Gewalt – Vernunft – Angst: Interdisziplinäre Zugänge und theoretische Annäherungen [1. Aufl.] 9783658235819, 9783658235826

Das Buch geht der Frage nach, welche Bedeutung Angst und Vernunft im Kontext von kultureller Gewaltförmigkeit und subjek

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German Pages XI, 236 [240] Year 2020

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Gewalt – Vernunft – Angst: Interdisziplinäre Zugänge und theoretische Annäherungen [1. Aufl.]
 9783658235819, 9783658235826

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Zur Gewaltförmigkeit von Kultur (Johannes Bilstein)....Pages 1-18
Bedrohliche Attraktivität – Das Charisma der Gewalt (Hans-Georg Soeffner)....Pages 19-40
Fremdheit – Zwischen Sakralisierung und Ressentiment (Alfred Schäfer)....Pages 41-53
Angst und Vulnerabilität. Anthropologische Zugänge (Jörg Zirfas)....Pages 55-73
(Miss-)Verständnisse der Anerkennung. Zum Problem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘ (Norbert Ricken)....Pages 75-93
Zur Faszinationsgeschichte der Gewalt: Vermittlungen des Unvermittelbaren (Jörn Ahrens)....Pages 95-112
Gewalt in spätmodernen Gesellschaften: Fury Rooms (Jutta Ecarius)....Pages 113-128
Die Gewalt der Medien und die Medien der Gewalt (Jochen Hörisch)....Pages 129-141
Aus Katastrophen lernen? Über den Umgang mit Katastrophen (Lothar Wigger)....Pages 143-161
Politik der Wut (Micha Brumlik)....Pages 163-177
Is It OK to Punch a Nazi? (Holger Schulze)....Pages 179-196
Rechtspopulismus als politische Therapie. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung (Cornelia Koppetsch)....Pages 197-214
Rechtschaffen(d)e Wut. Zur medialen Semantik eines politischen Gefühls (Imke Rajamani)....Pages 215-236

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Jutta Ecarius Johannes Bilstein Hrsg.

Gewalt – Vernunft – Angst Interdisziplinäre Zugänge und theoretische Annäherungen

Gewalt – Vernunft – Angst

Jutta Ecarius · Johannes Bilstein (Hrsg.)

Gewalt – Vernunft – Angst Interdisziplinäre Zugänge und theoretische Annäherungen

Hrsg. Jutta Ecarius Department für Erziehung- und ­Sozialwissenschaften, Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Köln, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Johannes Bilstein Fachbereich Pädagogik, Kunstakademie Düsseldorf Fachbereich Pädagogik Düsseldorf, Deutschland

ISBN 978-3-658-23581-9 ISBN 978-3-658-23582-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Gewalt – Vernunft – Angst

Mit dem Buch werden Geschehnisse zu Gewalt – Vernunft – Angst aufgegriffen und mit wissenschaftlichen Sichtweisen konfrontiert. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Bedeutung Angst und Vernunft im Kontext von Gewaltdarstellungen, Gewalterfahrungen und einer gesellschaftlichen Zunahme an Terrorbedrohung zukommen. Gewalt und Terror sowie die Angst vor Katastrophen haben einerseits neue Ängste und andererseits neue Diskurse über die Grundlagen vernünftiger Reaktionen darauf hervorgebracht. Mentalitätsgeschichtlich ist das Projekt der Moderne eng verbunden mit der Einhegung von Gewalt. Mit Beginn der Aufklärung argumentiert schon Kant vernunftphilosophisch in seinem Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘ 1795, dass die demokratische Verfasstheit von Staaten und der Aufbau von Staatenbündnissen die Chance auf einen dauerhaften Frieden erhöhen. Kant fordert im Grunde einen ‚ständigen Kongress‘, eine Föderation von Staaten, um mit einer praktischen Vernunft Umgangsformen nach einem moralischen Maßstab zu begründen. Hiermit nimmt er das vorweg, wozu auch die UN-Charta von 1945 völkerrechtlich aufruft. Begründungen des Krieges werden gewissermaßen unzulässig, sie werden illegitim. Ausnahmen sollen alleine der Abwehr von außerordentlichen Gefahren oder der Wiederherstellung des internationalen Friedens dienen. Unberücksichtigt bleiben dabei jedoch ökonomische Überfrachtungen durch wirtschaftsstarke Länder, soziale Ungleichheiten und religiöse Machtansprüche. Insofern ist der Kompromiss-Charakter des Kant’schen Modells immer wieder neu zu diskutieren: Inwiefern dient es vor allem der Friedenssicherung von wirtschaftsmächtigen, zumeist säkularisierten spätmodernen Staaten? Liefert es auch Legitimationen zu deren imperialer Ausdehnung? Potestas als rechtmäßige Verfügungsgewalt liefert insofern die ­Basis-Begründung von Staatlichkeit und Frieden mit anderen Staaten. Für Max

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Weber sind ‚alle politischen Gebilde Gewaltgebilde‘, der Staat ist eine menschliche Gemeinschaft mit dem Monopol auf ‚legitime physische Gewaltsamkeit‘. Weber war bewusst, dass religiöse und politische Gewalt eigene Formationen bilden und revolutionär wirken können, Gefühle einer ‚Pflicht zum Glaubenskrieg‘ aufkommen können. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie es gelingen kann, dass Menschen, die potenziell alle die Fähigkeit zur Gewaltausübung haben, friedlich miteinander leben. Die Geschichte von demokratischem Denken ist eng verbunden mit der Herstellung von Frieden und einem gerechten Umgang miteinander, wobei das Recht auf freie Entfaltung und der Erwerb von Eigentum darin eingeflochten sind. Die rationale Einsicht in eine Rechtsordnung mit Gewaltmonopolisierung aufseiten des Staates geht einher mit der Idee und der Umsetzung friedfertigen Umganges, was zugleich dem Prinzip des Demokratischen inhärent ist. Deshalb ist die anthropologische Annahme der ‚Verletzungsoffenheit des Menschen‘ (Popitz) mit Modellen einer gleichberechtigten, auf Vernunft beruhenden Ordnung des Umgangs miteinander zu verbinden. Zugleich erschwert der Schutz menschlichen Lebens als universalistischer Wert die Anwendung und Rechtfertigung von Gewalt. Das Projekt der Moderne ist so auf das Engste mit der Loslösung von Gewalt und der Etablierung von Gewaltlosigkeit verbunden. Daher treffen Gewalthandlungen und gewalttätige Ausschreitungen jeglicher Art – seien sie nun religiös oder politisch motiviert – den Kern unseres demokratischen Selbstverständnisses, insbesondere dann, wenn sie vor Ort geschehen und nicht in fernen Ländern, weit weg von eingefriedeten Räumen. Angst und Unvernunft, Furcht und Aggression, Wut und gewalttätig Unbändiges, wenn nicht sogar animalisch Erscheinendes, bedrohen demokratische Grundwerte und insbesondere die Vernunftorientierung des politischen Handelns, bedrohen auch die Basis-Errungenschaften der Aufklärung, auf denen unser Verständnis von Politik und die Traditionen der Moderne beruhen. Die Geschehnisse verändern die Art der Wahrnehmung und den Blick, denn Augen und Ohren können nicht mehr übersehen, dass auch die violentia weiterhin ihren Platz in der Moderne hat, auch wenn sie ‚vernünftig-gedanklich‘ daraus verbannt zu sein schien. ‚No-Go-Areas‘, (Wirtschafts-)Kriminalität, Gangs, Hooligans, rechte und linke Gewalt sowie häusliche und sexuelle Gewalt bestehen fort, sind immer noch nicht eingehegt. Gewalt wird in vielen wissenschaftlichen Ansätzen der Kultur-, Erziehungsund Sozialwissenschaften vorrangig als Problem behandelt. Das macht darauf aufmerksam, dass Gewalt und das Projekt der Moderne als zwei unterschiedliche Stränge angesehen werden. Daher scheint gegenwärtig das Gefühl auf, dass die Gewalt wieder im Vormarsch ist, dass das Barbarische das Vernünftige erneut

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überschattet, manchmal sogar seinen Platz einzunehmen versucht und uns sprachlos macht. Die Theorie-Modelle von Elias und auch von Foucault unterstellen – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – den zivilisationsgeschichtlichen Prozess eines Wandels vom Fremd- zum Selbstzwang, der körperlichen Einschreibung einer Selbstdisziplinierung, mit der eine Veränderung von Verhaltensmustern und Körperstrukturen verbunden ist. Kampf, Aggression und auch Wut werden vom Einzelnen, vom Subjekt, sublimiert und eingefriedet in ein reflexives Verhalten und Denken, mit dem Gewalt verarbeitet und letztlich gebannt scheint. Gewalt wird in spezielle Räume verbannt wie Fußball oder Kampfsport, in Musik oder begrenzte Lebensphasen (z. B. Jugend). Die Zurichtung des Körpers kontrolliert und fördert Leistung unter dem Duktus der Disziplinierung. Hier lockt dann der Lohn für das Gute, erscheint Gewalt als überflüssig. Beides – der Gedanke einer friedfertigen Staatlichkeit und eines disziplinierten Denkens, Handelns und Körpers – bedarf einer neuen Diskussion, die Gewalt stärker beleuchtet und sie in soziale Ordnungen, in Handeln und Subjektbildung einbezieht. Der wissenschaftliche Blick hat sich diesem Thema verstärkt zuzuwenden. Insofern geht es weniger darum, einzelne Gewalttaten oder Gewaltexzesse zu fokussieren und wissenschaftlich zu beleuchten, sondern soziale Dynamiken von Gewalt in Prozessen der Spätmoderne zu rekonstruieren. In Kultur und Sozialität sind Gewaltphänomene eingeschrieben und als solche zu untersuchen. Die soziale Logik von Einstellungen, Gefühlen, Ängsten und auch Vernunft sowie sozialem Handeln ist in den Kontext von Gewalt zu stellen, sodass diese nicht mehr negiert werden kann, vielmehr in den Blick gerät und erforscht wird. Dies soll im vorliegenden Band geschehen, der auf eine Tagung zurückgeht, die im Jahr 2017 an der Universität Köln stattgefunden hat. Die geradezu schockartig einsetzenden Veränderungen unseres sozialen und intellektuellen Lebens durch die Corona-Pandemie lassen die Diskussionen dieser Tagung einerseits wie Dokumente aus einer anderen Welt erscheinen. Andererseits jedoch verweisen sie uns – gerade angesichts der ganz und gar nicht absehbaren Folgen der Corona-Krisen – auf Problemkontexte und Diskussions-Notwendigkeiten, die nicht erledigt sind, sondern sich mit Sicherheit im Schatten und in der Folge dieser Krisen weiterhin und erneut aufbauen werden. Deshalb erscheint uns der argumentative Kontext der Tagung und des vorliegenden Bandes weiterhin von hoher, ja: intensivierter Aktualität zu sein. Jutta Ecarius Johannes Bilstein

Inhaltsverzeichnis

Zur Gewaltförmigkeit von Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Johannes Bilstein Bedrohliche Attraktivität – Das Charisma der Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . 19 Hans-Georg Soeffner Fremdheit – Zwischen Sakralisierung und Ressentiment. . . . . . . . . . . . . . 41 Alfred Schäfer Angst und Vulnerabilität. Anthropologische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Jörg Zirfas (Miss-)Verständnisse der Anerkennung. Zum Problem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Norbert Ricken Zur Faszinationsgeschichte der Gewalt: Vermittlungen des Unvermittelbaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Jörn Ahrens Gewalt in spätmodernen Gesellschaften: Fury Rooms. . . . . . . . . . . . . . . . 113 Jutta Ecarius Die Gewalt der Medien und die Medien der Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Jochen Hörisch Aus Katastrophen lernen? Über den Umgang mit Katastrophen . . . . . . . 143 Lothar Wigger Politik der Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Micha Brumlik IX

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Is It OK to Punch a Nazi? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Holger Schulze Rechtspopulismus als politische Therapie. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Cornelia Koppetsch Rechtschaffen(d)e Wut. Zur medialen Semantik eines politischen Gefühls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Imke Rajamani

Autorenverzeichnis

Jörn Ahrens  Justus-Liebig-Universität, Gießen, Deutschland Johannes Bilstein  Folkwang Universität der Künste, Essen, Deutschland Micha Brumlik  Goethe Universität, Frankfurt am Main, Deutschland Jutta Ecarius  Department für Erziehung- und Sozialwissenschaften, Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät, Köln, Nordrhein-Westfalen, Deutschland Jochen Hörisch  Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland Cornelia Koppetsch  Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland Imke Rajamani  Falling Walls Foundation GmbH, Berlin, Deutschland Norbert Ricken  Ruhr-Universität, Bochum, Deutschland Alfred Schäfer  Martin-Luther-Universität, Halle, Deutschland Holger Schulze  Universität Kopenhagen, Kopenhagen, Dänemark Hans-Georg Soeffner  KWI, Essen, Deutschland Lothar Wigger  Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Jörg Zirfas  Universiät zu Köln, Köln, Deutschland

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Zur Gewaltförmigkeit von Kultur Johannes Bilstein

1 Cultura: Sorgen und ausreißen In Ciceros Tusculanen, jenem Text also, der 45 v. Chr. die europäische Begriffsgeschichte von „Kultur“ in Gang setzt, und der dann in der frühen Neuzeit geradezu kanonischen Charakter zugemessen bekommt, ist genau und bekanntlich agrarisch definiert, was zur „cultura“ gehört (Bollenbeck 1994 S. 38). „…Wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung („doctrina“). Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele („cultura animi“) ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus („extrahit vitia radicitus“), bereitet die Seelen dazu, die Saat zu empfangen, … und säet … was dann, wenn es ausgewachsen ist, die reichste Frucht bringt“ (Cicero 1992, 45 v. Chr. II, 13, S. 65).

Auf dem Acker der Seele muss also gesät und geerntet werden, und es muss Unkraut bekämpft werden, und zwar von Anfang an. Man muss ausreißen, abschneiden, wegwerfen. Einige Pflänzlein brauchen besondere Pflege, andere muss man vernichten, das ist cultura. Und genauso soll man es auch in der Seele machen. Es gibt Unkraut und es gibt Wildwuchs, und die sollen bekämpft werden, Laster muss man mit der Wurzel ausziehen. Pädagogisch ist das durchaus ambivalent, dieser Wildwuchs ist nämlich zunächst durchaus gewünscht. Schon in seiner Schrift über die Erziehung des

J. Bilstein (*)  Folkwang Universität der Künste, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_1

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Redners von 55 v. Chr., also zehn Jahre vor den Tusculanen, taucht die entsprechende Selektions-Imagination ausdrücklich auf: „Wie bei den Reben ist es nämlich leichter, etwas zu beschneiden, was zu stark hervordrängt, als durch Pflege neue Triebe hervorzubringen, wenn das Holz nichts taugt; so will ich auch bei einem jungen Menschen etwas zu beschneiden haben (‚Volo aliquid amputem’)“ (Cicero (1976) 55 v. Chr. II, 88, S. 262–263).

Es gibt also ein Anderes des erwünscht Wachsenden und des zu Umsorgenden: Das Unkraut, der Wildwuchs, und dieses Andere muss weg. Der Kultivierungsprozess wird als ein Prozess des Auswählens, Aussortierens und Beurteilens imaginiert. Keineswegs geht es nur darum, ein nettes Gärtlein liebevoll zu pflegen, es geht auch keineswegs nur um „lebendiges Wachstum“ (Rehbock und Schneidereit 2007, bes. S. 268), sondern immer auch darum die Wurzeln des Lasters ‚auszureißen‘ und ‚abzuschneiden‘, um ‚amputare‘ und ‚extrahere‘ (Bilstein 2009). Insofern nimmt die cultura-Metapher bei Cicero durchaus traditionelle philosophische Motive auf, die sich bereits bei Platon bzw. bei dem platonischen Sokrates deutlich ausformuliert finden. Auch in dessen Maieutik – der Pädagoge handelt wie die Hebamme – spielt ja die Identifizierung und Vernichtung von eidola, also falschen Ideen – Schleiermacher übersetzt dann ‚Mondkälber‘ –, eine entscheidende Rolle (Bilstein 2007). Die fatale, national-distinktive und latent gewalttätige Bedeutung des Kultur-Begriffs vor allem in den deutsch-französischen Kontroversen des 19. ­ Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts – deutsche Kultur versus französische Zivilisation (Bollenbeck 1994, S. 31–96) – ist also durchaus tief in seiner Bedeutungs- und Imaginationsgeschichte verankert. Wichtig sind dabei die zugrunde liegenden normativen Unterstellungen, denn es steht ja gar nicht von vorneherein fest, was nun Unkraut ist und was nicht. Ludwig Feuerbach zum Beispiel verteidigt 1839 ‚Vogelmiere und Schöllkraut‘ als durchaus heilsame und wirksame Pflanzen, auch wenn sie als Unkraut vertilgenswert erscheinen. „Schäme dich darum nicht, Philosophie! Dass du … als Unkraut erscheinst. Unkraut ist jegliche Pflanze – auch die schönste, auch die edelste – die da steht, wo sie nicht stehen soll, die an ihrem Standort dem Menschen mit seinen beschränkten Zwecken in die Quere kommt; für den Naturforscher gibt es kein Unkraut“ (Feuerbach 1839, Sp. 483).

Dies sind freilich recht späte Einwände. In der Regel ist es zum Beispiel bei Cicero gar nicht fraglich, welche Pflanzen zum Unkraut gezählt werden (Rassem 1979), die der Cultura-Metapher zugrunde liegenden normativen Setzungen bleiben aus dem Diskurs ausgespart. Wenn also ‚Kultur‘ bereits vom

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b­ egriffsgeschichtlichen Beginn her mit Imaginationen von gewaltsamem Zugriff, mit Verlusten und Amputationen verbunden ist, so bleibt doch der Blick auf die wertenden Kategorien vorerst versperrt. Dabei kann man die mit der Pflege der Seele verbundenen Zumutungen durchaus als furchtbar und schrecklich einschätzen. Geradezu dogmatisch formulieren das Adorno und Horkheimer: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart“ (Horkheimer 1971 [1944], S. 33).

Diese etwas apokalyptisch angehauchte Abschluss-Rechnung des Kultivierungsprozesses fasst die mit ihm verbundenen Mühen des Ausreißens, Abschneidens, Ausmerzens noch einmal zusammen. Sie argumentiert (Bollenbeck 2007, S. 233– 270) in einer Traditionslinie der Kulturkritik, die sich über Freud, Nietzsche und Hegel bis zu Schiller und Rousseau zurückverfolgen lässt und in der immer wieder die Entfremdung, Entzweiung und Beschneidung ursprünglicher Potenzen als Kosten des Kultivierungsprozesses hervorgehoben werden (Konersmann 2008; Konersmann 2012). Das Besondere des symbolisch-kulturellen Systems besteht freilich darin, dass es sich selbst immer schon mit seinen eigenen Überwältigungs- und Gewalt-Potentialen auseinandergesetzt hat – sei es in sprachlichen, bildlichen oder musikalischen Kunstwerken. Es entsteht eine Art Dauerkommentierung (Bollenbeck 2007) der menschlichen Entfremdungsleistungen, in der den Künsten eine besonders hervorragende Rolle zukommt. Diese Selbstreflexions-Leistung sei im Folgenden an drei Beispielen etwas genauer untersucht. Sie sind historisch recht nah beieinander um 1800 positioniert, denn ich gehe davon aus, dass um 1800 herum eine sozial- und mentalitätsgeschichtliche Konstellation entsteht, die auch für uns und unsere gegenwärtigen Lebens- und Weltdeutungsmuster immer weiter noch von entscheidender Bedeutung ist.

2 Begeisterung und Konversion Die ‚Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‘ von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck erscheinen 1796 zunächst anonym und werden bald zu einer Art frühromantischem Bestseller. Ausgebreitet wird

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dort in Geschichten, Anekdoten und Legenden ein Weltverständnis, das viele der für die weitere Entwicklung der Romantik konstitutiven Elemente enthält: Das Mittelalter wird romantisierend umbewertet, christlich-mittelalterliche Legenden werden programmatisch an die Stelle der antik-griechischen Mythologie gesetzt; die Künste erscheinen als enthusiastisch geprägte Himmelsmächte, denen die Wieder-Verzauberung der Welt obliegt. Sie präsentieren Werke von „himmlischer Schönheit“, die dem sehnsüchtigen Betrachter „heiße Tränen der Begeisterung, der reinsten Ehrfurcht“ entlocken und ihn „himmlischtrunken“ machen (Wackenroder und Tieck 1994 [1796], S. 20–24, S. 59, S. 26). Dabei spielt eine idealisierte katholische Kirche, spielt insbesondere die Gottesmutter Maria eine entscheidende Rolle. In dieser Geschichten-Sammlung gibt es eine Konversions-Szene, die wohl Tieck zuzuschreiben ist und die für die vielen späteren Re-Katholisierungsbewegungen der Romantiker wie eine literarisch-fiktionale ­ Urszene wirkt. Beschrieben wird sie im Brief eines jungen deutschen Malers aus Rom an seinen Freund in Nürnberg. Er schildert, wie er, der nordische Protestant, eine festliche Messe in der Rotonda, also dem zur katholischen Kirche umgewidmeten römischen Pantheon besucht und dabei durchaus hoch gestimmt ist. Er fühlt sich so, „…als wenn auch in mir selber etwas Besonderes vorgehen sollte. Auf einmal war alles stiller, und über uns hub die allmächtige Musik, in langsamen, vollen, gedehnten Zügen, an, als wenn ein unsichtbarer Wind über unsern Häuptern wehte: sie wälzte sich in immer größeren Wogen fort, wie ein Meer, und die Töne zogen meine Seele ganz aus ihrem Körper heraus. Mein Herz klopfte und ich fühlte eine mächtige Sehnsucht nach etwas Großem und Erhabenem, was ich umfassen könnte. Der volle lateinische Gesang, der sich steigend und fallend durch die schwellenden Töne der Musik durchdrängte, gleich wie Schiffe, die durch Wellen des Meeres segeln, hob mein Gemüt immer höher empor. Und indem die Musik mein ganzes Wesen durchdrungen hatte und alle meine Adern durchlief – da hob ich meinen in mich gekehrten Blick und sah um mich her – und der ganze Tempel ward lebendig vor meinen Augen, so trunken hatte mich die Musik gemacht. In dem Moment hörte sie auf, ein Pater trat vor den Hochaltar, erhob mit einer begeisterten Gebärde die Hostie und zeigte sie allem Volke – und alles Volk sank in die Knie, und Posaunen, und ich weiß selbst nicht was für allmächtige Töne, schmetterten und dröhnten eine erhabene Andacht durch alles Gebein. Alles, dicht um mich herum, sank nieder, und eine geheime, wunderbare Macht zog auch mich unwiderstehlich zu Boden, und ich hätte mich mit aller Gewalt nicht aufrechterhalten können“ (Wackenroder und Tieck 1994 [1796], S. 84–85).

In dieser, bei Tieck durchaus biografisch unterlegten Szene greifen zentrale Elemente musikalischer Ergriffenheit ineinander: Musik und Priester,

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­ rgriffenheit vor dem präsentierten Heiligen, das Wehen des Heiligen Geistes E und unverfälschte Volkstümlichkeit. Es ist die katholische Ritualkultur, die all das dem jungen Maler aus dem Norden anbietet, und so konvertiert er denn auch bald darauf (Kemper 1993, bes. S. 25–72; Littlejohns 1987, S. 34–39; Bollacher 1983, bes. S. 9–10). Dabei trägt zur überwältigenden Wirkung der Szene nicht zuletzt die Wahrnehmung der großen Masse anderer Gläubiger bei. „…es kam mir ganz deutlich vor, …als wenn alle die Hunderte um mich herum um den einen Verlorenen in ihrer Mitte flehten und mich in ihrer stillen Andacht mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihrem Glauben hinüberzögen. …Ich konnte der Gewalt in mir nicht widerstehen: – ich bin nun, teurer Sebastian, zu jenem Glauben hinübergetreten, und ich fühle mein Herz froh und leicht. Die Kunst hat mich allmächtig hinübergezogen …“ (Wackenroder und Tieck 1994 [1796], S. 85–86).

Tieck hat hier eine Szene, die er selbst im Bamberger Dom erlebt hat, nach Italien verlegt. Der entscheidende Akzent liegt auf der überwältigenden Wirkung des Ästhetischen, der Musik, die ‚trunken macht‘ und die den Zuhörer in seinem ganzen Wesen durchdringt. Sie ist es, die ihn ‚allmächtig‘ hinüberzieht zum eigentlich fremden Glauben. Ästhetisierung und Inszenierung dienen bei dieser Konversion nicht nur der Begleitung, sondern wirken als geradezu gewalttätige Initiatoren existenzieller Umkehr. Traditionelle, bis weit in die Antike zurückreichende Topoi vom göttlichen Wahnsinn der Dichter – ‚Trunkenheit‘ – und vom enthusiastischen, also auf jenseitigen Einfluss zurückzuführenden Charakter der Musik – „Wehen des Heiligen Geistes“ – fließen hier zusammen zu einer Erzählung, die in strategischer Naivität von der Kraft und Gewalt der Symbole handelt (Hesiod 1996 ca. 700 v. Chr., S. 31–32; Pieper 1962; Ehrenforth 2005, S. 44–54; Bilstein und Zirfas 2009). Dieser junge Protestant wird überwältigt, ihm wird eine „erhabene Andacht“ ins Gebein geschickt, aber er hat dabei gar nicht den Eindruck, dass er sich – im Sinne Horkheimer/Adornos – etwas ‚Furchtbares‘ antut. Gar nicht geht es in dieser Geschichte darum, angesichts drängender Sinnlichkeit Vernunft, Kontrolle und Rationalität zu gewinnen – und sei es auf Kosten von Fürchterlichem – sondern im Gegenteil: Hier hat Einer offensichtlich Lust am eigenen Überwältigt-Werden, geht mit Enthusiasmus begeistert zu Boden, erlebt dies als unwiderstehbare süße Gewalt. Dass die Macht der Musik und einer räumlich-performativen G ­esamtInszenierung ihn in die Knie zwingt, schildert der junge Maler seinem Freund als lebens-wendenden, seine Selbstdefinition umkehrenden ­ Glücks-Moment (Bollacher 1983, S.  43–59). Damit reiht sich diese Szene ein in die ­anti-rationalistische Linie der Vernunftkritik, die in der Romantik beginnt, sich

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dann über – vor allem Nietzsche – bis ins 20. Jahrhundert fortsetzt. Noch Hermann Hesse rühmt den Text genau dafür: „An die Stelle der Vernunft tritt das… Gefühl, anstelle der… Kunstschreiberei die Begeisterung eines liebevollen Anschauens“ (Hesse 1975, S. 237) „Dort finden wir alles, was uns heute fehlt: Glaube, Moral, Ordnung, Seelenkultur“ (Hesse 1976, S. 219). Und diese Linie einer von Nietzsche beeinflussten Romantik-Rezeption findet sich dann nicht zuletzt in den Diskursen der Pädagogik wieder – sei es als ressentimentgeladene „Kulturkritik, die dumm macht“ (Konersmann 2012, S. 87–91) oder als „Kulturkritik, die wach macht“ und ein anthropologisch begründetes Unbehagen immer neu fortschreibt (Konersmann 2012, S. 91–97). Jedenfalls will der romantische Konvertit in Wackenroder und Tiecks Geschichte all das Fürchterliche, das die evangelisch, rational und vernünftig gewordene Menschheit sich antun musste, irgendwie und möglichst schnell wieder aufheben (Auerochs 2006, bes. S. 482–502; Rispoli 2011). Im Bilde Ciceros gesprochen: Hier wehrt sich einer programmatisch gegen alles Beschneiden, beharrt auf seinem Wildwuchs, und das kulturelle System feiert ihn dafür. Die Restriktionen, die ihm gerade in der katholischen Kultur blühen und die ja spätestens seit der aufklärerischen Religions- und Kirchenkritik argumentativ virulent sind, werden ausgeblendet.

3 Zähmung, Verwirrung und Umkehr Heinrich von Kleists Novelle ‚Die Heilige Caecilie oder die Gewalt der Musik‘ wurde zuerst in den Berliner Abendblättern vom 15. bis 17. November 1810 veröffentlicht; Kleist hat sie dann später noch mehrmals überarbeitet (Kleist 1957 [1810]). Die Geschichte ist schnell erzählt. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges wollen vier gottlos-protestantische Brüder in Aachen ein Nonnen-Kloster überfallen, die Nonnen schänden und das Kloster als Symbol des verhassten katholischen Glaubens dem Erdboden gleichmachen. Dazu schleichen sie sich mit einer ganzen Horde von Helfern zur Fronleichnams-Messe in den Dom, warten dort auf ein Zeichen ihres Anführers, um ihr bilderstürmerisches Werk zu beginnen. Bewaffnet sind sie mit „Äxten und Zerstörungswerkzeugen aller Art“ (Kleist 1957 [1810], S. 195). Die Nonnen wiederum, die für ihre wunderbaren Musik-Aufführungen berühmt sind, erfahren von der Gefahr, sind einigermaßen verzweifelt, zumal die Dirigentin, Schwester Antonia, schwer krank daniederliegt, jedenfalls die Aufführung nicht leiten kann. Auf Anweisung der Äbtissin beginnt die Messe

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dennoch. Alle – Nonnen, fromme Kirchgänger, Publikum, Bilderstürmer – sind im Dom versammelt, da erscheint wider Erwarten Schwester Antonia; sie hat eine alte Partitur bei sich und dirigiert nun „von Begeisterung glühend“ (Kleist 1957 [1810], S. 197) eine uralte italienische Messe. Die Effekte sind überraschend: Die Schwestern singen mit geradezu überirdischer Schönheit, die Bösewichter sinken danieder, sind ergriffen von der himmlischen Gewalt der Musik und lassen von ihren düsteren Intentionen ab. „…es regte sich, während der ganzen Darstellung, kein Odem in den Hallen und Bänken; besonders bei dem salve regina und noch mehr bei dem gloria in exscelsis, war es, als ob die ganze Bevölkerung der Kirche tot sei, dergestalt, daß, den vier gottverdammten Brüdern und ihrem Anhang zum Trotz, auch der Staub auf dem Estrich nicht verweht ward, und das Kloster noch bis an den Schluß des dreißigjährigen Krieges bestanden hat, wo man es, vermöge eines Artikels im westfälischen Frieden, gleichwohl säkularisierte“ (Kleist 1957 [1810], S. 197–198).

Nach der Messe verschwinden die Brüder dann, ihre Komplizen zerstreuen sich, Schwester Antonia jedoch wird tot in ihrer Zelle vorgefunden, die sie nie verlassen hat. Es war wohl die heilige Caecilia selbst, die als Dirigentin eingesprungen ist. Die wilden Brüder wiederum werden erst sechs Jahre später von ihrer Mutter wiedergefunden, die sie die ganze Zeit gesucht hat. Sie sind im örtlichen Irrenhaus gelandet, tragen Mönchskutten und singen jede Nacht auf das Fürchterlichste. Sie haben sich, berichtet ein Zeuge, angewöhnt. „…mit einer entsetzlichen und grässlichen Stimme das gloria in excelsis zu intonieren… So mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen Winterzeit das Firmament anbrüllen; die Pfeiler des Hauses … erschütterten, und die Fenster, von ihrer Lungen sichtbarem Atem getroffen, drohten klirrend, als ob man Hände voll schweren Sandes gegen ihre Flächen würfe, zusammenzubrechen. Bei diesem grausenhaften Auftritt stürzen wir besinnungslos, mit stäubenden Haaren auseinander; wir zerstreuten uns“ (Kleist 1957 [1810], S. 202).

Die Mutter muss erst in detektivischer Recherche alle möglichen Zeugen befragen, um schließlich zu erfahren, was geschehen ist. Als sie dann die Äbtissin des Klosters besucht, um auch dort die Hintergründe des Geschehens aufzuklären, erblickt sie auf dem Tisch die Partitur der wunderbaren Messe – und ist davon zutiefst erschreckt: „Sie betrachtete die unbekannten zauberischen Zeichen, womit sich ein fürchterlicher Geist geheimnisvoll den Kreis abzustecken schien, und meinte, in die Erde

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J. Bilstein zu sinken, da sie gerade das gloria in excelsis aufgeschlagen fand. Es war ihr, als ob das ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte rauschend daherzöge; sie glaubte, bei dem bloßen Anblick ihre Sinne zu verlieren, und nachdem sie schnell, mit einer unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht, das Blatt an ihre Lippen gedrückt hatte, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl zurück“ (Kleist 1957 [1810], S. 205).

Da bleibt der guten Frau nichts Anderes übrig als zum Katholizismus zu konvertieren. Erzählt wird diese Legende – wie Kleist selbst sie benennt – in Form einer vielfach indirekten, verschachtelten Narration, sprachlich mit jener ­Kleist-typischen Kühle, die auch ein stückweit mitleidslos erscheint. „…wo man es, vermöge eines Artikels im westfälischen Frieden, gleichwohl säkularisierte“ (Kleist 1957 [1810], S. 198) – lakonischer kann man die Geschichte einer Institution nicht berichten. Behandelt wird die „Gewalt der Töne“ (Kleist 1957 [1810], S. 205) und das „schreckliche und herrliche Wunder“ (Kleist 1957 [1810], S. 206), das zur Rettung der Nonnen führt (Horn 1978; Horn 2011). Dabei ist die Gewalt der Musik eine Doppelte: Sie erscheint im himmlischen Gesang der Nonnen und in dem schauderhaften, Sakralität parodierenden Gebrüll der irre gewordenen Brüder, „mit einer Stimme, welche die Fenster des Hauses bersten machte“ (Kleist 1957 [1810], S. 199). Dabei ist die „Gewalt der Musik“ um 1800 ein durchaus beliebter Topos der Musikästhetik, der eng mit den Diskursen um das Erhabene verbunden ist (Gess 2011, S. 243–357). Hier, bei Kleist, variiert er in der ganzen Bandbreite von Erhabenheit und Schrecken. „The portrayal of music in the tale owes much to discourses on the sublime, in its combination of beauty and terrifying destructive power“ (Mayer 2007, S. 242). Die Überwältigungsszene, die das ganze Publikum immerhin wie „tot“ erscheinen lässt (Kleist 1957 [1810], S. 198), transportiert nicht nur die Verherrlichung musikalischer Schönheit, sondern auch „eine zerstörerische, lebensverneinende Energie. In der zitierten Passage wird somit jene ‚Gewalt der Musik … in ihrer ganzen Ambivalenz von Erhebung und Erniedrigung vorgeführt“ (Wachter 2015, S. 105; Gess 2011, S. 341–354). Nicht zuletzt geht es hier – anders als bei der ungebrochen erzählten Bekehrungs-Szene aus den Herzensergießungen – um das Verhältnis von Profanität und Sakralität, das in mehr und mehr verweltlichten Zeiten in der und am Beispiel der Kunst diskutiert wird. Deshalb hat die Heilige Cäcilia in der Literatur um 1800 durchaus Konjunktur, denn an ihr lässt sich sowohl die Rolle der Kunst – Repräsentation des Erhabenen; Erschütterung der Rezipienten; enthusiastische Bindung an jenseitige Instanzen; Vereinigung von Religion und Ästhetik – als auch die

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Quelle ü­ berwältigender Erfahrungen diskutieren. Herder z. B. feiert in seinem Essay über Caecilia bereits 1793 die „andächtige Tonkunst“, die für ihn – den Protestanten – die Erinnerung wach hält an Erschütterungen, die aus dem Jenseits kommen und sich irdischem bzw. menschlichem Einfluss entziehen: das alles fühlt man „mit großer Gewalt“ (Herder 1793, S. 304). Herder bereitet so „jene kunstreligiöse Emphase vor, die dann in Wackenroders und Tiecks ‚Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‘ 1796 das frühromantische Bild der heiligen Cäcilie prägt“ (Wachter 2015, S. 94). Auch Kleists Text reiht sich insofern ein in die kunstreligiösen Diskurse dieser Zeit, zugleich Verlust transzendenter Bindungen und Suchbewegungen nach Ersatzformen markierend. In einem Brief an Wilhelmine von Zenge schreibt er am 21. Mai 1801: „Nirgends aber fand ich mich tiefer in meinem Innersten gerührt, als in der katholischen Kirche, wo die größte, erhebendste Musik noch zu den andern Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen. Ach, Wilhelmine, unser Gottesdienst ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest“ (Kleist 1952 [1801], S. 651).

Hier klagt einer, der sein Herz gewaltsam bewegt haben möchte, aber zugleich weiß, dass er dies in seiner protestantisch-preußischen Kultur im besten Falle nur noch auf dem Wege der Ästhetisierung – in der Kunstreligion also – erreichen kann. Insofern ist ihm vielleicht wirklich nicht zu helfen. „Mitten vor dem Altar, an seinen untersten Stufen, kniete jedesmal, ganz isoliert von den andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Inbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt. Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht, mich neben ihn niederzuwerfen und zu weinen. – Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden“ (Kleist 1952 [1801], S. 650; Wachter 2015, S. 93).

Dieser ‚Tropfen Vergessenheit‘ ist es, der Kleist fehlt. Hätte er ihn, wäre er nicht nur rituell aufgehoben, sozial eingebettet, sondern dann wüsste er auch, wo die Quelle all der Gewalt ist, die ihn ständig überfällt: Oben, im Göttlichen. Wenn also – dies ist der argumentative Hintergrund der Caecilien-Diskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts – über die irdischen oder über-irdischen Quellen der Musik gestritten wird, dann geht es letztlich in einer Diskurs-Tradition, die sich bis zu Platon zurückverfolgen lässt, um die Quelle jener Kräfte, die den Menschen an einem tugendhaften Leben hindern oder ihm dabei helfen. Es geht um den Konflikt zwischen der himmlischen Muse Urania und der profan-banalen

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Polyhymnia, zwischen ideengeleiteter Schönheit und verführerischem Wohlgefallen. Und schon bei Platon war klar, worauf man da – genauso wie bei der Unterscheidung von sittlichem und unsittlichem Eros – zu achten hat: „und dies eben ist der schöne himmlische Eros, der der Muse Urania angehört, der andere aber der Polyhymnia ist der gemeine, den man mit großer Vorsicht anwenden muß, bei wem man ihn ja anwendet, damit man die Lust von ihm zwar einernte, er aber doch keine Ungebundenheit hervorbringe“ (Platon (2011) 4. Jh. v. Chr., 187d– e, S. 58–59).

Nur so, der Urania folgend und die Polyhymnia kontrollierend und beherrschend, geht Genuss ohne Reue. Vor dem Hintergrund dieser platonischen Zweiteilung erscheinen nun auch die zwei Formen des Gesangs bei Kleist. Der himmlische Gesang der Nonnen und das pseudo-sakrale Gebrüll der Brüder repräsentieren zwei durchaus gegensätzliche Konzepte von Musik, von Erhabenheit, von Schönheit, von Sinnlichkeit und von Gewalt: Enthusiastisch generierte Kontrolle und Disziplin auf der einen Seite, enthemmte, zügellose Sinnlichkeit und ungeordnete Triebhaftigkeit auf der anderen Seite. Die im 19. Jahrhundert dann breit werdenden Konzepte der Kunstreligion werden dazu synthetisierende Konzepte eines säkularen Enthusiasmus entwickeln, der – einerseits – die jenseitigen Quellen der Begeisterung noch irgendwie am Sprudeln hält, sie aber – andererseits – von den etablierten religiösen Deutungsmustern langsam ablöst. All die Genies, die nun gefeiert und verehrt werden, präsentieren eine Art säkularisierten Messianismus „im Pluralis“ (Auerochs 2006, S. 362–379; Sina 2011). Mit den Nachwirkungen des aus genau dieser Konstellation entstehenden Genialismus haben wir uns bis heute, bis in die immer weiter von genialistischen Topoi geprägte gegenwärtige Medienwelt herein, auseinanderzusetzen. Dass Kleist die Lösung dieses Dilemmas – Säkularisation einerseits, Rettungsversuche transzendenter Bindungen andererseits – nur auf der literarischen Ebene einer Legende präsentieren kann, markiert sicherlich einen Teil der Verzweiflung dieses preußisch-weltlichen Protestanten. Und so bleibt denn auch das Ende des Textes in jenem merkwürdigen Licht eines säkularen Lakonismus, der zugleich kühle Distanziertheit und ironisch-resignative Absage an allen Enthusiasmus markiert: „die Söhne aber starben, im späten Alter, eines heitern und vergnügten Todes, nachdem sie noch einmal, ihrer Gewohnheit gemäß, das gloria in excelsis abgesungen hatten“ (Kleist 1957 [1810], S. 206).

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‚Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten‘ gelingt ihnen nicht so recht – stattdessen werden sie zu Opfern eines Kultivierungsprozesses, gegen den sie eigentlich angetreten waren. Ihnen, den durch die Gewalt der Musik verhinderten revolutionären Gewalttätern, wird tatsächlich einiges amputiert: Zumindest ihr revolutionärer Impuls und ihre ungehörig-willkürliche Wut. Was jedoch übrig bleibt, ist dann nicht cultura im Sinne Ciceros, sondern der schlichte Wahnsinn. Es ist, als wehre sich hier – und sei es mit heiligem Beistand – das Symbolsystem mit eigenen Mitteln gegen seine Zerstörung. Von den Opfern der Nonnen hingegen – immerhin sind sie ja Nonnen! –, die all die musikalische Schönheit hervorbringen, ist nicht die Rede. Sie unterliegen allein dem indirekt-ironisierenden Erzähl-Gestus des legendären Textes. Festzuhalten bleibt: Eingebaut in die Diskurse zur Gewalt der Musik, die im ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitet sind, finden sich Reflexionen zur Herkunft der Gewalt. Man kann da – wie bei Wackenroder und Tieck – in nostalgischem Rückgriff auf die jenseitigen Bindungen früherer Zeiten rekurrieren; man kann da auch – so bei Kleist – überirdische Quellen gegen dumpf ungezügelte Sinnlichkeit setzen. An beiden Beispielen zeigen sich die biografischen und intellektuellen Folgen des Säkularisationsschocks genauso wie der Übergang traditionell religiöser Deutungsmuster in die Rhetorik und Topik der Kunstreligion (Meier et al. 2011–2014). In dem historischen Augenblick, in dem sich das Antwort-Reservoir überkommener religiöser Mentalitäten auf entscheidende und existenzielle Fragen – z. B. nach Kontingenz, z. B. nach schlechthinniger Abhängigkeit, z. B. nach dem Erleben von Faszination und Schrecken – erschöpft, bieten die Kunst-Diskurse neue Argumentationsmuster und Bildersprachen für genau diese erfahrungsgesättigten Lebensprobleme. So muss auch die Frage ‚Woher kommt die Gewalt?‘ weiterhin behandelt und diskutiert werden – das hat sich bis heute nicht geändert (Soeffner 2004; Detering 2011). Und die uns inzwischen eher fremden Topoi, in denen das 18. Jahrhundert diese Fragen behandelt hat, zeigen uns vielleicht in der Verfremdung einige Hinweise auf die Topoi, in denen wir heute diskutieren. Dass alle Gewalt aus den Hormonen kommt, ist ja so selbstverständlich auch nicht.

4 Wahrheit wie mit Fäusten: Gepflegte Irritation Aber: Man kann das Ganze auch gelassener angehen – und damit sind wir bei Goethe. Der besucht in Heidelberg 1814 die Sammlung Boisserée, lässt sich dort die altdeutschen Bilder eines nach dem anderen vorführen. „Jeden Tag … war er morgens um acht Uhr im Bildersaal und wich nicht von der Stelle bis zur

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Mittagszeit“ (Boisserée 1905, [1814]). Er bekommt einen Sessel vor die Bilder gestellt, lässt sich die vorführen, und dann bemüht sich der 65-jährige Goethe um direkten Kontakt zu den Bildern und darum, dies auch allen Umstehenden, die ihm beim Betrachten zuschauen, deutlich zu machen: Prätention zweiter Ordnung sozusagen. Johann Baptist Bertram, einer der Mitbesitzer der Sammlung, ist dabei und Sulpiz Boisserée hat es beschrieben: „Er betrachtete die Bilder nicht, wie sie eins neben dem anderen an der Wand hingen; er ließ sich immer nur eins, abgesondert von den anderen, auf die Staffelei stellen und studierte es, indem er es behaglich genoss und seine Schönheiten, unverkümmert durch fremdartige Eindrücke von außen, sei es der Bilder oder Menschenwelt, in sich aufnahm. ‚Da hat man nun’, äußerte er‚‚auf seine alten Tage sich mühsam von der Jugend, welche das Alter zu stürzen kommt, seines eigenen Bestehens wegen abgesperrt, und hat sich, um sich gleichmäßig zu erhalten, vor allen Eindrücken neuer und störender Art zu hüten gesucht, und nun tritt da mit einem Male vor mich hin eine ganz neue und bisher mir ganz unbekannte Welt von Farben und Gestalten, die mich aus dem alten Gleise meiner Anschauungen und Empfindungen herauszwingt – eine neue, ewige Jugend; und wollte ich auch hier etwas sagen, es würde diese oder jene Hand aus dem Bilde herausgreifen, um mir einen Schlag ins Gesicht zu versetzen, und der wäre mir wohl gebührend.’… Und vor dem Bilde des Todes der Maria… bemerkte er treffend: Aus dem schlägt uns die Wahrheit wie mit Fäusten entgegen!“ (Boisserée 1905 [1814]; Kemp 1989; Grave 2006, S. 396–416).

‚Schlag ins Gesicht‘, ‚Wahrheit wie mit Fäusten‘, das sind nun in der Tat heftige Erfahrungen, die Goethe da in seinem Sessel sitzend über sich ergehen lässt. Den Bildern wird da offensichtlich Einiges zugetraut. Auf der Grundlage eines heftig idealistischen Kunstkonzeptes, letztlich einer nun schon wieder gelassen ironisierten Kunstreligion, geraten die Kunstwerke in den Rang eigenständiger Subjekte, von denen gewaltsame Einwirkungen auf den Betrachter ausgehen. Es sind die Werke, die berühren – im sehr direkten Sinne. Der Betrachter steht dem – einerseits – einigermaßen schutzlos gegenüber. Andererseits aber will er genau dies. Dafür, für diese Gewalterfahrung, kommt er immer morgens um acht in den Bildersaal, lässt sich dabei auch noch beobachten, und lässt das Ganze dann auch noch protokollieren: Genie trifft Genie, die Gewalt dieser Erschütterung ist wohl dosiert. Goethe benimmt sich hier als eine Art Prototyp des bürgerlichen Konzertpublikums, das in genau dieser Zeit entsteht. Man will erschüttert werden, gewaltige und gewaltsame Erfahrungen machen – aber im Lehnstuhl, in der Oper und wenn es geht ohne große Weiterungen (Bilstein 2019). ‚Wahrheit wie mit Fäusten‘ – der Charme dieser Formulierung, vom alten Goethe mal so gesagt, von den Getreuen aufgeschrieben, entsteht aus der Vagheit:

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Weder wird ‚Wahrheit‘ genauer definiert, noch hat der so Angegangene blaue Flecken zu befürchten. Die Gewalt der Kunst, einst im Enthusiasmus lebensgefährlich und Welten erschütternd, ist nun, im bürgerlichen Rezeptions-Habitus, weitgehend gebändigt und entschärft. Goethe muss nicht konvertieren wie der junge Maler in Rom, noch verfällt er dem Wahnsinn wie die wilden Brüder bei Kleist, sondern er wird sich vom Sessel erheben, durchaus erschüttert nach Hause gehen und versuchen, selber: Als Autor, genau solche Faustschläge auszuteilen.

5 Fesselung und Befreiung Noch einmal sei auf die ‚Kritik der Aufklärung‘ verwiesen. Das oben aufgeführte Zitat bezieht sich auf die vorhergehende Interpretation eines griechischen Mythos, der die Gewalt-Zumutungen aller Kultivierungen in einem hoch kondensierten Bild zusammenfasst. Es ist die Geschichte des Odysseus, der sich dem Gesang der Sirenen stellt. Von Kirke ist er gewarnt worden, dass jeder den sicheren Tod erfährt, der diese Klänge vernimmt – aber hören will er sie doch, und überleben will er auch. Odysseus will Beides: Den ungeschmälerten Genuss und unversehrtes Weiterleben. Er will die Fülle der sinnlichen Erfahrungen mitnehmen und doch bleiben, der er ist und wie er ist; er will sich der sinnlichen Gewalt der Sirenen aussetzen, aber unter garantierten Bedingungen. Ein schwieriges Unternehmen. Also lässt er sich an den Mast fesseln, verstopft den Gefährten die Ohren mit Wachs – und lauscht den überirdisch schönen Stimmen. Im 12. Gesang der Odyssee steht dann bei Homer (Übersetzung Johann Heinrich Voss): „Also sangen jene voll Anmut. Heisses Verlangen. Fühlt ich, weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle, Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese. Und es erhoben sich schnell Eurylochos und Perimedes, Legten noch mehrere Fesseln mir an und banden mich stärker. Also steuerten wir den Sirenen vorüber, und leiser. Immer leiser, verhallte der Singenden Lied und Stimme. Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffs. Von den Ohren das Wachs, und lösten mich wieder vom Mastbaum“ (Homer 2016, 8. Jh. v. Chr., 12, 192–200, S. 596).

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Der schlaue Odysseus hat sich also beides genommen: Die Lust des Sirenengesangs und die Sicherheit der eigenen Existenz. Aber um welchen Preis: Nur durch Fesselung, durch delegierte ­Selbst-Kontrolle, durch die gezielt herbeigeführte Lähmung der eigenen Handlungsmöglichkeiten kann er dem Verderben und der vernichtenden Gewalt entgehen, die eigentlich mit dem Genuss der Schönheit verbunden sind; nur durch äußerste Anstrengung gelingt es ihm, er selbst und bei sich zu bleiben. Für Horkheimer und Adorno steht diese Szene im Zentrum ihrer Analyse der Aufklärungs-Dynamik. Sie sehen den listenreichen Odysseus als geradezu prototypisch für den modernen, aufgeklärten Menschen an, der sich – einerseits – alle Genüsse dieser Welt, alle nur denkbaren Lüste bereitet, der auch die Lockungen der musischen Gewalterfahrung durchaus erleben will, der jedoch – andererseits – ständig um eigensichernde – notwendige – Distanzierung von dieser Welt bemüht ist, in der ihm von allzu viel Genuss der Tod droht. In der Bewertung dieses Unternehmens sind die Autoren dabei recht eindeutig. Dass Odysseus sich nur unter kontrollierten Bedingungen berühren lassen will, dass er das Ausmaß und die Folgen dieser Berührung zu regulieren versucht, wird ihm hier eher als bürgerliche Feigheit angerechnet, als das Fehlen jener selbstvernichtenden Großzügigkeit, die auf Erfahrung um jeden Preis, à corps perdu sozusagen, aus ist. Aber: Was wäre die Alternative? Gar nicht mehr gemütlich auf der Couch sitzen und alle möglichen Tatort-Filme anschauen? Auf den – gesicherten – Genuss umgrenzter fury-rooms verzichten? Oder, noch anders gefragt: Haben wir uns denn wirklich Schreckliches antun müssen? Und: Ist das wirklich so schrecklich, was wir uns da antun mussten? Erinnern wir uns: Die Beispiele von der vorvorletzten Jahrhundertwende, die ich vorgeführt habe, thematisieren alle auf symbolischer Ebene die Frage, woher die Gewalt kommt, der man sich ausgesetzt sieht. Bei Wackenroder und Tieck kommt sie aus einem in der Vergangenheit idealisierten Jenseits. Faszinierend und erschreckend zugleich erscheint die Gewalt der kulturellen Formen eingebettet in eine performative ­ Gesamt-Inszenierung, die begeisternd wirkt und beim Rezipienten zur beglückend erfahrenen LebensUmkehr führt. Bei Kleist kommt die Gewalt der symbolischen Formen aus heiligem Eingriff, der freilich zugleich mit kühler Distanz legendär relativiert wird. Fascinosum und Tremendum sind hier – einerseits – auf das Engste verbunden, führen die Betroffenen zur Heilserfahrung oder in den Wahnsinn. Die Faszination der Gewalt generiert sich vor allem aus der Sehnsucht nach einer Intensität, die in der entzauberten Welt kaum noch zu gewinnen ist (Crepaldi 2011). Andererseits

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jedoch markieren die institutionell-räumliche Zuordnung ins ‚Irrenhaus‘, die lakonische, ganz und gar nicht begeisterte Erzählweise und die Genre-Zuordnung ‚Legende‘ die Obsoletheit und Ergebnislosigkeit dieses Lösungsversuches. Aller Enthusiasmus wird nur noch als legendäres Zitat genießbar. Bei Goethe schließlich kommt die Gewalt aus den als autonom deklarierten Kunstwerken selbst, und konsequenterweise ist bei ihm dann der Schrecken auch schon gebannt oder zur biografischen Anekdote abgeschmolzen. Das tremendum ist verschwunden und das fascinosum zum behaglichen Genuss verkümmert. Stellt man die drei Beispielerzählungen so nebeneinander, dann zeigt sich deutlich: Die Gewalt der Kultur wird in dieser Reflexionstradition nicht auf ihre anthropogenen Wurzeln reflektiert. Bei Wackenroder und Tieck wie bei Kleist sind es nicht eigentlich Menschen, von denen die überwältigenden Wirkungen ausgehen. Ihre Souveränität ist von vorneherein auf paradoxe Weise eingeschränkt (Müller 2011, S. 215–232). Und bei Goethe fehlt jede Reflexion auf die Künstler, die ja die so heftig wirkenden Kunstwerke allererst hergestellt haben. Sie, ihre Motive und ihr Begehren, verschwinden hinter den Werken. Eine solche anthropologische Reflexion würde aber noch einmal deutlicher machen, welchen Gewinn wir mit Kultur machen – gerade weil sie über gewaltige Kräfte verfügt (Bilstein et al. 2015). Denn immerhin: Der Cicero’sche Gärtner erlangt durch seinen gewaltsamen Eingriff Früchte und Wein. Wackenroders Konvertit gewinnt durch das gewaltige Wirken der musikalischen Inszenierung Zugang zu Seelenkräften, die ihm bislang verborgen waren. Bei Kleist bewahrt der wundersam-gewaltige Eingriff der Musik den Nonnen immerhin Leben und Freiheit vor den dunklen Ambitionen der wilden Brüder und ihrer Gesellen. Und Goethe findet immerhin irgendeine Form von Wahrheit durch die Faustschläge, die ihm aus den Bildern entgegenkommen. Auf der Basis einer „Kulturkritik, die wach macht“ (Konersmann 2012, S. 91–97) zeigen die Beispiele auch, welche Gewinne entstehen können durch den wie verletzend auch immer wirkendenden Eingriff der Kultur. Bei aller Kritik, also an den Einschneidungen und Entfremdungen, die mit dem Kultivierungsprozess verbunden sind (Bollenbeck 2007, bes. S. 111–154), bei allem Unbehagen und allen Fesselungen, die wir uns in der Sorge um uns selbst antun müssen: Es ist die Gewalt der Kultur, die Bedingungen schafft für Freiheit und Leben (Thurn 1990; Bilstein und Zirfas 2017). Und da mag uns denn Goethes Gelassenheit, seine kontrafaktische Unterstellung extra-humaner Autonomien durchaus als die Mahnung erscheinen, als die sie wohl auch gemeint war. Die Gewaltförmigkeit der Kultur, wie sie in den vorgeführten Beispielen zutage tritt, ist dabei immer gekennzeichnet von Regellosigkeit und Überraschung. Sie kündigt sich nicht an, sie wird nicht vorbereitet, sie folgt auch

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nicht auf eine Folge von Andeutungen und Drohungen. Diese Gewalt ist vielmehr ordnungsüberwindend, tendenziell grenzenlos und unvermittelt schlagend. Insofern trägt sie – folgt man den Kriterien Walter Benjamins – die entscheidenden Merkmale der recht-losen, alles überwältigenden Gewalt Gottes. „Diese göttliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiöse Überlieferung allein, vielmehr findet sie …sich auch im gegenwärtigen Leben vor“. Diese Gewalt definiert sich „also nicht dadurch, dass Gott selber unmittelbar sie in Wundern ausübt, sondern durch jene Momente des unblutigen, schlagenden, entsühnenden Vollzuges. Endlich durch die Abwesenheit jeder Rechtsetzung. Insofern ist es zwar berechtigt, diese Gewalt auch vernichtend zu nennen; sie ist dies aber nur relativ, in Rücksicht auf Güter, Recht, Leben u. dgl., niemals absolut in Rücksicht auf die Seele des Lebendigen.“ (Benjamin 1999 [1920/1921], S. 199; Lindemann 2010). Diese göttliche Gewalt, gebunden an die Seele des Lebendigen, ist es, die in der Kultur weiterwirkt und dabei hilft, alle vorgegebenen Ordnungen und Regeln zu transzendieren. Gegen die Konventionen und gesellschaftlichen Verabredungen steht sie so gerade durch ihre plötzlichen, unerwarteten und unberechenbaren Wirkungen für die plötzlichen, unerwarteten und unberechenbaren Entwicklungen des Lebens.

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Bedrohliche Attraktivität – Das Charisma der Gewalt Hans-Georg Soeffner

1 Prolog Der Flyer zur Tagung ‚Gewalt – Vernunft – Angst‘ (Köln, S. 16–17 Nov. 2017) zeigt Caravaggios Medusa. Caravaggio konzentriert den gesamten Mythos der Medusa auf dessen Höhepunkt: auf den Augen-Blick, den Kairos, des Todes der Gorgonin. In diesem Finale werden alle Strukturelemente des Mythos zu einer Ausdrucksgestalt verdichtet: Die mörderische Gefahr, die von dieser Erscheinung ausgeht; die Todesangst, die Medusa bei anderen auslöst und der sie nun selbst erliegt – sie ist als einzige der drei Gorgonen-Schwestern sterblich1 (Duras 1984/1985, S. 125); das Entsetzen, das sich dem Betrachter der Darstellung aufdrängt, obwohl er selbst nicht mehr bedroht ist. Die Geschichte der Medusa, die damit verbundenen gewalttätigen Brechungen, die ihrerseits in der tödlichen Selbstspiegelung ihre Katastase finden, steht für eine Kette zunehmender Gewalttätigkeiten: Medusa, die schönste der Gorgonenschwestern, wird, so erzählt Ovid in seinen Metamorphosen (IV, 753–803), von Poseidon im Tempel der Athene vergewaltigt. Athene, Augenzeugin der Tat, bestraft daraufhin nicht den Vergewaltiger, ihren göttlichen Onkel, sondern Medusa: Die schöne Gorgonin wird

1Auch

für die Götter und ihre Abkömmlinge gilt, dass man den Menschen „beibringen [müsste], dass die Unsterblichkeit sterblich ist“ (Duras 1984/1985 S. 125).

H.-G. Soeffner (*)  KWI, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_2

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in ein grässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren verwandelt, dessen glühende Augen jeden, der es anblickt, tötet und zu Stein erstarren lässt. Caravaggio hält auf seinem – als Prunkschild gestalteten – Gemälde den Augenblick fest, in dem Perseus, der Günstling Athenes und des Hermes, unterstützt durch deren – mit göttlicher Finesse hergestellte – Hilfsmittel (geflügelte Schuhe, Tarnkappe, Spiegelschild, Sichel) Medusa – den Spiegel entgegenhält und ihr mit der Sichel den Kopf abschlägt. Es ist der Augenblick eines zweifachen Tötungsaktes: Versteinerung durch Selbstspiegelung und Enthauptung. Perseus bedankt sich für die göttliche Hilfe, indem er Athene das Medusenhaupt zum Geschenk macht. Caravaggio experimentierte, so wird vermutet, mit dem eigenen Spiegelbild, um dem Spiegelungserlebnis und dem Spiegelungseffekt im Gesichts- und Augenausdruck der Medusa eine unverwechselbare Form zu geben: Der Ausdruck des Entsetzens bedarf eines (beobachtenden) Gestalters, der dem Entsetzen den ‚treffenden‘ Ausdruck verleiht. Gewalt und Entsetzen, Aktion und unmittelbare Reaktion, die sich in einem Augenblick verdichten, werden bei Caravaggio durch Spiegelung – Reflexion – und reflexive Gestaltung analytisch erfasst: Mit Mitteln der Ästhetik und Wahrnehmungsschulung anstelle des Instrumentariums sprachlich diskursiver Rationalität. Die ästhetisch analytische Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Erfassung und Ausdeutung des ‚Irrationalen‘, hier am Beispiel des Umgangs mit Gewalt, Angst/Entsetzen und unmittelbarer Bedrohung, entspringt nicht einer grundsätzlichen Abneigung gegen Vernunft – dagegen spricht die experimentelle Suche nach adäquaten Gestaltungsmitteln –, sondern dem zweifachen Verdacht, dass (1) sprachlich diskursive Mittel nicht ausreichen zur Analyse des Ursprungs, der Wirkung und der Funktion des Irrationalen, hier der Gewalt und dass (2) der Versuch, dem Irrationalen durch Vernunft beizukommen, selbst irrationale Motive haben könnte: Dass der Versuch, der Welt und dem menschlichen Dasein durch Vernunft eine Ordnung zu geben, dem uns aufgezwungenen Bemühen entspringt, einen „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachte(n) Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ zu schaffen und aufrecht zu erhalten (Weber 1973b, S. 180).

Bedrohliche Attraktivität – Das Charisma der Gewalt

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2 Mythische und religiöse Ursprünge der Gewalt2 Was in der Philosophie des Deutschen Idealismus von Kant über Fichte und Schelling bis hin zu Hegel bereits gesehen, aber noch durch die Vernunft oder den Geist selbst überwunden werden sollte: Die innere Widersprüchlichkeit der Vernunftdimensionen (z. B. Kants praktische vs. reine Vernunft) wird von der Romantik und Schopenhauer immer wieder aufgegriffen, bis Nietzsche die Ambivalenz zur unauflöslichen Aporie radikalisiert: Die Instrumente der Vernunft, insbesondere der auf die Sprache gestützte Logos, verfangen sich im Dickicht der Metaphern und belügen uns – im zwar ‚außermoralischen‘, jedoch kategorisch unaufhebbaren Sinne (Nietzsche 1980). Aufklärung und „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno 1964 [1944/47], S. 3) gehen ineinander über und höhlen das Projekt der Moderne von innen her aus (zur ausführlichen Diskussion Miller und Soeffner 1996). Zu dieser ‚Dialektik der Aufklärung‘ gehört die Einsicht, dass „nicht bloß die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung […] der Rationalität seit Anfang [zugehört], keineswegs [also] nur in der Phase, in der jene nackt hervortritt“ (Horkheimer und Adorno 1964 [1944/47], S. 7). Selbstverständlich stützt sich auch diese Einsicht auf eine Einstellung, die sich ‚der Vernunft‘ bedient, jedoch so, dass dem Kantischen Vernunftoptimismus in ‚negativer Dialektik‘ (Adorno 1966) die ihres Glaubens entkleidete analytische Vernunft gegenübergestellt wird. Der tiefe Zweifel des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts an der Vernunftreligion und ebenso die aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Barbarei gespeiste negative Dialektik der analytischen Vernunft sehen ‚das Irrationale‘ nicht lediglich als ein (unheimliches, triebgesteuertes oder defizitäres) Gegenüber des Rationalen, sondern entdecken es als immanenten Bestandteil der Vernunftreligion und ihres Projektes der Moderne selbst (Baumann 1966). Mit einem solchen Zweifel umzugehen, Antinomien und Ambivalenzen des Vernunftglaubens entschlossen analytisch aufzuschließen und auszuhalten, fällt schwer: Das Widerständige, Widersprüchliche, Affektiv-Explosive, irreal oder sinnlos Erscheinende, kurz, das Irrationale in ­ seinen für den gesunden Menschenverstand dunklen Motiven und widersinnigen

2Vor

14 Jahren habe ich gemeinsam mit Wilhelm Heitmeyer einen Sammelband zum ‚zeitlos aktuellen‘ Thema ‚Gewalt‘ herausgegeben. Meinen damaligen Essay ‚Gewalt als Faszinosum‘ überprüfe, variiere und erweitere ich im folgenden Kapitel, einem kritisch revidierten ‚Selbstplagiat‘ (Heitmeyer und Soeffner 2004, S. 62–85).

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Handlungsformen. Gewalt, vor allem die unmittelbare gewalttätige Handlung, das per se Nicht-Diskursive, normativ Geächtete und Exkommunizierte, daher ­Nicht-Übersetzbare, sondern bestenfalls ex post Beschreibbare, ist deshalb von je her die größte Herausforderung für die analytische Vernunft. Gewalt – zudem noch im Gefolge oder auch als Folge der Rationalisierung der Welt – wird dementsprechend zum größten Ärgernis für die Aufklärung und ihr Projekt der Moderne, zumal dann, wenn Gewalt als Akt der Befreiung von den Zwängen der instrumentellen Vernunft jene Faszinationskraft (wieder-)gewinnt, die nicht nur Erneuerung durch Umsturz suggeriert, sondern auch den Krieg gegen die Zivilisation ausruft und ihn im Rausch genießt: „Da entschädigte sich der Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch die Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft“ (Jünger 1980, S. 13). Will man Anlässe und Wirkung solcher Schwärmerei für das ‚Heilige und die letzte Vernunft‘ der Triebe analytisch aufschlüsseln, dann kann man sich nicht mit dem Hinweis auf die eigene Abneigung gegenüber dem zurückziehen, woraus sich Religion und Religiosität auch speisen: Gegenüber der Erfahrung von unbegreifbarer, unbändiger Gewalt einerseits und äußerster Ohnmacht andererseits – zwei bedeutenden Quellen der Religion und mit ihr sowohl der Irrationalität als auch der Faszination von Gewalt. Im Gefolge der Aufklärung hat es nicht an Versuchen gefehlt, auch die Religion zu rationalisieren. Neben den Gebildeten unter den entschiedenen Verächtern der Religion (Schleiermacher 1977 [1799]) gab es schon früh auch jene toleranten Intellektuellen, die das in der Religion ‚verdeckt vorhandene Vernünftige‘ aufdecken und so der kommunikativen bzw. kommunizierbaren Vernunft (Habermas) verfügbar machen wollten: Die für die großen Weltreligionen konstitutive widersprüchliche Einheit von Rationalität und Irrationalität sollte von ihrer ‚unvernünftigen‘ Komponente befreit werden. Schleiermacher hat eine solchermaßen bereinigte Religion treffsicher charakterisiert. Sie habe, schreibt er, „so philosophische und moralische Manieren, daß sie wenig von dem eigentümlichen [eigentlichen H.-G. S.] Charakter der Religion durchschimmern“ lasse und sie wisse „so artig zu leben, sich einzuschränken und zu fügen, daß sie überall wohlgelitten“ sei (Schleiermacher 1977 [1799], S. 162). Bei diesen wohlmeinenden Reinigungsversuchen blieb zumeist das auf der Strecke, was – jenseits der Vernunft – Menschen zur Religion zieht: Jene Erfahrungen und Wünsche, die für viele durch die Ratio nicht gedeckt oder befriedigt werden. Übrig bleibt – nach der rationalistischen Hygiene – eine zwar irgendwie vernünftige, aber „magre und dünne Religion“ (Schleiermacher 1977 [1799], S. 183).

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Rudolf Otto hat 1917 einen Versuch unternommen, „über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ (Otto 1963 [1917]) Klarheit zu gewinnen. Es ist ein Versuch, an den es sich gerade angesichts der gegenwärtig beobachtbaren Unfähigkeit, mit Irrationalem umzugehen, zu erinnern lohnt; vor allem deswegen, weil es Otto nicht darum geht, das Irrationale als siegreichen Antipoden der Vernunft zu feiern, sondern darum zu zeigen, „daß Religion nicht in ihren rationalen Aussagen aufgeht, und [daraus] das Verhältnis ihrer Momente so ins Reine zu bringen, daß sie sich selber deutlicher werde“ (Otto 1963 [1917], S. 4). Untersucht werden soll das Heilige, sofern es sich erkennbar nicht rational auflösen lässt: Das „Numinose“ also, ein Ausdruck, der „bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt“ (Otto 1963 [1917], S. 6). Dabei geht es auch, und das ist für den Gegenstand meiner Überlegungen, die Gewaltthematik, entscheidend, um jenes Moment am Heiligen, „das an sich selber gegen das Ethische auch gleichgültig sein und für sich selber erwogen werden kann“ (Otto 1963 [1917], S. 6). Als beispielhaft nennt Otto den „Zorn Gottes (Jahveh’s)“, dessen „unheimlich-furchtbare“ Gewalt als „Erhabenheit“ (Otto 1963 [1917], S. 19) erlebt wird, ein Zorn, „der nichts mit sittlichen Eigenschaften zu tun hat“, sondern sich unberechenbar als ­„Willkür-Leidenschaft“ (Otto 1963 [1917], S. 21) äußert. Das Numinose, irrational Göttliche, wie es im Alten Testament und auch im Koran dargestellt wird, ist dasjenige, was jede, auch die von ihm selbst als Schöpfer gesetzte Ordnung, durchbrechen (z. B. ‚Wunder‘) oder sie auch ganz zerstören kann (‚Sintflut‘, ‚Sodom und Gomorra‘). Das Zerstörungsmotiv mag ‚ethisch‘ begründet sein (Strafgericht), es kann aber auch reiner Willkür entspringen (Schleiermacher 1977 [1799], S. 174). Vor allem ist es eins: Ausdruck unwiderstehlicher Gewalt, Gewalt über ‚Himmel und Erde‘, Leben und Tod, Dämonen und Teufel (Matthäus 28,18 und Lukas 9,1), Gewalt zeigt sich hier als Erscheinungsweise des Heiligen vor dessen „ethischer Schematisierung“ (Otto 1963 [1917], S. 6). Das Gegenüber und damit (potenzielle) Opfer der Gewalt erfährt die eigene „schlechthinnige Abhängigkeit“ (Schleiermacher 1977 [1799], S. 157–162) und Ohnmacht gegenüber einer „schlechthinningen Überlegenheit (und Unnahbarkeit)“ (Otto 1963 [1917], S. 12). Das Heilige in seiner Größe, Würde und Hoheit (lat.: maiestas) äußert sich hier in dem „Moment von „Macht“ „Gewalt“ „Übergewalt“, schlechthinniger Übergewalt“ (Otto 1963 [1917], S. 22). Für diese Übergewalt wählt Rudolf Otto den „Symbol-Namen“ „majestas“ und fügt ihm „das Moment des tremendum“ hinzu: „tremenda majestas“ (Otto 1963 [1917], S. 22). Die von der Übergewalt ausgehende Bedrohung macht aus der Religion etwas so „Wildes, wie das Universum, welches sie erhellt: wild, kalt,

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kahl, aber unendlich stark“ (Stevenson 2000, S. 440). Zentrum dieser ‚wilden Religion‘ ist eben jene ‚Majestät Gottes‘, der man sich nur mit Furcht und Zittern – wenn überhaupt – zu nähern wagt. Von ihr leihen sich die ‚irdischen Majestäten‘ ihren Machtanspruch aus. Aber diese irdische Macht ist keine ‚Übergewalt‘, sondern nur „ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen“ ist. Eine solche Macht heißt erst dann „Gewalt, wenn sie auch dem Widerstand dessen, was selbst Macht ist, überlegen ist“ (Kant 1913, S. 111). Für die Religion geht eine derartige Gewalt nur von der Majestät Gottes aus. Nicht zufällig gehen der Wortstamm ‚Gewalt‘ = ‚walten‘ = (idg.)* ‚wolþa‘ = ‚herrschen‘ ebenso wie die lateinischen Ausdrücke für Gewalt ‚vis‘ (potentia) und ‚violentia‘ (potestas) auf eine gemeinsame – semantisch in sich widersprüchliche – Wurzel zurück: ‚Vis‘, die Kraftfülle, Ausdruck der absoluten Freiheit, Würde und Ehre einerseits und ‚violentia‘, die Statthalterin der Gewaltsamkeit, des Unrechts, der Unterwerfung und aufgezwungenen Unfreiheit andererseits, sind in ihrem Ursprung miteinander verbunden. Eine entsprechende Verbindung findet sich in der ‚tremenda majestas‘ des Heiligen wieder. Diese Majestät ist übermächtig und irrational, Auslöser völliger Unterwerfung oder Spenderin einer ‚Gnade‘. Für beide gibt es letztlich keine rationale Begründung: Beide sind Ausdruck eines ‚unerforschlichen‘ Willens (des ‚deus absconditus‘ – eines verborgenen und uns daher letztlich fremden und befremdlichen Gottes), der sich in ‚der Tat‘ äußert: Einer ‚Tat an sich‘, die sich selbst und zugleich – wie bei Schopenhauer (1923) – den ihr zugrunde liegenden Willen heiligt3. Dieses „Moment des »Energischen«“ (Otto 1963 [1917], S. 27–28), das in der Fähigkeit zur Tat die absolute Freiheit verspricht, erklärt das Charisma der Gewalt: Die Suggestion der Freiheit ist die der Gewalt hintergründig verliehene ‚Gnadengabe‘ – Gewalt als die Möglichkeit der Befreiung, als Geburtshelferin in einer ‚alten Gesellschaft, die mit einer neuen Gesellschaft schwanger geht‘ (Karl Marx) und – wie bei Georges Sorel – als ‚schöpferische Kraft‘ (Sorel 1928), die eine eigene „Moralität“ (Sorel 1928, S. 215–220) aufweist und dadurch die traditionell religiöse Erhabenheit durch Gewalthandlungen in die Erhabenheit einer „sozialistischen Ideologie“ überführen kann (Sorel 1928, S. 263). Auf

3Im

Kontext der christlichen Religion wird das Dunkle und implizit Dämonische in der gewalttätigen Tat durchaus gesehen, mit der Zeit jedoch vom Göttlichen ‚subtrahiert und statt dessen ‚Satan‘ bzw. seinen Opfern zugeschrieben – aber so, dass der Abglanz des Heiligen noch deutlich erkennbar ist‘. Besonders eindrucksvoll gestaltet Giusto de Menabuci den Zusammenhang von Heiligem und Dämonischem, wenn er auf seinem Abendmahlsfresco (Dombaptisterium zu Padua) den Heiligenschein der Jünger bei Judas schwarz einfärbt und so den Nimbus des Satanischen sichtbar macht.

