in: Le opere di Galileo Galilei, Edizione nazionale, Bd. 6, S. 339341: „Io non posso non ritornare a meravigliarmi, che pur il Sarsi voglia persistere a provarmi per via di testimonii quello ch' io posso ad ogn' ora veder per via d' esperienze. [...] e mentre il Sarsi dice, non volere esser di quelli che facciano un tal affronto ad uomini sapienti, di contradire e non credere a i lor detti, ed io dico, non voler esser di quelli cosi sconoscenti ed ingrati verso la natura e Dio, che avendomi dato sensi e discorso, io voglia pospor si gran doni alle fallacie d' un uomo, ed alla cieca e balordamente creder ciö ch' io sento dire, e far serva la libertä del mio intelletto a chi puö cosi bene errare come me."

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Doch ist auch Galilei wie Portaleone bewußt, daß gewisse, unpassierbare Grenzen der menschlichen Erkenntnis gesetzt sind. Im Brief an Marcus Welser über die Sonnenflecken (vom 1. Dezember 1612) rechtfertigt Galilei seine Forschungen von so weit entfernten Dingen, indem er jede theoretische Spekulation zurückgestellt hat. Denn er glaubt nicht, daß man das Wesen der natürlichen Dinge, egal ob sie uns nah oder fern sind, kennenlernen kann. Der Mensch kann nur einige ihrer Wirkungen wahrnehmen: Wir dürfen uns aber meines Erachtens von der Beobachtung der Dinge nicht völlig ablenken lassen, obwohl sie von uns sehr fern sind, wenn wir nicht bereits festgestellt hätten, daß es eine vortreffliche Entscheidung ist, allen unseren Beschäftigungen jedwede theoretische Überlegung nachzustellen. Denn entweder möchten wir durch die Spekulation versuchen, das wahre und innere Wesen der natürlichen Substanzen zu ergründen; oder wir wollen uns damit zufriedengeben, einige ihrer Eigenschaften kennenzulernen. Versuchen, ihr Wesen zu ergründen, halte ich für ein unmögliches Unterfangen und für eine vergebliche Anstrengung sowohl bei den unmittelbaren Elementarsubstanzen als auch bei den fernliegenden, himmlischen [Substanzen]: und mir scheint, daß die Substanz der Erde sowie des Mondes, der einfachen Wolken sowie der Sonnenflecken unbekannt bleibt; und ich sehe auch nicht, daß wir aus der Kenntnis dieser [uns] naheliegenden Substanzen einen anderen Vorteil ziehen können als eine Anhäufung von Einzelheiten, die dennoch alle gleich unbekannt sind, durch die wir umherirren und von einer Einzelheit auf die nächste mit einem sehr geringen oder sogar mit keinem Verdienst übergehen.249 Diese Parallelen zwischen Galilei und Portaleone bezeugen nicht unbedingt, daß Galilei Portaleones De auro kannte. 250 Beide haben aber eine gemeinsame Grundlage, nämlich den Naturalismus der Renaissance, der von den magischalchimistischen Anfängen von Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535), 249

„Ma non perö doviamo, per quel che io stimo, distorci totalmente dalle contemplazioni delle cose, ancor che lontanissime da noi, se giä non avessimo prima determinate, esser ottima resoluzione il posporre ogni atto specolativo a tutte le altre nostre occupazioni. Perche, ο noi vogliamo specolando tentar di penetrar Γ essenza vera ed intrinseca delle sustanze naturali; ο noi vogliamo contentarci di venir in notizia d' alcune loro affezioni. Π tentar Γ essenza, Γ ho per impresa non meno impossibile e per fatica non men vana nelle prossime sustanze elementari che nelle remotissime e celesti: e a me pare essere egualmente ignaro della sustanza della Terra che della Luna, delle nubi elementari che delle macchie del Sole; ne veggo che nell' intender queste sostanze vicine aviamo altro vantaggio che la copia de' particolari, ma tutti egualmente ignoti, per i quali andiamo vagando, trapassando con pochissimo ο niuno acquisto dall' uno all' altro" (A Marco Velsen circa le macchie solari nella quale anco si tratta di Vettere, della Luna e Pianeti Medicei, e si scoprono nuove apparenze di Saturno [1 dicembre 1612], in: he opere di Galileo Galüei, Edizione nazionale, Bd. 5, S. 187).

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Daß Galilei das De auro gekannt haben könnte, ist aber nicht von vornherein auszuschließen, wenn man bedenkt, daß Galilei 1581,17 Jahre alt, an der Universität zu Pisa zuerst begann, Medizin zu studieren.

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Paracelsus (1493-1541), Girolamo Cardano (1501-1576) über die Naturphilosophie von Bernardino Telesio (1509-1588) zur Wissenschaft von Galileo führt. Was Portaleone nut Galilei gemeinsam hat, ist eben die kritische Haltung gegenüber einer dogmatischen Befolgung der Tradition und die Ablehnung einer magischen, beseelten Auffassung der Natur. In Portaleone sind zwar nur noch Ansätze zu erkennen, denn er glaubt immer noch an den Einfluß der Sterne auf die Naturelemente, an eine geheimnisvolle Wechselbeziehung zwischen Makro- und Mikrokosmos, und ist noch unfähig, seine Verteidigung der direkten Erfahrung gegen die Autorität der Antike in eine mechanische, meßbare Auffassung der Natur umzusetzen, wie es Galileo und später Descartes (1596-1650) getan haben. In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich Portaleone von Galilei in der kritischen Prüfung der Tradition. Die Lehre der antiken Autoren soll zwar angenommen werden, solange sie von der täglichen Erfahrung als richtig erwiesen wird, wie zum Beispiel der Einfluß der Sterne auf die Elemente, von dem Ptolemäus, Hermes und die Astrologen sprechen, den man täglich erfährt, so daß man ihnen zustimmen soll.251 Es gibt aber eine Tradition, die für Portaleone auch in De auro unantastbar ist. Dynachrysus, der sich im Laufe der Unterredung als Jude zu erkennen gibt, wird von Achryuasmus gefragt, ob er die alten Autoren für so schwachsinnig hält, die berichtet haben, der Salamander252 würde das Feuer löschen. Dynachrysus, der dies kurz davor bestritten hatte, wirft dennoch seinen zeitgenössischen Autoren, die die Berichte der Antike anzweifeln, vor, frech und übermutig zu sein. Denn der Salamander, den man heute kennt, kann sicher weder im Feuer überleben noch das Feuer löschen, aber man kann nicht bestreiten, daß die Antike eine andere Art von Salamander kannte, die heute ausgestorben ist.253 Denn es gibt mehrere Salamanderarten, erklärt Dynachrysus, nämlich einen Feuersalamander, einen Erdsalamander und einen Wassersalamander. Der Wassersalamander sei jener, den die Alten (Galen, Albertus Magnus) kannten und der auch heute nach starken Regenfällen zu sehen ist. Der Erdsalamander sei eigentlich kein Tier, sondern ein faseriges Mineral oder ein Fossil, von dem es verschiedene Beschreibungen gibt, so wie 251 252

253

Portaleone, De auro, S. 49. Es sei hier nur beiläufig bemerkt, daß der Salamander ein beliebtes ikonologisches Motiv am Hofe der Gonzagas war, das auch in den Fresken von Giulio Romano im Palazzo del Te oft vorkommt. De auro, S. 168-169: „D. Et Iuniores illis [das heißt scriptoribus veteribus], nonne veritati huiusmodi contradicendo, impudentiae criminari potius debent? A. Cur istos culpandos esse proponis, si in igne Salamandra exuritur? D. Salamandram sibi notam, in cinerem verti facile conceditur, sed veteribus cognitas Salamandras, ab igne consumi non est asserendum."

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es auch verschiedenartig vorkommt. Denn Dioskurides, Plinius und Albertus Magnus sprechen von dem „Amiantus", „Asbeston", „Iscustos" und eben von dem „Salamander". Auch Marcus Paulus Venetus (das heißt Marco Polo) 254 hat in seinen Itinerarien davon berichtet. 255 Die Existenz des Feuersalamanders bezeugen Aristoteles und „Iorach Philosophus", 256 die seine Wunderkräfte dergestalt beschrieben haben, daß dieses Tier nämlich durch das Feuer gehen und es löschen kann. Das behaupten auch die Rabbinen („in hac sententia olim nostri fuerunt sapientes") in jenem Traktat über die Feiertage („in ea classe, quae inscribitur de solemnitatibus") 257 Hervorzuheben ist, daß Portaleone vorsichtig den Namen „Talmud" nicht benutzt. Die hier angesprochene talmudische Stelle aus dem Traktat Hagiga („Das Festopfer") über den Salamander bezieht sich auf eine Diskussion zwischen den Rabbinen, ob das Feuer des Fegefeuers den Schriftgelehrten etwas anhaben kann oder nicht. Die Frage wird durch ein Beispiel beantwortet: Wenn über den, der sich mit dem Blute des Salamanders beschmiert, der nur eine Erzeugung des Feuers ist, das Feuer keine Gewalt hat, um wieviel weniger über die Schriftgelehrten, deren ganzer Körper Feuer ist, denn es heißt: mein Wort ist ja wie Feuer, Spruch des Herrn. (Jer 23,29)258 Marco Polo, II Milione. Introduzione, edizione del testo toscano («Ottimo») note illustrative, esegetiche, linguistiche, repertori onomastici e lessicali a cura di Ruggero M. Ruggieri, Firenze 1986, S. 148, Kap. 52: „Chingitalas έ una provincia che ancora e presso il diserto, tra maestro e tramontana; ed e grande sei giornate, ed e del Grande Cane. Quivi hae cittä e castella assai; quivi hae tre generazioni di genti, cioe idoli, che adorano Malcometto, e cristiani nestorini. Quivi ha montagne ove sono buone vene d' acciaio e d' andanico, e in questa montagna e un' altra vena della quale si fa la salamandra. La salamandra non e bestia, come si dice, che viva nel fuoco, che niuno animale puo vivere nel fuoco; ma dirowi come si fa la salamandra. Uno mio compagno, ch' ha nome Zuficar - e uno Turchio - istette in quella contrada per lo Gran Cane signore tre anni; e faceva fare questa salamandra, e disselo a me, ed era persona che ne vidde assai volte, ed io ne viddi delle fatte. Egli e vero che questa vena si cava, e istringesi insieme, e fa fila come di lana. Ε poscia la fa seccare e pestare in grandi mortai di cuoio, poi la fanno lavare, e la terra si cade, quella che ν' e appiccata, e rimangono le fila come di lana. Questa si fila e fassene panno da tovaglie. Fatte le tovaglie, eile sono brune; mettendole nel fuoco diventano bianche; e tutte le volte che sono sucide, si mettono nel fuoco, e diventano bianche come neve. Ε queste sono le salamandre, e Γ altre sono favole." ζ» De auro, S. 169-170.

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Der „Iorach Philosophus" wird von Albertus Magnus in De animalibus (S. 670-671) erwähnt: „Multi autem sequentes Iorach Philosophum dicunt, quod hoc animal vivit in igne: et hoc est falsum." Iorach oder Jorath wird auch von Bartholomaeus Anglicus angeführt. Siehe dazu Thomdike, History of Magic, Bd. II, S. 423. zw De auro, S. 170-171. 258 bHag 27a. Deutsche Übersetzung nach L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, 12 Bde., Berlin 1929-1936 [1966]: Bd. 4, S. 319. 256

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Der Körper des Schriftgelehrten, der sich mit dem täglichen Studium der Torah vom Wort Gottes ernährt, ist wie der Feuersalamander, der entsprechend einer verbreiteten, alten Tradition an jener Stelle entstehen soll, die ununterbrochen sieben Jahre lang geheizt wurde.259 Interessant ist, daß Portaleone die rabbinische Stelle nur als zusätzlichen Beleg anführt, ohne die Worte der Rabbinen wiederzugeben. Es entsteht dadurch ein Sprung im Gedankengang, der für den Leser, der die rabbinische Stelle nicht kennt, die darauffolgende Frage von Achryuasmus schwer verständlich macht. Wie können die Rabbinen behaupten, fragt Achryuasmus weiter, daß das Feuer Tiere erzeugen kann? Das sei gegen die Lehre der Naturphilosophie, wie man bei Averroes lesen kann! Nein, erwidert Dynachrysus, Aristoteles und Plinius bezeugen, daß jedes Element seine ihm passenden Tiere hat, und auch die Rabbinen vertreten die gleiche Meinung.260 Die Wirkung des Salamanders ist darüber hinaus auch in der Bibel bezeugt. Als der Frevler König Achaz, der dem Moloch-Kult verfallen war, ihm seinen Sohn Chizqija im Feuer opfern wollte, rettete ihn seine Mutter, indem sie seinen ganzen Körper mit dem Blut und Fett des Salamanders einschmierte.261 Wie anders verhält sich hier Portaleone mit der Autorität der Antike! Die guten und glaubwürdigen Autoren sind diejenigen, die mit der jüdischen Tradition übereinstimmen. So wird auf einmal Plinius, der einige Seiten davor kritisiert wurde, als „vir bonus" gelobt, und gegenüber Averroes sei Plinius wie ein edles Pferd im Vergleich zu einem bescheidenen Esel! Den Worten des

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Siehe dazu den Rashi-Kommentar zur angeführten talmudischen Stelle. De auro, S. 171: „D. cuicunque elemento animalia propria assignantur, ut sapientes nostri perhibent, in classe, quae inscribitur de Sanctitatibus, sectione de Prophanis, capitulo ,Cutis et Jusculum' [=mHul IX,1]. A. At Philosophi naturales, penitus hoc negarent. D. Aberras Achryuasme, nam et Aristoteles loco praeallegato [= De historia animalium V,19] id scripsit, et tenet, unde Plinius libro undecimo, capitulo 36 Aristotelis fere verba traducens, ait, ,gignit aliqua et contrarium naturae elementum etc.'" Die in diesem Zusammenhang dazu passende Stelle des von Portaleone erwähnten talmudischen Traktates Hullin befindet sich in bHul 127a: „Wenn R. Aqiba an diesen Schriftvers [Lev 11,29] herankam, sprach er: Wie groß sind deine Werke, ο Herr! (Ps 104,24) Du hast Geschöpfe, die im Meer gedeihen, und du hast Geschöpfe, die auf dem Festlande gedeihen; wenn die des Meeres aufs Festland heraufkämen, sie würden sofort verenden, und wenn die des Festlandes ins Meer hinabstiegen, sie würden sofort verenden. Du hast Geschöpfe, die im Feuer gedeihen, und du hast Geschöpfe, die in der Luft gedeihen; wenn die des Feuers in die Luft kämen, sie würden sofort verenden, und wenn die der Luft ins Feuer kämen, sie würden sofort verenden. Wie groß sind deine Werke, ο Herr!" Deutsche Übersetzung nach L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Bd. 11, S. 389. De auro, S. 172. Die unerwähnte Quelle, auf die sich Portaleone bezieht, ist der talmudische Traktat Sanhedrin (bSan 63b).

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Plinius könne man ohne weiteres Glauben schenken; um an die Worte von Averroes zu glauben, solle man von ihm einen Schwur verlangen.262 Die kritische Einstellung gegenüber der „Auctoritas" der Antike findet für Portaleone einen Halt vor der jüdischen Tradition. Um die Behauptungen der Rabbinen zu retten und von jeder Einwendung zu schützen, greift Portaleone zu allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Er sucht sich jene Autoren aus, mit denen er die rabbinische Tradition untermauern kann, andere dagegen werden abgewertet oder ignoriert. So wird zum Beispiel Albertus Magnus, einer seiner meist erwähnten und geschätzten Autoren auch in den Shilte hagibborim, im Fall des Salamanders bei der Besprechimg über die Wirkungen des Salamanders stillschweigend ausgelassen. Vor den Worten der Rabbinen zählt keine Angabe der Erfahrung mehr! Gegenüber offensichtlichen Tatsachen, die unbestritten zu sein scheinen, stellt Portaleone eine gewagte Theorie auf: Was heute nicht gilt, muß nicht unbedingt auch auf die Vergangenheit übertragen werden, weil wir davon keine direkte Erfahrung haben. Daher müssen wir uns nur auf zuverlässige Zeugen verlassen und ihnen glauben. Dieser Aspekt des De auro steht in den Shilte ha-gibborim im Vordergrund und bestimmt die gesamte intellektuelle Struktur des Werkes.263 Die Bedeutung, die Portaleone der Erfahrung und dem Experiment in De auro beigemessen hat, bleibt auch in den Shilte ha-gibborim weiter bestehen. Die Beschreibimg der Wunderkräfte der Tiere in Kapitel 50 wird von folgenden Worten eingeleitet: Wie wir die Wirkungen aller Dinge, die durch den Willen des H(errn) in den zusammengesetzten [Dingen] vorhanden sind, wenn sie aus den vier Elementen und aus ihrer durch Kälte und Wärme, Feuchtigkeit und Trockenheit 262

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Ibid., S. 174-175: „D. Vis forsan ut Plinius philosopho secundi ,colligef copulatus currum trahat? Non bene conveniunt: equum enim et asinum simul iungere, nefas est; quippe Averroes ut credat, iuramento eget, Plinio vero sufficit simplex verbum." Anderer Meinung ist Guetta in dem schon erwähnten Aufsatz „Avraham Portaleone, le scientifique repenti". Er zieht eine klare Trennlinie zwischen dem lateinischen und dem hebräischen Werk Portaleones. In De auro ist Portaleone für Guetta „un rationaliste, qui se passe totalement du religieux" (S. 220). Das scheint mir zu radikal zu sein. In De auro schränkt Portaleone zwar deutlich den Kompetenzbereich der menschlichen Kenntnisse auf die Naturforschung ein, die von den metaphysischen und theologischen Spekulationen deutlich getrennt bleibt, aber vor der jüdischen Tradition ist Portaleone ein genauso kompromißloser Verteidiger wie in den Shilte ha-gibborim. Ich stimme mit Guetta überein, daß die Shilte ha-gibborim ein „projet ,intigriste"' (S. 226) sind, in dem Sinne, daß die profanen Wissenschaften der Religion, das heißt der Tradition, untergeordnet werden, aber die Ansätze sind schon in De auro zu erkennen. Es ist meiner Ansicht nach mehr eine Frage von Gleichgewicht zwischen profanem Wissen und Tradition. Während in De auro die Forschung und das Wissen an und für sich gut sind, wird das Wissen in den Shilte ha-gibborim nur auf den Glauben und auf die Stärkung der rabbinischen Tradition hin ausgerichtet.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones was man als primäre und sekundäre Qualitäten bezeichnet - entstehenden Mischung zustande kommen, durch die Beweisführungen des Verstandes erkennen, der von IHM selbst, er sei gepriesen!, herausströmt auf uns, und auf denen insbesondere die Grundlagen der medizinischen Wissenschaft gegründet sind, wie jedem bekannt ist, so erkennen wir von dem Zusammengesetzten ihre Eigenheit, das heißt ihre spezifische Form und besondere Natur, nur durch einfache Erfahrungen und nicht durch theoretische Kenntnis der Naturwissenschaften, und in ihnen gibt es nicht mehr Wissen für den Arzt als für alle anderen Menschen.264

Er beschreibt Experimente, die er selbst durchgeführt hat, um die biblischen und talmudischen Angaben von den Trocken- und Flüssigkeitsmaßen besser verstehen zu können.265 Die Erfahrung aber bleibt nur auf die Gegenwart beschränkt, und die Schlüsse, die man heute aus einer direkten Erfahrung ziehen kann, darf man nicht auf die Vergangenheit übertragen und anzweifeln, was die alten Weisen entsprechend ihren Erfahrungen tradiert haben. Diese Denkweise Portaleones ist in seiner Erläuterung der Zubereitung des Weins für die Libationen deutlich formuliert. Im Talmud (bMen 86b-87a) wird gesagt, daß das Sprechen bei der Bearbeitung des Weines schädlich ist. Beim Anzapfen des Weins klopfte der Schatzmeister, der mit einem Meßstab den Stand des Weins prüfte, an den Bottich, um dem anderen, der den Wein abzapfte, anzudeuten, mit dem Abfüllen aufzuhören, damit die Hefe nicht in den reinen Wein einfließe und ihn trübe. Es ist Portaleone klar, daß das Klopfen eigentlich sehr viel schädlicher ist als das Sprechen, weil der Bodensatz durch die Erschütterung hochgetrieben wird. Er sucht eine logische Erklärung für dieses Vorgehen. Vielleicht klopfte der Schatzmeister, anstatt zu sprechen, weil es schneller ging, vermutet Portaleone. Seine Erklärung scheint ihm selbst ziemlich dürftig zu sein, und er erläutert weiter: Wenn wir aber sagen, daß unsere Meister meinten, das Sprechen an und für sich schade dem Wein, selbst wenn wir nicht wissen, daß es entsprechend dem offensichtlichen Vernunftgrund oder gestützt auf eine natürliche Untersuchung so ist, dürfen wir nicht über ihre Worte spotten, weil unsere Meister, ihr Andenken zum Segen, nichts geschrieben haben, was sie entweder aufgrund der Wissenschaft oder der Erfahrung oder der Tradition nicht kannten, bevor sie es uns tradierten. Und wir dürfen nicht immer die Urteile der Forschung kritisch hinterfragen, weil auch ihre Weisen in ihren Büchern oft so und so sprechen und wir zu allen gesagt haben: „Sie sind Toren!" Doch die Erfahrung beweist, daß ihre Worte richtig sind. Seht zum Beispiel, was Galen im Buch „Über den Nutzen des Atems" im 4. Kapitel, Buch 6, von den Stellen des Körpers gesagt hat, die dazu bestimmt sind, weiterhin auch im Buch „Über die Ursachen der Krankheiten", daß der betäubende Fisch, auf griechisch

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Shüte ha-gibborim, S. 51b. Ibid., Kap. 72, S. 74a, Kap. 88, S. 94b.

