Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin: Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur 9783412318444, 3412078018, 9783412078010

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Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin: Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur
 9783412318444, 3412078018, 9783412078010

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K Ö L N E R GERMANISTISCHE

STUDIEN

Herausgegeben von G Ü N T E R BLAMBERGER, RUDOLF

DRUX,

ERICH KLEINSCHMIDT UND HANS-JOACHIM

Neue Folge Band 2

ZIEGELER

Annette Simonis

Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur

«

200I

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Simonis, Annette: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin: Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur / Annette Simonis. Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2001 (Kölner Germanistische Studien: Neue Folge; Bd. 2) ISBN 3-412-07801-8 © 2001 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91 39 00, Fax (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildung: Dragon's Tailnach einer Graphik von D.M.Jones Druck und Bindung: MVR-Druck GmbH Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-07801-8

Inhalt

Vorwort 1. Einleitung: 'Gestalt' und 'gestalten' - diskursgeschichtliche Variationen eines holistischen Konzepts „Alles Gestalt ... alles zweckend zum Ganzen": Goethes Gestaltkonzeption zwischen Biologie, Naturphilosophie und Ästhetik 2. 1 Straßburger Impressionen: Entelechie und Monument 2. 2 Der Elefant in der Porzellankiste oder die morphologischen Studien des Geheimen Rats 2. 3 „Glückliches Ereignis": Die Geburt des Weimarer Freundschaftsbunds aus dem Geist der Urpflanze 2.4 Das Dilemma der Morphologie nach Darwin - Diskurswandel und semantische Verschiebungen des Gestaltkonzepts

VII 1

2.

3. 3. 1 3.2 3. 3 3. 4 4.

4. 1 4. 2

4. 3 4. 4

Georg Simmeis Goethebuch - der Dichter als Wahrnehmungskünstler Moderne poetische und literaturtheoretische Kontexte Die Kunst des Sehens Gestalt und Entwicklung - Die Grenzen des morphologischen Blicks Die Kulturtheorie der Moderne und das Faszinosum der Goethe-Nachfolge Gestaltpsychologie und Gestaltkultur - Ein ästhetisches Konzept macht Karriere in den modernen Wissenschaften Entdifferenzierung und literarische Moderne Gestalt als Schlüsselbegriff Die 'Erfindung' der Gestaltpsychologie durch Christian von Ehrenfels und ihre Verlängerungen in der neueren Kulturtheorie Zwischen Temporalisierung und Einheit der Erfahrung: Zur deutschen Bergson-Rezeption um 1900 Cassirers Symbole der Kultur - Die Philosophie der Form auf der Schwelle zur modernen Kulturtheorie

23 23 34 57 70

84 84 89 97 106

119 119

129 149 176

VI 5.

Inhalt 'Gestalt' oder 'Gehalt? Kontroversen um Oskar Walzels literarische Stilforschung

198

5. 1 Kontroverse Stimmen aus der scientific Community -

Reaktionen und Rückblicke auf Walzels Ansatz 5. 2 Walzels Stilforschung im Kontext - Probleme der 'Neugermanistik' um und nach 1900 5. 3 Genealogisches: Shaftesburys Piatonismus und die Entdeckung der Inneren Form' 5. 4 Erste eigene Ansätze: Zwischen Sprachstil und •wechselseitiger Erhellung' 5. 5 Zwischen Innovation und Anpassung: Kritik und Neuformulierung 5. 6 Gestalt als Volkwerdung' - Josef Nadler adaptiert die Gestaltidee für die völkisch-nationale Germanistik 6.

6. 1 6. 2 6. 3 6. 4 6. 5 6. 6

Poetologische und ästhetische Neuansätze in den Texten Carl Einsteins. Kritische Auflösung des Gestaltkonzepts im Begriff der Metamorphose oder Rückkehr zur Morphologie? Verborgener Klassizismus des Frühwerks Funktionalisierung der Form im Spannungsfeld zwischen Ästhetizismus und moderner Kultursemiotik Negerplastik - Die Sehnsucht nach plastischem Sehen oder die Eigenlogik der ästhetischen Gestalt Kubistische Raumkonstruktionen Geheimer Motor der ästhetischen Produktion die Metamorphose ? Entwurf einer ästhetischen Theorie der Moderne oder Abrechnung mit Kunst und Poetik der Avantgarde? Einsteins kunstphilosophische Bilanz im Spätwerk

7. Walter Benjamins 'Kritik der Gestalt' 7. 1 Die Signatur der metaphorischen Schau. Potenzierung und Entleerung in Shakespeares Komödien 7. 2 'Dissonanzen im Bilde des Wahren'. Hölderlin-Lektüren 8.

Ausblick: Zur Logik der Gestalt in der Moderne - Zwischen Kulturwissenschaft, Chaostheorie und Metaphysik