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eben dieses Charisma der Gewalt setzen alle Revolutionen: Auf den Umsturz als schöpferischen Akt, der ‚die alten Ordnungen hinwegfegt‘, von Systemund sonstigen Zwängen befreit, den alten Werten neue entgegensetzt, vor allem aber die alte Macht mit einer ihr überlegenen Gewalt konfrontiert. Dass fast alle Revolutionen glauben, alte, tradierte Werte im Auftrag einer ‚höheren Moral‘ zerstören zu müssen – und zu dürfen – und dass im Moment der Freiheit die revolutionäre Tat, die sich im Nachhinein schon irgendwie legitimieren wird, letztlich als jedweder Moral überlegen gilt, zeigt, wie sehr sich Revolutionsideologien – trotz ihrer oft rein säkularen Motive und Ziele – aus dem alten, religiös fundierten Gewaltmythos speisen: Eben auch dann, wenn im Auftrag der Vernunft ‚zopfige‘, unvernünftige Regimes auf den ‚Kehrichthaufen der Geschichte‘ gefegt werden sollen. Gewalt stellt sich in solchen Fällen nicht einfach über alle, sondern wider alle Vernunft: Gegenüber der Normalität (des Alltags) betont Gewalt das Außeralltägliche, in diesem Sinne Abnormale. Ihre Irrationalität beschwört die extremen Emotionen: „Normalität, gepaart mit Tüchtigkeit, mag populär machen; aber letzte Liebe und letzter Haß, Vergottung und Verteufelung, gilt nur dem äußerst Abnormalen“, dem Normalmenschen „ganz Unerreichbaren, mag [dieser Mensch] weit über oder weit unter [ihm] stehen“ (Haffner 2000, S. 50). Dies wird vor allem am Zeitmodus ‚der Tat‘, des Umsturzes und der ‚Umwälzung aller Werte‘ deutlich: Die Eruption von Gewalt erschreckt und fasziniert durch ihre Plötzlichkeit. Ihr ‚Ort‘ ist der Augenblick, ihr Werkzeug die Überraschung – und ihre Gegnerin die Dauer: Die Veralltäglichung der ‚großen Tat‘ in vielen kleinen Handlungen. Man ahnt zwar in der Welt der Religion die ständige Anwesenheit der ‚dunklen Gewalt‘ des Heiligen, wird aber dennoch von dem Eingreifen, von der Tat eines Gottes überrascht – und würde, wenn solche Taten nie geschähen, den Glauben an das Heilige allmählich verlieren. Das ‚Moment des Energischen‘, die Plötzlichkeit des Zugriffs und der Kairós der Tat machen den Schrecken und den Glauben, das Zusammenwirken von Übermacht und Ohnmacht, die Zerstörung der Ordnung und den Widerschein einer ‚anderen‘ Ordnung im Augenblick wieder erfahrbar: In der Unterbrechung der Dauer und der scheinbaren Kausal- oder Finalketten der Geschichte. Ebenso suggeriert die Umsturz- und Augenblickserfahrung der säkularen Revolutionen die Durchsicht auf ein Reich der Freiheit – jenseits der zähen Routinen und der Zwänge zur Vorsorge, jenseits einer Zukunft also, die schon gelebt zu sein scheint, bevor sie überhaupt begonnen hat. Gegenüber der Lähmung, die solche ‚bleiernen Zeiten‘ ausstrahlen, scheint selbst noch das riskante Spiel mit dem Zufall das Leben deswegen lebenswerter zu machen, weil es – wie bei Goethes Eugenie (‚Die natürliche Tochter‘) – der Berechenbarkeit die Freiheit der Willkür vorzieht: „O fasse mich, Gewalt, mit ehrnen

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H.-G. Soeffner

Fäusten; Geschick, du blindes, reiße mich hinweg!“ (Goethe 1912 5. Aufzug, 6. Auftritt, S. 249). In der freien Tat ebenso wie im Augenblick der Entscheidung kulminieren jene Elemente – Entschlossenheit, Mut und auch eine gewisse Skrupellosigkeit –, in denen sich das Kriterium für die Wirkung des Charismas von Gewalt zum Ausdruck bringt: Die Bewährung gegenüber der Gefolgschaft. Sie entscheidet „über die Geltung des Charismas“ (Weber 1976, S. 140) eines Menschen. Bewährung im Augenblick der Entscheidung strahlt offensichtlich einen Glanz aus, dem die anhaltende Zähigkeit einer in vielen Einzelhandlungen sich bewährenden Person oder Institution kaum etwas entgegenzusetzen hat – selbst dann, wenn man ahnt, dass die charismatisch-freie Tat neue Konsequenzen und Zwänge schaffen wird: „Es denkt der Mensch die freye That zu thun/Umsonst! Er ist das Spielwerk nur der blinden/Gewalt, die aus der eignen Wahl ihm schnell/Die furchtbare Nothwendigkeit erschafft“ (Schiller 1814, S. 397–398). Dem Kairós der Aktion verpflichtet, lassen sich charismatische Taten und Augenblicke nur schwer auf Dauer stellen: Die Außeralltäglichkeit des Kairós sperrt sich gegen seine Verzeitlichung in der Dauer. Und der Versuch, durch rückwärtsgewandte, in Memorialrituale gekleidete Feste den großen Augenblick wiederzubeleben und zu verstetigen, verschließt mit der Zeit die Zukunft mehr und mehr. Das Heilmittel, mit dessen Hilfe die „Gefolgschaft, Jüngerschaft, Parteivertrauensmännerschaft usw.“ (Schiller 1814, S. 143) – kurz: Die der charismatischen Tat verbundene Anhängerschaft – den Moment des Außeralltäglichen aus dem Zeitlauf herauszuheben versucht, ist die Ersetzung gewohnter, routinisierter zeitlicher Ordnungen durch eine Ordnung der Symbole und der Rituale (der Handlungsformen der Symbole) (Soeffner 1995, 2000, S. 180–185; Raab und Tänzler 1999, S. 59–77). So tendieren charismatische Herrschaftsformen bzw. die Herrschaft des Charismas – mehr noch als selbst traditionale Herrschaftsformen – dazu, im Spannungsfeld zwischen Tat-Ethos und symbolischer Ordnung alltägliche Zeit- und Verlaufsordnungen aufzulösen oder in den Hintergrund zu rücken. Das charismatisierte Leben soll sich bewähren in einer festlichen Kette von herausgehobenen Taten und Tatmemorialen (Caillois 1988, bes. S. 220–225)4. Anschauungsmaterial für solche Versuche bieten nahezu alle sich charismatisierenden Herrschaftsformen, seien sie ‚rechts‘ oder ‚links‘, religiös oder säkular.

4Vgl.

225.

zum Zusammenhang von Krieg, Gewalt und Fest Caillois (1988 [1950]), bes. S. 220–

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Gewalt und Tat stehen nicht selbst für Macht, sondern sind deren Ausdrucksformen: Ohne den Besitz oder die Beanspruchung von Macht sind weder die effektive Ausübung von Gewalt noch die ‚freie Tat‘ möglich. Macht bedeutet für Max Weber dementsprechend „jede [Hervorhebung Max Weber] Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Beziehung beruht“ (Weber 1976, S. 28). Das Mittel, jede Chance zu nutzen und den eigenen Willen durchzusetzen, ist der „Kampf“ (Weber 1976, S. 20). Hier unterscheidet Weber diejenigen Kampfarten, die an ‚sinnhaften Zielen‘ orientiert und oft an Regeln gebunden sind, von jener dem Menschen aufgezwungenen Kampfart, die sich jeder Sinnzumessung verschließt: Dem ‚Existenzkampf‘. Dieser „ohne sinnhafte Kampfabsicht gegeneinander stattfindende (latente) Existenzkampf menschlicher Individuen […] um Lebens- oder Überlebenschancen soll «Auslese heißen»“ (Weber 1976, S. 20). Eben dieser Kampf entscheidet über Macht oder Ohnmacht und die Chance, Gewalt ausüben zu können. Es geht um die tödliche Alternative, auserlesen oder ausgelesen zu sein, was Weber in der von ihm beanspruchten ‚Wertfreiheit‘ analytisch deskriptiv formuliert, wird Carl Schmitt später normativ in ‚politische Theologie‘ transformieren. Die göttliche Allmacht aber steht buchstäblich jenseits der Kategorie ‚Chance‘: Sich göttlicher Gewalt widersetzen zu wollen, ist chancenlos. Der innerweltliche Kampf um Macht dagegen zielt, sofern er nicht gebändigt wird, auf die Vernichtung des Gegners. Der Kampf um Überlebenschancen ist daher gekennzeichnet durch das Spannungsverhältnis zwischen Überlebenskampf als Vernichtung einer ‚sozialen Beziehung‘ – des Gegners – einerseits und der faktischen Unmöglichkeit für einzelne Menschen, gänzlich ohne soziale Beziehungen, d. h. ohne andere Menschen überleben zu können, andererseits. Eine Anthropologie, die – wie bei Max Weber – von diesem Antagonismus geprägt ist, wird Ursprung und Wesen menschlicher Kultur nicht in einem ‚Drang des Menschen zum Höheren‘ suchen, sondern – wie der von Weber geschätzte Kant – in zwei einander entgegengesetzten menschlichen ‚Neigungen‘: Sowohl der. „Neigung, sich zu vergesellschaften“ als auch „dem großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerseits Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist“. Seinen Egoismus, seinen „Hang zur Faulheit, […] Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“ kann er letztlich nur dadurch überwinden, dass er sich mit

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H.-G. Soeffner seinen „Mitgenossen“ verständigen muss, „die er nicht wohl leiden, von denen er aber nicht lassen kann“. Es ist diese „ungesellige Geselligkeit der Menschen“, die sie „aus der Rohigkeit zur Kultur“ zwingt (Kant (1974 [1784], S. 31–50, S. 37–38).

Aus dieser Sicht ist der Antagonismus zwischen Kampf und Gewaltsamkeit einerseits und dem Zwang zur Sozialität andererseits der Geburtshelfer für die Entstehung menschlicher Kultur. Sigmund Freud führt diesen Gedanken – spekulativ – konsequent fort, indem er den Gründungsakt für die Genese menschlicher Kultur in einer exemplarisch zerstörerischen Tat, dem Vatermord, verankert (Freud 2000a [1912/13], S. 287– 444). Die „Brüderschar“ ermordet den Vater nicht nur, sondern verzehrt auch das Opfer und setzt „im Akt des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch“. Diese „Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit“, transformiert in ritueller „Wiederholung“ von stellvertretenden Opferhandlungen die „verbrecherische Tat“ in eine Kette von „Gedenkfeiern“ (Freud 2000a [1912/1913], S. 426). In ihnen fallen „Opfer und Festlichkeit […] zusammen, jedes Opfer bringt ein Fest mit sich, […] kein Fest kann ohne Opfer gefeiert werden“ (Freud 2000a [1912/1913], S. 419). So erzählt Freud in seinem spekulativen Entwurf des gewaltförmigen Ursprungs menschlicher Kultur, wie aus einem kollektiv begangenen, mörderischen Gründungsakt ein sozialer Verbund entsteht, der im gemeinsamen Opfer und in Erinnerungsritualen seine düstere Entstehungsgeschichte hat und damit zugleich den – für die Selbsterhaltung des Kollektivs unverzichtbaren – Zwang zu domestizierender Vergemeinschaftung – zu Sozialität – in Erinnerung ruft. Später wird Freud das Vatermordmotiv in einer selbstreflexiven, autobiografischen Wende wieder aufgreifen: Der ebenso dezidiert jüdische wie säkulare Gründervater der Psychoanalyse erkennt, dass er in seinen wiederholten Deutungen der jüdischen Gründergestalt Moses die Gründungsmythen nicht nur der jüdischen Religion, sondern des religiösen Denkens überhaupt, analytisch zersetzt: Vatermord – auch an der eigenen Religion – begeht (Freud 2000b [1914], S. 195–222; Freud 2000c [1934–1939], S. 455–581). Wie endgültig diese Religionskritik ausfällt, zeigt sich, wenn er sein ‚Hauptwerk‘ über die Religion, ‚Die Zukunft einer Illusion‘, mit dem Heine-Zitat enden lässt: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen“ (Freud 2000d [1927], S. 137–183)5.

5Zitate

S. 138, 183.

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3 Von der säkularisierten zur politischen Theologie6 Bisher ging es mir darum, ein semantisches Feld nachzuzeichnen, an dem sich die wechselseitige Anziehungskraft von religiösen und politischen Machtimaginationen zeigt: von ‚schlechthinniger‘ Allmacht und Ohnmacht; Existenzkampf/Feindschaft und Verbundenheit; Zerstörung der Sozialbeziehung und Gemeinschaft; Inklusion und Exklusion. Dabei verweisen die religiösen und politischen Vorstellungswelten auch dann aufeinander, wenn ‚das Religiöse‘ – im Zusammenspiel von Aufklärung und Moderne ‚säkularisiert‘ wird: Der Gott/die Götter wechseln ihre Kleider und treten nun in säkular-politischer Kostümierung auf. Beispielhaft zeigt sich dies an Carl Schmitts Konzept der ‚Politischen Theologie‘: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ (Schmitt 1996a, S. 49). In diesem Konzept werden die genannten Antagonismen zu einem Grundkonflikt verdichtet: Zu der fundamentalen Unterscheidung von Freund und Feind. Anders als Kant, Weber und Freud sieht Schmitt die Wurzel des Gewalt auslösenden Antagonismus nicht in der basalen Differenz zwischen individuellem Souveränitätsanspruch und Zwang zur sozialen Kompromissbildung und damit zur Sozialität, zwischen zerstörerischer Tat und dem Weg „aus der Rohigkeit zur Kultur“ (s. o.), sondern in einer fundamentalen Frontstellung zwischen zwei Kollektivsubjekten. Aus dieser Frontstellung erwächst dementsprechend auch nicht das – den Menschen aufgezwungene – Bemühen um Kultur sowie der damit verbundene Versuch, Gewaltsamkeit rechtlich einzuhegen und vertraglich zu institutionalisieren (Hobbes 1970 [1651]), sondern vielmehr die Stiftung ‚des Politischen‘ als Brennpunkt kollektiver zwischenmenschlicher ‚Wechselwirkungen‘ (Georg Simmel). Diese ‚Sphäre des Politischen‘ ist gekennzeichnet durch den Existenzkampf eines spezifischen Kollektivsubjektes: Des ‚Volkes‘: „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr den Willen oder die Fähigkeit zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren“ (Schmitt 1996a [1932], S. 50).

6Wichtige Impulse für das folgende Kapitel verdanke ich der Diskussion mit einem unverzichtbaren, freundschaftlichen Diskussionspartner: Jürgen Fohrmann (2017).

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Indem Schmitt den ‚extremsten Fall‘, den ‚Ausnahmezustand‘, in seine ‚moderne Staatslehre‘ einarbeitet und zu einem zentralen Element des Staatsrechts macht, verweist er bewusst auf den außeralltäglichen, ‚überrationalen‘ Charakter dieses Elements und auf die Analogie zwischen christlicher Theologie und seiner Staatslehre – zwischen einem ‚allmächtigen Gott‘, dem ‚omnipotenten Gesetzgeber‘ und dem ‚säkularen‘, gesetzgebenden Souverän: „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“ (Schmitt 1996b [1932], S. 49). Bis in die Gegenwart hinein wird – in einer Mischung aus Bewunderung, widerwilliger Faszination und entschiedener Abneigung – über Carl Schmitts politische Theorie: Die strukturelle Verschränkung von Mythos, politischer Formgebung durch religiöse Tradition (Schmitt 1925) und politischem Entscheiden/ Handeln, gestritten. Es ist eine Verschränkung, die in der Verquickung von Biografie, Weltanschauung(en) und Theorie dieses anti-intellektuellen Intellektuellen ihren Ausdruck findet: In der befremdenden Synthese von römisch katholischer Tradition und nationalsozialistischer Ideologie; staatsrechtlicher Kompetenz und demokratiekritischem Ressentiment; philosophischem Intellekt und Antisemitismus (Schmitt 1982/1995, S. 106–111). Der Rückblick auf diese Diskussion verdeckt indes die Verführung, der auch Schmitt erlegen ist, durch die zeitlos in allen Kulturen wirksame, offenkundig basale Tendenz, zwischen einem ‚Wir‘ (der Familie, des Stammes, des Clans, des Volkes) und ‚den Anderen‘ (den Feinden) zu unterscheiden (Müller 2018, S. 149– 154, S. 311–312).7 Der „politische Feind“, so Schmitt, „braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein […]. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist“ (Schmitt 1996b [1932], S. 27). Schmitts politiktheoretische Überhöhung dieses Grundmusters findet sich in trivialisierter, aber ebenso gefährlicher Form sowohl in den zeitgenössischen Debatten um politische ‚Lösungen‘ im Umgang mit Migranten, ‚inneren Feinden‘ als auch im ‚Kampf‘ um die Bewahrung der imaginierten ‚eigenen Identität‘. Mögen Trump, Orban, Salvini, Gauland etc. Schmitts intellektuelles Niveau auch weit unterschreiten, die Konsequenzen dieser Weltsicht ähneln sich – vor allem in der Ersetzung des rationalen Umgangs mit Problemlagen durch jenes mythische

7Die

Scheu vor den Fremden, der Verdacht sie seien gegenüber den ‚Einheimischen‘ unsolidarisch, scheint universal zu sein. Dass aus dieser Scheu automatisch Feindschaft wird, dagegen nicht: Handel, Brautwerbung, etc. sprechen dagegen.

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Denken, dem Schmitt (1940!) in der ‚politischen Theorie des Mythus‘ eine Form geben wollte. „In der Kraft des Mythus liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus der Tiefe echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung, entspringen der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision und der große Mythus. In unmittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorwärts treibt und ihr die Kraft zum Martyrium wie den Mut zu Gewaltanwendung gibt“ (Schmitt 1940, S. 9–18) (Hervorhebungen H.-G.S.). Dass Schmitts theoretisch zum ‚großen Mythus‘ überhöhte Weltsicht nicht die eines Einzelnen ist, sondern dem Zeitgeist ab 1933 und dem, was ‚große Denker‘ damals für ‚Geist‘ hielten, entspricht, belegt u. a. auch Martin Heideggers Rede zur Übernahme des Rektorats in Freiburg (Heidegger 1933): „und die geistige Welt (Hervorhebung M. Heidegger) eines Volkes ist nicht der Überbau einer Kultur, sowenig wie das Zeughaus für verwendbare Kenntnisse und Werte, sondern sie ist die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung seines Daseins“ (Heidegger 1933, S. 3).

Entsprechend erd- und bluthaft fallen die elementaren ‚Bindungen‘ der Deutschen aus. Es sind „drei Bindungen – durch das Volk an das Geschick des Staates im geistigen Auftrag“, die „dem deutschen Wesen gleichursprünglich“ sind (Heidegger 1933, S. 4). Und ähnlich wie bei Schmitt besteht die ‚deutsche Daseinsform‘ im Kampf: „Alle willentlichen und denkerischen Vermögen, alle Kräfte des Herzens und alle Fähigkeiten des Leibes müssen durch Kampf entfaltet, im Kampf gesteigert und als Kampf bewahrt bleiben“ (Heidegger 1933, S. 5) (Hervorhebungen M. Heidegger).

Indem Schmitt rationale Analyse und Handlungsentwürfe als ‚Räsonnement‘ desavouiert, an deren Stelle ‚Lebensinstinkte‘ und ‚unmittelbare Intuition‘ treten lässt und ‚große(n) Enthusiasmus‘ mit ‚moralische(r) Dezision‘ verbindet, entsteht ein Politikbegriff, der ‚Gewaltanwendung‘ nach außen wie nach innen (‚Martyrium‘) legitimiert. Das Außeralltägliche, der Ausnahmezustand, „die seinsmäßige Wirklichkeit und die reale Möglichkeit“ (Schmitt 1996a [1932], S. 28) des Volkes, als Souverän „die Unterscheidung von Freund und Feind selber zu bestimmen“ (Schmitt 1996b [1932], S. 50), werden damit wirklicher als eine Wirklichkeit, der sich die analytische ‚reine‘ oder die ‚praktische

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Vernunft‘ anzunähern versuchen. Mit der Betonung einer unmittelbaren, ‚absoluten‘, ‚wirklichen Wirklichkeit‘ und des „gewaltsamen Ursprungs ‚wirklicher Wirklichkeit‘“ (Fohrmann 2017, S. 104) verschreibt sich Schmitt einer Weltsicht, in der Ausnahmezustand und ‚unmittelbare Intuition‘, ‚großer Mythus‘ und ‚große moralische Dezision‘, ‚mythisches Bild‘ und ‚Wunder‘, Entscheidung und Tat in einer absoluten umfassenden Wirklichkeit aufgehen. Aus ihr werden alle anderen sozialen Wirklichkeiten als davon abhängige ‚subuniverses‘ (William James) abgeleitet. Auch diese sind allerdings bei Schmitt durch den gleichen strukturellen Dualismus Freund/Feind charakterisiert. Die Weltsicht der politischen Theorie Schmitts, die Hans Blumenberg pointiert als „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg 1979, S. 9) kennzeichnet, entwirft eine duale Welt: Freund/Feind; Inklusion/Exklusion; Normalzustand/Ausnahmezustand; Alltag/Außeralltäglichkeit; unmittelbare Intuition und Dezision. Das politische Handeln selbst orientiert sich am Extremfall, der seinerseits einen Totalitarismus der Tat verlangt. Da die „große moralische Dezision“ von der Unterscheidung Freund/Feind in „unmittelbarer Intuition“ geleitet wird, entfällt gegenüber Feind und Opfer eine zentrale Maxime sozialen Handelns: Die Verpflichtung auf die „Reziprozität der Perspektiven“ (Mead 1973 [1934]; Soeffner 2014, S. 207–224). Die Einbuße an Reziprozität hat beim Handelnden wiederum einen Reflexivitäts- und Distanzverlust zur Folge – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber dem Anderen. Der Staat der politischen Theologie konstituiert damit gegenüber einem gesichtslosen Feind ein Kollektivsubjekt, das mit seinen Verpflichtungen für den Staat verschmilzt: Mit der Übernahme der Staatspflicht übernimmt jeder Einzelne auch die Staatssicht. Der andere, Fremde, wird in dieser Sicht zu einem anonymen Objekt/Gegner. Die ‚große moralische Dezision‘ besteht somit aus der Zerstörung der sozialen Beziehung zu den Exkludierten: Aus Asozialisierung und zentrovertierter Einweg-Ethik. Wer auf diese Weise mit dem Kollektivsubjekt verschmilzt, anonymisiert nicht nur das (feindliche) Gegenüber, sondern transformiert auch die eigene Individualität in den Typus des unpersönlichen Funktionsträgers und Exekutors von Staatspflichten: In allen Formen „kollektiver Gewalt“, so Hannah Arendt in Anschluss an Frantz Fanon (1961/1966, S. 14) verschwinden „individualisierte Werte als erste“ (Arendt 2009 [1970], S. 67). Dies verbindet den Typus des bürokratischen Exekutors in totalitären Staaten – beispielhaft Adolf Eichmann und Heinrich Himmler – mit dem des Repräsentanten militärischen Gehorsams in Eliteeinheiten auch in demokratischen Staaten. So schreibt ein Captain der US-Marines während des Vietnamkrieges an seine Mutter:

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„Hier gibt es einen Job, der zu tun ist. Beinahe täglich gibt es schwierige, gewissenhaft zu treffende Entscheidungen. Meine Erfahrung ist unschätzbar. Dieser Job verlangt einen gewissenhaften Menschen. Die Gruppe Männer, die diesen Job tun, braucht einen gewissenhaften Führer. In den letzten drei Wochen töteten wir mehr als 1500 Mann in einer einzigen Operation. Das zeigt die Verantwortung. Ich werde hier gebraucht, Mutter“ (Neitzel und Welzer 2011, S. 412).

Wenn Theorie auf Empirie, der theoretische ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ auf seine empirische Umsetzung und die dadurch bewirkte Wirklichkeit treffen, zeigt sich die Differenz zwischen einem am Katheder proklamierten und einem faktisch agierenden Staat; zwischen Freund und Feind als theoretischen homunculi einerseits, militärischer Kameradschaft und anonymisierten Feinden/ Opfern andererseits; zwischen der zerstörerischen Tat als abstrakt gewalttätigem Gründungsakt und der konkreten Zerstörungskette, die er auslösen kann. Wilhelm von Humboldt hat diese Differenz zwischen politischer Theorie und den durch sie ausgelösten Folgen – anders als Schmitt – sehr deutlich gesehen: „Jede Entwicklung von Wahrheiten, welche sich auf den Menschen und insbesondere auf den handelnden Menschen beziehen, führt auf den Wunsch, dasjenige, was die Theorie als richtig bewährt, auch in der Wirklichkeit ausgeführt zu sehen. […] Allein wie natürlich derselbe auch an sich und wie edel in seinen Quellen er sein mag, so hat er doch nicht selten schädliche Folgen hervorgebracht und oft sogar schädlichere als die kältere Gleichgültigkeit oder […] die glühende Wärme, welche, minder bekümmert um die Wirklichkeit, sich nur an der reinen Schönheit der Ideen ergötzt.“ (Humboldt 2015[1792/1903], S. 192–193).

Aus dieser Einsicht leitet Humboldt den ‚allgemeinen‘ Grundsatz ab: „Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfange dieselben nicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervorbringen würden“ (Humboldt 2015 [1792/1903], S. 197).

Theoretische Konstruktionen haben ebenso wie ‚gesellschaftlich konstruierte‘ (Berger und Luckmann 1970 [1966]) Wirklichkeitsentwürfe, was habituelle Konstruktivisten (Hubert 2017; Reichertz und Bettmann 2018) – anders als Berger und Luckmann – leicht übersehen, dann ‚reale‘ Folgen, wenn sich das faktische Handeln an diesen Konstruktionen orientiert und gesellschaftliche Wirklichkeit schafft. Auf eben diese (politische) Wirklichkeit schaffende Tat setzt Schmitt – ganz und gar nicht konstruktivistisch, sondern realpolitisch. Vor dem Hintergrund der

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existenziellen Fundamentalunterscheidung Freund/Feind wird der Souverän – unabhängig von den faktischen Folgen seines Handelns – mit der Ermächtigung, den Ausnahmezustand zu setzen, staatsrechtlich ganz konkret. „höchster Gesetzgeber, höchster Richter und höchster Befehlshaber zugleich, letzte Legalitätsquelle und letzte Legitimationsgrundlage“ (Schmitt 1996a [1932], S. 10).

Die Konsequenz: Legalität wird damit aus der Legitimität des (gewaltsamen) Gründungsaktes abgeleitet. Wie schwer sich auch die Verfassungen parlamentarischer Demokratien mit dem ungeklärten Verhältnis von verfassungssetzendem Gründungsakt und rechtsstaatlicher Ordnung tun, lässt sich an der Präambel des deutschen Grundgesetzes erkennen: Dort heißt es, das „Deutsche Volk [hat sich] Kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“ (Grundgesetz 1946, Präambel, Satz 1). Mit dieser Setzung beansprucht auch das Grundgesetz jene grundlegende Legitimität, aus der die Legalität sowie die sie absichernden Verfahren und Institutionen abgeleitet werden (Artikel 20, Abs. 2): „Alle staatliche Gewalt geht vom Volke aus, sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Kurz: Die legale Gewalt gründet in der – voraussetzungslos Legitimität beanspruchenden – Verfassung gebenden = setzenden Gewalt. Darin, dass der „freiheitlich säkularisierte Staat“ von Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht garantieren kann“, sieht Ernst-Wolfgang Böckenförde „das große Wagnis, das [der Staat], um der Freiheit willen, eingegangen ist“ (1967, S. 75–94; Fohrmann 2017, S. 66–71)8. Aber – anders als Schmitt, für den das „Volk oder eine andere soziale Gruppe“, ein Kollektiv also, aus „der Tiefe echter Lebensinstinkte“ und durch „große(n) Enthusiasmus“ zu einer „begeisterte(n) Masse“ wird, die durch die „Kraft zum Mythus“ (alle Zitate s. o.) den Staat trägt – sieht Böckenförde im Verhältnis des einzelnen Bürgers zur rechtsstaatlichen Ordnung das zentrale, konstituierende Element parlamentarischer Demokratien. Der freiheitliche Staat – so Böckenförde am Beispiel der Religionsfreiheit – könne und solle dementsprechend vom Bürger als Bedingung für den Bürgerstatus nicht ein Wertbekenntnis verlangen, wie es die gegenwärtige Rede von der sogenannten Leitkultur nahelegt. Wohl aber habe der Bürger als Wähler

8Zur

Diskussion um das ­Legitimitäts-/Legalitätsverhältnis vgl. Fohrmann (2017, S. 66–71).

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die Gesetze des Staates zu akzeptieren und zu befolgen (Böckenförde 1978, S. 24–29). Kurz: vom Staatsbürger wird Gesetzes-, nicht Gesinnungstreue verlangt (Soeffner 2018, S. 75–94).9

4 Das grundsätzlich vorletzte Wort der Hermeneutik – Ein versöhnlicher Schluss? Wenn das gesamte menschliche Leben als ‚Kampf um die Existenz‘ gesehen wird, in dem ‚das Politische‘ seinen Ausdruck und sein Bewährungsfeld findet, beansprucht ein „Sinn-“ und „Wirklichkeitsbereich“ die Dominanz über „mannigfaltige, […] miteinander konkurrierende Wirklichkeitsbereiche“ (Schütz 2003, S. 117–220, S. 175–180). Wird diese Dominanz in der Weltdeutung und im Handeln als „ausgezeichnete Wirklichkeit“ akzeptiert, so führt dies, wie ich zu zeigen versuchte, zu einer Perspektivenverengung und damit zur Begrenzung der Deutungs- und Handlungsoptionen: Zu einem Verlust von Deutungsoffenheit. Die Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit unserer Wahrnehmungen und Erfahrungen, die ihrerseits auf die Unsicherheit und das Risiko menschlicher Entscheidungen verweisen, weicht der Konzentration auf ein imaginiertes ‚Eigentliches‘, das „in existenziell bezeugter Entschlossenheit“ (Heidegger) zur Entscheidung: zur ‚großen moralischen Dezision‘ (Schmitt) aufruft (Heidegger 1960 [1927], S. 309; Schmitt 1940, S. 11)10. Goethe hat die Faszination, die von solcher Konzentration der Perspektiven auf Entscheidung und Tat ausgeht, am Beispiel von Fausts Übersetzungsbemühungen bei der Übertragung des ersten Satzes des Johannes-Evangeliums in ‚mein geliebtes Deutsch‘ (Faust) mit leichtem Spott in Verse gesetzt: „Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort!‘ Hier stock‘ ich schon!“

Unzufrieden mit dem ‚Wort‘, das er ‚so doch unmöglich schätzen‘ kann, versucht Faust es mit der Formulierung: ‚Im Anfang war der Sinn‘, fragt sich dann aber: ‚Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?‘. Besser scheint ihm: ‚Im Anfang war 9Vgl.

Soeffner, Hans-Georg (2018): Werte im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gesellschaftsvertrag. In: Rodenstock, Randolf; Sevsay-Tegethoff, Nese (2018), S. 75–94, hier: S. 89–90. 10Die beiden Zitate ziehe ich bewusst zusammen, um noch einmal die Parallelen im Denken Heideggers und Schmitts sichtbar zu machen: vgl. Heidegger (1960 [1927], S. 309); Schmitt (1940, S. 11).

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die Kraft!‘, aber auch da ‚warnt ihn ‚was, daß [es] dabei nicht bleibe‘. Dann fällt die Entscheidung: „Auf einmal seh‘ ich Rat und schreib getrost: Im Anfang war die Tat“ (Goethe 1912, S. 56).

Die Konsequenz dieser Übersetzung wäre, dass auch die Genesis umgeschrieben werden müsste. Denn in ihr werden schöpferische Tat und Wort/Rede eng aufeinander bezogen: „Am11 Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer“. Dann aber folgen acht performative Sprechakte – „Und Gott sprach…“ (Luther 1974 [1545], S. 25–26), aus denen die anfangs leere Erde zur ausgestalteten Schöpfung wird: Die göttliche Rede materialisiert die Schöpfung, über die wiederum in einer großen Erzählung berichtet wird: Auf die Schöpfung folgen Schrift und Deutung. Um aber Schöpfung und Schrift auslegen zu können, muss man Fausts Bemühungen rückwärts lesen: von der Tat zurück zum Wort.12 Für den Menschen als ‚nicht festgestelltes‘ (Nietzsche), weltoffenes, daher zum Deuten gezwungenes, geschichtliches Wesen gilt die Erfahrung, dass zwar auf die Frage, ‚wie denn alles angefangen habe‘, mit immer neuen Anfangsund Schöpfungs-/Tatmythen geantwortet wurde und wird, dass aber ‚am Ende‘ – immer wieder aufs Neue – das Wort steht: Die Auslegung der sich aus Bildern, Erzählungen und Mythen speisenden Weltsichten. Schon das alltägliche, deutende Verstehen der Lebenswelt ist – als ständige Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit der Wahrnehmung – alles andere als eindimensional. Diese Grunderfahrung findet ihren Ausdruck u. a. in dem Wort ‚Inter-pretation‘. ‚Pretium‘ = ‚Preis‘ und ‚interpretium‘ = ‚Maklergeld‘ verdeutlichen, worum es im Alltag zunächst geht: Um das Vermitteln zwischen Parteien/Interessen, die ohne Vermittlung nicht zum wechselseitigen Verstehen und zu einem möglichen Einverständnis der Beteiligten kämen.

11Jürgen

Raab, ein akribischer Leser und guter Freund, ist der Anlass für die folgende Anmerkung: Die Differenz zwischen dem ‚am Anfang…‘ der Schöpfungsgeschichte und dem ‚im Anfang…‘ des Johannesevangeliums verweist darauf, dass Gott am Anfang eine Tat setzt. Innerhalb dieses Schöpfungswerkes folgen dann im Anfang dieses Prozesses die performativen Sprechakte. Faust löst in seinem letzten ‚Übersetzungsversuch‘ diese Differenz zu Gunsten der Tat auf. Goethe, der Schöpfer des Faust, gibt uns wiederum das (sein) Wort zurück: Eine schöpferische ‚Parallelaktion‘ (Robert Musil). 12Vgl. Kierkegaards bekannte Einsicht, dass man das Leben ‚vorwärts leben müsse‘, aber ‚rückwärts verstehen kann‘.

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Die Grundoperation des Deutens und Interpretierens ist also der Vergleich, der Feind des ‚Unvergleichlichen‘, ‚Einmaligen‘, ‚Absoluten‘. Der Versuch, am Beispiel von ‚Gewalt‘ und ‚Tat‘ das Irrationale rational zu interpretieren, zeigt (vgl. I, s. o.), dass gerade bei der Überhöhung der Vernunft – als scheinbar analytisch unangreifbarem ‚Gegenüber‘ des Irrationalen – vor- und irrationale Motive erkennbar sind. Aber der interpretierende Vergleich von Vernunft und Irrationalität, von ‚praktischer‘ und ‚reiner‘ Vernunft einerseits sowie von ­Tat-/ Gewalt- und Schöpfungsmythen andererseits, lässt erkennen, dass sowohl das Charisma der Vernunft als auch das des Irrationalen nicht auf Eindeutigkeit, sondern auf alternative Entwürfe als Ausgangs- und Endpunkt hinweisen. Nicht nur die schon erwähnte innere Ambivalenz der Vernunftreligion und der Zwangscharakter, den institutionalisierte und in Institutionen eingefrorene Rationalität annehmen können, zeigen dies – sind sie doch (s. o.) oft genug Anlass für die Entstehung von ‚Gegengewalt‘. Ganz offenkundig leistet neben der Vernunft – und oft sowohl stärker als auch funktionaler als diese – das Irrationale selbst, allerdings in seinen von uns als positiv empfundenen Erscheinungsformen (Vertrauen, Sympathie, Mitleid, Liebe) einen fundamentalen Beitrag für das menschliche Zusammenleben. Was Max Weber für die Erotik feststellt, dass sie nämlich das Gefühl zu vermitteln vermag, „den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen [zu sein] wie der Stumpfheit des Alltags“, gilt in ähnlicher Weise für die anderen soeben genannten Domänen des Nicht-Rationalen. Auch sie fangen den „jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen“ (Weber 1973a, S. 469) ein. Und auch sie bringen etwas fertig, was dem stark unterkühlten Charme der Ratio, kaum gelingt: Sie ziehen Menschen zueinander hin und stabilisieren Gemeinschaften, indem sie jenseits der Zweckrationalität das menschliche Zusammenleben mit sympathetischen Emotionen dauerhaft grundieren. Kurz: Das Irrationale fasziniert nicht nur in seiner dämonischen Ausdrucksform, der Gewalt, sondern auch in der überraschenden Zweckfreiheit einer Humanität, die nicht erst nach rationalen Gründen suchen muss, bevor sie human wird. Der Analyse des Charismas von Gewalt hätte also die Analyse des Charismas und der Faszination zweckfreier Humanität zu folgen. Wie das Interpretieren als Methode sich aus der vermittelnden Alltagspraxis des Vergleiches entwickelt hat, so entspringt auch die Hermeneutik einem grundlegenden alltäglichen Verfahren der Verständigung: Das griechische ‚hermeneuein‘ bedeutet zunächst ‚dolmetschen‘, d. h. ‚übersetzen‘ auf der Grundlage des Vergleichs unterschiedlicher Sprachen. Die methodisch kontrollierte Praxis der Hermeneutik hat eine Konsequenz, die dem Pathos der Eigentlichkeit, des Ausnahmezustandes, der absoluten Unterscheidung zwischen Freund

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und Feind sowie der dadurch abverlangten eindeutigen Entscheidung gegen den Feind zuwider sein muss: Hermeneutik fordert den „Abschied vom Prinzipiellen“ (Marquard 1981; Soeffner 1989/2003, S. 114–159). Aber auch sie hat ihren Anfangsmythos. Er lebt vom griechischen Polytheismus. Und der Schutzpatron der Hermeneutik ist ein eindeutig uneindeutiger Gott: Hermes. Es ist der Gott der Herden, des Handels, der damaligen wie heutigen Ökonomie, der Diebe, der Träume. Nicht zuletzt ist er der Seelenbegleiter, der die Seelen auf ihrem letzten Weg in die Unterwelt geleitet. Zeus, ein Verwandlungskünstler, der seinen ebenso klugen wie schlitzohrigen Sohn – aus guten Gründen – mochte, attestierte ihm, „ein sehr einfallsreicher, beredter und überzeugender kleiner Gott zu sein“. Wenn das so ist, bat Hermes, „dann mache mich zu deinem Boten“, und ich versichere dir, ich werde „niemals mehr lügen“. Der für die Hermeneutik entscheidende Zusatz folgt unmittelbar: „Aber ich kann nicht versprechen, immer die ganze Wahrheit zu sagen“ (Ranke-Graves 1959/1960, S. 54). Die ganze Wahrheit sagen, kann nur, wer die ganze Wahrheit besitzt. Hermeneutik und Wissenschaft kennen Wahrheit nur im Plural: Wahrheiten. Der Singular dagegen gilt für eine unverzichtbare Maxime: Wahrhaftigkeit (Kant 1974, S. 637).

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Fremdheit – Zwischen Sakralisierung und Ressentiment Alfred Schäfer

1 Fremdheit als relationales Konzept Es mag banal erscheinen, wenn man betont, dass Fremdheit kein ontologisches Konzept darstellt. Fremdheit gibt es nicht ‚an sich‘. Was sich darunter verstehen lässt, ergibt sich nur im Verhältnis zu anderen Begriffen – wie etwa dem Eigenen oder dem Anderen. Das Eigene, das Andere und das Fremde lassen sich nicht unabhängig voneinander bestimmen. Und die jeweiligen Verhältnissetzungen bleiben fragil, da deren Signifizierungen nicht ontologisch zu fixieren, nicht auf ein eindeutiges Signifikat zu reduzieren sind. Das soll nicht heißen, dass solche Fixierungen in Form von (ontologischen) Wesensbestimmungen im konkreten politischen oder identitätspolitischen Diskurs nicht anzutreffen wären. Solche strategisch motivierten Festlegungen etwa des Anderen dienen aber auch in diesen Fällen immer relational der Vergewisserung und Aufwertung des Eigenen. Gegenstrategien werden sich dann auf die Öffnung des relationalen Bestimmungsspiels von Fremdheit, Andersheit und Eigenheit richten. Davon wird noch zu reden sein. Zunächst einmal scheint eine vorsichtige Annäherung an den Gebrauch der drei Konzepte in ihrem Verhältnis zueinander sinnvoll zu sein. Ein erster Zugang ergibt sich, wenn man davon ausgeht, dass das Eigene sich nur in der Abgrenzung zum Anderen zeigt. In der Hegelschen Formulierung: Nur im Anderen kann das Eigene zu sich kommen. Die Konturierung des Eigenen hängt ab von der Profilierung der Anderen. Erst die Zuschreibung von Eigenschaften, Beziehungsmustern, Selbstverständnissen mit Blick auf die Anderen

A. Schäfer (*)  Martin-Luther-Universität, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_3

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erlaubt es, das Eigene davon abzuheben und es als Eigenes zu verstehen. Schon Hegel wusste, dass damit das Eigene nur als das Andere der Anderen zu verstehen ist – als abhängig von einer Bestimmung der Anderen, die jede unmittelbare Identität des Eigenen mit sich ausschließt. Die Andersheit der Anderen mag eine Projektion sein (ein Othering – Fabian 1983), aber nur von ihr her lässt sich dann die Imagination des Eigenen gewinnen. Die wechselseitige Konstitution von Eigenem und Anderem bleibt auch deshalb fragil, weil die jeweiligen Identitäten selbst in ihrem Verhältnis zueinander nicht einfach feststehen. Dieses Verhältnis muss immer wieder neu und mit Blick auf andere Gesichtspunkte hergestellt werden, die Eigenes und Anderes zu unterscheiden erlauben. Solche Bestimmungslogiken kommen ohne ein starkes Fremdheitsverständnis aus. Dies liegt daran, dass die jeweiligen Unterscheidungen sich letztlich auf Vergleichskriterien beziehen lassen, von denen her ein Unterschied erzeugt werden kann. Das können unterschiedliche Verständnisse von Wirtschaft (Bauern gegen Nomaden; entwickelte versus unentwickelte Wirtschaften), Familienverhältnissen (Groß- versus Kleinfamilie), Erziehungspraktiken oder Sitten sein: Als Unterschiede zeigen sie sich aber nur, weil vorausgesetzt wird, dass etwa alle Gesellschaften diese organisatorischen Probleme haben und sie unterschiedlich lösen. Ein Blick in die politische Geschichte und Gegenwart lehrt, dass die Vergleichskriterien dabei nicht neutral gehandhabt werden: Mit ihrer Hilfe werden Über- und Unterlegenheiten, Humanität und Barbarei, Unterwerfungs- und Entwicklungshilfestrategien begründet. Im Vergleich des Eigenen mit dem Anderen scheinen Werturteile sowie identitätspolitische Abgrenzungsstrategien mit den unterschiedlichsten – auch gewaltsamen – Konsequenzen nahezuliegen. Der Gesichtspunkt der Fremdheit setzt hier einen anderen Akzent, indem er die Heterogenität radikalisiert. Dies bedeutet, dass die Möglichkeit des Rückgriffs auf Vergleichskriterien zumindest problematisch wird: Das Fremde ist nicht als Anderes zu bestimmen, von dem her sich das Eigene dann fassen lässt. Im Unterschied zum Anderen, wie es sich im Verhältnis zum Eigenen zeigt, bleibt das Fremde schlicht unzugänglich. Waldenfels hat darauf hingewiesen, dass sich diese Unzugänglichkeit im Versuch der Annäherung zeigt. Wenn aber das Fremde sich nicht als Anderes bestimmen lässt, dann bedeutet es zugleich eine Herausforderung für die Bestimmung dessen, was man als das Eigene verstehen kann. Fremde machen das eigene Selbstverständnis zum Problem. Und sie tun dies – im Anschluss an das oben Gesagte – nicht nur in einer differenziellen Abgrenzung vom Anderen, sondern auch in einer wertenden Beziehung. Das Fremde stellt

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also über seine Unzugänglichkeit hinaus zugleich auch die Frage nach der Möglichkeit eines wertenden Vergleichs, für den schließlich die Kriterien fehlen. Aus dem nicht nur theoretischen, sondern auch praktischen und affektiven Dilemma eines Verhältnisses zum Fremden kann man den Ausweg suchen, das Fremde doch noch als Anderes zu identifizieren und damit Möglichkeiten der Verständigung zu eröffnen. Eine solche Strategie ist nicht einfach als illegitim zurückzuweisen, weil sie Relationierungs- und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet, die für die Gestaltung sozialer Beziehungen in Zeiten der Migration unerlässlich sind. Diese Beziehungen zwischen dann Anderen und Eigenen mögen problematisch bleiben; sie eröffnen zudem die Möglichkeiten idealisierender und abwertender Beurteilungen, da man ja nun zu wissen glaubt, um was es sich bei den Anderen handelt. Ich werde diesen Problembereich der Veränderung hier nicht weiter verfolgen und das von ihm eröffnete Feld politischer Auseinandersetzungen bewerten. Ich möchte demgegenüber an der Fremdheit und der mit ihr gegebenen Unvergleichbarkeit festhalten und zwei Umgangsformen mit einer solchen Fremdheit betrachten. Dabei kommt es mir darauf an zu zeigen, dass diese Umgangsformen sich jeweils nicht einfach zur Fremdheit – sakralisierend oder ausgrenzend – verhalten können. Vielmehr sind in beiden Fällen implizit durchaus strategisch komplexe Operationen nötig. Man kann das Fremde nicht einfach lieben oder hassen, weil man es dazu ja kennen müsste. Man kann – als erste Umgangsform – das Fremde als Herausforderung eines allzu selbstgewissen Eigenen stilisieren und sich aus seiner Differenz zur bestimmbaren Andersheit Distanzierungsgewinne gegenüber dem Eigenen erhoffen. Eine solche Strategie verlangt, sich ständig an den eigenen Bestimmungen des Fremden abzuarbeiten und diese infrage zu stellen. Demgegenüber fordert eine Strategie, die Fremdheit als Bedrohung ausmachen will, die Fremden einerseits als Andere zu bestimmen und sie gleichzeitig als unbestimmbar und deshalb als gefährlich zu verstehen. Das ist gar keine leichte Operation, weil hier die Differenz von Anderem und Fremden so konzipiert werden muss, dass sie das Eigene zugleich konstituiert und bedroht. Ich werde in meinem zweiten Schritt zu zeigen versuchen, dass sich diese Problematik in einer spezifischen Form des Ressentiments zeigt. Wenn man so will, bilden die beiden hier betrachteten Strategien ein affektives Spannungsfeld im Umgang mit dem Fremden, in dem sich auch die Versuche bewegen, Fremdheit durch Andersheit zu ersetzen, um eine Ebene der (problematisch bleibenden) Kommunikation zu eröffnen.

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2 Sakralisierte Fremdheit Der Reiz der Fremdheit, so wurde schon angedeutet, besteht darin, die Selbstverständlichkeit des Eigenen dadurch infrage zu stellen, dass diesem die Möglichkeit genommen wird, sich vom Anderen her zu konstituieren. Eine solche Fremdheit ist nicht einfach da: Der gute Wilde des 18. Jahrhunderts muss gegen eine kolonialistische Definition der minderwertigen Anderen proklamiert werden (Bitterli 1976; Fink-Eitel 1994). Die Erfindung des guten Wilden sollte nicht zuletzt die Selbstaufwertung einer zu jedem Mord bereiten abendländischchristlichen Zivilisation infrage stellen, deren Gier in den Kolonien unzählige Opfer forderte. Und sie sollte das dadurch ermöglichen, dass die Andersartigkeit der Anderen aus der gängigen Entwicklungslogik herausgenommen wurde, die diesen nur einen niederen (manchmal sogar einen tierischen) Rang zuwies. Dabei wurde die Andersheit zu einer unvergleichlichen Fremdheit, deren Wert und Würde jenseits der eigenen Ordnungssysteme anzusiedeln und deren Perspektive als gleichwertig anzuerkennen sei. Die Exotisierung des Anderen zu einem edlen Fremden brachte dabei einerseits eine Kritik der eigenen Selbstgewissheit und Überlegenheit hervor; andererseits findet sich hier ein Ausgangspunkt romantisch stilisierter Gegenentwürfe zur aufkommenden kapitalistischen Moderne. Fremdheit als eigenwertiger, vielleicht sogar besserer, weil ursprünglicher Gegenentwurf zur eigenen, von hier her kritisch beurteilten Gesellschaft – eine solche Strategie musste sich – wie etwa gleichzeitig die Pädagogik gegenüber dem fremden Kind – zum Anwalt von etwas machen, das als Fremdes doch gerade nicht zu verstehen war. Sie verfällt fast zwangsläufig der Paradoxie, für etwas Partei zu ergreifen, das sie selbst nicht begreifen kann. Ihre Autorisierung hängt daran, dass sie für etwas eintritt, dessen Würde gerade darin besteht, dass es nicht verstanden werden kann. Sieht man einmal von einem sich bis heute durchhaltenden Einfühlungsphantasma ab, nach dem begnadete Individuen in der Lage sein sollen, mit dem Fremden zu verschmelzen, so scheint der Königsweg hier in einer Sakralisierung zu bestehen. In dieser ist es die Fremdheit, der man aus dem Eigenen heraus nicht gerecht werden kann, die den, der sie überhaupt als solche wahrnimmt, verpflichtet, diesem Nicht-gerecht-werden-Können die Treue zu halten. Im Namen eines sakralisierten Fremden zu sprechen, ist dann ebenso notwendig wie unmöglich. Vom Typus her schafft die Sakralisierung eine Art religiöser Bindung, die dem unerkennbaren Heiligen dadurch gerecht zu werden versucht, dass sie sich in seinen Dienst stellt. Dieser Dienst impliziert die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit, die nach wie vor gegen jeden Verfügungsanspruch über das Fremde gerichtet werden kann, gegen jeden Anspruch, es als bestimmbares Anderes zu behandeln.

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Die Wissenschaft, die die Paradoxie der Fremdheit bearbeitet, die Ethnologie, ist nicht frei von solchen Sakralisierungsstrategien: Sie arbeitet nicht zuletzt an der Rehabilitierung des Fremden. Diese Formulierung stammt aus den 1990er Jahren (Streck 1997), also aus einer Zeit, in der die Ethnologie wie keine andere Wissenschaft vor ihr sich mit dem Problem der Repräsentation auseinandergesetzt und letztlich keine Lösung gefunden hatte (Berg und Fuchs 1993). Die Analyse des Fremden erschien dabei immer schon als Darstellung, die die Logik des Eigenen nicht verlassen hatte und dem Fremden daher nicht gerecht wurde. Aus diesem Dilemma, den Eigenwert des Fremden zu zeigen und dies zugleich nur in der eigenen Perspektive zu können, führte auch die Feldforschung nicht heraus. Noch vor der Repräsentationsdebatte hatte Claude L ­ évi-Strauss in einem Artikel über Rousseau als Begründer der Wissenschaften vom Menschen dies herausgearbeitet. Für ihn verlangt die Erforschung des Fremden vor Ort den systematischen Willen „einer Identifikation mit dem Anderen“ in Einheit „mit der hartnäckigen Verweigerung einer Identifikation mit sich selbst“ (Lévi-Strauss 1975, S. 47). Die Verweigerung der Identifikation mit sich selbst konstituiert die Möglichkeit, dass das Andere als Fremdes, als ein anderes ‚ich‘ (Lévi-Strauss 1975, S. 49) bedeutsam werden kann. Wenn dies nicht nur abstrakte Postulate bleiben sollen, dann ist es für Lévi-Strauss notwendig, die Feldforschung nicht nur als einen kognitiven Lernprozess zu betrachten. In ihr findet sich die forschende Person einer Umgebung ausgesetzt, über die sie nicht verfügen kann, die sie nicht versteht – und auf die sie doch als ein ‚Ich‘ reagiert: „doch es ist ein Ich, das physisch und moralisch gepeinigt ist von Erschöpfung, Hunger, Entbehrungen, der Erschütterung seiner Lebensgewohnheiten und plötzlich auftauchenden Vorurteilen, deren Vorhandensein es nicht einmal geahnt hatte“ (Lévi-Strauss 1975, S. 47). Die ethnografische Feldforschung besteht daher zunächst und vor allem darin, sich zu den eigenen Reaktionen und Affekten in ein Verhältnis zu setzen: Der Feldforscher muss lernen, seine eigenen Reaktionen zum Gegenstand zu machen; er muss „eine Einschätzung eines Selbst erlangen, das sich gegenüber dem Ich, das sich seiner bedient, als ein Anderes erweist“ (Lévi-Strauss 1975, S. 48). Es ist die Dezentrierung des Ich als Vertreter eines kulturellen Eigenen, die für Lévi-Strauss die Voraussetzung dafür bildet, sich selbst in den Fremden zu akzeptieren – und damit einen doppelten Raum der Fremdheit zu eröffnen. Die Arbeit an den eigenen affektiven Reaktionen auf die Fremdheit eröffnet für Lévi-Strauss so einen Möglichkeitsraum der Forschung, in dem die Logik der eigenen Verfügungsansprüche soweit durchbrochen wird, dass ein Verhältnis zum letztlich unbekannt bleibenden Fremden vorstellbar wird. In ihm begegnen sich ein Selbst, das das eigene Ich als fremd wahrzunehmen gelernt hat, und ein Anderes, das in seiner Andersheit verweilt.

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Vollzogen hat sich dann ein Prozess, in dem die Unmöglichkeit, vom Eigenen her dem Anderen gerecht werden zu können, zu einer Negation dieses Eigenen führt und damit auch zur Hoffnung, sich dem Anderen als Fremdem wenigstens zu nähern. Mit Rousseau sieht er eine solche Möglichkeit im menschlichen Mitleid begründet (Lévi-Strauss 1975, S. 50). Ein solches Mitleid oder Mitgefühl ist nicht unmittelbar gegeben als etwas, in dem sich das Eigene oder die eigene politische Positionierung selber als human feiern könnte. Lévi-Strauss zeigt die Mühen einer theoretischen und affektiven Dezentrierung des Eigenen, damit die Möglichkeit eines solchen Mitgefühls entstehen kann.1 Bevor nun das Ressentiment als andere affektiv bedeutsame Umgangsform mit dem Fremden behandelt werden soll, die statt Dezentrierung des Eigenen auf eine (zum Teil hasserfüllte) Ausgrenzung setzt, scheint es sinnvoll zu sein, noch einen Blick auf die strategischen Möglichkeiten zu werfen, die einer Sakralisierungsperspektive des Fremden gegenüber Ausgrenzungs- und Abwertungsperspektiven generell zur Verfügung stehen. Ein solcher Blick richtet sich auf einen notwendig abstrakt bleibenden Raum von Handlungsoptionen, der konkret und performativ ganz unterschiedlich ausbuchstabiert werden mag. Dabei scheint es so zu sein, dass die Sakralisierungsperspektive der Fremdheit gegenüber jenen, die sie nicht schon teilen, einen eher schwachen Stellenwert hat. Dies lässt sich an zwei strategischen Operationsweisen verdeutlichen. Sollten die Fremden zu Anderen objektiviert worden sein, denen man vielleicht auch noch negativ bewertete Merkmale zuschreibt, dann scheint eine erste (und eher oberflächliche bzw. normative) Strategie darin zu bestehen, dass man versucht, die Attribuierungen gleichsam in ihr Gegenteil zu verkehren. Man wird dann versuchen, positive Merkmale hervorzuheben, auf die Bereicherung des Eigenen durch die Anderen zu verweisen, Orte der (folkloristischen) Begegnung zu organisieren usw. In einer zweiten – systematischen – Strategie kann man die Fremdheit der attribuierten Anderen aufrufen: Man kann also die Attribuierungen und damit auch die (negative) Bewertung der Anderen dadurch zurückzuweisen versuchen, dass man darauf hinweist, dass man sie als Fremde doch gar nicht kennen kann. Eine solche Strategie muss ambivalent bleiben, weil der Verweis

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dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die hier aufgezeigte schwierige Umgangsform mit dem Fremden auch das Konzept einer ‚bildenden Erfahrung‘, wie sie sich von Adorno (1962) her denken lässt, strukturiert. Auch hier geht es – gegenüber dem Gestus einer identifizierenden Welt- und Selbstverfügung – um eine doppelte Fremdheit. Und auch hier ist es die Rätselhaftigkeit von Welt und Anderen, die eine Befremdung des eigenen Selbstbehauptungs- und Identifizierungswillens ermöglichen kann (Schäfer 2017).

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auf die Rätselhaftigkeit der Fremden bei jenen, die in ihren Attribuierungen diese schon als mögliche Bedrohung klassifiziert haben, wahrscheinlich eher dazu führt, die wahrgenommene Bedrohung zu verstärken als sich dem Faszinosum des Unbekannten zu überlassen. Hinzu kommt, dass gerade auch derjenige, der für die Fremdheit wirbt, selbst nicht ausweisen kann, wofür er wirbt. Letztlich wirbt er für eine Öffnung gegenüber einem Unbekannten, das bei seinen Adressaten doch gerade zum Anlass wird, Ausgrenzungen und Ressentiments zu entwickeln.

3 Das Ressentiment gegenüber der Fremdheit Das Ressentiment hat keinen guten Ruf. Das liegt zunächst einmal daran, dass man ihm eine Dominanz der Affektivität zuschreibt, die durch vernünftige Argumente nicht gestützt werden kann. Die Affektivität dominiert die Rationalität (Knoop 2016, S. 156). Ablehnung und Abwertung eines Gegenübers sind nicht begründet, sondern scheinen Mechanismen zu gehorchen, die den Ablehnenden blind machen. Er ist daher auch resistent gegen Bemühungen, ihn mittels vernünftiger Argumente von seiner Sichtweise abzubringen. Schlimmer noch: Das Ressentiment kann sich gegen die aufklärende Rationalitätszumutung damit wappnen, dass es dieser selbst eine Abwertung und Überheblichkeit – kurz: ein Ressentiment unterstellt. Die Behauptung einer zivilisatorischen und vernünftigen Überlegenheit der Rationalität rückt dabei selbst in den Bannkreis einer Affektivität, die jene ablehnt, die sich dieser Leidenschaft nicht beugen. Es kann nun hier nicht darum gehen, das Verhältnis von Vernunft und Leidenschaft zu diskutieren. Hier reicht der Hinweis, dass eine klare Frontstellung von ‚reiner‘ Vernunft und affektivem Ressentiment gar nicht so einfach zu behaupten ist, ohne dass man sich dabei in die Logik hegemonialer Strategien verstrickt.2 Und es ist nun genau dieses Feld, von dem her der zweite Grund einsehbar wird, dem Ressentiment eine Ablehnung entgegenzubringen. Seit

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kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass an dieser Stelle nicht zuletzt auch das Verhältnis von Sozialkritik und Ressentiment zu verhandeln wäre. Wenn die Vernunft nicht einfach unabhängig von den Leidenschaften gegeben ist, sondern selbst nicht zuletzt auf einer Leidenschaft (für eben diese Vernunft) beruht, dann wird man für den vernünftigen Standpunkt leidenschaftlich argumentieren müssen, ohne dass diese Argumente von jenen, die eben diese Leidenschaft nicht teilen, angenommen werden müssen. Dabei lassen sich Letztere nicht einfach als irrational klassifizieren, da sie ja nichts anderes machen, als sich a-rational zur Rationalität zu verhalten – wobei ­A-Rationalität auf beiden

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Nietzsches ‚­Genealogie der Moral‘ wird das Ressentiment als eine politische und zwar äußerst effektive Strategie der Schwachen gegen die Starken verstanden (Nietzsche 1966). Es sind die Unterlegenen, die in einer offenen Auseinandersetzung mit den Starken – sei diese gewaltsam oder auch mit einsichtsfähigen Begründungen geführt – keine Chance haben, denen es aber dennoch gelingt, ihre Schwäche in eine Stärke und Überlegenheit zu verwandeln. Die Strategie besteht in einer Moralisierung des Verhältnisses, die Nietzsche – ohne dass dies hier von Bedeutung wäre – am Christentum festmacht. Die Basis dieser Moralisierungsstrategie besteht in einer Gleichheitsunterstellung. Vor ihrem Hintergrund steht die Überlegenheit der Starken immer unter dem Verdacht, unrechtmäßig zustande gekommen zu sein. Wenn es gelingt, den Überlegenen ein Unrechtsbewusstsein einzuimpfen, dann werden diese sich bemühen, die Legitimation ihrer Überlegenheit dadurch herzustellen, dass sie die Schwachen respektieren als das, was sie nicht sind: als Gleiche. Für Nietzsche ist damit die Strategie der Schwachen aufgegangen. Die Herrschaftsverhältnisse haben sich verkehrt: Es sind die Schwachen, die nun die Starken dominieren, indem sie diese einem Rechtfertigungszwang unterwerfen, der ihnen ihre Überlegenheit nimmt. Diese müssen sich nun immer fragen, ob sie den Schwachen als prinzipiell Gleichen gerecht werden, ob das, was sie tun, gegenüber den Schwachen legitimiert werden kann. Es ist die Verbindung des Ressentiments mit einer vielleicht zu Recht gegebenen Schwäche, einer Unfähigkeit, sich selbst zu behaupten oder seine Angelegenheiten vernünftig zu gestalten, die den schlechten Ruf des Ressentiments stützt. Auch wenn Nietzsche dem Ressentiment in seiner genealogischen Narration durchaus eine kulturstiftende Bedeutsamkeit zuerkennt, bleiben diese negativen Konnotationen. Max Scheler verortet das „kontagiöse seelische Gift des Ressentiments“ (Scheler 2004, S. 7) ebenfalls als Bewältigungsstrategie von Abhängigkeitsverhältnissen. An dieser Stelle sind nun nicht seine breit angelegten Argumentationen gegen Nietzsche interessant, in denen der konvertierte Katholik Scheler das Christentum vom Vorwurf einer Religion des Ressentiments freisprechen will. Bedeutsamer – und über Nietzsche hinausweisend – ist eine gleichsam soziologische Verortung des Ressentiments. Scheler betrachtet die moderne Kultur als eine, die auf dem Postulat der Gleichheit beruht. Jeder soll die gleichen Chancen und die gleichen Rechte haben. Vor diesem Ausgangspunkt muss die

Seiten für das nicht schon durch die Rationalität von Argumenten determinierte Verhältnis zur Rationalität steht. Genau diese A-Rationalität wird in der Diskussion um das Ressentiment dort eingeholt, wo man von ihm als polemischem Konzept spricht.

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moderne Gesellschaft für Scheler Verfahren eines fairen Vergleichs entwickeln, um die prinzipiell Gleichen auf unterschiedliche und ungleiche Positionen zu verteilen. Das grundsätzliche Problem besteht dann darin, dass solche Verfahren immer angezweifelt werden können: Die Konkurrenz unter Gleichen führt dazu, dass sich jeder nach irgendeinem (subjektiven) Maßstab ungerecht behandelt fühlen kann. Für Scheler ist es also die für die moderne Gesellschaft zentrale Gleichheitsforderung, die Ungleichheits- und Ungerechtigkeitserfahrungen ubiquitär macht (Scheler 2004, S. 15). Damit wird die moderne Gesellschaft zu einer, für die nicht nur die Gleichheitsforderung, sondern auch das Ressentiment kennzeichnend ist. Die als ungerecht empfundene Benachteiligung führt dazu, den im Vergleich Überlegenen vor allem auch affektiv ihre Berechtigung abzusprechen. Das ubiquitäre Auftreten des Ressentiments hat daher für Scheler seinen Grund nicht in einer psychischen Struktur oder irrationalen Affekten, sondern in einer auf Gleichheit basierenden Kultur: Der Rekurs auf den Maßstab der Gleichheit erlaubt dabei eine spezifische Verbindung des Ressentiments mit rationalen Argumenten (Olschanski 2015, S. 18–19). Man muss Scheler nun nicht folgen, wenn er (mit Nietzsche) versucht, die moderne Kultur der Gleichheit, den „Humanismus und Rationalismus des modernen Bürgertums“ (Scheler 2004, S. 76) selbst wiederum als Effekt eines Ressentiments zu begreifen, gegen den er eine christliche Gleichheitsvorstellung ins Feld führt. Analytisch bedeutsam aber scheint seine Verbindung der Produktion sozialer Ungleichheit auf der Grundlage von Gleichheit mit dem Ressentiment. Dieses Ressentiment insistiert auf einer immer schon gegebenen Gleichheit gegenüber einem Vergleich, der auf einer Konkurrenz beruht, die letztlich Ungerechtigkeit hervorbringt. Im Namen der Gleichheit wird die Ungleichheit als ungerecht abgelehnt. Und dies geschieht letztlich dadurch, dass jede Begründung der Ungleichheit abgelehnt wird. Das Ressentiment, so könnte man mit Martin Seel sagen, „ist eine Abneigung, die gegenüber Argument und Erfahrung abgedichtet ist“ (Seel 2004, S. 776), weil der Verlust des Gemeinsamen, einer Gleichheit, die keine Verlierer und keine Ausschlüsse kennt, als bedrohlich erfahren wird. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Projektion einer harmonischen Gemeinschaft, die eigentlich die Welt der Gleichen auszeichnen sollte, zur Bejahung eines idealisierten ‚Wir‘ führt, die jegliche Ungleichheit, Überlegenheit oder Macht ausschließt. Seel formuliert das so: „Das Ressentiment ist ein Affekt der Bejahung eines durchschnittlichen, begrenzten, überschaubaren, vertrauten Horizonts von Bindungen und Werten, über dessen Grenzen hinaus man nicht zu fühlen, denken, handeln, mit einem Wort: nicht zu leben wagt“ (Seel 2004, S. 777). Zugleich aber markiert Seel (mit Nietzsche und Scheler) auch den politischen Einsatz eines solchen Ressentiments. Dieser besteht in der

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Umkehrung der Erfahrung der eigenen Unterlegenheit in die Wahrnehmung der eigenen Überlegenheit. Diese Umkehrung beruht darauf, dass man ungerecht behandelt wird und dabei eigentlich moralisch im Recht ist (Seel 2004, S. 777): Es handelt sich um eine Viktimisierungsstrategie, die das Gegenüber immer schon Unterdrückenden figuriert. Die Figur dieser Umkehrung erlaubt nun nicht nur die Affirmation des Eigenen als Richtigen; sie gestattet auch die Abwehr gegenüber Rechtfertigungen dessen, was man als ungerecht erfährt. Solche Rechtfertigungen kommen ohnehin nur von den Überlegenen und stellen ihrerseits ein elitäres Ressentiment gegenüber den vermeintlich Aufzuklärenden dar. Auf den ersten Blick scheint sich das Ressentiment gegenüber Fremden in diese Analyse problemlos einfügen zu lassen. Die Affirmation des Eigenen gegenüber einer Bedrohung ‚von Außen‘, das Festhalten am Vertrauten und die Verweigerung gegenüber Argumenten und Erfahrungen, die die unterstellte Selbstverständlichkeit des Eigenen infrage stellen könnten, lassen sich als Phänomene ausmachen. Die wahrgenommene (und auch propagandistisch unterstützte) Bedrohung schlägt in eine Ablehnung, in Aggression oder gar Hass um, womit zugleich die moralische Überlegenheit des Eigenen affirmiert wird. Und dennoch wirft das Ressentiment gegenüber Fremden vor dem Hintergrund der bisherigen Betrachtungen zur Funktionslogik des Ressentiments Fragen auf. Das Ressentiment beruhte danach auf Ungerechtigkeitserfahrungen, die vor dem Hintergrund einer nicht adäquat berücksichtigten Gleichheit artikuliert wurden und dem ungerecht Behandelten eine moralische Überlegenheit gegenüber den sozialen Überlegenen sicherten. Fasst man jedoch Fremdheit als radikale Heterogenität, so ist damit zugleich impliziert, dass jene Gleichheit als Kriterium erfahrener Ungerechtigkeit nicht in Anspruch genommen werden kann. Fremdheit ist dann nicht nur als das zu verstehen, was radikal verschieden ist, sondern auch als das, was jeden Vergleich mit dem Eigenen ausschließt – wie dieser etwa mit einem bestimmbaren Anderen möglich ist. Die Frage, die sich von hier stellt, ist also diejenige, wie Fremdheit zum Gegenstand des Ressentiments werden kann, wenn weder die Bedingung einer vorausgesetzten Gleichheit noch die einer Vergleichbarkeit gegeben ist. Zu fragen ist also, mithilfe welcher Operationen Fremde zum Gegenstand eines Ressentiments werden. Diese Frage ist nicht allein dadurch zu beantworten, dass im Ressentiment aus Fremden Andere werden, dass man den Fremden also bestimmte Eigenschaften zuschreibt, die sie zu einem Anderen des Eigenen machen. Eingangs wurde darauf verwiesen, dass Eigenes und Anderes relative Konzepte sind, die konstitutiv aufeinander verweisen. Das muss dabei nicht einfach nur als friedliche Relationierung verstanden werden, sondern lässt sich auch als aggressive Abgrenzung denken. Damit wird eine Dimension des Ressentiments s­ichtbar,

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die bisher nicht im Fokus stand: Hier schlägt die Umkehrung der Unterlegenheit in eine moralische Überlegenheit in die Logik einer aggressiven Auseinandersetzung um, deren Ergebnis nicht selten Kriege waren. Im vorliegenden Zusammenhang, dem Ressentiment gegenüber Fremden, die etwa als Migranten selbst in einer schwächeren Situation sind, lässt sich ein strategisches Spiel mit der Differenz von Andersheit und Fremdheit beobachten. Die zugeschriebenen negativen Eigenschaften (Ausnutzung der Sozialsysteme, Missachtung der Würde der Frau, Unsauberkeit usw.) konstituieren zwar einerseits ein wunderbares Bild des Eigenen als Überlegenem; zugleich aber wird diese zugeschriebene Andersheit dadurch dramatisiert, dass man gar nicht wissen kann, wozu diese Anderen überhaupt fähig sind. Diese Dramatisierung macht aus Anderen Fremde: Ihre Andersheit wird zur Oberfläche, hinter der sich eine wesentlich größere Gefahr zu verbergen droht. Nun kann man sich mit Blick auf die Ressentimenttheorie fragen, wie solche Operationen zustande kommen, wenn doch nicht nur keine beanspruchte Gleichheit als Kriterium eine Rolle spielt, sondern sogar eine Überlegenheit gegenüber den Fremden. An dieser Stelle behilft man sich meist mit der These einer Verschiebung. Danach sind es die im Vergleich ‚Abgehängten‘ oder die Bedrohung des sozialen Absturzes Fürchtenden, die in einem neoliberalen Konkurrenzklima keine Möglichkeit sehen, ihre eigene Lage über das Gleichheitskriterium aufzuwerten, die das Ressentiment gegenüber den Fremden entwickeln. Hinter dieser These steht also die Wahrnehmung, dass die im Vergleich Benachteiligten keine Möglichkeit mehr sehen, unter Berufung auf die Gleichheit das Ressentiment gegen einen ungerechten Vergleich zu artikulieren. Dieses Ressentiment wird dann verschoben auf jene, die noch den eigenen über den Vergleich gerechtfertigten Status bedrohen: die Fremden. Wenn man einmal annimmt, dass dieser Mechanismus der Verschiebung des Ressentiments vom als ungerecht empfundenen Vergleich auf die Fremden so funktionieren sollte, dann stellt sich immer noch die Frage, warum sich das Ressentiment auf Menschen richtet, die man nicht kennt, die also keinen Ort in der Ordnung der Gleichheit haben. Anders gefragt: Wie kann man sich von ihnen unter dem Kriterium einer vorausgesetzten Gleichheit ungerecht behandelt fühlen und deshalb ihnen gegenüber eine moralische Überlegenheit entwickeln, aus der eine aggressive Ablehnung resultiert? Folgt man der Theorie des Ressentiments, dann muss erst einmal eine gemeinsame Basis der Gleichheit und Vergleichbarkeit hergestellt werden, um die eigene Ungerechtigkeitserfahrung artikulieren zu können. Genau das aber geschieht nun nicht. Vielmehr ist es der ungerechtfertigte Anspruch der Fremden auf eine solche Gleichheit, an dem sich die Wahrnehmung einer die eigene Position betreffenden Ungerechtigkeit festmacht. Statt ­gegenüber

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einem ungerecht erscheinenden Vergleich, der deshalb ungerecht ist, weil er den Anspruch auf Gleichbehandlung verletzt, ist es hier also der Anspruch auf Gleichbehandlung selbst, an dem sich die Ungerechtigkeitserfahrung und damit das Ressentiment festmachen. Die unheimliche Bedrohlichkeit der Anderen, die diese zu Fremden macht, verlangt dann, sie in jenem Anspruch auf Gleichheit abzuwehren, sie auszuschließen und zu verfolgen – jenem Anspruch auf Gleichheit, dessen Missachtung sonst als Quelle des Ressentiments gilt. Dass die Fremden als Menschen mit gleichen Ansprüchen verstanden werden, bildet dann die Quelle eines Ressentiments, dessen affektive Aufladung noch über die gleichsam normalen Ungerechtigkeits- und Ungleichheitserfahrungen hinausgeht und im Rahmen eines imaginären (und gleichen) Eigenen (wie etwa dem Volk) mobilisierungsfähig ist. Es ist der Anspruch der Fremden auf Gleichheit, der diese einerseits über die Betrachtung ihrer (das Eigene in positivem Licht darstellenden) Andersheit hinaus gleichsam in das Eigene selbst hineindeutet. Und es ist diese beanspruchte ‚Identität‘ mit dem Eigenen, die andererseits eine weit über die bloße Andersheit hinausgehende Bedrohung erzeugt. Die Fremden sind dann nicht nur (negativ bewertete) Andere, die – im Sinne des Ressentiments – besser behandelt werden als man selbst. Diese Ungerechtigkeit wird nun noch dadurch überboten, dass sie für sich eine Gleichheit fordern, die sie nicht haben, weil sie nicht zum Eigenen gehören. Eine solche Konstellation, in der die ungerechte Benachteiligung gegenüber den Fremden durch Staat und Sozialdienste noch dadurch überboten wird, dass diese Fremden eigentlich gar keinen Anspruch auf Gleichheit und Gleichbehandlung haben – eine solche Konstellation hat einen eigentümlichen Effekt. Sie führt dazu, dass das ‚normale‘ Ressentiment, die erfahrene Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit in einer Gesellschaft, die Gleiche ungleich behandelt, sich verschiebt. Bezogen auf die Abwehr des unberechtigten Anspruchs der Fremden auf Gleichheit erscheint nun auf einmal die innergesellschaftlich erfahrene Ungerechtigkeit in den Hintergrund zu treten. Gegen die Fremden hilft dann eine idealisierende Erhöhung des eigenen ‚Wir‘, der Deutschen gegen die Fremden. Erst von diesem als ‚gleich‘ figurierten Wir‘ lässt sich der ungerechtfertigte Anspruch der Fremden dramatisieren. Und jene, die als Regierung oder Hilfsorganisation diesen Anspruch der Fremden auf Gleichheit unterstützen, stellen sich in diesem Licht nun nicht nur als jene dar, die Anderen helfen wollen, sondern als Verräter an der Einheit des eigenen ‚Wir‘: Sie trifft nun der Hass derjenigen, die ihre Gleichheit als Deutsche gegen die Ansprüche der Fremden verteidigen wollen – und dabei vergessen, dass sie innerhalb dieses ‚Wir‘ ansonsten nicht gerade eine harmonische Gemeinschaft der Gleichen ­darstellen.

Fremdheit – Zwischen Sakralisierung und Ressentiment

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Angst und Vulnerabilität. Anthropologische Zugänge Jörg Zirfas

1 Einleitung Menschen sind vulnerable Wesen: Sie sind verletzbar und verwundbar, in manchen Situationen erweist sich ihr Leben als fragil und zerbrechlich, sie können durch ihre Lebensumstände Schaden nehmen und leiden, und nicht nur am Lebensende werden sie unausweichlich mit ihrer Endlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert. Da diese Feststellungen alle Menschen – wenn auch nicht in gleichem Ausmaß – betreffen, kann Vulnerabilität als bedeutsame anthropologische Kategorie verstanden werden. Als anthropologische These lässt sich festhalten, dass Menschen vulnerable Wesen sind, weil sie leiblich, sozial, kulturell und reflexiv verfasste Lebewesen sind. Menschen sind verletzungsoffen, weil sie körperlich und seelisch verletzbar sind, weil sie materiell geschädigt werden können oder weil ihnen Anerkennung und Teilhabe vorenthalten wird (Popitz 1992, S. 43–47). Unter dem Begriff Vulnerabilität wird die Verletzlichkeit oder Verletzbarkeit einer Person angesichts bestehender Gefährdungen, Risiken, Krisen oder bereits eingetretener schädigender Ereignisse verstanden (Bürkner 2010, S. 24; Burghardt et al. 2017)1.