Erfahrung und Glauben

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narkds genannt, mit kaf mit dagesch, und auf lateinisch torpedo, was stupore in der „römischen" Sprache und in unserer Sprache radurri266 bedeutet, wenn er mit dem Angelhaken gefangen wird und der Angelhaken sich in seinem Maul hochzieht oder an seinen Schuppen haftet, betäubt er die Hand des Fischers, denn die Kraft des radurn läuft durch den Angelhaken oder durch die Schnur oder durch das Seil an ihm267 und an der Angelrute, die der Fischer hält, so daß die Betäubung bis zu seiner Hand und zu seinem Arm strömt. Wenn du Galen nach der Ursache fragst: Warum und weshalb die Rute, die Schnur und der Haken, die kein Gefühl haben und nicht einschlafen, wenn sie von der Kraft des betäubenden Fisches getroffen werden, weder wegen ihres Stoffes noch ihrer Substanz den radum bis zur Hand des Fischers leiten, wird er dir antworten: Dies ist verwunderlich, aber die Erfahrung beweist, daß es so ist. Sucht also auch nicht eine logische Erklärung in den Worten unserer Weisen, ihr Andenken zum Segen, die gesagt haben, daß das Sprechen dem Wein schadet, sondern gebt euch mit jener Erfahrung zufrieden, die sie vor langer Zeit gemacht haben.268 Die eigene Erfahrung hat eine subjektive Bedeutung und erlaubt nicht, die Erfahrungen von anderen in Frage zu stellen. Das gilt vor allem für die Erfahrungen, die uns die alten Weisen tradiert haben und nicht immer leicht zu erklären sind. Es wäre eine Anmaßung, ihre Worte anzuzweifeln. Einen ähnlichen Gedankengang findet man bei Rabbi Low, dem Maharal von Prag, in seinem Bestreben, Wissenschaft und Bibel zu harmonisieren. Angesichts der neuen astronomischen Entdeckungen, die das ptolemäische System und die biblische Erzählung von Josua widerlegen, deutet er die biblischen Ereignisse folgendermaßen: Es ist möglich, daß die Sonne ihre übliche Bahn verfolgt hat, während sie gleichzeitig wegen des Wunders der Himmel stillstand. Denn es ist für ein Subjekt möglich, zwei entgegengesetzte Zustände aus unterschiedlichen Perspektiven zu erleben: der natürlichen und der übernatürlichen. Für Josua, der das Mirakel benötigte, stand die Sonne am Himmel still, während für den Rest der Welt, der das Mirakel nicht benötigte, sie den üblichen Kreis verfolgte (|Gevurotha-Shem, 15-16).26» Es ist eine Frage der Perspektive: Josua und der Rest der Welt haben beide eine ganz persönliche Erfahrung mit der Sonne in demselben Moment gemacht, und jede der zwei Erfahrungen ist gültig und gleichwertig. 266 267 268 269

„betäubt". Dem Angelhaken. Ibid., Kap. 75, S. 77a. Erwähnt in diesem Kontext von Ruderman, Jewish Thought, S. 79. Deutsche Übersetzung zitiert nach G. Veltri, „Jüdische Einstellung zu den Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert: Das Prinzip der praktisch-empirischen Anwendbarkeit", in: G. Biegel/M. Graetz (Hrsg.), Judentum zwischen Tradition und Moderne (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 2), Heidelberg 2002, S. 149-159.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Wie für Portaleone ist auch für Rabbi Low die jüdische Tradition unantastbar und darf nicht von den profanen Wissenschaften angezweifelt werden. Denn sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Offenbarung Gottes auf dem Sinai. Alles ist bereits im Wort Gottes enthalten, das ausschließlich dem jüdischen Volk bei der Erwählung in der zweifachen Fassung der schriftlichen Torah und der mündlichen Tradition, das heißt der rabbinischen Lehre, überliefert wurde. Auch nur einen Teil davon in Frage zu stellen, wie Azariah de' Rossi mit seiner Unterscheidung zwischen den „wesentlichen" und den „nebensächlichen" Aspekten getan hat,270 würde das gesamte System der Tradition zerbrechen. Wenn es scheint, daß die Worte der Weisen mit den profanen Wissenschaften im Widerspruch stehen oder der Vernunft nicht entsprechen, so ist es, weil wir sie aufgrund unserer Sünde nicht mehr richtig verstehen. Die ursprüngliche Vollkommenheit der Weisheit ist im Laufe der Zeit nach dem Sündenfall verdorben worden, und man muß sich jetzt bemühen, sie wiederherzustellen.271 Diese Auffassung hatte schon Messer Leon entsprechend einer alten jüdischen Denkweise in seinem Nofet ha-suphim vertreten, und damit hatte er seine Analyse des biblischen Textes nach den Regeln der Rhetorik begründet.272 Mit den Shilte ha-gibborim hat Portaleone das bemerkenswerte Unterfangen realisiert, die Naturwissenschaften in die Tradition zu integrieren, deren archi-

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Siehe Veltri, „Azaria de' Rossis Kritik an Philo von Alexandrien", in: Gegenwart der Tradition, S. 300-304; id., „Zur jüdischen und christlichen Wertung der Aggada", in: ibid., S. 276-281. Veltri, „Zur jüdischen und christlichen Wertung", S. 279-280. I. Rabinowitz, The Book of the Honeycomb's Flow. Sepher Nophet Suphim, Ithaca 1983, S. 143-147: „Am Fuße des Sinai krönte uns Gott mit der Torah in ihrer ganzen Vollkommenheit. Sie umfaßte alle Wissenschaften, nämlich die Naturwissenschaften, die Logik, die Theologie, die Rechts- und Politikwissenschaft, mit denen die ganze Welt ihren Durst löschte [...]. Wir lernten alle Wissenschaften und Entdeckungen des Menschen durch seine heilige Torah kennen, denn alles ist entweder offensichtlich oder verborgen in ihr enthalten [...]. Nur später, aufgrund unserer Sünde, wurde uns die Gegenwart Gottes entzogen: Die Prophetie hörte auf, und es verschwand das Wissen unserer Weisen, und wir konnten nicht mehr die Torah in ihrer ganzen Vollkommenheit begreifen. Es ist unsere Schuld, wenn der Lernprozeß jetzt umgekehrt ist: nur nachdem wir alle Wissenschaften bzw. Teile von ihnen gelernt haben, öffnen sich unsere Augen, und wir nehmen wahr, daß alles bereits in der Torah ist. Wir wundern uns dann. Wie konnte es sein, daß wir es nicht von vornherein wahrgenommen haben? Das ist schon oft passiert! Das ist auch im Fall der Rhetorik geschehen!" Siehe auch R. Bonfil, „II libro di Judah Messer Leon: la dimensione retorica dell' Umanesimo ebraico in Italia nel XV secolo", in: Tra due mondi Cultura ebraica e cultura cristiana nel Medioevo, Napoli 19%, S. 273-287: 283; siehe hierzu auch H. Liss, "Ars Rhetorica als Peshat? Jüdische Bibelauslegung in der Renaissance am Beispiel von Juda Messer Leon und Asaria de Rossi", in: Trumah 9 (2000), S. 103-124.

Zusammenfassung

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tektonische Verkörperung der salomonische Tempel darstellt. Die Unterredung zwischen Dynachrysus und Achryuasmus wird in den „Musei penetralibus", das heißt in dem „Studiolo" oder in der „Kunstkammer",273 von Dynachrysus mitten unter Büchern und alchimistischen Gerätschaften (auf-)geführt. Die Erörterung der Naturwissenschaften erfolgt hingegen in den Shilte ha-gibborim in den Innenräumen des Tempels, der „Kunstkammer" Gottes, wo das in seinen Worten verborgene Wissen vor den Augen des Lesers aufgeführt wird.

8. Zusammenfassung Die Shilte ha-gibborim sind ein einzigartiges Werk in der jüdischen Literatur des 16.-17. Jahrhunderts, das aus einer tief religiösen Weltanschauung ihres Autors entstanden ist. Der erste Teil, der in 90 Kapiteln die Tempelanlage, seine Ausstattung und die Kultverrichtung zusammen mit den wissenschaftlichen Abhandlungen beschreibt, steht in engem Zusammenhang mit den drei folgenden „Schilden", die Gebete und Auszüge aus der Bibel und aus den rabbinischen und kabbalistischen Schriften enthalten. Die sehr präzise durchgeführte Rekonstruktion des Tempels und der Kultausführung zielt darauf ab, den Betenden in die Lage zu versetzen, sich gewissermaßen im Tempel vereint mit den Dienst verrichtenden Priestern zu fühlen. Die minuziöse Beschreibung des Tempels erfolgt durch die Gegenüberstellung der biblischen und talmudischen Quellen mit den rabbinischen Kommentaren, die Portaleone trotz der respektvoll klingenden Beteuerungen, den alten Meistern nicht widersprechen zu wollen, kritisch auswertet. Völlig unberücksichtigt bleiben dagegen die Tempelbeschreibungen von Josephus Flavius und die allegorische Interpretation von Philo von Alexandrien. Trotz seiner kritischen Bemerkungen bleibt Portaleone der rabbinischen Tradition treu. Seine Tempelbeschreibung würde sich insofern nicht wesentlich von anderen rabbinischen Kommentaren zu Middot, dem mischnischen Traktat über den Tempel, unterscheiden, wenn Portaleone in den religiösen Kontext des Tempels nicht auch wissenschaftliche Abhandlungen eingefügt hätte. Hierin liegt die Einzigartigkeit seines Werkes, das in der jüdischen Literatur seinesgleichen nicht hat. Unter den früheren enzyklopädischen Traktaten weist nur der Miqdash me'at („der kleine Tempel") des Mose da Rieti einige mit dem Werk Portaleones vergleichende Ansätze auf. Das Lehrgedicht des Mose 273

De auro, S. 89. Man kann „Museum" auch als „Bibliothek" übersetzen (so Guetta, „Avraham Portaleone, le scientifique repenti", S. 221, der eine französische Übersetzung dieser Stelle anführt), aber man bedenke, wie die Bibliothek eines Gelehrten im 16.-17. Jahrhundert aussah: eine Sammlung von Büchern, Kunstobjekten und Naturerzeugnissen entsprechend der Beschreibung des Museums von Quiccheberg.

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

da Rieti ist das erste Beispiel in der jüdischen Literatur, wie profane Wissenschaften mit der jüdischen Tradition unter Bezugnahme auf den salomonischen Tempel vereinbart werden. Die Behandlung von Physik, Metaphysik und Ethik, die auch Politik einschließt, wird mit der dreifachen Einteilung des Tempels in „Ulam" (= Vorhalle), „Hekhal" (= Tempelhalle) und „Devir" (= Allerheiligstes) in Verbindimg gebracht. Dennoch verwendet Mose da Rieti die Bezugnahme auf den Tempel nur als literarische Fiktion, ohne sich wie Portaleone um eine historische Rekonstruktion anhand der rabbinischen Quellen zu bemühen. Portaleone erwähnt weder Μοβέ da Rieti, noch lassen sich direkte Einflüsse des Miqdash me'at auf die Shilte ha-gibborim nachweisen. Doch eine ideelle Verbindung zwischen beiden Werken besteht in ihrer ähnlichen literarischen Form, das heißt in der Behandlung und in der Einordnung wissenschaftlicher Themen in die architektonische Struktur des Tempels. Der Ursprung dieser literarischen Gestaltung liegt außerhalb der jüdischen Tradition. Beide Autoren berufen sich auf kulturelle Modelle aus ihrem zeitgenössischen christlichen Umfeld. Mose da Rieti nimmt Dante als Vorbild, und Portaleones Erläuterimg von Wissenschaften und Techniken innerhalb der Beschreibung des Tempels entspricht der Vorliebe der Spätrenaissance für die Darstellung wissenschaftlich-philosophischer Themen innerhalb eines architektonischen Bauwerks. Dantes Dwina Commedia, und folglich der Miqdash Me'at des Mose da Rieti, sowie die literarische Form der Shilte ha-gibborim finden ihre gemeinsame Grundlage in der Mnemotechnik der klassischen Rhetorik, die für lange Zeit die Bildung und die Gestaltung der Kultur bestimmte. Wegen der Erweiterung der Kenntnisse wurde das traditionelle Bildungssystem des Triviums und des Quadriviums als unzulänglich empfunden. Man brauchte ein neues Ordnungssystem, um das gesamte Spektrum der menschlichen Erfahrung abzudecken. Das neue Modell sollte aber einen allumfassenden, universalen Kompetenzanspruch auf eine metaphysische Wahrheit haben. Das Modell sollte nämlich ermöglichen, die Grundelemente des menschlichen Erkenntnisprozesses so einzuordnen, daß die innere Struktur des Kosmos ersichtlich wird. Ein solches Modell wurde durch Lullus und Ramus in der Topik gefunden. Sie lösten die Orte der Mnemotechnik aus dem Bereich der Rhetorik heraus und nahmen sie, als Begriffe gefaßt und nach einer gedanklichen und sachlichen Hierarchie geordnet, in die Dialektik auf. Das topische Modell von Ramus wird einen entscheidenden Einfluß auf die pansophischen Modelle des 17. Jahrhunderts ausüben. Die ramistische Umdeutung der mnemonischen Orte in dialektische Begriffe bedeutet gleichzeitig die Ablehnung der imagines agentes der Rhetorik, die in der abstrakten Ordnung der Dialektik keine Funktion mehr haben. Doch auch Ramus konnte auf die visuelle Kraft der Bilder nicht völlig verzichten, um sein System zu erläutern. Die Darstellung der topoi durch Diagramme und Schemata, die Dispositionsbäume der

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Dichotomien haben eine sinnliche Valenz, die für die Strukturierung des Wissens im 16.-17. Jahrhundert von wesentlicher Bedeutung sein wird. Im 16. Jahrhundert fand das lullistische System wegen seiner Ansprüche, die Grundprinzipien der kosmischen Ordnung zu erschließen, in den von Hermetismus, Neuplatonismus und Kabbala geprägten Kreisen neue Resonanz. Der Lullismus wurde aber entsprechend dem klassischen Geschmack der Zeit mit der „ ciceronianischen" Gedächtniskunst vereinbart. Eine der auffallenden Konsequenzen war die Aufwertung der Bilder der klassischen Rhetorik. Aus der Zusammenstellung von klassischer Mnemonik und Lullismus mit hermetischen und kabbalistischen Elementen rührt das enzyklopädische Projekt des Giulio Camillo her. Sein Leben lang arbeitete Camillo an dem Entwurf eines Theaters des Universalgedächtnisses, in dem das gesamte Wissen und die kosmologische Ordnung schauspielartig vor den Augen des Zuschauers aufgeführt werden sollte. Das Theater von Camillo war reichlich mit Bildern geschmückt, die die Korrelation zwischen den Rhythmen und Gesetzen der Redekunst und der Harmonie des Universums sinnlich erfaßbar darstellten. Camillo erweckte mit seinem Theater das Interesse und die Bewunderung seiner Zeitgenossen, aber im 18. Jahrhundert war es schon in Vergessenheit geraten. Obwohl das enzyklopädische Projekt Camillos unvollendet blieb, stellen seine Theorien ein wichtiges Moment in der Entwicklungsgeschichte der Topik dar. Camillo versetzte das Bildersystem, das die klassische Mnemonik in einem imaginären Gebäude im Gedächtnisvermögen aufzustellen gelehrt hatte, in das konkrete, reelle Bauwerk seines Theaters. Das imaginäre Bauwerk der klassischen Mnemonik mit den symbolhaften Bildern, die auf Begriffe, Worte und Dinge hindeuten, nimmt eine konkrete Gestalt an, und die mnemonische Bildersammlung wird in dem begrenzten Raum des Theaters aufgestellt und eingeordnet. Da die Bilder zugleich auf die Grundprinzipien des Kosmos verweisen, wird die Grundstruktur des Kosmos selbst im Raum des Theaters rekonstruiert und schauspielartig aufgeführt. Dieser Übergang von den ideellen Räumen des Gedächtnisses auf konkrete architektonische Konstruktionen wurde übrigens auch dadurch begünstigt, daß das Gedächtnis selbst mit seinen Gedächtnisorten, als „Behälter" der Erinnerungsbilder, schon vor Camillo in räumlichen Dimensionen aufgefaßt wurde. Aus den loci memoriae und aus den imagines agentes entstand die Tendenz, nach archtitektonischen Motiven das Wissen darzustellen oder es in reellen Räumen („Studioli", „Kunstkammern") aufzuführen. Das Wissen bekam aber eine sakrale Bedeutung. Denn seine Ausführung sollte die Innenstruktur des Kosmos und die geheimnisvolle Vernetzung von Analogien und Korrespondenzen entschlüsseln, aus denen die Universalharmonie der Schöpfung hervorgeht. Die Metapher des Theaters wurde allmählich durch die Metapher des Tempels ersetzt. Insbesondere wurde der salomonische Tempel wegen der

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

Vielseitigkeit seiner allegorischen Bedeutungen zum beliebten architektonischen Motiv für die Darstellung des Wissens entsprechend einer vertrauten theologischen Weltanschauung, die durch die neuen Entdeckungen und Erkenntnisse in eine Krise geraten war. In den virtuellen architektonischen Gebäuden der mnemonisch-enzyklopädischen Traktate oder in den reellen Räumen der Studierzimmer und der Kunstkammern versuchte man jene Weltordnung zu rekonstruieren, die durch politische, religiöse und wirtschaftliche Umwälzungen gründlich verändert wurde, indem die neuen Erkenntnisse und Entdeckungen der traditionellen Weltanschauung angepaßt wurden. Dafür war der salomonische Tempel das ideale Bauwerk. Da sein Entwurf in der Bibel Gott selbst zugeschrieben wird, wurde der Tempel als vollkommenes Kunstwerk betrachtet, in dem der göttliche Architekt die kosmologischen Proportionen und die Ordnung der Schöpfung nachgebildet hatte. In dieser Universalordnung ist auch die Sozialstruktur und das politische Leben mit einbezogen. Eben zur Zeit der Gegenreformation war der Tempel ein sehr verbreitetes Motiv, das gern und oft benutzt wurde, um die religiöse Auffassimg des Wissens und das Ideal einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft darzustellen. Von diesen Vorstellungen sind der Baukomplex des Escorial und die Tempelrekonstruktion des Jesuiten Villalpando inspiriert worden. Auf die Metapher des salomonischen Tempels berufen sich auch die pansophischen Systeme des 17. Jahrhunderts. Angesichts der andauernden religiösen und politischen Auseinandersetzungen und der tiefen moralischen Krise dieser Zeit versuchten katholische sowie protestantische Theologen und Philosophen, durch eine Reform der Kultur und der Bildung eine Erneuerung der Gesellschaft zu bewirken. Sie betrachteten ihre enzyklopädischen Unternehmungen als eine prophetische Aufgabe und ihre pansophischen Konstruktionen als ein sakrales Bauwerk, die oft unter direkter Bezugnahme auf den salomonischen Tempel wie bei Leon de Saint Jean und Comenius vorgestellt wurden. Das ist das kulturelle Umfeld, in dem Portaleone lebte, und daraufhin soll sein Werk ausgewertet werden. In seiner Lebensbeschreibung führt Portaleone, wie bereits erwähnt, die schwere Krankheit, die ihn in seinen letzten Lebensjahren traf, als Grund für seine Entscheidung an, die Shilte ha-gibborim zu verfassen, an. Er betrachtete seine Erkrankung als eine Strafe Gottes und als eine Ermahnung, sich von den profanen Wissenschaften abzuwenden, die ihn vom Studium der Torah abgelenkt hatten. Aus seinen wissenschaftlichen Forschungen und Studien war ein lateinischer Traktat De auro über die Nutzimg des Goldes in der Medizin entstanden. Nun sollten die Shilte ha-gibborim dem De auro als konkreter Beweis seiner Reue und geistiger Veränderung entgegengesetzt werden. Die hebräische Sprache und das religiöse Thema der Tempelbeschreibung sind die äußerlichen Merkmale, die die Shilte ha-gibborim vom früheren lateinischen

Zusammenfassung

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Traktat Portaleones unterscheiden. Inhaltlich aber enthalten sie wissenschaftliche Abhandlungen, die anscheinend mit dem religiösen Vorhaben in Widerspruch stehen. Doch stellen die Shilte ha-gibborim nicht die Ablehnung der Wissenschaft dar, sondern eine Interpretation des Wissens im Einklang mit dem Glauben. Portaleone hat eine alles implizierende Auffassung der jüdischen Tradition. Alles, auch die profanen Wissenschaften, ist für ihn schon im Wort Gottes enthalten, das sich auf dem Berg Sinai ausschließlich dem jüdischen Volk geoffenbart hat. Die Offenbarung Gottes ist sowohl schriftlich in der Bibel als auch mündlich durch die Rabbinen in einer ununterbrochenen Traditionskette tradiert worden. Die ursprünglich klar verständliche Weisheit der göttlichen Worte bleibt aber heute wegen unserer Sünden wie verschleiert und ist daher nicht immer plausibel nachvollziehbar. Die neuen wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen sind also nichts Neues, sie sind schon in der Bibel und in den rabbinischen Auslegungen zu finden, soweit ihre Worte richtig verstanden werden. Die offensichtlichen Widersprüche zwischen den modernen Erkenntnissen und der Tradition sind für Portaleone nur eine Frage der Interpretation und der Unfähigkeit seiner Zeitgenossen, den Wortlaut der Tradition richtig zu deuten. Das profane Wissen ist keineswegs dem Glauben entgegengesetzt. Die wissenschaftlichen Kenntnisse können, soweit sie nicht absolut genommen werden, sondern der göttlichen Offenbarung untergeordnet bleiben, behilflich sein, die in den Worten Gottes verborgene Wahrheit wiederzufinden. Daher lehnt Portaleone auch nach seiner „Bekehrung" das profane Wissen nicht ab, weil es ein Teil der göttlichen „Weisheit" ist. Dazu gehören aber nicht die theoretischen Spekulationen, die nur eine oft überhebliche, irreführende Konstruktion des menschlichen Verstandes sind, entfernt von jeder Erfahrung. Das „wahre", „gute" Wissen ist das, was man aus der Schöpfung Gottes gewinnen kann, nämlich die Naturwissenschaft und ihre technischen Anwendungen. Der Übergang von De auro zu Shilte ha-gibborim bedeutet keine Flucht zum Mystizismus, wohl aber ein Umdenken in bezug auf die Beziehungen zwischen Tradition und Wissenschaft. Was schon ansatzweise in De auro zu erkennen ist, bestimmt jetzt die gesamte intellektuelle Struktur des hebräischen Werkes von Portaleone: das profane Wissen wird der Tradition untergeordnet und völlig integriert. Diese Interpretation des Wissens ist nichts Neues. Sie bekommt aber neue Akzente im Hinblick auf das damalige kulturelle, nichtjüdische Umfeld, das die Beweggründe sowie die Art und Weise der Abfassung der Shilte ha-gibborim besser erklären kann. Auslöser dieser intellektuellen, geistigen Umwandlung war meines Erachtens nicht nur Portaleones Erkrankung - sie beschleunigte und verstärkte nur, was schon unterschwellig im Geist Portaleones vorhanden war - , sondern auch der kulturelle Umbruch zur Zeit Portaleones, der das Judentum sowie das Christentum in eine tiefgreifende Krise stürzte. Denn die gleichen Bestre-