Siglenverzeichnis Bibliographie Personenregister Sachregister

198 201 205 210 228 238

257 257 270 279 296 302

311 323 338 346

366 389 390 407 410

Vorwort 'Gestalt' bezeichnet eine ganzheitliche Grundkategorie, die in einem interdisziplinären Überschneidungsfeld auf reges Interesse gestoßen ist und bis heute in der modernen Kognitionspsychologie, der Metaphernforschung, der Linguistik, der Ästhetik, der Kulturtheorie und der Biologie kontrovers diskutiert wird. Der Gestaltbegriff steht aber zugleich auch - ähnlich wie das Wort 'Bildung' - für eine typisch deutsche Diskurstradition. Deshalb ist er über die wissenschaftliche Fachdiskussion hinaus von Bedeutung und verspricht, mentalitätsgeschichtliche Einblicke zu enthüllen, die mit der neuzeitlichen Kulturgeschichte im deutschsprachigen Raum aufs engste verknüpft sind. Als holistische Figur transportiert die Gestaltkonzeption ein utopisches Potential, das von einem spezifischen Einheits- und Identitätsversprechen getragen wird. Eine zusätzliche Faszination gewinnt der Gestaltbegriff nicht zuletzt dadurch, daß er immer wieder kreative Denker und Schriftsteller wie z.B. Goethe, Carl Einstein und Walter Benjamin sowie namhafte Kulturwissenschaftler, etwa Georg Simmel und Ernst Cassirer, in seinen Bann gezogen hat. Dabei erfährt das Konzept recht unterschiedliche, individuelle Ausprägungen, die indes bei aller Verschiedenheit eine gemeinsame Linie - den roten Faden einer wechselvollen Diskursgeschichte - zu erkennen geben. Ziel der folgenden Studie ist es, die verborgene Geschichte des Gestaltkonzepts in der deutschsprachigen Literatur und Kultur vom 18. bis ins 20. Jahrhundert zu rekonstruieren, um dabei schrittweise die kulturgeschichtliche Relevanz jenes Denk- und Schreibmodells zu entschlüsseln. Die vorliegende Untersuchung wurde in den Jahren 1996-1998 durch ein Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Ergebnisse der Studien, die in diesem Band vorgestellt werden, wurden nach Abschluß der För-

VIII

Vorwort

derungsdauer nochmals durchgesehen, teilweise überarbeitet und erweitert. Mein besonderer Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Karl Otto Conrady, durch den mein Interesse an Goethes Werk und dessen Denkfiguren allererst geweckt und durch vielfältige Anregungen im Laufe meines Studiums bereichert wurde. Ferner bot mir die Teilnahme an dem internationalen Heidelberger DFG-Symposion zum Thema „Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung" im September 1998 die günstige und einmalige Gelegenheit, durch persönlichen Austausch mit den Teilnehmern meine Erkenntnisse in den weiteren, aktuellen forschungsgeschichtlichen Kontext einzuordnen und aufschlußreiche Beziehungen meines Themas zu derzeit brisanten wissenschaftstheoretischen Diskussionen zu entdecken. So verdanke ich nicht zuletzt den an dem genannten Symposion beteiligten Kolleginnen und Kollegen wichtige Anregungen für die eigene Arbeit aus persönlichen Gesprächen und den Tagungsdiskussionen. Stellvertretend für viele andere sei hier besonders Jürgen Fohrmann, Ralph Klausnitzer, Rainer Kolk, Detlev Schöttker und Rudolf Stichweh herzlich gedankt. Nicht weniger zu Dank verpflichtet bin ich den Kölner Wissenschaftlern und Kollegen, die meine Studien Vor Ort' mit regem Interesse und Anteilnahme verfolgt haben und mich durch anregende Diskussionen und anhaltende Gesprächsbereitschaft unterstützt haben, ganz besonders den Professoren Rudolf Germer, Erich Kleinschmidt und Wilhelm Voßkamp.

1. Einleitung 'Gestalt' und 'gestalten' - Diskursgeschichtliche Variationen eines holistischen Konzepts

„Allen Programmen der Kunst liegt voraus das Wunder der Wiedererkennbarkeit. Es wird durch erlesene Formen bewirkt. Eine Gestalt ist wiedererkennbar, wenn sie zunächst in der Natur und dann als künstlich geschaffene vorkommt. Ein Bison bleibt ein Bison, wenn er an die Höhlenwand projiziert wird. "J

Wie die eingangs zitierten Überlegungen Niklas Luhmanns dokumentieren, ist Gestalt eine zentrale ästhetische Grundkategorie, die auch aus der modernen Kunsttheorie um die Jahrtausendwende nicht wegzudenken ist. Die Frage nach der ästhetischen Werkgestalt hängt dabei aufs engste zusammen mit einem Problem, mit dem sich jeder Künstler, ob Maler, Dichter oder Komponist, konfrontiert sieht: mit dem Problem des Formens und des Wiedererinnerns der Gestalt. Gemeint ist ein Vorgang, der sich in den verschiedensten materiellen und medientechnischen Gegebenheiten bewähren muß: „Materialdifferenzen können auf diese Weise überbrückt werden. Ein menschlicher Kopf bleibt ein Kopf - ob in Ton oder in Stein, ob auf Vasen oder auf Wände gezeichnet."2 In diesem Sinne kann man sagen, daß der Gestaltgebung sogar eine gewisse „Indifferenz gegen Situationen, Kontexte Materialien" zukommt, mit denen sie es zu tun hat. Der Gestaltbegriff scheint aus heutiger Sicht, wie die gewählten Zitate aus der modernen soziologischen Kunsttheorie verdeutlichen, fast völlig mit dem Formbegriff identisch. Form Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 318. 2 Ebd., S. 318. 1