1Vulnerabilität

meint nicht ­ Verletzt- oder Beschädigtsein (wie so häufig in der einschlägigen Literatur, in der die Potenzialität der Verletzbarkeit mit der Realität der Verletzung gleichgesetzt wird), sondern nur die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, verletzt oder beschädigt werden zu können.

J. Zirfas (*)  Universiät zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_4

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Ich möchte vor diesem Hintergrund zunächst an einen einfachen, vielleicht sogar banalen Sachverhalt erinnern: Menschen haben Angst, weil sie verletzlich sind und sie sind vulnerabel, weil sie Angst haben. Weil sie Schmerzen und Leiden empfinden können, weil sie von Unsicherheiten und Ungewissheiten bedroht sind, weil sie mit Verlusten konfrontiert werden und schließlich – und vor allem – weil sie endlich und sterblich sind, empfinden sie Angst. Und: Weil sie sich vor Sachverhalten fürchten, weil sie Angst vor Blamagen, Kränkungen und Verletzungen haben, macht sie das wiederum angreifbar, fragil und verletzlich. Angst ist ein bzw. vielleicht sogar ein entscheidender Indikator für Vulnerabilität und umgekehrt: Vulnerabilitäten äußeren sich in Ängsten und Befürchtungen. Menschliches Leben ist immer beides: Angst haben und Schutz suchen. Sprechen wir im Kontext von Angst und Vulnerabilität über Gewalt, so lässt sich holzschnittartig die Täter- und die Opferperspektive in den Blick nehmen. Aus Sicht der Täter geht es in der Angst um Freiheitsangst, aus Sicht der Opfer um Zwangsangst. Diese Angstformen bringen die anthropologische Vulnerabilität zum Ausdruck, geht es doch dabei immer um Situationen, die Menschen überfordern, denen sie nicht gewachsen sind – und zwar als Täter wie als Opfer. Angst hat es mit bedrohlichen Situationen zu tun, die einerseits unbekannt und andererseits allzu bekannt sind. Sie kündigt eine Gefahr an und mobilisiert zur Flucht, zum Widerstand oder zur Ressourcenschonung. Sie wird gleichermaßen bedingt durch lebensgeschichtliche Erfahrungen und ihre Bewertungen wie durch Fantasien und deren Ungewissheiten. Diesen Aspekten soll aus philosophischer, psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive nachgegangen werden. Vorab gibt es einige Anmerkungen zur Angst als Emotion und den Schluss bilden Überlegungen, die um den Zusammenhang von Endlichkeit, Gewalt, Angst und Hoffnung zentriert sind. Ich argumentiere dabei aus der Perspektive einer Historischen Anthropologie, die – in diesem Fall – die Historizität der Menschenbilder, der Ängste, der Vulnerabilitäten und der Gewaltformen sowie die Historizität ihrer Betrachtungsweisen stets mitreflektiert (Böhme 1996; Perniola 2009). Insofern erheben die folgenden Überlegungen keinen transkulturellen oder transhistorischen Anspruch.

Angst und Vulnerabilität …

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2 Angst als Emotion Emotionen bzw. Affekte (emotions) lassen sich von Gefühlen (sentiments), von Stimmungen (moods) und von Empfindungen (feelings) ­ unterscheiden.2 Während Empfindungen wie Schmerzen, Jucken etc. im Kern körperliche Erfahrungen sind, erscheinen die anderen affektiven Phänomene anders gelagert. Gefühle – wie Vertrauen, Liebe, Weltschmerz – sind latente, länger anhaltende Dispositionen, denen eine direkte körperliche Erregung fehlt und die nicht unmittelbar in eine Reaktion münden; sie sind nicht intentional auf einen Sachverhalt gerichtet und in ihrer Angemessenheit schwer bestreitbar. Stimmungen – der Freude, der Niedergeschlagenheit – wiederum können einen Anlass oder eine Ursache haben, sie sind nicht intentional gerichtet, „weniger intensiv als Emotionen, dauern aber länger als diese und sind zugleich von kürzerer zeitlicher Dauer als Gefühle“ (Ben-Ze’ev 2009, S. 11). Angst kann sowohl Momente der Emotion wie des Gefühls und der Stimmung enthalten. Ich konzentriere mich zunächst auf die Angst als Emotion und gehe nicht gesondert auf die Ängstlichkeit als Gefühl und die Beklommenheit als Stimmung3 ein. Zunächst allgemein: Emotionen liegen auf der Schnittstelle von Subjektivität und Kulturalität und von Onto- und Phylogenese sowie von Kontrollierbarkeit und Unverfügbarkeit und sie kommen sowohl als bewusste wie als unbewusste Phänomene vor.4 Emotionen sind von kurzer Dauer; ihnen kommen eine (schnelle) Beurteilungs- und Bewertungsdimension, soziale und kommunikative

2Ben-Ze’ev (2009, S. 73–77) unterscheidet die Haupttypen affektiver Phänomene mit den Kriterien: 1. Allgemeine oder spezifische Bewertung und 2. aktuelle oder potenzielle Natur des Phänomens, und kommt somit zu vier affektiven Typen: 1. Emotionen (spezifisch, aktuell), 2. Sentiments (spezifisch, potenziell), 3. Stimmungen (allgemein, aktuell), 4. Affektive Merkmale (allgemein, potenziell). Trennscharf aber erscheint diese Differenzierung nicht. – In der maßgeblichen Literatur wird die Terminologie häufig undifferenziert verwendet. 3Ängstliche Stimmungen machen Menschen äußerst vulnerabel: Ängstliche Stimmungen schränken im hohen Maße, „unsere Alternativen ein, verzerren unser Denken und machen es uns schwerer zu kontrollieren, was wir tun, und das in der Regel aus keinem vernünftigen Grund“ (Ekman 2010, S. 72). 4Vgl. zu den wichtigsten in der Philosophie vertretenen Konzepten der Gefühle den Überblick von Krebs (Krebs 2015, S. 180 ff.), die folgende Modelle unterscheidet: Körpertheorie (körperliche Erregungszustände), Empfindungstheorie (Wahrnehmung von Erregungen), Verhaltenstheorie (willkürliches und unwillkürliches Verhalten), Kognitionstheorie (Bewertung), narrative Theorie (narrative integrierte Einheiten) und Komponententheorie (aus den dargestellten Ansätzen) – zu der auch der hier vertretene Ansatz gehört.

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sowie Erregungs- und Motivkomponenten zu; sie reduzieren die Komplexität der Wahrnehmung, der Information, der Schlussfolgerungen und Wahlmöglichkeiten und sie lassen sich daher auch mit einer gewissen Intentionalität und Attraktivität in Verbindung bringen5; zudem gehen mit Emotionen i. d. R. eine Reihe von physiologischen Veränderungen und ggf. auch körperliche Verhaltensweisen einher6; sie sind hochgradig von der Persönlichkeit, den Umständen und der Wahrnehmung signifikanter Veränderungen abhängig (Ben-Ze’ev 2009; Ekman 2010). Zudem haben Emotionen einen eigenwilligen Legitimationsgehalt, fühlen sie sich doch i. d. R. richtig und gerechtfertigt an (de Sousa 2009, S. 202; vielleicht gerade deshalb, weil Menschen sich nicht für Gefühle verantwortlich fühlen).7 Emotionen unterscheiden sich vor allem in ihrem Evaluationsgehalt; sie sind häufig mit anderen Emotionen, Gefühlen und Stimmungen sowie mit einem Selbstverständnis und einem Selbstentwurf des Menschen verbunden. Kurzum, Emotionen ermöglichen die Erfahrung einer lebendigen Wirklichkeit, durch sie erfahren wir, was für uns und unser Wohlergehen wirklich wichtig und bedeutsam ist (Engelen 2007, S. 54–55, 94). Sie erfassen die „axiologische Ebene“ unserer Realität (de Sousa 2009, S. 481). Emotionen lassen sich als Ausdruck unserer anthropologischen Verletzlichkeit verstehen, die mit der Unsicherheit unseres Handelns, den begrenzten Ressourcen und der Angewiesenheit auf andere Menschen zu tun haben; sie bieten daher „richtige“ Bewertungen und Reaktionsweisen, rasche Mobilisierungen und soziale Kommunikationsmittel (Ben-Ze’ev 2009, S. 149–150). Sie „sind aber auch ein Weg, mit dieser Verletzlichkeit fertig zu werden. Wenn wir begrenzten

5„Gefühle

sind Arten festliegender Muster der Dringlichkeit unter den Objekten der Aufmerksamkeit, den Richtungen des Fragens und den Schlußstrategien. […] Gefühle legen Probleme fest“ (de Sousa 2009, S. 320). 6Hat es etwas zu sagen, dass Angst vor allem an den Reaktionen der Augen ablesbar ist? Muss man die Angst vom Sehen und vom Blick her verstehen? (vgl. den Film Peeping Tom). 7Dieser anthropologisch häufig anzutreffende Sachverhalt lässt sich mit der historischen Sensologie von Perniola, der in der Gegenwart von einem Zeitalter des „Bereits-Gefühlten“ spricht (Perniola 2009, S. 19 ff.) gut in Verbindung bringen. Das Fühlen hat nach ihm einen unpersönlichen, anonymen, sozialisierten Charakter bekommen; das Fühlen der Menschen gleicht einem „Widerschein“, einer „Wiederbearbeitung oder einem „Echo“ (Perniola 2009, S. 31). Um die emotionale Autonomie wieder zu erlangen, gelte es, das Fühlen zu lernen, d. h. „Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, beständige Hinwendung“ zu praktizieren und zugleich auch „Sich-Fühlen-Lassen“: „sich selber darbieten, damit etwas in uns eine Möglichkeit des In-der-Welt-Seins-finden kann“ (Perniola 2009, S. 139).

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Veränderungen unserer aktuellen Situationen Bedeutung beimessen, ignorieren wir in gewisser Weise die profundere Art von Veränderung, die unserer Verletzlichkeit zugrunde liegt; das ist eine Art von Selbsttäuschung. […] Wir setzen uns mit diesen Veränderungen auseinander, als sei unsere profunde Verletzlichkeit bedeutungslos“ (Ben-Ze’ev 2009, S. 28).8 Die Angst ist, wie eine Reihe anderer Gefühle auch, z. B. Ekel, Scham, Trauer, Zorn, Freude und Verachtung eine der Grundempfindungen menschlicher Existenz (Demmerling & Landweer 2007, S. 63–67). Menschen können lernen, sich im Grunde vor allem zu fürchten: vor dem Dunkeln und den Prüfungen, dem Zwang und der Freiheit, dem Fremden und dem Eigenen, dem Leben und dem Tod, und natürlich vor der Angst und selbst vor dem Angstverlust. Alles kann zu einem Gegenstand der Angst werden. Mit Blick auf die historisch und interkulturell hohe Variabilität der Angst (Delumeau 1989; Wiezbicka 1999) lässt sich die These vertreten, dass die Angst wohl weniger über das Objekt, dafür aber sehr viel mehr über das ängstliche Individuum aussagt. In diesem Sinne ließen sich Ängste wiederum nach Kultur, Milieu, Geschlecht, Alter, Entwicklung, Religion, Bildung, Nationalität etc. ausdifferenzieren. Häufig unterscheidet man hierbei zwischen begründeter und unbegründeter bzw. grundloser Angst; oder auch zwischen der auf ein bestimmtes Objekt gerichteten Realangst und der auf die unbestimmte Zukunft gerichtete Existenzangst. Unterscheiden lassen sich zudem unmittelbare von mittelbaren Bedrohungen, manifeste von latenten, intensive von weniger intensiven Ängsten, stimmungsbezogene (Sorge), episodische (Panik) oder situative Ängste sowie emotionale Amalgamierungen der Angst, etwa die Angstlust, die schamhafte oder die traurige Angst. Pathologische Formen der Angst kann man mit Freud (Freud 1982b, Bd. VI) in drei Kategorien einteilen: In die Angstneurose eine allgemeine Ängstlichkeit, in die Phobien, die mit realen oder imaginären Bedrohungen zusammenhängen und in die hysterische Angst des Angstanfalls (s. u.).9 Dazu kann man aber auch noch pathologische Formen der Schüchternheit, Depression und Posttraumatische Belastungsstörungen rechnen. Zudem unterscheidet man, was allerdings kaum trennscharf zu handhaben ist, häufig die Furcht (und mit ihr Entsetzen, Schauder, Grauen, Schrecken), die sich auf etwas Bekanntes von der Angst (und mit ihr die Besorgnis, Beunruhigung, Melancholie), die sich auf etwas

8Es

lässt sich aber noch eine andere Form der Täuschung vermerken, denn die subjektiv wahrgenommene Gefahr ist oft bedeutsamer als die einfachen Tatsachen (Ben-Ze’ev 2009, S. 138). 9Das aktuelle DSM V unterscheidet analog in anxiety, fear und panic attack.

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Unbekanntes bezieht (Delumeau 1989, S. 29). Je nach Ich-Stärke lässt sich eine Angsthierarchie entwickeln, die etwa von einzelnen isolierten Phobien bis hin zum Ich-Zerfall reichen kann. Ängste werden erlitten, aber sie lassen sich auch produzieren. Mit der Verbindung auf ein konkretes Objekt, einen sichtbaren oder auch imaginären Gegner, lassen sich Ängste intensivieren und auf Dauer stellen.10 Wir lernen Ängste, in dem wir sie mit „Schlüsselszenarien“ (de Sousa 2009, S. 298–301), ritualisierten Situationen assoziieren, die im weiteren Leben dann mit ähnlichen Situationstypen und charakteristischen Reaktionen auf diese Situationen in Verbindung gebracht werden, woraus ein komplexeres Angstrepertoire entsteht.11 Menschen können aber auch lernen, sich nicht mehr zu fürchten und die entsprechenden ängstlichen ­ Ausdrucks- und Handlungsweisen nicht zu zeigen. Dabei kann man die Lernerfolge bzw. die Lerngrenzen im Umgang mit der Angst an sechs Faktoren festmachen: An der Nähe zu dem in der Evolution entwickelten Thema; an der Ähnlichkeit des auslösenden Ereignisses mit der ursprünglichen Situation, in welcher der Auslöser erlernt wurde; an der biografischen Frühzeitigkeit der ursprünglichen Angsterfahrung; an der Intensität dieser Erfahrung; an der Dichte, d. h. dem wiederholten Eintreten von Angst in relativ kurzen Zeiträumen und schließlich an dem affektiven Temperament des Angsthabenden (Ekman 2010, S. 65–68). Pädagogisch betrachtet geht es hierbei um ein Umlernen bzw. um Bildung, d. h. um eine Transformation von Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsmustern im Hinblick auf verbesserte Möglichkeiten der Aneignung von Sachverhalten – und zwar in hermeneutischer, pragmatischer und nicht verletzender Weise. Es geht um eine maßvolle Angst, die inhaltlich, formal und zeitlich angemessen auf Situationen reagiert.

10Bauman

geht etwa mit Michael Bachtin davon aus, dass die etablierten Mächtigen in den Urzeiten ihre Macht einer Umformung der „kosmischen Angst“ (etwa vor Naturkatastrophen) in offizielle, menschliche Ängste verdanken; diese verwandelten die Urängste mithin in den „Schrecken eines Verstoßes gegen das Gesetz“ (Bauman 2017, S. 52–55). 11„Ein wichtiger Teil der Erziehung besteht darin, diese Reaktionen zu identifizieren, im Kontext der Szenarien dem Kind Namen für sie zu geben und ihm dadurch beizubringen, dass es ein besonderes Gefühl erfährt. Darin besteht zum Teil das, was es bedeutet zu lernen, die richtigen Gefühle zu fühlen …“ (de Sousa 2009, S. 300).

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3 Die Angst der Freiheit Es sind in der Neuzeit vor allem die Existenzphilosophen und die Psychologen, die den Zusammenhang von Freiheit und Angst herausgearbeitet haben. Den zentralen Ausgangspunkt der philosophischen Diskurse bilden Sören Kierkegaard und Martin Heidegger, die in der Angst eine für das menschliche Dasein zentrale Grenzsituation sehen (Fink-Eitel 1993; Demmerling & Landweer 2007, S. 83–86). Kierkegaard hat die Angst in einen theologischen, philosophischen und psychologischen Zusammenhang mit den Fragen nach der Unschuld bzw. der Schuld und der Freiheit gerückt. Dabei geht er davon aus, dass die Angst nicht nur negativ, sondern gleichzeitig positiv zu bewerten ist, wenn er von ihr als „sympathetischer Antipathie und antipathetischer Sympathie“ (Kierkegaard 1996, S. 51) spricht: Angst hat einen dualen Charakter, denn sie ist nicht nur Furcht einflößend, sondern auch attraktiv und fesselnd. Angst macht Angst – fasziniert aber auch. Denn, und auch diese These mag zunächst überraschen, Angst verweist auf Freiheit, ist sie doch „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“ (Kierkegaard 1996, S. 50). Ist die Angst ein Indikator für das Freiseinkönnen gegenüber dem „Seelischen“, d. h. den emotionalen Stimmungen und gegenüber dem „Körperlichen“, d. h. den vitalen Impulsen, so zeigt sie einerseits die Möglichkeit an, sein Leben zu führen und zu gestalten und andererseits auch die Möglichkeit, dass Führung und Gestaltung scheitern können. Wenn Kierkegaard schreibt, dass die Angst aus dem „Nichts“ geboren wird (ebd.), so meint das einen Zustand des Geistes, der sein Leben noch nicht be- und ergriffen hat, ein Zustand der Unschuld und Unwissenheit: „Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit ist Nichts“ (Kierkegaard 1996, S. 50), d. h. sie ist noch nicht und kann daher gelingen oder scheitern. „Angst ist weder eine Bestimmung der Notwendigkeit noch der Freiheit, sie ist eine befangene Freiheit, wo die Freiheit also nicht frei in sich selbst, sondern befangen ist, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst“ (Kierkegaard 1996, S. 59). Daher geht die Angst auch mit der Unschuld einher (Kierkegaard 1996, S. 50). Erst die be- und ergreifende Selbstwerdung macht den Menschen schuldig, weil sie den Zustand der Unschuld verlässt. „Demgemäß ist die Angst jener Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese [von Seelischem und Körperlichem, JZ] setzen will und die Freiheit nun hinunter in die eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder. […] wenn sie sich wieder erhebt, sieht sie, daß sie schuldig ist“ (Kierkegaard 1996, S. 72). Die dualistische Angst ist Freiheitsangst, sie vermittelt Möglichkeiten der machtvollen Verfügbarkeit

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und der ohnmächtigen Unverfügbarkeit des Lebens; daher auch die Zweideutigkeit der Schuld (Kierkegaard 1996, S. 72). Insofern zeigt sie an, dass in jedem Selbstwerden immer auch eine Selbstverfehlung, in jeder Aneignung immer auch eine Entfremdung zu finden ist. Zusammengefasst: Bei Kierkegaard ist Angst Freiheits-, Lust- und Schuldangst. Für Heidegger, der in den Spuren Kierkegaards denkt12, wird die Angst zur Grundbefindlichkeit bzw. zum Grundgefühl des Daseins überhaupt – auf das alle anderen Emotionen und Stimmungen bezogen bleiben (Bollnow 1943). In der Angst geht es – anders als in der Furcht, die sich auf etwas spezifisch Bedrohliches oder Abträgliches bezieht – um das Ganze des Daseins oder um die „Welt als solche“ (Heidegger 1979, S. 187). Heidegger analysiert neben der Freiheitsangst, die er wie Kierkegaard mit dem „Freisein für die Freiheit des Sichselbst-wählens und -ergreifens“ (Heidegger 1979, S. 188) versteht, zugleich die Daseinsangst, die sich auf, sich durch die Sorge auszeichnende, das Leben als Ganzes bezieht und schließlich die Weltangst, die er mit dem Unheimlichen eines weltlichen „Un-zuhause“ (Heidegger 1979, S. 189) zusammenbringt (­Fink-Eitel 1993, S. 81–82). Die Weltangst ist der zentrale Ausgangspunkt seiner Analysen. Der Mensch ängstigt sich nicht angesichts der Welt, was man Weltfurcht nennen müsste, sondern angesichts seines einsamen Seins in der Welt. Die Welt erscheint bei Heidegger bedrohlich und unheimlich13, sinnlos, halt- und beziehungslos

12Vgl.

die Parallelisierung von Fink-Eitel (1993, S. 80) der Begriffe Kierkegaards: 1. Freiheit und Möglichkeit, 2. Notwendigkeit und Wirklichkeit, 3. Dualismus der Begriffe im Vergleich zu Heidegger: 1. Entwurf, 2. Faktizität, Geworfenheit, 3. Verfallensein. Während Kierkegaard die Angst von der Freiheit her versteht, denkt Heidegger sie von der Faktizität, d. h. dem Verfallensein aus. 13An dieser Stelle lässt sich ein Zusammenhang mit Freuds kleiner Schrift über Das Unheimliche von 1919 herstellen, in der Freud das Unheimliche, Schreckliche, Angstund Grauenerregende zum Bestandteil des eigenen Selbst erklärt. Er schreibt: „Wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, dass jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen lässt, dass dieses Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche, und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen“ (Freud 1982a, Bd. 4, S. 263–264). Das Unheimliche hat einen Furcht erregenden, überragenden Charakter, die den Wahrnehmenden Gefahr laufen lässt, die Wahrnehmung zu verlernen und zu verlieren – nicht mehr wahrnehmen zu können. Die Identität wird fragwürdig, weil die ­(Eigen-) Wahrnehmung angesichts des Unheimlichen implodiert. Das Unheimliche ist auch der Ort der Desorientierung als Verirren in einem Raum, in dem man (immer schon) gefangen ist, einem unheimlichen Raum, in dem die Identität aus den Fugen gerät. „Das Unheim-

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und uneigentlich, zusammengefasst als: „innerweltliches Nichts und Nirgends“ (Heidegger 1979, S. 186). Bei Heidegger geht es letztlich um die Freiheit des Sich-Ängstigenden, um seine Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Angesichts des Verfallenseins an das Man als Sichverstehen von Sachverhalten der Welt her, der Faktizität der Geworfenheit, des solipsistischen Individualismus bzw. einer radikalen Vereinzelung und schließlich der Unheimlichkeit und Sinnlosigkeit der Welt bekommt bei ihm das Aushalten der Angst einen geradezu heroischen Charakter. Anders formuliert deutet Heidegger das Phänomen ohnmächtiger Angst in ein Phänomen der Macht um: Er spricht von der „Möglichkeit der Mächtigkeit, durch die sich die Stimmung der Angst auszeichnet“ (Heidegger 1979, S. 344; Fink-Eitel 1993, S. 84). Zusammengefasst: Bei Heidegger ist Angst Welt-, Daseins- und Freiheitsangst. Auch Sigmund Freud bleibt einem subjektivistischen Verständnis der Angst verpflichtet: „das Ich ist die alleinige Angststätte, nur das Ich kann Angst produzieren und verspüren“ (Freud 1982a, Bd. I, S. 520)14. Freud legt in seinem psychoanalytischen Zugang, den man durchaus als eine Anthropologie lesen kann, eine differenzierte Analyse der menschlichen Not vor, die durch uns selbst, durch die Natur oder durch Andere verursacht sein kann: Von Scherzen und Leiden über das „Unbehagen“ und die Trauer bis hin zur Furcht, Schrecken und Angst. Die letztere hat er zunächst in dreierlei Formen gefasst: In die Realangst (vor der Außenwelt), die neurotische Angst (vor den Triebwünschen des Es) und die Gewissensangst (vor den Ansprüchen des Über-Ichs; Freud 1982c, Bd. I, S. 521). Das kindliche Ich durchläuft in seiner Entwicklung eine Geschichte wechselnder Angstzustände: Von dem ersten Angsterlebnis des Menschen, der Geburt (Freud 1982b, Bd. VI, S. 272), über den Verlust der Mutter(-brust) in der oralen Phase (Freud 1982b, Bd. VI, S. 277 f.) und die Angst vor Verlust der Liebe des Objekts in der analen Phase (Freud 1982b, Bd. VI, S. 278 f.), hin zur imaginierten Angst vor dem Verlust des Penis, der Kastrationsangst in der phallischen (Freud 1982b, Bd. VI, S. 279) und zur sozialen Gewissensangst

liche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt. Je besser ein Mensch in der Umwelt orientiert ist, desto weniger leicht wird er von den Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen“ (Freud 1982a, Bd. 4, S. 244– 245; vgl. Zirfas 2016). 14Ich übergehe hier das frühe biologische Angstkonzept von Freud, das Angst auf eine Störung im aktuellen Sexualverhalten der Patienten zurückführt (Ermann 2012, S. 36–39).

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(Freud 1982b, Bd. VI, S. 279) in der genitalen Phase. Zeichen eines gut entwickelten gesunden Ichs ist das Ertragen aller Spannungen, indem das Ich sogar „… seinerseits ein Einfluß auf die Vorgänge im Es zustande [bringt]… indem es mittels des Angstsignals das fast allmächtige Lust-Unlust-Prinzip in Tätigkeit bringt“ (Freud 1982c, Bd. I, S. 527). Das „friedfertige“ Ich (Freud 1982b, Bd. VI, S. 244) verwendet die Angst als Reaktion auf einen Zustand der Gefahr – es erhöht also die Spannung, um noch größere Spannung der zu erwartenden Gefahrensituation zu verhindern –, läuft aber dabei Gefahr, die aktuelle angemessene Reaktion zu versäumen. Angst ist kein triebökonomisches, automatisches Geschehen, sondern eine ­Ich-Leistung: Ein Signal zum Zweck der Beeinflussung der Lust-Unlust-Instanz, der das Ich von dem ökonomischen Zwang unabhängig machen soll (Freud 1982b, Bd. VI, S. 280). Wenn aber Angst dauerhaft wird, und sie eine gewisse Intensität erreicht, und das Ich nicht mehr in der Lage ist, sie selbst hervorzurufen, so gewinnt die „Signalangst“ den Charakter einer Zwangsneurose. Das Ich beraubt sich gewisser freier Befriedigungsmöglichkeiten zugunsten der zwanghaften Symptomatik, der es allerdings gewisse Befriedigungen (primäre und sekundäre Gewinne) abzugewinnen weiß. Eine andere Pathologie besteht darin, dass der gefährdende Aspekt an eine Situation oder an einen Gegenstand gebunden wird; die phobischen Ängste sind im Grunde in Furcht rückverwandelte Ängste. „Die meisten Phobien gehen, soweit wir es heute übersehen, auf eine solche Angst vor den Ansprüchen der Libido zurück“ (Freud 1982b, Bd. VI, S. 253). Und schließlich bestehen die Angsthysterien in einer vollkommenen Symptombildung, die vor dem gefährdenden Affekt schützt. „Irgendwie steckt die Angst hinter allen Symptomen …“ (Freud 1982b, Bd. VI, S. 261). Mit Freud gilt es mithin, zwischen der Angst als Symptom und der unbewussten Angst der Verdrängung zu unterscheiden.15 Es fällt auf, dass in allen diesen Theorien Angst ein Phänomen der Freiheit ist. Sei es als Wahl- und Entscheidungsfreiheit, als Lustangst oder Schuldangst bei Kierkegaard, als Weltangst und Daseinsangst bei Heidegger oder auch als Signalangst und neurotische Angst bei Freud. Sie allen verdanken sich Spielräumen und

15Michael

Ermann (2012, S. 25–26) hat eine Phänomenologie der Angst vorgelegt, die zwischen unbewusster (verdrängter) und bewusster, manifester Angst unterscheidet. Diese wiederum wird in die realistische Signalangst und die pathologische Symptomangst unterschieden und letztere wiederum in die neurotisch und die strukturelle Symptomangst. – Die Mechanismen zur Angstabwehr hat Anna Freud herausgearbeitet: Rationalisierung, Verdrängung, Reaktionsbildung, Affektisolierung, Ungeschehenmachen, Verleugnung, Projektion, Wendung gegen das Selbst, Introjektion, Regression (Freud 1996).

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Möglichkeiten, Unbestimmtheiten und Risiken, Verfügbarkeiten und Unsicherheiten. In der Angst wird der Mensch mit einer Schwindel erregenden Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten ebenso konfrontiert wie mit einer bodenlosen Fülle an Realisierungsmöglichkeiten und einer unendlichen Pluralität an potenziellen Folgen. In der Freiheit der Angst wird der Mensch aber auch mit sich selbst und seiner Vulnerabilität konfrontiert, mit seiner Fragilität und Endlichkeit, mit seiner Ungebundenheit und Unsicherheit (Zirfas 2017).

4 Die Angst des Zwangs Wir wechseln nun die Perspektive von den „Tätern“ zu den „Opfern“. Am überwältigendsten ist wohl die Angst, die Menschen empfinden, wenn sie sich einer Gefahr ausgesetzt sehen, in der sie sich als ohnmächtig einschätzen. Angst tritt dann auf, wenn es um Situationen geht, die man nicht herbeigeführt hat und nicht kontrollieren kann, die somit unberechenbar sind16, kaum verstehbar und bewältigbar sind. Diese Situationen erinnern uns auf „erschreckende Weise an die (unheilbare?) Verwundbarkeit unserer eigenen Stellung […], an die demütigende Erfahrung unserer Hilflosigkeit und Unfähigkeit, den entmutigend prekären Charakter unserer Stellung in der Welt auszuhalten“ (Bauman 2017, S. 21–22). Eine, wenn nicht die paradigmatische Situation der Ohnmacht, ist die Folter.17 Sie ist ein Ritual der Inszenierung des Tötenkönnens, das die absolute Macht des Folterers und die Ohnmacht des Gefolterten demonstrieren möchte; sie ist eine Programmatik der hilflosen Angst, getötet werden zu können (Popitz 1992, S. 54). Die Folter kann diese Macht deshalb demonstrieren, weil sie keinen Übergang in den Tod, sondern den Status des Leidens und Sterbens arrangiert. Die Folter „spielt“ mit dem Töten und dem Tod – daher ihre Nähe zur Kunst, aber auch zum Handwerk und zum Ritual (Zirfas 2012). Hier wird die fantasierte Form einer entgrenzten, vollkommenen Gewalt gefahrlose Realität.

16Unter

dem Gesichtspunkt der Unberechenbarkeit ist es wohl der Terrorismus, der das Gefühl der Verwundbarkeit am rigorosesten ausnutzt (Townshend 2005). 17Unter Folter werden hier Institutionen und Handlungen verstanden, durch denen Menschen vorsätzlich und systematisch körperliche und seelische Schmerzen zugefügt werden, wobei diese Schmerzen sowohl von einer Person des öffentlichen Dienstes, einem ihrer Stellvertreter oder mit deren stillschweigenden Einverständnis als auch von Privatpersonen oder Mitgliedern verschiedener Organisationen verursacht werden.

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Folter ist in diesem Sinne der Versuch, im Medium absoluter Gewalt das Opfer auf Dauer zu stellen. Die Folter ist ein Ritual der Grausamkeit, weil es dem Opfer vorführt, dass es dieses im Töten festhalten kann. Die Folter inszeniert und praktiziert keine Vernichtung des Menschen, sondern seine Nichtung, d. h. sie schiebt die Vernichtung des Menschen stetig auf. Während das Töten auf die vollständige Eliminierung abzielt, auf die Vernichtung jeglichen menschlichen Restes, zielt die Folter auf die Inszenierung der Möglichkeit einer solchen Vernichtung. In diesem Sinne folgt das Töten einem ästhetischen und das Foltern einem politischen Traum. Die Folter ist eine rituelle Metamorphose, die den Status des Leidens, der Ohnmacht und des Sterbens arrangiert. Folteropfer werden so am Leben gehalten, dass sie sterben, ohne in den Zustand des Todes einzutreten (Sofsky 1996, S. 88). Man kann in diesem Kontext an einen Befehl im Konzentrationslager Dachau erinnern, der den Versuch der Selbsttötung unter schwere Strafe stellte (Popitz 1992, S. 55). Wenn die äußerste Grenze der Gewalt in der Tötung besteht, dann gilt es in der Folter, diese Grenze immer wieder aufzuschieben und zugleich zu verhindern, dass Menschen von ihrer Selbsttötungsmöglichkeit Gebrauch machen. Im Mittelpunkt der Folter stehen der Leib, seine Qualen, Schmerzen und Grenzen. Die Folter reduziert das Opfer auf reine Körperlichkeit, huldigt einem Materialismus des Körpers. Der Gefolterte ist nichts als Körper; die Folter dementsprechend eine totale körperliche Erfassung, eine Objektivierung durch eine vollständige leibliche Beherrschung. Der Schmerz ist sowohl auf physiologische Sachverhalte, als auch darauf zurückzuführen, dass die Instrumente, Bilder und Agenten der Gewalt der unmittelbaren Anschauung zugänglich sind. Die Folter ist eine „obsessive Demonstration der Agentenschaft“ (Scarry 1987, S. 34) des Schmerzes. Man könnte auch sagen, sie spielt mit dem Schmerz, der Todesangst und der Verletzlichkeit18.

18In

jüngerer Zeit wird die Foltertechnik des Schlagens immer stärker durch die technologische Folter der Elektroschocks ersetzt, denn diese hinterlassen keine bleibenden sichtbaren Spuren. Auch diese Technik ist eine der Beherrschung: schwere Schmerzen, Bewegungsunfähigkeit, Verlust der Muskelkontrolle, Brechreiz, Ohnmacht, Magen- und Darmentleerungen, Angstzustände und Depressionen sind die Folgen. Durch die Technologie gelingt es der Macht mehrere Effekte auf einmal zu erzielen. Sie wird erstens selbst weniger unmittelbar, ja unsichtbarer, insofern etwa der moderne Elektroschockgürtel die Möglichkeit bietet, über die Entfernung von achtzig bis neunzig Meter dem Träger einen Schock zu versetzten; sie wird dadurch auch unberechenbarer, da in vielen Fällen das Opfer die Aktionen der Folterer nicht mehr antizipieren kann und sie bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Hemmschwellen der Folterer noch weiter herabzusetzen, die

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In dieser Agentenschaft ist die grausame Situation der Folter von einer erschreckenden Einfachheit. Das Einklemmen von Organen, das Durchtrennen von Gliedmaßen und das Eindringen in Körperöffnungen lässt keinen Spielraum für Differenzierungen, hier fallen Sinn und Ausdruck vollkommen zusammen. Intensiver Schmerz zerstört das Bewusstsein, ist eine Form der Mimesis an den Tod. Im intensiven Schmerz wird der Mensch auf seine Körperlichkeit zurückgeworfen, er schrumpft auf seinen Körper zusammen und verliert dabei den Selbst- und Weltbezug. Denn selbst im Körper herrscht die fremde Macht, selbst das Eigene wird zum Territorium des anderen, das als absolute Macht diesen Körper gänzlich in Besitz genommen hat. Körperlicher Schmerz (gerade in seiner chronischen Form) geht mit der Einschränkung von Freiheit, mit Ohnmachts- und Verzweiflungsgefühlen, mit Einsamkeit und Todesangst oder auch Todessehnsucht und schließlich mit der Frage nach dem Sinn einher (Vogel 2013, S. 42). Es ist wohl kein Zufall, dass es einen etymologischen Zusammenhang von Angst und Schmerz gibt: aus dem lat. angustus, „eng“, „dürftig“, „mißlich“ wird Angst synonym zu Schmerz, etwa als „Bauchangst“ und „Zahnangst“ gebraucht; und Schmerz steht wiederum besonders für jene körperlichen Empfindungen, die mit „scharfen“, „beißenden“ und „schneidigen“ Wunden in Verbindung stehen (Kluge 1957, S. 23, 664). Wer sich ängstigt, fühlt (schon) den Schmerz. Es liegt daher nahe, die Frage nach der Angst nicht von der Frage der Schmerzen und der Vulnerabilität zu trennen, bzw. die Frage nach der Angst von der Vulnerabilität her zu verstehen. Der Mensch ist aber nicht nur vulnerabel und hat nicht nur Angst, weil er leiblich verfasst ist, sondern auch, weil er ein sich selbst verstehendes und symbolisches Wesen ist. Letzteres meint: Menschen leben ihr Leben immer auch vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger bewussten Vorstellung von dem, was menschliches Leben ausmachen kann, ausmacht bzw. ausmachen sollte; und diese Vorstellung wird durch Zeichen (etwa Gesten und Sprache) kommuniziert. Was macht Menschen so verletzlich, dass sie selbst durch Worte getroffen, ja zerstört werden können? Und inwiefern erzeugen sprachliche Missachtungen (neue) Formen von Verletzlichkeit?

jetzt nicht mehr unmittelbar selbst Hand anlegen müssen. – Neben der Technik lassen sich im Kontext der Folter auch noch die Indifferenz des Folterenden und die (religiöse und politische) Glorifizierung der Macht im „Syndrom einer absoluten Gewalt“ (Popitz 1992, S. 66–69) verhandeln.

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Hierbei gehe ich mit Butler (2013) davon aus, dass die sprachliche Haltung der Menschen zueinander „ihre sprachliche Verletzbarkeit durch einander, […] nicht einfach zu ihren sozialen Beziehungen zueinander hinzu [tritt]. Vielmehr ist sie eine der ursprünglichen Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen“ (Butler 2013, S. 50). Soziale Beziehungen sind aufgrund der Körperlichkeit und Symbolhaftigkeit menschlichen Lebens ab ovo vulnerable Beziehungen. Und darüber hinaus sind Menschen durch Sprache verletzbar, weil sie nicht nur auf soziale Anerkennung und Achtung angewiesen, sondern weil sie sprachliche Wesen sind. Insofern zielen Beleidigungen, Demütigungen, Stigmatisierungen einerseits darauf ab, Menschen zu verletzten; und sie zielen andererseits darauf, „ihre Beschreibung durchzusetzen und als,Wirklichkeit‘ zu repräsentieren“ (Posselt 2011, S. 106).19 Sprachliche Gewalt zielt auf das Stummmachen, auf das Sprachlos-Machen des Anderen, der keine Widerrede mehr formulieren kann. Umgekehrt: Eine reine Erfahrung von Gewalt gibt es nicht, sie ist immer schon durch Sprache und ihre Sinn- und Bedeutungszusammenhänge vermittelt. Davon ausgehend, dass Menschen symbolische Wesen sind, die in und durch „Sprache“ (im weiten Sinne als Zeichensystem) existieren – eine These, die sprachphilosophisch, phänomenologisch, entwicklungs- und kulturtheoretisch noch ausbuchstabiert werden müsste –, werden Beziehungen zu sich, zu anderen und zur Welt sprachlich, vor allem durch die Ansprache anderer, gestiftet. Diese Stiftung kann „positiv“ oder „negativ“ erfolgen, d. h. Sprache hätte folglich die Kraft, Vulnerabilitäten hervorzubringen. Sie wirkt einerseits homöopathisch, indem sie ein spezifisches (negatives) Verständnis und eine spezifische (negative) Bewertung unserer selbst im Kontext von Sprache erzeugt; andererseits wirkt sie allopathisch, weil auch Körperlich-Leibliches, Emotionales und Motivationales (auch Unbewusstes?) für Sprache durchlässig ist, von ihr tangiert wird und somit als körperliche Verletzung erfahren werden kann. Sprache hat insofern nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine somatische Wirkung. Werden Menschen, wenn sie geschlagen werden, nicht auch symbolisch verletzt? Und werden sie, wenn sie beleidigt werden, nicht auch körperlich getroffen? Unterläuft eine Theorie der Vulnerabilität somit den für das Abendland bedeutsamen Dualismus von Körper und Geist, indem sie auf Formen der Durchlässigkeit und des Ineinander von Ratio und Korpus aufmerksam macht? Oder lässt sich sogar

19Dennoch

haben auch sprachliche Verletzungen nie nur ermächtigende, unterwerfende, sondern auch ermächtigende, befreiende Wirkungen. Butler spricht hierbei von einer „ermächtigenden Verletzbarkeit“ (2013, S. 10), die spezifische Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

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die physische Gewalt als ein Derivat sprachlicher Gewalt verstehen, dem sie umgekehrt ihre Metaphern leiht (Posselt 2011, S. 92). Bei der Bearbeitung dieser Fragen müsste genauer zwischen der Vulnerabilität der Sprache bzw. des Sprechens einerseits und der durch die Sprache bzw. das Sprechen erzeugten Vulnerabilität andererseits unterschieden werden. Stellt Sprache bzw. Sprechen in bestimmten Hinsichten eine Verletzung dar – wie etwa Adorno, Foucault, Derrida oder Butler behaupten –, lässt sich folgern, dass eine Verwundbarkeit schon mit dem Sachverhalt verbunden ist, dass Menschen überhaupt sprechen und sich dabei der Sprache der „Anderen“ bedienen müssen. Hinsichtlich der Erzeugung von Vulnerabilität durch Sprache wäre dann zu zeigen, wie eine Verletzung durch eine spezifisch-performative bzw. rituelle Verwendung von Sprache bzw. Sprechen (Beschimpfungen, Beleidigungen, Befehle, Verhöre etc.) erst hervorgebracht wird (Herrmann et al. 2007). So zeigt sich eine Beleidigung nicht „an sich“, sondern wird nur dann für einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Gruppe relevant, wenn unter bestimmten Umständen ein kulturell eingespielter Sprachgebrauch, ein spezieller Modus des Sprechens, auch als „Beleidigung“ verstanden wird. Dies jedoch wirft weitergehende Fragen auf, etwa die, ob und wie Schweigen verletzen kann und ob es kulturunabhängige Formen von sprachlichen Vulnerabilitäten gibt, die von allen Mitgliedern der Gattung Mensch als Verletzung erfahren werden.

5 Die Endlichkeit des Seins: Angst – Gewalt – Hoffnung Angst lässt sich als Angst vor der Freiheit oder als Angst vor der Ohnmacht verstehen. Insofern möchte ich hier die These vertreten, dass Angst anthropologisch im Kern zweierlei bedeutet, eine existenzielle Lebensangst und eine ontologische Todesangst (Tugendhat 2010). In beiden Perspektiven geht es um eine anthropologische Vulnerabilität, die eng mit den Fragen der Endlichkeit und Vergänglichkeit, der Verluste und Trennungen verbunden ist.20 Die Angst vor dem Leben ist

20Wie

kaum eine andere Philosophie hat – neben der Psychoanalyse (Bittner 1995) –die Existenzphilosophie die Gegenwart des Todes im Leben und das Todesbewusstsein reflektiert. Versteht man die Formel, dass der Tod einen Schatten über das Leben wirft, nicht metaphorisch, sondern existenziell, so erscheinen nicht nur Ängste und Gewalterfahrungen, sondern auch Phänomene wie Einsamkeit, Krankheit, Melancholie, Nacht, Schlaf, Übergangsrituale, Verluste, ja selbst die Liebe oder die Erotik als negative Vorspiele des Todes im Leben (Theunissen 1991). Angst und Gewalt lassen sich mithin als wichtige

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eine Angst, das falsche Leben gelebt, nicht die richtigen Möglichkeiten ergriffen, nicht alle Spielräume genutzt zu haben. Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Aufhören, vor dem Sich-in-Nichts-Auflösen, vor dem Untergang des Ichs und der Welt. Man kann zwischen diesen beiden Angstformen insofern einen Zusammenhang sehen, als auch die Angst vor dem Leben letztlich eine vor dem Tod ist. Denn die Angst vor dem Leben resultiert aus dem Bewusstsein der Endlichkeit: Dadurch, dass der Mensch weiß, dass der jederzeit sterben kann, gewinnen Wahl- und Entscheidungsfreiheit, Lust- und Schuldangst, Welt- und Daseinsangst oder auch Signalangst und neurotische Angst erst ihre ungeheure Bedeutung. Das vertane Leben ist ein Leben vor dem Tod, vor dem existenziellen Sachverhalt der Vernichtung – der sich ganz verschieden äußern kann, etwa in biologisch-körperlicher oder symbolisch-metaphysischer Form. Kurz, Angst ­ wurzelt nicht primär in der Angst vor dem Leben, sondern in der Angst vor dem Tod.21 Und man sollte an dieser Stelle daran erinnern, dass Menschen auch nach ihrem Tod noch verletzlich sind, indem etwa ihre Leichen körperlich geschändet werden, indem ihnen ein Begräbnis vorenthalten wird (prominentes Beispiel aus der Ilias ist die Rache des zweiten Todes von Achill an Hektor), oder indem ihnen auch die Erinnerung versagt bleibt. Nicht nur die damnatio memoriae, die Verfluchung und demonstrative Tilgung des Andenkens an eine Person durch die Nachwelt, sondern vor allem das Vergessen des Vergessens der Opfer erscheint hierbei von außerordentlicher Bedeutung. Insofern erscheint nur wiederum die Gewalt, die aus der Angst resultiert, als eine (Art) Notwehr gegen die Sterblichkeit. Hierbei geht es um Situationen, in denen die Überforderung in Aggressivität mündet – gegen sich selbst und gegen andere. Die Angst als Signal und Warnung vor Gefahr kann Menschen lähmen (und dabei selbst destruktiv werden) oder aber zur Aktivität mobilisieren, und dabei sich und andere schädigen. Gewalttätig wird die Angst dann, wenn sie das – eigene und das fremde – Andere negiert.22

Formen der Gegenwart des Todes im Leben festhalten. Hierbei sind Unbestimmbarkeit, Kontingenz, Verlust und Abschiedlichkeit zentrale Bestimmungsfaktoren (Zirfas 2009). 21„Unser ganzes Leben lang steht immer die Möglichkeit unseres Todes im Hintergrund; sie erinnert uns an unsere profunde Verletzlichkeit“ (Ben-Ze’ev 2009, S. 27). 22Anders und zwar bildungstheoretisch formuliert: Die Angst wird zur Gewalt, wenn sie Bildung unmöglich macht. Bildung ist der Versuch, im Verhältnis zu sich und zu anderen mit Ängsten gewaltfrei umzugehen. Gewalt ist der Versuch, die anthropologische Verletzlichkeit zu negieren.

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Die vier Grundformen der Angst, die Riemann in seinem Klassiker gleichen Namens identifiziert – die Angst vor der Selbsthingabe, die sich als I­ch-Verlust und Abhängigkeit äußert, die Angst vor der Selbstwerdung, die man als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt, die Angst vor der Veränderung, die als Vergänglichkeit und Unsicherheit erscheint, und die Angst vor der Notwendigkeit, die sich in Endgültigkeit und Unfreiheit äußert23 – lassen sich nicht nur mit bestimmten Persönlichkeitstypen (der schizoiden, depressiven, zwanghaften und hysterischen Persönlichkeit), sondern auch mit spezifischen Gewaltformen in Verbindung bringen, die aus diesen Ängsten resultieren: Der Angst vor der Selbsthingabe dient die Gewalt zur Abwehr und zum Schutz und äußert sich häufig in Formen der Grausamkeit und des Sadismus: „Schroffheit, plötzliche verletzende Schärfe, eisige Kälte und Unerreichbarkeit, Zynismus und sekundenschnelles Umschlagen von Zuwendung in feindselige Ablehnung sind ihre häufigsten Ausdrucksmöglichkeiten“ (Riemann 2017, S. 37–38); die Angst vor der Selbstwerdung äußert sich vor allem in Schuldgefühlen, die zum Selbsthass und zur Selbstbestrafung sowie zur bewussten oder unbewussten Selbstzerstörung führen können (Riemann 2017, S. 83–84); die Angst vor der Veränderung führt zur Selbst- und Fremdbemächtigung, zur Selbstbeherrschung, Drill und Korrektheit und zum Bekämpfen desjenigen, was nicht „in Ordnung ist“ (Riemann 2017, S. 142–145); und schließlich äußert sich die Gewalt, die aus der Angst vor der Notwendigkeit herrührt im Kampf gegen die Bedrohung des Selbstwertes: „Intrigen, Abwertung eines anderen bis zum Rufmord und bis zu seiner Vernichtung, ausgeprägte Rachehaltungen können so entstehen“ (Riemann 2017, S. 197).24

23Diese vier Angstformen kann man als Formen der Selbst-und Weltentfremdung verstehen, die – wenn sie pathologisch werden – keine „Rückkehr aus der Entfremdung“ (Buck) mehr ermöglichen. – Es lässt sich allerdings auch eine Angst denken, die sich davor fürchtet, keine Angst mehr zu haben. Man könnte diese Angst die Angst vor der Unmöglichkeit von Bildung nennen. So wie der Gastgeber bei Klossowski (1996, S. 126) „ängstlich den Fremden, den er am Horizont als Befreier auftauchen sieht“ mit dem Zuruf begrüßt: „,Tritt rasch ein, denn ich fürchte mich vor meinem Glück‘“, so kann man Angst davor haben, dass das Glück des Fremden das bisher maßgebliche Glück übersteigt; und man kann Angst davor haben, dass genau diese Situation nicht mehr eintreten wird (Derrida 2001, S. 93–96) – dass es keine Bildung mehr geben wird. 24Man kann sie auch mit Durkheims Selbstmordformen kombinieren; Die Angst vor Selbsthingabe korrespondiert dem altruistischen, die Angst vor Selbstwerdung dem egoistischen, die Angst vor Veränderung dem anomischen und die Angst vor der Notwendigkeit dem fatalistischen Selbstmord (Rosa 2016, S. 192–195).

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Negativ betrachtet verweisen diese Überlegungen auf den fundamentalen anthropologischen Wunsch, doch von der Bedrohung, dem Leiden und dem Tod ausgeschlossen zu werden und positiv betrachtet darauf, doch mehr als gewünscht geschenkt zu bekommen. In Angst und Vulnerabilität schwingen immer die Hoffnung der Verschonung und die Hoffnung auf eine andere Welt mit. Insofern fallen die Gründe für die Ängste mit den Zielen der Hoffnung zusammen. Die Hoffnung erscheint als emotionales Prinzip der Angst, und zwar als letzter Grund für den passiven Widerstand, den die Angst den Beschädigungs- oder Vernichtungsdrohungen entgegensetzt (Fink-Eitel 1993, S. 87). Anders formuliert: Weil wir freie, endliche und vulnerable Wesen sind, haben wir Angst – doch noch grundsätzlicher auch Hoffnung, mit der Angst, mit der Vulnerabilität, der Gewalt und der Sterblichkeit umgehen lernen zu können.

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(Miss-)Verständnisse der Anerkennung. Zum Problem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘ Norbert Ricken 1 Einleitung Gewalt provoziert – nicht nur Angst und mögliche Gegengewalt, sondern auch die nicht selten ratlose Frage, was denn Gewalt bedingt und verursacht. Gerade weil sie zunehmend als Bruch in und mit der gesellschaftlichen und sozialen Ordnung – und trotz aller Alltäglichkeit nicht mehr als struktureller Teil der Ordnung – verstanden wird, hat sich die Wahrnehmung von und Aufmerksamkeit gegenüber Gewalt deutlich erhöht. Nicht immer ist es daher leicht zu unterscheiden, ob Gewaltphänomene real zugenommen, die kritische Aufmerksamkeit und Sensibilität sich deutlich erhöht oder gar nur öffentliche Stimmungen sich gewandelt haben. Unstrittig ist aber, dass die Frage nach Gewalt, ihren Gestalten, Gründen und Effekten eine ebenso gesellschaftlich drängende wie auch theoretisch anspruchsvolle Herausforderung darstellt. Bereits die im Titel vorgenommene Justierung der Thematik, Gewalt in ein Verhältnis zwischen Vernunft und Angst zu setzen, impliziert eine spezifische Codierung, die sich auch im Ausschreibungstext findet: Neue Unsicherheiten und erlebte Kontingenzen werden mit Angst und Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft verbunden, zu denen dann Vernunft und – ich ergänze – Ordnung in eine Gegenlage gebracht werden. Dieser Zuschnitt mag durchaus naheliegend sein und gute Gründe für sich ins Feld führen können; unterschlagen wird dabei aber doch, dass auch Ordnung und Sicherheit keine gewaltfreien Zonen darstellen – ganz im Gegenteil: auch Ordnung, Vernunft und allerlei andere Stabilitäten (wie z. B. Normalitäten) sind von Gewalt durchzogen. Heinrich Popitz hat bereits vor N. Ricken (*)  Ruhr-Universität, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_5

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vielen Jahren auf diese Omnipräsenz von Gewalt hingewiesen – und damit nicht nur gemeint, dass Gewalt jederzeit stattfinden kann: „Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig – in allen Situationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust ohne Lust, schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle denkbaren Zwecke – jedermann“ (Popitz 1992, S. 50); vielmehr hat er damit zu markieren versucht, dass Gewalt und Macht eng verknüpft sind und es letztlich keine Ordnung gibt und geben kann, die nicht auf einer spezifischen Fassung von Gewalt beruht: „Keine umfassende soziale Ordnung beruht auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit. Die Macht zu töten und die Ohnmacht des Opfers sind latent oder manifest Bestimmungsgründe der Struktur sozialen Zusammenlebens“ (Popitz 1992, S. 52). Ordnung und Gewalt zeigen sich dann aber als ein paradoxer Zusammenhang, wird doch Gewalt – wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen – im Verhältnis zur Ordnung gleichzeitig aus- und eingeschlossen. Es ist diese – wenn auch nicht normative, so aber doch mindestens wertende – Codierung der Gewalt im Dual zwischen Angst und Vernunft, mit der ich mich im Folgenden auseinandersetzen möchte. Leitend ist dabei die Vermutung, dass das, was uns so unmittelbar einleuchtend erscheint: dass nämlich Gewalt kein Bestandteil unserer alltäglichen Ordnung sein soll, mit einer problematischen Denkform verbunden ist bzw. aus ihr resultiert und sie zugleich erneuert, in der Duale und ihre oppositionale Codierung dominieren, sodass Ordnung und Nicht-Ordnung (z. B. als Gewalt), Sicherheit und Unsicherheit, Vernunft und Un–Vernunft, aber auch Individuum und Gesellschaft sowie Selbst- und Fremdbestimmung einander bloß konträr gegenüberstehen – und dadurch relationale Zusammenhänge und Wechselwirkungen, aber auch Paradoxien verbergen bzw. unbearbeitbar machen. Anders gefragt: Könnte es nicht sein, dass die vorherrschende Codierung (und Ausgrenzung) von Gewalt als Unvernunft bzw. gar Irrationalität und die darin mitaufgerufenen Vorstellungen vernünftiger (und insofern friedlicher) Subjektivität die Möglichkeit einer harmonischen und in sich nicht gebrochenen Ordnung implizieren, die nicht nur ihre eigene Machtstruktur verbirgt, sondern auch Gewalt letztlich gar nicht mehr denkbar macht? Und ist diese Vorstellung nicht doch auf die Möglichkeit einer ­‚friedlich-schiedlichen Existenz‘ angewiesen, in der alle – bei genügend Vernunft – friedlich sein können, weil und insofern sie jeweils hinreichend bei sich selbst sein können – gemäß der aphoristischen Logik Blaise Pascals, „daß das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können“ (Pascal 1987, S. 69, Aphorismus 139)?

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Angesichts der aufgerufenen, aber doch (wohl zu) hoch veranschlagten Abstraktionslage werde ich meine Überlegungen daher an einem kleinen Beispiel zu entwickeln versuchen, mit dem ich mich etwas besser auskenne – dem Theorem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘, wie es insbesondere in den Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer entwickelt worden ist (Endrikat et al. 2002; Anhut und Heitmeyer 2005) und um das sich herum im Theoriediskurs der Gewalt längst ein doch sehr wirksames Narrativ gebildet hat (Sutterlüty 2002). Dabei geht es mir in systematischer Absicht um eine kategoriale Problematisierung, die allerdings – so hoffe ich jedenfalls – dann auch Folgen für die Empirie haben könnte. Vor dem Hintergrund der – z. B. in den zahlreichen Arbeiten von Klaus Wahl – geforderten Vielperspektivität auf Gewalt (Wahl und Wahl 2013) stellt dieser Zugriff sicherlich eine erhebliche Verkürzung dar; er erlaubt aber vielleicht, die im Gewaltdiskurs jedenfalls in Teilen fungierende Logik exemplarisch zu problematisieren – und dann nach alternativen Denkformen Ausschau zu halten. Im Folgenden werde ich daher in einem ersten Gedanken das Problem der Gewalt aufgreifen und hinsichtlich seiner möglichen begrifflichen Fassung diskutieren (Gedanke 1), bevor ich dann viel spezifischer auf das benannte Narrativ der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘ eingehe und es in seinem Bezug zu Ressentiment und Gewalt diskutiere (Gedanke 2). Der darin in Anspruch genommene anerkennungstheoretische Gedankengang bedarf allerdings einer eigenen Diskussion, die zu – vielleicht in Teilen überraschenden, aber sicherlich nicht allzu selbstverständlichen – Einsichten kommt, die ich mit ‚Dekonstruktion der Anerkennung‘ überschreiben möchte (Gedanke 3). Bevor dann zur Ausgangsfrage der Gewalt zurückgekehrt werden kann (Gedanke 5), ist aber eine gesellschaftstheoretische Einbettung der Überlegungen erforderlich, die ich unter das Stichwort einer ›Individualisierungsfalle‹ gestellt habe (Gedanke 4). Insgesamt geht es mir in den Überlegungen also um eine kategoriale Problematisierung, die an der systematischen Begrenztheit und Untauglichkeit individualtheoretischer Zugriffe anknüpft und für eine sozialtheoretische Denkfassung – auch der Gewalt – plädiert.

2 Gedanke 1: Das Problem der Gewalt und seiner begrifflichen Fassung Blättert man nun in gebräuchlichen Definitionen von Gewalt, dann fällt auf, wie schwierig es ist, Gewalt in eindeutiger und erschöpfender Weise begrifflich zu fassen. Während die einen eher auf körperliche Verletzungen abheben, ergänzen

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andere die Bedeutung seelischer Beschädigungen; wiederum andere erweitern den Kreis des Nachdenkens um strukturelle Fragen und dadurch bedingte Beeinträchtigungen des gelebten Lebens, sodass schon auf begrifflicher Ebene insgesamt mehr Uneindeutigkeit und Zerstrittenheit als Einigkeit herrscht (Galtung 1997; Wahl 2013). Angesichts vielfältiger lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten, in denen klar zu sein scheint, was und wann Gewalt ist, mag das zunächst irritieren und dann auch ärgern; doch die beobachtbaren Vagheiten bieten auch den Vorteil, dass man im Feld der Gewalt dann doch über Phänomene, Gegenstandsfelder und Kategorien sowie fundierende Logiken in ihrer Verwicklung miteinander nachdenken muss – ohne dass das aber die Unklarheiten beseitigen würde; insofern werde auch ich hier keine Letztdefinition von Gewalt zu entwickeln versuchen, mit der sich dann alle möglichen Fälle von Gewalt von denen der Gewaltlosigkeit (unter-)scheiden ließen. Konsens scheint zunächst zu sein, dass man dem Phänomen der Gewalt nicht hinreichend Rechnung trägt, wenn man es bloß gegenstandstheoretisch zu fassen sucht; sowohl der Begriff der Gewalt als „Verletzung der physischen wie auch psychischen Integrität von Individuen“ als auch der der „absichtlichen schädigenden Einwirkung auf andere Personen“ (Peuckert und Scherr 2003, S. 114) sind nicht trennscharf und müssen mindestens um die Dimension des Willens der Betroffenen – also die Frage der Zustimmung und Verneinung bzw. der Artikulation einer Grenze – ergänzt werden. Damit ist aber noch nicht hinreichend aufgenommen, was z. B. Klaus und Melanie Rhea Wahl als „historisch und kulturell variable [Normierungen]“ (Wahl und Wahl 2013, S. 17) markiert haben, „die je nach Kontext“ ein und dieselbe aggressive Handlung als „gefordert, gewünscht, geduldet, geächtet oder bestraft“ (Wahl und Wahl 2013, S. 17) ausweisen. Aber auch Fragen, ob Gewalt notwendigerweise der Akteure bedarf, und wenn nicht, wie man denn dann Dimensionen institutioneller, symbolischer und struktureller Gewalt präzise(r) fassen könnte, sind damit längst noch nicht beantwortet. Insgesamt zeichnet sich jedoch in diesen Begriffsdebatten – so jedenfalls mein Eindruck – ein nicht ganz so unscharfes Bild ab: Gemeinhin wird das als ‚Gewalt‘ bezeichnet, was gegen den – ob erklärten oder als erklärt zu unterstellenden – Willen von Personen nicht bloß geschieht, sondern mehr oder weniger absichtlich von anderen herbeigeführt und als Nötigung, Schädigung bzw. gar Verletzung von den Betroffenen oder deren Beobachtern interpretiert wird (Imbusch 2018). Das mag dann immer noch randunscharf sein und von Fall zu Fall neu überdacht werden müssen, kann aber vielleicht einen doch durchaus breiter geteilten Arbeitsbegriff der Gewalt darstellen. Er fügt sich zugleich jedoch weitgehend nahtlos ein in das individualtheoretische Narrativ, demzufolge

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die Freiheit des einen dort aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt. Dass ich diese schiedlich-friedliche Trennung des einen vom anderen mit Blick auf das – anderswo breiter bearbeitete (Röhr und Ricken 2018) – Problem der Anerkennung für problematisch halte, sei in seiner Plausibilität nicht eigens erläutert, aber als weitere Weichenstellung genutzt. Systematisch interessant finde ich daher eine begriffliche Unterscheidung, die Jan Philipp Reemtsma im Kapitel ‚Macht und Gewalt‘ in seiner Studie über ‚Vertrauen und Gewalt‘ (Reemtsma 2013) vorgeschlagen hat, indem er zwischen „lozierender“, „raptiver“ und „autotelischer Gewalt“ unterschieden hat (Reemtsma 2013, S. 104–124); mich interessiert dabei hier weniger die Unterscheidung der verschiedenen Formen, in die Reemtsma Gewalt zu sortieren versucht1, sondern die in den Erläuterungen sichtbar werdende Figur, Gewalt mit der Zentrik von Akteuren – d. h. mit der Durchsetzung der eigenen Interessen gegen andere – in Verbindung zu bringen (ohne sie jedoch darauf zu reduzieren). Diese Kennzeichnung scheint mir für die Frage der Bestimmung von Gewalt bedeutsam und weiterführend zu sein, legt sie doch nahe, dem Phänomen der Gewalt durch eine Rekonstruktion seiner – hier: zentrischen – Logik auf die Spur zu kommen. Ich komme darauf zurück, schlage aber einen Umweg ein und wechsle zu meinem zweiten Gedanken.

3 Gedanke 2: Gewalt und das Theorem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘ In den zahllosen Diskursen zum Problem der Gewalt hat sich nun seit doch einigen Jahren um das Stichwort bzw. Theorem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘ herum ein überaus wirkmächtiges Narrativ entwickelt, das insbesondere zunächst in den Arbeiten der Forschergruppen zur Theorie und Empirie ‚sozialer Desintegration‘ und dann zur ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘ um

1In

seiner „Phänomenologie der Gewalt“ (Reemtsma 2013, S.  104) unterscheidet Reemtsma die „lozierende Gewalt“ (ebd., S. 108), die einen anderen Körper entfernt, weil er der Verfolgung eigener Interessen im Wege steht (z. B. im Krieg, bei Raub und Mord), von der „raptiven Gewalt“ (ebd., S. 113), die sich des anderen Körpers bemächtigt, um ihn für seine Interessen zu benutzen (vor allem in Formen sexueller Gewalt); beiden setzt er dann die „autotelische Gewalt“ (ebd., S. 116) entgegen, die im Unterschied zu den beiden erstgenannten Gewaltformen keinem außerhalb der Gewalthandlung(en) liegenden Zweck dient, sondern vielmehr um ihrer selbst willen angewandt wird.

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Wilhelm Heitmeyer herum (Heitmeyer 1994; Heitmeyer et al. 1998; Endrikat et al. 2002; Heitmeyer und Imbusch 2012) entwickelt worden ist. Kern dieser Erzählung der Entstehung von Gewalt und Gewaltbereitschaft ist die Annahme, dass Anerkennung und Gewalt in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu einander stehen; so formulieren die Bielefelder ForscherInnen, „daß Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und gewalt- wie diskriminierungsnahe Verhaltensintentionen umso ausgeprägter sind, je größer die Desintegrationsbelastungen in unterschiedlichen Teildimensionen mit der Folge einer negativen Anerkennungsbilanz sind“ (Endrikat et al. 2002, S. 40). Dabei werden mit Desintegration jene objektiven Umstände und lebensweltlichen Erfahrungen markiert, die dann in einem Survey über insgesamt 10 Jahre empirisch erhoben worden sind (Heitmeyer 2002, 2011), in denen Integration – verstanden als „individuell-funktionale Systemintegration“ sowie „kommunikativ-interaktive“ und „­kulturell-expressive Sozialintegration“, kurz: Gesellschaftliche „Teilhabe, Teilnahme und Zugehörigkeit“ (Endrikat et al. 2002, S. 38–39) – aufgrund z. T. neuerer Strukturkrisen (wie z. B. „Verfestigung und Verschärfung sozialer Ungleichheit, Regulationskrisen in Gestalt von Sinnlosigkeitserfahrungen oder auch Kohäsionskrisen als Ausdruck von Labilisierung oder Auflösung sozialer Beziehungen“ (Endrikat et al. 2002, S. 37) prekär wird und dann als empfindlich gestörte oder gar verweigerte soziale Anerkennung interpretiert wird. Gelingt es nicht mehr – so die ForscherInnen –, die negativen Situationen und Erfahrungen durch positive Erfahrungen in einem anderen Bereich wieder auszugleichen, sprechen die Autoren von einer „negativen Anerkennungsbilanz“ (Endrikat et al. 2002, S. 53), die sie – ich würde sagen: doch sehr weitgehend und eng – dann mit der Entstehung von Ressentiments, Diskriminierung und Gewaltbereitschaft verbinden. Dabei wird der Zusammenhang in beide Richtungen behauptet, sodass einerseits negative Bilanzen bzw. ‚Anerkennungsdefizite‘ (Möller und Heitmeyer 2004) oder gar ein ‚lack of recognition‘ (Heitmeyer 2001) Vorurteile und Gewaltbereitschaft erzeugen (können) und ausgeglichene bzw. gar positive Bilanzen andererseits die „Demonstration von Diskriminierungs- und Gewaltbereitschaft erst gar nicht aufkommen“ (Endrikat et al. 2002, S. 53) lassen. Auch die methodisch m. E. erheblich differenzierteren Arbeiten zur Entstehung von Gewaltkarrieren von Ferdinand Sutterlüty (Sutterlüty 1998; Sutterlüty 2004) folgen diesem Narrativ, präsentieren es aber doch etwas behutsamer, insofern sie den quasi-kausalen Automatismus Heitmeyers auf die Beobachtung begrenzen, dass Gewalttäter signifikant mehr Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen gemacht hätten (Sutterlüty 1998, S.  31, 33–34, Sutterlüty 2004, S. 269). Die in Sutterlütys Studien rekonstruierte Verlaufslogik nimmt ihren Ausgang in vielfältigen (zumeist familialen) Ohnmachts- und

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Abwertungserfahrungen (Sutterlüty 2004, S. 268–271), die zu ebenso unsicheren wie negativen Selbstkonzepten führen und dann durch eine „epiphanische Erfahrung von Gewalt“ (Sutterlüty 2004, S. 268) neue Selbstwirksamkeitserfahrungen, Gruppenzugehörigkeiten und Anerkennungserfahrungen sowie daraus entstehenden neuen Gewalthandlungsschemata erzeugen würden (bzw. könnten). Verkürzt formuliert sind Gewaltkarrieren daher mit zweierlei Anerkennungserfahrungen verbunden – nämlich einer primären Erfahrung der „aktiven Missachtung“ bzw. „passiven Anerkennungsverweigerung“ (Sutterlüty 2004, S. 271) und der später dann in fataler Weise weichenstellenden Anerkennungserfahrung als ‚Gewalttäter‘ in durch Gewalt konstituierten Gruppen. Die hier präsentierte Figur ist sehr viel älter und erinnert – dies muss angemerkt werden – nicht zufällig an alte theologische Debatten; sowohl im Streit zwischen Augustinus und Pelagius im 4. Jahrhundert als auch in dem zwischen Universalismus und Nominalismus im 14. Jahrhundert ging es immer auch um die Frage, ob das Böse ‚nur‘ als ‚privatio boni‘, also als ‚Mangel des Guten‘, oder als eigenständige Entität zu betrachten sei.2 Mit ihr ist die wohl bis heute beunruhigende und auch weitgehend unbeantwortete Frage aufgeworfen, ob ‚dem Bösen‘ – ontologisch gesprochen – eine eigene oder doch nur eine abgeleitete Seinsqualität zukomme.3 Zugleich ist damit aber nicht nur eine analytische Perspektive, sondern auch eine konstruktiv-prospektive Perspektive vorgebahnt, derzufolge Gewalt verhindert werden könne, wenn es eben keinen ‚Mangel des Guten‘ – z. B. an Anerkennungserfahrungen – gäbe. Das Theorem der ‚negativen Anerkennungsbilanz‘ jedenfalls knüpft daran an und präsentiert in gewisser Weise eine erneuerte Fassung dieser alten Ordnungsmetaphysik. Im Feld des Pädagogischen gehört die damit markierte Logik jedenfalls zum Standardrepertoire gegenwärtiger pädagogischer Überzeugungen, wird doch hier

2Paradigmatisch

dafür die Formulierung bei Thomas von Aquin in seiner ‚Summa Theologiae‘ (1980): „Nullum ens est malum per essentiam, ne participatione, sed per privationem participationis“ (prima pars, q. 49.3.c. ad 4 und q. 65.1 ad 2 und ad 3; in dt. Übersetzung: „Kein Sein ist böse dem Wesen nach, auch nicht durch Teilhabe, sondern durch den Raub an der Teilhabe“). 3Man könnte diese Problematik auch an dem bereits 1962 publizierten Roman ‚A Clockwork Orange‘ von Anthony Burgess (Burgess 1962) diskutieren, geht es doch hier um scheinbar sinnlos motivierte Gewalt auf der einen Seite und dann um die Frage der Willensfreiheit gegenüber dem Bösen auf der anderen Seite. Burgess entscheidet sich – anders als Stanley Kubrick in seiner Verfilmung des Romans von 1971 – für die Freiheit und damit die eigenständige Möglichkeit des Bösen.

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‚Anerkennung‘ nicht nur als Ziel, sondern auch als Mittel des pädagogischen Handelns ausgegeben – und dann in der Form verknüpft, dass die Erfahrung von Anerkennung auch zu Achtsamkeit führe und die umgekehrte Erfahrung der Abwertung auch abwertendes Verhalten anderen gegenüber nach sich ziehe, sodass Mittel und Ziel eng verbunden sind. Trotz ihrer Verbreitung und lebensweltlichen Plausibilität hat diese Figur der Verbindung von (Des–)Integration und Anerkennung doch auch zahlreiche Kritik auf sich gezogen: Immer wieder wird insbesondere auf empirischer Ebene eingewandt, dass „nur wenige der von solchen Gesellschaftsprozessen Betroffenen […] gewalttätig“ werden (Wahl und Wahl 2013, S. 28), sodass einerseits doch viel zu viel, andererseits aber dann auch viel zu wenig erklärt werden könne. Zudem fällt ebenfalls empirisch auf, dass in dieser Logik nur bestimmte Ressentiments und Abwertungs- sowie Missachtungspraktiken angezielt und andere, ebenso relevante Praktiken der Entwertung, Ausbeutung und Verdinglichung (vonseiten der ‚Mächtigen‘) erst gar nicht in den Blick genommen werden (können), weil sie einerseits dem ‚Klischee der Modernisierungsopfer‘ nicht entsprechen und wohl kaum durch einen Anerkennungsmangel erklärbar sind – wohl eher im Gegenteil. Schließlich aber überzeugt die verbreitete Figur auch theoretisch nicht, weil systematische Erläuterungen des Zusammenhangs bzw. schon der Bedeutung von ‚Anerkennung‘ eher fehlen und durch den Hinweis auf die Arbeiten Axel Honneths (Honneth 2003a; Honneth 1994) zumeist eher oberflächlich kompensiert werden (Heitmeyer et al. 1998; Imbusch 2018).4 Mit Blick auf das Problem der ‚Anerkennung‘ möchte ich mich daher nun systematisch mit diesem Narrativ auseinandersetzen und komme daher zu meinem dritten Gedanken.

4Um

Missverständnissen vorzubeugen, sei bereits hier vermerkt, dass die Kritik der Figur der ›negativen Anerkennungsbilanz‹, in der Erfahrungen mangelnder Anerkennung als Nährboden für seinerseits nicht-anerkennende Einstellungen und Handlungen justiert wird, nun nicht umgekehrt die Bedeutungslosigkeit von Anerkennungserfahrungen behauptet; vielmehr zielt die Kritik auf eine darin enthaltene und m. E. zu einfache Wechsel- oder gar Tauschlogik, die längst Teil eines – auch pädagogisch dominanten – Musters der ‚Vorrangigkeit von Wertschätzung‘ geworden ist.