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Der salomonische Tempel in der jüdischen Kultur zur Zeit Portaleones

bungen, die humanistischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse der Religion unterzuordnen und in die Religion zu integrieren, sind zu dieser Zeit auch in katholischen und protestantischen Kreisen zu sehen. In der katholischen Kirche waren die Jesuiten besonders engagiert, die Bildung und die gesamte Kultur entsprechend den religiösen, politischen und sozialen Vorstellungen der Gegenreformation zu gestalten. Ein Aspekt dieses kulturellen Programms war die Beschreibung des salomonischen Tempels, dem schon eine alte allegorisch-typologische Tradition verschiedene theologisch-heilsgeschichtliche Bedeutungen beigemessen hatte. Diese wurden von Villalpando mit den hermetisch-neuplatonischen Vorstellungen vereinbart und dazu verwendet, ein ideales Bauwerk zu beschreiben, das sich auf die Typologie des Jerusalemer Tempels berief. Villalpandos Tempelrekonstruktion stellte das architektonische Modell der jesuitischen Bestrebungen dar, der katholischen Lehre die potentiell heterodoxen Tendenzen der Kultur anzupassen. Der Hermetismus, Pythagoreismus und Neuplatonismus, die die Grundlage für das Theater Giulio Camillos waren und viele Anhänger (zum Beispiel Alessandro Citolini, Giovan Battista Pallavicini und Jacopo Broccardo) hatten, die später von der Inquisition der Ketzerei verdächtigt werden sollten, wurden in die Tempelrekonstruktion Villalpandos mit einbezogen und der Orthodoxie angepaßt. Die Tempelbeschreibung Portaleones folgt getreu den biblischen und rabbinischen Texten. Die neuplatonisch-hermetischen Interpretationen Villalpandos oder Philos von Alexandrien haben hierauf keinen Einfluß. Es lassen sich aber gewisse Parallelen zwischen Villalpando und Portaleone ziehen, was die Behandlung profaner Themen anbelangt. Das sind mehr oder weniger die gleichen Themen und Motive, mit denen sich auch die damaligen Kunstkammern und die Studierzimmer von Privaten und Fürsten befaßten. Galerien und Wunder- bzw. Kunstkammern sind eine Art visuelle Enzyklopädie, in denen Kenntnisse und Wissenschaften aufgelistet und eingeordnet werden. Die exemplarische Gestaltung einer fürstlichen Wunderkammer wurde von Quiccheberg in seinem Traktat Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi dargelegt. Die deutlichen Parallelen zu den Inhalten der Tempelbeschreibungen Villalpandos und Portaleones und den Sammlungstheorien Quicchebergs lassen sicher nicht automatisch auf einen direkten Einfluß von Quiccheberg schließen. Sie bezeugen jedoch das kulturelle Umfeld, in dem Villalpando sowie Portaleone ihre besondere Auffassung vom Tempel erarbeitet haben. Im Tempel Salomos fanden beide Autoren das ideale Bauwerk für die Darstellung eines vollständig in die katholische bzw. jüdische Tradition integrierten Wissens. Die Tempelanlage gewinnt die Bedeutimg eines metaphysischen Prinzips, nach dem das Wissen, das seine Grundlage im Wort Gottes hat, dargelegt wird. In ihrer religiös geprägten Weltanschauung verwandelt sich das Theatrum mundi in ein Templum sapientiae.

Anhang

1. Die Quellen der Shilte ha-gibborim1 1.1. Am Anfang seines Werkes listet Portaleone nachfolgende jüdische Autoren auf, auf die er sich beruft:2 Kommentar zum Pentateuch und zu den fünf Megillot ohne den biblischen Text: Venedig (Bomberg) 1522, Rimini (Gershom ben Moshe Soncino) 1525-1526 (ohne Megillot), (Marco Antonio Giustiniani) 1548, Sabbioneta (Tobia Foa) 1557, Venedig (Cristoforo Zarietti) 1566. Pentateuchkommentar mit dem biblischen Text: Bologna 1482, Konstantinopel 1505, Saloniki (Yehudah Gedalyah) 1513, Konstantinopel 1546, 1547, Venedig (Marco Antonio Giustiniani) 1547, Venedig (Giovanni di Gara) 15941595, Mantua 1589-1590. Kommentar zum Pentateuch und zu den fünf Megillot mit dem biblischen Text: Neapel 1491, Konstantinopel 1522, Venedig (Daniel Bomberg) 1524,1548, Riva di Trento 1561, Cremona (Vincenzo Conti) 1566-1567, Venedig (Giovanni di Gara) 1567,1590-1591. Bibelkommentare (außer den Kommentaren zu den Sprüchen, Job und Daniel) in den Miqra'ot Gedolot: Venedig (Daniel Bomberg) 1515-1517, 15241525, auch mit dem Kommentar zu den Sprüchen, Job und Daniel: Venedig (Daniel Bomberg) 1546-1548, (Giovanni di Gara) 1568. Talmudkommentare: Venedig (Daniel Bomberg) 1520-1522. RASHI (SHLOMO BEN ISAAK):

Mischna-Kommentar. Neapel (Yehoshua Shlomo Soncino) 1492, Venedig (Marco Antonio Giustiniani) 1546, Sabbioneta 1559, Riva di Trento 1559, Mantua 1561-1562, gedruckt in den Talmud-Ausgaben von Daniel Bomberg, Venedig 1520-1530, und Marco Antonio Giustiniani 1540-1550. Mishneh Torah unter anderem mit Kesef mishneh von R. Yosef Karo, Venedig (Giovanni di Gara) 1574-1576. MOSHE BEN MAIMON (RAMBAM):

Tossafot zu talmudischen Traktaten, gedruckt von Bomberg mit dem Talmud 1520-1522. YAQOV (ΤΑΜ) BEN MEIR BEN SHMUEL (RABBENU ΤΑΜ):

Die Autoren werden in der Reihenfolge aufgelistet, wie sie Portaleone zu Beginn der

Shilte ha-gibborim selbst aufführt. Es werden nur die Ausgaben angegeben, die Portaleone möglicherweise kannte. Für weitere bio- und bibliographische Daten über die einzelnen Autoren verweise ich auf folgende Werke: J. Fürst, BMiotheca Judaica, 3 Bde., Leipzig 1849 [Ndr. Hildesheim

I960]; M. Steinschneider, Catalogus librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana, 2 Bde., Berlin 1852-1860 [Ndr. Hildesheim 1964]; G. Busi, Edizioni ebraiche del XVI secolo nelle

biblioteche dell' Emilia Romagna, Bologna 1987; id., Libri ebraici a Mantova. Le edizioni del XVI secolo nella biblioteca della Comunitä ebraica (Mantua Judaica 1), Fiesole (Firenze) 19%.

268

Anhang

ABRAHAM BEN DAVID (RABAD): Hassagot

'al Mishneh Torah le-RMB"M,

dem

Werk des Maimonides beigefügt: Venedig 1524,1550-1555,1574-1576. SAADYA BEN YOSEF GAON:3 K o m m e n t a r z u m B u c h Daniel i n der z w e i t e n ( 1 5 2 4 -

1525) und in der dritten Bibelausgabe von Daniel Bomberg (1546-1548) und in der Bibelausgabe von Giovanni di Gara (1568) enthalten. Teshuvot u-she'elot, der konstantinopolischen Ausgabe des Sefer midrash Shmuel von 1517 beigefügt. Sefer ha-'emunot we-ha-de'ot, Konstantinopel 1562. HAY BEN SHERIRA GAON: Mishpate ha-shevu'ot, eine Abhandlung über den Eid nach dem talmudischen Recht zusammen mit den She'arim de-Rav Hay, einem halakhischen Buch über Kauf und Verkauf nach dem talmudischen Recht, und mit den Dine mamcmot, über das Zivilrecht (Venedig 1602), zusammen gedruckt; Sefer ha-mashkhon, über das Pfandrecht, zusammen mit den She'arim de-Rav Hay und den Mishpate ha-tena'im und Mishpate halwa'ot (Rechtsvorschriften über Darlehen und Leihwesen) Venedig 1603 gedruckt. HANANEL: sein Talmudkommentar ist in der Talmud-Ausgabe von Bomberg enthalten. NISSIM (BEN RE'UBEN): Kommentar zum Alfasi, gedruckt mit dem halakhischen Werk des R. Isaak Alfasi: Konstantinopel 1509, Venedig bei Daniel Bomberg 1521-1522, Venedig bei Alvise Bragadini 1552, Sabbioneta 1554-1555, Riva di Trento 1558. Hiddushim, Riva di Trento 1559; Hiddushim zum Traktat Nedarim in den Talmudausgaben enthalten: Venedig 1523,1528,1550, Basel 1578-1580. ASHER BEN YEHI'EL: Piske halakhot in den Talmud-Ausgaben von Bomberg und Giustiniani. MORDEKHAY (BEN HILLEL): Sefer ha-Mordekhay in den Ausgaben des Sefer halakhot des Alfasi abgedruckt, Venedig 1521-1522, Sabbioneta 1554, Riva di Trento 1558. RAV VON BARCELONA: Wohl Yehudah ben Barzilai ha-Nasi. Sein Sefer ha-'ittim ist eine Zusammenstellung halakhischer Vorschriften, die Maimonides für seinen Mishneh Torah verwendet hat. Einiges aus diesem Werk findet man in den Hilkhot sefer Torah der Halakhot qetanot des Asher ben Yehi'el, die in die Talmud-Ausgaben aufgenommen worden sind. YAQOV BEN ASHER BEN YEHI'EL (BA'AL HA-TURIM) aus Toledo: arba'ah

turim,

Pieve di Sacco 1475, Mantua 1476, Soncino 1481, Fano 1516, Venedig 1522, Cremona 1558, Riva di Trento 1560-1561. YESHAYA AHARON: wahrscheinlich Yeshaya di Trani der Jüngere, welcher Glossen zu den Halakhot des Isaak Alfasi verfaßte. Sie wurden in Auszügen in den Saadja Gaon wird nur einmal (Kap. 83, S. 87b) erwähnt. Das Zitat ist dem Sefer hashorashim des R. David Qimhi entnommen.

Die Quellen der Shilte ha-gibborim

269

Shilte ha gibborim des Yehoshua Bo'as Barukh aufgenommen und der dreibändigen Sabbioneta-Ausgabe des Alfasi (1554) unter dem Titel nimmuqim 'al sefer ha-halakhot le-ha-RY"P beigefügt. In den folgenden Ausgaben des Alfasi führen sie den Namen hiddushim. Sefer he-Arukh, Pesaro 1517, Venedig (Daniel Bomberg) 1531, (Alvise Bragadini) 1553. NATAN BEN YEHI'EL (BA'AL ARUKH):

MOSHE BEN NAHMAN (RAMBAN): Torakommentar vor 1 4 8 0 in Italien gedruckt, Lissabon 1489, Neapel 1490, Pesaro (Gershom Soncino) 1514, Saloniki 1521, Konstantinopel 1522, Venedig (Marco Antonio Giustiniani) 1547.

allgemein bekannt als Abudraham oder Abudarham aus Sevilla: Er verfaßte im Jahre 1340 in Sevilla einen Kommentar zum Gebetsritual, der als Sefer Abudraham bekannt wurde. Lissabon 1489, Toulon 1513, Venedig (Marco Antonio Giustiniani) 1546, (Giorgio Cavalli) 1566. DAVID IBN ABU DERAHIM,

YOM TOB BAR ABRAHAM (HARIYTBA'"): Maggid mishneh, ein Kommentar zum Mishneh Torah des Maimonides, mit diesem gedruckt in Konstantinopel 1509, Venedig 1524, (Alvise Bragadini) 1550-1551, (Giovanni di Gara) 1574-1576. BARUKH BEN ISAAK (BA'AL SEFER HA-TERUMAH)

aus Worms: Venedig 1523.

YOSEF BEN ABRAHAM GIKATILLA (BA'AL SHA'ARE ORAH):

Mantua 1561. ISAAK ABOAV:

Riva di Trento

1559,

Menorat ha-me'or, Venedig 1544,1594,1595.

Sein Kommentar zum Alfasi ist als Ergänzung des Kommentars des R. Nissim in den Alfasi-Ausgaben gedruckt worden. Siehe oben.

YOSEF HAVIVA:

SHIMONI:

Yalqut Shim'oni, Saloniki 1521, Venedig 1566.

Seine Anmerkungen zum Sefer miswot ha-gadol sind in die Ausgaben dieses Werkes aufgenommen worden. Venedig (Daniel Bomberg) 1522, 1547. Mehrmals nachgedruckt wurde sein Sefer Mizrahi, das heißt ein Superkommentar zu Rashis Kommentar zum Pentateuch: Venedig (Daniel Bomberg) 1527,1545, (Alvise Bragadini) 1574, Krakau 1595. ELIYAHU MIZRAHI:

aus Zamora: Er ist im Autorenverzeichnis Portaleones als Ba'al Israel aufgelistet. Sein zweiteiliges Werk erschien zuerst unter den Titeln 'en Jakob (für den ersten Teil) und Bet Jakob (für den zweiten Teil); Saloniki (Yehudah Gedalya) 1516-1522, Venedig (Marco Antonio Giustiniani) 1546. In der Ausgabe von Giorgio Cavalli (Venedig 1566) wurden die zwei Titel in 'en Israel und Bet Israel geändert. YAQOV BEN SHLOMO IBN HAVIV

HEFETZ. 4 4

Dem Sefer ha-shorashim entnommen und zitiert in Kap. 83, S. 87b.

270

Anhang

CORCOS (?): Es sind verschiedene Rabbiner mit diesem Namen in Mantua belegt. Vielleicht handelt es sich um den Rabbi und Arzt R. Eliyahu ben Solomon Corcos.5 ISAAK KARO: Toledot Isaak, Auslegungen zum Pentateuch, Konstantinopel 1518, Riva di Trento 1558, Mantua 1559. RABBENU BARUKH: Wahrscheinlich Barukh ben Isaak aus Worms. Sein halakhisches Werk Sefer ha-terumah wurde von Daniel Bomberg (Venedig 1523) gedruckt. Seine Glossen zum Traktat Zevahim (Tosafot 'al massekhet Zevahim) sind in den Talmud-Ausgaben abgedruckt worden. OVADIAH DI BERTINORO: Mischna-Kommentar: Sabbioneta 1559, Mantua 15591562.

MORDEKHAY YAFFE: Levush tekhelet, Lublin 1590; Levush ha-hur, Lublin 1590; Levush 'ateret zahav, Krakau 1594; Levush bus we-'argaman, Krakau 1599; Levush 'ir shushan, Krakau 1599. ABRAHAM IBN EZRA: Torakommentar: Konstantinopel 1522, Venedig (Marco Antonio Giustiniani) 1547, in den Miqra'ot Gedolot, Venedig (Daniel Bomberg) 1524-1525,1548, (Giovanni di Gara) 1568. BAHYA (BEN ASHER): Pentateuchkommentar: Pesaro (Gershom Soncino) 1507, 1514, 1517, Konstantinopel 1517, Rimini 1524-1526, Venedig (Bomberg) 1544, 1546, (Giorgio Cavalli) 1566. HAZQUNI:6 Kommentar zum Pentateuch: Venedig (Daniel Bomberg) 1524, Cremona 1559. LEVI BEN GERSHON: Pentateuchkommentar: Mantua (Abraham ben Shlomo Conat) 1476-1480, Pesaro 1514, Venedig (Daniel Bomberg) 1547. Seine Kommentare zu den Vorderen Propheten, den „Sprüchen" und Job wurden in die Miqra'ot Gedolot aufgenommen: Venedig (Daniel Bomberg) 1524-1525 und 1546-1548, (Giovanni di Gara) 1568. ISAAK BEN YEHUDAH ABRAVANEL: T o r a k o m m e n t a r : V e n e d i g 1579; K o m m e n t a r

zu den Vorderen Propheten: Pesaro 1522, Neapel 1543; Kommentar zu den Hinteren, einschließlich den Zwölf kleinen Propheten: Pesaro 1520; Kommentar zu Daniel: Ferrara 1551, Venedig 1556. DAVID QIMM: Kommentar zu den Vorderen Propheten in den Miqra'ot Gedolot, Venedig (Daniel Bomberg) 1515-1517, 1524-1525, 1548, (Giovanni di Gara) 5 6

Siehe Simonsohn, History of the Jews, S. 424,427. Eigentlich: R. Hiskiya ben Manoah (13. Jahrhundert). Er wurde „Hazquni" (entstellte Form „Hizquni") nach dem Titel seines Kommentars zum Pentateuch „Hazequni", das heißt „stärket mich", benannt.

Die Quellen der Shilte ha-gtbborim

271

1568; Kommentar zu den Hinteren Propheten in den Miqra'ot Gedolot: Venedig 1517 unvollständig, zu Jeremia und Ezechiel 1525, zu Jesaja 1548 und 1568. Sefer ha-shorashim mit Anmerkungen von Shmuel ben Menahem Latif, Neapel 1490, 1491, Konstantinopel 1513, 1532, Saloniki (Gershom Soncmo) 1532-1533, Venedig (Daniel Bomberg) 1529,1546, (Marco Antonio Giustiniani) 1546. Kommentar zu den „Sprüchen", in die Miqra'ot Gedolot aufgenommen, Venedig 1525,1548,1568. MOSHE QIMHI:

das heißt Yona ibn Ganah (10.-11. Jahrhundert), Autor verschiedener Werke über hebräische Sprachwissenschaft, auf arabisch geschrieben und von Yehudah ibn Tibbon ins Hebräische übersetzt. Da sie zur Zeit Portaleones nur in Handschriften vorhanden waren, ist anzunehmen, daß ihn Portaleone nur aus einer indirekten Quelle kannte. YONA „DER GRAMMATIKER",

Havaselet ha-sharon, ein Kommentar zu Daniel: Saafet 1568, Venedig (Giovanni di Gara) 1592; Mar'ot ha-ßove'ot, Kommentar zu den Hinteren einschließlich den Zwölf kleinen Propheten: Venedig 1595,1603, 1607; Shoshanat ha-'amaqim, Kommentar zum „Hohelied": Venedig (Giovanni di Gara) 1591; ferner sind im Jahr 1601 von Giovanni di Gara folgende Werke herausgegeben worden: Devarim tovim, Kommentar zu Qohelet; Devarim nihumim, ein Kommentar zu den Klageliedern; Sefer Torat Moshe, Kommentar zum Pentateuch; 'ene Mosheh, Kommentar zum Buch Ruth; Kommentar zu den fünf Megillot; Rov peninim, Kommentar zu den Sprüchen; Mas'at Moshe, Kommentar zu „Esther": Venedig (Daniele Zanetti) 1601; Helqat mehoqeq, Kommentar zu „Job": Venedig (Giovanni di Gara) 1603; Romamot 'El, Kommentar zu den Psalmen: Venedig (Giovanni di Gara) 1605. MOSHE BEN HAYYIM ALSHEYK:

SHMUEL LANIADO:

di Gara) 1595.

Kli hemdah, Auslegung zum Pentateuch: Venedig (Giovanni

Ha-sagot 'al derush yeme 'olam, Kritiken über die chronologische Abhandlung Yeme 'olam im Me'or 'enayim des Azariah de' Rossi, in der Ausgabe des Me'or 'enayim Mantua 1574 gedruckt; Beshem qadmon, Gedichte, die die Regeln der hebräischen Grammatik darstellen: Venedig (Giovanni di Gara) 1596. MOSHE PROVENZALI:

genannt „da Torrazzo"7: ein Rabbiner aus Mantua, Onkel des Autors der Minhat Shay und Freund des Rabbi Moshe Provenzali, starb im Jahr 1590. Er und sein Sohn Shlomo werden in Kap. 88, S. 94a erwähnt. MOSHE DA NORZI,

MENAHEM AZARIAH DA FANO8: einer

der bedeutendsten italienischen Kabbalisten des 16./17. Jahrhunderts. 'Asarah ma'amarot, Zehn kabbalistische Abhandlun-

7



Siehe auch Simonsohn, History of the Jews, S. 724-725. Ibid., S. 632, 638.