2

Einleitung

und Gestalt sind beinah gegeneinander austauschbar, sind weitgehend synonym geworden. Das war nicht immer so, wie ein Blick auf die (aufschlußreiche) Vorgeschichte jenes Konzepts in der modernen Literaturgeschichte im folgenden zeigen soll. Die oberflächliche Evidenz der Bedeutungsgleichheit ist trügerisch, denn noch immer schwingen im Gestaltbegriff - bei genauerem Hinsehen - unterschwellig gewisse Konnotationen mit, die dem Formbegriff fehlen. Den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen bildet ein auf den ersten Blick völlig unscheinbarer und harmloser Übersetzungsfehler, dessen eigentümliche Brisanz sich erst bei genauerer Betrachtung entfaltet. In der deutschen Übersetzung von Ernst Cassirers im amerikanischen Exil verfaßter kulturwissenschaftlicher Studie An Essay on Man findet man im 9. Kapitel, das dem Bereich der Kunst gewidmet ist, einen Hinweis auf die zentrale Bedeutung eines Konzepts der Ästhetikdiskussion des späten 18. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um die Vorstellung der „lebenden Form" (engl, „living form"), 3 als die der deutsche Klassiker Schiller das ästhetische Phänomen der Schönheit definiert haben soll. Die Schillersche Formulierung, die Cassirer im Englischen mit „living form" umschrieben hat, lautete indessen ursprünglich gar nicht, wie der Übersetzer Reinhard Kaiser vermutete, 'lebende Form', sondern vielmehr emphatischer: „lebende Gestalt". Was hat es mit dieser merkwürdigen, im Kontext der modernen Kulturtheorie etwas altmodisch klingenden Bezeichnung - 'Gestalt' - auf sich, für die es in den westeuropäischen Sprachen offenbar kein präzises Übersetzungsäquivalent gibt und die dort deshalb nur annäherungsweise mit dem Formbegriff wiedergegeben werden kann? Obwohl der Begriff 'Gestalt' dem der Form semantisch offenkundig nahe steht, lassen sich bei näherer Betrachtung signifikante Unterschiede erkennen. Im Gegensatz zu Form ist Gestalt ein typisch deutsches Wort, für das es - ähnlich wie für den Bildungsbegriff - in den anderen modernen europäischen Spra3

Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1990, S. 255.

Einleitung

3

chen kein genaues semantisches Pendant zu geben scheint. Zeichnet sich doch der Gestaltbegriff durch eine geheimnisvolle und suggestive Aura aus, durch die Idee einer rätselhaften Totalität, gleichwohl diese emphatischen Konnotationen heute fast in Vergessenheit geraten sind. Nicht zufällig mißt Schiller der Idee der lebenden Gestalt' eine zentrale Bedeutung innerhalb seines Entwurfs einer 'ästhetischen Erziehung des Menschen' bei, kommt ihr doch die wichtige und ehrenvolle Aufgabe zu, zwischen zwei auseinander strebenden, wenn nicht gar diametral entgegengesetzten anthropologischen Neigungen, dem Stofftrieb und dem Formtrieb, zu vermitteln und beide in einer höheren Synthese aufzuheben, die nur im Bereich der Kunst möglich sei. Im freien ästhetischen Spiel soll jene übergreifende Einheit in der Differenz hergestellt und jene unwahrscheinliche Vermittlung des zuvor Auseinanderstrebenden und Disparaten vollzogen werden: „Der Gegenstand des Spieltriebs, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient."4 Welche sonderbare Emphase dem Gestaltbegriff anhaftet, wird vor allem dadurch ersichtlich, daß er - wie kaum ein anderes abstraktes ästhetisches Konzept - von den Assoziationen des Naturhaften und Lebendigen umgeben ist. Das gestaltete Kunstwerk, obgleich an und für sich ein genuin künstliches Objekt, verrät in Schillers Entwurf nichtsdestoweniger ein sonderbares 'Eigenleben' und verbreitet ein spezifisches Pathos des Lebendigen, wie es die paradoxe Pointe der kunstphilosophischen Argumentation entdeckt: „Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichtsdestoweniger lebende Gestalt durch den Architekt oder Bildhauer werden."5 Unverkennbar eignet der Gestaltvorstellung eine besondere Ausstrahlung, die nicht zuletzt auf einem für sie typischen 4

s

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen. Mit einem Nachwort von Käte Hamburger, Stuttgart 1965, S. 59. Ebd., S. 59.

4

Einleitung

ganzheitlichen Harmonieversprechen beruht. Folgerichtig muß Schiller annehmen, daß der Mensch erst im Anblick der gestalthaften Schönheit seine volle Humanität erreichen könne, da jene ästhetische Erfahrung ein Doppeltes leistet und, paradox genug, zwei einander im Grunde gegenläufige Bewegungen in Gang zu setzen vermag : „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben."6 Wenn Schiller dem Gestaltkonzept an der zitierten Stelle ein derartiges, ganzheitliches Bildungsprogramm zumutet und an ihm ein quasi-universelles Syntheseversprechen abliest, so steht er - wie noch zu zeigen sein wird - innerhalb der modernen Diskursgeschichte des genannten Begriffs keineswegs allein da. An die Gestaltkonzeption knüpfen sich Erwartungen, Versprechungen und Hoffnungen, die mit der eigentlichen Semantik und schlichten Wortbedeutung auffallend kontrastieren. Wer in der deutschsprachigen Literatur über 'Gestalt' oder 'Gestalten' geschrieben hat - und das gilt noch bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der suggeriert dem Leser stillschweigend meist mehr als die Rede über bloße Formen oder Strukturen. Es gibt, mit anderen Worten, ein Ensemble zumeist unausgesprochener Leitannahmen, die sich an den Gestaltbegriff knüpfen, ein Gewebe von impliziten Vorstellungen, die aufs engste mit ihm verflochten sind. Die Reflexion über Gestalt verspricht ihren Verfechtern, Antworten oder zumindest Hinweise zu geben, um das Rätsel des Lebendigen und des Ursprungs der Formen zu lösen (Goethe), das Geheimnis der Kreativität zu enthüllen (Simmel), das Zustandekommen der schönen bzw. stimmigen Form oder die Bedingungen des gelungenen Kunstwerks (Carl Einstein, Adorno) zu beleuchten. Im folgenden gilt es, genau jene latente Semantik des Gestaltkonzepts zu rekonstruieren und die unausgesprochenen Voraussetzungen aufzudecken, die sich darin verbergen. Es geht um die Rekonstruktion einer in der Sprachstruktur des deutschen Begriffs selbst angelegten oder zumindest von ihr begünstigten Mentalitätsgeschichte, deren sukzes6 Ebd., S. 71.