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4 Gedanke 3: Das ›Versprechen‹ der Anerkennung – eine kurze Dekonstruktion Der Begriff – man muss inzwischen sogar sagen: das Theorieprogramm – der Anerkennung spielt in den verschiedenen sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen, aber auch den erziehungswissenschaftlichen Debatten eine seit einigen Jahren erheblich zunehmende Rolle (Honneth 2018; Nothdurft 2007; Röhr und Ricken 2018). Dabei wird weitgehend ausnahmslos auf die Arbeiten von Axel Honneth verwiesen, der bereits Anfang der 1990er Jahre (Honneth 1990) – insbesondere in seiner Habilitationsschrift ‚Kampf um Anerkennung‘ (Honneth 1992) – die Grundlinien einer spezifischen anerkennungstheoretischen Argumentation skizziert und dadurch eine inzwischen ausgesprochen breite und interdisziplinär verfasste Debatte angestoßen hat. Kern seiner Argumentation ist dabei die Behauptung, dass ‚Anerkennungserfahrungen‘ – insgesamt verstanden als mehrdimensional verfasste und ebenso erfahrene wie gewährte „Affirmierung von positiven Eigenschaften menschlicher Subjekte oder Gruppen“ (Honneth 2004, S. 55) – als „praktische Bedingung eines positiven Selbstverhältnisses“ (Honneth 2003b, S. 308) gelten können und insofern Bedingungen „intakter Identität“ (Honneth 2003a, S. 209) und der „Möglichkeit der Verwirklichung von individueller Autonomie“ (Honneth 2003a, S. 213) darstellen (vgl. zur Rekonstruktion der Theoriefigur Honneths und ihrer Kritik aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive die Arbeit von Balzer 2014). In den Debatten zum Problem der Anerkennung sind viele Aspekte der Anerkennungstheorie aufgegriffen und diskutiert worden – z. B. die Frage der Performativität oder Affirmativität bzw. der Attribution oder Responsivität insbesondere in den Diskussionen mit Heikki Ikäheimo (Ikäheimo 2002, 2014) und Arto Laitinen (Laitinen 2002) oder die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit in der Auseinandersetzung mit Nancy Fraser (Fraser und Honneth 2003). Ich möchte mich hier heute – wir haben das an anderer Stelle im Zusammenhang eines ethnografischen Projekts zur ‚Sprachlichkeit der Anerkennung‘ ausführlicher getan (Ricken et al. 2017) – auf diese beiden Aspekte des Verständnisses von Anerkennung beschränken und diese im Rahmen einer kurzen Dekonstruktion problematisieren. Ich beginne mit der Grundbedeutung von ‚Anerkennung‘ als „positiver Wertschätzung und Bestätigung“ (Honneth 2004, S. 55), wie sie für Honneth

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im ‚Originalmodus‘ leitend geworden ist5; denn auch wenn mit dieser Fassung eine der Grundintuitionen auch des lebensweltlichen Anerkennungsverständnisses aufgegriffen werden kann, so lässt sich diese auf Positivität bzw. positive Affirmation abstellende Bedeutungsfassung letztlich nicht durchhalten. Insbesondere Jessica Benjamin hat bereits Ende der 1980er Jahre entschieden darauf hingewiesen (Benjamin 1990), dass Anerkennung gerade nicht bloß als Wertschätzung und Bestätigung verstanden werden kann, sondern auch mit Blick auf Entzug und Versagung reformuliert werden muss. Ihr Argument zielt darauf, dass Anerkennung nur dann als relevant erfahren wird, wenn sie von jemandem kommt, der sich – auch und gerade in diesen Akten – als unabhängig erweist; erst in dieser – pointiert: dezentrierenden – Erfahrung erweist sich der und die andere als Andere und Anderer und kann insofern als relevante Andere überhaupt erst wahrgenommen werden – und damit gerade nicht bloß als Verlängerung der eigenen Wünsche. Sich als unabhängig zu erweisen aber meint, den zentrischen Anerkennungserwartungen von Kindern sich mindestens auch zu entziehen bzw. sich auch zu versagen – was dann, so Benjamin, aufseiten der Kinder ebenso bedeutsame Folgen hat und erhebliche Konflikte birgt. Die damit eröffnete doppelte Paradoxie aber, in einer anerkennungstheoretischen Perspektive von der Anerkennung anderer abhängig zu sein, um selbstständig sein bzw. werden zu können, und zugleich von Anderen abhängig zu sein, die sich als unabhängig erweisen (müssen), lässt sich nicht mehr einfach mit der eher linearen Logik von ‚Wertschätzung‘ und ‚Bestätigung‘ in einen Zusammenhang bringen. Darüber hinaus macht Benjamin schließlich darauf aufmerksam, dass Anerkennung auch missverstanden wird, wenn sie bloß als ein zentrisches Bedürfnis verstanden wird, Bestätigung durch Andere zu erfahren; folgerichtig formuliert sie, dass Anerkennung nicht nur das „Bedürfnis eines Selbst“, sondern auch das „Bedürfnis nach einem (anderen) Selbst“6 ist und insofern sowohl

5Hiervon

zu unterscheiden wäre der sog. „Elementarmodus“ bzw. der „existentielle Modus der Anerkennung“ (Honneth 2005, S. 60), demzufolge der ‚bestimmten Anerkennung‘ – also der „Wahrnehmung eines bestimmten Wertes der anderen Person“ (ebd.) – eine unspezifische(re) Form der Anerkennung vorausgehen müsse, die Honneth als „Anteilnahme“ (ebd., S. 59) bzw. intersubjektive Zuwendung und vorgängige Aufgeschlossenheit bezeichnet und als ‚elementare‘ Bedingung der „Bejahung von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten anderer Personen“ (ebd., S. 60) justiert. Diese (durchaus überraschende) Erweiterung hat Honneth im Rahmen einer für ihn notwendig gewordenen „Rezentrierung des Anerkennungsbegriffs“ inzwischen wieder zurückgenommen (Honneth 2008, S. 876). 6Ich nutze hier eine Formulierung Alexander Garcia Düttmanns, der in seinen Problematisierungen des ‚Kampfes um Anerkennung‘ die Doppelung von zentrischer und

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„Geliebt- bzw. Geachtet-werden-wollen“ als auch „selber lieben“ und „achten“ umfasst (Benjamin 1990, S. 83). Dieser zweite Bedeutungsstrang aber wird im Anerkennungsdiskurs kaum weiter aufgegriffen. Aber auch der zweite Gedanke des Grundverständnisses bei Honneth, dass nämlich Anerkennung Bedingung gelingender Autonomie sei,7 lässt sich nicht so einfach durchhalten: Im Rückgriff auf machttheoretische Arbeiten – z. B. die von Alexander Garcia Düttmann oder Judith Butler (Butler 2005; Butler 2009), die darauf aufmerksam gemacht haben, dass Anerkennung eine triadische Struktur markiert, insofern immer eine Identifizierung des Anderen ‚als jemand‘ impliziert und daher dann auch als identifizierende Festlegung diskutiert werden muss –, hat insbesondere Thomas Bedorf herausgearbeitet, dass Anerkennung grundsätzlich als ‚Verkennung‘ (Bedorf 2010) konzipiert werden muss. Die doppelte Einsicht, dass ich ebenso wenig derjenige bin, „als der ich anerkannt werden kann“, „wie derjenige, der ich bin, in der intersubjektiven Relation abgebildet zu werden vermag“ (Bedorf 2010, S. 125), führt – und zwar notwendigerweise und nicht bloß unglücklicherweise – dazu, „dass jede Anerkennung den Anderen als Anderen […] verkennt, weil sie ihn ›bloß‹ als diesen oder jenen Anderen in das Anerkennungsmedium integrieren kann“ (Bedorf 2010, S. 145). Und das gilt nicht nur für all die Anerkennungsakte, die den oder die Anderen – sei es aufgrund jeweiliger Unkenntnis oder gar Unsensibilität – offensichtlich verfehlen, sondern auch für die vermeintlich „erfolgreiche Anerkennung“, weil sie den Anderen „zu einem identifizierten Anderen“ machen muss und „diese [zugeschriebene] Identität die Andersheit des Anderen notwendigerweise limitiert“ (Bedorf 2010, S. 146). In dieser Dekonstruktion einer einfachen, linear strukturierten und positiv kennzeichenbaren ‚Anerkennung‘ zerbricht aber auch etwas, was das ‚anerkannte Subjekt‘ selbst betrifft. Wer in seinem eigenen ‚Selbst‘ elementar – und nicht bloß ergänzend oder gar nachträglich – auf Andere angewiesen ist, wer darin nur

dezentrischer sowie auch konstativer und konstitutiver Anerkennung entwickelt hat; vgl. dazu ausführlicher García Düttmann (1997, S. 52). 7Dieser Figur liegt ein lebensweltlich sehr beharrliches Selbstverständnis zugrunde, demzufolge andere dann angemessen anerkannt werden könnten, wenn man mit sich selbst ‚im Reinen‘ sei. Unterstellt wird jedoch dabei eine Logik, in der erst das Selbst ‚ist‘, um sich dann auf andere positiv beziehen zu können – eine Figur, in der Anerkennung letztlich nur instrumentell, nämlich als Mittel zu einem (anderen) Zweck und als Phase (nicht aber als strukturelles Medium) gedacht wird (vgl. Ricken 2006, S. 222 f.).

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als Differenz – von Anderen und sich selbst Wahrgenommenes – sich selbst verstehen kann, und sich darüber hinaus von Anderen erlernt bzw. erlernen muss, die ihn und sie gar nicht positiv erkennen und anerkennen können, sodass die Möglichkeit einer ungebrochenen Identität sich als illusionär erweisen muss, dem müssen traditionelle Selbstverständnisse (wie z. B. Souveränität) als geradezu ‚entfremdende‘ Kategorien erscheinen; man mag sie als ‚regulative Ideen‘ verstehen und als unerreichbar einschätzen, sie bestätigen doch nur die Zerrissenheit des Selbst – und das dadurch potenziert entstehende Defizitgefühl (Ricken 2002). Theoretisch gesprochen wird aber fraglich, ob ein auf die Anerkennung anderer angewiesenes Subjekt sich so einfach noch in Kategorien der Autonomie und Selbstbestimmung ausbuchstabieren kann (Ricken 2009). Nimmt man nun beide Kritiken zusammen, dann wird deutlich, dass sowohl das Phänomen des Anerkennens selbst als auch das des Zusammenhangs von Fremd- und Selbstverständnissen vermutlich mindestens differenzierter bzw. kategorial doch anders gefasst werden müsste. Zu zeigen versucht habe ich dadurch, dass der anerkennungstheoretische Hintergrund des Stichworts ‚negative Anerkennungsbilanz‘ doch erheblich komplizierter und v. a. paradoxer strukturiert ist, sodass das ‚Versprechen der Anerkennung‘, wie es bei Burkard Liebsch dann heißt, oft eines zu sein scheint, das gar nicht recht einlöst und einlösen kann, was es verspricht – und dadurch gewissermaßen zu einem ‚verfehlten Versprechen‘, einem ‚Ver-Sprechen‘ bzw. ‚Ver-Sprecher‘ wird (Liebsch 2016).

5 Gedanke 4: Die Falle der Individualisierung Die bisher entwickelten Überlegungen bieten einen – wie ich meine – eher abstrakten und konstitutionstheoretischen Gedanken an, bei dem noch nicht so richtig absehbar ist, wie diese Problematik mit der Ausgangsfrage nach der Gewalt zusammenhängen könnte. Bettet man aber den hier auch nur in seinen Kernargumenten angedeuteten Gedankengang wieder ein in seine sozialen Zusammenhänge, dann zeichnet sich möglicherweise ein anderes Bild – auch mit Blick auf das Problem der Gewalt – ab. Leitfaden dieser sozialen Kontextuierung ist dabei eine gesellschaftstheoretische Justierung, die ich mit dem Stichwort der ‚Individualisierungsfalle‘ zu markieren versuche8.

8Damit

sollen gesellschaftstheoretische Diskurse (wieder-)aufgegriffen werden, die – im Kontext der Theorie reflexiver Modernisierung (exemplarisch Beck et al. 1996) – die Krisen, Ambivalenzen und Paradoxien gesellschaftlicher Modernisierung problematisiert

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Gemeint ist damit ein doppelter Zusammenhang: Sehr grob formuliert bezeichnet ‚Individualisierung‘ – folgt man Ulrich Beck – zunächst den überaus ambivalenten Zusammenhang von Enttraditionalisierung und Wiedereinbindung der Individuen (Beck 1986); verbunden damit ist auch die Ambivalenz von zunehmender ‚Freisetzung‘ durch ‚Enttraditionalisierung‘ und ‚soziale Entbindung‘ bei gleichzeitiger – und umso schonungsloser fungierender – Sozialbindung und (oft nun abstrakter bzw. systemischer) Abhängigkeit, sodass die Soziologie nicht müde wird, die Ambivalenz der ‚Individualisierung‘ zu betonen und Interpretationen als ungetrübte ‚Freiheitsgewinne‘ als Missverständnisse zurückweist. Verknüpft man aber diese Bestimmung nun doch mit einem – wie ich meine: unabweisbaren – zweiten Bedeutungsstrang, nämlich dass ‚Individualisierung‘ sich nicht trennen lässt von zunehmend auf Autonomie und Identität des Selbst abstellenden menschlichen Selbstbeschreibungen, dann ließe sich vielleicht plausibilisieren, was mit ‚Individualisierungsfalle‘ hier gemeint sein könnte: Während die mit Individualisierung verbundene, gleichzeitige und oft nur widersprüchlich erfahrbare Freisetzung und (systemische) Wiedereinbindung von Menschen gemeinhin als „Individualisierungsparadox“ (van der Loo und van Reijen 1992, S. 194) bezeichnet wird, kann von einer ‚Falle‘ erst dann gesprochen werden9, wenn die mit diesen Prozessen verbundenen Autonomieund Identitätserwartungen und –zumutungen nicht nur verfehlt bzw. enttäuscht werden (müssen), sondern selbst systematisch befördert und untergraben werden. Anders formuliert: Die Steigerung von Autonomie– und Identitätserwartungen, – wünschen und auch –zumutungen auf der einen Seite und die Erfahrungen, das – und d. h. diese versprochene bzw. suggerierte Vollständigkeit und Unabhängigkeit – gerade nicht zu erreichen bzw. auch gar nicht erst erreichen zu können auf der anderen Seite, verknüpfen sich notwendig mit zahlreichen (und durch

haben und auf eigentümliche Weise durch veränderte gesellschaftliche Entwicklungen – z. B. der der Globalisierung – verstummten bzw. gar als obsolet betrachtet wurden (wie z. B. die überzeugende Arbeit von Kaus Wahl zur ‚Modernisierungsfalle‘, Wahl 1989) – und nun nach dem sich abzeichnenden ‚Ende des Neoliberalismus‘ erneut auftauchen und beunruhigen. 9Während mit einer ‚Paradoxie‘ üblicherweise die notwendige Gleichzeitigkeit und Unauflösbarkeit eines Widerspruchs bezeichnet wird, ließe sich von einer ‚Falle‘ dann sprechen, wenn die mit einer ‚misslichen‘ (z. B. widersprüchlichen) Situation verbundenen – d. h. aus ihr resultierenden und sie auch weiterhin orientierenden – Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen (sprich: Habitusformationen) dazu beitragen, dass die Situation sich ‚vertieft‘ bzw. ‚verschlimmert‘.

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die Semantik der Individualisierung gesteigerten) Mangel- und Defizitgefühlen der Individuen, die sich dann auch in m. E. gesteigerten Sehnsüchten nach Anerkennung durch Andere und einer wachsenden Empfindlichkeit gegenüber Anderen, nicht genügend gesehen zu werden bzw. übergangen oder gar missachtet zu sein, niederschlagen können. In dieser Logik aber befördern Individualisierungsprozesse zunehmend zentrische Haltungen (z. B. in dem Bedürfnis, anerkannt zu werden), die zugleich das, was Anerkennung ermöglicht und erfahrbar macht – nämlich sich in einer eher dezentrischen Haltung Anderen zuzuwenden –, als Praktik mindestens erschweren wenn nicht gar strukturell verunmöglichen. Das etwas saloppe Stichwort der ‚Individualisierungsfalle‘ meint daher die paradoxe Erhöhung individueller Versprechungen, Ansprüche und Zumutungen bei gleichzeitiger Aushöhlung ihrer auf Sozialität ausgerichteten Verwirklichungs- und Erfahrensbedingungen; damit meine ich zwar auch gesellschaftliche Strukturen und Sozialformen, aber doch zunächst einmal auf Sozialität gerichtete habituelle Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster. Pointierter formuliert: Individualisierung befördert eine Zentrik (des Selbst), d. h. eine Haltung, die Welt auf sich zu beziehen und als ‚Umwelt‘ zu verstehen, die – auch angetrieben durch systemische Abhängigkeitserfahrungen – in ein ‚Gefühl der Missachtung‘ umschlagen kann, je stärker diese zentrische Orientierung wirkmächtig wird. So erzeugt ‚Individualisierung‘ Anerkennungssehnsüchte und Mangelerfahrungen gleichzeitig bei gleichzeitiger irreführender Weichenstellung – nämlich mit noch mehr Zentrik auf die Erfahrung zu reagieren. Die gegenwärtige Konjunktur der ‚Anerkennung‘ wäre dann vielleicht sogar beides: Nämlich Diagnose (und Gefühl) eines Mangels an Sozialität, Zugehörigkeit und Bindung sowie zugleich Motor des Problems zunehmender Zentrik in sozialen Interaktionen. Dass es daher mit der einfachen Forderung nach mehr Anerkennung, wie es im Gewaltdiskurs vorgetragen wird, nicht getan ist, ist vielleicht jetzt plausibler; dass aber Anerkennungserfahrungen konstitutiv bedeutsam sind, ist unbestritten.10 Die ‚Illusion‘ der Anerkennung könnte daher darin bestehen, dass sie auch gesellschaftlich mehr verspricht, als sie zu halten in der Lage ist; zugleich neigt sie dazu, die gesellschaftlichen Strukturmomente der gegenwärtigen Krise(n) zu vertiefen.

10Entscheidend

dürfte daher sein, wie Anerkennung nach dieser Dekonstruktion noch gefasst werden kann; in unseren Überlegungen zur „Sprachlichkeit der Anerkennung“ haben wir dazu einen ersten Vorschlag formuliert; vgl. (Ricken et al. 2017, S. 216–218).

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6 Gedanke 5: Vulnerabilität und das Problem der Gewalt – ein Schlussgedanke Die vorgetragenen Überlegungen mögen noch eher freihändig und bisweilen auch latent zeitdiagnostisch vorgetragen worden sein (zur Problematik von Zeitdiagnosen Wittpoth 2001); sie sind daher – und das nicht nur grundsätzlich – in besonderer Weise angreifbar. Mit ihnen wollte ich aber den Versuch unternehmen, mich mithilfe der Unterscheidung von Zentrik und Dezentrik mit dem Problem der Gewalt auseinanderzusetzen. Dabei verstehe ich unter ‚Dezentrik‘ ein Strukturmoment menschlicher Verfasstheit, das sich als Ver- und Angewiesenheit des Selbst auf Andere, als Bindung an und Empathie mit anderen oder gar als Exposition, wie dies Judith Butler formuliert hat,11 verstehen lässt und zur uns geläufigen Zentrik unserer Existenz nicht bloß additiv hinzutritt, sondern diese von Anfang an durchzieht (und umgekehrt). Dezentrik meint daher immer auch Verletzbarkeit oder Vulnerabilität, wie es seit einigen Jahren nun heißt (Burghardt et al. 2017); sie lässt sich nicht einfach in Autonomie und Identität übersetzen bzw. überführen und erfordert daher ein anderes, nämlich dezentrisches bzw. zentrischdezentrisches Verständnis menschlicher Subjektivität (Ricken 2009). Mit ‚Anerkennung‘ scheint mir dann ein durchaus passendes Theorem er- und ausgearbeitet vorzuliegen, wenn die in ihr rekonstruierbare, strukturell dezentrische Logik eigens mitbedacht und entfaltet wird – und nicht bloß im Rahmen individual- und autonomietheoretischer Traditionslinien zum Verschwinden gebracht wird.

11In

ihren subjektivations- und anerkennungstheoretischen Arbeiten erläutert Butler ihr durchaus eigenwilliges Konzept einer ‚relationalen Subjektivität‘, d. h. einer auf andere bezogenen und durch andere konstituierten Subjektivität, wie folgt: „Es würde nicht einmal ausreichen zu sagen, daß ich eine relationale Sicht des Selbst befürworte anstelle einer autonomen Sicht oder daß ich versuche, Autonomie unter dem Aspekt der Relationalität neu zu beschreiben. Obwohl ich zu dem Begriff der Relationalität neige, benötigen wir vielleicht doch eine andere Sprache […], um darüber nachzudenken, in welcher Weise wir durch unsere Beziehungen nicht nur begründet, sondern durch sie auch enteignet werden“ (Butler 2005, S. 41). Mit ‚Verletzbarkeit‘ einerseits und ‚Ekstase‘ bzw. Begehren andererseits versucht sie, die Ausgesetztheit des Selbst den Anderen gegenüber, das damit verbundene ‚Außer-sich-Sein‘ (ebd., S. 41) als eine gerade nicht harmonische, nicht durch relationale ‚Ringverweise‘ des einen auf die andere und zurück gekennzeichnete dezentrische Struktur zu kennzeichnen, die mit den aufklärerisch eingewöhnten Verständnissen von Subjektivität als einem ‚Sich-zugrunde-Liegen‘ bzw. ‚Bei-sich-Sein‘ nicht mehr in Deckung zu bringen sind (auch Butler 2008 sowie Ricken 2018).

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Mit Blick auf die ›Frage der Gewalt‹ aber ließe sich dann auch bedenken, ob und inwieweit diese nicht verknüpft ist mit dem Problem der Dezentrik – dies hatten zumindest die Sortierungen bei Jan Philipp Reemtsma nahegelegt (Reemtsma 2013). Solchermaßen justiert könnte ‚Gewalt‘ als doppelte Antwort auf herausfordernde und nicht verarbeitbare ‚Dezentrik‘ gelesen werden – und zwar sowohl als Versuch, sich dieser, auch gesellschaftlich nicht sonderlich geachteten Form des Selbst (Stichwort: Vulnerabilität) zu entledigen, sich also zu schützen und als stark zu erweisen, als auch ebenso als wachsende Haltung, unfähig zu sein, mit der dezentrierenden Logik Anderer umzugehen, die halt anderes und andere wollen, als ich es will. Gerade die Konfrontation mit anderen, die nicht nur Andere (als ich), sondern auch andere, zugleich nicht hintergehbare, aber doch angewiesene Selbst-Bezüglichkeiten sind, birgt das Dilemma, die anderen nicht bloß als getrennte Andere oder anhängige Selbe denken zu können – ein Dilemma mit erheblichem Konfliktpotenzial, wenn man die dezentrierende bzw. enteignende Logik (Butler) mitdenkt. Gewalt wäre dann nicht nur Ausdruck einer vermeintlich ungebrochenen zentrischen Orientierung, sondern – fast im Gegenteil – der Versuch, der strukturellen und insofern nicht negierbaren Dezentrik des Selbst mit und durch Andere doch irgendwie zu entkommen. Anders gefragt: Wie viel Bewusstsein eigener Unsicherheit, Unvollständigkeit und Angewiesenheit ist nötig, um nicht Gewalt als Lösung zu sehen? Vielleicht wäre es nun sinnvoll, die anfänglich zitierte Codierung von Gewalt zwischen Vernunft und Angst umzudrehen und Gewalt stärker mit Zentrik – und nicht nur mit Dezentrik, wie in den Verunsicherungs- und Angstdiagnosen – zu verbinden. Unstrittig ist sicherlich, dass Anerkennungserfahrungen – also Bedeutung für Andere zu haben, die sich auch als unabhängig erweisen – darin eine große Rolle spielen. Die offene Frage wäre dann, wie viel Dezentrik uns das Problem der ›Anerkennung‹ eigentlich – vermutlich ja auf beiden Seiten des Anerkennungsverhältnisses – abverlangt, und wie wir Dezentrik akzeptieren, sozial praktizieren und (auch pädagogisch) befördern können. Klar wäre vermutlich nur, dass dies kaum bloß durch eine (auch schulische) Steigerung der Praktiken der Individualisierung gelingen kann.

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Zur Faszinationsgeschichte der Gewalt: Vermittlungen des Unvermittelbaren Jörn Ahrens

1 Einleitung Es gibt ein Paradox der Gewalt, das für die Gesellschaften der Moderne nicht nur grundlegend, sondern unterdessen so sehr normalisiert ist, dass es in diesen lebensweltlich und sozialstrukturell gleichermaßen kaum mehr als solches wahrgenommen wird. Gewalt als Praxis gesellschaftlichen Handelns, als Modus von Interaktionen, als Grundlage von Institutionalisierungsleistungen und der Implementierung sozialer Machtbeziehungen, sollte hier nach Maßgabe einer zweckrational ausgerichteten Vergesellschaftungspraxis konzeptionell und programmatisch für die Individuen außerhalb des Vorstellbaren liegen – auch wenn ihre Verwendung als Instrument sozialen Devianzhandelns natürlich weiterhin im Bereich des Möglichen liegt. Diese Differenz zwischen möglichen und vorstellbaren Handlungen ist von einiger Bedeutung für das Selbstverständnis von Vergesellschaftung, weil Gesellschaft ganz wesentlich darauf aufbaut, dass Individuen im Zuge von Institutionalisierung, Konventionalisierung und Normativierung grundsätzlich vorhandene Kompetenzen abgeben respektive auf deren Einsatz verzichten. Gesellschaft als eine nicht nur lebensweltlich effektive Ordnung der Dinge kann nur dann funktionieren, wenn alle darin befassten Individuen sich einem bestimmten Set an Rahmenregulierungen integrieren, die sie umgekehrt erst dazu befähigen, auch handelnde Subjekte in Gesellschaft zu werden. In seiner Theorie der Strukturierung fasst Anthony Giddens beide Momente höchst instruktiv zusammen, indem er zeigt, dass sich soziale Akteure „in ihrem J. Ahrens (*)  Justus-Liebig-Universität, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_6

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Alltagshandeln […] immer und notwendig auf die strukturellen Momente übergreifender sozialer Systeme [beziehen], welche strukturellen Momente sie so zugleich reproduzieren“ (Giddens 1988, S. 76). Die von Popitz noch als „höchst merkwürdig“ etikettierte Leistung, dass Menschen überhaupt „ihr Verhalten sozial binden, sozial verbindlich machen“ (Popitz 2006, S. 61), geht demnach auf den Umstand zurück, dass soziale Strukturen faktisch selbst flüssig sind, nur als „Praktiken realisiert“ werden und das Verhalten der handelnden Individuen „als Erinnerungsspuren […] orientieren“ (Giddens 1988, S. 69). Gesellschaft funktioniert wesentlich über in solchen Praktiken erzielte Routinen, die das Vertrauen in die Kontinuität und Verlässlichkeit einer sozialen Realität generieren (Ahrens 2017, S. 78–79). Die Entlastung in der Integration besteht darin, Konventionen nicht mehr, oder nur noch in Ausnahmefällen, verhandeln zu müssen. Im Rahmen allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Konventionen sind deshalb bestimmte Handlungen nicht mehr vorstellbar, weil sie nicht länger Teil einer lebensweltlich akzeptierten Realität sein können (Ahrens 2017, S. 297–301). Umgekehrt sind aber weiterhin grundsätzlich alle Möglichkeiten vorhanden, diejenigen Kompetenzen potenziell einzulösen, auf die individuell und zugunsten von Vergesellschaftungsanforderungen verzichtet wird. Die Ausübung von Gewalt als Handlungsressource gehört hierzu. Sie wäre grundsätzlich jederzeit möglich, ist aber über soziale Institutionalisierungs- und Normierungsleistungen so stark domestiziert, dass ihre lebensweltliche Anwendung weitgehend außerhalb des sozial Vorstellbaren liegt. Davon unterschieden werden muss jedoch das kulturell Vorstellbare: Im Rahmen kultureller Erzählungen und Artefakte wird Gewalt sogar ausgesprochen häufig in Szene gesetzt. Als soziale Praxis muss Gewalt heute als das eigentlich Verfemte in Gesellschaft und Kultur gelten und hat, wie unlängst Hartmut Böhme (2012) festgestellt hat, dem Sex unterdessen den Rang abgelaufen. Letzterer hat kaum mehr die Kraft, in Gesellschaft und Kultur zu provozieren, weil der gesellschaftliche Alltag einerseits stark geprägt ist von einer Ästhetik der Sexualisierung oder Erotisierung und andererseits die institutionalisierte Toleranz gegenüber Devianz im Kontext von Sex mittlerweile sehr breit aufgefächert ist. Anders verhält es sich im Fall von Gewalt, die, tritt sie doch einmal unmittelbar physisch in Erscheinung, rasch als Provokation sui generis für die individuelle Integrität der Betroffenen, die geltenden moralisch-ethischen Standards und die Legitimität der sozialen Ordnung erscheint. Schon deshalb bleibt Gewalthandeln in den wenigsten Fällen unsanktioniert. Im Unterschied zum Sex gibt es an der Gewalt vordergründig nichts, das sozial positiv besetzt wäre. Gewalt gilt als destruktiv, inhuman, irrational, anti-sozial, während dem Sex ein Genuss und eine Ästhetik innewohnen, die seinen lebensweltlichen Präsenzformen enormen Spielraum

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verleihen. Der Sex ist soweit individualisiert, dass er tendenziell, wenngleich sicher niemals vollständig und teilweise verlogen, denormativiert wird. Auf dem Feld des Sexes, ließe sich sagen, hat die Praxis der Dekonstruktion immense Erfolge zu verzeichnen, vielleicht sogar nur dort – als Praxis in der Gesellschaft ist der Sex heute dekonstruiert. Ganz anders die Gewalt, die nach wie vor umsichtig, sorgfältig und äußerst wachsam mit Restriktionen umgeben wird, die normativ extrem frühzeitig über Ethik und Moral reguliert und reglementiert wird und die in der Gesamtheit ihrer Formen weitestgehend aus Gesellschaft und Kultur exkludiert werden soll. Das Ziel von Vergesellschaftung ist so gesehen die komplette Abwesenheit von Gewalt aus allen lebensweltlichen und sozialstrukturellen Vollzügen. Das dies in dieser Vollständigkeit nicht möglich sein wird und Gewalt immer auch Bestandteil ihrer Wirklichkeit bleiben wird, ist Gesellschaft durchaus bewusst, bleibt aber dennoch das erklärte Ziel von Vergesellschaftung, um die beabsichtigte Exklusion wenigstens maximal effektiv durchzusetzen. Dies entspräche jedenfalls der Programmatik einer nicht unerheblich über Techniken der Gewaltdomestikation legitimierten Vergesellschaftung. Im Folgenden werde ich zunächst auf das immer prekär bleibende Verhältnis von Gesellschaft und Gewalt reflektieren (1). Daran anschließend werde ich das Konzept der „Faszinationsgeschichte“ im Anschluss an Klaus Heinrich vorstellen (2) und ausführen, dass eine Faszinationsgeschichte der Gewalt primär über Bilder von dieser Gewalt getragen ist, die außerdem in der Rezeption als „böse“ identifiziert werden (3). Zuletzt möchte ich ausführen, dass auch in der Gegenwart das Faszinationsmotiv entlang von Bildgebungen verläuft, außerdem aber eine performative Qualität erlangt.

2 Gewalt und Gesellschaft Dass die Exklusion von Gewalt aus den gesellschaftlichen Vollzügen weder innerhalb des Vergesellschaftungsprozesses noch bezüglich kultureller Praktiken funktioniert, bleibt jedoch, auch wenn sie als nicht durchsetzbar bewusst gehalten wird, beständig ein Problem. Aus dem scheinbaren Antagonismus zwischen dem sozial Vorstellbaren und dem faktisch Möglichen resultiert jenes Paradox, das für die letztlich massive Präsenz der Gewalt in der Gesellschaft der Gegenwart und ihre gleichzeitige Verfemung charakteristisch ist. Ohne jeden Zweifel ist und bleibt Gewalt trotz aller gegenteiligen Anstrengungen und gesellschaftspädagogischen Programmatiken ein nicht unwesentlicher Teil der kulturellen und gesellschaftlichen Realität. Ohne das Devianzphänomen Gewalt

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ist Gesellschaft, auch wenn dies im Sinne von Vergesellschaftung kaum als wünschenswert erscheint, nicht denkbar. Zwar beziehen sowohl Gesellschaft als auch Kultur einen Großteil ihrer Legitimation daraus, die lebensweltliche Präsenz manifester Gewalt innerhalb der alltäglichen Lebenswelten ihrer Individuen denkbar gering zu halten und beziehen genau daraus ihre erfolgreich scheinende Durchsetzung von Kontinuität, Vertrauenswürdigkeit, Sicherheit und weitgehender struktureller Gefahrlosigkeit. Dennoch ist Gewalt als Bestandteil einer alltagsweltlichen Normalität zu keinem Zeitpunkt wirklich aus der Gesellschaft exkludiert gewesen. Ohne Gewalt zu leben, ist nach wie vor und in allen Gesellschaften ein immenses soziales Privileg. Vielmehr stellt Gewalt fortlaufend eine nicht zu unterschätzende Variable innerhalb dieser Normalität dar (Ahrens 2017, S. 73–77). Gesellschaftliche Wirklichkeit basiert sogar ganz wesentlich auf der grundsätzlich immer vorhandenen Möglichkeit von Gewalt als einer zunächst schlicht vorhandenen, gewissermaßen anthropologisch angelegten Kompetenz der Subjekte. Schon weil es Menschen rein physisch möglich ist, Gewalt anzuwenden, bleibt diese auch eine Größe im Haushalt von Vergesellschaftung, mit der gerechnet werden muss. In jedem Fall folgt Vergesellschaftung erst auf die schon vorhandene und niemals negierbare Realität von Gewalt als einer Option individuellen, sozialen Handelns. Zumal, wie Heinrich Popitz hervorhebt, es sich bei der Anwendung realer Gewalt um eine „Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses“ (Popitz 1999, S. 48) handelt, das nämlich stark „instinktentbunden“ und weitgehend befreit „von Handlungszwängen und Handlungshemmungen“ (Popitz 1999, S. 48) sei, also im Rahmen individueller Verfügbarkeiten und Entscheidungen liegt. Zu verzeichnen ist daher zunächst eine Freisetzung der Gewalt als physische Möglichkeit, und diese Freiheit mündet in die Notwendigkeit ihrer Vergesellschaftung. Popitz‘ klassisch gewordenes Fazit lautet: „Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten“ (Popitz 1999, S. 50). Es handele sich bei Gewalt um eine Jedermannsressource, weshalb sich der Gesellschaft die Aufgabe stelle, deren individuell gestalteten Einsatz einzugrenzen und zu gestalten. Die Präsenz von Gewalt in der Gesellschaft stellt daher die Herausforderung von Vergesellschaftung schlechthin dar, allgemein verlässliche Sicherheit und Normativität gegen zugleich soziale und anthropologische Kompetenzen der Individuen durchzusetzen, die jederzeit abrufbar wären und anzeigen, was Menschen eigentlich tun könnten. Gewalt formuliert einen Konjunktiv latenter Bedrohungslagen für jede gesellschaftliche Normalität. Insofern bleibt Gewalt immer, mindestens als normative Negativgröße, als maßgebliche Variable im Rahmen von Vergesellschaftung präsent. Popitz macht daher auch auf einen weiteren Umstand aufmerksam, der in diesem

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Zusammenhang bedeutsam ist und die ungebrochene Präsenz von Gewalt in Gesellschaft und Kultur verdeutlicht. Die „Normgebundenheit sozialen Verhaltens“ (Popitz 2006, S. 61), hebt er hervor, bedeute vor allem, dass „soziale Situationen mit bestimmten Alternativen belastet sind, die auf irgendwelchen Verabredungen zu beruhen scheinen; Verabredungen, von denen man nicht recht weiß, wer sie eigentlich getroffen hat“ (Popitz 2006, S. 61). Es gibt immer eine Alternative zur Norm; die Möglichkeit, die eigentlich verfemte Handlung zu wählen, bleibt stets in der Latenz, Realität werden zu können. Die Begründung der Norm wiederum bleibt notwendigerweise unvollständig, unzureichend, weil sie notwendigerweise artifiziell ist. Im Umkehrschluss beruht die Wirklichkeit der Gesellschaft auf einer Art Versprechen der sozialen und kulturellen Institutionen zur Eingrenzung, Domestizierung und Neutralisierung der Gewalt. In seinen Überlegungen zu den allgemeinen Konstitutionsbedingungen der Moderne schließt Jan Philipp Reemtsma hier an und stellt fest, Menschen würden auf das Mittel der Gewalt zurückgreifen, weil sie die Freiheit besäßen, dies zu tun; jede Gewalthandlung bedeute insofern auch, dass zuvor eine Entscheidung über den Einsatz von Gewalt getroffen wurde (Reemtsma 2000, S. 131). Die Anwendung der Gewaltkompetenz, heißt das, hängt letztlich am Subjekt. Sie meint im Kern ein Handeln, das sich gegen Vergesellschaftung richtet. Gerade deshalb sei umgekehrt „die Gewaltabstinenz das entscheidende Moment der gesellschaftlichen Kohäsion in der Moderne“ (Reemtsma 2009, S. 99). Insofern verstetigen sich die vielfältigen gesellschaftlichen Bemühungen, Gewalt in ihrer realen Präsenz in Gesellschaft möglichst effektiv zu begrenzen und zu minimieren und so zumindest eine weitestgehend gewaltfreie Normalität gesellschaftlicher Alltagswirklichkeit und damit auch eine Kontinuität der Verfasstheit sozialer Wirklichkeit zu gewährleisten. Vergleichsweise früh hat, mit Blick auf derartige Problemlagen, Zygmunt Bauman nicht nur die Moderne durch eine scharf akzentuierte Ambivalenz gekennzeichnet gesehen, sondern auch „die große Vision der Ordnung“ als metaphysisches Element der Moderne angezeigt (Bauman 1992, S. 26). Soziale Ordnung könne erst dann zum Thema werden, wenn zu Bewusstsein gelange, wie wenig selbstverständlich diese Ordnung sei und keineswegs natürlichen Ursprungs, sondern selbst eine eminent soziale Leistung ist: „Ordnung als Problem tauchte erst im Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung auf, als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken“ (Bauman 1992, S. 18). Das „Andere der Ordnung“, gerade als ganz unkonkretes, der Imagination überlassenes „Miasma des Unbestimmten und Unvorhersagbaren“ (Bauman 1992, S. 19) scheine hinter jedem Ordnungsversuch immer schon auf, und eine

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mögliche Akzentuierungsform dieses Anderen ist natürlich immer die Gewalt. Das daraus resultierende Bestreben nach einer gesellschaftlichen Einhegung der Gewalt, deren konsequente und langfristig erfolgreiche Deckelung durch Muster der Vergesellschaftung, normative Institutionalisierungen und Konventionen und kulturelle Bearbeitungen führt in der Konsequenz vor allem dazu, dass innerhalb der Gesellschaft gewissermaßen Reservate der Gewalt bereitgehalten werden. Wenngleich sublim organisiert und nicht unbedingt als solche kenntlich gemacht, erlauben es diese Sondertopografien des Sozialen vor allem dem Einzelnen, eine letztlich explizite Gewaltperformativität auszuleben. Norbert Elias und Eric Dunning haben dies bekanntlich für den Sport gezeigt (Elias und Dunning 2003). Zugleich kann eine immense Präsenz von Gewalt in der Kultur ausgemacht werden. Gewalt stellt offenbar ästhetisch, dramaturgisch und narrativ ein bedeutendes Element der Generierung von Kulturinhalten dar. Bekanntlich ist Kultur ganz wesentlich Angstbewältigung einerseits (Böhme 2000, S. 223) und, damit verbunden, Sublimierung der Potenzialität, mithin der Latenz von Gewalt andererseits (Freud 1974; Popitz 1999). Insofern nimmt Kultur Möglichkeiten der Gewalt auf und übersetzt diese in Imaginationsleistungen (Ahrens 2012, S. 270–271) von Gewalt. In ihrer ebenso transzendierten wie insbesondere auch ästhetisierten Form als Bild oder Narrativ kann Gewalt dann ein wesentlicher Bestandteil des performativen und symbolischen Kanons von Kultur werden. Demgegenüber bleibt das Erscheinen einer als illegitim erfahrenen Gewalt innerhalb der sozialen Lebenswelten von eher sekundärer Bedeutung. Dies wären jene Formen von Gewalt, die als so deviant etikettiert werden müssen, dass sie den üblichen Zugriffen einer gesellschaftlichen Normalisierung, auch und gerade einer in Gesellschaft immer präsenten Devianz, nicht mehr zugänglich sind. Solche Aktionen einer den Möglichkeitsspielraum selbst ausgeprägtesten Devianzverhaltens noch überschreitenden Gewalt sind in jedem einzelnen Fall enorm erschütternd (etwa bei Terroranschlägen oder Amokläufen) und ziehen auch unmittelbar soziales Angstverhalten nach sich. Sie werden aber letztlich als Risikoelement innerhalb einer weitgehend verlässlich strukturierten, lebensweltlichen Normalität hingenommen. In der Regel gehen wir sogar mit dem größten Vertrauen davon aus, dass nicht wir es sein werden, die zum Objekt devianter Gewalt werden, so unwahrscheinlich erscheint uns deren Eintreten normalerweise. Angesichts der Funktionalität von Gesellschaft, der durch ihre Ordnung kommunizierten Kontinuität, Verlässlichkeit und Sicherheit, wird die unvermeidbare Kontingenz extremer Gewalt dann durchaus akzeptiert.

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Die eigentlich relevante Präsenz von Gewalt in der Gesellschaft und Kultur der Moderne ist daher gar nicht diejenige, die deren Ordnung infrage stellt und sich mehr oder weniger eindeutig als deviant identifizieren lässt, die regellos zuschlägt und nachhaltig die Normalisierungsrealität der Lebenswelt stört. Viel relevanter als diese, im Zweifelsfall natürlich gerade aufgrund ihrer Devianz, ihrer Unreglementiertheit und ihres Störungspotenzials äußerst spektakulären Formen der Gewalt, ist die in die Normalität von Gesellschaft eingepasste Gewalt. Nicht deren außergewöhnliche Variante ist in erster Linie bedeutsam, wenn es um eine Aufarbeitung des Verhältnisses der Gewalt zu Gesellschaft und Kultur geht, sondern bedeutsam sind ihre erfolgreich institutionalisierten, konventionalisierten, normalisierten Formen. Schließlich ist die triviale Feststellung, die ein Gros der in Gesellschaft angeregt bis erregt geführten Debatten über Gewalt befeuert, durchaus richtig: Wir sind umstellt von einer Präsenz der Gewalt, sozial, kulturell, insbesondere medial, die wegen ihrer Normalisierung und Konventionalisierung insbesondere im Rahmen kultureller Procedere lebensweltlich weitgehend nicht mehr wahrgenommen wird. Hier wäre anzusetzen, will man sich tatsächlich mit einer Faszinationsgeschichte der Gewalt befassen und nicht bloß mit deren offensichtlich die Normalität von Vergesellschaftung störenden Derivaten und der grundsätzlichen, wenngleich immer zentral bleibenden, Möglichkeit ihrer Anwendung.

3 Faszinationsgeschichte Den Begriff der ‚Faszinationsgeschichte‘ (Heinrich 1992) hat, in einem anderen Kontext als dem der Gewalt, der Berliner Religionswissenschaftler Klaus Heinrich entwickelt. Allerdings hat er ihn nie wirklich als Konzept ausgeführt, sondern es bei einer vergleichsweise groben Rahmensetzung belassen. In Absetzung zur „Realgeschichte“ verbindet sich für Heinrich damit dasjenige, „was fasziniert durch die reale Geschichte hindurch“ (Heinrich 1992, S. 15). In diesen Residuen eines kulturellen Faszinosums seien „unerledigte Konflikte, nicht ausgetragene Spannungen, ist das nicht gelöste Problem jeweils präsent“ (Heinrich 1992, S. 15). Hier liege insofern ein „Gattungssubstrat“ vor, als die Elemente der Faszination für „das Selbstverständigungsunternehmen der Gattung“ von größter Bedeutung seien (Heinrich 1992, S. 41). „Aufarbeitung der Faszinationsgeschichte“ (Heinrich 1992, S. 39) meint daher, die epistemologischen Tiefenschichten der Phänomene, des Gezeigten, speziell

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der kulturellen Artefakte herauszuarbeiten, die mittels ihrer Repräsentationsleistungen der Kultur in die Gegenwart scheinen. Kultur, ließe sich somit formulieren, ist in ihren ästhetisch-performativen Repräsentationsleistungen der maßgebliche Träger einer Präsenz von Gewalt in der Gesellschaft. Dasjenige, was imagologisch immer mittransportiert wird, wird hier dem Versuch einer Rekonstruktion unterworfen, der gewissermaßen eine Rezeptions- und Mentalitätsgeschichte des Faszinosums und der Einbildungskraft rekonstruieren will. Von einer Faszinationsgeschichte der Gewalt zu sprechen, heißt daher zunächst, für deren Präsenz in Kultur und Gesellschaft eine kulturelle Kontinuität festzustellen, die innerhalb der Kulturgeschichte, aber auch für die Formen von Vergesellschaftung nicht zwingend ein Ärgernis darstellt, wie man mit Blick auf das beständige Bemühen um eine soziale Exklusion von Gewalt meinen könnte. Gerade die ihr entgegengebrachte ethische und normative Ablehnung übersetzt die Positionierung von Gewalt in eine über Devianz bestimmte Triebkraft von Kultur und Gesellschaft. Gewalt verwirklicht sich darüber hinaus in zahllosen kulturellen Leistungen. Wenn Kultur mit Böhme wesentlich Bearbeitung von Angst ist, ist die auf Möglichkeiten der Gewalt bezogene Angst für ein Imaginäres der Kultur besonders bedeutsam. Sie hat über Techniken der Einbildungskraft insbesondere Anteil daran, den Horizont dessen zu formulieren, was für Arten und Intensitäten von Gewalt in welchen Feldern von Kultur und Gesellschaft im Allgemeinen als vorstellbar erscheinen und somit Teil einer repräsentativen Kultur werden. Das ist allein deshalb bedeutsam, weil Popitz zufolge, die „anthropologische Basis der Entgrenzung des Gewaltverhältnisses (…) die menschliche Vorstellungsfähigkeit“ ist (Popitz 1999, S. 51). Die Entgrenzungsleistung bezüglich der sonst geltenden sozialen Konventionen für eine effektive Einhegung von Gewalt findet daher vorzugsweise imaginativ statt. Unsere Vorstellungsfähigkeit, meint Popitz, ist tendenziell uferlos, weshalb der imaginativen Ausschmückung von Gewalt grundsätzlich keine Schranken gesetzt sind. Vor der aktiven Umsetzung von Gewalt, heißt das, steht deren Imagination, die Vorstellung davon, dass eine Handlung physisch, sozial und mental auch möglich ist. Das in dieser Ablehnung angelegte Paradox zielt explizit auf eine Art Fokussierung kultureller und gesellschaftlicher Prozesse auf ausgerechnet dasjenige Element ab, das darin die Position des Verfemten einnimmt. Das Paradox einer Präsenz von Gewalt in den Normalisierungskontexten von Kultur und Gesellschaft, trotz ihrer grundsätzlichen lebensweltlichen, strukturellen und normativ-ethischen Verfemung, wäre letztlich wohl sogar noch innerhalb der Normalität von Vergesellschaftung vermittelbar. In letzter Konsequenz geht es aber auch nicht so sehr darum, dass sich die bloße Präsenz von Gewalt, respektive von deren Repräsentationsleistungen nicht in Gesellschaft vermitteln ließe. Dies

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wäre auf der Makro-Ebene von Gesellschaft sehr wahrscheinlich noch hinnehmbar als einer von vielen darin wirkenden, nicht aufzulösenden Widersprüche. Wichtiger ist, dass, wie oben ausgeführt, die Präsenz kultureller und sozialer Repräsentationsleistungen von Gewalt faktisch eine enorm produktive Kraft innerhalb von Kultur und Vergesellschaftung erlangen.

4 Böse Bilder Bezeichnend für die Faszinationsgeschichte der Gewalt ist wohl, dass diese weniger ereignisorientiert als vielmehr bildorientiert ist, was sich schon aus der engen Verzahnung von Faszinationsgeschichte und Einbildungskraft, also einer mit epistemischer Kraft versehenen Ikonografie ergibt. Faszinationsgeschichte ist eminent nicht nur als Bildgeschichte historisiert, sondern sie verwirklicht sich auch für die Gegenwart speziell über die Produktion von Bildern und im Umgang mit diesen. Sie wirkt also über den Fundus an kulturhistorisch etablierten, symbolisch und affektiv nach wie vor wirksamen Bildern ebenso wie über ein Arsenal an zeitgenössisch abrufbaren und anschlussfähigen Bildgebungen. Letztlich ist deshalb die symbolisch-semiotische Ebene von Gewalt ausschlaggebender als deren manifeste Präsenz. Wenn dann doch einmal Gewalt heftig und exzessiv in Gesellschaft einbricht, ist der dabei ausgelöste Störungseffekt enorm und erheblich irritierend (Ahrens 2011). Geht man für eine Bestandsaufnahme des Feldes von einer sozialen Gegenwart aus, die kulturgeschichtlich und epistemisch faszinationsgeschichtlichen Einflüssen unterliegt, ohne von diesen zwangsläufig determiniert zu sein, fällt ein bemerkenswerter Zusammenschnitt dieser Gewalt, speziell ihrer Bilder, mit einer gesellschaftlichen Identifikation des Bösen auf. In jüngster Zeit zeigt sich an der Studie von Charlotte Klonk zur kulturellen Wirkmächtigkeit von Bildern, wie sehr nicht die Gewalttaten selbst im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sondern vielmehr die Bilder, die von diesen kursieren und mit Bedeutung belegt werden (Klonk 2017). Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Kategorie des „Bösen“ in modernen Gesellschaften eigentlich gar keine Rolle mehr spielen sollte. Die Vorstellung des Bösen ist so deutlich theologisch aufgeladen und macht mit Blick auf nicht determinierte, auf Kontingenz, Komplexität, Interaktion, Vereinbarung und Macht beruhende, gesellschaftliche Verhältnisse so wenig Sinn, dass ihre Verwendung in diesem Zusammenhang irritieren muss. Dennoch wird gerade im Anschluss an solche Gewaltakte, die, wie oben ausgeführt, den gesellschaftlich akzeptierten Möglichkeitshorizont an Devianz radikal überschreiten, die Vokabel des Bösen von einer Vielzahl der Akteure verwendet. Hier scheint es

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sich um Erfahrungen eines gesellschaftlich Bösen zu handeln, das gerade deshalb als solches wahrgenommen wird, weil es in sich ein transzendierendes Element hat. Dieses Böse leitet sich gerade nicht aus den primär über ein kanonisiertes Bildarsenal definierten Refugien von Gewalt in Gesellschaft und Kultur ab, sondern entstammt jenen außerordentlichen Ereignissen eines Einbruchs der unreglementierten, nicht normalisierten Gewalt in die gesellschaftliche Wirklichkeit. Angezielt wäre damit die radikale Überschreitung einer gemeinhin anerkannten sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, deren n­ormativ-ethische Parameter im Akt exzessiver Gewalt falsifiziert zu werden scheinen. Böse wird dann dasjenige genannt, was als Devianz in Gesellschaft nicht mehr kommensurabel, nicht mehr vermittelbar ist. Bilder, schon darin offenbart sich die epistemische Hypothek jeder Gegenwart, stehen notwendigerweise in einem ethisch markierten Feld. Die Auseinandersetzungen um eine Ethik der Ästhetik lassen sich lange zurückverfolgen und betreffen allesamt insbesondere das Bild als einen spezifischen, offenbar affektiv und authentisch zentralen Träger von Information. Einerseits löst sich diese Spannung um Bildrezeption und Bildreglementierung im 20. Jahrhundert angesichts einer weitgehend erfolgreichen Säkularisierung von Gesellschaft und Kultur und einer Ausdifferenzierung der Bildästhetik samt deren endgültiger Herauslösung aus transzendent gehaltenen Rahmungen auf. Symbolisch werden die Bilder im Verlauf dieses Prozesses entlastet und aus einer vermeintlich zwingenden Eindeutigkeit dessen, was sie auf der Rezeptionsebene mitteilen, herausgelöst. Andererseits dramatisiert sich der Diskurs um die Bilder extrem, indem über die ebenfalls im 20. Jahrhundert neu aufkommenden, die gesamte Gesellschaft in neuer Weise erfassenden und ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in eine rasante technische Entwicklung eintretenden Massenmedien die Rezeption medial vermittelter Bilder abermals ins Zentrum der symbolischen Formen der Gesellschaft rückt. Mit dieser Entwicklung wird die Moderne dazu gebracht, eine eigene Bildsprache zu entwickeln, welche es erlaubt, die eben noch angeführte Mehrdeutigkeit der Bilder zu relativieren und erneut Eindeutigkeit und Signifikanz zusammenzuschneiden. In einem ganz anderen Kontext und auf ganz andere Weise als dies in Mythos oder Religion der Fall wäre, rückt nunmehr, maßgeblich getragen von der Bildebene medialer Nachrichtenformate, erneut eine Bildästhetik als gesellschaftsbildend ins Zentrum von Wahrnehmung und Vergesellschaftung (Paul 2013). Gleichzeitig ist offensichtlich, dass sich auch in den zeitgenössischen Praktiken einer Annäherung an diejenigen Bilder, die Gewalt abbilden und darstellen, eine historisch gesättigte Haltung dem Bild gegenüber sowohl tradiert als auch aufhebt. Bildrezeption bleibt demnach Teil

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einer kulturhistorisch gesättigten Epistemologie und entwirft zugleich neuartige Modi, die darüber hinausgehen können. Damit wird deutlicher, weshalb auch mit Blick auf aktuelle Vergesellschaftungsdynamiken und auf jüngere, allgemeine Aufmerksamkeit erregende Gewaltereignisse (Amok, Terror, Missbrauch, etc.), die Auseinandersetzung mit deren Bildwerdung und bildlicher Vermittlung jeweils eine erhebliche Rolle spielt. Daran ist nicht nur bemerkenswert, wie sehr sich der Diskurs um die Präsenz von Gewalt in der Gesellschaft, respektive um Gewalt als Äußerungsform kultureller Artefakte, als Diskurs über die Bilder dieser Gewalt verwirklicht, anstatt auf die tatsächlich stattgefundene Gewalt als Handlung im gesellschaftlichen Raum zu fokussieren. Der Erfahrungswert von Gewaltakten jenseits von deren unmittelbaren Erleben (das notwendig immer auf die Opfer, Täter und Zuschauer beschränkt sein muss, die sich situativ in ihrem Handlungsradius befinden), emergiert ganz offensichtlich vornehmlich aus einer gesellschaftlich angeleiteten Rezeption der Medienbilder, die von dieser Gewalt kursieren und damit auch eine bestimmte Perspektive auf diese Gewalt zumindest nahelegen. Gewalt wird, zumal in der Echtzeit-Mediengesellschaft der Gegenwart, gesellschaftlich und kulturell erfahren, indem sie in Bilder übersetzt und als Bild kommuniziert wird. Das Bild von der Gewalt verkehrt sich in die eigentlich relevante Präsenz von Gewalt in der Gesellschaft. Wenn Régis Debray feststellt, das kulturellen ‚Bedürfnis nach Bildern‘ (Debray 2013) verschiebe sich beständig gemäß der „kommunikativen Möglichkeiten“ (Debray 2013, S. 266), dann schließt dies die Substitutionskompetenz der Bilder gegenüber realem Geschehen mit ein. Die Bilder der Gewalt ersetzen die wirklich stattgefundene Gewalt; wie im religiösen Bildnis substituieren die Bilder die unmittelbare Erfahrung des Betrachters als Erlebnis. Dieser Prozess koppelt sich bemerkenswerterweise mit der Renaissance einer eigentlich kulturell abgesunkenen, weil transzendent gebundenen Kategorie, wie der des Bösen. Ganz offen werden außergewöhnlich intensive Gewalttaten im Zuge ihrer Rezeption als das ‚Böse‘ identifiziert und adressiert, und zwar bezeichnenderweise von allen Akteuren der Debatte – vom Journalismus über die Politik und Betroffene bis hin zu den Humanwissenschaften. Diese Identifikation einer bestimmten Spielart von Gewalt als essenziell ‚böse‘, also als Indiz und Agent einer dezidiert transzendenten Kategorie, die sich jeder Verortung in einem profanen, materiellen Bedingungen von Vergesellschaftung unterworfenen Diesseits entzieht, ist in der generell säkular ausgerichteten Moderne eine erstaunliche Leistung. Die Nähe, in die solche Gewaltakte zum Bösen gerückt werden, fällt auch Reemtsma auf, der davon ausgeht, die Kultur der Moderne habe „gravierende Probleme“ mit Formen extremer Gewalt umzugehen, da

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diese „fremd geworden“ sei (Reemtsma 2009, S. 119). Das Böse tritt dann anstelle der Begründungsfähigkeit und füllt das Fehlen von „Legitimationsfiguren“ (Reemtsma 2009, S. 119) der Gewalt aus. Als böse wird dann folgerichtig erfasst, was nicht mehr mit Sinn versehen werden kann und außerhalb von Rationalisierungsleistungen steht. Die Einordnung als ‚böse‘ legt nämlich vor allem fest, dass bestimmte Handlungen und Ereignisse aus dem Normalkontext der Moderne und ihrer Institutionen herausfallen. Wo dieser Rahmen gewissermaßen negativ transzendiert wird, lässt sich auf das Böse als eine Kategorie zurückgreifen, die in angemessener Weise eine Transzendenz der Moderne ermöglicht. Diese Bewegung einer profanen und medialen Transzendierung der Gewalt geht schließlich so weit, dass vom eigentlichen Geschehen abgerückt und vielmehr auf die Techniken zu dessen insbesondere bildlicher Dokumentationund Repräsentation fokussiert wird. Die andauernde Faszinationsgeschichte der Gewalt und ihr Drang zur Transzendierung gehören eng zusammen. Das Böse, das in der Gewalt an sich liegen sollte, verschmilzt diskursiv mit der Hinwendung zu einer Identifikation der Bilder dieser Gewalt als böse; die Bilder von der Gewalt substituieren die Gewalt selbst. Der aktuell geführte Diskurs über Gewalt ist deshalb ganz wesentlich ein Diskurs über die bösen Bilder der Gewalt. Die Bilder, die Gewalt zeigen, werden in der Öffentlichkeit selbst als böse rezipiert. Sie fungieren tatsächlich ganz klassisch als Substitute der eigentlichen Gewalt und verleihen deren faktisch nur flüchtiger Präsenz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit langfristig eine Dauer. Das ist nicht nur erstaunlich, weil es eine klare Abkehr von einem profanierten, säkularisierten Umgang mit den Bildern bedeutet, denen eine solche Qualität eigentlich nicht mehr zugeschrieben werden kann. In modernen, komplexen, kontingenzbasierten Gesellschaften sollte die Identifikation von Bildern als Erscheinungen eines essenziell Bösen gar nicht mehr praktiziert werden. Möglich sein sollten höchstens spezifische Zugriffe auf Bilder oder Inszenierungen von Bildern, die ethisch als problematisch oder unhaltbar gelten können oder sogar müssen. Unterstrichen wird eine solche Intention von Hannah Arendts Einschätzung, das Vergessen gebe der bösen Handlung recht, während die Erinnerung für den Täter die erste Bedingung der Reue sei (Arendt 2009, S. 75), während das Bild für die Gesellschaft die durch das Böse verübte Provokation präsent hält. Rainer Leschke wiederum spricht von einem grundsätzlichen „Zusammenhang von Normativität und medialer Form“ (Leschke 2001, S. 219). Medien und ihre Inhalte seien „strukturell normativ“ organisiert (Leschke 2001, S. 224), was bei gleichzeitiger formaler Differenzierung zu einer „konstitutiven Selbstreflexivität“ (Leschke 2001, S. 223) des Mediensystems führe. Allerdings, schränkt er ein, sei diese Normativität, da sie ästhetisch basiert bleibt, „allenfalls potenziell,

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nicht jedoch per se normativ valide“ (Leschke 2001, S. 229), was die normative Verantwortlichkeit für die Bedeutung und die Praxis der Bilder im Sinne der Mediengesellschaft von deren Produzenten auf die Konsumenten umlenke. Eine Regulierung der Zeigepraxis auch für prekäre, mit dem Faszinationsmoment der Gewalt behaftete Bilder, erscheint so gesehen mindestens problematisch, weil sie sowohl hinter die immanente Dynamik der Mediengesellschaft zurückfällt, als auch der ästhetischen Polyvalenz ihrer Erzeugnisse nicht gerecht wird. Das als „böse“ etikettierte Bild hat demgegenüber die spezielle Eigenschaft, dass es in eine ethische Rahmung oder Diskussion gar nicht mehr eingepasst werden muss, sondern an und für sich als böse gilt und eine Qualität vermittelt, die gerade vor jeder auf eine bestimmte Ethik zielenden Etikettierung steht. In solchen Bildern werden dann „Darstellung und Dargestelltes in eins gesetzt“ (Klonk 2017, S. 213), das Bild tritt tatsächlich anstelle dessen, was es abbildet. Medienbilder zu verbergen, ihre Wirkung gezielt einschränken zu wollen, heißt vor allem, eine der wesentlichen Prämissen der modernen Mediengesellschaften tendenziell nicht akzeptieren zu wollen, nämlich die grundsätzliche Bedeutungsoffenheit der Bilder. Insofern wäre wichtig zu klären, wie sich Bilder der Gewalt zugleich als böse Bilder bestimmen lassen. Das Böse dieser Bilder bezieht sich auf die Identifikation zwischen dem zeigenden Bild und dem darin dargestellten Inhalt, in diesen Fällen: Bilder der außerordentlichen Gewalt. Es handelt sich somit um Bilder der Interferenz, der Störung und des Aufstörens. Außerdem verschmelzen in diesen Bildern zwei Ebenen, die sich zwar bildästhetisch, generisch nie haben trennscharf unterscheiden lassen, die aber gerade im öffentlichen Diskurs um Medieninhalte in der Moderne jederzeit eigens auseinander gehalten wurden. Dies sind die Ebenen von Realität und Fiktion. In den als „böse“ benannten Bildern, die die Geschehnisse oder die Folgen außerordentlicher Gewalt zeigen, werden einerseits fiktionale Bilder real, andererseits aber erfahren reale Bilder eine imagologische Besetzung. Die Bildikonen der in Flammen stehenden, einstürzenden, sich in eine Qualmapokalypse auflösenden New Yorker Twin Towers, auch die Bilder der sich aus diesen Türmen stürzenden Menschen, die sogar den ästhetisierenden Gattungsnamen der Falling Men erhalten haben (Klonk 2017, S. 226–231), stehen für eine Drehung des Realgeschehens auf eine wesentlich über Bilder getragene Ebene der Imagination und letztlich auch der Fiktionalisierung. Hingegen wird ein Film wie Oliver Stones Natural Born Killers (USA), der 1994 eine bissige Kritik am medialen Umgang mit dem Phänomen der Gewalt vorlegt, paradoxerweise durchgehend als Katalysator für die Verwirklichung von Gewalt in der Gegenwart gesehen. Nicht nur in öffentlichen und politischen Diskursen wird immer erneut auf die angeblich gewaltmächtige und

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gewaltinitiierende Kraft dieses Films verwiesen, auch der sozialwissenschaftliche Diskurs sieht in Stones Film konsequent ein Zeugnis realer Gewalt, das sich bloß bildlich symbolisch verpixelt hat.

5 Performativität des Faszinationsmotivs In den letzten Jahren, ungefähr seit dem mit der Millenniumswende zu verzeichnenden Einschnitt der Anschläge von 9/11, lässt sich beobachten, dass die qualitative Differenz zwischen Bildern, die als klassisch dokumentarisch wahrgenommen werden, denen also ein klarer Realitätsgehalt zugesprochen wird, und solchen, die als fiktional gelten und augenscheinlich imagologisch funktionieren, zunehmend abschmilzt. Beides neigt immer mehr zur Ununterscheidbarkeit. Mit Blick auf die eigentlich fiktiven Bilder gibt es diese Diskurstendenz schon lange: Fiktive Bilder waren immer wieder Gegenstand von Überlegungen, die sie daraufhin befragt haben, inwieweit sie sich in Suggestionen von Realität übersetzen und manipulativ auf ihre Rezipienten einwirken. Der allgemeine, pädagogisch ausgerichtete Diskurs um die Wirkmächtigkeit populärer Medien bezieht seit jeher aus dieser Richtung enorme Energie. Jetzt aber kehrt sich das Verfahren auch um, und das ist, zumindest in diesem Ausmaß und abseits klassischer Propagandaproduktionen, neu. Dass Nachrichtenbilder, dokumentarische Bilder mit dem Nimbus der Einbildung, des mindestens partiell Fiktionalen belegt werden, ist eine neue Tendenz, die sogar bedeutender wird, als die erstgenannte Thematisierung fiktionaler Bilder. Auf den ersten Blick absurderweise genießen nämlich gerade im Feld der Bilder der Gewalt diejenigen einer letztlich fiktionalen Gewalt weit mehr formalen und ästhetischen Spielraum und werden eher toleriert, als solche, die als real eingeordnete Gewalt zeigen. Reglementierungsanstrengungen gegenüber medialer Kommunikation, die Frage, was gezeigt werden darf und was nicht, richtet sich mit Blick auf mediale Bilder der Gewalt in erster Linie auf Bilder realer Gewalt, die in ihren potenziellen gesellschaftlichen Auswirkungen als viel harscher aufgefasst werden – in Klonks Studie zum „Kampf mit Bildern“ (Klonk 2017) fehlen Bilder fiktionaler Gewalt komplett, so als gehöre diese nicht (mehr) zur Wirklichkeit der Gesellschaft. Offenbar herrscht unterdessen vergleichsweise große Einigkeit darüber, dass Bilder fiktionaler Gewalt vom Publikum in der Rezeption auch entsprechend eingeordnet werden, in ihrer ethischen Streuung daher überschaubar bleiben und in ihren Folgewirkungen als vergleichsweise niedrigschwellig bewertet werden müssen. Dass regelmäßiger Medienkonsum, der heute im Grunde das gesellschaftliche Norm- und Normalverhalten dar-

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stellt, mittelfristig zu einer Verwechslung von Realität und Fiktion führt, wird zunehmend weniger unterstellt. Allerdings taucht diese, heute eigentlich veraltete These immer dann wieder auf, wenn es um die Erklärung nicht mehr eingängiger, radikaler Gewalthandlungen geht. Jugendliche School Shooter beispielsweise werden immer wieder als von Gewaltmedien imprägniert gezeichnet. Grundsätzlich aber wird den Rezipienten gewalthaltiger Medieninhalte heute deutlich mehr Eigenständigkeit, Reflexion und Selbstverantwortung zugebilligt, als dies noch unlängst der Fall war. Im Vergleich zu fiktionalen Darstellungen von Gewalt gelten Bilder realer Gewalt als viel gefährlicher, vor allem seit diese über die Dokumentation mit Mobiltelefonkameras mit einem ganz neuen Authentizitätsnimbus versehen werden und nahezu in Echtzeit problemlos abrufbar sind. Was hier insbesondere in den Vordergrund tritt, ist die pure Möglichkeit der Gewalt, die dokumentiert wird, da eine Ästhetik der Gewalt in diesen situativ aufgenommenen Amateurformaten zwangsläufig kaum mehr wahrnehmbar ist – so etwa im Falle der Londoner U-Bahn-Anschläge von 2005 oder beim Angriff auf den Pariser Musikclub Bataclan 2015. Ein Film wie Natural Born Killers mag der Proliferation einer solchen Ästhetik der Gewalt noch Vorschub geleistet haben, wenngleich offenkundig gegen seine Intention. Die bloße Ablichtung dessen, was geschieht, kennt eine solche Ästhetik nicht mehr und sieht daher auch vergleichsweise nüchtern und unspektakulär aus. Gerade damit wächst aber die dokumentarische Kraft, die zunächst eins zu sagen scheint: Diese Wirklichkeit ist nicht gefeit vor der Gewalt; Gewalt ist möglich und umsetzbar. Als Mittel für die eigenen Zwecke, so irrational diese anderen auch erscheinen mögen, kann sie äußerst zielführend sein. An diesem Punkt transformiert der faszinationsgeschichtliche Diskurs deshalb von einem epistemologischen und rezeptionsorientierten Diskurs in einen Diskurs der Applikation. Obwohl das Moment der Faszination nach wie vor an ein sehr tief reichendes kulturelles Wissen um die Präsenz und Bedeutung der Gewalt in Gesellschaft und Kultur anschließt, wird Gewalt nunmehr mit einer neuartig erscheinenden Akzentuierung belegt. Dies betrifft die Faszination an der Umsetzung dessen, was eigentlich, kategorial und ethisch, nur Einbildungskraft hätte bleiben sollen. Der Affekt gegen die dokumentarischen Bilder realer Gewalt ist deshalb vor allem der Affekt gegen eine angenommene oder prognostizierte, mögliche Vorbildwirkung dieser Bilder. Die Bilder der Gewalt, so die Befürchtung von Öffentlichkeit und Politik, könnten zu Manualen für weitere Gewalthandlungen werden. Aus diesem Grund wird ausgiebig wie lange nicht mehr darüber diskutiert, welche Perspektiven auf diese Gewalt in der Berichterstattung, speziell bei der Bilddokumentation von Gewaltereignissen, legitim, mithin moralisch

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erlaubt oder wenigstens geboten sind. Je „stärker der Realitätsbezug eines Bildes ist und je deutlicher es sich der situativen Alltagswahrnehmung annähert“ (Klonk 2017, S. 215), führt Klonk aus, desto größer werde die „Notwendigkeit von Kommentaren und weiteren Bildern“ (Klonk 2017, S. 215). Eine breite Debatte wird in diesem Fahrwasser darüber geführt, welche Bilder solcher Taten gezeigt, welche Informationen zum Täter preisgegeben werden dürfen, aus welcher Perspektive die Berichterstattung insgesamt erfolgen sollte. Gefürchtet werden Nachahmer der Gewalt. Die Streuung des Faszinationsmotivs im sozialen Raum, das aus der bloßen Geschichte austritt und sich eine blutige Gegenwart sucht, wird enorm gefürchtet. Man könnte dies die performative Wende des Faszinationsmotivs nennen, die nur unter sonst affirmierten Bedingungen der modernen Mediengesellschaft möglich ist, hier aber offensichtlich deren normative Strukturmodi aufzulösen droht. Unterdessen wird die seriöse Nachrichtenberichterstattung längst auf solche Annahmen hin abgestimmt. Damit stellt sich allerdings doch wieder die Frage nach dem Zugriff auf das Publikum, das in dieser Lesart ganz klassisch als eine Versammlung von Unmündigen begriffen wird. Das Publikum kann so gesehen ganz offensichtlich, und im Anschluss an Adorno, noch immer nicht selbst wollen (Adorno 1997). Mediendidaktisch und medienethisch befinden sich die Rezipienten von Medieninhalten weiterhin in einem Zustand der Unmündigkeit. In der Gegenwart einer immer weiter voranschreitenden Digitalisierung, von Remediation und Premediation, in der der sogenannte User den bloßen Konsumenten längst abgelöst haben sollte, ist dies bemerkenswert. Stattdessen müssen weiterhin andere für das Publikum dessen Willen richten. Damit beschreibt der laufende Diskurs zwar eine deutliche Akzentuierung des möglichen Faszinationsmoments, das Gewalt nach wie vor für die Gesellschaft besitzt und das deren Rezeptionsgeschichte wesentlich prägt, zugleich aber wird mit diesem Zugriff die Vermittelbarkeit der Gewalt selbst ganz neu angegangen. War Gewalt als in der Gesellschaft konstante Form zuvor noch das schlechthin Unvermittelbare, das insbesondere über mediale Kanäle des Fiktiven, aber auch der Dokumentation und der Reportage, letztlich doch einem Publikum vermittelt wurde, das mit Durchsetzung der modernen Mediengesellschaften faktisch mit der Gesellschaft identisch geworden ist. So dreht sich heute der maßgebliche Diskurs explizit um mögliche und legitime Formen der medialen und ästhetischen Vermittlung dessen, was als tendenziell inkommensurabel eingeordnet wird, weil es die ethischen und normativen Strukturgrenzen von Gesellschaft radikal überschreitet. Der subtilen Arbeit der Kultur am Motiv der Gewalt will man sich offenbar um keinen Preis mehr überlassen.

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Literatur

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Was aktuell extrem unvermittelbar bleibt, ist die selbstverständliche Präsenz von Gewalt als wesentlicher Bestandteil von Realität, Lebenswelt und Erfahrung. In diesem Zusammenhang bedeutet Unvermittelbarkeit vor allem auch, dass Inhalte oder Bilder sozial wie kulturell als inakzeptabel und nicht mehr hinnehmbar erscheinen, was eine Art Rückkehr des rousseau’schen ‚Allgemeinwillens‘ in die Ausgestaltung der Medienrealität anzeigt. Schließlich wird, wie immer, natürlich doch vermittelt, da gerade die ausbleibende Vermittlung die größte Gefahrenquelle für destabilisierungsgefährdete Vergesellschaftungsprozesse darstellen würde. Eine Vermittlung der Gewalt erfolgt in einem doppelten Sinne: Erstens als didaktisch kommunikativer Zugriff derjenigen Medien, die diese Präsenz der Gewalt kommunizieren müssen und zweitens als eine intendierte Einfügung der Realität einer solchen Präsenz der Gewalt in institutionelle Abläufe der Vergesellschaftung und der sozialen Normalisierung.

Literatur Adorno, T. W. (1997). Kann das Publikum wollen? In Vermischte Schriften I, Gesammelte Schriften 20.1. (S. 342–347). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ahrens, J. (2011). Anthropologie als Störfall. Gesellschaftliche Bearbeitungen von Gewalt. Störfälle. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2, 73–83. Ahrens, J. (2012). Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. Kulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film „The Man Who Shot Liberty Valance“. Wiesbaden: Springer VS. Ahrens, J. (2017). Die unfassbare Tat. Gesellschaft und Amok. Frankfurt/New York: Campus. Arendt, H. (2009). Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper. Bauman, Z. (1992). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius. Böhme, H. (2000). Leibliche und kulturelle Codierungen der Angst. In ZDF-Nachstudio (Hrsg.), Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens (S. 214–239). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Böhme, H. (2012). Das Archaische und das Soziale. Entgrenzung und Einhegung von Gewalt im gegenwärtigen Film und im Mythos. Imago. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Bd. 1, 9–32. Debray, R. (2013). Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland. Berlin: Avinus. Elias, N. & Dunning, E. (2003). Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation. Gesammelte Schriften 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Freud, S. (1974). Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Studienausgabe IX. Frankfurt/M.: S. Fischer. Giddens, A. (1988). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt/New York: Campus.

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Heinrich, K. (1992). Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang. Basel/Frankfurt/M.: Stroemfeld Verlag. Klonk, C. (2017). Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden. Frankfurt/M.: S. Fischer. Leschke, R. (2001). Einführung in die Medienethik. München: Wilhelm Fink/ UTB. Paul, G. (2013). BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. Und 21. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein. Popitz, H. (1999). Phänomene der Macht. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Popitz, H. (2006). Soziale Normen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Reemtsma, J.P. (2000). Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. München: Siedler. Reemtsma, J.P. (2009). Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. München: Pantheon.

Gewalt in spätmodernen Gesellschaften: Fury Rooms Jutta Ecarius

1 Einleitung Das Thema Gewalt-Vernunft-Angst ist ein gewaltiges und es ragt in so viele Richtungen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Denkens hinein, dass man vor dem Ausmaß und der Gewaltigkeit des Themas erschrickt: Wo beginnt man, was lässt man aus und auf was konzentriert man sich? Sind es die Gewalthaltungen und Handlungen von Jugendlichen oder Eltern, die uns interessieren oder Geschehnisse wie eines der Attentate in den USA, Frankreich oder in Deutschland und die damit gepaarte Hilflosigkeit, das Entsetzen? Oder ist es die Frage, was macht Gewalt aus, wie reagieren wir darauf und wie verändert sich dadurch soziales Leben? IS und Terroranschläge aber auch Amoklauf und Naturkatastrophen scheinen spätmodernes Leben zu sprengen und ein neuer Modus der Angst keimt auf, der Angst vor einem Terroranschlag, wenn man im Flugzeug sitzt, oder der Angst vor bestimmten Plätzen, No-go-Areas oder einer Zerstörung der Umwelt. Bei all diesen Geschehnissen wundert es nicht, dass die Resilienzforschung, also die Frage danach, wie man mit Traumata oder schwierigen Lebenssituationen positiv umgeht und welcher Bedingungen es bedarf, um resilient zu handeln, Konjunktur haben. Auch gewinnt die Forschung über Gefühle, Affekte und Emotionen im Kontext von Gewalt und Terrorismus an Bedeutung. Wie nun beschäftigt man sich mit einem solchen gewichtigen Thema, das so alt wie die Menschheit selbst ist? In meinem Beitrag werde ich

J. Ecarius (*)  Department für Erziehung- und Sozialwissenschaften, Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät, Köln, Nordrhein-Westfalen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_7

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in einem ersten Schritt gesellschaftstheoretische Annäherungen vornehmen und mich dann einem Beispiel, den Fury Rooms, zuwenden. Zugleich werde ich auf Bedingungen der Spätmoderne eingehen und vor diesem Hintergrund Gefühle, Disziplinierung und strategisches Handeln diskutieren.