272

Anhang

gen, von denen die ersten drei von Giovanni di Gara (Venedig 1597) gedruckt wurden; Mahadura batra mi-Sefer Pelah ha-rimmon, ein Kommentar zu einem Auszug des Sefer pardes rimmonim des Moshe Cordovero: Venedig (Daniele Zanetti) 1600. In der Ausgabe des Mahazor ke-minhag Roma, gedruckt im Jahre 1587 in Venedig von Giovanni di Gara, sind auch die Shiv'im u-shtayim pesuqim des Menahem Azariah Fano enthalten. Der Seder Avodah (Venedig 1590) über das Tempelritual, den Azariah da Fano nach der Vorlage von Menahem Lonzano abgefaßt hat, ist eine der Hauptquellen Portaleones für die Gestaltung der drei „Schilde", die Auszüge aus der Bibel, dem Talmud, dem Zohar und anderen rabbinischen Schriften in bezug auf die verschiedenen Opferungen enthalten. R. Moshe ben Shmuel Cases aus Mantua starb im Jahre 1617. Er trug finanziell zur mantuanischen Ausgabe der Mischna (1594) bei und kommentierte verschiedene talmudische und mischnische Traktate, darunter auch einen Kommentar zum Traktat Middot, den Portaleone in Kap. 24, S. 23b erwähnt. MOSHE CASES 9 :

Er war Rabbiner in Mantua Ende des 16. bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Portaleone erwähnt ihn in Kap. 23, S. 20a. SHMUEL MARLI BEN MASLIAH 10 :

SHMUEL ARCHIVOLTO (oder Archivolti): Er edierte für Alvise Bragadini mit einem Nachweis der zitierten Stellen die venezianische Ausgabe des Sefer arukh (Venedig 1553) und besorgte für den Drucker Giovanni di Gara verschiedene Ausgaben, wie zum Beispiel den Kommentar zu Qohelet des Elischa ben Gabriel Gallico, Venedig 1577, den Torakommentar des Abrabanel, Venedig 1579, den Sefer menorat ha-ma'or des Isaak Aboav, Venedig 1595. Er ist auch Autor einer hebräischen Grammatik 'arugat ha-bosem, die im Jahr 1602 in Venedig von Giovanni di Gara gedruckt wurde.

(1460-ca. 1523) 1 1 : verfaßte eine hebräische Grammatik Miqne Abraham für den Verleger Daniel Bomberg. Nicht auf die hebräische Grammatik bezieht sich Portaleone, sondern auf die lateinischen Übersetzungen der Werke des Averroes, die De Balmes im ABRAHAM DE BALMES

» «> 11

Ibid., S. 637, 701. Ibid., S. 527-528, 696. Über de Balmes siehe: R. Zaccaria, „s.v. De Balmes, Abramo", in: Dizionario Biografico degli Italiani 33 (1987), S. 338-341; G. Tamani, „Le traduzioni ebraico-latine di Abraham De Balmes", in: A. Vivian (Hrsg.), Biblische und judaistische Studien. Festschrift für Paolo Sacchi, Frankfurt a.M. 1990, S. 613-635; id., „Le glosse di Abraham de Balmes alia sua versione ebraico-latina della parafrasi di Averroe alia Poetica", in: Henoch XVI/2-3 (1994), S. 315-323; id., „Abraham De Balmes traduttore di Aristotele-Averroe", in: Au tori classici in lingue del Vitino e Medio Oriente. Atti del VI, VII e VIII Seminario sul tema: „Recupero di testi classici attraverso recezioni in lingue del Vicino e Medio Oriente" (Milano, 5 - 6 ottobre 1987; Napoli, 5 - 6 dicembre 1988; Bologna, 13-14 ottobre 1989). A cura di G. Fiaccadori, Roma 2001, S. 403-412.

Die Quellen der Shilte ha-gibborim

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zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts anfertigte und 1522-1523 durch den Verleger G. Antonio Sabio gedruckt wurden: Libri posteriorum analiticorum cum magnis commentariis Averroys. Libri thopicorum paraphrases Averroys. Libri elenchorum paraphrases Averrays. Libri rhetoricorum paraphrases Averroys. Libri poetice paraphrases Averroys. Quesita logica Averroys et aliorum. Liber de demonstratione Abrami de Balmes. Epitoma Averroys omnium librorum logice. Die meisten dieser Übersetzungen wurden dann in die elfbändige Ausgabe sämtlicher Werke des Aristoteles durch den Drucker Lucantonio Giunta („und Erben") aufgenommen: Aristotelis omnia quae extant opera. Nunc primum selectis translationibus, collatisque cum graecis emendatissimis exemplaribus, Margitieis scholijs illustrata [...] Averrois Cordubensis in ea opera omnes [...] commentarij, aliisque ipsius in logica, philosophia, & medicina libri: quorum aliqui non amplius a latinis visi, nuper a Iacob Mantino sunt conversi [...] Levi Gersonidis Annotationes in Aver, expositionem super logices libros [...] Iacob Mantino interprete, Venetijs apud haeredes Lucaeantonij Iuntae 1550-1552 (weitere Nachdrucke: 1562,1573-1576). lebte im 15. Jahrhundert und verfaßte den Traktat Darke no'am über die Metrik und Prosodik mit einer Schilderung der aristotelischen Poetik. Dieser Traktat wurde zusammen mit einer Einführung zur hebräischen Grammatik, Marpe' lashon, zuerst in Konstantinopel, dann in Venedig bei Daniel Bomberg 1546 gedruckt. MOSHE IBN HAVIV:

(Eliyahu ha-Levi ben Asher Ashkenazi)12: besser als Elia Levita (14707-1549) bekannt. Von seinen zahlreichen grammatikalischen Werken sind zu erwähnen: Scholien zur Grammatik Mahalakh von Moshe Qimhi (Bi'ur 'dl mahalakh shevile ha-da'at), die mit der Grammatik des Moshe Qimhi herausgegeben wurden (Pesaro 1508, Ortona 1519, Hagenau 1519, Augsburg 1520, Paris 1520, Basel 1527,1531,1535, Venedig 1546, Mantua 1566); Sefer habahur, eine Formenlehre der hebräischen Grammatik: Rom 1518, umgearbeitet Isny 1542, Mantua 1556, 1563; Sefer ha-harkavah, ein Traktat über schwierige zusammengesetzte hebräische Wörter: Rom 1519, Basel 1525, Venedig 1546; Tuv ta'am, eine Abhandlung über die hebräischen Akzente: Venedig 1538, Basel 1539; Pirqe Eliyahu, ein grammatikalischer Traktat: Soncino 1520, Pesaro 1527, Basel 1527, Venedig 1546; Masoret ha-masorah, eine Einleitung in das Studium der Masora: Venedig 1538, 1546. Lateinische Übersetzungen dieser Werke wurden von Sebastian Münster angefertigt. Die Ausgabe des Sefer hashorashim von Daniel Bomberg (Venedig 1546) wurde von Elia Levita mit Glossen erläutert. ELIYAHU ASHKENAZI

Rabbi Meir ben Isaak Katzenellenbogen (MaHaRaM, gest. 1565), berühmter Talmudist und einer der Lehrer Abraham Portaleones (siehe Shilte ha-gibborim, S. 185b). Eine Sammlung von seinen Responsa zusammen mit

MEIR DA PADOVA:

12

Über ihn siehe G. E. Weil, Elie Leoita, Humaniste et Massorete, Leiden 1963.

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Anhang

einigen Responsa des R. Yehudah Mintz wurde 1553 in Venedig gedruckt. Er edierte auch die Mishneh Torah des Maimonides mit eigenen Anmerkungen (Venedig 1550). genannt „Buonaiuto"13: ein Sofer und einer der Lehrer Portaleones (S. 174a, 185b). YOSEF SARKO,

auch bekannt als Leone de' Sommi Portaleone, der wichtigste jüdische Theaterdichter der Renaissance (1527-1592), tätig am Hof der Gonzaga. YEHUDAH SOMMO DA PORTALEONE14:

Hazzan der Gemeinde von Ferrara: Ha-qdamat humash tiqqun soferim, Ferrara 1554.15 BINYAMIN SHA'UL,

1.2. Neben dem Talmud, den Targumim und den Midrashim werden noch folgende rabbinische Werke angeführt: Pirqe de Rabbi Eli'ezer (Konstantinopel 1514, Sabbioneta 1567). Tanna Rabbi Eliyahu (Venedig 1550,1598). Aggudat Shmu'el (Venedig 1593). Seder 'olam (gedruckt zusammen mit dem Seder 'olam zutah, Megillat ta'anit und Sefer ha-qabbalah: Mantua 1514, Venedig [Marco Antonio Giustiniani] 1545, Basel 1580). Otiyyot de-Rabbi Aqiva (Venedig [Marco Antonio Giustiniani] 1546; mit einer späteren kabbalistischen Einleitung: Krakau 1579). Midrash de-Rabbi Aqiva be-kitre(l) ha-'otiyyot,16 Ha-ra'ya' mehemna' (ein zum Corpus des Sefer ha-Zohar gehörendes Werk; Mantua 1558-1560, Cremona 1560). Tiqqune ha-Zohar (Mantua 1557). Sifra/Torat kohanim (zusammen mit Sifre und Mekhilta: Konstantinopel 1515, 1523, Venedig 1545). Sifre, Mekhilta, Pesiqta (Saloniki 1521, Venedig 1566, Krakau 1595). 13 14

15 16

Ibid., S. 584-585, 734 Anm. 265. Ibid., S. 658-664, 726-727; R. Bonfil, „Lo spazio culturale degli ebrei d' Italia fra Rinascimento ed Etä barocca", in: Storia d' Italia. Annali 11, 2 Bde., Torino 1996: Bd. I, S. 457-472. Für eine bibliographische Übersicht über Leone de' Sommi siehe Y. David, Leone de' Sommi. A Bibliography, Tel Aviv 1988. Binyamin Sha'ul de' Rossi, erwähnt in Kap. 90, S. 102b. Offensichtlich ein Fehler Portaleones. Richtig heißt es: Midrash be-sitre 'otiyyot, ein anderer Titel für Sefer 'otiyyot de-Rabbi Akrna.

Die Quellen der Shilte ha-gibborim

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Shimmusha Raba (ein Ritualtraktat über die Anwendung der Phylakterien, das R. Abba [8. Jahrhundert] zugeschrieben wird. R. Asher b. Yehi'el hat es unter dem Titel Shimmusha Rabba [„Ritualvorschrift des Rabba"] in sein Werk Halakhot Qetanot als Anhang aufgenommen. Es wurde in der Vilna-Talmudausgabe am Ende des Traktates Menahot gedruckt).17 Rabbot (bzw. Midrash rabba: Konstantinopel 1512, Venedig [Marco Antonio Giustiniani] 1545, [Daniel Bomberg] 1545, [Giorgio Cavalli] 1566, Krakau 15871588, Saloniki 1595). Tanhuma (Konstantinopel 1520-1522, Venedig [Daniel Bomberg] 1545, Mantua [Giacomo Ruffinelli] 1563, Verona [Francesco delle Donne] 1595). Halakhot Gedolot (Venedig [Marco Antonio Giustiniani] 1548). Sefer Mißwot Gadol des Moshe aus Coucy, 13. Jahrhundert, Erstdruck vor 1480, Gershom ben Moshe Soncino 1489, mit den Tosafot hiddushin des Eliyahu Misrahi (siehe oben). Hiddushe RaShBa'", das heißt Salomo ibn Aderet oder Adrat (Venedig [Daniel Bomberg] 1523). 'arba'ah turim (von Yaqov ben Asher; Pieve di Sacco 1475, Mantua 1476, Soncino 1481, Konstantinopel 1494, Fano [Gershom Soncino] 1516, Venedig 1522, Augsburg 1540, Cremona 1558, Riva di Trento 1560). Kolbo (Konstantinopel 1519, Rimini [Gershom Soncino] 1524-1525, Venedig [Marco Antonio Giustiniani] 1547, [Giorgio Cavalli] 1567,1572). Sefer ha-ma'amadot (Venedig [Daniel Bomberg] 1545, Ferrara [Abraham Ibn Usque] 1554, Venedig [Giovanni di Gara] 1564,1574). 1.3. Von den nichtjüdischen Quellen sagt Portaleone nur, daß er Werke von italienischen, aramäischen, indischen, griechischen, lateinischen, ägyptischen, arabischen, portugiesischen und persischen Autoren verwendet hat, ohne ihre Namen dabei anzuführen.18 In den einzelnen Kapiteln verweist jedoch Portaleone oft auf Werke nichtjüdischer Autoren, angefangen von den klassischen bis hin zu den Autoren seiner Zeit. Anhand dieser Zitate lassen sich nachfolgende Verzeichnisse aufstellen.

17

18

S. W. Baron, Α Social and Religious History of the Jews, New York 1958, Bd. 6, S. 356 Anm. 72. Portaleone, Shilte ha-gibborim, S. 4a.

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Anhang

1) Griechische Autoren19: Aetios von Amida (Kap. 87), Alexander von Aphrodisias (Kap. 48), Aristoteles (Kap. 5,46,51,52,76), Dioskurides (Kap. 78, 79, 80,82, 83, 84, 85, 86, 88), Elian (Kap. 52), Galen (Kap. 46, 51, 75, 78, 85, 86), Homer (Kap. 52), Palladius (Kap. 75), Pausanias (Kap. 78), Piaton (Kap. 4), Plutarch (Kap. 4, 46), Strabon (Kap. 78,85), Theophrast (Kap. 46, 78,81,82, 86,87). 2) Lateinische Autoren: Apuleius (Kap. 48), Aulus Gellius (Kap. 5), Cäsar (Kap. 53), Columella (Kap. 75, 78), Justinus, der Historiker (Kap. 78), S. Hieronymus (Kap. 8, 46, 78), Livius (Kap. 41), Lukan (Kap. 42), Martial (Kap. 51), Plautus (Kap. 5), Plinius der Ältere (Kap. 5, 46, 49, 51, 52, 53, 72, 75, 78, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87), Quintilian (Kap. 4, 78), Sallust (Kap. 41), Solinus (Kap. 78), Tacitus (Kap. 41), Varro (Kap. 75), Vergil (Kap. 42), Vitruv (Kap. 2,16). 3) Byzantinische Autoren: (Kap. 8 4 , 8 7 ) . Lebte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die byzantinische medizinische Literatur findet in seinem Schaffen ihren letzten Höhepunkt. Er bezieht sich überwiegend auf Galen, Paulus Aeginetas und Aetios. Sein wichtigstes Werk, Therapeutike methodos, in sechs Bücher eingeteilt, erschien nach der lateinischen Übersetzung von Henricus Mathisius (Mathys) aus Brügge in Venedig im Jahre 1554 unter dem Titel Methodi medendi libri sex (nachgedruckt in Paris im Jahre 1566). Er schrieb auch einen Traktat über den Harn in sieben Büchern, dessen lateinische Übersetzung (De urinis) von Ambrosius Leo aus Nola zuerst im Jahre 1519 in Venedig veröffentlicht wurde. Zahlreich sind die Nachdrucke: Basel 1520, Paris 1522, Basel 1529, Lyon 1529, Venedig 1529, Paris 1548 mit Anmerkungen von Goupilus (Goupil), Basel 1558,1563. Es ist uns noch ein drittes Werk des Aktuarios De actionibus et affectibus spiritus animalis in zwei Büchern über die Pneumatik und die Psychopathologie erhalten, dessen griechischer Text Goupil im Jahre 1557 in Paris edierte. Eine lateinische Übersetzung von Julius Alexandrinus de Neustein erschien in AKTUARIOS JOHANNES ZACHARIAS20

19

20

In Klammern werden die Nummern der Kapitel angeführt, in denen der Autor zitiert wird. Siehe: Joseph Frangois Michaud, Biographie universelle ancienne et moderne, Paris 1854ff., Bd. I, S. 133-135 [Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1968], MM. Firmin Didot, Nouvelle Biographie generale depuis les temps les plus recules jusqu'ä 1850-60, Paris 1862, Bd. I, S. 206-207 [Rosenkilde et Bagger, Kopenhagen 1967], G. Sarton, Introduction to the History of Science, 3 Bde. in 5 Teilen, Baltimore 1927-1948: Bd. III/l, S. 8 8 9 892; H. Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, 2 Bde., München 1978: Bd. II, S. 312-314.

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Venedig zuerst im Jahre 1547 und nochmals zusammen mit der Übersetzung des Mathisius, Venedig 1554. Eine Ausgabe der gesamten lateinischen Übersetzungen der Opera omnia von Aktuarios erschien in Lyon 1556. Henri Estienne (Henricus Stephanus) nahm die lateinischen Übersetzungen der Werke des Aktuarios und die von J. Cornarius angefertigte Baseler Übersetzung der Werke des Paulus Aeginetas in sein Sammelwerk Medicae artis principes (Paris 1567) auf. PACHYMERES GEORGES21 (Kap. 46). Der bedeutendste byzantinische Polyhistor des 13. Jahrhunderts (1242-1310). Neben seiner Chronik zeitgenössischer Ereignisse (in 13 Büchern) ist ein Abriß der aristotelischen Philosophie sein wichtigstes Werk. Es wurde im Jahre 1560 in Basel nach der lateinischen Übersetzung von Philippus Becchius gedruckt. PAULUS AUS ÄGINAS22 (Kap. 79, 83, 87): bedeutender Arzt des 7. Jahrhunderts, bekannt für sein umfangreiches Handbuch der praktischen Medizin, in sieben Bücher eingeteilt, die sich hauptsächlich auf Galen, Aetios und Oreibasios beruft. Die erste griechische Ausgabe erschien in Venedig (In aedibus Aldi et And. Asulani) im Jahre 1528. Eine zweite wurde in Basel (1538) von Hieronymus Gemusaeus ediert.23 Zur Zeit Portaleones gab es drei lateinische Übersetzungen dieses Werkes von Paulus Aeginetas: Eine von J. Guinterius Andernacus (Gonthier d' Andernach), die als erste gedruckt wurde (Opus de re medica nunc primum latinitate donatum, Paris 1532); eine zweite von Albanus Torinus (Basel 1532); die dritte von J. Cornarius (mit einem Kommentar, Basel 1556). Die Übersetzung von Cornarius wurde von Henri Estienne in die Medicae artis principes (Paris 1567) aufgenommen. Die anderen lateinischen Ausgaben, wie Venedig (1553, 1554) und Lyon (1562, 1567), unterschiedlich kommentiert,

basieren jeweils auf einer dieser drei Übersetzungen. Die Ausgabe von Lyon 21

22

23

Dazu siehe: Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXXIX, S. 13-14; Sarton, Introduction, Bd. II/2, S. 972; Ch. Hannik, s.v. „Pachymeres", in: R. H. Bautier/R. Auty (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, München/Zürich 1991, Bd. VI, Kol. 1609. Über ihn siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXXII, S. 289; F. Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXXIX, S. 388-389; Sarton, Introduction, Bd. I, S. 479; H. Diller, s. v. „Paulus aus Ägina" (23), in: Pauly/Wissowa (Hrsg.), Realenzyklopädie der Altertumswissenschafl, XVIII.2, 2386-2397; über die Bedeutung und die Ausgaben der Werke des Paulus von Ägina in der Renaissance siehe: E. F. Rice, „Paulus Aegineta", in: P. O. Kristeller/F. E. Cranz (Hrsg.), Catalogue translationum et commentariorum: Medieval and Renaissance Latin Translation and Commentaries, Washington, D.C. 1960, Bd. IV, S. 145-191. Der Herausgeber, Hieronymus Gemusaeus (Gmües), bekam den Doktortitel an der Turiner Universität im Jahr 1533 und lehrte schon im folgenden Jahr in Basel. Er fertigte auch den Index zu den gesamten Werken Galens für die Baseler Ausgabe von Froben von 1542 an. Siehe: Α. Serrai, Storia della Bibliografia. Bibliografia e cabala. Le enciclopedierinastimentali,Roma 1988, S. 375-376.

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Anhang

(1567) enthält die Kommentare und Noten von Guinterius, Cornarius, Goupil und Dalechamps. SYMEON SETH24 (Kap. 83, 87): Byzantinischer Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts, Übersetzer aus dem Arabischen ins Griechische und auch Autor medizinischer Traktate. Sein aus arabischen und anderen orientalischen Quellen kompilierter, alphabetisch geordneter Traktat „Über die Kräfte der Nahrungsmittel" wurde im 16. Jahrhundert gedruckt: De alimentorum facultatibus, griechischer Text mit lateinischer Übersetzimg von Gregorius Gyraldus, Basel 1538 (nachgedruckt 1561).

4) Arabische Autoren: AVENZOAR25 (Kap. 48): Latinisierter Name des Ibn Zuhr (Sevilla 1092/10951162), schon zu Lebzeiten bei den Arabern und den Christen als Arzt berühmt. Portaleone erwähnt das bedeutendste Werk des Avenzoar, das Taysir, ein medizinisches Handbuch (in drei Büchern) über Therapien und Diäten, das Paravicius (oder auch Pathavinus/Patavicius) mit Hilfe des „Magister Jacobus Hebraeus" im Jahre 1280-1281 aus einer hebräischen Vorlage ins Lateinische übersetzte. Seine lateinische Übersetzung (Adjumentum de medela et regimine) wurde mehrmals zusammen mit dem Colliget des Averroes gedruckt: Erstdruck Venedig 1490, dann Venedig 1496,1497,1514,1530,1554,1574, Lyon 1531. AVERROES26 (Kap. 46): Ibn Rushd (Cordoba 1059-1126), Arzt und Philosoph. Er war schon im Mittelalter insbesondere wegen seiner Aristoteles-Kommentare bekannt27 und wurde von der Scholastik heftig bekämpft. Dennoch hatte die averroistische Philosophie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch eine Blütezeit ein der Universität von Padua, wo Alessandro Achillini und Agostino Nifo lehrten. Portaleone bezieht sich auf das medizinische Werk des Averroes

24

Siehe: Sarton, Introduction, Bd. I, S. 771; R. Volk, s.v. „Symeon Seth" (13), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VIE, 1996, S. 365-366; Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd. II, S. 308.