Einleitung

5

sive Etappen in den Schriften von Goethe, Simmel, Walzel, Einstein u n d Benjamin sichtbar werden, die hier exemplarisch zugrunde gelegt werden. Die Liste der angeführten Vertreter des Gestaltdenkens (und ihrer Kritiker) ließe sich durch andere Namen wie z. B. Ernst J ü n g e r oder Theodor W. Adorno ergänzen u n d u m ein Vielfaches erweitern. Daß die Gestaltkonzeption im Verlauf ihrer neuzeitlichen bzw. modernen Wirkungsgeschichte so vielfältige Anhänger gefunden hat, mag zu keinem geringen Teil daran gelegen haben, d a ß sie sich mit der Idee des menschlichen Körpers berührt, wenn nicht sogar aufs engste verschränkt hat. Die besondere anthropomorphe Qualität des Gestaltkonzepts verleiht dieser Denkfigur eine eigentümliche sinnliche Ausstrahlung u n d umgibt sie mit den Assoziationen einer nahezu unmittelbaren körperlichen Präsenz. Zugleich macht die genannte anthropologische Färbung der gestalthaften Struktur das Konzept anfällig für bestimmte normative Vorgaben u n d Festschreibungen, wie zum Beispiel für die Idee eines spezifischen idealen Menschentyps, möglicherweise sogar, wie einzelne Fälle (etwa der Germanist Josef Nadler u n d der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger) nahelegen zu vermuten, anfällig dafür, Elemente der nationalsozialistischen Rassenideologie aufzunehmen u n d durch sie mißbraucht zu werden. Ehe die weitere Entwicklung des Gestaltdiskurses näher beleuchtet werden soll, empfiehlt es sich jedoch, zu den historischen Ausgangsbedingungen jener Denkfigur in der 'Goethezeit' zurückzukehren. Bereits im Verlauf des 18. J a h r h u n d e r t avanciert das Wort Gestalt in Deutschland zum Generator eines eigenen Diskurses, der seine eigentliche Hochkonjunktur indessen erst etwa ein J a h r h u n d e r t später erreichen sollte. 7 Allerdings sollte das Vertrauen in holistische Denkfiguren u n d Ästhetikmodelle in der Moderne weder ungebrochen noch unangefochten bleiben. Auf7

Durch die Verschränkung mit dem vitalistischen Lebensbegriff erhält das Gestaltkonzept im 19. Jahrhundert neue Impulse und erfährt - wie andere Diskurselemente in jenem Zeitraum - eine plötzliche innere Dynamisierung. Vgl. dazu auch Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 282-287.

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Einleitung

grund ihrer ganzheitlichen Natur müßten jene Gestaltmodelle in der mehr und mehr auf funktionsorientierte Spezialisierung und Arbeitsteilung setzenden Moderne8 eigentlich zunehmend unwahrscheinlich werden. Ungeachtet dessen läßt sich beobachten, daß die Konjunktur des Gestaltbegriffs im Prozeß der fortschreitenden Modernisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert eher noch gestiegen ist. In dem Augenblick, in dem der Gestaltdiskurs eigentlich von der Bildfläche verschwinden müßte, erleben seine Elemente und Denkfiguren eine unerwartete Renaissance und begegnen neuartigen 'Karrierechancen'. Die Faszination ganzheitlichen Gestaltdenkens erreichte ihren Höhepunkt um die Jahrhundertwende, als sich eine eigene, nach ihm benannte wissenschaftliche Disziplin herausbildete, die sogenannte 'Gestaltpsychologie', die bekanntlich durch den Wiener Philosophen Christigin von Ehrenfels ins Leben gerufen wurde. Ehrenfels war der Auffassung, sogenannte Gestaltqualitäten bzw. ganzheitliche Wahrnehmungsbilder entdeckt zu haben, die sich im menschlichen Bewußtsein bei jeder Sinneswahrnehmung spontan einstellten.9 Es handelte sich, wie Ehrenfels meinte, um Wahrnehmungstotalitäten, die sich nicht einfach als Addition von Einzelimpressionen und heterogenen sinnlichen Daten begreifen ließen, sondern als mit der empirischen Erfahrung gleichursprüngliche und irreduzible Ganzheiten.10 Was Ehrenfels als den nicht näher analytisch zu durchdringenden Mehrwert jeder empirischen Sinneserfahrung definierte, erwies sich in der Folgezeit nicht zuletzt deshalb als überaus attraktiv, weil es je nach Bedarf sehr unterschiedlich gefüllt und inhaltlich spezifiziert werden konnte. Wie kaum ein anderer Kunsttheoretiker der Moderne hat Adorno sich die These von der Existenz eines gestaltförmigen Vgl. zu diesem Problemzusammenhang etwa Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbände, Frankfurt a. M. 1997 und ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984. 9 Vgl. Christian von Ehrenfels, Ober 'Gestaltqualitäten' (1890), in: ders., Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie. Philosophische Schriften. Band 3, hg. Reinhard Fabian. Mit einer Einleitung von Peter Simons. München, Wien 1988, S. 128-155. 10 Vgl. ebd., S. 130-132. 8