2 Gesellschaftstheoretische Annäherungen Auch wenn mittlerweile von einem ‚emotional’ oder einem ‚affective turn’ gesprochen wird, wie es beispielsweise Reckwitz macht (2015, S. 28), ist doch zu konstatieren, dass Gefühle – und damit meine ich alle Formen an Gefühlen, Affekten oder Emotionen1 – keine herausragende Bedeutung in gesellschaftstheoretischen Grundlegungen und Überlegungen zur Theoriebildung von Mensch und Gesellschaft finden. Von Max Weber über Emil Durkheim bis zu Talcott Parsons sowie bei Niklas Luhmann als auch Jürgen Habermas oder Michel Foucault und Pierre Bourdieu findet sich die bemerkenswerte Tendenz, dass das Soziale mit n­ormativ-zweckmäßigen Ordnungen oder Wissensordnungen verbunden wird. Es besteht eine nicht weniger verbreitete Neigung, formale Rationalität und Moderne in einem Zusammenhang (Beck 1986; Giddens 1992; Rosa 2013) zu bringen. Rationalisierung als Kennzeichen der Moderne beinhaltet die zunehmende Fähigkeit der Menschen, Affekte zu überwinden und Kontrolle über eine ‚reflexive’ Rationalisierung herzustellen. Gefühle unterliegen in diesen Ansätzen weniger einer sozialen und kulturellen Prägung, sie gehören eher den ‚vorsozialen‘ Körpern an. Die hohe Bedeutsamkeit von Rationalität, vernünftigem Handeln, die zum eigentlich Menschlichen wird, fesselt und verdrängt das Emotionale (Horkheimer und Adorno 1998). Auf diese Weise entsteht eine Dichotomie zwischen Natur und Sozialität. Einher geht damit ein weiterer Dualismus, nämlich der von Irrationalität und Rationalität. Durch diese Entgegensetzung werden Emotionen bzw. Gefühle zu nicht akzeptierbaren, wenig nachvollziehbaren Eigenschaften von Individuen, die als natürlich–biologische Triebe unkontrollierbar erscheinen und dem vorsozialen Leib zuordbar sind. Der Diskurs, das herrschaftsfreie Gespräch (Habermas 1981) und auch Interaktionen (Mead 1991) sind weitgehend ‚bereinigt‘ von Emotionen. Oder aber: Gefühle werden durch Erziehung und Bildung hin zum vernünftigen Subjekt rationalisiert.

1In

diesem Artikel werde ich nicht zwischen Affekten, Emotionen, Gefühlen und Stimmungen unterscheiden (Landweer 2016).

Gewalt in spätmodernen Gesellschaften: Fury Rooms

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Sie erscheinen so als das Andere von Rationalität, von Geordnetheit und des vernünftig Kalkulierbaren. Die normativen Sedimentierungen des Sozialen, die Gesellschaftsformationen generieren, schließen gewissermaßen Emotionen, Stimmungen und Affekte aus, indem sie sie als etwas zu Vermeidendes markieren, vor allem dann, wenn es sich um negative Gefühle handelt: Angst, Furcht, Hass, Neid oder Aggression. Als eingehegt zu Vermeidendes werden diese Emotionen ausgeklammert, es gilt sie zu bekämpfen, nein, sie erst gar nicht aufkommen zu lassen. Moderne Gesellschaften werden im Kern als solche einer fortschreitenden Rationalisierung gedeutet, mit der gefühlvolles Handeln eingeebnet werden kann, da Gefühle aufgrund der Prinzipien Gerechtigkeit und Anerkennung der/des Anderen unpassend und nicht nötig erscheinen. Besonders deutlich formuliert das Elias (1976) in seiner Theorie des Zivilisationsprozesses: Die moderne Gesellschaftsentwicklung ist eine der zunehmenden Affektkontrolle, der Kontrolle des Subjektes von außen hin zur inneren selbstgesteuerten Affektkontrolle. Moderne lässt sich damit in einem Zuge gleichsetzen mit Affektneutralisierung, an deren Stelle Rationalität und reflexive Erneuerung im Sinne des Demokratischen gesetzt werden. Die aufgeklärte Vernunft wird dem bloßen Gefühl nicht nur gegenübergestellt, sondern zugleich als überlegen und höherwertig angesehen. Damit wird ein fundamentaler Gegensatz zwischen dem Sozialen als dem aufgeklärten (Spät-)Modernen und dem ‚Biologisch-Naturhaften‘ als dem emotionalen Unkontrollierbaren gezeichnet. Dieser Dualismus und zugleich die Höherbewertung des Rationalen zeigen sich auch in Theorien zur Spätmoderne. Theoriekonzepte über Gesellschaftsformationen haben eine konzeptuelle Leerstelle. Besonders das unternehmerische Subjekt (Bröckling 2007) ist ein rationales, dessen Affekte längst neutralisiert sind, denn es geht mittlerweile um eine Erweiterung des Rationalen: Es geht um Recherche, Moderation und bewusstes Auswählen im alltäglichen Handeln, mit Freunden, im Beruf und in der Familie, Informationssuche im Netzwerk, um stets schneller, besser und perfekter zu werden. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass Gefühle neutralisierbar sind – sei es durch Beratung, rationale Aufarbeitung, Anerkennung des Anderen und geplantes Wohlbefinden des Eigenen. Gefühle und Affekte werden eher zu Störungen. Selbst im Privaten ist die Herstellung von Familie (Jurczyk 2014) gefordert, negative oder ‚schlechte‘ Emotionen werden als ihr größtes Gefährdungspotential gesehen, sie sind der größte Risikofaktor für das Zerbrechen von Beziehungen und auch für eine nicht gelingende Erziehung (Ecarius et al. 2017). Gutes Abwägen von Interessen und das Suchen nach Vereinbarungen, das ist es, was Familie gegenwärtig zu stabilisieren scheint.

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Mit diesen Annahmen, die sich nicht nur in der Familienforschung (Ecarius 2020; Lange 2020) finden, sondern auch in praxeologischen Ansätzen wie bei Bourdieu (1979) oder Bröckling (2017), erscheinen Gefühle als etwas, was Handlungen färbt, ihnen eine besondere Tönung gibt, die wenig kalkulierbar sind. So konzentriert sich bspw. Bourdieu auf die Analyse von Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsmustern, die durch Praxis einen Habitus generieren, der wiederum Handeln, Wahrnehmen und Denken lenkt. Bröckling (2007) benennt das unternehmerische Subjekt, das kalkuliert und sich stets verbessert und von sicheren Standorten ausgehend Neues sucht und findet, sich so einen Vorteil verschafft. Wenn man sich mit Gefühlen in der Gewaltforschung (Heitmeyer 1985; Heitmeyer und Imbusch 2005) beschäftigt, so steht meistens die Frage im Vordergrund, inwiefern Emotionen als Beschleuniger oder als Anfeuerer dienen. Gefühle und besonders Affekte werden betrachtet als etwas, was zu Handlungen und auch zu Ordnungen dazu kommt. Dieses ‚Dazu kommen’ ist den Handlungen etwas Äußeres, es gehört nicht zu ihnen, sondern hat eine eigene Wirkmächtigkeit, die einer naturalisierten Kraft gleichkommt: Ethnische Konflikte werden angeheizt, sexuelle Gewaltübergriffe sind triebartig, schlagende oder prügelnde Eltern sind von Sinnen. Es wird dabei immer nach dem ‚Warum?‘ gefragt: Warum werden Eltern gewalttätig, warum ermorden Menschen andere, warum üben Erwachsene sexuelle Gewalt aus? Dieses ‚Warum?‘ ist so angelegt, dass nach Logiken, also nach Handlungen gefragt wird, die letztendlich zu einer Erklärung führen. Fragen nach dem ‚Warum?‘ ist oft – auch berechtigt – eine Verständnislosigkeit sowie eine Distanzierung inhärent. Gefühle solcher Art werden als Problem thematisiert bei gleichzeitiger Distanzierung. Und die Frage nach dem ‚Warum?‘ ruft nach vernünftigen Antworten zur Klärung und Verhinderung von Affekten, und aber auch ganz oft zu dem Aufruf des Verbotes von ‚negativen Gefühlen‘. Schon Homer hat in der Ilias den Zorn des Achill und die verheerenden Folgen thematisiert und auch Platon beschreibt in seiner Politeia die sexuellen Begierden, die den tollen und wilden Herrn in den Bann ziehen und die gezähmt werden müssen; Vertreter der Stoa predigen Affektkontrolle und machen Emotionslosigkeit zum Ideal. Moderate Emotionen werden von Epikur und auch in der Nachfolge von David Hume empfohlen. In der christlichen Überlieferung sind solche bedrohlichen Emotionen die des Teufels oder der Dämonen. Emotionen werden als etwas Fremdes beschrieben, als etwas, dass die Regie menschlichen Handelns übernimmt. Siegmund Freud hat dies eindrücklich erfasst, indem er davon spricht, dass das Ich nicht mehr „Herr ist im eigenen Hause“ (Freud 1999, S. 295).

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In modernen Theorien verschwinden Gefühle – wenn überhaupt – in Interessenskonflikten, Distinktionen, Praxis- oder Systemproblemen. Selbst Anrufungen scheinen sich jenseits von Affekten zu vollziehen als ein ­‚Sich-ansprechen-lassen‘ zur Verbesserung eigenen Handelns (Reckwitz 2015). Zwar kommen Gefühle am Rande in Situationsbeschreibungen vor, sie spielen keine aber hauptsächliche Rolle. Auch in positiver Weise werden Emotionen eher versteckt in Anerkennung (Honneth 2003), einer autoritativen Erziehung (Liebenwein 2008) oder im Respekt. Eine Ausnahme sind m. E. die Analysen von Schulze (2012) und auch von Sutterlüty (2010). Bei Sutterlüty (2012) wird nicht gefragt, warum Gewalt geschieht, es wird damit nicht gefragt, warum jemand in eine baptistische Kirche geht und zwanzig Menschen erschießt oder ein Selbstmordattentäter sich und andere in die Luft sprengt oder ein IS-Terrorist mit einem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt bis hin zur Gedächtniskirche in Berlin rast. Sutterlüty (2012), Schulze (2012) als auch Reemtsma (2009) wählen eine andere Frageform, anstatt eines „Warum?“ fragen sie nach dem „Wie?“. Um solche Handlungen zu verstehen, suchen sie einen Zugang zu Personen, die eben genauso handeln, sie analysieren deren Erzählungen und Selbstbeschreibungen, wie es dazu gekommen ist, brutal zu werden, auszurasten oder zu töten. Nicht nach Begründungen wird geforscht, warum etwas gemacht wird, sondern narrative Beschreibungen des Verlaufs und der Gefühle, die in Handeln eingeschlossen sind, werden in ihren Bedeutungen analysiert. Reemtsma greift diesen Gedanken auf und geht in Anlehnung an Bernd Greiner (Greiner 2009) auf extreme Täter, rauschhaft Agierende ein, die auch ‚Berserker‘ genannt werden und als Besessene erscheinen. US-Amerikanische Soldaten, die am Massaker von Mylai teilgenommen haben, lassen sich in vier Typen aufteilen. Dem Typus der extremen Täter, eine Minderheit, sind Soldaten zugeordnet, die extrem agieren, allerdings nicht in Trance, sondern auf Befehl. Nach der Beendigung der Massaker auf grausamste Weise fallen sie in einen freundlichen Modus zurück. Alexander Mitscherlich würde sie als kalt oder emotionslos beschreiben. Aber dieses kalt, was gleich gesetzt wird mit brutal, diese Gefühlskälte ist jedoch nicht mit einer Abwesenheit von Gefühlen gleichzusetzen. Hier geht es nicht darum, von einem An- bzw. Abschalten von emotionalen Regungen zu sprechen und dies als solches zu analysieren, sondern die starken Affekte, das Exzessive, das Zerstören von Körpern, ist als starke Gefühlsregung in den Kontext des Geschehens (als spezifischer Raum) und seiner Zuordnung zu stellen. Die Soldaten waren mit Befehl angewiesen worden zu töten. Aus den Befehl ‚Du sollst’ wird ein ‚Du darfst’ und in diesem Raum, der über eine militärische Zuschreibung seine Benennung erfährt, eröffnet sich für

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diesen extremen Typus die Möglichkeit, extrem gewaltsam zu agieren, während die anderen Typen – die gegenläufig Agierenden und die sich Heraushaltenden – anders handeln, allerdings der Typus Täter ebenfalls tötet. In diesem zum Töten eröffneten Raum durften die Soldaten selbst entscheiden, wie sie sich verhalten und wenn ja, wie sie töten und massakrieren. Hierbei ist es der Befehl und der zur Verfügung gestellte Raum, der dazu führt, Grenzen der Menschlichkeit niederzureißen. Die Lizenz zum Töten entlässt aus moralischen Bedenken. Das bedeutet aber auch, dass dieser aufgeschlossene Raum vom einzelnen Subjekt emotional erfasst und ausgefüllt wird. Es ist so der Agierende, der diesen Raum für sich definiert und tötet, nämlich in unterschiedlicher Weise. Dieser Raum wird vom Täter emotional affirmativ erfasst und aktiv gestaltet. Brüllend, schreiend, brutal und mordend wird gehandelt. Reemtsma schreibt hierzu: „Nach allem, was wir über den Ablauf des Massakers wissen, mussten sich die betreffenden Soldaten der nicht extremen Mehrheit dazu nicht zügeln, sie mussten keine Obsession abschütteln und auch aus keinem Rausch erwachen. Vielmehr erfasste ihre Emotion dieses Können im Hinblick auf Anfangen, Weitermachen und Aufhören“ (Reemtsma 2015, S. 23). Affekte bzw. Gefühle sind insofern nicht etwas Äußeres oder Hinzukommendes, sondern sie sind Modi des Handelns, also: Handeln und Gefühle gehören zusammen (Demmerling und Landweer 2007). Gefühle sind mitverantwortlich dafür, wie wir Welt sehen, wie wir handeln und welche rationalen Bewertungen wir vornehmen. Sie sind nicht etwas anderes, den Mensch zum Tier machendes, etwas Animalisches wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sondern in Handeln eingelagert und sie veranlassen Handeln.

3 Spätmoderne und Fury Rooms Was hat das nun mit spätmodernen Gesellschaften zu tun, deren Subjektfolie das unternehmerische Selbst ist? Hier möchte ich zwei Aspekte betonen: Zum einen möchte ich zeigen, dass Bröckling (2007) mit seinen Annahmen zum unternehmerischen Selbst eine weitere Distanzierung von Affekten beschreibt. Und zum anderen werde ich auf Anger Rooms beziehungsweise Fury Rooms eingehen, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen. Die Spätmoderne ist, folgt man Rosa (2007) und Bröckling (2017), von einer Beschleunigung im Sozialen, Technischen und Kulturellem gekennzeichnet im Sinne einer Optimierung des Unternehmerischen. Die ethnische Pluralität befördert den Zwang zum moralisch Authentischen bei gleichzeitiger Auflösung von Hierarchien, zeitlichen Abläufen und ständigen Innovationen. Das Subjekt ist

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aufgefordert, sich selbst zu entfalten und Lern- sowie Bildungsprozesse in Gang zu setzen, und zwar nicht mehr nur als Entfaltung von Autonomie, sondern in der Selbstorganisation des Privaten, Beruflichen und der Freizeitgestaltung, das Beste für sich zu erwirken (Ecarius 2016). Die Anforderungen einer Optimierung sind, „sich zeitlebens selbst (zu) erkunden und (zu) gestalten“ (Bröckling 2007, S. 127). Zwar sucht das Ich noch nach einer Autoritätsinstanz, über die es sich zugleich abgrenzen und vielleicht auch ein autonomes Subjekt ausbilden kann, aber diese findet es nicht, da eine gelingende Lebensbewältigung als Norm erfordert, Fähigkeiten zu entdecken durch ständige Selbsterkundung, sich selbst zu organisieren, Ansprüche auf ein gutes und authentisches Leben in Rekurs auf sich in Realität zu überführen und dabei ein Wohlbefinden zu entfalten. Aubert (2009, S. 98) betont, dass das Herstellen einer Beziehung zu sich zugleich eine Selbstüberschreitung meint. Eine zentrale Subjektnorm in der Spätmoderne ist, sich immer wieder neu zu erfinden, Stillstand zu vermeiden und Dynamik als Kern des Handelns einzuüben. Nach Bröckling gehören dazu kreative Findigkeit, reflexiver Umgang mit dem Neuen und die Fähigkeit ein fluides Gleichgewicht herzustellen. Dazu bedarf es einer steten rationalen Prüfung seiner/ihrer selbst, einer Bearbeitung des eigenen Handelns hin zur Perfektion und eines strategischen Umgangs mit eigen organisierten Netzwerken (Reckwitz 2012, 2018). Der Handlungskern des optimierten Subjektes liegt im Auswählen, Evaluieren und Entscheiden. Dies sind rationale Handlungsmuster, die zugleich beinhalten, dass Gefühle darin keinen Platz haben. Ein flexibles und veränderungsbereites Subjekt in einer spätglobalen Gesellschaft mit Ansprüchen von Toleranz, Offenheit und Integrität enthält eine Disziplinierung des Handelns. Vor allem ‚schlechte‘ Gefühle dürfen keine Rolle spielen, sie sind lernend durch Erziehung und (Selbst-)Bildung aus dem Handeln herauszufiltern. Das unternehmerische Subjekt verliert sich, so könnte man als Drohung formulieren, wenn es sich in seinen Affekten, Stimmungen, seinen Gefühlen und emotionalen Ängsten ergeht. Angst oder gar Aggression oder Hilflosigkeit sind schlechte Wegbegleiter für den Anspruch, sich ständig zu wandeln und stets Neues hinzuzulernen. Denn die Anrufung meint sich frei zu machen davon, was man mag, aber einem nichts nutzt, was einem einfach so ohne gewinnbringenden Nutzen gefällt oder was man an sich ablehnt oder sogar hasst. Das auf Eigenverantwortung verwiesene Lernselbst (Helsper 2015, S. 136) ist gleichzusetzen mit reflexiver Flexibilität, Selbstorganisation und vernünftigem Lernen. Damit bedeutet Disziplinierung vor allem, sich von ‚ungünstigen‘ Emotionen zu befreien, Affekte einzuhegen und den Versuch zu starten, Handeln und Gefühle voneinander zu trennen, resilient zu sein bzw. zu werden. Dies

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scheint zugleich die Gewissheit zu geben, persönliche Trennungen oder Niederlagen mühelos zu bewerkstelligen, sich leicht ohne allzu große Bindungen in fluiden Szenen zu bewegen, immer Neues aufzunehmen und beruflich sich stets neu zu orientieren. Es geht darum, dem Hysteresis-Effekt, wie Bourdieu (1987) ihn beschreibt, zu entkommen. Die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrategien des eigenen Habitus sind vom Emotionalen, das bindend wirkt und nicht loslassen möchte, zu befreien. Gefühle verklären den vernünftigen Blick und emotionale Bedürfnisse nach Sicherheit, Ordnung und Beständigkeit sind zu negieren, denn sie behindern das Neue. Ehrenberg (2012) beschreibt Krankheitserscheinungen des spätmodernen Subjekts. Er benennt Depression und Burnout: Das Gefangensein in Gefühlen und Stressüberwältigung lähmen nicht nur den Körper, sondern auch Gedanken und Handeln. Das optimierte, authentische und flexible Subjekt möchte sich von unangenehmen und unerwünschten Emotionen und Gefühlen befreien und sich damit singularisieren (Reckwitz 2018). Je weniger sich das optimierte Subjekt von den eigenen Gefühlen leiten lässt, desto freier und offener kann es sich vernünftig den Anforderungen von strategischem Auswählen, Evaluieren des Angebotenen oder der Situation und der Entscheidung über das richtige Verhalten und die richtige Perspektive auf das Neue widmen, ein Netzwerk aufbauen und sich kultivieren. Nur emotionslos trifft das Subjekt die beste Auswahl für sich zwischen vielen Optionen, denn Gefühle behindern Strategien der Verbesserung hin zur perfekten kultivierten Singularisierung. Zugleich aber wird sich das spätmoderne Subjekt dessen bewusst, dass es mit einer „Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen“ (Bröckling 2007, S. 127) konfrontiert ist. Denn das optimierte Subjekt sucht permanent nach dem richtigen Weg, und das Erkennen darüber, dass es sich nicht auskennt und auf sich gestellt ist, löst – so Bröckling – „Erschrecken aus“ (Bröckling 2007, S. 127). Es fühlt sich hilflos und sucht Hilfe, bekommt aber keine. Ratgeber, wie wir sie heute überall und für alle Themen (Duttweiler et al. 2016) finden, in analoger und digitaler Form (Schneewind) oder Seminarangebote offerieren dem Ratsuchenden und der Ratsuchenden die Hoffnung auf Erkenntnisse über sich, den richtigen Weg, die richtige authentische Entscheidung zu finden, aber letztendlich spiegeln sie alle nur den Ratsuchenden, machen neue Optionen auf nach dem Motto ‚Finde dich‘ oder ‚Du bist, was du sein möchtest‘ und fordern ihn noch mehr auf, sich aus sich heraus für das Richtige zu entscheiden. Unwillkürlich schleichen sich angesichts der eigenen Unvollkommenheit und der scheinbaren Unfähigkeit darüber, sich selbst zu finden, Gefühle ein wie Unsicherheit, Angst, Wut und Scham, Neid durch den Vergleich mit Besseren und Traurigkeit aufgrund des eigenen Misslingens. Das Zurückgeworfensein auf

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sich selbst, aber auch die Herausforderungen spätmodernen Arbeitens und Lebens produzieren Gefühle des Alleinseins, des Sich-zurück-gesetzt-fühlens und führen zu Aggressionen über sich und Andere, der eigenen und anderer Unfähigkeiten, sei es im Umgang mit Anderen, im Straßenverkehr, in der Familie, mit Freunden oder im Beruf. Insofern verwundert es nicht, dass sich Fury Rooms zunehmender Beliebtheit erfreuen. Diese möchte ich nun vorstellen. Fury Rooms: Ein Beispiel Fury Rooms, die man mieten kann, heißen auch Anger, Rage, Crash Rooms. 2008 wurde in Dallas (USA) der erste Fury Room gegründet. Es folgten weitere in New York, Los Angeles, auch in Breslau, Warschau, Hanoi, Seoul sowie in Deutschland in Halle oder in Berlin. Aber auch in Paris und anderen Orten auf der ganzen Welt findet man Fury Rooms, die so oder ähnlich genannt werden. Gibt man im Internet über Google ‚Fury Rooms‘ ein, erscheinen Beschreibungen, Anzeigen und You-tube-Filme. Fury Rooms können gemietet werden oder auch zum Geburtstag verschenkt werden. Zu einem der Angebote findet man folgende Beschreibung: „Die etwas andere Form der Stressbewältigung!“ Wolltest du schon immer ein ganzes Zimmer, einen Fernseher zertrümmern oder Geschirr an die Wand werfen? Du musst mal richtig Dampf ablassen? Dann bist du in unserem Crash Room genau richtig! Anzahl: inkl. max. 3 Personen Schlagwerkzeuge: freie Auswahl (diverse Äxte, Hämmer; Stemmeisen; Golfschläger; Baseballschläger) Wutzeit: 60 min. Sicherheit: Sicherheitskleidung wird gestellt. Altersbeschränkung: ab 14 Jahren (in Begleitung ihrer Eltern) Du kannst auch eigene Gegenstände, Schlagwerkzeuge, deine Lieblingsmusik für deinen persönlichen Crash mitbringen. Es ist auch möglich, dieses Event (für einen Aufpreis) in euren Räumlichkeiten stattfinden zu lassen. Es gibt den Crash Room und dem Crash Room Deluxe. In unserer kleinen Kaffeeecke können wir dir/euch auch ein paar Heiß- und Kaltgetränke anbieten. Dein Crash Room Team.” Angeboten werden diese Räume wie Belustigungen im Freizeitparcour als Spaß- oder Funräume zum Austoben von Wut und Hass in gesicherten Zimmern,

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für die man erst zahlt, sich dann vergnügt, schlechte Gefühle mal so richtig ohne Kontrolle rauslässt, Katharsis – von was auch immer – erleben darf oder kann. Aufschlussreich sind auch auf YouTube eingestellte Videos, die visualisieren, was einen erwartet und so versuchen, das Befremden über solche Räume zu nehmen, in dem die dort Gezeigten gefragt werden, wie sie sich gefühlt haben und die Antworten sind: ‚Es hat Spaß gemacht‘, ‚Ich fühle mich befreit‘ oder ‚ich konnte meinen Frust rauslassen‘ etc. Video (Dauer: zwei Minuten) Das ausgewählte Video, das für viele andere steht, zeigt die mediale Inszenierung eines Wutraumes in Berlin. Nicht – wie man eigentlich erwartet – wird das Thema von Ernsthaftigkeit gerahmt, sondern es wird das ‚Spaßige‘ präsentiert. Das Video zeigt eingangs eine Moderatorin und den Verkäufer, der den Wutraum gegen Geld (ca. 150 Euro die Stunde) vermietet und die Probleme seiner Kunden wie Beziehungsstress, Scheidung oder Schwierigkeiten im Beruf kennt, und zwei attraktive Frauen, die bereit sind, sich filmen zu lassen. Zu sehen ist der eigens für Aggressionen hergerichtete Raum mit Mobiliar und mit einem Waffenarsenal (Beile, Äxte, Schlagstöcke, Baseball-, Golfschläger etc.), mit denen dieses zertrümmert werden darf. Die Moderatorin, die anfangs selbst kurz mit dem Beil eine Kiste zerhackt und dabei kichert, den ‚Fun‘ betont, spricht dann mit den beiden jungen Frauen, die im Vorraum zum Einstimmen mit einem Gläschen Sekt ein Zelebrieren andeuten, aber auch die Normalität der beiden jungen Frauen scheint durch: An Ihnen ist nichts Aggressives oder sonst Verdächtiges. Anlässe sind das geklaute Auto und der nicht bestandene Führerschein bei gleichzeitigem Hinweis der einen Frau, dass sie von ihrer Mutter gut erzogen ist und ihre Mutter so etwas nie zugelassen hätte. Die Betonung liegt auf ganz normalen Menschen, die gut erzogen sind, diszipliniert auf Unwägbarkeiten und nicht aggressiv reagieren. Und dennoch ist da etwas, was sie bewegt, den Wutraum zu nutzen. Dann erst sieht man die Beiden im Wutraum, beide rangeln um sich dort befindende Waffen und die anschließende Zerstörungswut, die zu sehen ist, ist heftig, die gleichsam aber durch die Moderatorin mit der Frage nach dem Spaß haben für die Zuschauenden abgemildert wird. Das Ernste wird in ein Witziges verpackt. Der Film endet mit den jungen Frauen im Schutzanzug mit Helm und Handschuhen mit der Zerstörung von Fernseher, einer Kommode, Kisten, Regalen etc. Gefühle, die aufgeschoben sind, dürfen sich hier entladen – oder wie eine der beiden Frauen im Film sagt: „24 Jahre Aggression rausgelassen“. Das hört sich nach mehr an, die Erleichterung ruft nach einem nächsten Besuch.

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4 Eingezäunte gewaltige Gefühle Um was geht es hier? Wie gehen ‚normale‘ Menschen mit ihren Aggressionen um, was machen sie mit ihren Erfahrungen, dass Gefühle in ihrem Handeln und in ihren Erlebnissen eingelagert sind, sie diese aber gleichermaßen abzuschalten bzw. zu verdrängen haben, folgen sie Anrufungen der Optimierung. Auf was verweist das? Der kleine Film dokumentiert erst mal eine relativ neue Geschäftsidee: Räume, die gemietet werden können und in denen angestaute Wut und Aggression an bezahlten oder mitgebrachten Gegenständen – so wie man möchte – ausgelebt werden können. Hier wird aus dem ‚Du darfst nicht aggressiv sein‘ ein ‚Du darfst‘, wobei Werkzeuge als ‚Waffen‘ und Schutzkleidung zur Verfügung gestellt werden. Das Video suggeriert eine Erlösung für angestaute Wut, Frustration und Aggressionen aller Art, da diese Gefühle in den dafür bereitgestellten Räumen, für die bezahlt wird, rausgepowert werden dürfen. Spätmoderne Gesellschaft erscheint hier als eine Fordernde, die für Wut und Hass keinen Platz hat bzw. haben möchte. Unverständnis kommt beim Anschauen der Videos hoch: Wie kann man so aggressiv sein, sich so gehen lassen, sich anschließend über die rausgelassenen Aggressionen freuen? Und damit wird zugleich politisch gefragt: Welcher Programme bedarf es, um Wut und Hass einzuhegen? Die Fragen kreisen häufig dabei um ein Warum und weniger um ein Wieso. Es ist also zu fragen, wieso werden solche Anger-Rooms genutzt, was eröffnen sie und was hat dies mit spätmodernen Gesellschaftsformen zu tun? Angesichts spätmoderner Zwänge versteht Ehrenberg (2008) Depression und Burnout als menschliche Ausbruchversuche daraus, aber auch Gefühle wie Wut und Angst sind in diesen Kontext zu stellen. Wut und Angst können aus einer Hilflosigkeit resultieren, sich gesellschaftlichen Anrufungen nicht mehr erwehren zu können: Flexibilität im Berufsleben, verantwortete Elternschaft (Landhäußer 2020) zu jeder Sekunde, Familie als Bildungswelt zu inszenieren, sich zugleich selbst zu finden und erfolgreich zu sein, diese ohnmächtig machenden Anrufungen, die über rationales Handeln und Selbstorganisation zu erlangen sind, führen vielleicht geradezu in Aggressivität und Stresserleben, aber auch zu Angst und Hilflosigkeit. Der normative Anspruch friedvoll, anerkennend und gerecht mit Anderen und Anderem umzugehen und der Aggressionsstau, die Wut über dieses und jenes, sei es im Straßenverkehr, beim Einkaufen oder im Gespräch mit Anderen, stets alles gut zu verarbeiten und in friedfertige Handlungsformen zu überführen, lässt sich kaum jederzeit und allerorts umsetzen. Fury Rooms scheinen eine Lösung

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zu bieten. Meines Erachtens sind sie ein Zeichen dafür, dass sich das Subjekt ohnmächtig fühlt gegenüber den Anforderungen, sich stets zu optimieren und zu singularisieren zu müssen. Die Anrufung, ein friedvolles Subjekt zu sein, und das Spüren von Wut über – wie im Video erwähnt – den Diebstahl des Autos, die nicht-bestandene Prüfung führen (auch) in Anger-Rooms, in denen zertrümmert werden darf, wie es beliebt – unter der Regie des extra dafür Angeordneten. Wuträume offerieren eine Möglichkeit des Auslebens für verbotene, verdrängte Gefühle und so verwundert es nicht, dass in einem anderen Video ein Mann eine Stunde im Anger-Room zum Vatertag von seiner Frau geschenkt bekommt, um sich ‚mal so richtig gehen zu lassen‘. Wieso machen diese Menschen das? Sie suchen ein Ventil, um auf Diebstahl und Nichtbestehen der Prüfung gelassen zu reagieren, kontrolliert zu bleiben, nämlich genau so, wie die Mutter das eine Mädchen erzogen hat. Innere Affektkontrolle steht scheinbar unkontrollierbaren Gefühlen, Verständnis und Rücksichtnahme stehen Verständnislosigkeit, Frust und Wut gegenüber. Ein ‚gekaufter‘ Raum ermöglicht, Wut zuzulassen, sie auszuagieren, das negierte Abgespaltene auszuleben. Die Art des Aggressiven und die Härte werden den Agierenden überlassen. Die Lizenz zum Zerstören wird gekauft. Man darf, wie eine Interviewte sagt, ein bisschen crazy sein – und auch bei den NutzerInnen der Fury Rooms wird es unterschiedliche Typen des gewaltigen Auslebens von Hass und angestauter Wut geben. Das spätmoderne optimierte Subjekt evaluiert und entscheidet, es inszeniert sich als kultiviertes Singuläres Reckwitz (2015). Wut oder auch Angst und Depression sind da schlechte Wegbegleiter. Die Anforderungen sind, sich frei zu machen davon, was einen wütend macht, verunsichert, ängstigt. Rationales Abwägen und kühle Distanziertheit befreien von Gefühlen, die einen verfangen, beohnmächtigen. Es ist – so lässt sich auch sagen – der Versuch, sich dem Hysteresis-Effekt zu entziehen, diesen zu verwerfen und eine eigen gebaute Strategie des Denkens, Handelns und Wahrnehmens zu entfalten, die zum Wellbeing und resilienten Handeln führt. Mit diesen Überlegungen lässt sich folgern, dass sich das spätmoderne optimierte Subjekt vom modernen grundlegend unterscheidet. Die Anforderungen sind nicht mehr, autonom zu werden in Abgrenzung zu etablierten Strukturen, die es zu brechen und dann bewusst gerecht zu gestalten gilt, sondern in der Optimierung liegt ein Versprechen und zugleich eine Aufforderung, sich von ‚ungünstigen‘ und ‚behindernden‘ Emotionen zu befreien und sich damit selbst zu versachlichen, sich selbst zu kreieren. Hinter der Subjektfolie eines unternehmerischen und singulären Subjektes verbirgt sich nämlich auch, dass über

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ein Sich-anrufen-lassen Gefühle auch neutralisiert werden könnten – sei es durch Rationalität oder Beratung und psychologische Aufarbeitung. Dies mag auch ein Grund für die vielen Ratgeberforen digitaler und non-digitaler sein, die wie ein Heilsversprechen auf ein besseres, resilientes Leben ohne ‚schlechte‘ Gefühle daherkommen und doch zugleich die Hoffnungslosigkeit zeigen, da mit der Optimierung eine Dynamisierung einhergeht, die niemals endet. Ein Ausflug in einen Fury Room mag dann eine kurze Erlösung sein. Theoriebildungen über spätmoderne Gesellschaften weisen, auch wenn sie vieles erklären, eine konzeptionelle Leerstelle auf, denn wie in den Videos zu sehen ist, sind Gefühle, Emotionen und Stimmungen ständige Wegbegleiter. Gefühle sind in diesen Theorien jedoch Störungen und Gefährdungspotenziale. In der Familienforschung bspw. werden negative Gefühle als Risikofaktor für das Zerbrechen von Partnerschaften und Familie (Jurczyk 2014, Walper und Wendt 2005) genannt. Gutes Abwägen und Berücksichtigen von Interessen und das Suchen nach Vereinbarungen, das ist es, was Familie stabilisiere. Aber alleine schon die Anrufung zur steten Herstellung von verantworteter Gemeinschaft rufen Stress hervor aufgrund von steter Optimierung, wobei ‚schlechte‘ Gefühle durch Selbstanalyse in ‚positive‘ Gefühle wie Achtung, Liebe und Anerkennung transformiert werden sollen. Ratgeber, Psychologie und auch die Medien, die das Optimierungssyndrom zum Guten und Besten für sich vereinnahmt haben, warnen vor Gefühlen wie Wut und Hass. Fury Rooms bieten eine Lösung für aufgestaute Gefühle, üben ein in eine Abspaltung von ‚schlechten‘ Gefühlen, die da eingehegt ausgelebt werden, wenn dafür bezahlt wird. Solche Annahmen, die sich nicht nur in der Familienforschung (Konietzka und Zimmermann 2020) finden, sondern auch in praxeologischen Ansätzen bei Bourdieu oder Bröckling, neutralisieren das Emotionale. Gefühle sind bei Bourdieu amor fati (Wahl des Schicksals), Distinktion oder symbolisches Kapital. Gefühle werden verstanden als etwas, was zu Handlungen und auch zu Ordnungen dazukommt, das Klebemittel für Vorlieben ist. Und ‚schlechte‘ Gefühle werden als Lern- und Bildungsproblem thematisiert. Die Frage nach dem Warum ruft nach vernünftigen Antworten zur Klärung von ‚schlechten‘ Gefühlen. Stattdessen sollten wir jedoch fragen, wie sich Gefühle und Vernunft im Handeln verbinden und inwiefern Anrufungen des optimierten Subjektes aufgrund seiner Disziplinierungen ganz eigene Form von Wut, Hass oder Depression und Angst produzieren. Aber nicht nur im Handeln zeigt sich eine Überforderung, sondern auch im sozialwissenschaftlichen Denken bildet sich Ähnliches ab: Auch hier bleiben Gefühle weitgehend unberücksichtigt. Vielleicht liegt es daran, dass beginnend mit Max Weber (1985) sinnhaftes Handeln mit rationalem Handeln

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zur Organisation von Gesellschaft gleichgesetzt wird und sich darin der Traum äußert, sich vom Unbill des Emotionalen befreien zu können. Aber auch Prozesse der Moderne wie Beschleunigung im Technischen und Sozialen (Rosa 2016), Individualisierung, Anrufungen, ein singuläres authentischen Subjekts (Keupp 2014) zu werden, führen nicht nur zu Hilflosigkeit und Gefühlen von Alleineseins, sondern auch zu Wut, Hass und Aggressionen. Sozialwissenschaftliche Ansätze haben sich m.E. verstärkt mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sich Affekte in den Anrufungen eines spätmodernen Subjekts entladen und wieso es ein Tabu ist, seine Emotionen nicht im Griff zu haben und wie bedeutsam Gefühle wie Wut und auch Angst sind. Die ­Anger-Rooms scheinen darauf zu verweisen, dass das Zurückgeworfensein des Subjekts auf sich Hilflosigkeit hervorruft und zwar dergestalt, dass gesellschaftliche Strukturen und Anforderungen als von außen unumstößlich Gegebenes und zugleich als Inneres erlebt werden. Es ist das Subjekt, das auf sich zurückgeworfen ist und sich in einer spätmodernen Welt zurechtzufinden hat – und dann Fury Rooms zum Ausagieren von ‚negativen‘ Gefühlen nutzt. Vielleicht nicht die schlechteste Idee, auch wenn zugleich die Frage aufkommt, wie sich Gesellschaft befriedigender gestalten lässt.

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Die Gewalt der Medien und die Medien der Gewalt Jochen Hörisch

Gewalt und Sex sind von den Anfängen bis heute für Kunst, Literatur und Medien ein unwiderstehliches Faszinosum – wie ein Blick auf die Höhlenbilder in Lascaux oder in Homers Ilias sofort zeigt. Nicht immer ist man allerdings auf dem Niveau Homers oder der frühen Höhlenbilder-Kunst, wenn es um Sex und Gewalt geht, wie jüngst der unsägliche, weil in jedem Wortsinn ordinäre Fall von Harvey Weinstein demonstrierte. Die sich im Anschluss an diesen Fall schnell entwickelnde Hashtag-Initiative #metoo hat deutlich gemacht, dass es sich bei den bekannt gewordenen Übergriffen in der Tat nicht um einen einzelnen irritierenden Serientäter in machtvoller Position, sondern um ein verbreitetes Muster handelt. Die massenmedial verbreitete Erregung über den Fall Weinstein ist absolut plausibel, nachvollziehbar und sicherlich auch produktiv: sie soll und wird wohl übergriffige Männer in Machtpositionen in Schranken weisen. Der Hashtag #metoo ist ja seinerseits schon Element einer Serie; gingen ihm doch u. a. die Hashtags #aufschrei und #neinheisstnein voraus, die durch die ­Hotelbar-Anmache des FDP-Politikers Rainer Brüderle und die von der Schauspielerin Gina Lisa Lohfink angezeigte Vergewaltigung durch zwei Männer ausgelöst wurden. Nun provozieren gerade der letztgenannte Fall oder auch der skandalöse Justizirrtum, der den Lehrer Horst Arnold aufgrund eines – wie später erwiesen – völlig fingierten Vergewaltigungsvorwurfs über fünf Jahre ins Gefängnis brachte, Nachfragen, die so unpopulär wie notwendig sind. Die der im Fall Lohfink der Vergewaltigung angeklagten Männer wurden freigesprochen, das vorhandene Videomaterial und gespeicherte mail- und Twitter-Mitteilungen

J. Hörisch (*)  Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_8

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belegten einvernehmlichen Dreier-Sex; Lohfink wurde wegen falscher Verdächtigung verurteilt. Die Medienresonanz aller vier Fälle (Weinstein, Brüderle, Arnold und Lohfink) war erheblich; am wenigsten im kollektiven Mediengedächtnis verblieben ist der Fall Horst Arnold. Aber gerade in diesem Fall ist es so quälend wie erhellend, aus dem sachlichen Wikipedia-Artikel zu zitieren1: ‚Arnold musste die gesamte Haftstrafe verbüßen, da er die ihm zur Last gelegte Tat weiterhin bestritt und sich weigerte, sich in einer Therapiegruppe für Sexualstraftäter damit auseinanderzusetzen. (…) Erst nach seiner Haftentlassung fiel der Frauenbeauftragten der Schule, Anja Keinath (die zuvor Heidi K. im Prozess unterstützend zur Seite gestanden hatte), auf, dass sich das vermeintliche Opfer mehr und mehr in Widersprüche und Lügen verstrickte, die nicht nur den Fall Horst Arnold betrafen. (…) Der Bruder der Frauenbeauftragten, Hartmut Lierow, Anwalt für Zivilrecht in Berlin, stellte daraufhin Nachforschungen an und recherchierte weitere Ungereimtheiten in der Biografie von Heidi K. Lierow fand heraus, dass Heidi K. bereits mehrfach dadurch aufgefallen war, Lebensumstände zu schildern, die nachweislich falsch waren. Ihre Darstellungen waren so außergewöhnlich, dass sie auch in ihrem Umfeld nicht mehr ernst genommen wurde. Mit diesen Erkenntnissen erwirkte Lierow 2008 ein Wiederaufnahmeverfahren am Landgericht Kassel, das am 5. Juli 2011 mit einem Freispruch für Horst Arnold wegen erwiesener Unschuld endete. Auch die Staatsanwaltschaft hatte auf Freispruch plädiert. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Heidi K. mit den falschen Anschuldigungen einen Konkurrenten um eine schulinterne Position hatte beseitigen wollen. Es stehe ‚ohne jeden Zweifel‘ fest, dass Arnold die Vergewaltigung nicht begangen habe. Der Vorsitzende Richter stellte fest, das Landgericht Darmstadt habe im ersten Prozess dem vermeintlichen Opfer geglaubt, obwohl ein ‚an sich kaum glaubhaftes Geschehen geschildert‘ worden sei. Bei der Urteilsfindung 2001 seien ‚elementare Grundregeln der Wahrheitsfindung‘ verletzt worden. Der 2001 für die Ermittlungen zuständige Kriminalhauptkommissar Horst Plefka sagte aus, er habe von Anfang an Zweifel an dem von K. behaupteten Tatgeschehen gehabt. Ermittlungen in der Vergangenheit von K. zur Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit seien jedoch unterblieben, da man Angst vor einem ‚Aufschrei‘ gehabt habe. Im ersten Verfahren war Plefka nicht als Zeuge geladen gewesen. Nach einem Revisionsantrag von Heidi K. bestätigte der Bundesgerichtshof am 9. Februar 2012 den Freispruch, indem er per Beschluss die Revision verwarf, da die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler

1https://de.wikipedia.org/wiki/Justizirrtum_um_Horst_Arnold

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ergeben habe. Der Freispruch des Landgerichts Kassel wurde damit rechtskräftig. (…) Nach seinem Freispruch kämpfte Arnold vergeblich um eine angemessene Haftentschädigung; bis zu seinem Tod wurde sie nicht ausgezahlt. Auch die Wiedereingliederung in seinen Beruf als Lehrer konnte er nicht erreichen. Um wieder als Lehrer eingestellt zu werden, müsse er sich erneut bewerben, teilte ihm das Hessische Kultusministerium mit. Für eine automatische oder wenigstens bevorzugte Wiedereinstellung Arnolds sah das Ministerium keine Veranlassung. Arnold lebte bis zuletzt von ALG II. Am Morgen des 29. Juni 2012 wurde Arnold unweit seiner Wohnung in Völklingen auf offener Straße tot aufgefunden; er hatte einen Herzinfarkt erlitten. Am selben Tag beschloss die Staatsanwaltschaft Darmstadt, Anklage gegen Heidi K. wegen Freiheitsberaubung zu erheben. Sie wurde – wie zuvor Horst Arnold – zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Heidi K. – der Klarname der Frau, die Horst Arnolds Leben ruinierte, ist nicht öffentlich bekannt. Die Namen Dominique Strauss-Kahn und Jörg Kachelmann kennt hingegen die Medienöffentlichkeit – und kannte sie schon, bevor sie berüchtigte Dimensionen annahmen. Philologen fällt bei diesen Namen auf, dass der erstgenannte französische Vorname sowohl maskulin als auch feminin ist, in beiden Fällen aber eine Assonanz zum Wort ‚dominieren‘ gegeben ist, und dass im zweiten Fall ein deutschsprachiger Mann nun eben auch Kachelmann heißt. Die Namen der Frauen, die diese dominanten und prominenten Männer wegen Vergewaltigung angeklagt haben, sind nicht im kollektiven Gedächtnis präsent. An die Ereignisse bzw. Vorwürfe muss man nicht eigens erinnern, sie sind allgemein bekannt. Bekannt ist gleichermaßen, dass beide, der französische Spitzenpolitiker mit guten Aussichten darauf, der nächste Präsident der Republik zu werden, und der allseits beliebte deutsche Wetter-Moderator, in aufwendigen und mit äußerstem Medieninteresse verfolgten Prozessen vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurden. Was nichts an den gewaltigen Prestige-, Macht-, Zeit- und Geld-Verlusten änderte, die beiden widerfuhren. S ­ trauss-Kahn saß, nachdem er medienöffentlich verhaftet und in Handschellen abgeführt wurde, vom 14–19 Mai 2011 in Untersuchungshaft und stand dann nach Zahlung einer Kaution von sechs Millionen Dollar bis zum 1. Juli unter Hausarrest. Seine politische Karriere nahm ein jähes Ende, wozu auch weitere öffentliche Einblicke in sein ausschweifendes Sexlife beitrugen. Zu den eigentümlichen und doch nur selten beachteten, geschweige denn medienöffentlich diskutierten Umständen der Strauss-Kahn-Affaire gehört die Suggestivität des kritischen Schemas, das da erfüllt zu sein schien: einer der mächtigsten Männer der sog. ersten Welt bzw. des Westens, reich, berühmt, erfolgsgewohnt, weltweit in Elitekreisen verkehrend, Direktor des Internationalen Währungsfonds, vergewaltigt eine arme, aus der dritten Welt eingewanderte Putzkraft in der Suite

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eines New Yorker Luxushotels. Wieweit bei der sich sofort einstellenden Empörung die Hinweise, der Täter entstamme einer jüdischen Familie, mitgewirkt haben, lässt sich nicht exakt bestimmen. Man muss kein militanter Political-Correctness-Fan, frau muss keine militante Feministin, man muss kein Antisemit sein, um sich über so viel Schändlichkeit und strukturelle Gewalt, die in körperliche Vergewaltigung umschlägt, zu erregen. Man muss aber auch kein professioneller Investigationsjournalist und kein mit allen analytischen Wassern geschulter Kriminologe sein, um die groteske Unplausibilität der ein wenig zu suggestiven Geschichte zu erkennen. Denn es genügen die simpelsten und trivialer Weise unstrittigen Angaben zum Sachverhalt, um das Vergewaltigungsnarrativ, juristisch gesprochen: den Tatbestands-Vorwurf irritierend zu finden: ein damals 62 Jahre alter Mann zwingt eine dreißig Jahre jüngere, kräftig gebaute und um mehrere Zentimeter größere (die in Medien zugänglichen Angaben für Strauss-Kahn betragen zwischen 168 und 174 cm, die für das Opfer 178–182 cm) Frau zum Oralsex. So die Anklage der aus Guinea stammenden Nafissatou Diallo, die auf Nachfrage verneint, dass der Täter mit einer Waffe drohte oder Betäubungsmittel einsetzte. Es ist und bleibt auch im Rückblick irritierend, wie viele Medien, die über die Affäre Strauss-Kahn berichteten und Urteile fällten, die evidente interne Widersprüchlichkeit des Anklagenarrativs entweder nicht wahrnehmen oder nicht problematisieren wollten. Die emotionale Empörung gegen Gewalt hat offenbar die Vernunft gerade auch von Medienprofis ausgeschaltet. Dabei war einigen Zeitgenossen die groteske Dimension der Anklage nicht ganz entgangen; die frühen Hinweise etwa von Richard Herzinger in der Welt vom 16.5.2011 – ‚Strauss-Kahn besetzt damit in der medialen Wahrnehmung von Anfang an die Idealrolle des abstoßenden Bösewichts – des unverbesserlichen Lustgreises, der seine Finger nicht von jungem Fleisch lassen kann‘ – fanden aber kaum Resonanz. Als die peinliche Qualität der medialen Vorverurteilung allzu deutlich wurde, setzte nicht etwa eine allgemeine Reflexion über die Gewalt der Medien ein, vielmehr setzte sich angesichts dessen, was über das Privatleben von Strauss-Kahn bekannt wurde, so etwas wie das Gefühl ‚es trifft ja doch den Richtigen‘ durch. Die Fälle Kachelmann, Strauss-Kahn und jüngst auch der des Musikwissenschaftlers Siegfried Mauser zeigen in aller Deutlichkeit, dass Medien (jedenfalls die in unseren Breiten) seit vielen Jahren außerordentlich sensibel auf Gewalt reagieren – bevorzugt auf die Gewalt, die von einflussreichen, älteren, mächtigen, weißen Männern ausgeht (und das ist zweifellos auch gut so, wie unter vielen anderen mehr jüngst der wohl eindeutige Fall des ­Hollywood-Film-Produzenten Harvey Weinstein belegt!). Dabei laufen Medien aber immer auch Gefahr, die z. T. Biografien zerstörende Gewalt auszublenden, die sie selbst ausüben, wenn sie diagnostisch mal gewaltig, mal nur schlicht die

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Faktenlage verkennen, weil sie großen Erzählungen mehr vertrauen als misstrauischen und unpopulären Zweifeln zugunsten der Angeklagten. Medien berichten von Gewalt, sie analysieren und kritisieren Gewaltausübung, und sie üben selbst Gewalt aus. In Zeiten, in denen den klassischen Printmedien wie den öffentlich-rechtlichen Massenmedien (man ist geneigt zu sagen: ehemaligen Massenmedien) der Wind, ach was: Der disruptive Internet-Sturm ins Gesicht braust, ist das Zögern verständlich, mit dem gerade Medienprofis aller Couleur auf z. T. gewaltige Fehlleistungen der Medien und eben auch konkret benennbarer Medienprofis reagieren. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Dass der grand old man der ZEIT, Theo Sommer, wegen Steuerhinterziehung in erheblichem Ausmaß verurteilt wurde und als vorbestraft gilt und dass die Kämpferin für soziale Gerechtigkeit Alice Schwarzer diesem Mann darin nicht nachstand, buchen viele Medien als Peinlichkeit, über die des Sängers Höflichkeit nach kurzer Pflichterwähnung zu schweigen habe. Die beiden vorbestraften Wirtschaftskriminellen (eine sachlich angemessene, aber in den meisten Medien so nicht anzutreffende Bezeichnung) publizieren munter weiter (und das ist auch ihr gutes Recht; sie dürfen sich auch weiterhin für einen feinen Hanseaten bzw. für eine Kämpferin um soziale Gerechtigkeit halten) – wären sie Politiker gewesen, hätten sie jedoch definitiv ihre Ämter verloren. Für Journalisten gelten in demokratischen Saaten andere Regeln als die, die Journalisten für Politiker in Anschlag bringen. Ein Beispiel für diese Asymmetrie ist im kollektiven deutschen Gedächtnis so gegenwärtig wie die Fälle Strauss-Kahn und Kachelmann. Grotesk übertribunalisiert wurden in vielen Medien (gerade auch von Journalisten, die gerne ihren Presseausweis vorzeigen, um etwas umsonst oder mit hohem Rabatt zu erhalten) die Vergehen des Bundespräsidenten Christian Wulff, der bekanntlich bei Freunden übernachtete, ohne dafür zu bezahlen (was die bekannte ZDF-Moderatorin Bettine Schausten stets tut, wie sie einem belustigten bis konsternierten TV-Publikum erklärte), sein Haus mit einem günstigen Kredit finanzierte, beim Autoleasing ein Bobby-Car für seinen Sohn dazu erhielt und vor Gericht anders als die genannten Medienprofis Theo Sommer und Alice Schwarzer einen Freispruch erster Klasse bekam. Im Gerichtsverfahren gegen den Bundespräsidenten ging es um den Vorwurf einer Vorteilsannahme in Höhe von 700 € (Freispruch), der Steuerhinterzieher Theo Sommer hatte seine Mitbürger um 700.000 € betrogen (verjährte Steuervergehen nicht mit eingerechnet, weder Theo Sommer noch Alice Schwarzer haben meines Wissens ausstehende, aber verjährte Steuerschulden beglichen). Dass medienöffentliche Kritik an der problematischen Weise, wie andere mit Macht und Gewalt umgehen, nicht nur geboten ist, sondern auch Prestige, Einfluss und ökonomischen Erfolg einbringt und insofern trotz obligatorischer

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Anfeindung durch die Kritisierten angenehm sein kann, leuchtet unmittelbar ein. Trivialer Weise ist es weniger angenehm, selbst öffentlich kritisiert und gar der Gewaltausübung geziehen zu werden. Medien müssen – nicht nur in Deutschland – seit einigen Jahren verstärkt mit einer Wahrnehmung leben, die ihnen nicht ganz angenehm sein kann: Dass sie nicht nur ungerechtfertigte Gewalt in ihren vielfältigen Formen aufdecken und kritisieren, sondern auch selbst ausüben. Dass Medien in halbwegs freien Gesellschaften neben Legislative, Exekutive und Judikative zur vierten Gewalt geworden sind2, lässt sich kaum bestreiten (Lobbyismus sollte übrigens als fünfte Gewalt in Rechnung gestellt werden). Deshalb müssen Medien und konkret eben auch einzelne persönlich zu benennende Medienvertreter sich ebenso wie Abgeordnete, Minister und Richter Kritik gefallen lassen, wenn sie bei der Ausübung der ihnen anvertrauten Gewalt das eine oder andere Mal gewaltig danebenliegen, unvernünftige Vorurteile walten lassen und sich also nicht mit Ruhm bekleckern. Diese medienkritischen Äußerungen fallen mir aus – wie ich annehme – schnell nachvollziehbaren Gründen nicht leicht. Nur zwei seien ausdrücklich genannt – erstens: die rechtsradikale Pauschalpolemik gegen die ‚Lügenpresse‘ (schweigen wir von Donald Trumps wüsten Ausfällen gegen Medien, die ihn zu kritisieren wagen) ist so verfehlt und angesichts der Vielfalt und der Qualität gerade auch der deutschen Medienlandschaft so grotesk, dass man automatisch zögert, eine Medienkritik zu artikulieren, die von falscher Seite vereinnahmt werden könnte. Deshalb in aller Deutlichkeit: Jeder, der auch nur ansatzweise bei Sinnen ist, wird es begrüßen, dass die große Mehrheit der deutschen Print-, Radio- und TV-Medien Maßstäbe der political correctness respektiert, Verfehlungen in Politik und Wirtschaft (weniger engagiert im Sport) aufdeckt, übergriffige bis vergewaltigungsbereite Männer, die nicht wissen, was sich Damen gegenüber schickt, vorführen und kritisiert und rechtsradikalen Tendenzen und Impulsen entgegentritt. Die Alternative, nämlich rechtspopulistische Stimmungspolitik zu unterstützen, ist ja zu Zeiten der Weimarer Republik im Umkreis etwa der Hugenberg-Presse mit bekannten Folgen praktiziert wurden. Der zweite Grund für die auffallende Zurückhaltung moderater Köpfe bei Kritik an Fehlleistungen der klassischen Medien Presse, Radio und TV wiegt wohl noch schwerer: Die durch das Internet bedingten disruptiven Entwicklungen auf dem Mediensektor.

2Vgl.

dazu u. a. Meyer, Th. (2015). Die Unbelangbaren – Wie politische Journalisten mitregieren.

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Den klassischen Medien wie der Presse oder dem öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen, um vom Theater und vom gedruckten Buch zu schweigen, bläst der Wind, ach was, der Sturm ins Gesicht. Der Grund dafür ist offenbar: das Internet sorgt für einen Struktur-, Logistik- und Mentalitätswandel in der Medienbranche, der atemberaubend und in jedem Wortsinn gewaltig ist. Unheimliche Qualität gewinnt dieser Prozess dadurch, dass er eigentümlich anonym waltet. Kritik am Internet lässt sich anders als Kritik an einzelnen Medien und Journalisten nicht recht adressieren. Das Internet hat so wenig wie die Moderne, das Geld oder die Globalisierung eine Adresse. Man kann eine Demonstration vor einem Sendegebäude oder einem Pressehaus, nicht aber vor der zentralen Niederlassung des Internets organisieren; man kann einen Intendanten oder Chefredakteur kritisieren und beschimpfen – problematisch, nein: unmöglich aber ist es, die Kritik am ‚Netz‘ so zu artikulieren und zu adressieren, dass es sich beleidigt fühlt und mit Prozessen droht. Dieses von Kultur- und Medienkritikern um seiner Schlichtheit willen immer wieder unterschätzte Adressatenproblem stellt sich bei der Medienkritik noch schärfer als etwa bei der Kritik der Moderne, des Geldes oder der Globalisierung, die so wenig wie das Internet eine Anschrift, einen Eigennamen und eine Telefonnummer haben. Denn Medien, die reichweitenstark sein wollen, sind, wie man spätestens im ersten Semester eines Studiums der Medienwissenschaft lernt, auf Personalisierung angewiesen. Die Ingenieure, Informatiker und Programmierer, die die Internetinfrastruktur organisieren und am Laufen halten, sind eigentümlich anonym, jedoch alles andere als ohnmächtig. Kein Wunder, dass Vertreter traditioneller Medien unsicher, verstört und gereizt auf die disruptiven Entwicklungen auf dem Mediensektor reagieren. Denn sie erleiden neben starken ökonomischen Einbußen auch einen Prestige- und Einflussverlust, der irritierend und kränkend ist. Die Nervosität in den Debatten um die Qualität der unterschiedlichen Medien nimmt deshalb rasant zu. Auffallend ist dabei, dass sich die Traditionsmedien (wie jüngst die Schelte des Spiegels über ARD und ZDF und die darauf folgenden Reaktionen zeigten3) untereinander streiten wie die Kesselflicker, weil der eigentliche Adressat ihrer Kritik, das Internet mitsamt der Verwerfungen, die es den Traditions-Medien beschert, nicht zur Disposition steht. Das Internet waltet unbeeindruckt von aller Kritik unausgesetzt und mit stets steigender Intensität; es sorgt dabei für ebenso faszinierende wie unheimliche Verwerfungen.

3s.

die Spiegel-Titel-Story vom 7.10.2017: Die unheimliche Macht – Wie ARD und ZDF Politik betreiben.

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Was Marx – um ihm kurz vor seinem zweihundertsten Geburtstag Reverenz zu erweisen – im Kommunistischen Manifest über den Kapitalismus ausführte (auch er hat übrigens keine spezifische Adresse, bei der man sich wirkungsvoll über ihn beschweren könnte) – gilt in frappanter Weise auch für das Internet. Im folgenden berühmten Zitat ist nur das Wort ‚Bourgeoisepoche‘ gegen die Wendung ‚Epoche des Internets‘ ausgetauscht: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Epoche des Internets vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (Marx und Engels 1959, S. 465). Mit zumindest einer seiner Thesen hatte Marx fraglos Recht: Veränderte Produktivkräfte sorgen obligatorisch für veränderte Produktionsverhältnisse. Was in unserem Kontext heißt: die Produktivkraft Internet hat bereits die alten Medienverhältnisse verdampfen lassen und wird sie weiterhin revolutionieren. Um nur einige wenige Aspekte konkret zu benennen: Die Musikindustrie, wie wir sie noch vor fünf Jahren kannten, ist im Zeitalter von Streaming-Diensten mitsamt ihren Bezahl- und Vertriebsmodellen schon heute nicht mehr wiederzuerkennen; Wissenschaftsverlage mit (in diesem Fall – um zurückhaltend zu formulieren – grenzwertigen Geschäftsmodellen wie denen des Elsevier-Verlages) wird es in zehn Jahren nicht mehr geben; neue große ­Print-Lexika verlegen zu wollen, ist angesichts von Wikipedia schon seit vielen Jahren eine geradezu groteske Idee; und – trotz wilden Aufbäumens – die Printpresse und der Buchmarkt, der Buchhandel, die Buchpreisbindung und das uns vertraute Copy-right sind ein Auslaufmodell (um nicht missverstanden zu werden, füge ich hinzu: Leider, da geht unendlich viel verloren, aber das Bedauern bis Entsetzen ändert weder die Diagnose noch die Prognose.). Werfen wir angesichts dieser Lage einen Blick zurück auf die heroische Geschichte der bürgerlich demokratischen Aufklärungsmedien. Sie können zu Recht stolz sein auf ihre Leistung. Einige wenige Stichworte genügen, um im kollektiven Gedächtnis erneut gegenwärtig werden zu lassen, was wir der vierten Gewalt, konkreter: klugen, unbestechlichen und mutigen Journalisten verdanken: Die Aufdeckung des antisemitischen Komplotts gegen Dreyfuss, die ­Spiegel-Strauß-Affäre, der Watergate-Skandal, die Publikation der VietnamPapiere, die (wenn auch noch unvollendete) Klärung der Barschel-Intrigen – um nur diese wenigen Beispiele zu nennen. Sie vermögen ebenso argumentativ wie suggestiv zu begründen, dass und warum Medien in freien und offenen

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Gesellschaften zur vierten Gewalt neben Legislative, Exekutive und Judikative geworden sind. Kein Wunder, dass das Selbstwertgefühl mutiger und kluger Presse- und Medienleute gut entwickelt ist: wir sind das Sturmgeschütz der Demokratie, um den legendären Satz von Rudolf Augstein zu bemühen. Alle Erfolgsgeschichten haben aber immer auch ihren Preis: Den klassischen Aufklärungsmedien kommen die ganz großen Skandalgeschichten abhanden. Denn es ist angesichts der aufklärerischen Gegenmacht unabhängiger Medien in liberalen Gesellschaften für finstere Mächte schlicht und einfach sehr viel schwerer geworden, gegen fundamentale Gesetze und Anstand zu verstoßen. Und das ist zweifellos auch gut so. Intrigante Politiker (aber auch andere Milieus wie etwa die Wirtschaftseliten) müssen sehr handfest damit rechnen, dass ihr illegales Tun auffliegt – dank aufmerksamer, kritischer Medien, die man eben deshalb nicht genug schätzen kann. Der ironische Nebeneffekt dieser positiven Entwicklung ist, dass auch Skandale nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Kritischer Journalismus aber ist auf die Aufdeckung von Skandalen systematisch angewiesen. Und also wird häufig skandalisiert, was denn doch deutlich unterhalb des Niveaus von Starfighter-Korruption, CIA-gestütztem Putsch gegen Allende oder Parteien- und Politikerbestechung im großen Maßstab ist. Etwa, dass ein Bundespräsident bei Freunden übernachtet, ohne dafür zu zahlen, oder dass ein Bundeskanzlerkandidat den wahren Satz ausspricht, guten Wein könne es nicht für weniger als fünf Euro pro Flasche geben. Wenn dann noch hinzukommt, dass ein unerträglicher Skandal, nämlich eine ausländerfeindliche Mordserie wie die des NSU den kritischen Traditions-Medien nicht auffiel, ist es nicht verwunderlich, wenn diese einen Ansehensverlust erleiden. Zu diesem Prestigeverlust trägt auch bei, dass gerade die klassischen Medien in den letzten Jahren, also ausgerechnet in Zeiten der verschärften Konkurrenz mit Internetmedien, vielfach einen irritierenden Mangel an Urteilskraft aufweisen. Um nach dem Fall Dominique Strauss-Kahn einen weiteren, ganz anders gearteten zu nennen: Die Reaktion der traditionellen Medien auf Edward Snowdens Enthüllungen über den Umgang des US-Geheimdienstes NSA mit dem Internet. Ich gehöre zu den arroganten Köpfen, die bekennen, von dieser Enthüllung nicht überrascht worden zu sein. Die allermeisten Medien aber zeigten sich überrascht und entsetzt. Sie waren also zuvor unglaublich naiv, gutgläubig und unkritisch. Haben sie wirklich geglaubt, der US-Geheimdienst würde das Internet nicht im großen Maßstab automatisch abtasten? Wenn sie nicht so naiv waren, warum haben sie dann nicht recherchiert? Die Aufdeckung der N ­ SA-Aktivitäten war ja nicht das Ergebnis eines investigativen Journalismus, vielmehr hat ein kritischer und mutiger NSA-Mitarbeiter, der erhebliche Sanktionen auf sich nimmt, die

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Öffentlichkeit gesucht. Russland, das ihm Zuflucht gewährt hat, wird kaum einen Preis für Zivilcourage im Kampf gegen übergriffige staatliche Organisationen nach Edward Snowden benennen. Zu den beiden genannten heiklen Medien-Entwicklungen der letzten Jahre (nämlich erstens der Tendenz zur – mit Verlaub – idiotischen und selbstgerechten Überskandalisierung und Übertribunalisierung und zweitens einem ebenso verbreiteten wie irritierenden Mangel an Urteilskraft) tritt drittens eine Angleichung an die statt eine Absetzung von den shitstorm-Tendenzen der massenjournalistischen Blogger- und Twittersphäre. Qualitätsmedien, welche Tautologie, haben nur dann eine Bestandschance, wenn sie besser, also komplexer, urteilssicherer, analytischer, sagen wir getrost: Feiner sind als das affektive Grundrauschen im Internet. Genau dies aber ist nicht verlässlich der Fall. Um nur ein, wenn auch extremes Beispiel zu nennen – es fällt mir nicht leicht, dergleichen auch nur zu zitieren: Hans-Ulrich Jörges schrieb als Mitglied der Chefredaktion des Stern (wir erinnern uns: die Illustrierte, die durch den fanatischen SS-Mann und Nazi-Propagandamann Henri Nannen groß wurde und die die plump gefälschten Hitler-Tagebücher publizierte) am 16. Februar 2012 auf dem Höhepunkt der Affaire um Bundespräsident Wulff: ‚Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie haben keinen Arsch in der Hose. (…) Es ist vorbei. Aus. Dead wolf howling.‘ Der Stern-Redakteur Jörges hält sich wahrscheinlich für einen gut erzogenen, stil- und urteilssicheren Mann, der glaubt, sich um unsere Demokratie verdient gemacht zu haben. Er muss aber zur Kenntnis nehmen, dass andere ihn und sein Tun nicht so wahrnehmen und dies auch kundtun. Ein klassischer Fall von kognitiven Dissonanzen. Es genügt ein schlichtes Gedankenexperiment: Wie würden MedienkollegInnen reagieren, wenn in einer auflagenstarken Zeitung bzw. Zeitschrift aus der Feder des Chefredakteurs zu lesen wäre: ‚Mit Verlaub, Frau Schausten, Frau Schwarzer, Herr Sommer, Sie haben keinen Arsch in der Hose. Es ist vorbei mit Ihnen. Da können Sie so viel heulen, wie sie wollen. Wir fordern ihren Rücktritt – ohne Renten- bzw. Pensionsbezüge‘. Wer solche Sätze aus besten Gründen verwerflich findet, wird Schwierigkeiten haben, wenn er die Äußerungen des Stern-Chefredakteurs Jörges über den Bundespräsidenten verteidigt. Wahrscheinlich hält sich Jörges für einen Aufklärer und wackeren kritischen Begleiter unserer Demokratie; er betreibt jedoch eine unsäglich dumme Politikerschelte, die einen ganzen Berufsstand, den der Politiker, verächtlich macht und Wähler in die Arme der AfD treibt. Womit wir beim vierten Aspekt der gegenwärtigen Medien-Nervosität und -Gereiztheit sind (es gibt sicherlich noch sehr viel mehr): ob man es begrüßt oder kulturkonservativ beklagt – die Kritik-Verhältnisse haben sich schon seit ‚1968‘ langsam, aber sicher neu justiert. Nämlich in Richtung Symmetrisierung: Ob

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Geistlicher oder Politiker, ob Journalist oder Professor, ob Hauptschulabschluss oder Abitur – jeder darf jeden einigermaßen ungestraft kritisieren und muss sich seinerseits Kritik gefallen lassen. Bestimmten Berufsgruppen wie Päpsten, Spitzensportlern, Managern, Berühmtheiten aller Art und eben auch Journalisten fällt der Abschied von asymmetrischen Kritikverhältnissen bemerkenswert schwer (paradigmatisch etwa Papst Benedikt, der sich von der Bundeskanzlerin öffentlich für die Aufhebung der Exkommunikation des Holocaustleugners Bischof Williamson kritisieren lassen musste). Nun fällt es einer wachen Öffentlichkeit auf, dass nicht alle, aber viele Journalisten sehr gut im Austeilen, aber schlecht im Einstecken sind. Fritz J. Raddatz hatte wenig Scheu vor scharfen Attacken und wenig Verständnis dafür, dass seine grotesken und systematischen Fehlleistungen für anhaltende Irritation und Belustigung sorgten. Alice Schwarzer hält es für eine Zumutung, ja schreiende Ungerechtigkeit, wenn man öffentlich über ihre Steuerhinterziehung berichtet und diskutiert. Bettina Schausten mag kein rechtes Verständnis dafür aufbringen, dass viele sich über ihre Behauptung vor Millionen von TV-Zuschauern lustig machen, sie bezahle anders als Bundespräsident Wulff ­ stets, wenn sie bei Freunden übernachte. Und der Springer-Chef Matthias Döpfner ist irritiert und fühlt sich missverstanden, wenn sein fataler Satz ‚Wer mit der ‚Bild‘ im Aufzug nach oben fährt, fährt mit ihr auch wieder nach unten‘ von vielen kritisiert wird, weil er zutreffe und weil hier einer ausplaudere, dass es in der Tat machtvolle Medien gibt, die nicht immer nur Sturmgeschütze der Demokratie sind. Es lohnt sich, an eine Trivialität zu erinnern. Journalisten sind Politikern und Literaturkritiker sind Autoren nicht per se überlegen, weder moralisch noch kognitiv; auch sie, die professionell kritisieren, dürfen ihrerseits kritisiert werden. Medial groß inszenierte Überskandalisierungen und Übertribunalisierungen sorgen dafür, dass sich immer mehr kluge und unabhängige Köpfe weigern, in die Politik zu gehen. Eine latent psychotische Überbeobachtung, der jedes Gefühl für Maßstäbe verloren gegangen ist, bringt Demokratien nicht voran, sondern bedroht sie. Einerseits-andererseits-Texte sind schrecklich, weil langweilig. Und dennoch sind sie häufig sachlich geboten. So auch im vorliegenden Fall. Aller angeführten Kritik zum Trotz gilt: Wir haben nach wie vor eine bemerkenswert komplexe und qualitativ hochwertige Medienlandschaft. Und also haben wir viel zu verlieren. Ich stimme der Widerrede des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen in der ZEIT vom 8. November 2014 gegen allgemeine Medienverdrossenheit (‚Lügenpresse‘) zu und versuche eben deshalb Tendenzen zu kritisieren, die einer solchen Verdrossenheit Vorschub leisten. Und ich habe Bewunderung und Verständnis für die ZEIT-Redakteurin Susanne Gaschke, die sich in die aktive Politik begab,

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Oberbürgermeisterin von Kiel wurde und nach einem Jahr buchstäblich unter Tränen wieder aus der Politik verabschiedete, weil die Medien sie so gemein behandelt hatten. Um nochmals in der Medien-Oberliga, also bei der ZEIT zu bleiben: Deren Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der zu den bestinformierten Köpfen der Republik zählen sollte, bekannte fröhlich und medienöffentlich in der Runde um Günther Jauch, bei der Europawahl zwei Stimmen abgegeben zu haben – habe er doch zwei Pässe, einen italienischen und einen deutschen. Das Verfahren gegen den sich so vielfach blamierende Wahlbetrüger wurde gegen Zahlung einer Strafsumme in unbekannter Höhe eingestellt – ein Spitzenpolitiker mit demselben Täterprofil hätte anders als der Spitzenjournalist mit Sicherheit sein Amt verloren. Soviel, da die Wahrheit fast immer konkret ist, zur Gewalt, die Medien eben nicht nur bei Politikern, Managern und Machthabern aller Art kritisieren, sondern auch ihrerseits ausüben. Gegen Medienverdrossenheit gibt es nur ein Gegenmittel: Sehr gute, stilsichere, mit Augenmaß gesegnete und gegen Selbstgerechtigkeit immune Medien, die zwischen adressierbarer und nichtadressierbarer Gewalt bzw. Gewalt-Kritik zu unterscheiden verstehen. Zu den eigentümlichsten Diskussionen der letzten Jahre gehört die Problematisierung der Gewalt, die dem Medium Sprache und gängigen Weisen des Sprechens innewohnt. Feministische Sprachkritik hat erfolgreich für Sensibilisierung und verändertes Sprechverhalten etwa bei Anreden, bei Ausdrücken wie ‚Fräulein‘ oder ‚dämlich‘ oder bei den Resonanzen von Worten (wie: dass im Wort ‚Mädchen‘ die Etymologie von ‚Mägdchen‘ bzw. Magd mitschwingt, die Worte ‚Junge‘ und ‚Knabe‘ hingegen auf ‚Junker‘ und ‚Knappe‘ zurückgehen) gesorgt. Die aus solchen Diskussionen resultierenden Sensibilisierungsgewinne sind offensichtlich, sie tragen erheblich zur revolutionären Neujustierung des Geschlechterverhältnisses bei, die sich in den drei vergangenen Jahrzehnten in der sog. westlichen Welt durchgesetzt hat. Wie erfolgreich diese Revolution war, ist schon daran ersichtlich, dass nur noch Leute, die über 60 Jahre alt sind, eine in der Regel positiv besetzte Rest-Irritation darüber empfinden, dass Deutschland seit 12 Jahren von einer Bundeskanzlerin reagiert wird, dass wie eine Verteidigungsministerin haben, dass britische Premierministerinnen wie Thatcher und May für eine eigenwillige Politik sorgen – und dass fast alle bedauern, dass nicht eine Frau, sondern ein deliranter Karikatur-Mann zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Nun haben erfolgreiche Revolutionen, die alte und diskreditierte Eliten zu Fall bringen, mit eigentümlicher Regelmäßigkeit die Tendenz, in verrückte und zerstörungswütige Phasen einzutreten. Aus Impulsen, die unzumutbarer Gewalt entgegentreten, resultieren dann häufig selbst gewalttätige Impulse.

Die Gewalt der Medien und die Medien der Gewalt

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Das gilt u. a. für die Französische Revolution und ihren jacobinischen Tugendterror, für die Oktoberrevolution und ihre massenmörderisch-stalinistischen Exzesse, für die Kulturrevolution in China, für Nordkorea, wo Kommunismus zügig in eine Gespensterform des Neufeudalismus umgeschlagen ist, für Kuba, wo ein alt gewordener Revolutionär das Land an seinen kleinen Bruder weiterreicht oder für Simbabwe, wo ein gefeierter Kämpfer für Dekolonialisierung und Freiheit zum gespenstischen Despoten wird. Strukturell gilt das auch für die Political-correctness- und Gender-Revolution. Sie begann – wie die genannten Revolutionen – mit einer plausiblen und weitgehend erfolgreichen Sensibilisierung gegen unerträgliche strukturelle und handfeste Gewalt. Und sie droht nun, selbst zu einer neopuritanisch-jacobinisch-stalinistischen Gewalt zu werden. Viele, nicht nur Männer, sondern, um korrekt zu formulieren, auch Menschinnen, Mitgliederinnen, Gästinnen, Kinderinnen können Opferinnen dieses Umschlags von medialer Sensibilisierung gegen Gewalt in nicht nur mediale Gewaltausübung werden.