25

Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. I, S. 65-66; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. III, S. 830-832; M. Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die ]uden als Dolmetscher, Berlin 1893, S. 748-752; C. Brockelmann, Arabische Litteratur, 2 Bde., Berlin 1898: Bd. I, S. 486-489; Sarton, Introduction, Bd. U/1, S. 231-234; M. Ulimann, Die Medizin im Islam, in: Handbuch der Orientalistik, Leiden 1970, S. 162-163; R. Arnaldez, s.v. „Ibn Zuhr", in: The Encyclopaedia of Islam, Leiden/London 1971, Bd. ΠΙ, S. 977-978.

26

Michaud, Biographie universelle, Bd. I, S. 501-503; Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen, S. 276-279,546-549,671-677; Brockelmann, Arabische Litteratur, Bd. I, S. 461462; Sarton, Introduction, Bd. Π/l, S. 355-361; Ullmann, Die Medizin im Islam, S. 1 6 6 167; Arnaldez, s.v. „Ibn Rushd", in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. ΙΠ, S. 909-920.

27

Dante erwähnte ihn in bezug auf seinen aristotelischen Kommentar: „Averroes, che Ί gran commento feo" (Inferno, IV,144).

Die Quellen der Shilte ha-gibborim

279

Kitab 'al-kullijjat (auf lateinisch mit Colliget wiedergegeben), das in der lateinischen Übersetzung des Juden Bonacosa (Colliget libri Septem, Padua 1255) im Jahre 1482 in Venedig zum ersten Mal gedruckt wurde. Zahlreich sind die Nachdrucke, meistens zusammen mit dem Taysir des Avenzoar: Venedig 1490, 1496,1497,1507,1510,1514,1530,1531,1533,1549,1553 (ohne Taysir), 1574. AVICENNA28 (Kap. 48, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 88): Ibn Sina (980-1037), Arzt,

Philosoph und Mathematiker. Portaleone bezieht sich auf das wichtigste medizinische Werk Avicennas, den Canon (Qanun). Die lateinische Übersetzung des Canon des Avicenna von Gerhard von Cremona (12. Jahrhundert) wurde zum erstenmal in Paris oder in Straßburg (dieser Erstdruck weist weder Datum noch Druckort auf) mit einem Kommentar von J. de Partibus um 1460 in drei Bänden gedruckt. Es folgten mehrere Drucke: Mailand 1473, Padua 1476,1497, Venedig 1483. Im 16. Jahrhundert wurde die Übersetzung von Gerhard von Cremona revidiert und mit verschiedenen Kommentaren zum Canon mehrmals gedruckt (zum Beispiel Venedig 1520, 1544, 1582, 1595). In einigen italienischen Universitäten blieb der Canon als offizielles Lehrbuch bis zum 18. Jahrhundert in Verwendung.29 RASIS30 (Kap. 48, 84): Al-Razi Abu Bakr Muhammad B. Zakarijja' (oder auch Rhazes). Arzt und Philosoph des 9.-10. Jahrhunderts. Portaleone zitiert das medizinische Handbuch, das Rhazes für den Gouverneur Almansur B. Ishak verfaßt hatte und in der lateinischen Übersetzung von Gerhard von Cremona (12. Jahrhundert) als Liber ad Almansoren bekannt wurde. Der Erstdruck erschien in Mailand im Jahre 1481 und wurde mehrmals nachgedruckt. (PS-)SERAPION31 (Kap. 79, 82, 83, 84, 85, 88): Nicht zu verwechseln mit dem syrischen Arzt Jochannan bar Serapijon (oder Sarafijun), bekannt als „Serapion der Ältere" oder „Johannes Damascenus",32 der um 873 in Damaskus ein umfangreiches medizinisches Handbuch in zwei Fassungen abschloß; die Lang28

29

so

Michaud, Biographie universelle, Bd. I, S. 505-507; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. III, S. 856-862; Brockelmann, Arabische Litteratur, Bd. I, S. 452-458; Sarton, Introduction, Bd. I, S. 709-713; Ulimann, Die Medizin im Islam, S. 152-156; A.-M. Goichon, s.v. „Ibn Sina", in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. ΙΠ, S. 941-947. N. Siraisi, Medieval and early Renaissance Mediane, Chicago 1990, S. 192. Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXXV, S. 272-274; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XLI, S. 779-781; Brockelmann, Arabische Litteratur, Bd. I, S. 233-235, 267271; Sarton, Introduction, Bd. I, S. 609-610; Ulimann, Die Medizin im Islam, S. 128-136; L. E. Goodman, s.v. Al Razi, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. Vm, S. 474-477.

31

Brockelmann, Arabische Litteratur, Bd. I, S. 267, 485; Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen, S. 737; Sarton, Introduction, Bd. I, S. 608-609; Bd. II/l, S. 229; Ullmann, Die Medizin im Islam, S. 283-284; G. Keil, s.v. „Serapion", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VII, 1995, S. 1775-1776.

32

So nennt ihn Albanus Torinus (1543), der das Werk Serapions edierte.

280

Anhang

fassung enthält zwölf Traktate und die Kurzfassung sieben. Die Kurzfassung wurde durch die lateinische Übersetzung von Gerhard von Cremona aus einer arabischen Version in der lateinischen Medizinliteratur als Practica Joannis Serapionis aliter breviarium nuncupata (Erstdruck: Venedig 1479 mit zahlreichen Nachdrucken) bekannt. Portaleone beruft sich auf „Serapion den Jüngeren", einen unbekannten arabischen Autor, der nach 1250 ein Drogenbuch (auf lateinisch Aggregator) verfaßte, das Simon Cordo von Genua zusammen mit Abraham Shem Tob aus Tortosa um 1290 ins Lateinische übersetzte. Der Erstdruck des Aggregator des Serapion (Uber Serapionis aggregatus in medicinis simplicibus) erschien in Mailand im Jahre 1473 (mehrmals nachgedruckt, oft zusammen mit medizinischen Trakaten anderer Autoren, zum Beispiel Venedig 1479,1497; Straßburg 1531; Venedig 1552). 5) Mittelalterliche Autoren: Albertus Magnus (Kap. 46,49), Matthaeus Silvaticus33 (Kap. 82). 6) Zeitgenössische Autoren34: (Kap. 88): Oder auch Prospero Alpini, 1553-1616, Arzt und berühmter italienischer Botaniker. Autor mehrerer medizinischer und botanischer Werke; die bedeutendsten sind: De medicina Aegyptiorum libri quatuor, Venedig 1591, und mehrmals nachgedruckt (Padua 1601, Paris 1615,1646, Lyon 1719). Darin beschäftigt er sich in dialogischer Form mit den endemischen Krankheiten Ägyptens, mit denen er während seines Aufenthalts in Ägypten als Arzt des venezianischen Konsuls Giorgio Emo zwischen 1581 und 1584 Erfahrungen machen konnte. Bei der Beschreibung einiger Heilmittel spricht er auch über den Balsambaum. Der Beschreibung dieses Baums widmete er das Buch De Balsamo dialogue, Venedig 1591, wo er die arabische Herkunft dieses Baums vermutete, was später auch bewiesen werden konnte. In einem anderen botanischen Werk über die therapeutische Anwendung ägyptischer Pflanzen (De plantis Aegypti liber, Venetiis 1592) spricht Alpino von einer Pflanze, die von den Einheimischen „bun" oder „buna" genannt wird, aus deren gerösteten Bohnen ein in Ägypten allgemein übliches Getränk namens PROSPERO ALPINO35

Matthaeus Silvaticus (um 1280-1342), „Pandectarius" genannt nach seinem Werk Liber pandectarum medicinae, das er dem König Robert von Neapel im Jahre 1337 widmete. Das Buch wurde in den Universitäten als Handbuch der Pharmakobotanik und phytotherapeutischen Nomenklatur verwendet. Siehe G. Keil, s. v. „M. Silvaticus", in: Lexikon des Mittelalters, München 1993, Bd. VI, Kol. 400. Die Namen werden genau so wiedergegeben, wie sie von Portaleone erwähnt sind. Uber ihn siehe: G. Lusina, s. v. „Alpino (Alpini) Prospero", in: Dizionario Bibliografico degli Italiani, Bd. I, S. 529-531.

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„caova" gewonnen wird. Das ist der Kaffee. Alpino ist der erste Botaniker, der diese Pflanze und ihre Wirkungen beschreibt. ODOARDO BARBOSA36 (Kap. 85): Barbosa D u a r t e , portugiesischer Seefahrer des

16. Jahrhunderts. Er nahm an der Expedition von Magellan teil, die zur Entdeckung der philippinischen Inseln führte. Sein Reisebericht (Livro em que da relagao do que viu e ouviu no Oriente) wurde von Ramusio im ersten Band seines dreibändigen Werkes Delle navigationi et viaggi, Venedig 1550-1556, auf italienisch unter dem Titel Libro di Odoardo Barbosa portoghese veröffentlicht. ANDREA „BELLUNESO"37 (Kap. 52, 82): der Arzt Andrea Alpago, bekannt auch unter dem Namen Mongaio oder Bongaio oder „Bellunese", das heißt aus Belluno (Belluno, Mitte des 15. Jahrhunderts, Padua 1522). Er hielt sich lange Zeit in Damaskus auf, wo er Arabisch lernte. Er fertigte eine emendierte lateinische Übersetzung von Avicennas Canon an, die einige Jahre nach seinem Tod von seinem Neffen Paolo Alpago herausgegeben wurde: Principis Avic. Libri canonis necnon de medicinis cordialibus et cantica ab Andrea Bellunensi ex antiquis Arabum originalibus ingenti labore summaque diligentia correcti atque in integrum restituti una cum interpretatione nominum arabicorum, quae partim mendosa partim incognita lectores antea morabantur, Venetiis 1527, in aedibus Luce Antonii Junta Florentini (Bibl. Nazionale di Torino Ris. 21.9). Eine neue, von Paolo Alpago selbst verbesserte Ausgabe erschien auch wieder bei der Druckerei von Junta/Giunta im Jahre 1544. CELIO38 (Kap. 72): Celio Rodigino. Sein echter Name ist aber Ludovico Ricchieri, Autor eines philologisch-enzyklopädischen Werkes: Sicuti antiquarum lectionum commentarios concinnarat olim vindex Ceselius ita nunc eosdem per incuriam interceptos reparavit Lodovicus Caelius Rhodiginus. In corporis unam velut molem aggestis primum linguae utriusque floribus. Mox advocato ad partes Piatone item ac platonicts omnibus, necnon Aristotele ac haereseos eiusdem viris aliis sed et theologorum plerisque ac iureconsultorum, ut medicos taceam, et mathesin professos. Ex qua velut lectionis farragine explicantur linguae latinae loca, Venetiis in Aedibus Aldi et Andreae soceri mense februario 1516 (Bibl. Vaticana, Chigi 11.417; Bibl. Alessandrina N.K. 116). Das Werk fand großen Anklang und wurde mehrmals nachgedruckt: Basel bei Johann Froben 1517 (Bibl. Vaticana, R.G. Enc. Diz.

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37

38

Giovanni Battista Ramusio, Navigazioni e viaggi, hrsg. von Marica Milanesi, 6 Bde., Torino 1978-1988: Bd. Π, S. 543-709. Siehe J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860 [Frankfurt a.M. 1989, S. 200]; S. De Renzi, Storia della mediana italiana, 5 Bde., Napoli 1845 [Bologna 1966]: Bd. II, S. 452. Die beste Biographie Andrea Alpagos mit Auskünften über seine Übersetzungsmethode ist die Arbeit von Francesca Lucchetta, II medico efilosofobellunese Andrea Alpago (+ 1522) traduttore di Avicenna, Padova 1964. Siehe: Serrai, Storia della BMiografia, S. 183-185.

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Anhang

II.6), Basel bei Hieronymus Froben/Nikolaus Episcopius 1542 (Bibl. Alessandrina O.H.29), Lyon apud haeredes Iacobi Iuntae 1560 (Bibl. Vaticana, R.G. Class. V 1700), Lyon apud Sebastianum Honoratum 1560 (Bibl. Vaticana, Chigi V.91), ibid. 1562 (Alessandrina, O.C. 82-84), Basel per Ambrosium et Aurelium Frobenios fratres 1566 (Bibl. Vaticana, Ferr. Π.350; Vallicelliana H.VII.84), Frankfurt a.M. apud haeredes Andreae Wecheli 1599 (Casanatense, P.IX.17), Genf bei Albertus 1620 (Bibl. Vaticana, R.G. Storia 11.1060). CLUSIO39 (Kap. 84, 85): Charles de L' Ecluse, Arzt und berühmter Botaniker (Arras 1525?-Leyden 1609). Er reiste durch mehrere Länder Europas (Deutschland, Schweiz, Frankreich, Österreich, Ungarn, Spanien, Portugal, England). Er unternahm auch eine Reise durch die Iberische Halbinsel, um ihre Vegetation zu studieren. Maximilian Π. berief ihn im Jahr 1573 zum Leiter seiner Gärten nach Wien. L' Ecluse nutzte seinen Aufenthalt am habsburgischen Hof, um die Vegetation Österreichs und Ungarns zu erkunden. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen mit zahlreichen Zeichnungen seltener Pflanzen sind in folgenden Werken veröffentlicht worden: Rariorum aliquot stirpium per Hispanias observatarum Historia, Antwerpen 1576; Rariorum aliquot Stirpium per Pannoniam, Austriam, et vicinas Provincias observatarum Historia, Antwerpen 1583. Er übersetzte unter anderem (ins Lateinische) und kommentierte die Werke des portugiesischen Arztes Garcia da Orta (Aromatum et simplicium aliquot medicamentorum apud Indos nascentium historia, Antwerpen 1567, 1574, 1579, 1593), von Nicola Monardes (Simplicium medicamentorum ex novo Orbe delatorum quorum in medicina usus est Historia, Antwerpen 1574, 1579, 1582) und von Cristovao (d') Acosta oder auch da Costa (Christophori α Costa, medici et chirurgi, Aromatum et Medicamentorum in Orientali India nascentium Liber, Antwerpen 1574,1582). DALECAMPIO40 (Kap. 84): Jacques Dalechamps (oder Dalechamp), Arzt und Botaniker aus Lyon (1513-1587 oder 1588). Seine Verdienste als Philologe bestehen in einer lateinischen Übersetzimg des Athenäus, mit dem griechischen Text und einem lehrreichen Kommentar (Lyon 1552, nachgedruckt mit Anmerkungen von Casaubon im Jahre 1597), und in einer Edition der Naturalis historia des Plinius (Lyon 1587, Frankfurt 1599). Das Resultat seiner langjährigen botanischen Forschungen legte Dalechamp in seinem Hauptwerk dar: Historia generalis plantarum, in libros XVIII per certas classes artißciose digesta, Lyon 15861587.

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Über L' Ecluse siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXIII, S. 533-535. Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXX, S. 219-222; P. Ginori Conti (Hrsg.), Lettere inedite di Charles de Γ Escluse (Carolus Clusius) a Matteo Cacini, floricultore fiorentino, Firenze 1939. Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. X, S. 40-41. Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XII, S. 804-805.

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GARCIA DALL' HORTO41 (Kap. 83, 84, 85): Garcia da Orta (um 1500 Castelo de

Vide, Portugal - 1568 Goa) portugiesischer Arzt und Naturalist jüdischer Abstammung. Er war zwischen 1530 und 1534 als Dozent an der Universität zu Coimbra tätig. 1534 begleitete er als Leibarzt den neuen Vizekönig Martim Alfonso de Souza ins „Östliche Indien". Während seiner Aufenthalte in Goa erkundete Garcia da Orta die dort heimischen Naturprodukte. Die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte Orta in seinem berühmten Werk Colöquios dos simples, e drogas he cousas mediqinais da India, e assi d' algumas frutas achadas nella onde se tratam algumas cousas tocantes a medigina pratica, e outras cousas boas, Goa 1563. Dank der lateinischen Übersetzimg von L' Ecluse wurde das Werk des Orta unter den europäischen Gelehrten bekannt. FRANCISCO LOPEZ DE GOMARA42 (Kap. 85): (1510-um 1560). Als Missionar hielt er sich vier Jahre lang im „Westlichen Indien" auf. Nach seiner Rückkehr nach Spanien veröffentlichte er die Historia de las Indias y Conquista de Mexico (Zaragoza 1552) und die Historia general de las Indias (Medina 1553), denen zahlreiche Nachdrucke unter verschiedenen Titeln folgten. Eine erste italienische Übersetzung von A. de Cravaliz erschien zuerst in Rom (1556), eine zweite ohne Angabe des Übersetzers (aber wohl Lucio Mauro) ein Jahr später in Venedig. Von beiden Übersetzungen folgten zahlreiche Nachdrucke.43 BARTOLOMEO DE VARTHEMA44 (Kap. 53, 85): Der Name ist fehlerhaft angegeben. Es handelt sich um Ludovico de Vart(h)ema aus Bologna, der seine Reiseerlebnisse im Fernen Osten in seinem Itinerario beschrieben hat. Das Buch wurde im Jahre 1510 gedruckt und hatte viel Erfolg, auch außerhalb Italiens. Bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stand es in hohem Ansehen, es wurde mehrmals nachgedruckt und in mehrere Sprachen übersetzt. Über seinen Autor wissen wir sehr wenig.

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43

44

Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XX, S. 24; H. J. Paoli, in: Archivio di storia della scienza Π (1921), S. 202-210; C. R. Boxer, Two Pioneers of Tropical Medicine: Garcia d' Orta and Nicolas Monardes, London 1963. Ivan A. D'Cruz, „Garcia da Orta in Goa: pioneering tropical medicine", in: Black Media Journal 303 (1991), S. 1593-1594; N. Allan, „A Jewish physician in Portuguese India", in: South Asia Library Group Newsletter 41 (1994), S. 22-27; E. Shafrir, „Garcia da Orta: eminent physician and botanist, victim of the inquisition", in: Israel Journal of Medical Sciences 32/11 (1996), S. 1150. Siehe Michaud, Biographie universelle, Bd. XVII, S. 126-127; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXI, S. 147. Ilaria Luzzana Caraci/Mario Pozzi, Scopritori e viaggiatori del Cinquecento e Seicento, Bd. 1, Milano/Napoli 1991, S. 660 Anm. 2. Siehe ibid., S. 283-369.

Anhang

284

(Kap. 4 ) : ( 1 4 3 3 - 1 4 9 9 ) . Der wichtigste Vertreter des Platonismus in Italien in der Renaissance. Ficino versuchte, mittels Piaton die Philosophie mit der christlichen Religion zu vereinbaren. Im Auftrag des Cosimo de' Medici übersetzte Ficino das gesamte Corpus hermeticum (Erstdruck 1471), das Corpus platonicum (Erstdruck 1483-1484) und die Werke Plotins (1492). Das Gesamtwerk Ficinos wurde in Venedig im Jahr 1516 und dann in Basel mehrmals gedruckt (1561,1567,1576). MARSIUO FICINO45

(Kap. 52): Pierre Gilles, französischer Humanist und Naturforscher (Albi 1490-Rom 1555). Die Lektüre der Werke des Aristoteles, Aelians und Plinius' erweckten in ihm das Interesse für die Naturforschimg. Er studierte insbesondere die Fische des Mittelmeers. Der Kardinal Georges d' Armagnac, Bischof von Rhodi, unterstützte seine Forschungen und spornte ihn an, sein wichtigstes Werk zu verfassen: Ex Aeliano historia, latini facti, itemque ex Porphyrio, Heliodoro, Oppiano, luculentis accessiortibus audi, libri XVI De Vi et Natura Animalium; Liber unus De gallicis et latinis nominibus piscium, Lyon (Seb. Gryphe) 1533. Gilles hat fast die ganze Tiergeschichte Aelians ins Lateinische übersetzt und seine Bemerkungen beigefügt. Conrad Gesner, der auch eine lateinische Übersetzimg der gesamten Werke Aelians anfertigte (Zürich 1556), verwendete Gilles' Werk. Dabei hat Gesner Gilles' Übersetzung vervollständigt, die Kapitelordnung des Textes Aelians, der Gilles nicht gefolgt war, wiederhergestellt und die Gilles zuzuschreibenden Bemerkungen identifiziert. PIETRO GILLIO 46

(!) (Kap. 7 2 ) : Portaleone erwähnt ihn als Autor eines Mechanicae artis opus. Der Name ist falsch angegeben und mit dem Mathematiker und Astronomen GUIDOBALDO bzw. UBALDO GUIDO DEL MONTE 47 ( 1 5 4 5 - 1 6 0 7 ) zu identifizieren. Er wurde in Pesaro im Jahr 1545 in eine adlige Familie geboren und war der bedeutendste Vertreter jener Gelehrten, die an der Schule von Commandino48 ihre mathematische Bildung bekamen. Aus der Schule von GUIDOBONO

45

A. Deila Torre, Storia dell' Accademia platonica di Firenze, Firenze 1902; Kieszkowski, Studi sul platonismo del Rinascimento in Italia, Firenze 1930; P. O. Kristeller, The Philosophy ofMarsilio Ficino, New York 1943.

46

Über Gilles siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XVI, S. 458-459. Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XX, S. 542-543.

47

Über ihn siehe U. Bottazzini, „Antichi paradigmi e nuovi metodi geometrici", in: P. Rossi (Hrsg.), Storia della scienza moderna e contemporanea, 3 Bde., Torino 1988: Bd. 1, S. 134-139.

48

Federico Commandino (1509-1575) übersetzte ins Lateinische und kommentierte verschiedene griechische Werke mathematischen und geometrischen Inhalts. Darunter sind seine lateinische Übersetzung von Euklid (Pesaro 1572), Archimedes (Venezia 1558), von den Conica des Apollonius Pergaeus (Bologna 1566) und Pappus (Pesaro 1588) zu erwähnen. In seinem Buch Liber de centro gravitatis solidorum, ex off. Alex. Benacii (Bologna 1565) legt Commandino seine geometrische Forschung über das Baryzentrum, unter klaren archimedischen Einflüssen, vor.