Einleitung

7

Mehrwerts im menschlichen Wahrnehmungsakt unbewußt zu eigen gemacht und deren Flexibilität genutzt, um die besondere ästhetische Differenz der Kunst im Vergleich zur alltäglichen Realität zu definieren: „Das Illusionäre der Kunstwerke hat in den Anspruch sich zusammengezogen, ein Ganzes zu sein ... in der Positivität seines eigenen Auftretens liegt immer auch der Gestus eines Mehr, ein Pathos, dessen noch das radikal unpathetische Werk sich nicht entäußern kann."11 In diesem Zusammenhang wird sogar der Gedanke einer in der modernen Wirklichkeitserfahrung an und für sich unwahrscheinlichen Identität der ästhetischen Werke mit sich selbst, wie wir ihn von Schiller her schon kennen, wiederbelebt: „...man malt, nach Schönbergs Wort, ein Bild, nicht, was es darstellt. Von sich aus will jedes Kunstwerk die Identität mit sich selbst, die in der empirischen Welt versäumt wird."12 Cassirer, der etwa um dieselbe Zeit in Berlin sein Studium begann, während der Ehrenfels lehrte, war mit dem seltsamen Faszinosum der Gestaltkonzeption noch wohl vertraut und kannte die ihr eigentümlichen holistischen Implikationen. Verglichen mit dem utopischen Ganzheitsversprechen, das von der ästhetischen Gestalt ausgeht, vermag das neutralere Formkonzept, so läßt sich vorläufig resümieren, aus der Sicht der Gestaltliebhaber allenfalls durch (formale) Eleganz und mathematische Ökonomie zu beeindrucken. Es ist jedenfalls, so viel mag hier im Vorgriff auf die eingehendere Darstellung im vierten Kapitel vorweggenommen werden, in mancher Hinsicht symptomatisch für das besondere Profil von Cassirers modernem kulturtheoretischen Modell, daß es an zentraler Stelle auf Komponenten des Gestaltdiskurses zurückgreift, um diese in die eigene Theorie der symbolischen Formen systematisch zu integrieren. In den nachfolgenden Untersuchungen geht es darum, die inzwischen vielleicht schon im Halbdunkel der (neuzeitlichen) Vergangenheit liegende Geschichte des Gestaltdiskurses zu rekonstruieren, um dabei zugleich seine eher bescheidenen An11

12

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 155 - 156. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 14.

8

Einleitung

sätze in der Naturtheorie des 18. Jahrhunderts, seine glanzvollen Höhepunkte sowie seine merkwürdigen Verwicklungen und Verirrungen in der modernen Ästhetik und den sich stetig weiter ausdifferenzierenden Wissenschaften zu erfassen. Zu fragen wäre in diesem Kontext aber ebenso, warum jenes ehemals so erfolgreiche Konzept auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert plötzlich in Vergessenheit geraten scheint, und weshalb es dort, wo man ihm heute noch in seltenen Augenblicken begegnet, wie ein 'lebendes Fossil' anmutet. Oder gibt es vielleicht doch eine verborgene Präsenz jener ganzheitlichen Formvorstellung möglicherweise unter anderem Namen - in den aktuellen kulturtheoretischen und ästhetischen Debatten? In der Tat läßt sich eine lang anhaltende Wirkungsmächtigkeit und -intensität jenes ästhetischen Modells beobachten und sein nachhaltiger Einfluß auf die modernen Kunst- und Kulturtheorien sich bis weit ins zwanzigste Jahrhundert verfolgen. Die Gestaltbefürworter sehen sich allerdings zunehmend in die Defensive gedrängt. So meint Dieter Henrich jener „Einheitssinn des Kunstwerks", auf dem „auch seine Bedeutsamkeit" beruhe,13 werde in der zeitgenössischen Theoriebildung durchaus tiefgreifend in Frage gestellt. Was die aktuelle, durch den französischen Poststrukturalismus und den amerikanischen Dekonstruktivismus gleichermaßen erschütterte Ästhetikdiskussion betrifft, so diagnostiziert Henrich wohl zu recht ein „wachsendes Mißtrauen gegen die Erwartung leichter Integration" sowie skeptische Zurückhaltung gegenüber einer im wesentlichen aus der klassisch-romantischen Epoche stammenden ästhetischen Begrifflichkeit, die inzwischen in weiten Teilen als obsolet gelte.14 Trotz gewisser Vorbehalte gegenüber dem ererbten ganzheitlichen Kunst- und Werkbegriff, wie er in der neuzeitlichen Tradition ästhetischer Theoriebildung seit Alexander Baumgarten fest verwurzelt ist, halten einige neuere Kunst- und Kulturwissenschaftler dennoch an der Notwendigkeit einer ästhetischen bzw. poetologischen Integrationstheorie' fest, zumal 13

"

Dieter Henrich, Theorieformen moderner Kunsttheorien, in: Theorien der Kunst, hg. Dieter Henrich und Wolfgang Iser, Frankfurt a. M. 1982, S. 11-32, hier: S. 12. Ebd., S. 14.