Literatur Marx, K. & Engels, F. (1959). Manifest der kommunistischen Partei. MEW Band 4. Berlin: Dietz Verlag. Meyer, T. (2015). Die Unbelangbaren – Wie politische Journalisten mitregieren. Berlin: Suhrkamp.

Aus Katastrophen lernen? Über den Umgang mit Katastrophen Lothar Wigger

1 Einleitung Zunächst scheint die thematische Frage ‚Aus Katastrophen lernen?‘ einfach zu beantworten zu sein, nämlich mit ja. Aus Katastrophen wird gelernt, aus den Erfahrungen werden Konsequenzen gezogen, die eine Wiederholung verhindern sollen, das soll an dem Exempel von Überschwemmungen und dem Umgang mit der Gefahr von Hochwasserkatastrophen in Deutschland gezeigt werden. In einem zweiten Schritt wird die unmittelbar bejahende Antwort auf die thematische Frage problematisiert, denn Ereignisse induzieren weder ihre Deutung als Katastrophe noch die menschlichen Reaktionen und Bearbeitungsweisen. ‚Was man aus Katastrophen lernt‘ ist also weder eindeutig noch selbstverständlich, sondern dieses Lernen ist mit unterschiedlichen Betroffenheiten, heterogenen Diskursen und Herrschaftsstrukturen verwoben. Das lässt sich am Beispiel der Nuklearkatastrophe von Fukushima zeigen. Die Problematik, was gelernt werden kann angesichts oder aus einer Katastrophe, das soll schließlich an einem museumspädagogischen Exempel, nämlich der Sonderausstellung ‚Alarmstufe Rot – Eine Ausstellung über Katastrophen und was man daraus lernt‘ in der Dortmunder ‚DASA Arbeitswelt Ausstellung‘ im Jahr 2017 kritisch diskutiert werden. Das dort nahegelegte Lernen greift allerdings zu kurz und zeigt einen in seiner ‚halbierten Rationalität‘ problematischen Umgang mit dem Thema ‚Katastrophe‘, denn es blendet die Vorgeschichte der Katastrophen, die politischen Entscheidungen, rechtlichen Regelungen und gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen aus. L. Wigger (*)  Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_9

143

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L. Wigger

2 Zum Begriff der Katastrophe1 Das deutsche Wort ‚Katastrophe‘ kommt aus dem Altgriechischen (von κατά katá ‚herab-‘ ‚nieder-‘ und στρέϕειν stréphein ‚wenden‘) und bezeichnete im (antiken) Drama und dessen Regelwerk die entscheidende negative Umwendung der konflikthaften Handlung zum Schluss, die mit dem Tod oder dem Untergang des oder der zentralen Personen endet. Neben dieser literaturwissenschaftlichen Bedeutung gibt es eine amtliche Definition von Katastrophe. „Eine Katastrophe ist ein Geschehen, bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen oder die natürlichen Lebensgrundlagen oder bedeutende Sachwerte in so ungewöhnlichem Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden, dass die Gefahr nur abgewehrt oder die Störung nur unterbunden und beseitigt werden kann, wenn die im Katastrophenschutz mitwirkenden Behörden, Organisationen und Einrichtungen unter einheitlicher Führung und Leitung durch die Katastrophenschutzbehörde zur Gefahrenabwehr tätig werden“ (BBK, o. J.).

In dieser Definition des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe2 wird festgehalten (2017), dass eine Lage dann als Katastrophe bewertet wird, wenn in dieser Lage Schäden drohen oder eingetreten sind, die von den im Normalfall zuständigen Behörden und Institutionen nicht mehr bewältigt, sondern nur noch von übergeordneten nationalen Instanzen bearbeitet werden können. Diese Definition ist inhaltlich unbestimmt (‚ungewöhnliches Ausmaß‘) und in dieser Offenheit aber auch politisch funktional, insofern ein Geschehen nach gesetzlichen Grundlagen politisch bewertet und als ein Katastrophenfall festgelegt wird. In der Öffentlichkeit wird der Begriff der Katastrophe mit beiden Bedeutungsaspekten zur Bezeichnung sowohl außergewöhnlich schwerwiegender Schäden mit vielen Opfern als auch dramatischer oder tragischer Ereignisse im Sinne eines plötzlichen und unabwendbaren Schicksalsschlages gebraucht. Was als eine Katastrophe bezeichnet wird, das ist oft strittig und insofern Thema öffentlicher Diskurse (Bsp.: ‚Flüchtlingskatastrophe‘), damit aber auch eine Aufgabe wissen-

1In

diesem Kapitel nutze ich Textteile aus Wigger 2017. ‚Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe‘ (BBK) ist nach den Ereignissen des 11. September 2001 und verstärkt durch die Erfahrungen mit der Flutkatastrophe 2002 am 1. Mai 2004 als neue Behörde gegründet worden, als das zentrale Organisationselement für die zivile Sicherheit, das alle einschlägigen Aufgaben an einer Stelle bündelt.

2Das

Aus Katastrophen lernen? Über den Umgang mit Katastrophen

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schaftlicher Klärung. Je nach Betroffenheit oder Distanz zu dem Geschehen sind die Perspektiven und die Kriterien verschieden, etwas als Katastrophe zu bezeichnen. In der Verwendung des Wortes Katastrophe und den unterschiedlichen Interpretationen und Wertungen zeigen sich die unterschiedlichen Standpunkte und ihre verschiedenen Interessen. Die Geschichte der Menschheit ist voller Katastrophen verschiedenster Art. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen Naturkatastrophen und von Menschen gemachten Katastrophen. Zu den Naturkatastrophen werden gezählt: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Orkane, Überschwemmungen u. a. m. Zu den durch Gesellschaft hervorgerufenen Katastrophen gehören Kriege, Terroranschläge, Völkermord, Pogrome und Vertreibung, auch Wirtschaftskrisen sowie atomare, biologische und chemische Katastrophen, Unfälle von Verkehrsmittel oder in Fabriken u.v.a.m. Das sind Beispiele, wie sie im Internet bei Wikipedia zu finden sind. Seit den 1990er Jahren hat sich die geschichtswissenschaftliche Forschung intensiv auch mit dem Thema „Naturkatastrophen“ beschäftigt (Groh et al. 2003, S. 13–14)3 und sich um eine begriffliche Klärung bemüht. Es wird terminologisch unterschieden zwischen ‚Extremereignis‘ und ‚Naturkatastrophe‘: „Jeder Naturkatastrophe liege ein natürliches Extremereignis zugrunde, aber nicht jedes natürliche Extremereignis bedeute eine Katastrophe“ (Groh et al. 2003, S. 15). Die unterscheidenden Begriffsmerkmale einer „Katastrophe“ sind die Wahrnehmung des Ereignisses und dessen Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft. Weiter wird unterschieden zwischen ‚Naturgefahren‘ als der Möglichkeit von (vielleicht abwendbaren) Schadensfolgen und ‚Naturkatastrophen‘ als dem eingetretenen Unheil4. „Naturgefahren sind Vergegenwärtigungen möglicher Zukunft, während Naturkatastrophen auf Gegenwart oder Vergangenheit bezogen sind, damit aber auch immer den Verlust vergangener Zukunftsperspektiven einschließen“ (ebd.). Während Naturgefahren eher ein naturwissenschaftliches Forschungsgebiet sind, sind Naturkatastrophen ein sozial- und geisteswissenschaftliches Thema, denn mit dem Katastrophenbegriff wird eine „anthropozentrische Perspektive“ (Groh et al. 2003, S. 16) auf Ereignisse eingenommen. Der zusammengesetzte Begriff der ‚Natur-Katastrophe‘ ist insofern in einem der Verweis auf ein menschliches Drama und auf dessen Verursachung

3Auch

in der Geschichtsdidaktik wird das Verhältnis von Natur und Katastrophe gegenwärtig diskutiert (von Reeken 2015; von Borries 2015). 4Vor dem Hintergrund dieser kategorialen Unterscheidung ist die Rede von ‚Klimakatastrophe‘ als einem in der Zukunft erfolgenden Prozess problematisch.

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L. Wigger

durch natürliche Abläufe. Das schließt nicht aus, dass Menschen als ­(Mit-)Verursacher identifiziert werden können. Seuchen und Hungersnöte sind typische Beispiele für die Verwobenheit von natürlichen und sozialen Ursachen – zumindest in der Moderne –, denn sie sind natürlich induziert (Infektionen, Missernten), aber in ihren Ausmaßen abhängig von der sozialen Verfügbarkeit von ­ wissenschaftlich-technischem und medizinischem Wissen, ausgebildetem Personal, entsprechender Infrastruktur und, allgemein gesprochen, von den ökonomischen und gesellschaftlichen, innen- und außenpolitischen Ordnungen. Die unterschiedlichen Verläufe und Auswirkungen von Seuchen und Hunger in Industrie- und in Entwicklungsländern zum Beispiel verweisen sehr deutlich auf die sozialen Bedingungen dieser so verschieden ausfallenden gesellschaftlichen Krisen bzw. Katastrophen. Aber auch bei den anderen ‚Naturkatastrophen‘ lässt sich diskutieren, ob und inwieweit sie nicht auch ‚von Menschen gemachte‘ Katastrophen sind. So ist im Europa der Aufklärungszeit das Erdbeben von Lissabon 1755 kontrovers diskutiert worden, u. a. ob die Folgen des Erdbebens nicht deshalb so katastrophal gewesen wären, weil die Menschen dort so dicht gesiedelt und hohe Häuser gebaut hätten (Breidert 1994). Die Modi der Besiedelung, der wirtschaftlichen Nutzung und technischen Ausrüstung bestimmen auch die sozialen Folgen anderer natürlicher Ereignisse wie Überschwemmungen, Lawinen und Erdrutsche, Vulkanausbrüche und Waldbrände (Wisner 2007), sodass sie nur noch naiv als ‚Naturkatastrophen‘ bezeichnet werden können. Die zunächst einfache Unterscheidung zweier Arten von Katastrophen löst sich tendenziell auf, nicht allein angesichts des Fortschritts technischer Möglichkeiten der Naturbeherrschung, sondern im Wesentlichen durch die Einsicht in die sozialen Bedingungen aller Arten von Katastrophen. „Kein Naturvorgang mehr, selbst keine Katastrophe mehr, in dem der Mensch sich nicht selbst erkennen muß. … Die Katastrophe ist vollständig ein gesellschaftsinternes Problem geworden“ (Engels 2003, S. 141). Wisner spricht vom „Mythos der Natürlichkeit von „Natur“katastrophen“ (Wisner 2007, S. 18). Die strikte Unterscheidung zwischen Natur- und gesellschaftlichen oder zivilisatorischen Katastrophen erweist sich also als nicht haltbar. Katastrophen sind auch keine singulären Ereignisse mit sozialen Folgen und Wirkungen, auch wenn sie plötzlich und für viele überraschend eintreten, sondern sie sind vielmehr als Ereignisse zu begreifen, die eine Vorgeschichte von Erfahrungen (auch von anderen Katastrophen), Erwartungen und (unzureichenden) vorsorglichen Reaktionen haben. Sie sind eingebettet sind in eine soziale, kulturelle, ökonomische und politische Ordnung (Mauelshagen 2015, S. 175–176). Die Erforschung von Naturkatastrophen ist insofern keine rein naturwissenschaftliche, sondern eine interdisziplinäre Aufgabe.

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3 Flutkatastrophen und Hochwasserschutz Seit Jahrhunderten haben Sturmfluten und die Notwendigkeit von Hochwasserschutz das Leben und die Gesellschaften an der Nordseeküste geprägt (Quedens 2010, S. 23, 106–109; Mauelshagen 2007; Meier 2012, S. 78–81; Rieken 2005). Die ständige Auseinandersetzung mit dem Meer und seinen Gefahren und wiederholte Erfahrungen von Katastrophen sind die Grundlage für Vorsorge-, Schutzund Notfallmaßnahmen im Wissen um die Risiken und in Erwartung erneuter oder ähnlicher Gefährdungen. Insofern wird aus der Erfahrung von Katastrophen gelernt. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 erlebte Hamburg die schwerste Sturmflut seiner Geschichte, 315 Menschen starben (Quedens 2010, S. 64–67). Die Stadt Hamburg sieht dieses Ereignis als Wendepunkt ihres Hochwasserschutzes an, verbunden mit einer Kritik an der jahrzehntelangen Vernachlässigung des Unterhalts der Deiche und an einem weit verbreiteten trügerischen Sicherheitsgefühl (Engels 2009): •

„Lernen aus der Kmatastrophe.

Die Sturmflutkatastrophe von 1962 führte dazu, dass der Hochwasserschutz in Hamburg grundlegend neu organisiert und massiv darin investiert wurde. Alle Aufgaben des öffentlichen Hochwasserschutzes sind seitdem vollständig auf die Stadt übergegangen. In den letzten 50 Jahren hat Hamburg fast durchgehend an der Verstärkung der öffentlichen Hochwasserschutzanlagen gearbeitet, die Deiche wurden seither um rund 2,5 Meter erhöht. Dank dieser Anstrengungen ist die Bedrohung durch Sturmfluten heute geringer als jemals zuvor in der Geschichte. Seit 1962 gab es noch insgesamt acht Sturmfluten mit Scheitelwasserständen, die höher lagen als die der Katastrophensturmflut am 16. Februar des Jahres. Dabei ist es zu keinen gravierenden Schäden an der Hauptdeichlinie gekommen, Hamburg besitzt heute einen effektiven Schutz vor Sturmfluten“5.

Darüber hinaus wurde entsprechend der ‚Richtlinie über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken‘ der EU von 2007 eine Risikobewertung für die vier Schutzgüter (menschliche Gesundheit, Umwelt, Kulturerbe und wirtschaftliche Tätigkeiten) vorgenommen, zur verbesserten Information der betroffenen Bürgerinnen und Bürger sind Gefahren- und Risikokarten und Beratungsangebote bereitgestellt und es wurden Risikomanagementpläne ent-

5http://www.hamburg.de/sturmflut-1962/4357752/hochwasserschutz/

[15.11.2017].

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wickelt, die die vier Ziele Vermeidung, Schutz, Vorsorge sowie Regeneration und Wiederherstellung sowie die Maßnahmen für den Umgang mit den Gefahren und Risiken definieren6. Auch zukünftig sieht sich der Hochwasserschutz vor große Herausforderungen gestellt, nicht zuletzt durch den Klimawandel und den zu erwartenden Meeresspiegelanstieg (Reise 2015), so sollen in Schleswig-Holstein 93 km von 431 km Landesschutzdeiche verstärkt, d. h. verbreitert und erhöht werden (­MELUR-SH 2013, S. 47), und in Niedersachsen 125 km von 610 km der Festlandsdeiche (NLWKN 2007). Ob die durchgeführten und geplanten Maßnahmen und die finanziellen Mittel ausreichen, das wird sich einerseits zeigen, der Küstenschutz gilt als eine Ewigkeitsaufgabe: „Der Küstenschutz wird niemals enden“ (MELUR-SH 2013, S. 67). Andererseits wird es strittig diskutiert, weil in den Entscheidungen zur Prävention immer auch andere Aspekte Berücksichtigung finden, die ebenfalls gesellschaftlich kontrovers sind.

4 Atomare Katastrophen und die Vielfalt der Reaktionen Die deutsche Energiewende, genauer der Beschluss des Bundestages zum 2. Atomausstieg am 30. Juni 2011, ist auch eine Reaktion auf die dreifache Katastrophe des Erdbebens und des Tsunamis in Ostjapan am 11. März 2011 mit der Überschwemmung des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi und der Folge des Ausfalls der Sicherheitssysteme und der Kernschmelze in drei Reaktoren. Diese Reaktion gilt als markantes Beispiel einer ‚transnationalen Öffentlichkeit‘ (Mishima 2017a), man könnte von einem Lernen in der globalisierten Moderne sprechen. Außer der Schweiz (Volksabstimmung 21. Mai 2017) und Taiwan (Parlamentsbeschluss Januar 2017) ist aber kein Staat dem deutschen Beispiel gefolgt. Im Nachbarland Frankreich, das Land mit dem größten Nuklearanteil an der Stromproduktion, hat die Macron-Regierung den Beschluss der sozialistischen Vorgänger-Regierung von 2015, den Nuklearanteil an der Energieversorgung von aktuell 75 % auf 50 % im Jahr 2025 zu drücken, revidiert und den Teilausstieg auf unbestimmte Zeit verschoben (FAZ 8.11.2017, S. 20; FAZ 9.11.2017, S. 20). Es wird also im Resultat sehr Unterschiedliches aus atomaren Katastrophen gelernt.

6http://www.hamburg.de/hochwasser/

[04.04.2018].

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Japan selbst hat nach langen innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Regierung, lokalen Politikern, Gerichten, Atomkraftgegnern und Energieversorgern im April 2018 wieder sechs Kernreaktoren in Betrieb, nachdem 2013 alle Atomkraftwerke zu Sicherheitsüberprüfungen heruntergefahren waren (Koppenborg 2017, S. 258–261). Naoto Kan, der Premierminister Japans während der Nuklearkatastrophe, entwickelte sich zu einem entschiedenen Gegner der Atomenergie, konnte sich mit seiner antinuklearen Politik aber nicht durchsetzen, sondern musste bereits im August 2011 zurücktreten (Kan 2015). Seine Partei, die Demokratische Partei Japans (‚Minshutō‘), verlor die Unterhauswahlen 2012 (und hat sich 2016 aufgelöst), die Shinzo Abe an der Spitze der Liberaldemokratischen Partei (‚Jiyūminshutō‘) gewann. Obwohl die japanische Bevölkerung mehrheitlich gegen Kernkraft eingestellt ist (Koppenborg 2017, S. 255–256; Neureuter 2014, S. 3), wurde der Kernkraftbefürworter Abe zum Premierminister gewählt und nach 2012 und 2014 inzwischen zum dritten Mal in Folge7. Die Regierung will einen Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung bis zum Jahr 2030 von ca. 20 Prozent (vor 2011 ca. 27 %)8. Ziel der Abe-Regierung ist nach den ‚zwei verlorenen Jahrzehnten‘ der Deflation und wirtschaftlichen Stagnation und nach dem Desaster von ‚Fukushima‘ die ‚Wiedergeburt‘ Japans, durch tiefgreifende Reformen und wirtschaftliches Wachstum soll ein ‚noch stärkeres neues Japan‘ entstehen (Abe 2013a, b). Die atomkritische politische Opposition ist zersplittert, die Parteienlandschaft ist unübersichtlich. Die kleine grüne Partei (‚Midori no Tō‘), die 2012 u. a. mit Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen aus Deutschland neu gegründet wurde, aber aus Selbstschutz nicht zu Unterhauswahlen, sondern nur zu Kommunalparlamenten antritt9, ist für ausländische Beobachter genauso wenig sichtbar wie die Kommunistische Partei Japans (‚Nihon Kyōsantō‘), die eine pazifistische und seit 2011 eine antinukleare Politik verfolgt, seit vielen Jahren mit Sitzen im Unterhaus, Oberhaus und Kommunal- und Regional-

7Die

Wahlbeteiligungen waren 2014 und 2017 die niedrigsten in der Nachkriegszeit (Heinrich und Vogt 2017, S. 20 f) vgl. https://www.japantimes.co.jp/news/2017/10/23/ national/politics-diplomacy/election-turnout-likely-second-lowest-postwar-period-estimatesays/ [15.11.2017]. 8 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/folgen-fuer-tepco-heute-nachfukushima-katastrophe-14111394-p2.html [15.11.2017]. 9https://de.wikipedia.org/wiki/Midori_no_T%C5%8D [15.11.2017].

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parlamenten vertreten ist10, und die mit der kleinen Sozialdemokratischen Partei (‚Shakai Minshutō‘)11 und der liberalen Konstitutionell-Demokratischen Partei (‚Rikken Minshutō‘) kooperiert, die 2017 aus dem linken Flügel der aufgelösten Demokratischen Partei hervorgegangen ist und als zweitstärkste Partei ins Unterhaus eingezogen ist12. Die Antiatom-Bewegung, die seit 2011 viele große Demonstrationen (bis zu 170.000 Teilnehmer am Juli 2012 in Tokyo) organisiert hatte, ist medial an den Rand gedrängt und scheint zu schrumpfen und inzwischen auch resigniert zu haben13. „Nicht, dass es in Japan keine zivilgesellschaftlichen Initiativen, keine Bürgerinitiativen, keine intellektuelle Opposition gäbe. … Nur lässt sich sagen, dass in Japan im Allgemeinen viele Anstöße und Impulse aus der Zivilgesellschaft kaum von der politischen und administrativen Machtelite wahr- und aufgenommen werden, auch nicht von der breiten Schicht“ (Mishima 2017b, S. 223). „In der Öffentlichkeit herrscht angesichts der Uneinsichtigkeit der Machtelite eher Resignation als Experimentierfreude“ (Mishima 2017b, S. 222). Es liegt inzwischen ein „Nebel des Schweigens“ (Neureuter 2014, S. 2) über der Atomkatastrophe und ihren unkontrollierten und unbeherrschten Folgen14, der kontinuierlichen radioaktiven Verseuchung von Luft und Meer, den auf Jahrzehnten unbewohnbaren Gebieten, dem ungeklärten Abriss der Anlage und Endlagerung der Abfälle (Welter 2016). Das Schweigen herrscht spätestens seit dem am 10. Dezember 2013 vom Parlament beschlossenen Geheimhaltungsgesetz, das allen staatlichen Organen erlaubt, Informationen für geheim zu erklären, wenn sie in ihrer Veröffentlichung eine Gefahr für die nationale Sicherheit befürchten (Lill 2017, S. 172–173; Wiemann 2017, S. 184; Neureuter 2014, S. 35; Kingston 2014)15. Den Opfern der Havarie des AKW droht das gleiche Schicksal der Stigmatisierung und des Vergessenwerdens wie den Hibakusha, den Opfern der 10https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Japans

[15.11.2017]. [15.11.2017]. 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Konstitutionell-Demokratische_Partei_(Japan) [15.11.2017]. 13Mizuho Aoki: Down but not out: Japan’s anti-nuclear movement fights to regain momentum. In. Japan Times Mar 11, 2016. URL: https://www.japantimes.co.jp/ news/2016/03/11/national/not-japans-anti-nuclear-movement-fights-regain-momentum/ [15.11.2017]; http://www.yuno-sato.info/English/image/nuclear_reactors.pdf [04.04.2018]. 14 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/folgen-fuer-tepco-heute-nachfukushima-katastrophe-14111394 [15.11.2017]. 15Wer als geheim deklarierte Informationen veröffentlicht, kann mit bis zu 10 Jahren Gefängnis bestraft werden. 11https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdemokratische_Partei_(Japan)

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Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki (Lill 2014; Mayer 2010). Die unsichtbare Gefahr radioaktiver Belastung hat nicht nur Familien, Kollegien und Dorfgemeinschaften gespalten, sondern anscheinend die ganze japanische Gesellschaft (Neureuter 2014, S. 180–181; Wiemann 2016). Über 160.000 Bewohner der kontaminierten Gebiete waren von den Evakuierungsanordnungen betroffen (Neureuter 2014, S. 76). Sukzessive wurden von der Regierung Teilgebiete nach Dekontaminierungsarbeiten als wieder bewohnbar deklariert, aber weniger als 20 % der evakuierten Bevölkerung sind zurückgekehrt, mehr als 50 % wollen nicht zurückkehren16, denn der Erfolg der Dekontaminierung ist umstritten und die Ängste sind nicht ausgeräumt (Hirano 2017). Die von der Katastrophe Betroffenen haben je individuelle Interpretationen und Schlüsse gezogen. Die vorliegenden Reportagen, Porträts und Interviews (Brandner 2012, 2014; Neureuter 2014; Gebhardt und Richter 2017) zeigen eine Vielfalt an Meinungen und Einstellungen, Erfahrungen und Zukunftsplänen, es ist also Unterschiedliches aus der Nuklearkatastrophe von Fukushima „gelernt“ worden. Wenn gefragt wird: „Welche Lehren wurden aus 3.11. gezogen?“ (Brandner 2012, S. 11–12), dann lässt sich wohl „keine eindeutige Antwort“ (Brandner 2012, S. 11–12) finden. Die Vielstimmigkeit in Politik und Öffentlichkeit, von Akteuren und Betroffenen zeigt, dass die Frage nicht ist, ob aus Katastrophen gelernt wird, sondern dass unterschiedlichste Deutungen und Konsequenzen folgen, also sehr Verschiedenes gelernt worden ist. Strittig ist und es bedarf der Diskussion darüber, was gelernt wurde, was hätte gelernt werden können und was gelernt werden soll (Mishima 2017b, S. 225).

5 Katastrophen, ihre Prävention und die Akzeptanz der Risiken der Moderne – eine museumspädagogische Aufarbeitung Die DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund hat vom 04. März bis zum 24. September 2017 unter dem Titel ‚Alarmstufe Rot‘ eine ‚Ausstellung über Katastrophen und was man daraus lernt‘ präsentiert. Zusammengestellt war die 16http://fukushimaontheglobe.com/the-earthquake-and-the-nuclear-accident/evacuation-

orders-and-restricted-areas [15.11.2017]; Kenji Izawa: Most Fukushima evacuation orders end save for no-go zones. In: The Asahi Shimbun, March 31, 2017. URL: http:// www.asahi.com/ajw/articles/AJ201703310049.html [15.11.2017]; Lifting Fukushima evacuation orders. In: The Japan Times, Apr 3, 2017. URL: https://www.japantimes.co.jp/ opinion/2017/04/03/editorials/lifting-fukushima-evacuation-orders/ [15.11.2017].

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Ausstellung primär von dem Kooperationspartner der DASA, dem Parque de las Ciencias aus Granada (Spanien). Das Motto der 2016 zuerst in Spanien unter dem Titel „SOS. La Ciencia de Prevenir“ („SOS. The Science of Prevention“) gezeigten Ausstellung war ein Rainer Maria Rilke zugeschriebenes Zitat: „Solo la historia os librará de la historia“17 in dem Sinn, dass das, was wir Menschen aus den Katstrophen und Unfällen in der Vergangenheit gelernt haben, unser Leben sicherer macht (Parque de las Ciencas 2016, S. 13). Auf rund 2.000 Quadratmetern (in Granada) bzw. 800 Quadratmetern (in Dortmund) wurden Naturgefahren und Unglücke in den fünf Stationen Naturkatastrophen, Feuer, Transport, Arbeit und Industrie sowie der ‚Faktor Mensch‘ thematisiert. In den Stationen waren jeweils mehrere Themen präsentiert: Erdbeben, Vulkane, Tsunamis und tropische Stürme, Waldbrände, Stadtbrände und Feuer durch Industrieunglücke, dann Unglücke im Bergbau, in der chemischen Industrie und in Kernkraftwerken, Unglücke zur See, der Eisenbahn und im Straßenverkehr sowie in der Station zum menschlichen Faktor sowohl kollektive Panik als auch heldenhaftes Verhalten Einzelner. Zu allen Themen war eine Vielzahl von Exponaten und von Beschreibungen von Beispielen aus der älteren und neueren Geschichte zu sehen. Außerdem gab es jeweils erklärende Tafeln zu den verschiedenen Arten von Gefahren und den Ursachen der katastrophalen Geschehnisse sowie Hinweise auf neue Technologien, die dazu dienen sollen, die Naturgefahren einzudämmen und Unglücke zu verhindern. Zusätzlich gab es Workshops, Führungen18, Vorträge, Online-Spiele sowie Möglichkeiten des Mitmachens und Erlebens wie z. B. ein Erdbebensimulator, eine Rettungsinsel oder ein Simulator eines sich überschlagenden Autos. Die Ausstellung hatte fast 100.000 Besucherinnen und Besucher und war gemessen an den Besucherzahlen sehr erfolgreich, es scheint das erfolgreichste Jahr in der Geschichte der DASA gewesen zu sein. Vor den interaktiven Elementen der Ausstellung hatten sich teils lange Schlangen gebildet. Die Ausstellung sollte die Vielfalt von möglichen Katastrophen präsentieren und die Ursachen der Katastrophen erklären, auch Versäumnisse und Fehler aufzeigen, sowie die angemessenen Verhaltensweisen, die rechtlichen Konsequenzen und die technologischen Errungenschaften in der Bewältigung und der Verhinderung von Katastrophen und Unfällen darstellen. Ziele waren zu zeigen, „wie

17„Only

history will save you from being history” (Parque de las Ciencas 2016, S. 13). gab zu ‚Alarmstufe Rot‘ 278 Führungen (á 60 min) und 11 Workshops (á 60 min), zu ‚Alarmstufe Grün‘ (interaktive Führung) 5 Führungen (á 60 min). 18Es

Aus Katastrophen lernen? Über den Umgang mit Katastrophen

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sie (die Katastrophe L.W.) entsteht, wie wir sie verstehen und was wir daraus lernen“ (DASA-Broschüre, S. 3) und „wie und wo kluge Köpfe viele Unglücke verhindern können“ (DASA-Broschüre, S. 5). Was sollte nun eine Besucherin oder ein Besucher aus diesem Panorama der „Unglücke und Tragödien der Weltgeschichte“ lernen? „Wir zeigen in der DASA Arbeitswelt Ausstellung was passiert, wenn es passiert ist. Wie gehen Menschen mit Katastrophen um? Manchmal können wir nur re-agieren, denn Naturkatastrophen wie ein Erdbeben oder Vulkanausbrüche brechen einfach so über uns herein. Hier hilft ausgeklügelte Technik, um im Fall der Fälle den Schaden gering zu halten. Andere Unglücke kann man verhindern: Gesetze legen fest, welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen – zum Beispiel damit Industrieunfälle gar nicht erst passieren. Nicht immer genügen Vorschriften, sondern manches muss trainiert werden. Wer gut ausgebildet ist, macht weniger Fehler und kann vorausschauend handeln. Gezieltes Training ist für viele Berufe daher unabdingbar. … Damit die nächste Katastrophe erst gar nicht entsteht“ (DASA-Broschüre, S. 2).

Information, Aufklärung und Prävention sind kurz gefasst die angestrebten Lernziele. Es waren nicht nur die Öffentlichkeit und ein interessiertes allgemeines Publikum angesprochen, sondern auch Schulklassen und insbesondere Jugendliche in der Berufsausbildung, darauf scheint der letzte Aspekt des Zitats hinzuweisen. Der aufklärerische Impetus und die präventive Absicht auch in Hinblick auf die Einstellung und das Verhalten jedes Einzelnen zeigen sich in den kurzen Ausführungen der Programm-Broschüre im Internet zu Naturkatastrophen und zum Feuer: „Vulkane, Erdbeben, Orkane… Wir leben auf einem geologisch aktiven Planeten. Die zerbrechliche Erdkruste trennt uns von einem glühenden Magmastrom, der jederzeit an die Oberfläche kommen kann. Doch der Mensch hat sich mit der Zeit die Erde untertan gemacht – und siedelt in „störungsanfälligen“ Gebieten: Am Fuß von Vulkanen, an Stellen, wo die Erde leicht aus den Fugen gerät, oder an Orten, die besonders anfällig für Unwetter sind. Machen wir die Rechnung ohne die Natur, müssen wir mit dem Risiko von Katastrophen leben. Oder wir lernen, kluge Schutzmechanismen zu entwickeln, die Vorhersagen aus Wissenschaft und Forschung punktgenau einzusetzen und die Eigenheiten unseres Planeten anzuerkennen. Nur so können wir dauerhaft auf der Erde überleben“ (DASA-Broschüre, S. 3). „Feuer befeuert unsere Phantasie: Freudenfeuer, Feuerstellen, Lagerfeuer, feurige Leidenschaft. Doch was, wenn Feuer unkontrolliert ausbricht und plötzlich ein winziger Funke überspringt? 96% aller Brände gehen aufs Konto menschlicher Einwirkung: Waldbrände, verkohlte Wohnungen, ruinierte Fabriken und zahl-

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lose Menschenleben führen uns die zerstörerische Kraft der Flammen vor Augen. Doch dagegen können wir alle etwas tun. „Alarmstufe Rot“ zeigt, wie die Profis des Brandschutzes arbeiten und was wir uns zur Vorbeugung alles abgucken können“ (DASA-Broschüre, S. 4).

Im Einzelnen können hier weder die Beispiele und Exponate dargestellt, noch die Details des präsentierten naturwissenschaftlichen und technologischen Wissens erläutert werden. Es sollen aber die Grenzen und Probleme aufzeigt werden anhand der Frage, was man in dieser Ausstellung nicht über Katastrophen lernt, genauer: Was in den Erklärungen ausgeblendet bleibt oder verdeckt wird, obwohl es für das Verständnis und für das große Ziel der Verhinderung von Katastrophen wichtig ist. Eine jede Ausstellung ist selektiv, nicht nur in der Auswahl der verfügbaren Exponate, sondern auch in der Perspektive auf das Thema und dessen Präsentation. So ist diese Ausstellung durch den spanischen Ursprung und die spanische Perspektive geprägt und das Feuer, zentral die Waldbrände, ist eine Station und nicht z. B. das Wasser als Hochwasser und Überschwemmung. Die Auswahl der Katastrophen fokussiert Naturgefahren und Unfälle in Industrie und Verkehrswesen, aber keine Kriege, Vertreibungen und Völkermorde, Wirtschaftskrisen und Verelendung, Hungersnöte und Epidemien. Vielleicht ist der Anspruch auf Systematik und Vollständigkeit unangebracht, aber dem Verzicht auf politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich induzierte Katastrophen entspricht die weitgehende Ausblendung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aspekte in der Darstellung und Erklärung der präsentierten Exempel und in der Reflexion praktischer Konsequenzen. Die Erklärungen und technologischen Verbesserungsperspektiven, die rechtlichen Konsequenzen und individuellen Verhaltensratschläge sind wissenschaftlich fundiert und durchaus rational, aber es ist eine ‚halbierte Rationalität‘, die man ‚positivistisch‘ nennen kann (Habermas 1972; Honneth 2003), weil sie die katastrophalen Ereignisse und Unfälle als Tatsachen aufnimmt und weder die historischen Entwicklungen und strukturellen Bedingungen, noch die ­ politisch-rechtlichen Voraussetzungen und sozio-ökonomischen Kontexte reflektiert; dazu einige Beispiele. Die kommentierende Tafel zur Nuklearkatastrophe von Fukushima behauptet, „dass nicht alles vorhersehbar ist. Japan liegt im Pazifischen Feuerring und ist ein Land, in dem sich alle der Gefahr durch Erdbeben bewusst sind. Daher werden alle Gebäude erdbebensicher gebaut. Die unvorhersehbare Natur hat sich jedoch wieder einmal von ihrer grausamsten Seite gezeigt“ (Parque de las

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Ciencas 2016, S. 87)19. Die besondere Schwere des Tsunami, der den Küstenschutz zerstört und trotz funktionierender Frühwarnung viele Opfer gekostet hat, ist unbestritten, aber die Firma TEPCO hat aus Kostengründen das KKW in Ozeannähe platziert und die Schutzdeiche nicht hoch genug gebaut – trotz gegenteiliger Gutachten und des Wissens um die Risiken von Kernkraftwerken in einer solchen exponierten Lage (Mishima 2017b, S. 217; Neureuter 2014, S. 24–27). „Unvorhersehbar“ sind die Naturgewalten, die katastrophalen Folgen sind es dagegen nicht.20 Der Kommentar zu Erdbeben lautet: „Erdbeben sind Naturereignisse mit einer der stärksten zerstörerischen Kräfte … Eine Vorhersage der Erdbeben ist nicht möglich, aber wir wissen, wo das Erdbebenrisiko hoch ist und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich ein Erdbeben innerhalb einer gewissen Anzahl von Jahren ereignet. Und trotzdem bauen wir in der Nähe der Gebiete“ (Parque de las Ciencas 2016, S. 20).

Die Gründe für das Bauen und Leben in diesen Gebieten werden nicht reflektiert, es wird als Tatsache vorausgesetzt. Der Kommentar verweist dann auf die ‚Entwicklung der Erdbebentechnik, mit der erdbebensichere Gebäude entworfen und errichtet werden können‘. Ob und wie gesellschaftliche Ressourcen dafür vorhanden oder bereitgestellt werden, bleibt offen, auch welche gesellschaftlichen Gruppen diese Gebäude bewohnen können und welche nicht. Nun ist es nicht so, dass die unterschiedlichen Lebensbedingungen in der Welt nicht angesprochen werden.

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Texte der kommentierenden Tafeln in der Dortmunder Ausstellung sind nicht publiziert. Da sie die Übersetzungen aus dem Spanischen bzw. Englischen der Ausstellung des Parque de las Ciencas in Granada 2016 sind, beziehen sich im Folgenden die Nachweise auf die englischen Texte des spanischen Ausstellungskatalogs, sofern die Tafeln abgedruckt sind. 20„Unvorhersehbare Naturkatastrophe“ war der von TEPCO-Managern und Regierungssprechern benutzte Terminus, da unter dieser Voraussetzung das japanische „Gesetz zur Entschädigung von Atomkraftschäden“ von 1961 von der ansonsten bestehenden Schadenersatzpflicht befreit (Neureuter 2014, S. 24). „Ein japanisches Gericht hat eine Mitschuld des Staates und des Betreiberkonzerns Tepco an der Atomkatastrophe in Fukushima festgestellt. Das Bezirksgericht von Fukushima entschied, dass die Regierung es unterlassen habe, Tepco aufzufordern, Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern – obwohl man schon 2002 von einem Risiko aufgrund eines möglichen Tsunamis gewusst habe.“ (Die Zeit 10.10.2017; http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-10/fukushima-tepco-staatnuklearkatastrophe-mitschuld [15.11.2017]).

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„Zu den schädlichsten Auswirkungen der Globalisierung zählt die Tatsache, dass viele Unternehmen ihre Produktionsstätten in Länder verlagern können, in denen die Gesetze und die Armut es ihnen erlauben, die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften für ihre Arbeiter außer Acht zu lassen. Die Risiken werden somit in Werkstätten mit billigen Arbeitskräften (Textilmanufakturen) verlagert“ (Parque de las Ciencas 2016, S. 76).

Die Frage, warum Unternehmen mit ihrer Produktion von Gütern die Sicherheit und Gesundheit ihrer Arbeitenden gefährden, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage, wieso die internationale Verlagerung der Risiken möglich ist. „Das Durchbohren der Erdkruste unseres Planeten hat seinen Preis und die Geschichte zeigt, dass dieser Preis auch mit Menschenleben bezahlt wurde. … Durch geschichtsträchtige Momente wie … die industrielle Revolution wurden enorme Infrastrukturen mit Tausenden von Arbeitern geschaffen. Durch den Abbau neuer Vorräte durch Tunnel und Stollen, die immer tiefer in die Erde reichten, erhöhten sich die Risiken in dieser Branche um ein Vielfaches. Das bedeutete aber auch die Bewältigung einer technologischen Herausforderung“ (Parque de las Ciencas 2016, S. 80).

Es wird kein Geheimnis daraus gemacht, dass die Arbeit in Bergwerken beschwerlich und gefährlich ist und die Gesundheit und das Leben vieler Arbeiter gekostet hat, hervorgehoben werden aber in einer unspezifischen Weise die technologischen Herausforderungen, während die wirtschaftlichen Gründe und Kostenkalkulationen, auch die damit verbundenen sozialen Kämpfe und politischen Auseinandersetzungen und deren Geschichte nicht angesprochen sind. Auf zwei Tafeln ‚Leben mit dem Risiko in den USA‘ und ‚Leben mit dem Risiko in Indien‘ werden beide Länder verglichen, in beiden brennen seit Jahrzehnten unterirdische Kohlenflöze, in den USA wurde die Bevölkerung – offenbar nach längeren innenpolitischen Auseinandersetzungen – umgesiedelt, in Indien fehlen dagegen die finanziellen Mittel für die Umsiedlung, sodass die Menschen dort mit Krankheits- und Todesrisiken leben müssen. Auch in diesen Tafeln wird die vorhandene Verteilung ökonomischen Reichtums und politische Ordnung in der Welt wie vom Schicksal gegeben vorausgesetzt. In dem Flyer ist zur Station ‚Industrie‘ zu lesen: „Wir leben in einer globalisierten Welt, in der die Produktion und der Austausch von Gütern und Dienstleistungen rund um den Erdball enorme Ausmaße angenommen haben. Wir errichten gigantische Industrieanlagen, erschaffen abenteuerliche Infrastrukturen und suchen in den entlegensten Gebieten der Erde nach Möglichkeiten, unseren immer größer werdenden Hunger nach Energie zu stillen. Wir fordern damit

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nicht nur die Naturgesetze heraus. Auch die Faktoren „Zeit“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ sind nicht ohne – denn dadurch erhöht sich der Druck bei industriellen Prozessen, die sich verheerend auf die Sicherheit auswirken können. Wir akzeptieren es, in einer Gesellschaft voller Risiken und Nebenwirkungen zu leben und versuchen, diesen Eventualitäten durch ausgefeilte Regelwerke zu begegnen. Und doch: Wie leicht passiert ein technischer Fehler oder das berühmte „menschliche Versagen“?“ (DASA Broschüre, S. 5; Parque de las Ciencas 2016, S. 63).

Die Aufklärung über das immer mögliche Eintreten von katastrophalen Ereignissen führt zu einer Reflexion auf unumgängliche gesellschaftliche Prozesse und unvermeidbare Risiken gegenwärtigen Lebens. Vorausliegende politische Entscheidungen wie auch wirtschaftliche Prinzipien und Folgen einer Wirtschaftsordnung weltweiter Konkurrenz werden als gegeben gesetzt, und die dadurch bedingten Sicherheitsrisiken und Unfälle werden dann auf das Versagen von Mensch oder Technik zurückgeführt. Grundsätzlich gilt der Mensch als Risikofaktor, und die technische Entwicklung wird als noch nicht weit genug fortgeschritten angesehen, ungeachtet der jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen und Lebensbedingungen. Was lernt man also in der Ausstellung aus Katastrophen? „Risiko und Zerstörung bedrohen unseren Alltag. Aber wir nutzen auch unsere Fähigkeiten, klug zu planen und aktiv zu gestalten. Wir forschen und treffen Vorhersagen, die uns ein wenig mehr Sicherheit geben – manchmal gerade genug, um der Katastrophe zu entgehen“ (DASA Broschüre, S. 7). Katastrophen werden als immer möglich und als vorhandenes Risiko angesehen, verbunden mit der optimistischen Ermunterung zum klugen Verhalten und zum Vertrauen in Wissenschaft und technischen Fortschritt zur Verbesserung unserer Sicherheit – im Bewusstsein, dass Risiken bleiben und dass es keine hundertprozentige Sicherheit geben wird. Aber diese Perspektive einer positivistisch halbierten Rationalität verkennt, dass Katastrophen immer schon eine Geschichte haben, dass die sogenannten Risiken immer auch die Ergebnisse aktiver politischer Gestaltung, der wirtschaftlichen Kalkulation mit Ressourcen und der Anwendung von Wissenschaft und Technik sind. Im Rückblick auf Katastrophen kann man dann ebenfalls auch lernen, was man in der bisherigen Geschichte an Gründen, Ursachen und Handlungsalternativen nicht wahrhaben, nicht akzeptieren und nicht lernen wollte. Das Motto (Rilke-Zitat) verdeckt die Geschichtsvergessenheit und Gesellschaftsblindheit der Ausstellung.

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6 Schluss Nun mag es unangebracht erscheinen, den erklärenden Tafeln, die nur wenige, nur drei bis fünf Sätze enthalten, Verkürzungen vorzuwerfen. Mir liegen keine Informationen darüber vor, ob die Führungen mehr zu den Exponaten erzählen und evtl. problematisiert haben, auch keine darüber, wie die Lehrerinnen und Lehrer die Ausstellungsbesuche in ihren Unterricht eingeordnet und die Eindrücke ihrer Schülerinnen und Schüler bearbeitet und diskutiert haben. Mir scheint in der positivistisch halbierten Rationalität der Ausstellung ein grundsätzliches Problem im Umgang mit Katastrophen zu liegen, das über die museumsdidaktische Frage hinausgeht, wie viel erläuternder und erklärender Text Besucherinnen und Besuchern zuzumuten ist. Die Ausstellungsorganisatoren beanspruchen eine ‚handlungsorientierte Wissensvermittlung‘ mit anschaulichen Dingen und möglichst wenig Text, vor allem mit interaktiven Elementen, um überhaupt Besucher in ein Museum zu locken, denn das Publikum will unterhalten werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die museale Darstellung von Katastrophen und deren Präsentation in aufklärerischer und pädagogischer Absicht nicht mehr leisten muss, als die Unterhaltungsbedürfnisse oder vielleicht auch die Sensationsgier der Besucherinnen und Besucher zu befriedigen. Eine solche Ambition sollte über die Darstellung technologischer Möglichkeiten der Katastrophenbewältigung und der Unfallvermeidung hinaus auch Erklärungen über die Ursachen und Gründe der gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen katastrophaler Ereignisse anbieten.

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Politik der Wut Micha Brumlik

1 Die große Gereiztheit Angst ist der Schlüssel – und nicht nur Angst, sondern ebenso ihre Geschwister: Zorn, Wut und Hass. So explodieren in diesem Herbst Buchtitel, die sich dieser Gefühle annehmen – ich nennen nur drei Titel: So hat der Filmemacher Alexander Kluge mit dem Maler und Zeichner Georg Baselitz ein Japan gewidmetes Buch mit dem Titel ‚Weltverändernder Zorn‘ (Baselitz und Kluge 2017) publiziert, so hat der indische Politologe Pankaj Mishra soeben ein kritisch gegen Rousseau gerichtetes Buch veröffentlicht, das er ‚Das Zeitalter des Zorns‘ (Mishra 2017) nannte, so hat schließlich der Emotionshistoriker Uffa Jensen – er wirkt am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung – soeben eine Studie zum Antisemitismus veröffentlicht, die er ‚Zornpolitik‘ (Jensen 2017) genannt hat. Doch ist all dies nicht nur ein Produkt der Medien und des Diskurses, nein – all dies reflektiert lediglich einen typischen Zug der sozialen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit – etwa in Frankreich. So heißt es in der Besprechung eines neuen Romans der französischen Autorin Christine Angot über die Lage auf den Straßen von Paris: „Und dazwischen knallt in böser Regelmäßigkeit die Gewalt in den Alltag. Wer im Sommer abends durch die Straßen des Marais spazierte, konnte in eine Flut aus schreienden, tretenden und schubsenden Jugendlichen geraten, die dem Kapitalismus den Tod wünschten und diesen Wunsch mit Baseballschlägern bekräftigten, die

M. Brumlik (*)  Goethe Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_10

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sie in jede dritte Schaufensterscheibe vom Boulevard Voltaire bis runter zur Bastille krachen ließen. Der Hass auf die Polizei und die Bourgeoisie kommt aus den Vorstädten, der Banlieu, wo Polizisten den 22 jährigen Schwarzen ‚Theo‘ bespuckten, beleidigten, ihm einen Schlagstock in den After rammten und die Straftat als Unfall verkauften“ (Hilmar Klute über Christine Angot ‚Die Wespe‘ in der SZ vom 09.10. 2017).

Doch geht es keineswegs nur um Frankreich. Ein gleichsam neutraler, mithin mehr oder minder objektiv berichtender Schweizer Journalist, Dominique Eigenmann berichtet am 9. September im bürgerlichen Schweizer ‚Tagesanzeiger‘ über eine Straßenszene in Torgau, Bundesland Sachsen. „Widerstand“, „Volksverräterin!“ „Merkel muss weg!“ - Wütende Männer und Frauen streckten Plakate mit vielen Ausrufezeichen in die Höhe, dazu buhten sie oder schrien „Hau ab!“, hupten oder bliesen so ohrenbetäubend in Trillerpfeifen, dass die Lautsprecheranlage kaum dagegen ankam“ (Tagesanzeiger vom 09. 09. 2017, S. 6).

Nein, gut ist sie nicht, die politische Großwetterlage im Westen. Islamistischer Terror und Flüchtlingskrise stellen die politische Ordnung – jedenfalls in Europa – in einer Weise infrage, wie noch nicht einmal 1989. Damals, 1989, schloss einfach der östliche Teil Europas, durchaus revolutionär, zum Westen auf, ohne dass damit dessen politische Ordnung fragwürdig wurde – im Gegenteil. Heute bemühen sich Leitartikler und politische Experten darum, ‚Flüchtlingskrise‘ und islamistischen Terror zu erklären und damit beidem den beunruhigenden, ja angsterregenden Charakter zu nehmen. Dabei scheint es nicht möglich, genaue Ursachen zu benennen. Das beweist die von professionellen Zeitanalytikern gewählte Begrifflichkeit: So beschwört der Sozialphilosoph Axel Honneth in seinem anregenden Langessay ‚Die Idee des Sozialismus‘ (Honneth 2015) ein ‚Unbehagen über den sozioökonomischen Zustand‘ (Honneth 2015) bzw. ein Fehlen ‚geschichtlichen Gespürs‘ (Honneth 2015), während der Soziologe Heinz Bude einen inspirierenden Band zum Thema ‚Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen‘ (Bude 2016) vorgelegt hat. Der Soziologe Hartmut Rosa wiederum, bisher als Kritiker einer universellen Beschleunigung bekannt, hat soeben eine voluminöse Studie zu einer ‚Soziologie der Weltbeziehung‘ unter dem Titel ‚Resonanz‘ (Rosa 2016) publiziert. ‚Unbehagen‘, ‚Gespür‘, ‚Stimmung‘, ‚Gefühl‘ und ‚Resonanz‘ – das sind zunächst diffus wirkende Begriffe; Begriffe, die man so in einer auf harten und klaren Begriffen aufbauenden Gesellschaftstheorie nicht kannte, das sind Kategorien, die

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ebenso unscharf wirken wie das, was sie mindestens beschreiben, wenn nicht gar erklären sollen: Den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand jedenfalls im ‚westlichen‘ Teil der Welt. Das lädt zu weiteren Assoziationen ein: Im Literaturhaus der Stadt München war im Frühsommer 2016 eine umfangreiche Ausstellung zu Thomas Manns epochalem Roman ‚Der Zauberberg‘ zu sehen. Die Ausstellung dokumentierte den sozialen und geografischen Ort des ‚Zauberbergs‘, eines Lungensanatoriums in den Schweizer Alpen – einschließlich seiner Liegestühle, seiner Röntgenapparate und chirurgischen Folterwerkzeuge. Anlässlich eines Aufenthalts seiner Frau in Davos im Jahre 1913 begonnen, musste Thomas Mann die Arbeit am Text zunächst unterbrechen, um ihn schließlich nach dem Ersten Weltkrieg fertigzustellen. Das vorletzte Kapitel des 1924, nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges publizierten Romans trägt die Überschrift ‚Die große Gereiztheit‘ und gibt ihr Ausdruck: „Was gab es denn? Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen einzelnen und Gruppen, und das Kennzeichnende war, daß die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen…Man beneidete die eben Aktiven um das Recht, den Anlaß zu schreien. Eine zerrende Lust, es ihnen gleichzutun, peinigte Leib und Seele, und wer nicht die Kraft zur Flucht in die Einsamkeit besaß, wurde unrettbar in den Strudel gezogen“ (Mann 1950, S. 973).

Das war zwar im Rückblick aus der Situation der frühen Jahre der Weimarer Republik heraus geschrieben, traf aber das Lebensgefühl der letzten Jahre des alten Europas präzise. Stefan Zweig hat in seinem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verfassten autobiografischen Rückblick ‚Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers‘ dasselbe geschildert: „Es war noch keine Panik, aber doch eine ständige Unruhe; immer fühlten wir ein leises Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse knatterten“ (Zweig 2003, S. 229). Auch hier: ‚Unruhe‘, ‚Unbehagen‘, ‚Gereiztheit‘. Man mag sich fragen, was es bedeutet, dass die gegenwärtige Sozialwissenschaft sich solcher Begriffe bedient, sie also nicht mehr in der Lage zu sein scheint, die Ursachen dessen, was sie kategorial zu erfassen versucht, begrifflich zu erklären. Von der soziologischen Systemtheorie war zu erfahren, dass die Soziologie auch nur ein Teil dessen ist, was sie zu verstehen versucht: Der Gesellschaft. Womöglich drückt sich in den unscharfen Kategorien aber auch ein – was immer das sein mag – unscharfer gesamtgesellschaftlicher Zustand aus. Dann aber ist zu vermuten, dass sich hinter

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all diesen Begriffen – vom ‚Unbehagen‘ über die ‚Stimmung‘ bis zur ‚Resonanz‘ – eine gemeinsame Ahnung verbirgt, nämlich die, dass Europa, das Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitsamt seinen Hoffnungen ebenso seinem Ende entgegengeht, wie das alte Europa des neunzehnten Jahrhunderts lange vor 1914 am Ende war, ohne das doch begreifen zu können.

2 Philosophie der Gefühle Wo soziologische Erklärungen zunächst nicht reichen, ist es unerlässlich, sich mit Grundbegriffen und Phänomenen reflexiv auseinanderzusetzen, d. h. Begriffsklärungen vorzunehmen – und das heißt nichts anderes, als Philosophie zu betreiben. Dann aber – und das ist die leitende Annahme dieses Versuchs – gilt es, den Gedanken zu verfolgen, dass Gefühle hervorgerufen, gelenkt und bewusst eingesetzt werden können, mit ihnen also Politik betrieben werden kann. Seit längerem schon ist die Philosophie bemüht, diesem unklaren Phänomen begrifflich auf die Spur zu kommen (Demmerling und Landweer 2007; Nussbaum 2017). Ich verstehe unter ‚Gefühlen‘ intentionale, zunächst spontane und holistische, immer bewertende, meist reaktive Stellungnahmen von einzelnen oder mehreren Menschen zu Personen, Dingen sowie inneren und äußeren Zuständen. Im Unterschied zu Gedanken oder Argumenten treten Gefühle meist, nicht immer, plötzlich auf; dass sie stets bewertende Stellungnahmen darstellen, muss nicht eigens betont werden, wohl aber, dass sie holistischen, ganzheitlichen Charakters sind. Gefühle sind intentional – sie richten sich stets auf etwas in Bezug auf etwas oder jemanden anderen. So ist man wütend auf jemanden, weil …; ist man zornig über jemanden, weil …; ist traurig über … oder lüstern auf …. Der Phänomenologe Aurel Kolnai hat am Beispiel des Ekels sechs Züge jedenfalls von Abwehrgefühlen herausgearbeitet: Ihren Gegenstandsbereich, ihre Intentionalität, ihre Zuständlichkeit, ihre Unmittelbarkeit oder Ursprünglichkeit, ihre – last but not least – Leibgebundenheit sowie ihren Antwortcharakter (Kolnai 2007, S. 8–9). Die These, die ich im Folgenden weiter zu entfalten versuche, lautet daher, dass – da Gefühle als leibgebundene Ausdrucksphänomene ansteckend sind – sie bewusst erzeugt und mit einer Intention verbunden werden können – und zwar so, dass die so erzeugten reaktiven Abwehrhaltungen einer argumentativen Überprüfung der Richtigkeit ihres intentionalen Gehaltes nicht mehr zugänglich sind, abschottend wirken.

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Zunächst aber sind die Bandbreiten, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten sowie der innere Zusammenhang jener Gefühle zu erörtern, in denen sich derzeit das Politische ausdrückt. Dazu ist eine aus der Psychologie der Gefühle bekannte Grundunterscheidung zu berücksichtigen – sie unterscheidet zwischen ‚Affekt‘ und ‚Emotion‘. Als ‚Affekte‘ gelten unmittelbare, spontan und ohne vorherige Überlegungen auftretende, sofort, unmittelbar spürbare, immer auch körperliche Befindlichkeitsänderungen; halten diese Befindlichkeitsänderungen länger an und werden bewusst als solche wahrgenommen, spricht – jedenfalls die Schulpsychologie – von ‚Emotionen‘, die freilich auch wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden können (Ciompi 1997; Hülshoff 1999). In diesem Sinne ist der Ur-Affekt aller negativ gegen andere gerichtete Affekte die ‚Wut‘, die – zu Bewusstsein gebracht – zum ‚Zorn‘ werden kann, der wiederum – fehlt die je subjektive Betroffenheit – in ‚Empörung‘ umschlagen kann. Im ‚Zorn‘ aber, der sich stets auf die Handlungen anderer, nicht auf deren Wesen erstreckt, drückt sich der Wille aus, Vergeltung wider empfundenes Unrecht zu üben. Diese Vergeltung – so die Philosophin Martha Nussbaum (2017) – kann drei Formen annehmen: 1. Die Schädigung eines Verursachers, also die Rache, durch die der zugefügte Schaden in aller Regel nicht wieder geheilt wird 2. Eine Beeinträchtigung des öffentlichen Status jener Personen, die Übel zugefügt haben – also Maßnahmen, die begrenzt ausgleichend wirken, aber letztlich begrenzt bleiben, sowie 3. – etwa im Sinne der strafrechtlichen Generalprävention – Maßnahmen, die eine Wiederholung von Übeltaten unterbinden. Formen und Grenzen der Beeinträchtigung des öffentlichen Status von Personen hat die Emotionshistorikerin Ute Frevert ein soeben erschienenes Buch ‚Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht‘ (Frevert 2017) gewidmet. Länger andauernder subjektiver „Zorn“ (Demmerlin und Landwehr 2007, S. 287–288) richtet sich gegen Menschen oder Zustände und kann sich, sofern auf bestimmte Personen bezogen, als stets bewusster ‚Hass‘ (Kolnai 2007) äußern, der wiederum, wenn die Möglichkeit zum Ausleben nicht gegeben und auf Dauer gestellt ist, mit einer gewissen Abschwächung in das umschlagen kann, was seit Nietzsche als ‚Ressentiment‘ bezeichnet wird. Peter Sloterdijk hat dieses Gefühl in seinem vor 11 Jahren erstmals publizierten, zu wenig beachteten Buch ‚Zorn und Zeit‘ (Sloterdijk 2006) so beschrieben: „Dieses beginnt sich zu formieren, wenn der rächerische Zorn am Direktausdruck gehindert wird und den Weg über einen Aufschub, eine Verinnerlichung, eine Übersetzung, eine Entstellung nehmen muß. Überall dort, wo Rückschlagsgefühle dem Zwang zur Vertagung, Zensurierung und Metaphorisierung unterworfen sind, bilden sich lokale Zornspeicher, deren Inhalt allein zu späterer Ausleerung und Rückübersetzung aufbewahrt wird“ (Sloterdijk 2006, S. 132).

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3 Politik der Gefühle In diesem Sinne nimmt die sog. identitäre Bewegung die daraus resultierende, von Peter Sloterdijk philosophisch begründete (Sloterdijk 2006), von seinem ehemaligen Assistenten Marc Jongen politisch gewendete Forderung auf 1, intensive Emotionen im politischen Diskurs gegen vermeintlich abgeklärte Nüchternheit und damit auch Langeweile zu rehabilitieren; mehr noch, das stets schwelende Ressentiment wieder in Wut und Zorn zu entsublimieren. Unter Rückgriff auf das altgriechische Wort ‚Thymos‘ fordert Sloterdijk eine ‚thymotische‘ Politik. Dem folgen dzt. der österreichische Aktivist der identitären Bewegung Martin Sellner und sein deutscher Counterpart Walter Spatz in ihren Gesprächen zum Thema ‚Gelassen in den Widerstand‘: „Unser Ziel ist die geistige Verschärfung. Wir wollen die Herzen in Brand setzen, etwas in Bewegung bringen, die entscheidenden Fragen erneut, tiefer und mit politischen Folgen stellen. Die geistige Unruhe, der schlafende Furor teutonicus, das ewig unzivilisierbare, urdeutsche Fieber, das uns aus germanischen Urwäldern wie aus gotischen Kathedralen entgegenstrahlt, versammelt sich in uns. Unsere Gegner wissen das, und sie haben Angst. Sie wissen von der Möglichkeit der spontanen Eruption und Regeneration. Und sie wissen, dass wir nicht mehr in ihre Fallen laufen, dass wir ihren Schablonen und Gängelbändern entwachsen sind. Ich glaube“, so beschließt Sellner dieses politische Glaubensbekenntnis, „wir leben in einer Zeit der Entscheidung. Ich glaube, dass unsere Arbeit als Kreis, im Denken und Hören auf das Sein, organisch in den politischen Kampf einer Massenbewegung, in die politische Arbeit einer Partei eingebunden ist“ (Sellner und Spatz 2015, S. 90).

Als gesichert kann allenfalls gelten, dass diese politischen Strömungen nicht wieder von heute auf morgen verschwinden werden, sondern sie eine beinahe notwendige Begleiterscheinung von Globalisierung und Digitalisierung und damit dem unwiderruflichen Niedergang der Arbeiterklasse in westlichen Industriestaaten ist, wie sie jüngst der Frankfurter (Oder) Soziologe Andreas Reckwitz in seiner ‚Gesellschaft der Singularitäten‘ (Reckwitz 2017) analysiert hat.

1http://www.zeit.de/2016/23/marc-jongen-afd-karlsruhe-philosophie-asylpolitik

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4 Soziologische Hinweise Gewiss, es waren keineswegs nur Mitglieder der US-amerikanischen weißen Arbeiterklasse, die Donald Trump an die Macht brachten. Und doch waren es auch und nicht zuletzt eben jene Arbeiter und Arbeitslosen – und genau liegt hier das eigentliche Erschrecken für die Linke: Mit Trumps historischem Erfolg, dem glücklich vermiedenen Wahlsieg Norbert Hofers bei den österreichischen Präsidentschaftswahlen sowie dem jedenfalls nicht völlig chancenlosen Vorhaben Marine Le Pens, französische Präsidentin zu werden, wird deutlich, dass wesentliche Teile nicht nur der industriellen Arbeiterschaft ihr Heil heute nicht mehr in internationalistisch orientierten sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien suchen, sondern in abgeschotteten Nationalstaaten, in Fremdenfeindlichkeit und Protektionismus. Somit signalisiert Trumps Sieg das diesmal wirklich unwiderrufliche Ende einer politischen Utopie, die kein geringerer als Karl Marx vor gut 150 Jahren verkündet hatte. Neben einer illusionslosen, beinahe jubelnden Einschätzung des Sieges der Bourgeoisie verkündete Marx eine politische Hoffnung, die den Kommunisten – als der Avantgarde der Arbeiterklasse – die Rolle einer endgültigen Aufhebung allen Unrechts zuschrieb: „Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet“, so Karl Marx und sein Mitstreiter Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“. „Der Fortschritt der Industrie“ so fuhren sie fort „dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Association. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor Allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich“ (Marx 2004, S. 607).

Soweit die ihrerzeit optimistische Prognose von Marx und Engels, die allerdings von der Gegenwart konterkariert wird: Heute ist zu beobachten, dass die von Marx und Engels zur Revolution berufene Klasse – die Arbeiterklasse – selbst zum Kern jener politischen Kräfte geworden ist, die Marx und Engels im Manifest als ‚Reaktionär‘ bezeichnet hatten. Das zeigen nicht nur die Wahlergebnisse von den Niederlanden bis nach Ungarn und Polen, von Baden-Württemberg, wo ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern AfD gewählt hat bis zum Freistaat Sachsen, wo zuletzt 25 % der Wahlberechtigten

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zu Protokoll geben, AfD wählen zu wollen und die AfD bei der Bundestagswahl die stärkste Partei wurde. Ob man nach Frankreich oder in die Niederlande, nach Österreich oder eben nach Ostdeutschland blickt: Es scheint, als seien die Rechtspopulisten die eigentliche Arbeiterpartei. Fragt man nach den Ursachen, kann die vieldiskutierte, ebenso anrührende wie analytisch hellsichtige Autobiographie des französischen Intellektuellen Didier Eribon ‚Rückkehr nach Reims‘ (Eribon 2016) eine Antwort geben. Sie schildert das Leben eines Mannes, der zum Intellektuellen wurde, seiner der französischen Arbeiterschaft angehörigen, kommunistischen Familie im Glamour der Hauptstadt den Rücken kehrte, um nach dem Tode des Vaters – zwanzig Jahre später – wieder mit Mutter und Geschwistern in Kontakt zu treten. Politisch trifft ihn dies Rencontre wie ein Schock: Alle, die sich früher der Kommunistischen Partei Frankreichs verbunden fühlten, gaben jetzt zu Protokoll, den rechtsextremen ‚Front National‘ der Familie Le Pen zu wählen. Der inzwischen etwas gebremste Aufstieg des ‚Front national‘ markiert daher auch die Endstation des auf die Arbeiterschaft setzenden Parteikommunismus. Endstation einer Entwicklung allerdings, die sich schon lange, seit bald einhundert Jahren abzeichnete. All das beweist ein weiteres Mal, dass der Strukturtheoretiker Marx gegen den Revolutionstheoretiker Marx mehr Recht behält, als ihm lieb sein konnte. Gleichwohl gilt seine strukturelle Einsicht über den prozessierenden Widerspruch von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften ungebrochen: Versteht man unter Produktionsverhältnissen die Globalisierung und unter Produktivkräften die Digitalisierung, so ist es genau diese Spannung, die zum agonalen Ende der industriellen Arbeiterklasse jedenfalls des Westens führen muss – einer Arbeiterklasse, die ihr Heil derzeit in einem semifaschistischen Bonapartismus sucht. In Verbindung mit den regelmäßig wiederkehrenden Krisen des Finanzkapitalismus und einer Wertschöpfung, die immer weniger auf der Aneignung von Mehrwert beruht, sondern auf Transaktionsgewinnen und so einen ‚Postwachstumskapitalismus‘ hervorgebracht hat, entsteht so das, was der Frankfurter Soziologe Oliver Nachtwey als ‚Abstiegsgesellschaft‘ (Nachtwey 2016) bezeichnet hat und was er in der Metapher von einer nach unten fahrenden Rolltreppe fasst. Im Gegensatz zu der noch optimistischen Metapher Ulrich Becks, der die sozialstaatlich geregelten Gesellschaften des Westens mit Aufzügen verglich, in denen bei größter Unterschiedenheit der Fahrenden dennoch alle nach oben fahren. In ‚Abstiegsgesellschaften‘ aber lassen sich einige apathisch nach unten fahren, während andere rücksichtslos in Panik nach oben rennen, um dennoch unwiderruflich nach untern gefahren zu werden. Das scheint ein globales, auf jeden Fall aber ein Problem für die weltweit die Industriearbeiterschaft ersetzenden Mittelschichten zu sein.

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Unter der Überschrift ‚Stirbt der Kapitalismus?‘ haben vor nun bereits drei Jahren vier makrosoziologisch und historisch arbeitende Forscher: Immanuel Wallerstein, Randall Collins, Michael Mann, Georgi Derlugian und Craig Calhoun verschiedene Szenarien für gesellschaftliche Entwicklungen in den nächsten vier Jahrzehnten entwickelt, die eine grundlegende Umformung der kapitalistischen Basis gegenwärtiger Gesellschaften jedenfalls nicht für völlig unmöglich halten. In unserem Zusammenhang – der Frage nach möglichen Kräften der Veränderung, früher sprach man vom ‚revolutionären Subjekt‘ – sind insbesondere die Überlegungen Randall Collins von besonderem Interesse: „Da durch die Mechanisierung“ so Collins „die Arbeiterklasse schrumpfte, wurde der Kapitalismus gerettet durch den Aufstieg der Mittelschicht. Heute dezimieren Computerisierung, das Internet und die Flut neuer mikroelektronischer Geräte die Mittelschicht. Kann“ so fragt Collins „der Kapitalismus diesen zweiten technologischen Rationalisierungsschub überstehen“ (Collins 2014)?

Hier ist nicht der Ort, um Collins sorgfältige Krisenanalyse im Einzelnen zu überprüfen. Im Zusammenhang gesellschaftlicher Bewusstwerdung ist freilich sein Szenario ‚Ausweg‘, um den Kapitalismus zu retten, von besonderem Interesse: Die Inflation von Bildungstiteln und andere, verdeckte Keynesianismen. Der wachsende Anteil an Bildungszertifikaten, der kurzfristige Entlastungen des Arbeitsmarktes bewirkt, zeitigt freilich eine eigene, dialektische Dynamik: „Schul- und Hochschulabschlüsse sind eine Währung, die das Sozialprestige bewertet und als Zugang zu Arbeitsplätzen gehandelt wird. Wie jede Währung führt sie zu inflationierten Preisen.– in diesem Fall auf ein immer stärker umkämpftes an Angebot an oberen Mittelschichtjobs. Die Inflationierung der Bildung hat eine Eigendynamik; für den einzelnen Absolventen besteht die beste Antwort auf ihren absinkenden Wert im Erwerb von noch mehr Bildung“ (Collins 2014, S. 67).

5 Extremismus der Mitte Die politische Theorie kennt seit Seymour M. Lipsets 1960 publiziertem Buch ‚Political Man‘ das Phänomen eines ‚Extremismus der Mitte‘ (Lipset 1960), der – wie die zeitgeschichtliche Forschung nachweisen konnte – eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der NSDAP spielte. Was damals der Antisemitismus war, ist heute die Islamophobie. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Antisemitismus hier und Islamophobie dort sind keineswegs dasselbe: sie entstammen verschiedenen historisch-kulturellen Ausgangslagen und haben ganz

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unterschiedlich materielle Gewalt angenommen. Das beweist die Singularität der nationalsozialistischen Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden. So verschieden Antisemitismus und Islamophobie jedoch sind, so sehr nehmen sie auf der Seite jener, die einer Form ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ (Wilhelm Heitmeyer) anhängen, dieselbe Funktion ein: einer scheinbar rationalen Begründung von Ressentiment und schierem Hass: „Der Islam“, so das im April 2017 beschlossene Wahlprogramm der AfD, „gehört nicht zu Deutschland. In der Ausbreitung des Islam und der Präsenz von über 5 Millionen Muslimen, deren Zahl ständig wächst, sieht die AfD eine große Gefahr für unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Werteordnung“ (Wahlprogramm der AFD 2017).

Konsequent fordert die AfD daher die Abschaffung islamtheologischer Lehrstühle an deutschen Universitäten sowie das Verbot von Muezzinruf und Minaretten, weil sie Ausdruck eines islamischen Imperialismus seien. Gelegentlich wird darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus nie auf ein dem islamistischen Terror – der sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun hat – vergleichbares Phänomen habe hinweisen können; dem ist freilich entgegenzuhalten, dass sich die antisemitische Propaganda seit dem Kaiserreich nicht nur gegen jüdische Einwanderer wandte, sondern stets auf den Umstand hinwies, dass sich unter den Führungskräften der gefürchteten Bolschewiki überdurchschnittlich viele Juden befanden. So sehr also AfD und ihre WählerInnenschaft Ausdruck einer gesamtwesteuropäischen Stimmung sind, so sehr beerben sie doch auch den in der politischen Kultur Deutschlands tief verwurzelten Rassismus – und das angesichts einer Geschichte, die zumal der Bevölkerung Ostdeutschlands kaum Gelegenheit zum Erfahren einer liberalen Kultur ließ. Tatsächlich gab es in den östlichen Landesteilen seit Gründung des Deutschen Reiches 1871 nur vierzehn Jahre, in denen Demokratie gelebt werden konnte: zwischen 1919 und 1933. Vorher, von 1871–1919 lebten die Ostdeutschen im autoritären Staat des Kaiserreichs, von 1933–1945 unter dem NS Staat, anschließend, von 1945–1989 unter einer kommunistischen Parteidiktatur; erst seit knapp dreißig Jahren, seit der Wende leben sie unter Umständen, die überhaupt demokratisch zu nennen sind – und das angesichts von Verlust- und Enteignungserfahrungen, die viele die Wiederkehr autoritärer Verhältnisse ersehnen lassen. Demgegenüber ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es trotz dieses Fehlens einer liberalen Hintergrundkultur zumal im Herbst 1989 zu einem bewundernswerten, basisdemokratischen Aufbegehren keineswegs nur in den Metropolen Berlin und Leipzig, sondern auch etwa in der Provinz in Plauen kam.

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Die AfD erweist sich somit strukturell als ein zeitgemäß modifizierter Wiedergänger der NSDAP. Das gilt nicht für all ihre Mitglieder, vielleicht nicht einmal für deren Mehrheit, aber: In Falle der AfD gilt, dass sie als Partei allemal mehr ist als die Summe ihrer Teile. Sie ist eine Partei, die anstelle des Antisemitismus die Islamophobie und anstelle des hierzulande – anders in Polen und Ungarn – diskreditierten Führerprinzips eine plebiszitäre, totalitäre Demokratie einführen will.

6 Politik der Gefühle „Zornpolitik“ so Uffa Jensen, „erschöpft sich jedoch keineswegs im strategischen Einsatz von Gefühlen gegen andere. Die grundlegende Schwierigkeit betrifft die Bedeutung von Gefühlen in der Politik insgesamt: Mit welchen Gefühlen betreiben wir Politik? Wie reagieren wir wann emotional auf Politik“ (Jensen 2017, S.10)?

Ein treffendes Beispiel für den politischen Einsatz von Gefühlen lieferten nach der Bundestagswahl die GRÜNEN: So etwa Robert Habeck, der am 30. Oktober zu Protokoll gab: „Linksliberale stemmen sich seit jeher dagegen, die Leute im Gefühl zu erreichen. Wir sind die Vernünftigen. Aber Vernunft kann eben auch schnell zu verkopft wirken“ (‚Bissen für Bissen‘ taz vom 30.09.3017, S. 3). Kaum ein Zufall dürfte es sein, dass die Partei in derselben Ausgabe eine Anzeige mit dem Bild Petra Kellys schaltete, auf der sie zitiert wurde: ‚Wir müssen nicht nur mit dem Intellekt, sondern auch mit dem Herzen handeln‘. Freilich liegt zumal einer mehr oder minder, im weitesten Sinne ‚linken‘ Öffentlichkeit alles daran, einen Teil der öffentlich gezeigten Wut vor dem Vorwurf des Irrationalismus in Schutz zu nehmen – insbesondere dann, wenn es um das Ursprungsphänomen jener deutschen ‚Politik der Gefühle‘, um den vom SPIEGEL Redakteur Dirk Kurbjuweit erstmals so genannten ‚Wutbürger‘ geht. Dessen Idealtyp ist nach Untersuchungen des von Franz Walter geleiteten Göttinger Zentrums für Demokratieforschung der pensionierte Diplomingenieur (Walter 2013, S. 352). Laut Bernhard Shaw, so etwa Ansgar Lange in einem Gespräch mit Franz Walter ‚sind alte Männer besonders gefährlich, weil ihnen die Zukunft egal‘ ist. Dies traf offenbar auch auf jene deutsche Protestbewegung zu, die vornehmlich im Milieu der Kinderlosen oder inzwischen den Sorgen der Kindererziehung entbundenen älteren Bürgerinnen und Bürger stattfindet. Bürger, die viel Tagesfreizeit haben, können sich die Aufrechterhaltung und Kultivierung ihrer Wut sowie ihrer Institutionalisierung als Zorn leisten – haben sie doch viel Tagesfreizeit. So finden sich in der Riege der Erregten besonders viele Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Schüler, Pastoren und Lehrer, aber auch – siehe Shaw – eine Vielzahl an Vorruheständlern, Pensionären und Rentnern.