Die Quellen der Shilte ha-gibborim

285

Commandino stammten auch Bernardino Baldi49 (1553-1617), der Übersetzer der Automata von Herones und Mathematiker von Ferrante Gonzaga in Mantua, und Torquato Tasso (1544-1595), dessen Freundschaft mit Del Monte auf die Studienzeit bei Commandino zurückging. Del Monte war nicht nur ein Gelehrter, sondern nahm auch an den politischen und militärischen Ereignissen seiner Zeit teil und bekleidete dabei wichtige Ämter. Er kämpfte gegen die Türken in Ungarn (1566) und in Lepanto (1571) und war Oberaufseher der Burgen und Feshingen des Großherzogs der Toskana. Del Monte verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in seinem Stammschloß von Montebaroccio und widmete sich seinen geliebten mathematischen Studien. Sein erstes wichtiges Werk, auf das sich Portaleone bezieht, ist der Traktat über die Mechanik (Guidiubaldi Ε Marchionibus Montis, Mechanicorum Uber, Pisauri apud Hieronymum Concordiam, 1577s0), das von Filippo Pigafetta ins Italienische übersetzt wurde (Le Mechaniche dell' illustriss. sig. Guido Ubalde de' marchesi Del Monte: tradotte in volgare dal sig. Filippo Pigafetta nelle quali si contiene la vera dottrina di tutti gli istrumenti principali da mouer pesi grandissimi con picciola forza, in Venetia appresso Francesco di Franceschi Sanese, 1581)51. Diesem Werk folgte das Planispheriorum universalium Theorica, Pesaro 1579,52 in dem sich Del Monte mit den geometrischen Veränderungen der ebenen Figuren und mit der Herstellung von Instrumenten, um die Kegelschnitte zu zeichnen, beschäftigt. In den Perspectivae libri sex, Pesaro 1600,53 faßt Del Monte die theoretischen und vor allem praktischen Kenntnisse über die Regeln der Perspektive, die durch Künstler, Architekten und Mathematiker im Lauf des 16. Jahrhunderts gesammelt und erarbeitet wurden, zusammen, mit dem Ziel, sie strikt wissenschaftlich zu begründen und auszulegen. Mit der archimedischen Tradition der Mechanik und mit dem Versuch, eine Verbindung zwischen Archimedes und Aristoteles herzustellen, beschäftigt sich Del Monte in den In duos Archimedis aequeponderatium libros Paraphrasis scholiis illustrata, Pisauri apud Hieronymum Concordiam, 158854. Del Montes Interesse für die Astronomie ist in den Problemata astronomicorum libri Septem (Venetiis apud Bernardum Iuntam, 1609) und in dem De ecclesiastic! calendarii restitutione opusculum (apud Hieronymum Concordiam, Pesaro 1580) belegt. 49

50 51 52

53

54

Baldi war nicht nur Mathematiker, sondern auch Historiker, Bibelwissenschaftler, Literat, Theologe. Über ihn siehe Serrai, Storia della Bibliografia, S. 418-419. Turin, Biblioteca Nazionale, Signatur: Q144/2. Turin, Biblioteca Nazionale, Signatur: Q VI 123. Siehe: Rocco Sinisgalli/Salvatore Vastola, La teoria sui planisferi universali di Guidobaldo Del Monte, Firenze 1994. Siehe dazu: Rocco Sinisgalli, I sei libri della prospettma di Guidobaldo dei marchesi Del Monte, dal latino tradotti, interpretati e commentati da Rocco Sinisgalli, Roma 1984. Turin, Biblioteca Nazionale, Signatur: Q144/1.

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Anhang

(?) (Kap. 8 4 ) : wahrscheinlich ein Druckfehler und „Lobelo" zu lesen. Vielleicht handelt es sich um den flämischen Arzt Matthias De Lobel55 ( 1 5 3 8 1 6 1 6 ) , der das botanische Werk des Pietro Pena (siehe unten) mit einem Anhang und einem Verzeichnis versah. LOLOBEO

LONICERO56 (Kap. 87): Adam Lonitzer (1528-1586), Mathematiker, Arzt und Botaniker. Verfasser des Naturalis Historiae opus novum, Frankfurt 1551 (Köln, Universitätsbibliothek Ν 1/7). (Kap. 79, 8 2 ) : Siena 1500-Trient 1577, Arzt und Botaniker. Sein Name ist mit den Kommentaren zu Dioskurides verbunden. Nach der ersten Ausgabe (II Dioscoride con gli suoi discorsi aggiuntovi il sesto libro degli antidoti contra tutti i veleni, Venedig 1544), die Mattioli auf italienisch verfaßt hatte, weil die meisten Apotheker, für die das Werk gedacht war, kein Latein konnten, fertigte Mattioli eine lateinische Ausgabe (Commentarii in VI libros Pedacii Dioscoriduis de medica materia, Venedig 1554) an. Der Kommentar des Mattioli hatte einen unglaublichen Erfolg. Es erschienen mehrere Nachdrucke (ich konnte in der Nationalbibliothek von Turin einen Nachdruck noch vom Jahre 1621 finden, gedruckt in Venedig bei Marco Ginami) und Übersetzungen, sogar ins Böhmische. Die eleganteste Ausgabe ist die venezianische von Valgrisi: I discorsi di M. Pietro Andrea Matthioli sanese, medico cesareo, et del serenissimo principe Ferdinande d' Austria etc. nelli sei libri di Pedacio Dioscoride Anazarbeo della materia medicinale. Hora di nuovo dal suo istesso autore ricorretti, et in piü di mille luoghi aumentati. In Venetia appresso Vincenzo Valgrisi, 1568 (Biblioteca Nazionale di Torino 0154). RETRO ANDREA MATTIOLI 57

(Kap. 53): aus Mailand, wurde Arzt des Königs Johannes ΙΠ. von Schweden. Er ist Autor der Historia de magno animali, quod Alcen vocant et de ipsius partium in re medica facultatibus, die zusammen mit der Historia cervi rangiferi et gulonis im Jahr 1581 in Mailand erschien. Portaleone kannte dieses Buch in der italienischen Version von M. Costanzo Felici, der als APOLLONIO MENABINO 58

55

Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXV, S. 89; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXXI, S. 603-604.

56

Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXV, S. 4 - 5 ; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXXI, S. 419. Über Pier Andrea Mattioli siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXVII, S. 290291; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXXIV, S. 325-327; J. Stannard, P. A. Mattioli: Sixteenth-Century Commentators on Dioscorides, in: University of Kansas Librairies, Bibliographical Contributions, Lawrence 1969, Bd. 1, S. 59-81; F. Cortesi, in: Enciclopedia Italima Treccani, Bd. XXII, S. 601.

57

58

Uber Apollonio Menabino siehe: Chr. W. Kestner, Medicinisches Gelehrten-Lexicon, Jena 1740 [Hildesheim/New York 1971], S. 534-535; G. Tiraboschi, Storia della letteratura italiana, 32 Bde., Milano per Antonio Fontana 1828: Bd. 22, S. 170-171; Thorndike, History of Magic, Bd. VI, 311.

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Anhang seiner Übersetzung folgenden kurzen Traktat über die wundervollen Eigenschaften des Wolfes hinzufügte: Trattato del grand' animale ο gran bestia, cost detta volgarmente et delle sue parti efacultä e di quelle del Cervo, che seroono a medici, d' Apollonia Menabeni medico efilosofo; e del medemo, Del cervo rangifero e del gulone. Dalla latina tradotto nell' italiana lingua da M. Costanzo Felici, medico e da lui aggiunto in molti luochi. Et del medemo M. Costanzo Delle virtü et proprieta del lupo. In Rimino per Giov. Simbeni & comp., 1584 (Bibl. Vaticana Racc. I. V. 289 int. 2). NICOLA MONARDES59 (Kap. 78): Nicolas Monardes (1512-1588), spanischer Arzt.

Neben anderen medizinischen Werken hat er ein Buch über die Pflanzen des „Westlichen Indien" geschrieben: Dos libros, el uno que trata de todas las Cosas que traen de nuestras Indias Occidentales, que sirven al uso de la medicina, y el otro que trata de la Piedra Bezoar y de la Yerva Escuerzonera, Bd. 1 Sevilla 1569, Bd. 2 Sevilla 1571. Die Resonanz dieses Buches ging über die spanischen Grenzen hinaus, und es gab davon verschiedene Übersetzungen. Bereits im Jahre 1569 erschien eine italienische Ausgabe des ersten Bandes, und L' Ecluse übersetzte es im Jahre 1574 ins Lateinische (siehe oben). Eine weitere italienische Ausgabe des Monardes erschien zusammen mit dem Werk des Garcia da Orta in Venedig im Jahre 1576 (nachgedruckt in den Jahren 1582 und 1605).60 OVIEDO61 (Kap. 86): Gonzalo Fernandez de Oviedo y Valdes (Madrid 1478Valladolid 1557), spanischer Politiker und Historiker. Er ist der offizielle Chronist der Eroberung der neuen Welt. Die ersten 20 Bücher seines wichtigsten Werkes, Historia general y natural de las Indias islas y tierra firme del mar Ociano, 59

60

61

F. Guerra, Nicolas Bautista Monardes: su vida y su obra ca. 1493-1588, Mexico 1961; Boxer, Two Pioneers, London 1963; J. Lasso de la Vega y Cortezo, Biografia y estudio critico de las obres del medico Nicolas Monardes, Sevilla 1996. Ich habe folgende Ausgabe verwendet: Due libri dell' historia dei semplici aromati et altre cose che vengono portate dall' Indie Orientali pertinenti all' uso della medicina. Di don Garzia Dali' Horto, medico portughese; con alcune brevi annotazioni di Carlo Clusio. Et due altri libri parimente di quelle che si portano dall' Indie Occidentali, di Nicold Monardes medico di Siviglia. Hora tutti tradotti dalle loro lingue nella nostra Italiana da M. Annibale Briganti, Marrucino da Civitä di Chieti, dottore e medico eccellentissimo. Con privilegio. In Venetia appresso Francesco Ziletti, 1582 (Biblioteca Nazionale di Torino, Signatur Ο I X 212). Michaud, Biographie universelle, Bd. XXXI, S. 546-547; Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XXXVIII, S. 1002-1003. Über die Bedeutung von Oviedo und dessen Einfluß auf die europäischen Gelehrten siehe: A. Gerbi, La natura delle Indie nuove. Da Cristoforo Colombo α Gonzalo Fernändez de Oviedo, Milano 1975; E. Alvarez Lopez, „La historia natural en Fernandez de Oviedo", in: Reoista de Indias XVII (1957), S. 541-601; J. Pardo Tomas, „Le immagini delle piante americane nell' opera di Gonzalo Fernandez de Oviedo (1478-1557)", in: G. Olmi/L. Tongiorgi Tomasi/A. Zanca (Hrsg.), Natura - Cultura. L' interpretazione del mondofisico nei testi e nelle immagini. Atti del Convegno Intemazionale di Studi. Mantova, 5-8 ottobre 1996 (Accademia Nazionale Virgiliana di Scienze, Lettere e Arti, Miscellanea 8), Firenze 2000, S. 163-188.

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Anhang

wurden zwischen 1535 und 1537 in Sevilla und Salamanca gedruckt. Das gesamte Werk wurde aber erst in den Jahren 1851-1855 in vier Bänden in Madrid von der „Real Academia de la Historia" vollständig herausgegeben. Portaleone erwähnt hier nur den Namen des Autors und nicht sein Buch, aber es ist höchst wahrscheinlich, daß Portaleone ein anderes Buch des Oviedo kannte, nämlich das Sumario de la natural historia des las Indios, Toledo 1526, das im Jahr 1534 in Venedig als italienische Übersetzimg unter dem Titel erschienen war: Libro secondo delle lndie Occidentali [...] Summario della naturale et generale historia dell' lndie Occidentali, composta da Gonzalo Ferdinande del Oviedo. Die erste Ausgabe wurde ohne Angabe des Verlegers bzw. Druckers von Giovanni Battista Ramusio im dritten Band seiner ersten Ausgabe der Navigazioni et Viaggi (Venedig 1566) nachgedruckt. (Kap. 84, 85, 87): oder Penna, Arzt und Botaniker des 16. Jahrhunderts. Portaleone bezieht sich hier auf folgendes Werk Penas: Nova stirpium adversaria, perfacilis vestigatio luculentaque accessio ad priscorum, praesertim Dioscoridis, & recentiorum materiam medicam: auctoribus Petro Pena et Matthia De Lobel medicis. Quibus accessit appendix cum indice variarum linguarum locupletissimo eodem M. De Lobel auctore. Additis Guillielmi Rondellettii aliquot remediorum formulis numquam antehac in lucem editis, Antverpiae, apud Christophorum Plantinum Architypographum Regium 1576 (Biblioteca Nazionale di Torino, 0141). PIETRO PENA 62

(Kap. 46, 49): Frangois de la Rue, flämischer Arzt und Naturwissenschaftler (Lille 1520-1585), Autor des De gemmis aliquot iis praesertim, quarum divus loannes in sua Apocalypsi meminit, de aliis quoque, quarum usus hoc aevi apud omnes percrebruit, Libri duo, Paris 1547 (dann Zürich 1565). Das Buch wurde von Konrad Gesner in seinem De omni rerum fossilium genere, gemmis, lapidibus, metallis, et huiusmodi, libri aliquot, plerique nunc primum editi, Tiguri 1565, beigefügt. FRANCESCO ROHEO63

THEBETO64 (Kap. 85): Andre Thevet (1516/1517-1592), Gelehrter und Geograph. Er nahm im Jahr 1555 an einer französischen Expedition nach Brasilien teil. Er ist der Autor einiger geographischer Werke, die schon zu seiner Zeit stark kritisiert wurden: Cosmographie du Levant, Lyon 1554, 1556, Antwerpen 1556; Les singularitez de la France antarctique, autrement nommee Amerique et de plusieurs terres et isles decouvertes de notre temps, Paris 1558, Antwerpen 1558; La cosmographie universelle illustree de diverses figures des choses plus remarquables vues par l'auteur, 2 Bde., Paris 1571,1575.

62 63 64

Siehe: Michaud, Biographie universelle, Bd. XXXII, S. 422. Thorndike, History of Magic, Bd. VI, 306. Siehe: Didot, Nouvelle Biographie, Bd. XLV, S. 127-128; A. Serrai, Storia della Bibliografia III. Vicende ed ammaestramenti della „Historia Literaria", Roma 1991, S. 240-241.

Die Quellen der Shilte ha-gtbborim

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(Kap. 46): (Cosenza 1 4 8 2 - 1 5 3 4 ) . Humanist und Onkel des berühmteren Bernardino Telesio, mit Giordano Bruno und Tommaso Campanella einer der wichtigsten Naturphilosophen des 16. Jahrhunderts in Italien. Antonio Telesio lehrte Grammatik in Rom und Venedig, und war Lehrer von Philipp II. in Mailand. Portaleone zitiert einen kleinen Traktat Telesios über die Farben De coloribus (Venedig 1528), von denen Telesio anhand von Zitaten der klassischen Autoren eine philologische Beschreibung bietet. Außerdem ist Antonio Telesio Autor folgender Werke: Poemata (Rom 1524), eine Lyriksammlung von naturalistischem und elegischem Inhalt; Itriber aureus (Venedig 1528), eine Tragödie über den Mythos von Daphne und die belesenen Adnotationes ad. Q. Horatium Flaccum (ohne Druckangabe). ANTONIO TELESIO65

GIOVANNI VALENZIO

1545.

(Kap. 4): Autor des Opus de prosodia Hebraeorum, Paris

1.4. Ferner konnte ich noch folgende neuzeitliche Autoren als ungenannte Quellen Portaleones identifizieren: (1524-1600): Arzt und Literat mit enzyklopädischen Interessen. Außer medizinischen Traktaten schrieb er über Wasserkunde, Botanik, Zoologie und Mineralogie. Im Jahr 1567 bekam er den Lehrstuhl für Botanik an der Universität „La Sapienza" in Rom, den er bis zu seinem Tod innehatte. Portaleone verwendet zwei Traktate des Bacci, einen über den „Alicorno" (Einhorn) und einen über den „Alce" (Elch), die „Gran Bestia", von denen verschiedene Ausgaben vorliegen: L' Alicorno discorso dell' eccellente medico et filosofo M. Andrea Bacci, nel quale si tratta della natura dell' Alicorno et delle sue virtu eccellentissime, Fiorenza appresso Giorgio Marescotti 1573 (Biblioteca Vaticana, Barb.M.n.24).67 Eine weitere revidierte Ausgabe mit Hinzufügung medizinischer Ratschläge gegen Vergiftungen erschien im Jahre 1582 in Florenz: Discorso dell' Alicorno dell' eccellente medico et filosofo M. Andrea Bacci, nel quale si tratta della natura dell' Alicorno et delle sue malte virtü. Rivisto dal proprio Autore con aggiunta delle ANDREA BACCI66

65

66

67

A. Pagano, Antonio Telesio, Napoli 1922; A. Asor Rosa, Letteratura Italima. Gli autori: Dizionario bio-bibliografico e indici, 2 Bde., Torino 1990-1991: Bd. 2, S. 1707. Siehe: O. Shepard, The Lore of the Unicorn, London 1930 [London 1967], S. 161-168; Α. M. Crespi, s. v. „Andrea Bacci", in: Dizionario biografico degli Italiani, 29 Bde., Roma 1960ff.: Bd. V (1963), S. 29-30 und Thorndike, History of Magic, Bd. V, S. 484-485; Bd. VI, S. 315. Crespi (siehe oben) zitiert noch zwei weitere lateinische Ausgaben (Venedig 1566 und 1586), die ich aber nicht finden konnte.

Anhang

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esperienze e di molte cose notabili contro a' veleni. In Fiorenza appresso Giorgio Marescotti 1582.68 Der Traktat über den „Alicorno" wurde zusammen mit dem Traktat über den Elch und einem anderen über Edelsteine nochmals in Rom gedruckt: Le XII pietre pretiose le quali per ordine di Dio nella santa Legge adornavano i vestimenti del sommo sacerdote. Aggiuntevi il diamante, le margarite e Γ oro poste da S. Giovanni nell' Apocalisse in figura della Celeste Gerusalemme: con un sommario dell' altre pietre pretiose. Discorso dell' Alicorno e delle sue singolarissime virtu. Et della gran Bestia detta Alce da gli Antichi, Roma appresso Giovanni Martineiii 1587 (Bibl. Vaticana, Cicognara IV. 2740). Diese Trakate wurden durch lateinische Versionen auch im Ausland bekannt und mehrmals gedruckt: Die Traktate über den „Alicorno" und den „Alce" erschienen im Jahre 1598 in Stuttgart und zusammen mit dem Traktat über die Edelsteine in Frankfurt a. M. (1603 und 1643): De Gemmis et lapidibus pretiosis eorumq(ue) viribus et usu tractatus italica lingua ccmscriptus nunc vero non solum in latinum sermonem conversus verum etiam utilissimis annotationibus et observationibus auctior redditus. A Wolfgango Gabelchovero medicinae doctore et phisico Caluvensi ordinario. Cui accessit disputatio de generatione auri in locis subterraneis illiusq(ue) temperamento. Francofurti ex officina Matthiae Beckeri impensis Nicolai Steinii 1603 (Bibl. Vaticana, Barberini Ν. I. 32). GEROLAMO CATANEO (oder

auch Cattaneo): schrieb im 16. Jahrhundert über die Kriegskunst. In Kap. 42 verwendet Portaleone folgenden Traktat als Quelle für die Beschreibung, wieviel Schießpulver für jede Kanonenart paßt: Dell' arte militare libri cinque, ne' quali si tratta il modo di fortificare, offendere, et diffendere una fortezza: Et V ordine come si debano fare gli alloggiamenti campali, e formare le battaglie. Et nell' ultimo V esamine de' Bortibardieri, e di far fuochi arteficiati. Di Hieronimo Cataneo Novarese. In Brescia appresso Pietro Maria Marchetti 1584 (Biblioteca Reale di Torino 1-6/51). Cataneo ist auch der Autor eines mehrfach gedruckten Handbuches für die Vorbereitung zur Prüfung der angehenden Kanoniere: Avertimenti et essamini intorno α quelle cose che richiede (sic!) α un bombardiero, Brescia 1567 (Biblioteca Reale di Torino I 6/64); nachgedruckt mit folgendem Titel: Avvertimenti et essamini intorno α quelle cose che richiedono a un perfetto bombardiero, Venedig 1580 (Biblioteca Reale di Torino I 6/50). Es ist als fünftes Buch dem Werk Dell'arte militare (Brescia 1584) hinzugefügt worden.

68

Biblioteca Vaticana Signatur: R.I.V. 289 int. 1. In demselben Band ist auch die italienische Version der Traktate des Menabino über die „Gran Bestia", den Hirsch und den „gulone" gebunden.