Einleitung

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keine der partikularen Kunsttheorien aufgrund ihrer je eingeschränkten Reichweite dem Kunstphänomen als solchem in allen seinen Implikationen u n d möglichen Gegebenheitsweisen gerecht zu werden vermöge. Henrich resümiert in diesem Sinne: „Neben den neuen analytischen Ansätzen u n d den genetischen Ortsbestimmungen des ästhetischen Phänomens u n d des Kunstbegriffs müssen aber auch die Versuche zur integrierten Theorie fortbestehen." Während keine einzige der kurrenten analytischen Ansätze die Hoffnung auf eine universell gültige Kunsttheorie ermutigen kann, 1 5 so die Argumentation, erfülle die holistische Kunsttheorie demgegenüber noch immer die Funktion, das „volle Phänomen der Kunst in der Interdependenz aller seiner Wirklichkeitsaspekte im Blick zu halten." 16 Es kann mithin kein Zweifel bestehen, daß die Gestaltkategorie auch im ausgehenden 20. J a h r h u n d e r t eine wichtige Rolle spielt u n d als maßgebliches Schlüsselkonzept in einem interdisziplinären Überschneidungsfeld zwischen Ästhetik, Literaturtheorie, Sprachwissenschaft u n d Kulturtheorie weiterhin wirksam bleibt. Neben entschiedenen Verfechtern der Gestaltlehre u n d Gestaltapologeten, 17 regen sich mitunter auch skeptische u n d abwägend-kritische Stimmen. 1 8 Zugleich hat die wissenschaftliche Gestalttheorie, insbesondere die ganzheitliche Wahrnehmungspsychologie in der Nachfolge von Ehrenfels, inzwischen systematische wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen angeregt, wie zum Beispiel die ü b e r a u s sachkundige Studie des amerikanischen Wissenschaftlers Mitchell Ash. 19 Auch die vor15

Vgl. ebd., S. 15. 16 Ebd., S. 16. 17 Vgl. z.B. Ulla Fix, Gestalt und Gestalten. Von der Notwendigkeit der Gestaltkategorie für eine das Ästhetische berücksichtigende Stilistik, Zeitschrift für Germanistik, N.F. 6 (1996), S. 308-323. 18 Vgl. Michael Franz, Die Zweideutigkeiten der Gestalt oder taugt 'Gestalt' noch als ästhetischer Grundbegriff?, Weimarer Beiträge 41 (1995), S. 519

28.

Vgl. die aufschlußreiche und sachkundige Untersuchung von Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture. 1890-1967. Holism and the quest for objectivity. Cambridge: University Press 1995, vgl. ferner: ders., The Emergence of Gestalt theory. Experimental Psychology in Germany 1890-1920, Diss. Harvard University 1982, ders., Gestalt

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Einleitung

liegende Untersuchung will sich keineswegs zum Richter aufschwingen, um in der Kontroverse um den Gestaltbegriff und in der Frage nach seiner Angemessenheit innerhalb der modernen Kunst- und Literaturtheorie ein abschließendes Urteil zu fällen. Da die mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des Konzepts außer Frage steht, ist es der hier unternommenen Studie darum zu tun, an sie anzuknüpfen, um den genauen Stellenwert zu erhellen und zu ermitteln, den jene in mancher Hinsicht typisch deutsche Denkfigur im Verlauf ihrer wechselhaften Diskursgeschichte einnimmt. Worin liegt nun, so wäre zu überlegen, die besondere, bleibende Faszination begründet, die vom Gestaltmodell vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert über alle sonstigen, in jenem Zeitraum stattfindenden mentalitätsgeschichtlichen und soziokulturellen Veränderungen hinweg auszugehen vermochte? Gewisse, wenn auch eher bescheidene Aufschlüsse vermittelt die Etymologie des Wortes 'Gestalt', das sich - wie das Grimmsche Wörterbuch sachkundig informiert 20 - von althochdeutsch 'stellan' (setzen, stellen) herleitet, eigentlich ein Partizip des Präteritum darstellt und in der nominalen Form (im Singular) erst seit dem Mittelhochdeutschen geläufig ist. 'Gestalt' meint

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Psychology in Weimar Culture. History of the Human Sciences 4 (1991), S. 395-415, ders., Gestalttheorie, in: Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, hg. Lutz Danneberg, Andreas Kamiah und Lothar Schäfer, Braunschweig, Wiesbaden 1994, S. 87-100. Vgl. auch: Ralf Klausnitzer, Fallstudien als Instrument der interdisziplinären Wissenschaftsforschung - am Beispiel der Wiederentdeckung des Gestalt-Begriffes in den 30er/40er Jahren, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, hg. Jörg Schönert, Stuttgart, Weimar 2000, S. 209-256. Im Gegensatz zu Ashs mehr oder weniger unparteilicher Darstellung versucht Ralf Klausnitzer, die Gestaltkonzeption positiv zu bewerten und als wichtigen Anreger interdisziplinären Austauschs zu würdigen. Dieser Vorschlag ist in der Diskussion des Beitrags allerdings auch auf Kritik gestoßen. So hat Rudolf Stichweh zu bedenken gegeben, das holistische Lösungsangebot des Gestaltbegriffs sei (mit der möglichen Ausnahme der Gestaltpsychologie) nicht mehr ganz zeitgemäß und - gemessen an den differenzierteren Paradigmen der modernen Wissenschaften - wohl zu reduktiv, um noch auf allgemeine Akzeptanz zu stoßen. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band IV, Erste Abteilung, Zweiter Theil, Leipzig: Hirzel 1897, Sp. 4177-4190.