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„Bezeichnenderweise aber setzen sich die ironischen Betrachter des Politischen ganz überwiegend zusammen aus Männern, alleinlebend, ohne Kinder, mit beruflich ungewöhnlich großen Freiflächen“, so Walter bündig2.

Engagierte Mitglieder der Zivilgesellschaft wiederum versuchen jedenfalls die Stuttgarter ‚Wutbürger‘ vor derlei skeptischen Beobachtungen zu schützen. So publizierte Jürgen Lessat am 7. Oktober in der Printausgabe der Wochenzeitung ‚Kontext‘ einen langen Beitrag, in dem er abwog, ob gegenwärtige rechtspopulistische Hetzer in den ‚Stuttgart 21‘ Protesten ihren Ursprung fanden. Gerd Landsberg jedenfalls, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes ist dieser Ansicht – war doch der Ruf ‚Lügenpack‘ auch in Stuttgart immer wieder zu hören. Der Bewegungsforscher Dieter Rucht jedenfalls meint, dass es gelte, zwischen reaktionären und aufgeklärten Varianten von Wutbürgern einschließlich Mischformen zu unterscheiden gelte (Lessat 2017, S. 2). Wenn das zutrifft, erweisen sich die genannten negativen Gefühle als wertende Stellungnahmen mit einem nachvollziehbaren, normativ-kognitiven Gehalt, also jener Analysen von Gefühlen, die Martha Nussbaum mit ihrem ‚neostoischen‘ Konzept vertritt (Demmerlin und Landweer 2007; Nussbaum 2001; 2017). Dass „Bewertungen“, „Valorisierungen“ zumal im Bereich der Kultur geradezu eine neue Formation der gesellschaftlichen Entwicklungen ausmachen, vertritt – wie oben bereits angedeutet – neuerdings der Soziologe Andreas Reckwitz (2017).

7 Wiederkunft der Ehre Nun hat sich mindestens bei den medial vermittelten Wutdemonstrationen gegen Angela Merkel in Torgau und anderswo in Ostdeutschland gezeigt, dass es keineswegs nur Männer mit höheren Abschlüssen sind, die ihren Zorn demonstrativ auf die Straße trugen. Freilich: auch wenn sich dort viele Frauen unter den Protestierenden fanden, gilt doch, dass es sich in aller Regel um Personen jenseits der Lebensmitte, jenseits des 50 handelte. Gefühle sind ansteckend, und eine Politik des Zorns kann – unabhängig von den jeweils vertretenen Motiven – von Stuttgart 21 bis zum Protest gegen die Flüchtlingspolitik Angela Merkels, an das anknüpfen, was die ‚Philosophie der Gefühle‘ als ‚ursprüngliche Verankerung‘ eines Gefühls ansieht, eine ‚Verankerung‘, die

2http://www.spiegel.de/politik/deutschland/studie-ueber-wutbuerger-alt-stur-egoistischa-784664.htm

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später ‚verdichtet‘ wird. Sofern die bereits erwähnte Vermutung Andreas Reckwitz zutrifft, dass singuläre Bewertungen eine immer stärkere Rolle spielen als kollektive Normierungen, werden auch Selbstbilder und Selbstbewertungen bzw.entwertungen zu einem immer bedeutenderen Thema. Jahrzehnte lang wurde diese Thematik in Fortführung der Hegellektüre von Jürgen Habermas speziell von Axel Honneth im Rahmen einer Theorie des ‚Kampfes um Anerkennung‘ (Honneth 1992) erörtert. Zuletzt nun hat die Kritische Gesellschaftstheorie diese ‚Kampferfahrungen‘ tiefer gelegt, etwa in Hartmut Rosas Theorie der Resonanz (Rosa 2016). Leiden die ‚Wutbürger‘ unter zu wenig Resonanz? In gewisser Weise ja – es käme aber darauf an, diese Form mangelnder Resonanz näher zu spezifizieren. Nimmt man zu heuristischen Zwecken den von Franz Walter postulierten Idealtyp des pensionierten Diplomingenieurs als Beispiel, so wird neben das in jedem Fall kritische Lebensereignis der Pensionierung, dem allmählichen Nachlassen der Kräfte sowie erotischer Attraktivität und sexueller Aktivität auch der auf das politische System bezogene Eindruck entstehen, dass Regierende vermeintlich unbezweifelbares Expertenwissen nicht zu schätzen wissen und mithin alleine dadurch Zurücksetzungen und Kränkungen auslösen. In seinem Buch ‚Zorn und Zeit‘ hatte Sloterdijk (2006) die Verdrängung thymotischer Regungen festgestellt – emotionaler Grundlagen der jedenfalls abendländischen Kultur, die bis in die Antike, bis zu dem von Homer besungenen Zorn des Achilles zurückreicht. Ein anderer, neuer Versuch, vergessene, antike Konzeptionen zu reaktualisieren, liegt der Studie des Direktors des ‚Zentrums für politische Schönheit‘, Philipp Ruch zugrunde: Mit seiner Studie ‚Ehre und Rache. Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts‘ (Ruch 2017) liegt nicht weniger als der Versuch vor, auf die grundlegende, bis heute aktuelle Bedeutung verschiedenster Ehrbegriffe hinzuweisen. In Verbindung mit Reckwitz Analyse einer Wiederkunft von Singularitäten und damit Valorisierungen auch individueller Existenz tritt damit das Motiv der ‚Kränkung‘ als gesellschaftlicher Größe ins soziologische Bewusstsein. Und mit ihr die Frage nicht nur des Kampfes um Anerkennung, sondern um das Ertragen vermeintlicher oder wirklicher Demütigungen, und es ist kein Zufall, dass die neuesten, die allerneuesten Studien einer Geschichte der Emotionen sich eben dieses Themas annehmen: Ute Freverts Untersuchung ‚Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht‘ (Frevert 2017). Frevert stellt – ganz im Einklang mit Reckwitz – fest, dass Demütigungen und Beschämungen in letzter Zeit keineswegs signifikant zugenommen hätten, jedoch:

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„Was sich vielmehr geändert hat, ist die öffentliche und private Empfindlichkeit. Dort, wo sie noch vorkommt, wird Beschämung als Akt psychischer oder physischer Gewalt mit einem moralisch-justitiellen Bann belegt. Ob sich jemand konkret beschämt oder gedemütigt fühlt, spielt dafür keine Rolle. Was eine Demütigung ist, erschließt sich stattdessen aus den symbolischen Codes und kulturellen Deutungssystemen einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe“ (Frevert 2017, S. 232).

Die Politik der Wut, des Zorns und des Ressentiments besteht mithin darin, an den jeweiligen Verankerungen bestehender Schamgefühle anzuschließen und sie systematisch, ansteckend und inter-attraktiv zu verdichten.3

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3zur

Scham vgl. Brumlik 2002, S. 65–81.

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Is It OK to Punch a Nazi? Aggression und Generativität im ubiquitären Widerstand Holger Schulze 1 Einleitung Am Tag der Amtseinführung des 45. Präsidenten der USA, Donald J. Trump, wurde Richard Spencer (2008), einer der prominentesten Vertreter der sogenannten Alt-Right, an einer Straßenecke in Hörweite zum großen Ereignis interviewt. Inmitten des Trubels der Trump-Fans und der ­Anti-Trump-Demonstranten bemühte er sich sichtlich sich auf den Interviewer zu konzentrieren und seine talking points stimmig vorzutragen, die Bedeutung der neugedeuteten Pepe The Frog-Comicfigur, die stereotypen Abgrenzung von den Neonazis, die ihn angeblich hassen würden sowie generell die aktuelle Konjunktur der Alt-Right, für die die Trump-Wahl einen Höhepunkt darstelle: Nun würden all diese politischen Ideen, die er vertreten würde ernstgenommen und hoffentlich auch umgesetzt werden. Während Spencer dies nun vorträgt, im Lärm der Gegendemonstranten, Hineinrufer, auch gelegentlicher Trumpjubler, stürzt nun überfallsartig eine Person im schwarzen Kapuzenpulli auf ihn zu: Ein ausgezeichnet demütigender Stoß mit der geballten Faust in die rechte Gesichtshälfte trifft Spencer und lässt ihn halb zur Seite stürzen, sich notdürftig berappeln und sorgenvoll, angstvoll weggehen, unterstützt und versorgt von seinen Mitstreitern. Die Videoaufzeichnung dieses brachialen Rückschlages gegen eine sich zunehmend enthemmt gebende Gruppe fröhlicher und sich sicher fühlender Rassisten wurde denn auch umgehend verbreitet, vielfach aufbereitet und immer neu vertont. Der Fausthieb gegen diese stylich zurechtgemachte Gallionsfigur der H. Schulze (*)  Universität Kopenhagen, Kopenhagen, Dänemark E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_11

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Neuen US-Rechten, der sogenannten Alt-Right wurde auf eine ganze Reihe von Musikstücken, aktuellen, älteren, Klassikern geschnitten, auf Beats und Tutti. So musste Richard Spencer diesen Fausthieb erleiden während im Video punktgenau zum Fausthieb der Orchester- und Gesangsaufschwung in Celine Dions My Heart Will Go On erklang oder auch von Freude Schöner Götterfunken im 4. Satz der 9. Sinfonie von Ludwig Van Beethoven. Die Faust traf ihn mit Bruce Springsteens Born In The USA, in Wiederholung geloopt zu Queens We Will Rock You, Gwen Stefanis Hollaback Girl, oder Pharrell Williams‘ Happy, zu The Notorious B.I.G.s Hypnotize oder auch, rhythmisch am komplexesten wohl, zu Frank Zappas Black Page#2, einem Musikstück mit hoher metrischer Komplexität sowie Polyrhythmen, Polymetren und ineinander geschachtelter Triolen.

2 Der Spencerhieb Immer wieder wurde dieser brachiale Fausthieb neu vertont, geschnitten, hochgeladen, kompiliert und herumgereicht. Richard Spencer, ein Agitator, der soeben noch im Interview die Kraft der Meme vonseiten der Alt-Right erläuterte und pries, wurde in der sturzflutartigen Tastaturpropaganda des Netzes umgehend selbst zum Mem: In einem kurzen Film, der wohl eine der schmerzvollsten und erniedrigsten Niederlagen in seinem politischen Leben nun auf absehbare Zeit im Netz dokumentierte. Dieser Hieb wurde durch diese vielen Wiederholungen und das schnelle Zirkulieren zu einem greifbaren, einem sicht- und hörbaren Zeichen des Wiederstandes, zum notorischen Spencerhieb. Das kaum eine Minute dauernde Video verkörperte umgehend einen befreienden Kampfschrei, einen gewaltvollen Widerstand gegen die sadistisch provozierenden Hail Victory!-Rufe der neuen Faschisten. Wir lachten über den dummen Nazischnösel, der hier nun endlich einmal amtlich eine in die Fresse gezimmert bekam – in einer Zeit, da die Nachrichten von Übergriffen, Fackelzügen und Hassverbrechen gegen Einwanderer, gegen religiöse Minderheiten verschiedener Glaubensrichtungen offenbar täglich zunahmen und nur ein schreckliches Ende realistisch und wahrscheinlich schien. Wir lachten über den gewaltsamen Schmerz, der einem Vertreter der politischen Gegenseite zugefügt wurde – ein Vertreter, der doch selbst unaufhörlich in gut getarnten Umschreibungen eine angebliche Überlegenheit der sogenannten ‘White Race‘ behauptete und darum (angeblich zum Selbstschutz) zur Unterdrückung, zu Säuberungen und Pogromen, ja zur Begründung eines White Ethnostate aufrief. Genau so musste doch eine angemessene und durchschlagende Widerstandsform gegen solche menschenfeindlichen und vernichtungsfrohen Hasspropagandisten aussehen, nicht wahr? War diese aggressive

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Form der Katharsis nicht das Beste, was dem öffentlichen Ringen um demokratische Gepflogenheiten passieren konnte? Oder ist solch ein Gedanke in sich paradox: Gewalt durch Gegengewalt auflösen, abwenden, umkehren zu wollen? In der Form dieses audiovisuellen Gegenschlages wurde in jedem Fall eine Ersatzhandlung, vielleicht auch ein Probehandeln vollzogen: Wie könnte ein handgreiflicher und tatsächlich wirksamer Widerstand denn erfolgreich sein? Ein Widerstand, der nicht auf Befreier von außen wartete, auf Alliierte, auf Soldaten einer uns sympathischeren politischen Denkweise oder Ideologie? Diese Befreiung und vielleicht Katharsis wurde erfahrbar anhand dieses Videos: Eine Befreiung, die so zuletzt vielleicht nur Quentin Tarantino gelungen war mit seiner filmisch nachholenden Abschlachtung der Nazis und ihres Führers in einem Pariser Kino anno 1944 in der Parallelwelt seines Filmes Inglourious Basterds (2009). Eine solch große, herbeigesehnte und bislang kaum erreichbare Befreiung verkörperte genau dieser Spencerhieb: Eine Befreiung von der Übermacht der neuen audiovisuellen Symbole, der bewegten Bilder, Verballhornungen, Umdeutungen, der ikonischen Raubzüge und propagandistischen Schmähungen, die von den neuen Rechtsextremen in den Monaten zuvor aufgetürmt worden waren – und deren Bollwerk dadurch immer höher wuchs, durch einen Strom des Hasses und der Unterdrückungslust, angeheizt und nicht unmaßgeblich betrieben von Websites wie Daily Stormer, Breitbart, Alt-Right, von neuen Musikgenres wie der – aus dem Genre Vaporwave hervorgegangenen – Fashwave (Born und Haworth 2018; Glitsos 2018; Love 2017; Smith and Jack 2018) und von einer kaum endenwollenden Fülle an immer neuen Hasscollagen, die Einwanderer verhöhnten, stolz mit Hakenkreuzen wie mit Ehrenabzeichen geschmückt wurden, die Symbolik der Vernichtungslager, der Bücherverbrennungen, der Gaskammern, der Züge in die Vernichtungslager, der faschistischen Markierungen ihrer Opfer als provozierende Bildsprache nutzten. Wie konnte diesem Schwall an Aggression entgegengewirkt werden? Wie konnte er in eine generative andere Bahn gelenkt werden? Der Präsidentschaftswahlkampf 2016 war ein Präzedenzfall solcher Meme Wars. Die Repräsentation und Artikulation, das Ausagieren von Widerstand in Bildern, Filmen und Klängen trat damit in eine neue Phase. Und nach Monaten des fassungslosen, deprimierenden und eher hilflosen Beklagens, Beschimpfens und erschrockenen Starrens auf die Meme der neuen Faschisten war nun erstmals wirksam Widerstand sichtbar, möglich, machbar und zu verbreiten, eine stärkende Ermutigung, eine Herzensstärkung im antifaschistischen Kamp: Der Spencerhieb wurde somit zum audiovisuellen Zeichen dieses Widerstands, zum Emblem, die endliche Variantenfreude florierte und artikulierte diese Lust, diese Bereitschaft, diese Sehnsucht und das Begehren nach Widerstand. Mit diesem Widerstand

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im Spielfeld und zu den Spielregeln der Memes, durch Gegentrollarmeen und Gegenrede auf diesem neuen Schlachtfeld der politischen Auseinandersetzung und Propaganda wurde just all dieses offenbar endgültig ratifiziert: Politische Auseinandersetzung, die Schmähung und das Verlachen des politischen Gegners, seine unaufhörliche Erniedrigung, der Strom an Gegenreplies und höhnischen Retweets, Postings und Shares sollte nun also von allen politischen Lagern seinen Ausgang nehmen. Soziale Medien und Netzwerke, individuelle audiovisuelle Artefakte, die Aussendungen von vielen Profilen, Avataren und Benutzerkonten würde nun also die politischen Auseinandersetzungen wenigstens des 21. Jahrhunderts mitprägen (auch wenn die Netzwerke der 2010er Jahre womöglich in den 2020ern oder 2040ern ebenso irrelevant sein mochten, wie jene der 2000er)?

3 Neue Propaganda oder radikaler Kulturbruch? Über zwei Jahre nach dem Wahltag wird dieser Meme-Wahlkampf 2016 und seine Folgen immer noch aufgearbeitet. Unklar scheint bis heute, ob das Ringen um Bilder, Aufmerksamkeit und kulturelle Hegemonie lediglich die bekannten politischen Schlachtfelder verschiebt, auf denen nun eine mutmaßliche ‚Alt-Left‘ sich ebenso wacker zu schlagen hat und versuchen sollte, sich die sogenannte ‚Meme Magic‘ der Pepe-Collageure rund um den „Church Of Kek“ (Nagle 2017, S. 15–16) zurückzustehlen; oder ob hiermit vor allem eine grundsätzlich illegitime und abzuwehrende Überschreitung aller ethischen Grenzen hin zu Gewaltandrohungen und zu audiovisuell ausagierten Gewaltausübungen, ja Vergewaltigungen, sogar Exekutionen von politischen Gegnern zugelassen und gesellschaftlich etabliert wurde. Kann diese Öffnung der audiovisuellen Gewalt, Wut, des Hasses in den allgegenwärtigen öffentlichen Raum jemals noch rückgängig gemacht werden? Wer schadenfroh über den Spencerhieb sich schüttelt vor Lachen, geht der nicht schon dem neuen, menschenfeindlichen ­Memewar-Regime auf den verführerischen Leim? Die erste, eine eher pragmatische Deutung der Memewars als lediglich neuem politischen Schlachtfeld führte Matt Goerzen zum ebenso pragmatischen wie kämpferischen Aufruf, die Meme der Produktion müssten nun endlich auch für die politischen Ziele der linken Parteien genutzt werden: „Während die Rechte sich heute in einer für Angriffe empfänglichen Position konsolidiert, hat die Linke jetzt immerhin damit begonnen, sich zur Übernahme der Techne durchzuringen, die von ihrem Gegner als so wirkungsvoll bewiesen wurde“ (Goerzen 2017, S.108).

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Läge Goerzen damit richtig, so wäre der Spencerhieb in der Rückschau schließlich nur ein sehr angemessener und zeitgemäßer Auftakt der politischen Auseinandersetzung im 21. Jahrhundert gewesen. Viel Aufhebens müsste darum nicht gemacht werden, es wären schließlich nur Bilder und Texte und Töne – und diese waren noch stets die Mittel der politischen Propaganda, nun aber lediglich etwas dynamisierter und mit einem deutlich machtvolleren Zirkulationsapparat und einem millionenfach größeren Publikum; einem Publikum, das zudem stets auch aus Prosumern dieser Meme besteht, producing consumers nach Alvin Tofflers weitsichtiger und self-fullfilling prophecy der 1970er Jahre (Toffler 1970) – und damit Mitwirkende in der unaufhörlichen und allgegenwärtigen Produktion von Propaganda. Die zweite, dabei viel beunruhigendere Deutung allerdings, als ein nachhaltig zerstörender Ausbruch von Gewaltfantasien, ein irreversibler Kulturbruch gewissermaßen, führt Angela Nagle am Ende ihrer beeindruckenden (wenn auch nicht unumstrittenen; Holt 2017; Beran 2017 Analyse der ‚Online Culture Wars‘ in Kill All Normies zu einem Netzstoßgebet: „The online culture wars of recent years have become ugly beyond anything we could have possibly imagined and it doesn’t look like there is any easy way out of the mess that has been created. Suddenly, how far away the utopian Internet-centric days of the leaderless digital revolution now seem, when progressives rejoiced that ‘the disgust’ had ‘become a network’ and burst suddenly into real life. Now, one is almost more inclined to hope that the online world can contain rather than further enable the festering undergrowth of dehumanizing reactionary online politics now edging closer to the mainstream but unthinkable in the public arena just a few short years ago“ (Nagle 2017, S. 119).

In diesem Fall würde der memifizierte Spencerhieb lediglich den Gewaltausbruch weiter legitimieren und womöglich immer weiter auf neue Höhen schrauben. Wie zuletzt etwa, als der Präsident selbst – als wäre es eine Szene aus David Foster Wallace’s Infinite Jest (Wallace 1996) – ein Mem streute, das ihn im World Wrestling Entertainment-Kampf 2007 zeigte, wobei der Kopf seines unterlegenen, von ihm selbst auf die Bretter geprügelten Gegners durch das Logo von CNN ersetzt worden war, zu allen Gelegenheiten von ihm als ‚Fake News!‘ geschmäht. Kill All Normies! ist nun das tägliche Ritual der Two Minutes Hate in Ozeanien? In beiden Deutungen aber, von Goerzen und von Nagle, wird eine Verschärfung und ein Anheizen, ein Brutalisieren der öffentlichen Debatte beobachtet; eine Gier, sich immer weiter in einen immer wieder höher geschraubten Empörungsvortext hineinzubegeben, der zwar von allen Seiten, gerne mit Krokodilstränchen, beklagt wird – zu dem aber offenbar alle Seiten

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aber dann ebenso gerne und schadenfroh doch beitragen. Demokratietheoretische Fragen drängen sich auf, wie unter diesen Bedingungen ein politischer Diskurs wie er in der bürgerlichen Öffentlichkeit mit ihrem von Jürgen Habermas beschriebenen Strukturwandel (Habermas 1962) etabliert wurde, überhaupt aufrechtzuerhalten sei, sowie eine Frage nach den umfassenderen und schwer erträglicheren Auswirkungen, die mit ununterbrochener Vernetzung, Digitalisierung und Mediatisierung aller Lebenszusammenhänge wohl einhergehen (Castells 1996-1998; Hepp 2012; Van Dijk 2012). In diesem Beitrag möchte ich mich aber vor allem einigen Fragen auf einer mittleren Ebene zuwenden; Fragen der konkreten, sensorischen Nutzung, des Wandels täglichen Lebens und des Entstehens neuer politischen Praktiken, gestützt auf Analysen und Denkfiguren der Sound Studies, also der kulturwissenschaftlichen Klangforschung (Schulze 2012; Papenburg und Schulze 2016; Schulze 2018a, b): Welche Formen von Gewalt werden in viralen Videos, GIFs und Memes audiovisuell und kinästhetisch ausgelebt? Wie verändern diese viralen Beiträge zum politischen Diskurs punktuell und sukzessive diesen Diskurs als solchen? Und schließlich: Welche Wege des politischen Widerstands werden hierdurch gebahnt, etabliert oder erneuert?

Die im Titel dieses Beitrags aufgerufene Frage, ob es denn auch gut und recht sei, einem Nazi einen Faustschlag zu versetzen, diese Frage werde ich somit weder ethisch-moralisch noch widerstandstheoretisch oder als Beitrag zu praktischem Antifaschismus beantworten. Die Frage als solche ist vielmehr das greifbare Symptom – wie ich zeigen möchte – eines tiefgreifenden Wandels. Die brachialen Meme – seien sie vonseiten der Alt-Right oder der sogenannten ‚Alt-Woke‘ produziert –, sie sind eine Realität des politischen Diskurses im frühen 21. Jahrhundert.

4 Alt-Right vs. Alt-Woke Was ist also die Alt-Right? Und wer oder was wären dann die ‚Alt-Woke‘? Und noch grundsätzlicher: Gibt es die Alt-Right und die Alt-Woke denn überhaupt – und falls ja: In welcher Form denn? Der Name der Alt-Right leitet sich in seiner Machart ab von den frühen Usenet Newsgroups der 1980er Jahre, die seit 1986 das Präfix ‚Alt‘ oder ‚alt-‚als Signal für alternative, ­nicht-mainstreamtaugliche und bis dahin nicht in der Hierarchie dieser Newsgroup repräsentierte Diskussionsthemen nutzten; eine Markierung, die schnell

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auch deviante bis extremistische Diskurse, Nischeninteressen, Themen und Diskussionsgruppen anzog. Die Assoziation mit ungewöhnlichen, wenn nicht gar abweichlerischen Themen und Autorinnen wird nun auch im Neologismus der Alt-Right aufgegriffen. Seit 2010 ist die Nutzung des Begriffes Alt-Right dokumentiert und spätestens im Jahr 2016 wurde der Begriff – im Zuge des ­US-Präsidentschaftswahlkampfes – sowohl einer amerikanischen wie auch einer internationalen Öffentlichkeit geläufig (Bokhari und Yiannopoulos 2016). In ihrem teils umstrittenen, doch definitiv grundlegenden Buch über den OnlineAktivismus der Alt-Right, Kill All Normies, umreißt Angela Nagle ihr politisches Programm anhand der üblichen talking points und endlos wiederholten Behauptungen und Forderungen, die sie beschäftigen: „The alt-right is, to varying degress, preoccupied with IQ, European demographic and civilizational decline, cultural dfecadence, cultural Marxism, anti-egalitarianism and Islamification but most importantly, as the name suggests, with creating an alternative to the right-wing conservative establishment, who they dismiss as ‘cuckservatives’ for their soft Christian passivity and for metaphorically cuckholding their womenfolk/nation/race to the non-white foreign invader“ (Nagle 2017, S.12).

Bis heute ist der Status des Begriffes der Alt-Right von nahezu allen Seiten umstritten: existiert diese Gruppierung tatsächlich als solche – oder ist das Wort Alt-Right nicht doch eher ein publizistisch dankbar aufgegriffenes Label, das sich journalistisch zwar gut nutzen und ausschöpfen lässt, dem jedoch kaum eine hinreichend konsistente Assoziation von politisch interessierten Bürgern, ambitionierten Aktivisten oder gar politisch aktiven Personen entspricht: Findet sich darunter wirklich mehr als nur eine ‚informal and ill-defined collection of internet-based radicals‘ (Caldwell 2016)? Nagel ergänzt hierzu mithilfe der stets bereitwillig mansplainenden Internetpedanten: „In its strictest definition though, as an army of Internet pedants quickly pointed out, the alt-right term was used in its own online circles to include only a new wave of overtly white segregationist and white nationalist movements and subcultures, typified by spokespeople like Richard Spencer, who has called for a US white ethno-state and a pan-national white Empire modeled on some approximation of the Roman Empire“ (Nagle 2017, S.11).

Die Ausdrucksform der Alt-Right sind somit vor allem alle Varianten und Extreme des gegenwärtigen Internetaktivismus; d. h. Kommentarspalten füllen, Accounts mit abgelehnten politischen Ansichten belästigen, verhöhnen, auch

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nur ärgern (i.e.: ’trollen’), provozieren und im Idealfall diese Accounts dazu zu bringen zu schweigen oder sich abzuschalten: ’Lösch Dich!‘ ist darum eine der beliebtesten verbalen Aggressionsformeln, um den Sieg über die feindliche politische Position endgültig zu bestätigen mit der Vernichtung, genauer: Der digitalen Selbsttötung ihrer Profile und Protagonisten (Anders und Stegemann 2018). Die Behauptung, dass die Alt-Right für ein neues und anderes, ein provozierend alternatives Denken der Gegenwart stünden, ein Denken, das den angeblich nach 1968 machtvoll etablierten und unerbittlich herrschenden gesellschaftlichen Konsens des Liberalismus, Feminismus, der Ökologiebewegung und der sexuellen Selbstbestimmung ins Wanken bringen möchte, ein Denken, das die angebliche Selbstverleugnung europäisch-amerikanischer Identität von Bürgerinnen und Bürgern der Nordhalbkugel beenden möchte – all diese Behauptungen einer Rückkehr zu traditionellen, alteuropäischen und ehrenvollen Werten lassen sich anhand der Aktionsformen, der Vernichtungslust und der Hasspropaganda kaum belegen; so sehr diese Rückkehrer und diese Provokation auch in journalistischen Texten und Darstellungen von Rechtspopulisten generell kolportiert wird. Das Handeln dieser Neuen Denker zeigt sich in den ältesten Ressentiments patriarchal-autoritärer Herrschaftsformen, die seit Jahrtausenden etabliert sind und dominieren. In Zeiten manisch zentristisch bemühter Ausgleichsbestrebungen im Geiste der – nun schon oft widerlegten – sogenannten Extremismustheorie wurde auch in den USA umgehend das extremistische Gegenstück benannt, das doch ebenso vehement bekämpft werden müsse: Seien Linksextremisten nicht mindestens ebenso bedrohliche Hassakteure im Netz und in den öffentlichen Räumen wie alle Rechtsextremisten? Der hierfür verwendete Begriff war teils Antifa – wobei die Herkunft der Abkürzung aus dem Wort und dem Widerstand des Antifaschismus schlichtweg im Diskurs darüber vollkommen vergessen scheint; teils aber war es das Wort: Alt-Woke. Woke von awoken, erwacht, aufgewacht, aus dem Schlaf der Vernunft aufgewacht, der die Monster des Faschismus, Rassismus, des Sexismus, der intersektionalen Diskriminierung gebiert. Dieses Wort woke wurde und wird teils milde ironisch für Personen gebraucht, die nach Jahren einer gewöhnlichen und reflexionsarmen Konsumbürgerexistenz als Normie nun offenbar ganz plötzlich die Ungerechtigkeiten, die Ungleichheit, die Unterdrückungsformen und die strukturelle Gewalt im täglichen Leben zu erkennen scheinen und darum unaufhörlich ihre Hinweise auf das ganze Spektrum der intersektionalen Diskriminierung und Unterdrückung wie durch Rassismus, Sexismus, Handicapismus, Ageismus oder Klassismus artikulieren. Der ironische Akzent liegt hierbei vor allem auf dem Konvertitencharakter solcher Statements

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und der forcierten Selbstdarstellung als Person, die diese – ja nun schon weitaus länger bestehenden Ungerechtigkeiten – nun auch endlich zu verstanden haben scheint. Während der Begriff der Alt-Right dabei durchaus stolz und kämpferisch als Selbstbezeichnung seiner Protagonisten genutzt wird, ist Alt-Woke im Grunde eher ein Schmäh- oder gar Verhöhnungsbegriff; er wird erst nach und nach auch affirmativ angenommen im Zuge einer selbstbewussten Überaffirmation und damit verbundener Resignifizierung einer solchen Verhöhnung (Anonymus 2017a, b). In einem Manifest sowie einem Kompendium aus dem Jahr 2017 wird die Alt-Woke nun wie folgt begrifflich und programmatisch definiert: “What Is #AltWoke? #AltWoke is: The Catalytic Left. Post-Landian Left-Accelerationism. Team Reza Negarestani. ‘The Dark Insurrection.’ Direct ­ action hacktivism. Free market socialism. Apocalyptic communism. Intersectional xenofeminism. Environmentally conscientious nihilism. Libidinal Marxism. Platform stacktivism. IoT urban policy. High post-post-structuralism. The Corporate Undercommons. Gratuitous neologism and nomenclature trolling. Lifestyle branding as political ideology & vice versa” (Anonymus 2017b).

5 Sensologische Antipolitik Die Analyse der Artikulationen und Widerstandstechniken der Alt-Right und der Alt-Woke erscheint jedoch unvollständig, wenn diese lediglich mithilfe von Begriffen der Ideologie oder des Online-Aktivismus untersucht wird. Diese Begriffe scheinen den Eindruck erwecken zu wollen, dass es sich um ein umgrenztes, sauber eingehegtes und ergo zu vernachlässigendes Phänomen handeln könnte. Wenn dies so wäre, so wäre es faktisch gart kein Aktivismus: Ist es doch Antrieb und Ziel und Aufgabe des Aktivismus ein Anliegen aus einem umgrenzten Aktionsfeld (hier: das Netz; klassisch: Die Demonstration, das Flugblatt, die Radio-/TV-Sendung) in idealerweise alle Bereiche des täglichen Lebens hineinzutragen. In dieser Hinsicht nun ist das Netz vom Stand der 2010er Jahre tatsächlich ein nahezu ideales Transmissionsmedium. Die Newsfeeds und Timelines in sozialen Netzwerken, wie auch ihr Anschluss an jeweils Tausende bis hin zu Millionen potenzieller und individueller Leserinnen und Leser, Zuschauer und Zuschauerinnen, sie verbreiten nicht nur Wort-, Bild- und Toninhalte umstandslos und wenigstens exponentiell – diese Verbreitung bedeutet unmittelbar einen direkten Sitz dieser Ton-, Bild- und Wortinhalte in meinem, ihrem und seinem täglichen Leben, am Arbeitsplatz, beim Pendeln, Zocken, Biertrinken, Fernsehen, im Kino oder der Shishabar. Eine Aussendung in diesen Netzwerken ist nahezu umgehend direkt dort, wohin klassische Propaganda sich erst

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mühsam hinbewegen musste: Orte, die ehedem keineswegs immer an Propaganda interessiert waren. Jetzt ist die lakonische Propaganda der GIF’s und Posts, der bearbeiteten Videos und Livestreams überall, allgegenwärtig, ubiquitär. Doch mit welchen Begriffen und Konzepten des Wandels solcher Propaganda und ihrer Strategien der Durchsetzung einer Ideologie lässt sich solch ubiquitäres Kommunizieren verstehen? In den 1990er Jahren – noch ganz unter dem Eindruck des wahrlich zerstörerischen Regimes von Medienunternehmer und Urpatriarch Silvio Berlusconi – hatte der italienische Philosoph Mario Perniola eine Reihe von Konzepten und Begriffen vorgeschlagen, die gut zwanzig Jahre später umso treffender erscheinen. In Del Sentire (1992; dt.: Über das Fühlen 2009) zeichnete Perniola nach, wie durch schon damals beobachtbare und analysierbare Machttechniken versucht wurde, einen sachlichen und inhaltlichen Diskurs, das Bemühen, argumentativ um eine Lösung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Problem zu ringen, vor allem lächerlich gemacht wurde – und jedes Gespräch im Keim erstickt wurde. Dieser Nicht-Argumentationsstil, diese von Grund auf destruktive Form der Leerkommunikation hat dabei nicht nur eine lange Vorgeschichte und eine deutlich jüngere, moderne Geschichte ihrer Ausbreitung und Nutzung: Diese Antikommunikation oder genauer: Zerkommunikation ist vor allem aber eine (und vielleicht die wichtigste, da wirksamste) Machttechnik der Gegenwart – oder in den Worten der Mediensoziologin danah boyd: ”the ability to hack the attention economy” (Boyd 2018, S. 20). Zur Beschreibung dieser Machttechnik prägte Perniola einen neuen Begriff, der dem der Ideologie nachgebildet ist – jedoch unter Austausch der ‚Idee‘ durch die ‚Sinne’. Perniola bezeichnet die Ideologie unserer Gegenwart, gestützt auf die verschiedenen Apparaturen und Netzwerke zur Übertragung von Sendungen in verschiedenen Sinnesmedien: Sensologia oder Sensologie. Sie ist die Ideologie unserer Zeit. Anders jedoch als im 18. und 19. Jahrhundert wird diese Ideologie nicht mehr vornehmlich durch Schriftwerke und Lehrgebäude vermittelt, sie ist sozusagen keine Ideologie der Konzepte, keine Konzeptologie oder concettologia; sondern – beginnend schon im 20. und voll entfaltet nun im 21. Jahrhundert – operiert sie vor allem durch Handlungsweisen, durch sensorische R ­ eiz-Reaktionsmuster (‚Ready-Felts‘) und entsprechende technische Apparaturen, die als Machtapparaturen die Wahrnehmung und das Sinnenerleben, das Sinnenbewusstsein transformieren zum Nutze einer hierdurch handelnden Machtinstanz. Die scharfe Abgrenzung dieser beiden Formen von Ideologie lässt sich selbstredend, wie auch von Perniola zugestanden, nur strukurell aufrechterhalten: Viele Beispiele des Fortlebens von klassischen Ideologien des 19. Jahrhunderts in unserer Zeit ließen sich ebenso finden, wie sich auch bedeutsame

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Vorläufer von Sensologien als Machttechniken auch im 19. und frühesten 20. Jahrhundert finden ließen. Die Beispiele Perniolas sind dabei weitgehend dem Feld der Fernseh- und Boulevardzeitungswelt des Berlusconiregimes in Italien entnommen; doch die Social Media-Agitation und das im Netz allgegenwärtige Derailing, der Whataboutism und die schmähende Herabsetzung des Gegenübers bieten noch weitaus stimmigere Beispiele hierfür. Eine Antikommunikation im Sinne der Sensologie Perniolas hat, wie schon angedeutet, genau keine tatsächliche Lösung eines gesellschaftlichen oder politischen Problems zum Ziel, eine ausgleichend geführte Debatte wird eher umgehend zerstört, zerfetzt und höhnisch zu Klump gehauen. Ziel ist vor allem anderen der Machterhalt durch die Antikommunizierenden. Diese haben dann selbstredend gar kein politisches Programm oder Lösungsvorschläge – abseits ihres Machterhalts (oder einer Machtergreifung). Wie diese Antikommunikation qua Aufmerksamkeitsokkupation sich nun auswirkt, lässt sich etwa anhand von drei Machthabern zeigen, die aktuell oder historisch diese Sensologien nutzen oder nutzten: Silvio Berlusconi natürlich, aber auch Vladimir Putin und Donald Trump. Berlusconi erreichte dies durch die Fernsehdominanz seines Konglomerats namens Mediaset, die immer wieder abgeleugnete, doch faktisch wiederholt zu beobachtende Einflussnahme auf Journalistinnen und Sendungen des staatlichen Senders RAI, das Überfluten des Fernsehmarktes mit Sendungen, die vor allem Quizspiele und Softerotik anbieten – Geld und Sex zur Zerstreuung der Bedürfnisse der Proles, mit einem Begriff aus Orwells 1984 gesprochen; in Putins Propaganda der physischen Härte, der siegreichen Unerbittlichkeit, der atavistischen Männlichkeit von ihm als Person (beim Angeln, beim Jagen, beim Reiten, beim Judo etc. pp.) lassen sich gleichfalls solche Motive der Zerstreuung jeden Diskurses finden, verstärkt noch in den Fragefernsehsendungen, die ihn als obersten Volkstribun inszenieren – jedoch tatsächlich vor allem seine Unangreifbarkeit, umfassende Besorgtheit, Stärke und Unumgänglichkeit darstellen, sein Verlachen aller ausländischen Umtriebe um sogenannte ‘Menschenrechte’, die freilich allein Feindpropaganda sein können, (was sonst?); und schließlich die zahllosen verächtlichen Tweets und Hassreden, Hassaktionen und -produkte, die Donald J. Trump vor und nach seiner Wahl zum Präsidenten unaufhörlich aussandte – und in deren Windschatten faktisch jede denkbar grausame Gesetzgebung versteckt wurde: Gegen Minderheiten, gegen die Unterschicht (die ihn doch angeblich wählte, indes vielfach widerlegt), gegen Alte, Kranke, gegen Kinder und deren Überleben auf einem ökologisch vernichteten Planeten. Es ist Antipolitik, was diese drei Protagonisten verkörpern.

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Sensologische Antipolitik heißt: Die Sinne werden verstopft, die Sozialmedienkanäle werden mit Artikulationen der Empörung blockiert. Dadurch entsteht ein schmerzhaftes Ungleichgewicht nicht nur der öffentlichen Aufmerksamkeit und der konkreten aktivistischen Strategien; das Ungleichgewicht besteht vor allen Dingen im grundlegenden Anliegen und einem aktivistischen Selbstverständnis der beiden Gruppen von Protagonisten, in dem vermutlich die bekannte Differenzierung in Klientelpartei und Programmpartei mutatis mutandis wiederkehrt. Auf der einen Seite finden sich Protagonisten, die zum Machterhalt ihrer Klientel vor allem eine Art sensologische Provokations-Performance aufführen, um den öffentlichen Raum zu dominieren und dadurch Macht zu sichern – mit dem Kampfruf ‚Épater le bourgeois!‘. Je stärker und unmittelbarer diese Normies, Keks oder Bourgeois sich provoziert fühlen und in die erwünschten Empörungs-Spasmen verfallen, umso gelungener ist diese Form der Agitation, die vor allen Dingen jeden Diskurs um konkrete politische Positionen, aktuelle Fragestellungen und Gesetzgebung als ein etwas abseitiges Privatvergnügen und tendenziell abartigen und vereinsamten Fachidioten brandmarken will. Demgegenüber hat die dagegen anarbeitende Seite eindeutig die schlechteren Karten. Denn anders als die Klientelpropaganda der Trolls herrscht selbst unter den Vertretern der Programmpropaganda – die freilich gerne ebenso ihre Gegner trollt und frotzelt, ärgert und piesackt – noch immer das Ideal eines ausgleichenden, konsensorientiertes Diskurses. Selbst wenn hier die Propaganda mit allen Mitteln im Netz, samt Botarmeen und perfide viralen Artefakten betrieben wird, so wird, so soll doch immer noch über ausgewählte, gesellschaftlich dringliche Gegenstände gesprochen werden – um im Idealfall zu einer konsensorientierten, ausgleichenden Position im Diskurs zu gelangen. Allein diese Suche nach einem gewissermaßen diskursiv befriedigenden Abschluss der Auseinandersetzung für alle Beteiligten, allein dieses Ziel erscheint schon verlachenswert vonseiten der Klientelpropaganda: ‚Geht es nicht immer nur um egoistische Interessen Einzelner? Wozu dieses alberne Bemühen um alle? Macht Euch nicht lächerlich? Ihr seid doch auch nur Egoisten!‘. Den Protagonisten der Antipolitik und der Antikommunikation erscheint es offenbar vollkommen unvorstellbar, dass Akteurinnen und Akteure im politischen Raum – sei es der Institutionen, der Straßen und Plätze, im Netz oder im privaten Raum – um etwas anderes gehen könnte als lediglich um private Interessen und Erfüllung von Klientelbedürfnissen. Das Ziel einer Programmpartei, auf reflektierte und differenzierte Weise, sowohl juristisch, historisch und auch prognostisch stimmig das tägliche Leben in einer Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger im Interessenausgleich zu organisieren, wird gewissermaßen ohne zweiten Gedanken weggewischt als selbst Propaganda. Es erscheint den Antipolitikern nicht glaubhaft, dass Politikerinnen

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und Politiker tatsächlich etwas anderes im Sinn hätten als ihren persönlichen Nutzen. Und so sehr, psychologisch gesprochen, persönliche Interessen freilich nicht abwesend sind im politischen Handeln, so zeigt sich doch im konkreten, organisatorischen und ausgleichenden Handeln nicht weniger Politiker alten Typus zumindest ein Grundbedürfnis nach einem solchen Ausgleich. Doch, wenn dieses Bedürfnis nicht einmal mehr angenommen oder verstanden oder geglaubt wird? In welcher politischen Konstellation befinden wir uns dann? Ist es dann überhaupt noch legitim von einem politischen Diskurs als solchen zu sprechen, oder dümpeln und schlingern wir eher in einer post-diskursiven oder wenigstens interims-diskursiven Anomie des Politischen? In politischen Transformationsschmerzen der Digitalisierung?

6 Die Neuen Straßenkämpfe Zurück zu den Ausgangsfragen dieses Beitrages. Ich beginne mit der ersten Frage: Welche Formen von Gewalt werden also in viralen Videos, GIFs und Memes audiovisuell und kinästhetisch ausgelebt? Es scheint, dass Gewalt tatsächlich ein Antrieb dieser viralen Artefakte und Memes ist. Doch nicht allein eine Gewalt des Widerstandes, der eingangs am Spencerhieb beschrieben wurde – das wäre womöglich noch ein halbwegs legitimer Ausdruck von Angst, von berechtigter Selbstverteidigung und Schutz von potenziellen Gewaltopfern. Vor allem wird die Gewalt vonseiten der sogenannten Alt-Right ausgeübt, indem hier ein noch vergleichsweise junger, öffentlicher Raum ebenso machtvoll besetzt wird, als würde hier Schutzgeld eingetrieben, neue Parteigänger akquiriert, als müssten lästige Subjekte hieraus fix vertrieben werden. Denn als öffentlicher Raum sind die Kommentarspalten, die Chatrooms, die Timelines und die ephemeren Messengerprotokolle definitiv anzusehen: Sprachliches oder audiovisuelles Handeln, das hier stattfindet hat Bühnencharakter, die Akteure geben sich teils Bühnennamen und Aliasse mit besonders martialischen und aggressiven Referenzen, um in der ermutigenden Zuspitzung der Maske womöglich noch deutlicher ihre größten Anliegen darstellen, ausleben und missionarisch weitertreiben zu können. Gewalt artikuliert sich freilich unter den Masken des Alias weitaus leichter als in den vielgerühmten Klarnamen – doch selbst diese dienen dazu, im Zuge allgemeiner Enthemmung in Richtung auf Antisemitismus, Sexismus und Rassismus, die eigene Antipolitik und Antikommunikation immer weiter und immer tiefer den keil des Hasses, der Verachtung und Verhöhnung, der Verfolgung, des Androhens von Deportation, Inhaftierung und Exekution immer

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weiter zu treiben. Es ist eine sadistische Lust, von der auch Judith Butler in den Tagen nach Trump’s Wahl schrieb: ‘We are now seeing how misogyny and racism overrides judgment and a commitment to democratic and inclusive goals - they are sadistic, resentful, and destructive passions driving our country’ (Butler 2016).

Doch das Ausleben von Gewalt ist nicht lediglich eine spielerische Lockerungsübung, ein spaßhaftes Kokettieren mit Extrempositionen, eben nicht allein ein Épater Le Bourgeois! – wie es bis heute gerne mit kontrarianistischem Distinktionswillen von Netzkolumnisten und eleganten Chefredakteuren allerorten gerne vorgetanzt wird. Diese Gewalt verändert das öffentliche Gespräch über Politik und darüber, wie ein gemeinsames Leben wohl aussehen könnte. Die zweite Frage ist also nun zu beantworten: Wie verändern solche viralen Beiträge zum politischen Diskurs punktuell und sukzessive diesen Diskurs als solchen? Wie von Nagle und Boyd gezeigt, angetrieben von ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, ist zunächst zu bestätigen, dass die Veränderungen des Diskurses nicht okkasionell und vorübergehend sind, sondern substanziell und mutmaßlich dauerhaft. Denn die Veränderung in Verhalten und Artikulation im öffentlichen Netzraum sind nicht mindere und die technischen Voraussetzungen werden vermutlich nicht übermorgen sich in ein Nichts auflösen. Jedoch ist ein Gegenteil zu vermuten, das wieder andere künftige Entwicklungen vermuten lässt: Während die technischen Möglichkeiten der Vernetzung sich vermutlich immer weiter verfestigen und stabilisieren, werden sich ebenso auch andere Regularien staatlicher, interpersonaler und situativer Form entwickeln. Der alte Begriffe der Netiquette wird vermutlich keine Renaissance erfahren; doch ebenso wie bösartige und verleumderische, teils ebenfalls als satirisch entschuldigte und oft doch agitatorische Flugschriften aus den ersten Ausläufern der Gutenberg-Galaxis sich einer Gegenwehr der Regularien gegenübersahen, ebenso wie damals Verleger und verlegerisches Ethos entstand, Kontrollinstanzen und Gatekeeper sich um eine Absicherung vor vollständiger Lüge und Verleumdung schützen wollten, ebenso werden sich mutmaßlich ähnliche kulturregulatorische Institutionen und Gepflogenheiten in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ausbilden. Der Prozess der Kulturgeschichte und der Zivilisation, sie sind keineswegs abgeschlossen und erstarrt. Neue Transformationen erzwingen neue Verhaltensänderungen und andere kulturelle Formen und gesellschaftliche Formationen. Auf die Ausbildung von sensologischer Antipolitik wird, so ist zu erwarten, sich auch eine sensologische Kritik ausbilden: Kritik wird nicht mehr allein Propositionen und Traktate, Programmatiken und Ideologien untersuchen,

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sondern ebenso auch Handlungsweisen und Wahrnehmungsgepflogenheiten, sensorische Interventionen und sensologische Ablenkungen und Zerspielungen. Es wird sich ein stark erweiterter Begriff des Diskurses entwickeln, der die ’linguistic-cognitive dimension of social experience‘ (Gilbert 2004) weit überschreitet; Handlungen, Sensorik, Peryeptionseffekte werden dann nicht nur mitunter auch inkludiert wie im klassischen Diskursbegriff – sondern sie rücken womöglich in den Kern des Diskurses. Sprachlich-kognitive Dimensionen erscheinen dann als Marginalien und gelegentliche Auswucherungen von sensologischem Machthandelns. In den Worten von Ernest Laclau und Chantal Mouffe: “The main consequence of a break with the discursive/extra-discursive dichotomy is the abandonment of the thought/reality opposition, and hence a major enlargement of the field of those categories which can account for social relations. Synonym, metonymy, metaphor are not forms of thought that add a second sense to a primary, constitutive literality of social relations; instead, they are part of the primary terrain itself in which the social is constituted. Rejection of the thought/reality dichotomy must go together with a rethinking and interpretation of the categories which have until now been considered exclusive of one or the other” (Laclau und Mouffe 1985, S. 110).

Ich komme zur dritten und letzten Ausgangsfrage: Welche Wege des politischen Widerstands werden hierdurch gebahnt, etabliert oder erneuert? Wenn Sensologien – und im Extremfall gar sensologische Antipolitik – den sensorischen Diskurs des öffentlichen Raumes bestimmen und maßgeblich bespielen, wenn das zielgerichtete, tendenziell terroristische Verstopfen von Kanälen für eine bedachten und ausgleichende Auseinandersetzen die Hauptstrategie darstellt, dann erscheint eine Strategie der Gegenverstopfung mitunter zwar tragisch und hilflos, jedoch auch als eine geradezu logische und stimmige Konsequenz der antipolitischen Auseinandersetzung. Eine erstarrte und sklerotische Situation, die mutmaßlich eine machtvolle Veränderung, einen Eingriff erfordert, wird sich nicht ändern lassen durch Nichteingriff und Nichthandeln. Doch was verspricht die größtmögliche, friktionsärmste und am wenigsten verschärfende und allseitig verletzende Form der Generativität? Wie kann die Verhärtung im Hass möglichst umgehend und direkt aufgelöst werden? Auch dieser Beitrag in diesem Sammelband kann bedauerlicherweise keine Patentlösung anbieten. Doch erscheinen verschiedene Perspektiven des Umgangs mit der sensologischen Antipolitik der Gesprächszerstörung und ihrer genuinen Lust, die Transformationsschmerzen der Digitalisierung zum Herbeiführen einer Anomie des Politischen auszunutzen, womöglich auch zur umfassenden

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Selbstbereicherung zu einer neuen Phase der ursprünglichen Akkumulation im Marx’schen Sinne. Denn der öffentliche Raum des Netzes ist noch in der Mache, Regularien angemessener Durchschlagskraft sind – im Vergleich zu anderen kulturgeschichtlichen Formationen – noch kaum global etabliert, Raubzüge und neue Königreiche werden ohne Unterlass durchgeführt und begründet. Was braucht es aber, zur Begründung neuer Regularien institutioneller Art, die hier tatsächlich eingreifen könnten? Ein Weg scheint in der Tat zu sein, den politischen Diskurs als allgegenwärtig zu begreifen – wie auch alle anderen medialen und vernetzten Formen der Kommunikation, der Ökonomie, der Künste, des Zusammenlebens. So ist auch der Widerstand, der sich hier bildet, nicht arbeitsteilig kompartementalisiert in Parteien, Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen – sondern mutmaßlich ebenso ubiquitär. Es ist zunehmen wenig sinnvoll davon zu sprechen, ob jemand online, vernetzt oder eingeloggt ist – ebenso, wie es wenig Sinn hätte, jemanden zu fragen, oder ans Wasser-, Strom- und Entsorgungsnetz angeschlossen sei. Diese Konnektivität erscheint zunehmend als faktische Grundvoraussetzung für Staatsbürgerschaft. Die Probleme, die sich hieraus ergeben, sind nicht gering – Nichtnutzung, Altersgrenzen, Grenzen der Abilities etc. pp – doch die generativen Aspekte erscheinen zumindest für unsere Fragen in diesem Artikel umso wichtiger: Gesellschaftliches Engagement kann womöglich im 21. Jahrhundert nicht mehr auf Ortsvereinssitzungen, Demonstrationszüge oder Stimmabgabe bei nationalen Wahlen beschränkt werden. Das Agieren in Kommentarspalten und Timelines, in Aliassen und auf Profilen anderer ist wenigstens ebenso als ein öffentliches Handeln im Raum des Politischen anzuerkennen. Dort ereignet sich der ubiquitäre, mal eher sensologische oder ideologische Streit um gesellschaftliche Entwicklungen. Die Kommentarspalten sind die neuen Straßen und die Wortgefechte darin, der Streit um Positionen und Ansichten sind die neuen Straßenkämpfe – glücklicherweise zunächst einmal unblutig und ohne vordergründige Kollateralschäden. Anhand der Einordnung und der Analyse von Memes im öffentlichen Diskurs der 2010er Jahre lässt sich somit tatsächlich die Entwicklung eines Kulturbruches konstatieren, der aus neuen Formen der Propaganda entsteht. Dieser signifikante Wandel im politischen Diskurs ist womöglich weder aufzuhalten noch umzulenken, sondern kann höchstens noch regulatorisch punktuell eingehegt werden. Die Aggression der Antipolitik wird folglich nicht umstandslos beendet; sie wird aber womöglich eine andere Form der Generativität des politischen und auch sensologischen Diskurses hervorbringen, die gegenwärtig noch kaum vorstellbar erscheint. Darüber werden dann Sound Studies-Forscher im späten 21. oder frühen 22. Jahrhundert schließlich zu befinden haben.

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Rechtspopulismus als politische Therapie. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung Cornelia Koppetsch 1 Einleitung Seit der Jahrtausendwende haben Gefährdungsdiagnosen zur Mittelschicht auch in Deutschland einiges Aufsehen erregt.1 Realeinkommen stagnieren, Erwerbsunsicherheiten, prekäre Beschäftigungssituationen und Phasen der Arbeitslosigkeit sind für immer mehr Beschäftigte zu einem realistischen Szenario geworden (Castel und Dörre 2009). Und während der obere und der untere Rand immer weiter auseinanderdriften, wachsen auch die Verwerfungen innerhalb der Mittelschicht, denn auch Hochschulabsolventen sind von Unsicherheiten und prekären Beschäftigungsbedingungen betroffen (Tölke und Hank 2005; Manske 2007, 2009). Angesichts solcher Befunde wachsen auch die Sorgen über das Integrationspotenzial der Gesellschaft. Eine stabile und prosperierende Mittelschicht gilt Soziologen wie Ralf Dahrendorf, Seymour M. Lipset oder Theodor Geiger von jeher als Garant politischer und gesellschaftlicher Stabilität. Daraus

1So

wird berichtet, dass nach jahrzehntelangem Wachstum die Einkommensmittelschicht wieder kleiner werde (Grabka und Frick 2008) und dass Ängste vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg wachsen würden (Groh-Samberg et al. 2014; Lengfeld und Hirschle 2010; Herbert-Quandt-Stiftung 2007; Vogel 2009; Vogel 2011; Heinze 2011; Mau 2012; Burkhardt et al. 2012). Soziale Spaltungen und eklatante Einkommensungleichheiten werden als Anzeichen einer Krise der Mittelschicht gedeutet (Bude 2008; Castel 2000; Kronauer 2002; Castel und Dörre 2009; Bude und Willisch 2008; Busch et al. 2010; Lessenich 2009; Koppetsch 2013). C. Koppetsch (*)  Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_12

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resultieren auch politische Fragen. Wenn die Mittelschicht nun aufhört, ein Ort der Sicherheit und Beständigkeit zu sein, wird die Gesellschaft dann anfälliger für Extreme und politischen Extremismus (Münkler 2010)?

2 Welches sind die Ursachen für den Aufstieg der populistischen Rechtsparteien? Die Bundesrepublik Deutschland, und später auch das vereinigte Deutschland schien aufgrund jahrzehntelanger wirtschaftlicher Prosperität, aber auch infolge der intensiven Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus lange Zeit gefeit gegen ernstzunehmende Erfolge rechtspopulistische Parteien. Der Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) war auch deshalb für viele eine Überraschung, weil auch die rechtspopulistischen Strömungen und Parteien in anderen europäischen Ländern zunächst als vorübergehende Erscheinung galten, die bald wieder verschwinden würden (Jörke 2017). Eine solche Sichtweise ist spätestens mit der Wahl Trumps im November 2016 zum Präsidenten der USA nicht mehr plausibel.2 Aus heutiger Sicht ist Deutschland lediglich ein Nachzügler einer Entwicklung, die in anderen westlichen Ländern schon weiter fortgeschritten ist. Nach wie vor ist jedoch ungeklärt, welche Faktoren zum Aufstieg der populistischen Rechtsparteien beigetragen haben.3 Die bisher vorgetragenen Thesen 2In

Europa markierte die Europawahl 2014 eine Zäsur, denn sie brachte vielen europäischen rechtspopulistischen Bewegungen Rekordergebnisse ein, wobei sich der Anteil der auf die rechtspopulistischen Wählerparteien entfallenden Stimmen von 5,1 % auf 13,2 % (Inglehart und Norris 2016) mehr als verdoppelt hat. Dass die Front National in Frankreich oder die UKIP in Großbritannien zur jeweils stärksten Partei ihres Landes aufsteigen könnten, schien bis dato undenkbar (Hillebrand 2015, S. 7). 3Während bereits einige sehr gute politikwissenschaftliche Analysen zum politischen Potenzial rechtspopulistischer Parteien existieren (Mouffe 2007; Kriesi et al. 2006; Kriesi and Pappas 2015; Priester 2013; Hillebrand 2015; Cuperus 2015; Jörke und Selk 2015; Tormey 2015), steht eine soziologische Analyse der gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe des Aufstiegs der Rechtsparteien noch aus (Knöbl 2016). Politikwissenschaftliche Analysen erklären den Aufstieg populistischer Parteien und Bewegungen zumeist unter Rekurs auf politikinterne Veränderungen im System repräsentativer Demokratien, wonach die Kartellierung und Abschottungstendenz etablierter Parteien und gesellschaftlicher Eliten zu Widerstand von solchen Gruppen geführt haben, die sich in diesem System nicht repräsentiert sehen. Doch eine solche Sichtweise wird der Komplexität des Auftauchens populistischer Rechtsbewegungen, wie auch den gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Denk- und Glaubenssystemen, nicht gerecht. Eine soziologische Analyse müsste darüber hinaus gehen und untersuchen, in welche übergreifenden mentalen, kulturellen und gesellschaftsstrukturellen Kräfteverhältnissen der Rechtspopulismus der Gegenwart eingebettet ist.

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basieren zumeist auf der Betrachtung isolierter Einzelfaktoren und gründen auf zwei unterschiedlichen Erklärungsansätzen. Entweder gelten die wirtschaftlichen Verhältnisse, die sozialen Spaltungen als Hauptursache rechtspopulistischer Mobilisierungserfolge. Oder es wird der Wählerschaft eine kollektive seelische Störung – wie z. B. Autoritarismus, Fremdenfeindlichkeit – attestiert, die mal auf ungünstige Sozialisationsbedingungen (in der Arbeiterklasse), mal auf die unvollständige Aufarbeitung zweier Diktaturerfahrungen (in Ostdeutschland), mal auf die mentalen Sedimente eines autoritären Kapitalismus (Heitmeyer 2010), zurückgeführt wird. Doch beide Annahmen sind, davon abgesehen, dass sie die Ursachen stets bei ‚den Anderen‘, also wahlweise bei den ‚Abgehängten‘ oder den ‚Autoritären‘, vermuten, bei genauerer Sicht nicht stichhaltig. Die Autoritarismus-These greift zu kurz, weil autoritäre Haltungen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nach Angaben der Leipziger Mitte-Studien (Decker et al. hler 2016) in den letzten Jahren nicht zugenommen haben (Küpper et al. 2015, S. 21–24). Ihr Anteil in der Bevölkerung liegt seit etwa zwei Jahrzehnten bei ca. 20 Prozent. Erklärt werden kann mit diesem Erklärungsansatz zudem nicht, unter welchen Bedingungen sich autoritäre und fremdenfeindliche Persönlichkeitsstörungen zu politischen Protestbewegungen formieren. Aber auch die Spaltungsthese greift zu kurz, weil sie zumeist auf ökonomische Faktoren verengt wird und nur die ‚prekären Schichten‘ in den Blick nimmt. Ein Blick auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Wählerschaft zeigt, dass es keineswegs ausschließlich und nicht einmal primär die offensichtlich Erfolglosen und Benachteiligten sind, die die AfD wählen, sondern dass sich Wähler in allen sozialen Lagen finden (Vehrkamp und Wegschaider 2017). Der Zusammenhang zwischen dem Wandel von Ungleichheitsordnungen und der politischen Mobilisierung von rechts ist weitaus vielschichtiger als bisher vermutet. a) Ausgehend von der Annahme, dass vor allem eine gut integrierte, prosperierende Mittelschicht vor politischen Extremismus schützt, wäre zu vermuten gewesen, dass rechtspopulistische und -extreme Parteien vorzugsweise in solchen Ländern einen rasanten Auftrieb erfahren haben, die von der Finanz- und Eurokrise seit 2008, von Arbeitslosigkeit und Austerität, besonders getroffen wurden. Doch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 haben die Rechtsparteien gerade in solchen Ländern am besten abgeschnitten bzw. ihre stärksten Zugewinne erzielt, die von den unmittelbaren Folgen der Krise vergleichsweise wenig getroffen wurden: Österreich, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Niederlande und Schweden. Die einzige Ausnahme ist Ungarn, das ökonomisch hart getroffen wurde und in dem die rechtsextreme Jobbik das viertbeste Ergebnis erzielt hat (Decker et al. 2015, S. 14–15).

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b) Als völlig überraschend erweist sich vor diesem Hintergrund der Erfolg der Rechtsparteien in Schweden und Dänemark, die im europäischen Vergleich zu den egalitärsten europäischen Gesellschaften mit den weltweit sichersten Wohlfahrtssystemen und dem höchstem Bildungsniveau gehören (Inglehart und Norris 2016, S. 12). c) Aber auch innerhalb von Gesellschaften sind die Befunde vieldeutig und komplex. So findet sich Unterstützung für Rechtspopulisten quer durch alle sozialen Lagen hindurch, darunter in einem nicht unerheblichen Ausmaß auch bei Akademikern und hoch qualifizierten – dies zeigt sich vor allem in Deutschland und in den USA.4 d) Sollte die These, bei den Unterstützern handele es sich überwiegend um Globalisierungsverlierer mit geringen Einkommen und niedriger Bildung, zutreffen, wäre überdies unverständlich, warum klassische Verteilungsfragen, etwa Themen wie soziale Gerechtigkeit und Umverteilung, von den populistischen Rechtsparteien wenn überhaupt, dann erst an zweiter Stelle aufgegriffen werden. Das gemeinsame Merkmal rechtspopulistischer Wähler ist nicht die Forderung nach Umverteilung, sondern die Ablehnung der liberalen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Pointiert gefragt: Warum protestieren die Anhänger der Rechtsparteien gegen Einwanderer, Asylunterkünfte und Islam und nicht gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse?

3 Rechtspopulismus als politische Therapie sozialer Deklassierung Es soll nicht bestritten werden, dass es sich bei den Anhängern des Rechtspopulismus überwiegend um Deklassierte oder auch ‚Verlierer‘ handelt, darauf weisen nicht nur unterschiedliche empirische Befunde (Hilmer et al. 2017; Cramer 2016; Hochschild 2016), sondern auch der Umstand hin, dass sich rechtspopulistische Proteste gegen Etablierte und Eliten richten. Allerdings stellt gerade die Figur des Verlierers eine besondere Herausforderung für die soziologische Analyse dar, denn diese ist eine bislang unverstandene Größe in den Spielen der Demokratie. Zwar ist es plausibel, Populismus als Bewegung zu sehen, welche die Verlierer dazu animiert, sich nicht nur gegen die Gewinner, sondern gleich 4Darüber

hinaus finden sich die Anhänger rechtspopulistischer Parteien in West- und Nordeuropa nicht verstärkt im Prekariat, also bei Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfängern oder Geringverdienern, sondern überproportional, wenn auch keineswegs ausschließlich, in der unteren Mittelschicht (Oesch 2008; Inglehart und Norris 2016, S. 27).

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auch gegen die Spielregeln zu richten. Allerdings besteht hier kein Automatismus: Keine Deklassierung, keine Kränkung, und sei sie noch so gravierend, führt notwendig dazu, dass die Betroffenen die Spielregeln, und dies mitunter auch gewaltsam, infrage stellen. Voraussetzung dafür ist eine spezifische Sichtweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und diese kommt in Emotionen zum Ausdruck, mit denen Individuen ihre Weltsicht mit subjektiver Bedeutung ausstatten (Hochschild 1997). Emotionen repräsentieren soziale Standpunkte und Deutungsweisen. Populistische Rechtsbewegungen knüpfen somit an emotional basierte Deutungen von Geschehnissen an, weshalb sich ihre Anhänger auch nicht durch rationale Argumente davon abbringen lassen. Welches nun sind die Emotionen, die durch rechtspopulistische Protestbewegungen mobilisiert werden können? Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden zunächst ein erweitertes Konzept sozialer Abstiege entwickelt werden. Abstiegsmobilität wird in Sozialstrukturanalysen primär als intra- oder intergenerationale Abstiegsmobilität an Indikatoren wie Bildung, Beruf und Einkommen festgemacht.5 Demgegenüber soll 5Aktuelle Studien zur intragenerationellen Abstiegsmobilität kommen auf der Basis hoch aggregierter Daten etwa zu dem Ergebnis, dass in den letzten Jahren kaum ein Anstieg sozialer Abstiege zu verzeichnen sei. Folgt man den Analysen des sozio-ökonomischen Panels dann finden sich nur wenige Belege für die hier zugrundeliegende Annahme, dass soziale Abstiege durch die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und die zunehmende Heterogenität und D ­ e-Standardisierung von Erwerbsverläufen (Stawarz 2015) stark zugenommen haben. Demnach stieg die Rate der beruflichen Abstiege von 1985 bis 2002 im Westen unwesentlich von zwei auf drei Prozent. Im Osten erreichte die Abwärtsmobilität am Beginn der 1990er Jahre mit annährend neun Prozent einen Spitzenwert, um dann ebenfalls auf drei Prozent abzusinken (Drasch 2009). Ähnliche Befunde zeigen auch die Resultate von Petra Böhnke (2006), die zeigen konnte, dass soziale Abstiege eher in den unteren Schichten konzentriert sind, während die Angehörigen aus den mittleren Lagen zwar Angst vor dem Abstieg hätten, aber in der Regel von Dauerarbeitslosigkeit oder dem Absinken in die unteren Einkommensschichten verschont blieben. Dies ist aber aus zwei Gründen nicht plausibel. Angesichts der Zunahme betriebsbedingter Entlassungen und Restrukturierungsmaßnahmen und angesichts der Ausweitung unsicherer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse seit den 2000er Jahren ist sehr wohl davon auszugehen, dass berufliche Abwärtsmobilität häufiger geworden ist, allerdings auf der Basis der verfügbaren hochaggregierten Daten und mit den verwendeten Indikatoren vermutlich nicht hinreichend zu erfassen ist. So wird die Abwärtsmobilität in den Analysen des SOEP definiert als „der Wechsel eines Individuums in einen Beruf, der ein niedrigeres Prestige hat als der ausgeübte Beruf im Vorjahr bzw. vor einer Phase der Inaktivität“ (Arbeitslosigkeit oder Erziehungszeit) (Drasch 2009, S. 35). Einkommensabstiege und abwärtsmobile Stellenwechsel innerhalb der eigenen Berufsgruppe können so nicht erfasst werden. Zudem vermitteln sie ein einseitiges und kaum mehr zutreffendes Bild von abwärtsmobilen Berufsverläufen. Denn die stärksten Polarisierungstendenzen zeigen sich gegenwärtig innerhalb und nicht mehr primär zwischen den Berufsgruppen. Die wachsenden Ungleichheiten zwischen den Berufsgruppen sind durch Ungleichheiten innerhalb eines beruflichen Feldes überlagert worden und können erstere im Ausmaß bei weitem übertreffen (Rosanvallon 2013).

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hier ein argumentiert werden, dass soziale Abstiege sich nicht auf Einkommensverluste beschränken, sondern unterschiedliche Formen der Deklassierung, d. h. der Geltungs- und Statusverluste, beinhalten können. Darüber hinaus ist festzustellen, dass sozialstrukturelle Lagen wie auch Mobilitätsprozesse keine unmittelbare Auskunft über Wahl- oder Parteipräferenzen erlauben. Es bedarf als vermittelndes Element spezifischer Bewältigungskonstellationen, die Einfluss auf den Habitus, Einstellungen und Sichtweisen der Deklassierten nehmen. Diese sollen hier aus emotionssoziologischer Perspektive rekonstruiert werden. Die Thesen lauten: A) Populistische Rechtsparteien bieten eine politische ‚Therapie‘ für unterschiedliche Formen von ‚Abstiegserfahrungen‘, die nicht auf ökonomische Fragen reduziert werden können.6 Auch können diese nicht im Sinne eines Modells der ‚Rolltreppe abwärts‘ hinreichend erfasst, sondern sollen hier im Sinne ‚Deklassierungen durch Zurückfallen‘ konzipiert werden. Dabei sind unterschiedliche Formen zu unterscheiden. Zu den Ursachen des Zurückfallens gehören, erstens, die von Pierre Bourdieu (1982) in die Debatte eingebrachten Hysteresis-Effekte. Hier resultieren soziale Abstiege oder Statusverluste aus Geltungsverlusten inkorporierter Einstellungen, Dispositionen, Haltungen. Während sich die gesellschaftlichen Bedingungen geändert haben, bleibt der Habitus seinen Entstehungsbedingungen verhaftet und funktioniert nicht mehr unter den neuen gesellschaftlichen Umständen. Subjektiv wird diese

6Diese

Annahme lässt sich durch empirische Ergebnisse einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen. Dieser Studie zufolge ist die AfD-Wahl kein exklusives Phänomen besonders einkommensschwacher Lebensverhältnisse, selbst wenn ein überdurchschnittlicher Anteil an Arbeitern unter den AfD-Wählern ins Auge sticht. Vielmehr liegt die politische Brisanz darin, dass es der AfD, anders als etwa noch der NPD, gelingt, in einer gesellschaftlichen Klammerbewegung zugleich die unteren Schichten (bis 1500), die unteren Mittelschichten (1500 bis 2500) als auch solche aus gehobenen materiellen Verhältnissen (über 4000 EUR Nettoeinkommen) anzusprechen. Der gemeinsame Nenner der durch populistische Rechtsparteien mobilisierten Wähler, so zeigen die unterschiedlichen empirischen Studien zu den subjektiven Gesellschafts- und Selbstbildern, ist nicht der sozio-ökonomische Abstieg, sondern das Gefühl der persönlichen Zurücksetzung, das Gefühl zu den gesellschaftlichen Verlierern zu gehören. Dieses Gefühl kann sich aus sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Entwertung speisen und ist nicht an eine spezifische Situation gebunden. ­ AfD-Wählerinnen und Wähler ordnen sich aus unterschiedlichen Gründen und unabhängig von ihrem realen Einkommen in der Gesellschaft niedrig ein oder erlebten im Vergleich zu den Eltern einen sozialen Abstieg (Hilmer et al. 2017, S. 6).

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Spielart sozialer Abstiegserfahrung nicht als ‚Rolltreppe abwärts‘, sondern vielmehr als Entfremdung, gewissermaßen als ‚Kulturschock‘, erfahren. Zu den Abstiegserfahrungen im Sinne der Deklassierung durch Zurückfallen gehören, zweitens, auch solche Hegemonieverluste, die durch den Aufstieg aufschließender, bislang unterlegener Gruppen, induziert worden sind. Hier ist nicht die betroffene Gruppe zurückgeblieben, vielmehr ergibt sich der Statusverlust aus dem Aufstieg bislang unterlegener Gruppen. Ein prominentes Beispiel dafür stellen unterschiedliche Gruppen aus der industriellen Mittelschicht, darunter Facharbeiter, Handwerker, kleine Gewerbetreibende, Landwirte, Kleinunternehmer etc., dar, deren einst hegemoniale Lebensformen entwertet worden sind und zwar sowohl auf nationaler Ebene, gegenüber der aufsteigenden akademischen Mittelklasse, wie auch auf internationaler Ebene, gegenüber den Mittelklassen der aufschließenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Denn während die Einkommensungleichheiten innerhalb der westlichen Welt gewachsen sind, haben vor allem viele asiatische Länder den Status von Entwicklungsländern hinter sich gelassen und eine neue globale Mittelschicht hervorgebracht (Milanovic 2016). Diese Konstellation bildet einen zentralen Pfeiler rechtspopulistischer Mobilisierung, da sich darin nationale und klassenspezifische Statusverluste überlagern. Deklassierungen durch Zurückfallen können, drittens, auch aus der Entwertung von bislang rentierlichen Anwartschaften aus Prädikaten, Titeln, Qualifikationen, Kompetenzen resultieren. So etwa hat die Herausbildung neuer Eliteprädikate, wie etwa der von Unternehmen verliehene Titel des high potential sowie der an Eliteuniversitäten verliehene MBA die herkömmlichen Diplome der B ­ WL-Studiengänge an „gewöhnlichen“ Universitäten entwertet. Gemeinsam ist diesen drei Abstiegserfahrungen, dass sie nicht von den Betroffenen, die sich selbst zumeist gar nicht bewegt haben, zu verantworten sind, sondern vielmehr auf Verschiebungen im Bewertungsbzw. Positionsgefüge des Gesamtsystems zurückgeführt werden müssen. Nicht das individuelle Scheitern, sondern die Enteignung steht im Zentrum dieser Spielart der Deklassierung: Die Spielregeln und Bewertungsmaßstäbe, gewissermaßen die Ratingagenturen, haben sich geändert und die zu einem früheren Zeitpunkt erworbenen Lebensführungsmuster, Anwartschaften und Berechtigungen verlieren ihre Gültigkeit, geraten in Widerspruch zu den veränderten Ordnungen, wodurch die Betroffenen wesentliche Teile ihres „Kapitals“ einbüßen.