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Dell' arte di scrimia libri tre. Di M. Giovanni Dali' Agocchie Bolognese. In Venetia appresso Giulio Tamborino 1572 (Biblioteca Reale di Torino L - 56/57) GIOVANNI DALL' AGOCCHIE:69

(1508-1568), vielseitiger Autor und Übersetzer zahlreicher Werke. Seine kabbalistischen und hermetischen Vorstellungen legte er in einem kleinen Traktat über die Steine dar: Libri, tre di M. Lodovico Dolce, ne i quali si tratta delle diverse sorti delle gemme che produce la natura, della qualitä, grandezza, bellezza, & virtü loro. In Venetia appresso Gio. Battista, Marchio Sessa, et fratelli, 1565 (Biblioteca Nazionale di Torino, Dono.Ciaccio.908). LUDOVICO DOLCE

Jesuit, Autor einer Beschreibung des salomonischen Tempels: De Templo, et de iis quae ad templum pertinent, libri quinque, Lugduni 1592 (Antwerpen 1593,1602). Verwendete Ausgabe: Antwerpiae 1602, apud Martinum Nutium (Biblioteca Apostolica Vaticana R.I.V. 450). FRANCISCO RIBERA,

geboren in Viterbo Anfang des 16. Jahrhunderts und gestorben in Venedig im Jahr 1566, war Autor und Herausgeber von Werken unterschiedlichen Inhalts. Er arbeitete als Berater und Korrektor bei dem Drucker Vincenzo Valgrisi in Venedig. Wegen grammatikalischer und lexikalischer Entscheidungen zur italienischen Sprache hatte er heftige Auseinandersetzungen mit seinem Rivalen Ludovico Dolce (1508-1568), der für den Drucker Giolito de' Ferrari arbeitete. Portaleone verwendet in Kap. 42 folgenden Traktat des Ruscelli über Militärtechnik: Precetti della militia moderna tanto per mare quanto per terra. Trattati da diversi nobilissimi ingegni e raccolti con molta diligenza dal Signor Girolamo Ruscelli. Ne' quali si contiene tutta V arte del Bombardiere et si mostra V ordine che ha da tenere il maestro di campo, quando zmole accampare il suo esercito. In Venetia appresso gli heredi di Marchi Sessa 1568. [Biblioteca Reale di Torino L- 27 (36)]. RUSCELLI GIROLAMO,70

Diese Verzeichnisse der Quellen weisen die vielseitigen Interessen Portaleones auf. Als Arzt verfügte er über eine gute Allgemeinbildung, denn außer den medizinischen Fächern war auch eine philosophische und humanistische Ausbildung im Studiengang der Ärzte des 16.-17. Jahrhunderts vorgesehen.71 Portaleone war aber auch auf anderen Gebieten bewandert wie Musik, 69 70

71

Dieser Autor ist mir unbekannt. Siehe Serrai, Storia della bibliografia, S. 358-360, mit einem Verzeichnis der Werke Ruscellis. Über den Studiengang der Medizinstudenten an den italienischen Universitäten des 15./16. Jahrhunderts siehe: H. F. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, Oxford 1936 [neue Ausgabe von Μ. Powicke/A. Β. Emden herausgegeben, Oxford 1987]; W. Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa. Von der Reformation bis zur französischen Revolution (1500-1800), München 19%.

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Anhang

Technik, Kriegskunst, was mit seiner medizinischen Ausbildung nicht in Zusammenhang stand. Dennoch soll man die Behauptung Portaleones, eine Vielzahl von Autoren und von in verschiedenen Fremdsprachen abgefaßten Werken verwendet zu haben, kritisch bewerten. Sicherlich konnte Portaleone außer Italienisch, Hebräisch und Aramäisch noch Latein und Griechisch. Aber alle Autoren, deren Werke in einer anderen Sprache verfaßt sind, sind entweder Zitate zweiter Hand oder ins Italienische bzw. Lateinische übersetzt worden. Das trifft beispielsweise auf die arabischen Autoren zu. Portaleone hatte ihre Werke während seiner Universitätsausbildung auf lateinisch studiert, wie er selbst bezeugt.72 Denn die Texte von Avicenna, Rasis, Avenzoar, (Ps-)Serapion wurden in den italienischen Universitäten des 16. Jahrhunderts noch studiert und kommentiert.73 Dafür verfügte man außer über die lateinischen mittelalterlichen Übersetzungen,74 die die Drucker (der großen Absatzmöglichkeit, die diese Werke darboten, bewußt) sehr früh herausbrachten, teilweise auch über andere moderne und verbesserte Übersetzungen. Von Avicenna kannte Portaleone die neue lateinische Ausgabe von Andrea Alpago „Bellunese" (Venedig 1527, in der Druckerei des Lucantonio Giunta) und von Averroes die lateinische Übersetzung von Abraham de Balmes. Auch Namen in einer anderen Sprache als Italienisch, Latein und Griechisch schrieb Portaleone einfach ab. Bei der Abhandlung der Pflanzen in den Kapiteln 78-87 pflegte Portaleone neben den italienischen, lateinischen und griechischen Namen der Pflanzen auch ihre Bezeichnungen auf Französisch, Deutsch, Arabisch und sogar Polnisch und Böhmisch75 anzuführen. Diese entnahm er aber dem Kommentar Mattiolis zu Dioskurides. 72

Shilte ha-gibborim, S. 185b: „Mit diesem ehrenwerten Meister [R. Abraham ben David Provenzali] ging ich nach einigen Jahren nach Pavia, um bei der Versammlung der Ärzte die Weisheit der Philosophie des Aristoteles, die Medizin der Griechen, des Hippokrates und Galens und der anderen Weisen von den arabischen Ärzten zu lernen."

73

Über die Bedeutung der griechischen und arabischen Autoren im Studiengang der medizinischen Fakultäten des 16. Jahrhunderts siehe: N. Siraisi, Avicenna in Renaissance Italy: The Canon and Medical Teaching in Italian Universities after 1500, Princeton 1987.

74

Der bedeutendste mittelalterliche Übersetzer aus dem Arabischen ins Lateinische war Gerhard von Cremona (1114-1187). Ein Verzeichnis seiner Übersetzungen ist von Sarton (Introduction, Bd. II/l, S. 338-344) angegeben. Für die Verbreitung der arabischen Medizin im Mittelalter siehe: H. Schipperges, Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter (Sudhoffs Archiv Beiheft 3), Wiesbaden 1964 und M.Th. D' Alverny, Translators and Translations, in: R. L. Benson/G. Constable (Hrsg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge 1982, S. 421-462.

75

Bei der Beschreibung des Balsams wird der Majoran erwähnt mit seinem böhmischen und polnischen Namen, die Portaleone von Mattioli abgeschrieben hat. Shilte hagibborim, Kap. 78, S. 83a.

Die Quellen der Shilte ha-gibborim

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Ferner stammen viele Autoren-Zitate aus zweiter Hand. Das gilt insbesondere für die byzantinischen Autoren, von denen die meisten aus Mattiolis Kommentar zu Dioskurides abgeschrieben wurden.76 Dennoch ist anzunehmen, daß Portaleone ihre medizinischen Werke entweder auf griechisch oder (sehr viel wahrscheinlicher) in einer lateinischen Ausgabe kannte.77 Auch griechische und lateinische Autoren zitierte Portaleone nach anderen Werken: Strabon, Pausanias, Theophrast, Galen, Justin der Historiker, Plinius und Solinus, die Portaleone in Kapitel 78 im Zusammenhang mit den Bemerkungen zum Balsam erwähnt, sind dem Kommentar Mattiolis entnommen. Die von Mattioli zitierten Stellen von Theophrast und Plinius werden jedoch von Portaleone weiter ergänzt. Das zeigt, daß Portaleone die Texte dieser beiden Autoren gekannt und als direkte Quelle verwendet hat. Für Plinius hat Portaleone wahrscheinlich die Ausgabe der Naturalis historia benutzt, die von Dalechamps ediert wurde.78 Zugänglich dürften ihm außerdem die beiden Ausgaben von Froben (Basel 1525 und 1539) gewesen sein. Obwohl Portaleone Griechisch konnte, werden einige griechische Autoren nach einer lateinischen Ausgabe zitiert, die sicher leichter zu lesen war: Piaton nach der lateinischen Übersetzimg Marsilio Ficinos, Aelian nach der lateinischen Ausgabe von Pierre Gilles, Dioskurides nach der ins Italienische übersetzten und kommentierten Ausgabe Mattiolis. Dasselbe gilt wahrscheinlich auch für Aristoteles und Theophrast, von denen neben den griechischen Ausgaben79 zahlreiche lateinische Übersetzungen vorhanden waren. Auch Galen, dessen erste griechische Gesamtausgabe in Venedig in aedibus Aldi et Andreae Asulani im Jahre 1525 erschienen und mehrmals nachgedruckt worden war,

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Aktuarios, der in Kap. 84 in bezug auf den Kostus erwähnt wird, ist dem botanischen Werk Pietro Penas entnommen worden. Paulus Aeginetas, Symeon Seth, Aktuarios, die in Kap. 87 in bezug auf den Bernstein zitiert werden, sind aus dem Kommentar Mattiolis zu Dioskurides abgeschrieben worden. Ebenso aus dem Kommentar Mattiolis zu Dioskurides (1,21) stammt das Zitat von Paulus Aeginetas in Kap. 83. An der Universität von Padua fing man ab dem Jahr 1490 an, die aristotelische Philosophie teilweise direkt aus dem Griechischen auszulegen. Da die Philosophie für das Studium der Medizin erforderlich war, konnten auch Medizinstudenten über Kenntnisse der griechischen Sprache verfügen. Das Lateinische blieb dennoch immer dominant. Das Lehrprogramm für Medizin an der Universität von Pavia soll ähnlich gewesen sein; die Lehrordnungen für die medizinische Fakultät sind uns aber nicht erhalten geblieben. Siehe Siraisi, Avicenna, S. 91 Anm. 46 und S. 96-97. Portaleone erwähnt in Kap. 84 Dalechamps („Dalecampio"). Die erste griechische Ausgabe des Aristoteles zusammen mit Theophrast ist die aldinische von 1495-1498 in 5 Bänden, die sogenannte „Aldina maior". J. B. Camotius edierte zwischen 1551 und 1553 für den Verleger Paulo Manuzio eine zweite griechische Ausgabe von Aristoteles und Theophrast in 6 Bänden, die „Aldina minor". Theophrast allein wurde von Oporinus (Basel 1541) herausgegeben.

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studierte Portaleone während seiner Studienzeit an der Universität von Pavia sehr wahrscheinlich auf lateinisch. 80 Bemerkenswert ist die Tatsache, daß mittelalterliche lateinische Autoren unter den Quellen der Shilte ha-gibborim kaum vertreten sind, abgesehen von De mitieralibus des Albertus Magnus, 81 der unter den Naturforschern des 16./17. Jahrhunderts noch als eine Autorität galt. 82 Keine der mittelalterlichen jüdischen Enzyklopädien, die im 16. Jahrhundert gedruckt wurden, wie beispielsweise der Sha'ar ha-shamayim von Gerschon ben Shlomo (etwa 13. Jahrhundert, Erstdruck Venedig 1547) 83 oder die Shevile ha-'emunah von R. Meir ben Isaak Aldabi (1360, Erstdruck Riva di Trento 1559), die sich Portaleone relativ leicht hätte besorgen können, zählen zu den Quellen der Shilte ha-gibborim. Seine Hauptquellen bestehen aus der halakhischen bzw. exegetischen jüdischen Literatur, aus der klassischen Literatur und aus Werken zeitgenössischer Autoren. Auch bei den Zitaten der arabischen Traktate in jenen Kapiteln, die sich mit der Botanik, Stein- und Tierkunde befassen (das heißt Kap. 48-50, 78-88), zeigt sich die Modernität der Shilte ha-gibborim. Während

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Über die Ausgaben der Werke Galens siehe: Richard J. Durling, „A Chronological Census of Renaissance Editions and Translations of Galen", in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 24 (1961), S. 230-305. Siehe die mit Anmerkungen versehene englische Übersetzung von D. Wyckhoff: Albertus Magnus, Book of Minerals, Oxford 1967. Über die Steinkunde des Albertus Magnus siehe: J. M. Riddle/J. A. Mulholland, „Albert on stones and minerals", in: J. A. Weisheipl, Albertus Magnus and the Sciences. Commemorative Essays, Toronto 1980, S. 203-234. So ist es zum Beispiel bei Aldrovandi (Thomdike, History of Magic, Bd. VI, S. 276), Juan Fragoso (Discursos de las cosas aromaticas arboles y frutales y de otras muchas medicinas simplices que se traen de la India Oriental, Madrid 1572, ins Lateinische übersetzt von Israel Spach: Aromatum fructuum et simplicium aliquot medicamentorum ex India utraque et Orientali et Occidentali in Europam delatorum quorum icon est usus plurimus historia brevis utilis et iucunda. Conscripta primum Hispanice a loanne Fragoso Philippi II Hispan. regis medico et chirurgo. Nunc Latine edita opera ac studio Israelis Spachii M.D. et professoris Argentinensis cum notis marginalibus atque indice. Argentinae excudebat Iodocus Martinus anno 1600; Thorndike, History of Magic, Bd. V, S. 469; Bd. VI, S. 314-315), Anselm Boece de Boodt (Anselmi Boetii de Boodt Prugensis Belgae Rudolphi secundi imperatoris Romanorum personae medici, Gemmarum et lapidum historia, Hanoviae 1609; Thomdike, History of Magic, Bd. VI, S. 318), Andrea Cesalpino (De metallicis, Romae 1596; Thorndike, History of Magic, Bd. VI, S. 334), Girolamo Cardano (Hieronymi Cardani Mediolanensis medici De rerum varietate libri XVII, Basileae 1557; Thorndike, History of Magic, Bd. V, S. 564, 570), Giovanni Battista Deila Porta (Magiae naturalis sive de miraculis rerum naturalium libri IV. Io. Baptista Porta Neapolitano auctore, Neapoli apud Matthiam Cancer, 1558; Thorndike, History of Magic, Bd. VI, S. 420), Gerönimo Cortes, Phisonomia y varios secretos de naturaleza, Valencia 1601; Thorndike, History of Magic, Bd. VI, S. 429). Englische Übersetzung von F. S. Bodenheimer, Rabbi Gershon ben Shlomoh d'Arles, The Gate of Heaven, Jerusalem 1953.

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Yohanan Alemanno84 etwa 100 Jahre davor die arabischen und griechischen Autoren noch axis den hebräischen mittelalterlichen Übersetzungen zitierte, bezieht sich Portaleone dafür, wie gesagt, auf die lateinischen Ausgaben. Dieses zweipolige Interesse Portaleones für halakhische, liturgische und exegetische Werke einerseits und für klassische und zeitgenössische Autoren andererseits ist keine Ausnahme. Die 430 Bücherlisten, die die jüdische Gemeinde von Mantua im Jahr 1595 für die Zensoren aufstellen mußte, belegen, daß die jüdischen Privatbibliotheken in Mantua am Ende des 16. Jahrhunderts überwiegend aus religiösen Werken bestanden. Nach der statistischen Auswertung dieser Listen, die S. Baruchson durchgeführt hat, lassen sich die Bücherbestände bezüglich ihres Inhalts wie folgt unterteilen: 34,6 % Liturgie, 22,2 % Bibel und biblische Kommentare, 10,7 % halakhische Literatur, 6,2 % Moral, 4,2 % Lehrbücher und Konkordanzen, 3,8 % Philosophie, 3 % Talmud und Mischna, 2,7 % Kabbala, 2,6 % Midrash und Aggadah, 2,4 % italienische Literatur, 1,6 % rabbinische Gesetzeskunde (Sche'elot u-teschuvot), 1,1 % wissenschaftliche Literatur (meistens Medizin).85 Gering ist im Vergleich der Anteil der Bücher in italienischer Sprache. Man muß jedoch berücksichtigen, daß diese Listen nicht komplett sind. Einige Besitzer haben nicht alle ihre Bücher angegeben, entweder weil sie befürchteten, von der Inquisition bestraft zu werden, oder weil sie es für bestimmte Bücher nicht für nötig hielten, und letzteres betrifft sicher die nichtjüdischen Bücher.86 Es ist uns auch die Liste der Bücher erhalten geblieben, die Portaleone für die Expurgation von 1595 aufstellte: Portaleone gab nur hebräische Handschriften und Bücher an.87 Wir wissen aber, daß er eine gut ausgestattete Bibliothek mit zahlreichen lateinischen, italienischen Werken besaß. In seinem Testament hinterließ Portaleone seinem Sohn David, der 1596 auch in Padua wie sein Vater den Doktortitel in Medizin erhalten hatte, alle seine hebräischen, lateinischen und italienischen Bücher über die Medizin und die 84

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Das wichtigste Werk Alemannos, Hay ha-'olamim, ist in zwei Handschriften erhalten geblieben. Nur der erste Teil, die Rhetorik, ist von Fabrizio Lelli ediert und ins Italienische übersetzt worden: Yohanan Alemanno, Hay ha-'olamim detti Reverendi possino conforme a giustizia conseguire il suo. Mando a V. S. lettere scritte dal Signor Ferrante Ghisone che sono in tutto numero tredici sotto le date le quali in fine di questa lettera, et fra queste sono quelle che a di passati V. S. mando fuori de quali farä cancellare la nota ove io sono di esse fatto debitore. Commanda S. Altezza che V. S. dica a Möns. Rev.mo Vescovo ch' il dovere voleva che Sua Signoria Reverendissima giä da me informata di commissione di S. Altezza della tolleranza di Sua Santita ch' il medico hebreo possi medicare in compagnia de' mediä christiani non lasciasse publicare quella bolla, ne parlar di questo in pulpito dalli padri Predicatori ma prima darne parte all' Altezza Sua. (seguono altre disposizioni che non riguardano piü gli ebrei).

Archivio Gonzaga, F II 8, 2624 Keine Angabe zum Empfänger (20. März 1583)

Illustre Signore Se ben credo chel Cicognone havrä scritto a V.S. 1' istanza ch' a me scrive, non dimeno ad ogni buon fine mando a V.S. qui inclusa una lettera sua che mi capito heri; siamo a peggio termine che mai nel negotio del medico hebreo, pero V.S. faria opera che saria grata a molti, et io lo riceverei per molta gratia, se procurasse che Sua Altezza restasse servita che di novo si scrivesse a Roma al Signor Zibramonte, perche ottenesse ordine che fosse di sodisfatione a Möns. Vescovo, et che la gratia che sua Beatitudine ha coneesso potesse havere effetto, mi rimetto nondimeno a quanto parerä a V.S. di fare, con che le bacio le mani et le desidero ogni contento. Di Mantova il 20 di Marzo 1583. Di V. S. Illustre Affectionatissimo Servitor Camillo di Castiglione

Archivio Gonzaga, F II 8, 2624 Keine Angabe zum Empfänger (6. April 1583)

Illustre Signore Quel ch' io pensai di dir a V.S. questa mia mattina era, chel negozio del medico hebreo parmi quello dell' Hidra, perche risorge sempre qualche novo intrigo, Möns. Rev.mo Vescovo, ha fatto pena a questo povero giudeo con rogito di

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notaro docento scudi, sempre che medicarä senza compagnia d' un medico crisitano, questa cosa ha dell' impossibile, perche bisognarä che 1' hebreo havessi di continuo un cristiano alia scarsella, et non bastaria perche molti non vogliono far la spesa di due medici, oltre che non e dubbio che la persecutione di questo pover' huomo e causata tutta dalli medici cristiani che non vorrano che fossi loro toccato il guadagno, et pero si puo credere che non vorranno medicar in sua compagnia, et a questo modo conseguiranno il loro intento et 1' infermi patiranno. Ma questa conditione della pena di docento scudi suddetti, che Möns. Vescovo ha voluto fare, et parria che potTebbe bastare chel medico hebreo nelli casi particulari et d' importanza pigliasse compagnia d' im medico Cristiano, et nelle purghe et infermitä senza periculo potesse medicare solo, volevo pregar a viva voce, et hora lo supplico con questa police (?), che si degni con buon proposito dime una parola a Sua Altezza, accioche s' ella restarä servita possa pigliar quel rimedio che le parerä piü espediente a beneficio di tutta la cittä: Bado le mani di V.S. et me le raccomando in gratia. Di Mantova il 6 d' Aprile 1583. Di V.S. Illustre Servitor affection.mo Camillo di Castiglione

Archivio Gonzaga, F II 8, 2625 Keine Angabe zum Empfänger (27 Mai 1584)

Molto Ill.re S.r mio oss.mo Per il Lei servitio con la misericordia ho fatto tutto quello e stato in mio poter a cio che Mons.r Rev.mo et quelli Sig.ri conservatori che vi erano restassero contenti di dar parolla et se ne facesse rogito del conceder a V. S. ancora giusta stima tutte le terre che a quello loco Pio pervenivano per causa di quel m.co S.r Lud.co Coradi, avanti si sia venuto alia convocatione ne ho tratato al longo con Mons.r Rev.mo con le Scriture in mano, et di piu hoggi avanti la convocatione gli ho condotto il S. Dottore Portaleone per ordine Suo con Ii quali ho tratato, dedotto et mostrato tutto quello che a V. S. allego, ma in somma redotti alla convocatione non si han volsuto Ii conservatori allargiar di prometterli cosa alcuna ma fatto rescritto eil memoriale „habebitur ratio" Allegan.o non doversi dar promessa di cosa che non hanno certa. Mons.r. Rev.mo mi dice che V. S. venuto il caso resti sicura che Lei sara la prima chiamata. Π S. Giulio Farini109 vi era presente al qual ho fatto dir che si havrebbe potuto dir „fiat

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Der Name könnte auch Facini sein.

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dxinunodo per hospitale obtineatur(sic!) terras" ma non Ii harä volsuto dire mi rinvolsi(?) ancor haver potuto ottener quello. Saria suo desiderio che veram.te da meno e, mancato ne mancara per 1' awenir in cio et in altro che saro bene al servirLa tenendomi cosi obblig.to a meriti Suoi et con cio pregan.la ogni Sua compita felicita in bona gratia de V.S. Dl.ma mi racc.do. Di Mantova Gli 27 Maggio 1584. Di V. S. molto Ill.re Obblig.mo Servidore Alless.ro Rosa

Archivio Gonzaga, Libro dei decreti n. 90 Privileg des Herzogs Vincenzo I. für Portaleone, um Christen behandeln zu dürfen (3. Dezember 1587)

Vincentius Dei gratia etc. Cum Abraam Portaleo medicus hebraeus Nobis exponendum curavit sibi a Ser.mo D. Gen.re nostro rec. mem.110 concessum fuisse, ut cuiuscumque generis aegrotis mederi posset, ut letteris eius Celsitudinis XTV Cal. Octob. 1577111 opportune expeditis constat, a Nobisque suppliciter petierit, ut concessionem praefatam ipsi confirmare, et impartiri ne gravemur, eius precibus annuentes praesentium litterarum suarum obsignatione dicti Porta Leoni eandem potestatem facimus, qua sibi liceat in urbe hac nostra, eiusque ditione cuiusque generis aegrotis, ubi requisitus fuerit, mederi, sicuti medicis Christianis licet; sie enim ei concessimus. Nec obstet proclama, quo id ei prohibitum erat. Datae Mantuae III Nonas Decembris 1587 Vincentius Matthäus Gent.s [= Gentiiis] Cancellarius visa supplicatione pridie Idus Octobris proximi opportune signata scripsit Cizzolius

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Abkürzung für „a serenissimo domino genitore nostro recentis memoriae". Der Herzog Guglielmo, Vater von Vincenzo I., war im selben Jahr gestorben. = 18. September 1577.