Einleitung

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also das Produkt oder Ergebnis eines aktiven, wenn nicht sogar schöpferischen Vorgangs, vergleichbar etwa dem Verb und abgeleiteten Substantiv 'bilden' - 'Gebilde'. Zieht man eine erste Bilanz aus den eher trockenen und spröden sprachhistorischen Daten, dann wird ersichtlich, daß der Gestaltbegriff über eine eigentümliche Semantik des Schöpferischen verfügt, die alles andere als nüchtern und sachlich anmutet. Die Gestaltsemantik erfordert konsequenterweise ein Agens, die charismatische Figur eines gestaltend Tätigen und Wirkenden. Zur Gestalt gehört, mit anderen Worten, mit einer nahezu unwiderlegbaren inneren Folgerichtigkeit und Plausibilität ein Akteur - der 'Gestalter'.21 Welchen Nachdruck die Idee einer in den Gebilden selbst konzentrierten, gleichsam hochdosierten Kreativität mitunter annehmen kann, geht beispielhaft aus den Schriften Cassirers hervor, der im ersten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen programmatisch notiert: „Freilich bleiben wir ... in einer Welt der "Bilder' befangen - aber es handelt sich nicht um solche Bilder, die irgendeine an sich bestehende Welt der 'Sachen' wiedergeben, sondern um Bildwelten, deren Prinzip und Ursprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist."22 Jene kreative Komponente, die in der einen oder anderen Weise in die Begriffssemantik des Worts eingegangen ist und die Imagination des Benutzers beflügelt, wird uns im folgenden noch näher beschäftigen. Am Gestaltbegriff bewährt sich mithin in besonderer Weise das, was Nietzsche im Rahmen seiner allgemeinen sprachkritischen Reflexionen die „Philosophie der Grammatik"23 nannte. Wie Nietzsche in seiner kritischen Analyse des 'metaphysischen' Subjektbegriffs in den indogermanischen Sprachen24 diagnosti21

22

23

24

Vgl. ebd., Sp. 4191. Grimm zitiert August von Platens pointierte Formel: „Doch nur Gestalt entzücke den Gestalter." Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache. Darmstadt 1964, S. 48. Nietzsche vertritt die These, den indogermanischen Sprachen sei eine „gemeinsame Philosophie der Grammatik" inhärent (Werke in drei Bänden, hg. Karl Schlechta, München 1966, II, S. 586). Vgl. zu diesem Thema: Josef Simon, Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der meta-

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zierte, setzen nicht nur transitive Verben wie 'gestalten', sondern selbst die sogenannten Witterungsverben, also Phänomene wie 'regnen', 'schneien' oder 'blitzen' u n d ähnliche Verbformen in den indogermanischen Sprachen in der Regel ein Agens u n d einen zugrundeliegenden kreativen Vorgang voraus, der in der okzidentalen Mentalität durch die grammatische Satzstruktur selbst suggeriert werde. 25 Dabei schleicht sich unter der Hand die Vorstellung eines Täters ein, der in Formulierungen wie 'es blitzt' oder 'es hagelt' noch in dem eigentlich semantisch leeren, aber nichtsdestoweniger obligatorischen unpersönlichen Füllwort 'es' greifbar wird. 26 Ähnliches gilt offenbar auch für das Substantiv Gestalt, das, obgleich nicht einmal ein Verb, dem Sprecher oder Zuhörer untergründig eine bemerkenswerte Aktivität suggeriert. J e n e Diagnose Nietzsches trifft auf die Bezeichn u n g 'Gestalt' nämlich in weit größerem Maße zu als auf das a u s dem Lateinischen entlehnte Substantiv 'Form', da ihre sprachliche Binnenstruktur für den deutschsprachigen Benutzer gewissermaßen 'durchsichtiger' ist u n d daher weit mehr geeignet, bestimmte Konnotationen wachzurufen. Über ein rein sprachhistorisches Interesse weit hinausgehend, ist in diesem Zusammenhang also die Tatsache von Belang, daß die morphematische Struktur des Worts 'Gestalt' es den Sprecherintuitionen nahelegt, das bezeichnete Signifikat als Produkt einer Handlung zu sehen, als Ergebnis eines agentisch gedachten Vorgangs. In dieser Hinsicht gibt es eine aufschlußreiche Parallele zwischen dem Gestaltbegriff u n d dem Bildungsbegriff, der mit einem ähnlich wirkungsmächtigen agentischen Assoziationspotential besetzt ist. Wie Cassirer anhand der Semantik des Verbs 'bilden' u n d der zugehörigen nominalen Ableitungen zu verdeutlichen vermag, läßt sich seit dem ausgehenden 17.

25 26

physischen Tradition, Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 1-26. Vgl. ferner: Annette Simonis, Sprache und Denken - Sprachreflexion bei Karl Philipp Moritz und Friedrich Nietzsche, Lili: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 25 (1995), Heft 99, S. 124-133. Vgl. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. Karl Schlechta, München 1966, Band II, S. 586. Vgl. Nietzsche, Werke, Band III, S. 502: „Wenn ich sage 'der Blitz leuchtet', so habe ich das Leuchten einmal als Tätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert."