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B) Die von rechts angebotene politische Therapie ist kein ‚Coaching‘ und auch kein auf das Individuum gerichtetes ‚Empowerment‘ (Bröckling 2007), sondern vielmehr eine Rehabilitationstherapie und darauf ausgerichtet, die traditionellen Institutionen zu verteidigen oder solche gesellschaftliche Ordnungen herzustellen, welche die verlorenen Einsätze und Investitionen zurückbringen sollen und mithin den Status der Deklassierten wiederherstellen. C) Die Therapie besteht im Wesentlichen in der symbolischen Rehabilitierung des Status der Deklassierten durch die Generierung eines alternativen Gesellschaftsbildes, einer alternativen Moral, d. h. durch gesellschaftliche ­Re-Klassifizierungsangebote. Hier lassen sich wiederum drei Spielarten identifizieren. Diese Form der politischen Therapie kann stattfinden a) als politische Häresie, d. h. als sozialer Paradigmenwechsel im Sinne der radikalen Abkehr von der herrschenden Gesellschaftsordnung. Dieser Paradigmenwechsel beinhaltet einen Ausstieg aus der liberalen (Ortho-)Doxie mittels des Angebots alternativer, anti-liberaler Gesellschaftsbilder, die eine neue moralische Ökonomie (z. B. Paternalismus statt soziale Umverteilung; soziale Schließung statt Öffnung; Hierarchie statt Gleichheit; kohärente Ordnung statt Pluralismus; eine konservative statt eine progressive Anthropologie etc.); und eine neue symbolische Ordnung anstreben; b) als symbolische Re-Souveränisierung durch die symbolische Wiederaufrichtung klassischer Hegemonieverhältnisse, etwa zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen oder zwischen gesellschaftlichen Mehrheiten und Minderheiten auf der Basis heroischer Ideale von Maskulinität, Patriotismus, und schließlich c) durch die Abwehr spezifischer ‚Minderheiten‘ oder Außenseiter-Gruppen. Je nach der im ihre jeweiligen Etablierten-Vorrechte besorgten Gruppe handelt es sich bei den Minderheiten um ganz unterschiedliche Außenseiter-Gruppen, etwa um aufsteigende ‚Karriere-Frauen‘ oder um Migranten, die vorgeblich ‚ungerechtfertigte‘ Ansprüche geltend machen, um Flüchtlinge, Muslime, etc. Das gemeinsame Merkmal der unterschiedlichen Außenseiter-Gruppen ist, dass sie aus Sicht der Betroffenen jeweils ungerechtfertigte, oder – wie etwa oftmals in den populistischen Anti-Genderismus-Kampagnen kolportiert – überzogene Ansprüche auf Gleichheit stellen. Die Abwehr und Ausgrenzung der Außenseiter ermöglicht dann die Transformation eigener Statusverluste in kategoriale Ausgrenzungen Anderer im Stil von ­Etablierten/AußenseiterFigurationen (Elias und Scotson 1990). D) Die Hinwendung zu den neuen Rechtsbewegungen setzt allerdings eine spezifische emotionale Konditionierung voraus, denn auf Deklassierungen sind

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unterschiedliche Reaktionen möglich. So stellen etwa Gefühle der Unterlegenheit oder der Scham typische emotionale Reaktionen auf Deklassierungen dar (Neckel 1991), die jedoch politisch nicht mobilisierbar sind. Unterlegenheitsgefühle beinhalten stets ein Eingeständnis subjektiver Unterlegenheit und fördern somit die Selbstzurechnung des Scheiterns. Nicht umsonst gilt das Schamgefühl in der Gesellschaftstheorie seit Norbert Elias als Motor von Zivilisierungsprozessen, weil es die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge anzeigt. Anders verhält es sich dagegen mit Neidgefühlen, die nur solange zivilisiert werden können, wie sie durch eine Moral eingehegt werden können. Diese wird in der modernen Gesellschaft durch Gerechtigkeitsordnungen, etwa durch Normen der Leistungsgerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit, geprägt. Diese helfen, wie schon Sigmund Freud wusste, das Eigeninteresse zu bändigen. Sobald hingegen der Eindruck entsteht, dass vergleichbare, oder sogar bislang unterlegen geglaubte, andere ungerechterweise über das verfügen, was ich begehre, fühlt sich der Einzelne nicht mehr an die Spielregeln und Normen gebunden, die soziale Ungleichheiten zwar generieren aber nicht mehr rechtfertigen können. Unter neoliberalen Bedingungen kommt es jedoch zu einer Erschöpfung von Gerechtigkeitsordnungen und bisher gültigen Verteilungs- und Leistungsnormen (Koppetsch 2013). Das Resultat sind Wut oder Empörung, Gefühle also, wie sie typischerweise durch populistische Protestbewegungen mobilisiert werden. E) Vorgeschlagen wird hier eine Re-Lektüre des Konzeptes der Abstiegsgesellschaft (Nachtwey 2016) im Prisma rechtspopulistischer Mobilisierung: Nicht Prekarisierung, sondern subjektive Status- und Geltungsverluste in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen sind das Thema. Betroffen sind unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die jeweils in ihren spezifischen Figurationen sozialer Deklassierung zu betrachten sind. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass ökonomische Faktoren keine Relevanz hätten. Sie sind jedoch keine Ursache oder Bedingung des Abstiegs, sondern lediglich eine von mehreren Dimensionen sozialer Deklassierung. F) Die gegenwärtige rechtspopulistische Mobilisierung knüpft nicht an ein schon bestehendes Klassensubjekt an, sondern ist vielmehr als einer der Vektoren der Transformation von Klassenstrukturen zu verstehen, weil sie die Herausbildung spezifischer politischer Subjekte forciert. Die Anrufung sehr disparater Gruppen unter dem unspezifischen Kollektivsingular der vorgeblich homogenen ‚Volksgemeinschaft‘ zielt auf eine identitätspolitische Form der Gemeinschaftsbildung durch Solidarität nach Innen und Abgrenzung nach Außen. Populistische Rechtsparteien erzeugen ihr politisches Subjekt durch

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Rückgriff auf ein nationales Kollektivierungsangebot: Die sich als „das Volk“ angesprochenen Personen werden in dieser Anrufung als Gemeinschaft, als „Schicksalsgemeinschaft“ allererst konstituiert.

4 Die Politik des Zorns: Ressentiments und Protestparteien Halten wir also fest: Populistische Rechtsparteien appellieren nicht ausschließlich an prekäre Schichten oder Inhaber niedriger Einkommen oder Bildung, sondern mobilisieren ein größeres Spektrum sozialer Lagen. Doch gibt es keine Direktverbindung zwischen den demütigenden Erfahrungen sozialer Abstiege und rechtspopulistischer Mobilisierung. Keine Deklassierung, und sei sie noch so gravierend, erzeugt politische Gegenbewegungen aus sich selbst heraus. Die Wirksamkeit der neuen Rechtsparteien ist nur dort gegeben, wo es diesen gelingt, an spezifische Emotionen anzuknüpfen und diese politisch nutzbar zu machen. Populistische Rechtsparteien agieren in diesem Sinne als politische Zornunternehmer, die gesellschaftliche Narrative erarbeiten, in denen individuellen Kränkungen vergesellschaftet und individuelle Zornpotenziale in den Dienst gemeinsamer Ideale und langfristiger politischer Ziele gestellt werden sollen. Welche Emotionen sind es, die rechtspopulistisch mobilisiert werden können? Neben Neidgefühlen, welche in Gegenwartsgesellschaften aufgrund der wachsenden Erosion von Normen der Chancengleichheit oder Leistungsgerechtigkeit (Neugebauer 2007; Neckel 1991) kaum noch hinreichend gebändigt werden können und die daher schneller in Wut oder Empörung umschlagen können, stellt die Ausbreitung von Ressentiment eine weitere emotionale Grundlage für die populistische Mobilisierung dar, die insbesondere bei solchen Gruppen anzutreffen ist, denen der direkte Ausdruck von Wut, Hass und Empörung untersagt ist. Das Ressentiment tendiert zur Ausstreichung des Gegebenen, denn es verdammt, was es heimlich begehrt. Durch die Hemmung transformiert sich der ursprüngliche Affekt oftmals in diffuse Feindseligkeitsgefühle. Laut Nietzsche (Nietzsche 1992 [1887], S. 26) führt die ­ressentiment-gesteuerte Verneinung der ursprünglich bejahten Objekte und Werte in letzter Konsequenz zur Herausbildung einer alternativen Moral, einer Ordnung der „Verlierer“. Ressentiments gehören zu den missverstandenen und oftmals unterschätzten Gefühlen. Sie sind zumeist das letzte Glied in einer komplexen Verkettung illegitimer Emotionen und sie entstehen vor allem dort, wo negative Gefühle verheimlicht, verleugnet oder verdrängt werden müssen, eben weil das

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Aufbegehren gegenüber den Mächtigen oder das Aufschließen an die Erfolgreichen und Gewinner gänzlich aussichtslos geworden sind. Dem Empfinden von Ressentiments liegt dann ein ohnmächtiges Begehren zugrunde (Scheler 1978 [1912], S. 11–14). Daher die sprichwörtliche Giftigkeit des Ressentiments: Max Scheler spricht von einer Selbstvergiftung der Seele und Nietzsche schreibt treffend, dass unter dem Ressentiment die „Seele schielt“. Die „Giftigkeit“ kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die ‚Gewinner‘, d. h. die Privilegierten, dem R ­essentiment-Träger als minderwertig erklärt werden, paradoxerweise gerade weil sie über das begehrte Gut, etwa über Talente, Erfolge, Schönheit oder Reichtum verfügen. Aber nicht nur die Träger, sondern auch das Gut selbst wird herabgesetzt. Wie in der bekannten Fabel vom Fuchs hängen die Trauben eben nicht zu hoch (und sind damit unerreichbar), sondern sie erscheinen als zu sauer. Gleichwohl schadet das Ressentiment seinen Trägern nicht nur, sondern bietet auch zahlreiche Entlastungsmomente. Der Ressentiment-Träger redet den Begehrenswert des Gutes wie auch die Privilegien ihrer Träger klein: Man ist etwa davon überzeugt, dass ein Kollege seine enormen Erfolge Leistungen verdanke, die in Wirklichkeit dessen allumfassende Unfähigkeit belegen. Damit entlastet man sich von Neid- und Unterlegenheitsgefühlen. Besonders weitreichend sind die Auswirkungen des Ressentiments dort, wo dieses aufgrund immer wiederkehrender Zurücksetzungen und Ohnmachtserfahrungen zu einer Haltung geronnen ist, welche Sichtweisen und Einstellungsmuster auf eine grundsätzliche Weise prägen. Ein solches verfestigtes Ressentiment äußert sich zum Beispiel in der moralisierenden Verneinung der herrschenden Ordnung im Ganzen und der vehementen Forderung nach neuen Gesellschaftsbildern und Regeln. Friedrich Nietzsche hat in seiner berühmten Schrift ‚Zur Genealogie der Moral‘ das Christentum, in dem bekanntlich Demut und Nächstenliebe, Sündenbewusstsein sowie die Ablehnung weltlicher Freuden etc. gepredigt wird (die Letzten werden die Ersten sein), als eine prototypische Verlierermoral ‚entlarvt‘. Und auch Rousseau kann, wenn auch unfreiwillig, als Denker des Ressentiments gelten, weil er die Enttäuschung über sein vergebliches Streben nach Karriere, Bewunderung und Liebe in der Pariser Gesellschaft der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer moralkritischen Entlarvung der führenden Gesellschaftsschichten macht. Gegen die aus seiner Sicht dekadenten und „überzivilisierten“ Menschen der Pariser „Monde“ formuliert Rousseau seine Anthropologie des Naturmenschen und des edlen Wilden (Gebauer 2004, S. 764– 767). Offenkundig ist, dass auch die Gesellschafts- und Weltbilder der Anhänger populistischer Rechtsbewegungen den Geist des Ressentiments in sich aufgenommen haben und eine ‚Verlierer‘-Moral, eine alternative Gesellschaftsordnung,

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in Opposition zum als dekadent empfundenen Geist des progressiven Neoliberalismus errichten. Die rechtspopulistische und rechtskonservative Kritik richtet sich ja nicht auf ein abgrenzbares Politikfeld, sondern auf die Gesellschaftsordnung im Ganzen, indem sie gegen das liberale Menschen- und Weltbild eine alternative gesellschaftliche Ordnung vorschlägt. Darin sollen weniger individuelle Autonomie und mehr Unterordnung unter das Kollektiv, weniger Öffnung und mehr Schließung, weniger Selbstverwirklichung und mehr Gemeinsinn enthalten sein. Darüber hinaus richtet sich das rechte Gesellschaftsbild gegen die Verflüssigung sozialer Kategorien und Positionen, etwa im Bereich von Geschlechterverhältnissen und sozialen Hierarchien. Und in dem Maße, wie liberale Ordnungen an moralischen Rückhalt verlieren, wird das Gesellschaftsbild der Rechten plausibler. Der Zulauf zu populistischen Rechtsparteien rührt also nicht einfach aus deren propagandistischen Erfolgen, sondern aus dem komplexen Zusammenspiel von Deklassierung, Emotionen und den beträchtlichen Legitimationsverlusten liberaler Bewährungs- und Erfolgsordnungen. Die Unterstützung der Rechtsbewegungen und ihrer Ideologien erfüllt für den Ressentiment-Träger daher nicht nur Entlastungs-Funktionen, sondern enthält auch gesellschaftsveränderndes Potenzial durch die berühmte ‚Umkehrung der Werte‘. Sie erlaubt es, persönliche Ohnmacht in moralische Empörung, die Triumphe der Sieger in Schande und Scham in Rache zu verwandeln. An die Stelle des Neides auf die Vorzüge der ‚Gewinner‘ tritt dann der Vorwurf ihrer unverhohlenen Anmaßung, ihrer (sexuellen) Laxheit und moralischen Dekadenz. Bei den Deklassierten ist dann das Gefühl vorherrschend, trotz nachweislicher Überlegenheit und moralischer „Größe“ an gesellschaftlicher Wertschätzung einzubüßen. Diese Haltung erlaubt, am eigenen Gruppencharisma festzuhalten und die Wiederaufrichtung der Gruppenehre – etwa der männlichen Ehre, der Größe der Nation oder des durch Modernisierungsprozesse ausgehöhlten Berufsethos‘ – zu fordern. Derartige Deutungsmuster liegen etwa auch den Hasskommentaren zu „Gendermainstreaming“ und Transgendertoiletten in Blogs und Social Media zugrunde, die als Versuche der Re-Souveränisierung verstanden werden können. Demnach seien es heute nicht mehr Frauen, sondern die Männer, nicht die Homosexuellen, sondern die ‚straighten‘ Menschen, nicht die Fremden, sondern die Einheimischen, die ‚Normalos‘, die Deutschen, die Weißen, etc., die benachteiligt würden. Durch die widersinnige Bevorzugung der ‚Randgruppen‘ bzw. ‚Minderheiten‘ sei man nun selbst zum Opfer sozialer Degradierungen geworden. Ob Ressentiments durch rechtspopulistische Parteien auch tatsächlich erfolgreich geschürt bzw. bedient werden können, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob die jeweils stigmatisierten Außenseiter – etwa Migranten, Flüchtlinge – interdependente

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Außenseitergruppen darstellen und somit als Konkurrenten um begehrte Güter, um gesellschaftliche Machtpositionen, Arbeitsplätze, Wohnraum, Sozialleistungen oder staatliche Zuwendungen, wahrgenommen werden. Dies erklärt auch, warum Flüchtlinge vor allem in strukturschwachen Regionen Deutschlands und insbesondere in Ostdeutschland, in denen Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit staatliche Transferleistungen erhalten und somit von den Zuweisungen aus öffentlichen Kassen angewiesen sind, stigmatisiert werden. Hier gewinnt die Frage, wer überhaupt dazu gehört, also wer zur staatlichen Unterstützung überhaupt berechtigt ist, eine zentrale Bedeutung. Auch der Zugang zu günstigem Wohnraum und Arbeitsplätzen soll aus der Sicht der Eigengruppe primär den Alteingesessenen vorbehalten bleiben. Die bloße Möglichkeit, die Zugewanderten könnten als ‚unberechtigte‘ Empfänger von staatlichen Zuwendungen profitieren oder auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt werden, potenziert das Gefühl der Deklassierung und kulminiert in der Behauptung, ‚die Flüchtlinge‘ würden von der Regierung gegenüber den Alteingesessenen bevorzugt.7 Ressentiments müssen nicht notwendig von rechts, sie können auch von links gespeist werden. Und die Wiedereinsetzung von Gruppenehre und Kollektivstolz hatte in der Aufrichtung des ‚klassischen‘ Arbeiterbewusstseins, im politischen Kampf der Linken etwa, auch eine zentrale Bedeutung. Diese Rahmenerzählung ist heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, allerdings aus zwei Gründen bedeutungslos geworden. Zum einen: Die Arbeiterklasse in ihrer ursprünglichen Form existiert nicht mehr – sie wurde im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in die Mittelschicht integriert. Die Gesellschaftsstruktur wird heute durch ein neues Dienstleistungsproletariat unterschichtet, das zumeist nicht mehr an Betriebe gebunden ist und von den Gewerkschaften und den Betriebsräten folglich nicht mehr repräsentiert wird (Staab 2014). Nicht zuletzt aufgrund der durch die SPD um die Jahrhundertwende vollzogenen marktliberalen Reformen kann die neue Unterschicht nicht mehr glaubwürdig von der Sozialdemokratie vertreten werden. Zum anderen existieren kollektive Klassenkulturen in ihrer an spezifischen Berufskategorien ausgerichteten, klassischen Form nicht mehr, da ihnen keine milieuhafte, lebensweltliche Grundlage mehr zukommt.

7Aufschlussreich

ist vor allem die Neigung, den Außenseitern als Vorwurf, Einstellungen und Verhaltensweisen nachzusagen, die zum eigenen Einstellungsrepertoire der Etablierten zählen und hier oft genug Lob einbringen. So wird den Flüchtlingen oftmals vorgeworfen, ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ zu sein, und somit ihr Land verlassen zu haben, weil sie in der Fremde eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lebensbedingungen erwarten.

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Fassen wir die zentralen Ergebnisse noch einmal zusammen: a) Nicht ökonomische Deprivationen und Prekarität, sondern Erfahrungen sozialer Deklassierungen stehen im Zentrum spätmoderner Abstiegsprozesse und diese werden relational erfahren. Deklassierungen können, müssen aber nicht mit materiellen Einbußen oder ökonomischen Abstiegen einhergehen. Dieser Umstand wurde bislang durch die starke Fokussierung auf Fragen von Markt und Ökonomie vernachlässigt. Entscheidend ist dabei die soziale Flugbahn,8 also die dritte Dimension im Sozialraum Bourdieus.9 Abstiegsorientierte Flugbahnen erzeugen Hysteresis-Effekte, d. h. einen Habitus, der seinen Entstehungsbedingungen verhaftet bleibt. Notwendig ist somit, relationale Stellungen und den Wandel von Positionsgefügen stärker als bisher in die Untersuchung von Klassenkonflikten miteinzubeziehen. Wenn man dies tut, wird sichtbar, dass Abstiegswellen in den reichen, westlichen Gesellschaften auch in mittleren und sogar privilegierten Soziallagen verstärkt zu Deklassierungen geführt haben.

8Bourdieu

bestimmt den Zusammenhang von Klasse und Klassifikation und das dynamische Relationsgefüge von Klassen-fraktionen anhand von drei Dimensionen: Erstens, das Volumen bzw. der Umfang des insgesamt zur Verfügung stehenden ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals, zweitens die Struktur bzw. die Zusammensetzung des Kapitals; und drittens die soziale Laufbahn bzw. der Werdegang einzelner Gruppen oder gesellschaftlicher Kollektive. 9Bourdieu verdeutlicht den Einfluss der Flugbahnen auf den Habitus am Beispiel des Psycho- und Soziogramms unter-schiedlicher Fraktionen der unteren Mittelschicht, d. h. des Kleinbürgertums (Bourdieu 1982, S. 500–504). Während das aufstrebende, neue Kleinbürgertum, das in medizinisch-sozialen Pflegeberufen oder als populäre Kulturvermittler tätig ist, symbolische und materielle Gewinne aus kulturellen Modernisierungsprozessen ziehen kann, ist das absteigende Kleinbürgertum, als die älteste Fraktion der Mittelschicht, von der wirtschafts- und berufsstrukturellen Entwicklung jeweils besonders stark bedroht. Das neue Kleinbürgertum gehört nach Bourdieu daher zu den Trägergruppen progressiver Weltsichten und liberaler Lebensformen, während das traditionelle Kleinbürgertum zumeist an überkommenden Normvorstellungen und Wahrnehmungskategorien festhält, pessimistische Zukunftsvorstellungen hegt und den modernen Berufssparten als den Trägern der modernen Lebensführung mit Ressentiments begegnet. Die von Bourdieu gemachten Beobachtungen sind bis heute gültig.

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b) Erfahrungen sozialer Deklassierung können in Gegenwartsgesellschaften nicht mehr im traditionellen klassengesellschaftlichen Rahmen,10 aber auch nicht mehr primär als System gradueller Abstufungen und sozialer Distinktionen – etwa von mehr oder weniger Einkommen, Bildung, Status, etc. verarbeitet und gedeutet werden. An deren Stelle treten oftmals kategoriale Unterscheidungen im Sinne on ­Wir/Sie-Unterscheidungen: Charakteristisch für die Sichtweise auf die heutige Gesellschaft ist bei den unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen etwa ein binäres Bild von Gewinnern und Verlierern (Neugebauer 2007). Diese Semantik befördert populistische Mobilisierungserfolge und wird in dem Maße, wie populistische Akteure an Bedeutung gewinnen, noch durch ein weiteres System kategorialer Unterscheidung ergänzt. So haben ethnonationale Abgrenzungen in Post-Klassengesellschaften ebenso zugenommen wie Ausgrenzungen im Stil von Etablierten-Außenseiter-Figurationen. So finden sich binäre Gegensätze auch im politischen Feld: Der Westen gegen den Islam, Kosmopoliten gegen Populisten, Gender-Feministen gegen AliceSchwarzer-Rassistinnen, das anständige Volk gegen die dekadenten Eliten, Nativisten gegen Globalisten, Alteingesessene gegen Zuwanderer, etc. c) Liberale Milieus sind von dieser Form der Re-Tribalisierung sozialer Unterscheidungen nicht ausgenommen. Aus kosmopolitischer Sicht verkörpern die Anhänger der AfD das „Andere“ der modernen Gesellschaft, nämlich das Gegenteil von Toleranz, Weltoffenheit, Liberalismus. Diese Beziehung kann mit dem Schema des Anthropologen Edward Said als „Othering“ betrachtet werden. Konkret bedeutet dies: Man hebt sich selbst und sein soziales Image hervor, in dem man rechtspopulistische Haltungen als a-moralisch klassifiziert (liberale vs. autoritäre, moderne vs. antimoderne Haltungen, Kosmopoliten vs. Globalisierungsverlierer etc.). Dabei oszillieren die Fremdzuschreibungen häufig zwischen Verteufelung und Verharmlosung. Mal werden die Anhänger der Rechtsparteien als gefährliche Faschisten und mal wie missmutige Kinder präsentiert, die von irrationalen Ängsten und Ohnmachtsgefühlen geplagt würden. Die Botschaft ist dieselbe: AfD-Anhänger werden als Menschen mit gravierenden charakterlichen oder moralischen Defiziten dargestellt.

10Dies

hat unterschiedliche Ursache: Sozio-professionelle Kategorien haben durch die ­ nt-Standardisierung der Erwerbsarbeit und durch die Ausdifferenzierung von Berufs- und E Leistungsprofilen insgesamt an Relevanz verloren. Oftmals übersteigen die Ungleichheiten innerhalb eines Berufsfeldes jene zwischen den Berufsklassen (Rosanvallon 2013). An die Stelle sozio-professioneller Identitäten treten in der Gegenwart erneut kategoriale Zugehörigkeiten entlang von Wir-Gruppen.

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Rechtschaffen(d)e Wut. Zur medialen Semantik eines politischen Gefühls Imke Rajamani

1 Einleitung In den 1970er Jahren wurde der Angry Young Man zur beliebtesten Heldenfigur des indischen Kinos. In zahlreichen Kassenschlagern kämpfte er gegen korrupte Politiker, ausländische Kriminelle, faule Polizisten und verblendete Richter. Dabei entwickelten und popularisierten die mit politischen Botschaften aufgeladenen Action-Filme Wut als ein patriotisches und altruistisches Gefühlskonzept im Dienste von Recht, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Der Aufsatz zeigt, wie sich rechtschaffen(d)e Wut im Mainstream-Kino von einem in die sozialistische Staatsideologien eingebundene Emotion zu einem Instrument der politischen Mobilisierung im Dienste Hindu-nationalistischer Bewegungen wandelte. Die Analyse geht dabei besonders auf die Verbindung von rechtschaffen(d)er Wut zu Opferstatus und Bürgerrecht ein und kritisiert, dass dieser semantische Komplex, der als politisches Instrument zur Anerkennung von subalternen Gruppen etabliert wurde, auch von dominanten Gruppen und Regierungen als Mittel zur Verteidigung von Macht und Privilegien verwendet wird. Damit weist der Text im Kontext theoretischer Überlegungen zum Verhältnis von Wut und Demokratie über das indische Beispiel hinaus. Wut ist ein mehrdeutiges politisches Konzept: Peter Lyman bezeichnet in seinem Aufsatz ‚The Politics of Anger‘ Wut als ‚the essential political emotion‘ (Lyman1981). Als politisches Gefühl sei Wut konstitutiv für Demokratien: Wut stoße Debatten an, mobilisiere politische Partizipation und sei somit der Motor für Fortschritt und Demokratisierung. In ihrem Aufsatz „The Importance of Being

I. Rajamani (*)  Falling Walls Foundation GmbH, Berlin, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius und J. Bilstein (Hrsg.), Gewalt – Vernunft – Angst, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_13

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Angry: Anger in political Life“ stimmt Mary Holmes (Holmes 2004, S. 127) Lyman zu und ergänzt, dass Wut auch zur Gefahr für ein politisches System werden kann, nämlich immer dann, wenn sie unterdrückt würde. Ähnlich positiv über die Funktion von Wut als demokratische Gefühlspraktik äußerten sich auch in letzter Zeit einige Intellektuelle und Politiker. Der Diplomat und politische Aktivist Stéphane Hessel (2011) rief Europas Bürger dazu auf, sich gegen die Mechanismen und Folgen des Finanzkapitalismus zu „empören“ (Hessel 2011), dabei präsentiert er Zorn als emotionalen Anstoß für eine neue Politik von Mitgefühl und Pazifismus. Der sich selbst als ‚demokratischer Sozialist‘ bezeichnende Politiker Oskar Lafontaine (2002) findet es ebenfalls richtig, dass angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit in Deutschland ‚die Wut wächst‘ und der Druck auf die Regierung steigt. Und der Philosoph Peter Sloterdijk schlug in seinem Werk ‚Zorn und Zeit‘ (Sloterdijk 2006) vor, mittels eines ‚Zorns ohne Ressentiment‘ (Sloterdijk 2006) die Demokratie zu erneuern und zu stärken. Diesen positiven Theorien von Wut und Zorn steht eine Position gegenüber, die aktuell als Reaktion auf das Erstarken populistischer Bewegungen in Europa und anderswo zu hören ist: Demokratie brauche mehr Vernunft und weniger Emotionen, Wut verhindere verstandsgeleitete Debatten und somit die demokratische Konsensfindung. Diese Position wird in der Politikwissenschaft und Ideengeschichte dem Liberalismus bzw. dem liberalen Rationalismus zugeordnet, der sich durch seine ‚Emotionsaversion‘ gegenüber anderen demokratischen Denkschulen wie etwa dem Republikanismus, radikaldemokratischen oder sozialistisch-demokratischen Positionen abgrenzt (Schaal und Heidenreich 2013). In den normativen Debatten zur Wirkung von Wut auf demokratisch verfasste Gesellschaften muss Demokratie also im Plural gedacht werden – ebenso wie Wut, die keinesfalls ein universelles Gefühl ist und als Instrument der politischen Kommunikation und des politischen Handelns unterschiedliche semantische Muster und praktische Ausdrucksformen haben kann. Wie alle Gefühle ist Wut ‚geschichtsträchtig‘ und ‚geschichtsmächtig‘, sie hat eine Geschichte und sie verändert Geschichte (Frevert 2009). Dieser Aufsatz stellt rechtschaffen(d)er Wut als ein politisches Emotionskonzept vor, dessen semantische Struktur, narrative Logik und Bilder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine starke Popularisierung erfahren haben. Im Sinne einer ‚Conceptual History beyond language‘ (Pernau und Rajamani 2016) nähert sich die Analyse rechtschaffen(d)er Wut als einem multimedial verfassten Emotionskonzept, das durch Bilder und Töne ebenso wie durch Sprache und Narrative konstituiert wird. Wie Emotionskonzepte verändert werden und damit ‚politische Handlungsräume‘ eröffnen oder schließen (Steinmetz 1993), wird hier am Beispiel der Figur des Angry Young Man in indischen Action-Filmen gezeigt, der

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rechtschaffen(d)e Wut in Indien popularisierte und so Anstoß für neue politische Gefühle und Handlungen gab. Als Patriot, Altruist und mitfühlender Bürger empörte sich der Angry Young Man in zahlreichen erfolgreichen Filmen der 1970er-1990er Jahre über die Ungerechtigkeit, die den armen und hart arbeitenden Menschen in Indien widerfuhr. Wut wurde dabei als logische Konsequenz eines ausgeprägten Sinns für moralische und politische Rechtschaffenheit dargestellt. Als Repräsentant einer von Gewalt und Willkür gezeichneten Gemeinschaft kämpft der Angry Young Man für Gerechtigkeit und Bürgerrechte und folgte dabei seinen eigenen Gesetzen der rechtschaffenen und Recht-schaffenden Wut. Der Protagonist in Shahenshah (Herrscher 1988) verspricht zu Beginn der Filmhandlung: „Ich bin nicht bloß der Arm des Gesetzes. Ich werde das Gesetz selbst sein. Ein solches Gesetz, das die Übeltäter selbst fängt, selbst verhört und selbst richtet.“1

Wie verhielt sich dieser vigilante Wutbürger-Held zur politischen Ordnung der ‚größten Demokratie der Welt‘ (Guha 2007)?

2 Rechtschaffen(d)e Wut zur Verteidigung der Demokratie Der Film Zanjeer (Ketten 1973) markierte den Beginn einer Trendwende in Indiens politischer Emotionsgeschichte: Wut galt in der von Premierminister Jawaharlal Nehru seit 1947 gestützten Ideologie als ein schlechtes, unpatriotisches, dem indischen Fortschritt entgegenstehendes Gefühl. Zanjeer hingegen präsentierte Wut als patriotische Tugend und zeigte, wie man mit ihrer Hilfe vom Opfer, Außenseiter und enttäuschten Bürger zum Helden werden konnte. Damit sprach er das überwiegend männliche Massenpublikum des Action-Kinos in den 1970er Jahren an. Der Film über einen jungen Polizisten, der selbst Opfer eines Verbrechens wird und sich über Recht, Gesetz und Gefühlsnormen hinwegsetzt, um einem kriminellen Unternehmer das Handwerk zu legen, wurde zum Ausnahme-Erfolg an Indiens Kino-Kassen und gilt als Ur-Text des Angry Young Man-Genres.

qanūn kā bāzu nahiṅ. ḳhud qanūn banungā. aur esa qanūn jo ḳhud mujrimon ko pakaḍegā, ḳhud mukadmā sunnegā aur faislā bhī ḳhud karegā.

1maiṅ

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Der Film erschien inmitten einer politischen Krise. Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, kommunalistische Gewalt, Korruption und zunehmende Kriminalität dominierten die Schlagzeilen. Die Enttäuschung über die seit der Unabhängigkeit in der Regierungsverantwortung stehenden Congress-Partei wuchs. Sie hatte ihr 1947 im Zuge der Staatsgründung gegebenes Versprechen nach Wohlstand und Frieden nicht eingelöst. Die politische Ordnung des indischen Nationalstaates war auf drei ideologische Säulen aufgebaut: Sozialismus (Planwirtschaft), Demokratie (als Konzept der politischen Konstitution) und Säkularismus (als die kulturelle Prämisse für die friedliche Koexistenz von Indiens Religionsgemeinschaften). Seit dem Tod des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru im Jahre 1964 wurde diese auch als Nehruvianismus bekannte Staatsideologie zunehmend von erstarkenden Oppositionsbewegungen verschiedenster ideologischer Ausrichtungen infrage gestellt. Maoisten, Befürwortern der Marktwirtschaft und Hindu-Nationalisten sägten gemeinsam an den Säulen der politischen Ordnung. Zudem beschuldigte die Opposition PolitikerInnen der Congress-Partei des Elitismus. Ziel dieser Kritik war auch Nehrus Tochter Indira Gandhi, die 1966 das Amt der Premierministerin übernommen hatte. Die in Cambridge und Oxford studierten Eliten, so der Vorwurf, hätten die Verbindung zum indischen Volk und die Sensibilität für die Nöte der einfachen Leute verloren. Anstatt Indiens soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen, beschäftigten Sie sich mit Machtspielen und ihrer eigenen Bereicherung durch Korruption. Die Auseinandersetzungen zwischen oppositionellen Bewegungen und den staatlichen Sicherheitskräften eskalierten zunehmend in Gewalt (Kohli 1990). 1975 reagierte Indira Gandhi auf die Regierungskrise mit der Implementierung der Notstandsgesetze. Der National Emergency dauerte 21 Monate. In dieser Zeit regierte Indira Gandhi autokratisch und verantwortete zahlreiche Menschenrechtsverletzungen. Nachdem es der aus mehreren oppositionellen Gruppierungen heraus gegründeten Janata Party (Volkspartei) von 1977 bis 1979 nicht gelungen war, eine stabile Regierung zu bilden, wurde die Congress-Partei 1980 als stärkste Kraft wiedergewählt, und Indira Gandhi bekleidete erneut das Amt der Premierministerin. In der lang andauernden Krise verteidigte die Congress-Partei ihre Politik mit populistischer Rhetorik. Dabei unterstützte sie der Angry Young Man, der alltäglich im Kino vorführte, dass Wut und Gewalt rechtschaffene und ­Recht-schaffende Mittel seien, wenn es um die Verteidigung von Indiens Demokratie, dem Sozialismus und der pluralistisch-säkularen Kulturpolitik des Landes ginge. Ein Beispiel ist der Hindi-Film Coolie (Kofferträger 1983) mit dem Schauspieler Amitabh Bachchan in der Rolle des wütenden Helden:

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Abb. 1   Der Angry Young Man als sozialistischer Nationalheld. Amitabh Bachchan in Coolie 1983. (Quelle: Coolie. Indien 1983. Regie: Monmohan Desai und Prayag Raj. DVD Time-N-Tune 2003)

Als Zafar, ein krimineller Kapitalist mit politischen Ambitionen, einen Staudamm zerstört und ein Dorf überflutet, verliert Iqbal im Alter von zehn Jahren seine Eltern und sein bürgerliches Elternhaus. Das Bild des Staudamms ist symbolisch gewählt. Denn Nehru forcierte in den 1950er Jahren den Bau von Mega-Staudämmen für die Energiegewinnung und als Symbole den nationalen Fortschritt. Der Premierminister pries die Bauwerke bekanntermaßen als „Tempel des modernen Indien“ (McCully 2001, S. 2). Als Opfer der Flutwelle repräsentiert das Kind Iqbal durch dieses symbolische Bild auch eine zum Opfer gewordene indische Nation, die durch Zafars von kalter Wut und Gier getriebene Tat ihrer Zukunftsperspektive von Wohlstand und Fortschritt beraubt wird. Iqbal wächst bei seinem Onkel auf, der als Kofferträger in einem Bahnhof Bombays arbeitet. Aus seiner Opferrolle heraus entwickelt sich Iqbal zum Angry Young Man, der sich gegen Ungerechtigkeit auflehnt und die Armen gegen die Willkür der Reichen verteidigt. Seine Wut ist semantisch als heiß, altruistisch, patriotisch und als Instrument des sozialen Fortschritts kodiert. Sie ist Ausdruck von Mitgefühl und Rechtschaffenheit. Die bildliche und narrative Gegenüberstellung von der guten heißen Wut des Helden und der schlechten kalten Wut der Antagonisten fügt sich dabei in eine gesamtästhetisch gestaltete, nehruvische, antikapitalistische Ideologie ein. Drei Szenenbilder verdeutlichen, wie der Film

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Iqbals Wut als patriotisches Gefühl zur Verteidigung von Sozialismus, Demokratie und Säkularismus konzeptualisiert (Abb. 1): 1. Sozialismus Das erste Szenenbild zeigt den wütenden Helden Iqbal mit Hammer und Sichel, die er gleich im Kampf gegen den Millionär und korrupten Aufsichtsratsbeamten Om Puri und dessen Sohn Vicky einsetzen wird: „Diese [Hammer und Sichel] sind für uns Werkzeug und Waffe. Sie können unsere Bäuche füllen und die Bäuche deinesgleichen aufschlitzen.“2 Die Gemeinschaft der Kofferträger von Bombays Bahnhöfen hat im Rahmen eines Regierungsprogramms Geld für den subventionierten Bau einer Wohnkolonie gesammelt.3 Der zuständige Beamte und verbündete Unternehmer versuchen nun die rechtschaffenen, hart arbeitenden S ­lum-Bewohner um ihr Geld zu betrügen und auf dem ihnen zugesagten Baugelände ein LuxusImmobilienprojekt zu verwirklichen. Die wütenden Kofferträger stürmen die Villa des Millionärs, zerstören die Einrichtung und bedrängen den Regierungsbeamten. Die Gewalt der Szene wird durch rechtschaffen(d)e Wut der Coolies legitimiert und durch Comedy-Elemente verharmlost. Es kommt zum Kampf zwischen dem in seine strahlend rote, traditionelle Uniform gekleideten Helden Iqbal und den im westlichen weißen Smoking gekleideten Millionärssohn Vicky. Die durch das Eastmancolor-Verfahren besonders starken Farbkontraste zwischen rot und weiß unterstützen die Bedeutung der Szene als einem Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus, Traditionsbewusstsein gegen Verwestlichung, Arm gegen Reich, Gemeinschaftssinn gegen Egoismus, Wut und Emotionalität gegen Kalkül und Kaltherzigkeit. Iqbal gewinnt und die Kofferträger erhalten neue Häuser. Die heiße, rote, laute, sozialistische und solidarische Wut des Proletariats ist hier eine Tugend im Kampf gegen Korruption und Kapitalismus (Abb. 2).

2„yah

hamāre hathiyār hai. yah hamārā peṭ pāl sakte haiṅ aur bhī tum jaisoṅ kā peṭ bhāg bhī sakte haiṅ!“. 3Das Regierungsprogramm im Film ist eine Referenz zum „Twenty Point Programme“ zur Verbesserung der Lebensumstände der unter Armut leidenden oder von Armut bedrohten Bürgerinnen und Bürger. Indira Gandhi hatte das Programm 1975 während der Notstandsgesetze ins Leben gerufen. 1982 wurde das Programm neu aufgelegt, ‚housing for the people‘ und ‚improvement for slums‘ waren die Punkte 14 und 15 in diesem Maßnahmenkatalog. Die Produktion des Films Coolie fand zur Zeit der in den Medien viel kommentierten und kritisierten Wiederaufnahme des Programms statt, dass in der Vergangenheit mit Gewalt gegen Slum-BewohnerInnen in Verbindung gebracht worden war.

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Abb. 2   Die sozialistischen Wutbürger als Zentrum der indischen Demokratie. Wahlkampfszene in Coolie 1983. (Quelle: Coolie. Indien 1983. Regie: Monmohan Desai und Prayag Raj. DVD Time-N-Tune 2003)

2. Demokratie Der Kampf zwischen Iqbal und Vicky setzt sich auf der Wahlkampfbühne fort. Während Iqbal für die ‚Partei der Armen‘ (garīboṅ kī partī) kandidiert, steht ihm sein Kontrahent für die ‚Partei der Reichen‘ (āmīroṅ kī partī) gegenüber. In diesem Szenenbild bilden die Kofferträger in ihren leuchtend roten Uniformen die Mitte des versammelten indischen Volkes. Die Kofferträger wurden zuvor als eine von Pluralismus, Toleranz und Freundschaft geprägte Gemeinschaft vorgestellt. Sie kommentieren die Reden der beiden Kontrahenten mit emotionalen Gesten, ihre rechtschaffen(d)e Wut bildet das emotionale Zentrum der demokratischen Debatte. Sie signalisieren Zustimmung mit Iqbals Rede über die Opferrolle der hart arbeitenden Bevölkerung, die von den Reichen ausgebeutet wird und von korrupten Beamten ihrer Bürgerrechte beraubt würden. Sie wenden sich von den Reichen ab, die argumentieren, dass die Armen nur dank der Güte der Wohlhabenden leben könnten. Als die Reichen bemerken, dass sie das Volk nicht auf ihrer Seite haben, sabotieren sie den Fortgang der Veranstaltung, indem sie Iqbals Mikrofon abschalten und das Volk bedrohen. Die Semantik, von Wut als laut werden, die Stimme erheben, öffentlich Unrecht anprangern, Unzufriedenheit kommunizieren und somit politische Partizipation zu

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Abb. 3   Der Angry Young Man als Verkörperung des Säkularismus. Amitabh Bachchan in Coolie, 1983. (Quelle: Coolie. Indien 1983. Regie: Monmohan Desai und Prayag Raj. DVD Time-N-Tune 2003)

leben, steht hier im Zentrum der Szene. Indem die Reichen Iqbals Mikrofon abschalten, stören sie den Prozess der demokratischen Meinungsbildung und die Performanz der proletarischen Wut – im Film der Herzschlag der Demokratie. Im Anschluss an die Wahlkampfveranstaltung kommt es zum actionreichen Höhepunkt des Films, in dem der Held die Feinde der indischen Nation, des indischen Volkes und des rechtschaffenen indischen Bürgers – des Angry Young Man Iqbal – besiegt Abb. 3. 3. Säkularismus In dem finalen Kampf wird Iqbal schwer verletzt. Vier Kugeln aus Zafars Pistole stecken in seiner Brust. Während der Verwundete operiert wird,

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beten seine Freunde und seine Familie als Hindus, Muslime, Christen und Sikhs für sein Überleben. Mit jedem Gebet landet eine der Kugeln klirrend im silbernen Nierenschälchen. Am Ende des Films dankt der genesene Held seinen ‚Brüdern und Schwestern‘ für ihre Gebete, die ihn vom Tod zum Leben erweckt hätten. In der Rede des Helden verschwimmen Fiktion und Realität. Denn das Szenenbild zeigt auch den Schauspieler Amitabh Bachchan, der sich bei seinen Fans für ihre Genesungsgebete bedankt. Bei den Dreharbeiten zu Coolie hatte Bachchan sich lebensgefährlich verletzt. In der Balkonszene trägt er die Symbole von Indiens vier größten Religionsgemeinschaften an silbernen Ketten auf der Brust: Ohm für den Hinduismus, Halbmond und Stern für den Islam, das Kreuz für das Christentum und die Khanda für den Sikhismus. Die Ideologie des Säkularismus im Nehruvianismus bezog sich nicht vornehmlich auf die Trennung von Religion und Staat, sondern auf die Gewährleistung der friedlichen Koexistenz aller Religionen durch eine Kultur der gegenseitigen Toleranz. Die Figur des Angry Young Man, der in diesem Film als Moslem geboren wurde, in der Obhut eines Hindus aufwuchs und sich schließlich mit einer Christin verlobte, verkörpert diesen Säkularismus idealtypisch. Der Film Coolie motivierte Spekulationen, ob Bachchan eine politische Karriere plante, was der Star für knapp ein Jahr zurückwies. Nach der Ermordung Indira Gandhis am 31. Oktober 1984 ließ Bachchan sich von seinem Jugendfreund, Indira Gandhis Sohn Rajiv Gandhi, umstimmen und wurde von den WählerInnen seines Geburtsortes Allahabad als Abgeordneter ins indische Parlament (Lok Sabha) gewählt. Im Wahlkampf profitierte die Congress-Partei von Bachchans Star- und Screen-Image. Der Schauspieler bürgerlicher Herkunft und ikonische Angry Young Man sprach Wählerinnen und Wähler aller Klassen gleichermaßen an. Bachchans Körper und seine Erscheinung – sein Gesicht, der Klang seiner tiefen Stimme, seine Faust – waren durch die populären Kino-Filme selbst zu Schlüsselsignifikanten der rechtschaffen(d)en Wut geworden. Als ikonische Verkörperung dieses patriotischen Emotionskonzeptes agierte Bachchan nun auch jenseits der Leinwand als Verfechter von Sozialismus, Demokratie und Säkularismus. Die Figur des Angry Young Man kann somit als emotionshistorischer Unterstützer der Congress-Regierung verstanden werden, als Legitimationsfigur ihrer populistischen Maßnahmen zur Verteidigung des Nehruvianismus, einschließlich der von den Staatsorganen ausgehenden Gewalt in diesem Prozess. Er verteidigte die Nation als eine ‚imaginierte Gemeinschaft‘ (Anderson 1983) rechtschaffener Bürgerinnen und Bürger, die Opfer von Kriminalität und sozialer Ungerechtigkeit geworden waren und zeigte, dass es für einen patriotischen Helden notwendig ist, schwache Gesetze, das

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ineffiziente Gerichtswesen und korrupte Richter durch Selbstjustiz an den Feinden der Nation zu umgehen. Dieses Narrativ stützte die populistische Rhetorik der Regierung und schaffte Akzeptanz für Maßnahmen zur Konzentration der Macht bei der Premierministerin. Seit den späten 1960er Jahren trugen Indira Gandhi und ihre Partei wiederholt Konflikte mit Richtern und Gerichten aus, die das populistisch-sozialistische Reformprogramm für verfassungswidrig hielten. Ein Streitpunkt war beispielsweise die Nationalisierung der Banken, die auch in dem Film Coolie thematisiert wird, als die Kofferträger von einem kriminellen Geschäftsmann um ihre Spareinlagen in einem privat organisierten Chit Fund betrogen werden. Die Richter, so Gandhi, seien „reaktionäre Kräfte“, die die Regierung aus Eigennutz daran hinderten „das Leben der Mehrheit der Menschen in Indien zu verbessern“ (Guha 2007, S. 473–474). 1973 bewirkte die Premierministerien schließlich die Berufung des regierungstreuen Juristen A.N. Ray ins Amt des obersten Richters. Die bürgerlichen Zeitungen kritisierten Indira Gandhi für ihren Angriff auf das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung und warnten die Bürgerinnen und Bürger vor einem neuen politischen Klima der Autokratie. Der Angry Young Man hingegen diffamierte das indische Gerichtswesen in zahlreichen Szenen als ineffizient, korrupt, ignorant und elitär. Gerechtigkeit brauche Vigilantismus und Stärke – beides charakterisierte den Regierungsstil Indira Gandhis (Carras 1980). Zudem nutzen die Action-Filme und die Regierungskommunikation die gleichen Feindbilder: Schmuggler, Alkoholhändler, reiche Geschäftsleute, gierige Kapitalisten und korrupte Beamte des mittleren Verwaltungssektors. Während der Notstandsgesetze verschwanden zahlreiche politische Gefangene unter Anschuldigungen des illegalen Handels mit Alkohol und Schmuggel in Indiens Gefängnissen; Das Congress-Regime entließ in ihren Anti-Korruptionskampagnen politisch kritisch eingestellte Angestellte aus dem mittleren Beamtendienst. Schon bevor politische Gefangene in Indiens Gefängnissen gefoltert und in sogenannten ‚encounter‘-Operationen ohne Prozess hingerichtet wurden, glorifizierten Angry Young Man Filme Polizeigewalt und Folter gegen diese Feinde als den unvermeidlichen Ausbruch patriotischer Wut eines jeden aufrechten Beamten.4

4In

seinem Dokumentarfilm ‚Prisoners of Conscience‘ (1978) dokumentiert der politische Aktivist und Filmemacher Anand Patwardhan die Gewalt der Congress-Regierung besonders eindrucksvoll anhand von Interviews mit ehemaligen politischen Häftlingen.

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Im Kino konnten die Zuschauer lernen, dass politische Krisen mit eiserner Hand gelöst werden mussten. Rechtschaffen(d)e Wut sei keine egoistische Emotion, sondern eine Geste von Altruismus und Mitleid für all jene, die von sozialer Ungerechtigkeit betroffen seien. Entsprechend inszenierte sich auch Indira Gandhi mit populistischen Programmen der Armutsbekämpfung, dem Slogan „garībī hatāo“ – „schlagt die Armut“ und dem harten Kurs gegen oppositionelle Bewegungen als Verteidigerin von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie (Guha 2007, S. 565; Bhargava 1988). Die Popularisierung von Wut als Ausdruck von Mitgefühl und als nationale Tugend ermöglichte das Konzept des wütenden, wachsamen und wehrhaften Staates – ein Staat, der sich und seine Ideologie in der Opferrolle inszenierte, um seine Verletzungen geltenden Rechts und die Ausübung von Gewalt als heroische Verteidigung der Demokratie und des imaginierten mehrheitlichen Volkswillens gegen extremistische Oppositionelle zu rechtfertigen. Die Popularisierung von rechtschaffen(d)er Wut als patriotische Praktik durch das Kino eröffnete erst dieses semantische Feld für die politische Kommunikation – und schaffte somit einen neuen Handlungsspielraum. Der Historiker Willibald Steinmetz (Steinmetz 1993) argumentiert, dass das politisch ‚Sagbare‘ Handlungsspielräume des ‚Machbaren‘ eröffnet und schließt. Diese auf Sprache fokussierte These lässt sich auch auf andere Medien der Kommunikation und Sinngebung ausweiten, etwa auf das Zeigbare in Bildern und Filmen. Die Bilder des Angry Young Men als rechtschaffener und R ­ echt-schaffender Patriot und Vorzeigedemokrat erlaubten es, Indira Gandhi trotz ihrer zunehmend antidemokratischen politischen Reformen und Maßnahmen als Verteidigerin von Demokratie und Gerechtigkeit zu inszenieren und wahrzunehmen. Die Popularisierung der Wut in den Worten, Bildern, Sounds und Narrativen der Filme beförderten Vigilantismus, Autokratie und Gewalt. Doch verstanden die Akteure dies nicht als Selbstzweck, sondern als Vernunft und notwendige Härte im Dienste der zu rettenden Demokratie. Wären die aktuelle Regierungskrise erst einmal überwunden und die Feinde der Demokratie (bzw. die Opposition zum Congress) besiegt, würden Toleranz, Vertrauen und Solidarität rechtschaffen(d)e Wut als Regierungsstil wieder überflüssig machen. Diese hoffnungsvolle Semantik der Wut verschwand Mitte der 1980er Jahre und begünstigte so die Ausbreitung des Hindu-Nationalismus.

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3 Rechtschaffen(d)e Wut und das Mainstreaming des Hindu-Nationalismus Als Amitabh Bachchan 1984 seine Filmkarriere vorerst beendete, hinterließ der mittlerweile beliebteste und höchstbezahlte Schauspieler eine klaffende Lücke im Star-System des populären Hindi-Kinos. Dies ermöglichte einer neuen Generation von männlichen Darstellern, sich im Angry Young Man Genre zu etablieren. Sunny Deol und Nana Patekar gehörten zu den erfolgreichsten Angry Young Men der zweiten Generation. Auch die Narrativik und Ästhetik der Filme veränderte sich. Die Filme wurden noch Action-geladener und es kamen häufiger schwerere Schusswaffen und Sprengstoff zum Einsatz. Script-Schreiber und Regisseure ließen sich stark von Hollywood Actionmovies mit Sylvester Stallone (z. B. Rambo/First Blood 1982) inspirieren. Gleichzeitig veränderten sich die Gefühlskonzepte, Moralnarrative und politischen Slogans in Richtung des ­Hindu-Nationalismus. Krantiveer (Revolutionskämpfer 1994) mit Nana Patekar in der Hauptrolle des Angry Young Man war einer der erfolgreichsten Filme, die eine radikale Veränderung des indischen Staates und seines ideologischen Fundaments forderten: Pratap Narayan Tilak stammt aus einer Familie patriotischer Freiheitskämpfer. Der Name Tilak soll eine Parallele zwischen der Hauptfigur des Filmes und Bal Gangadhar Tilak (1856–1920) herstellen, dem Nationalhelden und „militanten Hindu-Nationalisten“, der mit seinen Schriften Gewalt als Mittel für den Unabhängigkeitskampf legitimierte und zum Mord an Beschäftigten der britischen Kolonialmacht aufrief (Guha 2011, S. 107–118). Doch Pratap wird den Erwartungen an einen heranwachsenden Patrioten nicht gerecht. Er trinkt, raucht, ist vorlaut, und zieht Glücksspiel der Schule vor. Als seine Mutter ihn schließlich des Hauses verweist, wird er in Bombay von Laxmikant aufgenommen, dem Grundbesitzer Wohnkolonie Laxmi Nagar, in der Pratap fortan als Eintreiber für die Mieten arbeitet. Etwa zehn Jahre später wird Laxmi Nagar von einem Immobilienprojekt bedroht. Mit der Hilfe korrupter Politiker und Polizisten plant der gierige Geschäftsmann Chattursingh Chitah den Bau einen Luxusresorts für zahlungskräftige ausländische Touristen. Jedes Mittel ist den Bösewichten recht, um die Bewohner zu vertreiben. Sie bedrohen Frauen und Kinder und entzweien die bis dahin friedlich zusammenlebenden Hindus und Muslime des Viertels durch das Anstiften brutaler Unruhen. Zunächst ist Pratap ein zynischer Kommentator des Geschehens und lacht über die Journalistin Megha, die mit ihren Recherchen und Artikeln versucht, die Menschen zum Protest gegen Gesetzlosigkeit und

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Korruption zu bewegen. Doch schon bald wird Pratap zum Angry Young Man. Er erfährt, dass Chattursingh Chitah einst Megha vergewaltigte und ihre Eltern tötete, und schließlich ermordet der mächtige Gangster Prataps Ziehvater. In Pratap erwachen persönliche Rachegefühle, Mitgefühl für Megha und der Wunsch nach Gerechtigkeit und Zukunft für Laxmi Nagar und seine Bewohner – Gefühle, die sich in dem Konzept der rechtschaffen(d)e Wut verbinden. In sorgfältig geplanten Attentaten erschießt er Chattursingh und seine Helfer. Pratap wird in einem Prozess, der die Ineffizienz und Schwäche der indischen Justiz vor Augen führen soll, zum Tode verurteilt. Unter dem Galgen stehend hält er eine flammende Rede über den Zustand seines Landes und beschimpft seine Mitbürger: „Ihr habt Euch daran gewöhnt, in Sklaverei zu leben. Erst habt ihr den Königen gedient, dann den Briten und jetzt den betrügerischen Politikern und Gangstern. […] Die Journalistin wollte eine Revolution anstoßen. Mit der Macht des Stiftes wollte sie der gegenwärtigen Dunkelheit ein Ende bereiten. Wer hat ihre Worte verstanden? Ihr seid alle tot, lebende Leichen! Wenn sollte sie aufwecken? Ich bin aufgewacht! Und jetzt gehe ich, nachdem ich gute Arbeit geleistet habe. […] Die Juristen, die Uniformenträger, die Politiker haben ihre Rechtschaffenheit verkauft. […] Unser einer winzigen Wanze gleichendes Nachbarland [Pakistan…] träumt davon, unser Land zu zerstören. Sie können diesen Traum nur deshalb träumen, weil sie wissen, dass wir in diesem Land alle Leichen sind. Niemand hier hat Mitleid mit dem eigenen Heimatland. […] Ach macht doch weiter, wie ihr wollt. Aber ich will nicht wie ein Eunuch leben!“5

Gerade als Pratap sich die Schlinge selbst um den Hals legen will, überbringen zwei Beamte einen Begnadigungsbrief der Premierministerin. Da der Verurteilte als vorbildlicher Patriot gehandelt habe, sollen ihm seine Taten vergeben werden. Das Volk feiert seinen Helden. Der Film endet mit der Nahaufnahme eines Ehrenfeuers auf einem Mamorsockel, darüber prangt der Schriftzug: ‚This is the beginning‘ – dies ist der Anfang.

gulāmī karne ki ādat paḍe hī. pahale rājā-mahārājāo ki gulāmī ki, phir angrezoṅ ki, ab chun gaddāra neta or gundoṅ. […] kalam valī baai kranti lāna chāhti thi…kalam ke zor par kāle vartmān ko khatam karna chahtī thī..kaun samjhā uskī bāt ko? sab sāle murde, zindā lāshe… kise jagāti vho? main jāg gayā…kuch achhā kām karke jā rahā huṅ… […] yha khānūn vale, vardi vale, neta…jinhone apnā imāndārī bec diyā […] ek pissū jaisā hamārā yh paḍosī mulk… hamāre desh ko toḍne ka sapna dekhte hī. Vh yh sapna dekh sakte hain..kyoṅki mālum hai ki yahan murdo ka desh vatan ke liye kisī ko koi hamdardī nahiṅ. jiyo bhai, jīo, jaise chahiye vaise jīo. Maiṅ yh hījrā ki zindagī jīnā nahiṅ chāhtā!“.

5„tumko

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In Krantiveer lassen sich zwei emotionshistorische Veränderungen deutlich nachvollziehen: Ein gesteigertes Misstrauen gegenüber dem regulierendem „System“ als Ganzes und die Veränderung von rechtschaffen(d)er Wut von einem Konzept zur Verteidigung des Nehruvianismus hin zu einem Instrument der politischen Mobilisierung im Sinne Hindu-nationalistischer Ideologien. Galt das Misstrauen in den früheren Filmen einzelnen korrupten Beamten und der Justiz, richtet es sich nun gegen den Status quo als Ganzes. In den frühen Filmen des Genres galt der nerhuvische Staat durch einzelne korrupte Beamte und eine Minderheit unpatriotischer Bürger geschwächt. In den Angry Young Man-Filmen seit Mitte der 1980er Jahre ist das Vertrauen in den Staat, die Nation und das Volk verloren. Die Grundstimmung der Filme ist pessimistisch und bildet so eine Grundlage für wachsendes Ressentiment (Jensen 2017, S. 15). Ihre Metaphorik schlägt nicht mehr vor, den kranken indischen Staat zu heilen, sondern einen neuen starken, autoritären und wehrhaften Staatsapparat zu schaffen. Die Semantik der konservativen Revolution tritt prominent in den Vordergrund. Die Kriegsrhetorik gegenüber Pakistan – dem äußeren Feind, der sich mit den inneren Feinden der Nation (unpatriotische Bürger, Muslime) gegen Indien verbündet – passt in dieses Bild. Referenzen zum sozialistischen Indienbild entfallen in Angry Young Man-Filmen der zweiten Phase. Die Farbe Rot, die immer noch mit hoher ­ Symbolkraft eingesetzt wird, ist nun nicht mehr ein ästhetischer Signifikant zur Verbindung von Wut und Sozialismus, sondern von Wut und Hinduismus – dem roten Stirnzeichen (Tilaka), den rot gefärbten Devotionalien, die im Gebet eingesetzt werden. Demokratie und Säkularismus werden im Sinne eines populistischen Hindu-Nationalismus ausgelegt. Demokratie sei, wenn die hinduistische Mehrheit einen Nationalstaat auf der Grundlage von HinduTraditionen und Moralvorstellungen aufbauen könne. Säkularismus sei, wenn sich Muslime, Christen und Sikhs als Minderheiten zu diesem Staat und dem Hinduismus als Leitkultur bekennen. So ist es ein muslimischer Familienvater, der in Krantiveer im Anschluss an die religiösen Unruhen von Pratap belehrt werden muss. Pratap zerschmettert seinen eigenen Finger und den des Moslems mit einem Stein und vermischt ihr Blut in seiner Hand: ‚Welches Blut ist Moslem-Blut, welches Blut ist Hindu-Blut?‘6 Pratap reibt dem Mann das Blut auf den Kopf, spricht dabei Gebete beider Religionen. Blut und Boden seien es, die das indische Volk einten. Der Mann entschuldigt sich für sein kommunalistisches Denken.

6„batao,

musilman ka khūn kaunsa, hindu ka khūn kaunsa?“.

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Diese Ideologie von Blut und Boden ist typisch für hindufundamentalistische Argumentationen im Zusammenhang mit ihrem Geschichtsbild von Indien als Land der Hindus, dessen Bevölkerung durch muslimische (Moghul-Herrschaft) und christliche (Britische Herrschaft) Herrscher unterjocht und religiös entzweit wurde. Mithilfe von Hindutva (Engl. ‚Hindu-ness‘) als Staatsideologie müssten die Inder ihr Land wieder vereinen. Dies bezieht sich auch auf die Teilung Britisch-Indiens in die Staaten Indien und Pakistan. Aus Sicht der Hindu-Fundamentalisten gehörten die Territorien beider Staaten zu einem ­ traditionell zusammengehörigen Land (Banerjee 1991). In Coolie sah man noch Szenen des Gebets und Feierlichkeiten verschiedener Religionsgemeinschaften. In Krantiveer sind es ausschließlich Hindu-Gebete und Feste. Hier dominieren die Gottheiten Shiva und Durga, die beide mit gerechtem, göttlichem Zorn assoziiert werden. Eine Feierlichkeit zu Ehren der Göttin Durga nutzt Pratap, um mit einem als Musikinstrument getarnten Maschinengewehr den Anschlag auf Chattursingh zu verüben. Im traditionellen Gewand und mit dem blutroten Tilaka auf der Stirn eröffnet er das Feuer im Angesicht der Rachegöttin. Zweitens: Die Filme zielen zunehmend auf die Mobilisierung von Wut. In den frühen Angry Young Man Filmen konnte sich das Volk darauf verlassen, dass der wütende Held für Gerechtigkeit sorgt; das Volk wählte sich einen starken, wütenden Vertreter. Während Iqbal stellvertretend für die Volksgemeinschaft die Bösewichte aus dem sonst funktionierenden demokratischen System entfernt, stärken die Coolies Iqbal mit ihrer Hoffnung und Zustimmung. Die Angry Young Man-Filme seit Mitte der 1980er Jahre weiten das Heldennarrativ aus. Jeder könne und müsse mittels rechtschaffen(d)er Wut zum Helden werden, damit sich das indische Volk aus seiner kollektiven Opferrolle befreien könne. Diese Ideologie zeigt sich auch in der Körperlichkeit der Angry Young Men und ihres Framings. Amitabh Bachchan war als wütender Held eine körperliche Ausnahmeerscheinung. Mit seinen 1,88 Metern Körperlänge war er mit Abstand der größte Schauspieler seiner Generation. Unnachahmlich ist auch seine kraftvolle tiefe Stimme. Diese Merkmale körperlicher Überlegenheit setzten Regisseure und die Stunt- und Fight-Choreographen ein, um dem Helden ein larger-than-life Image zu geben. Die unter anderem auf gegebener körperlicher Überlegenheit beruhende heroische Wut ließ sich nicht kopieren. Sunny Deol und Nana Patekar hingegen repräsentierten den jungen wütenden Jedermann. Insbesondere Filme wie etwa etwa Ghayal (Verwundet 1990) oder Ghatak (Tödlich 1996) zeigen, wie der zum Opfer gewordene junge Mann durch Training, Body Building oder harte körperliche Arbeit zu seinem muskulösen Körper kommt. Die Überlegenheit an Mut und Kraft des neuen Angry Young Man ist nicht von Natur gegeben, sie ist hart erarbeitet und gelernt. Mit Disziplin, Patriotismus

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und motiviert von rechtschaffen(d)er Wut könne sich der junge Mann selbst vom Opfer zum heldenhaften Vorzeigebürger wandeln. Rechtschaffen(d)e Wut rehabilitierte damit verletzte Männlichkeit – auf individueller und nationaler Ebene: Pratap verkündet in seiner Abschlussrede, er könne nicht angepasst an das politische System als „Eunuch“ (napunsak) leben. Auch der Film Ghayal proklamiert, dass die dem derzeitigen System angepasste Staatsdiener und Bürger ihre Männlichkeit (mardānki) verleugneten, schwach (kamzor) seien und von der dekadenten und verweiblichten Führungselite eines ‚verrotteten Systems‘ (saḍā huā system) sozial entmannt (napunsak) würden. Die Stärkung des einzelnen Mannes zum Wutbürger stärke die indische Nation. Filmmagazine dieser Zeit beinhalten zahlreiche Werbungen für Kampfsportvereine und Bodybuilding-Geräte. Dabei richtete sich die filmische Semantik nun gezielt an die wachsende Mittelklasse, junge Männer mit guten persönlichen Voraussetzungen für den sozialen Aufstieg und Angst vor Arbeitslosigkeit. Diese Gruppe sprach beispielsweise der Mobilisierungsfilm Ankush (Anstoß 1986) an. Die Hauptfigur, ebenfalls gespielt von Nana Patekar, resümiert: „Die gut ausgebildeten Jungs der Mittelklasse werden doch heute von zwei Seiten geschlagen. Nur zwei Arten von Leuten bekommen heute Arbeit: Die ganz unten, die die harte körperliche Arbeit machen und die ganz oben. Das Leben der Leute in der Mitte (bīce se bīc vale log) ist wie das Leben der Eunuchen (bīc vale, Leute der Mitte, Transgender) geworden.7

Das Zitat benennt eine reale Zukunftsangst: Hat der junge Mann keine Arbeit, kann er nicht heiraten und keine Familie gründen. Damit bleibt ihm ein höherer sozialer Status verwehrt. Organisationen wie beispielsweise die Shiv Sena in Maharsthtra (Shivas Armee) machten nicht Indiens kritische Wirtschaftslage für die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Männern in den Städten verantwortlich, sondern Überfremdung, die Reservierungspolitik in Colleges und im Staatsdienst für Angehörige der unteren Kasten sowie Initiativen zur Gleichstellung von Muslimen und Frauen. Durch Korruption würden die übrigen Ausbildungs- und Arbeitsplätze an die Söhne und Töchter der wohlhabenden Elite gehen. Der Film Ankush empfiehlt: ‚Frag nicht nach Deinen Rechten, schnapp sie Dir!‘8

7„yah zyādā paḍhe-likhe ab donoṅ taraf se māra gayā hai. āj kal to do hī logoṅ ko kām milta hai: jo bahut nīce hai, mazdūrī karte hai, ya to bahut uṅce. bīce se bīc vale logoṅ ka hāl to bīc vale jaise hogayā.“. 8„hak māṅge mat, chin lo!“.

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Immer mehr Filmemacher verstanden sich nun als politische Aktivisten, die den „tausenden ökonomisch entrechteten Jugendlichen (economically disenfranchised youths)“ eine Stimme gaben (Jacob 2009, S. 138–139). So wurde der Angry Young Man beispielsweise zum ‚mächtigsten Symbol massenhafter Identifikation für die Shiv Sena‘, die ihren jungen Mitgliedern versprach, sie zu patriotischen Helden zu formen.9 Die Shiv Sena organisierte Filmvorführungen von Ankush und Krantiveer als Rekrutierungsveranstaltungen. In den 1980er Jahren entwickelte sich die Organisation von einer regionalistischchauvinistischen Partei zu einer der wichtigsten Förderer der nationalistischen Hindutva-Ideologie, die für ihre Islamfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft berüchtigt ist. Der Politikwissenschaftler Jayant Lele (Lele 1995) beschreibt die Shiv Sena als eine der effizientesten Organisationen in der Mobilisierung, Kontrolle und Freisetzung von Wut und wütenden Mobs. In Interviews, die der Soziologe Gérard Heuzé (1995) in den frühen 1990er Jahren führte, begründeten junge Shiv Sainiks ihren Beitritt zu der Organisation mit Sätzen, die denen der Angry Young Men im Kino sehr ähneln: ‚Ich wollte für Gerechtigkeit kämpfen‘; ‚Man geht zur Sena weil man etwas [gegen das Unrecht] tun muss‘; ‚Wir mussten das Volk verteidigen.‘10 Mitglieder der Shiv Sena waren an den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen 1992 und 1993 in verschiedenen Bezirken Bombays beteiligt. Rund 900 Menschen, davon zwei Drittel Muslime, kamen bei den Unruhen ums Leben. Krantiveer nimmt mit seiner Szene der Nachbarschaftsgewalt direkten Bezug auf die Bombay Riots und präsentiert Gangster, korrupte Politiker und den unreflektierten Moslem als Auslöser für Gewalt. Die Unruhen von 1992 und 1993 fanden im Anschluss an Proteste von Muslimen statt, die gegen die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya durch Hindu-Fundamentalisten demonstrierten. Auch die Shiv Sena hatte zur Demonstration gegen die Existenz der Moschee aufgerufen, die angeblich so starke patriotische Gefühle von Trauer und Wut gegen den Islam in Indien ausgelöst habe, dass es zur spontanen Zerstörung der Moschee kam. Die Planung der Zerstörung bestreiten die beteiligten Organisationen bis heute (Appadurai

9„[…]

the most powerful mass symbol of identification for the Shiv Sena“ (Heuzé 1995, S. 224–225). 10„I wanted to fight for justice“; „You go to the Sena because you want to do something“; This situation is so unbearable, „I had to act“; „We had to defend the people.“ (Heuzé 1995, S. 217).

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2006). Die Rolle Hindu-Fundamentalistischer Organisationen in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen verschweigt der Film Krantiveer und präsentiert rechtschaffen(d)e Wut und Hindutva sogar als Lösung des Konflikts. Die Shiv Sena setzt das durch das Kino popularisierte Konzept der rechtschaffen(d)en Wut zur Legitimierung politischer Gewalt, als Mittel zur Verteidigung von Privilegien und der kulturellen Dominanz der ­ Hindu-Mehrheit ein. Seit Mitte der 1980er Jahre sind politische Organisationen, die Hindu-fundamentalistische Ideen vertreten, gewachsen. Hindutva ist in ­ politischen Diskursen zum Mainstream avanciert. Die Hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) konnte von 1998 bis 2004 als stärkste Kraft im Parlament die Regierung bilden, seit 2014 ist sie wieder in der Regierungsverantwortung und stellt den Ministerpräsidenten Narendra Modi.

4 Rechtschaffen(d)e Wut – Opferrolle – Bürgerrecht Wut birgt Chancen und Gefahren für demokratische Systeme. Der Historiker Ramchandra Guha schreibt über die wachsende Protest- und Mobilisierungskultur in Indien in den 1980er Jahren: „Von einer formal-politischen Warte aus betrachtet, sah es so aus als ob die indische Demokratie zersetzt und abgebaut würde. Von einem „sozialen“ Standpunkt aus gesehen jedoch, schien die indische Demokratie jedoch vertieft und bereichert zu werden“ (Guha 2007, S. 545).11

Rechtschaffen(d)e Wut prägte die indischen Politikgeschichte seit den 1970er Jahren im ideologischen Plural: In den Bewegungen von Adivasi und Dalits – Menschen mit Zugehörigkeit zu benachteiligten Kasten und Nachfahren Indiens indigener Völker, die ihre Bürgerrechte auf politische Anerkennung, Bildung und Partizipation einforderten; während der Arbeiterproteste für mehr Lohn im Great Mumbai Textile Strike, 1982; in der Argumentation hochkastiger junger Männer in der Anti-Mandal-Bewegung, die 1990 mit öffentlichen Selbstverbrennung gegen die auf dem Mandal Commission Report beruhenden Reservierung von

11Viewed

from the more formal, purely political side, it appeared that Indian democracy was being corroded and degraded. If one took a more „social“ view, however, it appeared that Indian democracy was, in fact, being deepened and enriched.

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Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für benachteiligte soziale Gruppen (etwa Dalits, Adivasi und andere niedrige Kasten) protestierten; in Kampagnen politischer Parteien des gesamten Spektrums, vom s­ozialistisch-demokratischen Congress bis zur Hindu-fundamentalistischen Shiv Sena. Rechtschaffen(d) e Wut mobilisierte Menschen zu politischem Handeln und erweiterte die Pluralität politischer Stimmen und Interessengruppen. Während Indiens Zivilgesellschaft bunter, aber auch fragmentarischer wurde, erstarkten mittels rechtschaffen(d)er Wut jene Akteure, die Pluralismus und Toleranz zuwiderhandelten. ­Hindu-Fundamentalistische Ideen und Pluralismus-Verdrossenheit wurden mehrheitsfähig. Die politischen Bewegungen benutzen unterschiedliche Praktiken, um ihre Wut auszudrücken, zu demonstrieren und zu fühlen. Das Spektrum reichte von friedlichen Protesten und der Produktion politischer Filme bis zu Mordanschlägen und Selbstverbrennung. Die Wut des Shiv Sainiks und die des Adivasi fühlten sich damit nicht gleich an. Dennoch teilen alle diese Protestbewegungen das Handeln auf der Grundlage der Semantik von rechtschaffen(d)er Wut, Opferrolle und Bürgerrecht, die auch durch das Kino zum populärsten politischen Gefühlskonzept geworden war: Die Demonstration von Wut galt als gerechtfertigt, patriotisch, heroisch und vernünftig, wenn Bürger im Namen des Volkes oder der Nation politische Veränderungen für mehr Gerechtigkeit forderten. Filme propagierten seit den 1980er Jahren sogar zunehmend, dass sich nur diejenigen als wahre Inder, Patrioten und rechtschaffene Bürger fühlen dürften, die auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Missstände mit Wut reagierten. Populäre Filme erzählten zudem rechtschaffen(d)e Wut als mechanistische Folge von seelischem Leid und oder körperlichem Schmerz, wodurch in zahlreichen Wut-Narrativen Menschen und Gemeinschaften in der Opferrolle als die besseren Bürger dargestellt werden, während diejenigen, die nicht leiden, als Komplizen ungerechter Politik vorgeführt werden. Gleichzeitig wurde die Intensität der Demonstration von Wut als Indikator für den Leidensdruck einer Interessengemeinschaft verstanden – umso lauter der Protest, umso tiefer sei die Wunde. Die Stimme gegen Ungerechtigkeit erheben und für sich und Seinesgleichen Gerechtigkeit fordern, wurde in populären Filmen und politischen Bewegungen gleichermaßen als Bürgerrecht verstanden. Gingen die staatlichen Institutionen nicht auf die Forderungen der Protestierenden ein, wurde dies als erneute Verletzung der Bürgerrechte einer ohnehin schon leidenden Volksgruppe verstanden und mobilisierte mehr Wut. Als co-konstitutive Semantik befeuerten Rechtschaffen(d)e Wut, Opferrolle und Bürgerrecht politische Auseinandersetzungen – Debatten und Gewalt gleichermaßen. Denn Indiens mobilisierte Zivilgesellschaf bestand nun aus

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mehreren in verschiedenen Punkten miteinander konkurrierenden Gruppen. Als politisches Instrument subalterner Gruppen, etwa der Dalits, wirkte Wut durchaus als politisches Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Durch die Verbesserung des Zugangs dieser sozialen Gruppe zu Bildung und Arbeit wurde ihre politische Präsenz gestärkt. Ähnlich wie auch die protestierenden Arbeiter stellen sie eine benachteiligte Gruppe im Sinne der positiven Wut-Theorien Peter Lymans und Mary Holmes dar, die ihren Protest ‚von unten‘ gegen ‚die da oben‘ richten, Bürger und Arbeitnehmer gegen die Elite. Doch hat Wut als politisches Gefühl nicht nur eine Stoßrichtung (siehe auch Ost 2004). Im Falle Indira Gandhis Politik während des National Emergency richtete sich die rechtschaffen(d)e Wut von ‚oben‘ nach ‚unten‘, von einer Regierung gegen oppositionelle Bürger. Im Falle der Hindu-Nationalisten, die Indiens Hindus (knapp 80 % der Bevölkerung) als eine von Überfremdung und Minderheitenpolitik bedrohte, nationale Volksgemeinschaft darstellen, dient rechtschaffen(d)e Wut als Instrument zur Verteidigung der Privilegien einer dominanten Volksgruppe. Als politisches Gefühl ist Wut komplex, vielfältig, und wandelbar. Sie wird von den verschiedensten Interessengruppen gefühlt und demonstriert: Von Minderheiten gegen Eliten, von Eliten gegen Minderheiten, von Regierungen gegen Bürger, von Bürgern gegen Regierungen und von einer sozialen Interessengruppe gegen eine andere. In der indischen Geschichte – die diesbezüglich sicherlich kein Sonderfall ist – wurde Wut von Akteuren eines breiten Spektrums politischer Ideologien eingesetzt, rechts wie links, populistisch wie realpolitisch. Sie ist nicht per sei ein antidemokratisches Gefühl, sondern birgt gleichermaßen Chancen und Gefahren für pluralistische Gesellschaften und demokratische Systeme – Gefahren vor allem dann, wenn die semantische Logik von rechtschaffen(d)er Wut, Opferrolle und Bürgerrecht nicht hinterfragt und als moralische Rechtfertigung für Gewalt und die Destabilisierung demokratischer Institutionen genutzt wird.

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