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Archivio Gonzaga, F II 8,2641 Brief von Federico Cattaneo, dem herzoglichen Ratsherrn, an den Bischof von Melfi, Matteo Brumani, Suffragan des Bischofs Ercole Gonzaga in Rom (1. September 1588)

Molto El.mo et Rev.mo Möns, mio oss.mo In questa dttä si trova un Abramo Portaleone ebreo medico, che ha havuto il padre, et gli avi della medesima professione; questo fu addottorato in Pavia, et accettato nel Collegio de' medici di questa cittä, della quale per decreto de' Principi e cittadino, e sono 14 anni che egli esserdta qui 1' arte della medicina con molta laude, cosi per il nome che porta di sufficienza, come per esser costumato e discreto, et raccordar a gli infermi quel che tocca all' anima servando la religione Christiana hebbe questo huomo licenza ad instanza del Duca Guglielmo di felice memoria da Papa Gregorio di felice memoria di poter medicare christiani, ma con conditione all' hora che in compagnia sua fosse un medico christiano, hora perche nascono molte difficoltä a servire in suddetta conditione, come si puo vedere dall' annessa sua scrittura, disidera S. A. d' ottenere dalla Santitä di Nostro Signore che sia levata detta conditione a questo pover' huomo carico di molta famiglia, e do non tanto per causa sua quanto per sodisfatione di molti Gentiii Huomini, et benefici di moltissimi poveri, et per dubbio che costui non vaddi in altra parte, che per esser valent' huomo, et trovarsi a questi di' penuria di boni medici, saria dannoso alla cittä, se si levasse, ha peröo V.stra Signoria Rev.ma da procurare la gratia, et che per lettera di Cardinale a questo Möns. Vescovo „vivae vods oraculo", si testifichi che Sua Santitä conceda sia tolerato il suddetto medico a medicar christiani senza quella conditione di dovere haver in sua compagnia altri, et alli medid Christiani il potersi far medicare da lui senza scandalo alcuno. Fa honesta la dimanda un capitolo della bolla di Sua Santitä di 22 d' ottobre 1586 fatta alli Hebrei,112 di che mando copia, si come facdo d' un decreto che fu concesso da Papa Leone X ad uno de' suoi maggiori, et do ad ogni buon fine per facilitare maggiormente il negotio, il qual incarico a V.stra Sig.ria Rev.ma d' ordine di Sua Altezza Serenissima, et a Lei bado con ogni affetto le mani. Di Mantova il primo di settembre 1588. Di V.S. molto Ill.ma et Rev.ma Ser.re e affect.mo Federico Cattaneo

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Es handelt sich um die Bulle Christiana pietas des Papstes Sixtus V., mit der man unter anderem den jüdischen Ärzten erlaubte, auch bei Christen die Medizin auszuüben.

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Archivio Gonzaga, F II 8,2643 5. Oktober 1588

Al Molto ΠΙ .re Sig.re mio Sig.r et padrone sempre colend.mo 1' Ecc.mo S.r Maroello Donati Conte di Ponzano etc. a Fiorenza Molto Ill.re et Ecc.mo S.r et padrone colend.mo Se da casa di V. S. molto Ill.re io non havessi saputo che ella fosse in Fiorenza, in Corte certo io non 1' havria inteso, pero se non gli ho scritto prima che hora come son debitore dello stato in che si ritrova S. A. Ser.ma la mi havra per iscusato poi che non ho errato per negligenza. Hora sapra V. S. molto Ill.re che la febre di S. A. Ser.ma ha preso forma di terzana doppia notha, et serva la regola delle sue essaurbationi con poco freddo sempre circa alle 21 höre, e assai manco intensa del solito, ne le leva la quiete della notte restano la mattina quasi come monda, quei dolori vaghi che sentiva nelle giunte nel tempo del freddo si sono risolti, la testa non patisce piu tanto calore come faceva, et ogni altro accidente e sopito fuori che la milza la quale e ancora ripiena di molti flati et di qualche humore grosso, il fegato non e ben libero di qualche obstrutione et lo sthomaco con qualche stanchezza abracia il cibo, si seguono Ii brodi alterati, prese una volta le brogne [= prugne] medicate del S.r Conforto Ecc.mo che Ii operarono comodamente, si fanno Ii fomenti et le ontioni sollte alla milza, sthomaco et fegato, beve il vino con la infusione del tamarisco fresco, osserva la regola del viver solito, et alla prima occasione si sta in pensiero abhorrendo molto il rhab.o [= rabarbaro] di dargli sei drammi di diacatholicona (?) con once due di (???) dissolti con le aque di capilvenere et citratho (?). N.sro S.r Iddio gli conceda quella compita sanita che S. A. Ser.ma et noi insieme gli desideriamo. Di casa V. S. molto Ill.re havra inteso del stato dell' hoss.mo S.r Giulio, oggi e la settima che gli venne in faccia con molta furia et grand.ma febre uno heresipella phlegmonoso il quale con tutto che occupi hora tutta la testa esteriormente, ha anco alterato molto le parti interne et percio ne seguitano delirii, imbecillita de tutte tre le facoltä et febre ardentissima et maligna, da prindpio prese 3 χ di [= tre volte al di] fior di cassia e fu la sera che venne a Mantova et opero assai, la mattina seguente si fece il salasso al braccio, se gli prescrisse la dieta conveniente, gli siruppi, gargarismi, elletuarii, pulveri e cristeri necessarii, se gli posero Ii vessicatorii alle braccia, gambe, et spalle, et poiche 1' eresipella e phlegmonoso si pensava anco alle sanguisuge [sie!], ma le forze debili, non Γ admettono, siamo hormai fuora della settima, et da hier sera a questa mattina non ha perso, voglio il S.r Iddio che si habbia quel successo felice che si desidera che per ottenerlo non si manca di ogni mezzo necessario, fra tanto V.S. molto Ill.re et Ecc.ma mi conserva in sua buona gratia che gli

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resto perpetuo et obligatissimo servo. N.ro S.r Iddio la feliciti etc. Di Mantova il 5 Ottobre 1588 D. V. S. Molto Ill.re M.M. et Ecc. Servitor humil.mo Abramo Portaleone medico hebreo P.S. habbiamo questa mattina che e il principio della 28. ritrovato S.A. Ser.ma monda di febre.

Archivio Gonzaga, F II 8, 2643 (12. Oktober 1588) Brief von Portaleone an Marcello Donati

Al Molto III .re Sig.re mio Sig.r et padrone sempre colend.mo 1' Ecc.mo S.r Marcello Donati Conte di Ponzano etc. a Fiorenza Molto Ill.re et Ecc.mo S.r mio colend.mo Dopo Ii debiti saluti fo sapere a V. S. molto Ill.re che la Sere.ma S.ra Duchessa e senza febri et gia comincia a levarsi di letto per desinare tornando a riposarsi dopo due höre, la sera non si leva, per non andar da un estremo all' altro senza passar per il debito mezzo, la milza si va rissolvendo, et il fegato si va liberando dalle sollte obstrutioni, ma lo sthomaco non e cosi ben fermo come bisognerebbe, prima per che patisoe per se stesso, et poi ancora per che gli vien transmesso dalla testa molta copia di catarrho che lo rilassa, non ha ancora preso niun medicamento solo si va trattenendo con gli alteranti sino che passi il tempo delle consuete purgationi, et dopo se gli mi fara la debita instanza che ricercara il bisogno, N.ro S.r Iddio gli doni compita et lunga sanita. La morte poi del mag.co et hon.do S.r Giulio mi ha si trafitto 1' anima che non sono parole ne ragioni che siano in tutto atte a consolar me medemo non che V.S. molto Ill.re ma per che e necessario il morire, conviene che ci contentiamo che sia passato virtuosamenteper quella istessa strada per la quale havendo a passar ogn' uno, passeremo noi ancora, toleri dunque V.S. molto Ill.re questo colpo di fortune con quella somma fermezza che sa tolerar qual si voglia sinistra cosa, et attende bene a conservarsi sano sicome io sempre gli auguro ogni contento et il colmo de suoi alti pensieri, fra questo mezzo gli fo humilissima riverenza et gli bacio con ogni affetto le ecc. et molto ilLre mani etc. Di Mantova il ΧΠ Ottobre 1588 Di V.S. Molto Dl.re et Molto mag.ca Servidor perpetuo Abramo Portaleone medico hebreo

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Archivio Gonzaga, F II 8,2649 Keine Angabe zum Empfänger. Portaleone bittet, befreit zu werden, sich für eine Konsultation nach Correggio zu begeben (16. September 1590).

Molto Illustre Sig.re et padrone mio oss.mo L' Ecc.mo Signor Paolo Grasso mi commette in nome dell' ni.mo Signor Fabrizio da Correggio che io mi debba transferir sino a Correggio per occasione di una terzana semplice che ha e che percio ne ha fatto scrivere a S. A. Ser.ma accdo me lo comandi, io non medicai mai detto Dl.mo Signore, il male e salubre per natura sua come mi scrive detto Signor Paolo, di piü per le molte fatiche fatte tre mesi sono in questa citta et per quelli che di nuovo si fanno non mi sento atto a patir questo disturbo, ho (che piü importa) una infinitä di infermi Ülustrissimi, Blustri, di buoni casi, et di mendicanti che vivono sulle mie spalle et che stanno in pericolo di vita, parte de' quali sono in questa poliza qui rinchiusa accio che V. S. molto Illustre se ne possa informare, ho mia moglie, mio figlio et mio fratello infermi, a w i anco 1' occasion della licenza di Roma che non si estende se non sopra il mantovano, percio supplico V. S. molto Illustre restar servita di far si che S. A. Serenissima si compiaccia d' aggraziarmi che resti a casa al servizio di tanti gentilhuomini, massime non essendo la infermitä di detto Signore tanto pericolosa, ne io tanto Ecc. Signore posso raccordar cos' alcuna al detto Signor Paolo a quale io cedo di gran luna di saper et di dottrina, spero et non indarno mi sarä permesso di V.S. molto illustre questo favore, percio facendogli humil riverenza gli bacio le illustrissime mani pregandogli ogni suo santo desiderio etc. Di Mantova il XVI settembre 1590 Di V. S. molto Illustre affectionatissimo Servitor Abramo Portaleone medico hebreo

Archivio Gonzaga, F II 8,2654 Brief von Camillo Gattico, Senatsvorsitzender, an den Herzog (23. April 1591)

Quando sua Altezza penso di metter freno alle molestie che tutto il di s' udiva esser fatta [corretto poi in „data"] dalli medici di questo Collegio a messer Abramo Portaleone fisico hebreo io come quello, a cui Γ A. S. disignava di dar tal commissione, cominciai restringermi in me medesimo et a considerare s' era lecito al Prencipe temporale metter mano in cosa, che pareva prohibita dalli sacri Canoni per il capitolo [corretto in „cap.o"] „Nullus" 28 „quaestio prima", ove e vietato sotto pena di scomunica ad ogni christiano il chiamare nelle

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infermitä sue medico hebreo, e ricevere mediana da lui, mi risolsi nondimeno per molte ragioni, che cio fossi lecito a S. Α., et ch' ella potessi commandare a questi medici, che lasciassero liberamente medicare christiani da da detto messer Abramo; la prima ragione consiste in una universale consuetudine, per la quale pare che sia derogato al rigore et prohibitioni di detti Canoni, come determina 1' Abbate Panormitano113 nel cap.° p.° n.° p.° di „iud. et servat", la quale consuetudine si vede osservarsi per tutte le Cittä d' Italia in buona parte, ove gli hebrei sono non solamente honorati dalle dignitä dottorali ne' pubblici gimnasi, ma anco possono medicare massime col consenso dei Principi temporali, di come si puo mostrare in questa Patria per decreti dei molti Principi passati, ch' io tralascio di nominare, et a tempi d' hoggi ciö si vede permesso in pubblici decreti impressi, come dall' annesso Privilegio cap. 22 dal Signor Duca di Savoia Emanuello confermato dal moderno suceessore, come intendo, et qui tralasciando molti essempi, che si potrebbero addure, s' adduce la seconda ragione fondata nella qualitä de' tempi calamitosi, et molto difettosi di medici, suffirienti in questo Stato, com' e troppo manifesto, nel qual caso non essendo veramente questo Collegio atto et sufficiente (prae hoc dolor) alia causa dell' infermi di questa Patria et Stato, che vanno tuttavia multiplicando, et si teme anco di peggio (absit omen) par cosa ragionevole et pia il conceder licenza a' medici hebrei di poter medicare christiani, come dice il Moriano nel detto cap.0 p.° et il Felino114 ivi nella predetta limit. La 3a ragione a persuadere il medesimo, la sufficienza, et eccellenza del detto messer Abramo mostrata con infiniti casi et essempi in questa Patria approbato dal medesimo Collegio, et verificata ultimamente dall' universale, come ci prova il Felino nel luogo sudetto nella 2° limit., dove nel proposito dice, „quando propter eminentia (sie!) scientiae relaxatur legis dispositio", et e d' avertire che stando le cose in questi termini non solamente puo il Principe temporale dar licenza ad un tal medico, ma anco gli istessi christiani infermi lo possono chiamar senza altro, et prendere mediana da esso, che cosi parlano gli sudetti dottori, di che ho voluto dar parte a V. S. Ill.ma, cosi perche il Signor Camillo Castiglione me η' ha caldamente ricercato, come anco perche veggo la riputatione di S.A. toccata in questo, non essendo ancor ben secco 1' inchiostro dell' intimatione penali, ch' io in nome dell' A. S. feci 1' altro di a ciascheduno di questi medici personalmente, i quali sprezzate le commission! di S. A. et

u3 Niccolö de' Tudeschi, genannt „Abt Panormitano" (1386-1445), Benediktiner und berühmter Kanonist. Eine Folioausgabe seiner Werke in zehn Bänden wurde noch 1617-1618 in Venedig gedruckt. 1,4 Sandeo Felino Maria (geb. 1444 in Feiina bei Parma, gest. 6. September 1503 in Rom). Bischof von Lucca und Kanonist. Über ihn siehe J. Madey, s. v. „Sandeo Felino Maria", in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8 (1994), Sp. 1308-1309.

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vilipesi gli ministri suoi se ne vanno ridendo, essendosi di nuovo pubblicata qui (come ricorda) una scomunica contro quelli che si medicherarmo dal detto medico procurata (come si dubita grandemente) dalli medesimi medici, che sempre sono stati persecutori d' esso messer Abramo. Nel che a me par sia piü che necessario che S. A. procuri d' esser certificata di questo fatto, et farmi quella prowigione, che conviene alla dignitä sua, et che ricorre la ragione di buon govemo rimettendomi pero in tutto et per tutto al giudizio di S. A. et alla terminacione di S.ta Chiesa, et a V. S. Dl.ma bacio le mani. Di casa alü 23 d' Aprile 1591. D.V. Ill.ma Affect.mo Servitor Camillo Gattico

Archivio Gonzaga, F II 8,2666 (14. August 1595) Brief von Portaleone an Alessandro Montefiore, Leibarzt von Ippolito Gonzaga

Ill.mo et Ecc.mo Sig.re Ε troppo grande la cortisia di V. S. Ill.ma et Ecc.ma in compiacersi della determinatione mia sopra al salasso che si propone per 1' Ill.mo Sig.r Conte Hippolito Gonzaga mio Sig.re colend.mo e certo di debito saria che mi la passassi con silenzio, stando che a lei sta di approbar la proposta mia, e non a me di confirmar Ii dottissimi rissolutioni sui, ma perche cosi si degna di comandarmi, con la occasione massime che io sono tanto fidelissimo a questo Ill.mo Sig.re a cui desidero ogne salute et contento, dico che quando visitai Sua Signoria Ill.ma viddi che 1' una et 1' altra gamba era molto tumida, e sicome in superficie erano rosseggianti, cosi sulla carne et sulli musculi di dette parti vi era una gran copia di materia putridosa sottile dove si risultava una crisipilla edimatosa, e poiche vi era la febre continua la quale credo che perseveri, et da supponere che d' ogni hora sia andata crescendo la flussione e che con la occasione della putredine si sia fatta anco maggior ebullitione onde ci sia conflusso di sangue caldo e fervente che non solo per il dominio di se stesso ma anco per la remultione di detta flussione indichi sopra la missione del sangue, pero quanto a me sono con V. S. Ill.ma et Ecc.ma che sia bene di farla (ma parcamente tanto per il subdominio della pituita, quanto per la stagione che corre della canicola) perche non cavandosi lo sangue influente, non sa vedere come sicuramente si possa riuscire ad altri rimedii necessarii, se 1' influsso dunque sia nell' una et 1' altra gamba, quando ben la sinistra fosse piü tumida, caverei il sangue dal bracdo destro per haver riguardo al fegato transmittente, ma quando la sinistra solamente patisse, servando la rettitudine, farei il salasso dal

Urkunden und Briefe aus dem Staatsarchiv von Mantua

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bracdo stanco, seguiterei poi ad ogni modo la purga che havesse riguardo all' uno et all' altro humore, ne mi contenterei di una purgatione sola, anzi al suo tempo non abhorrirei la salsa con qualche portione di legno santo, et rimanendo qualche portione di pituita sottile in detti musculi, tanto per la discussione quanto per la sudoratione, non sprezarei 1' uso delli graspi. Ε questo sia detto piü per obedir a V. S. Ill.ma et Ecc.ma che perche ci sia bisogno del debile parer mio, la mi faccia gratia di far humilissima riverenza al detto Dl.mo Signor Conte in nome mio, di far un baciamano all' Ecc.mo Signor Suo zio il Signor Paulo Poli mio Signore, et a V.S. Hl.ma et Ecc.ma do mille saluti e raccomandandomigli in gratia e raccordandomigli particularissimo servo le auguro il colmo d' ogni suo santo desiderio. Di Mantova il XIIII Agosto del 1595. D. V. S. Dl.ma et Ecc.ma Servitor affectionatissimo Abramo Portaleone medico hebreo

Archivio Gonzaga, F II 8, 2671 Brief des Vikars des Bischofs von Mantua, Ercole Riva, an den Kardinal Alessandrino (2. Februar 1597)

Dlustrissimo et Reverendissimo Signor mio Signor padrone colendissimo Ricevei la lettera di V.S. Ill.ma delli 15 del passato, nella quale in nome anco dei istessi Signori Illustrissimi mi commetteva ch' io prendessi sotto pene di carceri, et altre a mio arbitrio perche nessun' hebreo medicasse Christiani in questa Diocesi, alia quale er risposta dico di havere fatto precetto a messer Abraham Portaleone medico hebreo in questa cittä che nel avenire non medichi piü alcun Christiano, ma esso ha presentato molte sue scritture et licenze che tiene di medicare, et particolarmente una lioenza havuta dalla Santitä di Papa Gregorio XIIII come appare per patente di Molto Dlustrissimo Signor Cardinale Caetano, per la quale pretendendosi di non essere compreso nella suddetta lettera m' ha fatto instanza perche io sospendessi il precetto fin tanto che da V. S. Ill.ma fusse dichiarato se havrä da medicare ο no, onde m' e parso bene mandare come mando qui allegata copia dichiarata patente, accioche vedendoIa possa V. S. Ill.ma ordinarmi quello che havro da eseguire. Si trova un' altro medico hebreo in una terra di questo Dominio, il quale che io sappea non medica, ma anco a lui ho ordinato che sia fatto simile precetto per ubedire a quanto mi ordina V. S. Ill.ma alia quale per fine facendole riverenza prego da Nostro Signore competissima felicitä. Di Mantova alli 2 di Febraio 1597. Di V. S. Dlustr.ma et Rev.ma Devotissimo Servitore

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Anhang

Hercole Riva

Archivio Gonzaga, F II 7,2244 (22. März 1597) Auszug aus dem Brief des Herzogs Vincenzo an Cremasco, seinen Botschafter in Rom, mit einigen Anweisungen betreffs Portaleone

Per il Medico Portaleone non mancate di fare tutti quegli ufficd che bisognano con ogni vivezza poich£ medicando egli con tanta peritia et con maniere che niente ripugnano alia Christiana Religione ci pare di essere in mezzo di fare quanto possiamo accio questi nostri sudditi non siano fraudati della cura di persona di tanta sufficienza, et questo testimonio che Noi facciamo di lui ci pare che dovrebbe solo bastare per indurre S.S.ta a non alterare quelle facolta che da altri Pontefici a lui et suoi progenitori per il continuato corso di cento e piu anni sono State concesse per essercitare la professione della mediana in questa cittä.

Archivio Gonzaga, registro necrologico, 28,254, n. 91 Sterbeurkunde Portaleones

Dom.ca adi 29 luglio 1612 M[esser] Abramo Portaleone hebreo medico nella contrada del Griffone e morto di febbri in cinque mesi di anni 71.

Literaturverzeichnis Hier wird nur die wichtigste Bibliographie aufgeführt. Für weitere bibliographische Angaben siehe die einzelnen Fußnoten.

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