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Jahrhundert im deutschen Sprachraum eine Tendenz beobachten, „alles geistige Sein" auf einen „ursprünglichen schöpferischen Prozeß" zurückzuführen, „alle Gebilde" aus „Grundformen und Grundrichtungen des 'Bildens'" herzuleiten.27 In dem Maße, in dem das Wort Gestalt eine latente Semantik der Kreativität und des künstlerischen Schaffensprozesses enthält und bei jedem kommunikativen Gebrauch unterschwellig mittransportiert, nimmt es ein besonderes, noch genauer zu definierendes Profil an. Im Gestaltbegriff verbirgt sich ein charismatisches Potential, das im Verlauf seiner neuzeitlichen Sprach- und Diskursgeschichte nach und nach in ihn investiert worden ist. In ihm sind, mit anderen Worten, soziale Energien gebündelt, die bei Bedarf wieder aktiviert und freigesetzt werden können. Wie man sich eine solche 'Speicherung' und den Transport von kulturspezifischen 'Energien' vorzustellen hat, haben in jüngster Zeit die Vertreter des amerikanischen New Historicism in einer Reihe von aufschlußreichen Untersuchungen gezeigt.28 Als kulturelle Träger sozialer Energien können sehr unterschiedliche Erscheinungen wie beispielsweise Rituale, gesellschaftliche Konventionen, ästhetische Werke sowie Artefakte aller Art fungieren. Derart auratisierte bzw. bedeutungsvolle 'Zeichen' wandern innerhalb eines gegebenen kulturellen Systems vom Zentrum zur Peripherie einer Gesellschaft und wieder zurück, wie Stephen Greenblatt am Beispiel des Exorzismus und seiner Darstellung auf der Bühne der Shakespeare-

27

Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Band I, S.

28

Vgl. H. Aram Veeser (Hg.), The New Historicism, New York/ London 1989. Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u. a., Frankfurt a. M. 1995. Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988 und ders., Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Oxford 1991. Vgl. auch meinen Einführungsessay: New Historicism und Poetics of Culture: Renaissance Studies und Shakespeare in neuem Licht, in: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, hrsg. Ansgar Nünning, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1995, S. 153-172.

88.

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zeit überzeugend dargelegt hat.29 Es kommt zu einer eigentümlichen und bisweilen schwindelerregenden Zirkulation der kulturellen Signifikate, die, von der Dynamik ihrer Natur nach unberechenbarer sozialer Austauschprozesse erfaßt, den Intentionen und Zielen ihrer Urheber, Erfinder und Benutzer immer wieder entgleiten. Aber gerade dadurch, daß sich die kulturellen Symbole und Zeichen der individuellen Kontrolle weitgehend entziehen und auf ihrem Weg durch das soziale Gefüge und die Geschichte teilweise kollektiven Formationsbedingungen und Einflüssen ausgesetzt sind, erhalten sie ein besonders einflußreiches und wirkungsmächtiges Profil. Stephen Greenblatt hat die charismatische Wirkung einzelner überlieferter Kulturgegenstände und die charakteristische Reaktion, die sie im modernen Beobachter hervorrufen, mit den suggestiven Begriffen „resonance and wonder", Resonanz und Verwunderung, umschrieben: „By resonance I mean the power of the object displayed to reach out beyond its formal boundaries to a larger world, to evoke in the viewer the complex dynamic cultural forces from which it has emerged and for which as metaphor or more simply as metonymy it may be taken by a viewer to stand, by wonder I mean the power of the object displayed to stop the viewer in his tracks to convey an arresting sense of uniqueness, to evoke an exalted attention."30 Einzelne Objekte verfügen, so Greenblatt, über die Kraft, über ihre formalen und gegenständlichen Grenzen hinauszureichen, um im Betrachter den Eindruck einer unübertroffenen Einzigartigkeit zu erwecken und von daher eine herausragende Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Im scheinbar marginalen Detail können sich - mit anderen Worten - die übergreifende Dynamik der größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge und die epochenspezifischen Spielregeln der soziokulturellen Transaktionen mitunter schlaglichtartig äußern. Obwohl Greenblatt in der zi-

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30

Vgl. Stephen Greenblatt, Shakespeare and the Exorcists, in: ders., Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988, S. 94-128. Stephen Greenblatt, Resonance and Wonder. In: Learning to curse. Essays in Early modern Culture, New York, London 1990, S. 161-183, hier: S. 170.

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tierten Darstellung in erster Linie an die (empirische) Beobachtung konkreter kultureller Artefakte u n d ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen denkt, läßt sich der beschriebene Vorgang ohne größere Modifikationen auch auf sprachliche Ausdrücke wie den Gestaltbegriff übertragen, weil die Sprache bekanntlich selbst ein integraler Bestandteil der menschlichen Kultur ist. 31 Zudem haftet dem Gestaltkonzept, wie wir noch sehen werden, eine Tendenz zur Anschaulichkeit u n d Konkretheit an, die innerhalb der geläufigen ästhetischen u n d kunstphilosophischen Terminologie ihresgleichen sucht u n d unwillkürlich die Konnotationen realer Gegenständlichkeit weckt. 'Gestalt' gehört - denkt man Greenblatts kulturpoetologische Analyse konsequent weiter - zu jenen suggestiven Wörtern, die, aufgeladen mit besonderem Charisma, dazu prädisponiert sind, kulturelle Energien auszustrahlen. Letztere haben sich, wie m a n im 20. J a h r h u n d e r t im Rückblick auf eine mehr als 200 J a h r e umfassende moderne Wirkungsgeschichte erkennen muß, noch keineswegs völlig erschöpft u n d enthalten noch immer eine gewisse Anziehungskraft, u n d sei es nur ein winziges Q u a n t u m ihrer ehemaligen 'Leuchtkraft' u n d Suggestivität. Zunächst sei jedoch an die spezifisch neuzeitliche 'Erfindung' oder Wiederentdeckung des Gestaltbegriffs in der beginnenden Moderne erinnert. Auch wenn die begriffsgeschichtlichen Wurzeln u n d der Ursprung der Bezeichnung weiter zurückliegen mögen, so läßt sich doch eine richtungweisende Neuformulierung jenes Konzepts im Verlauf des 18. J a h r h u n d e r t entdecken, die ihre prototypische Definition nicht von ungefähr durch Goethe erhalten hat. So ist es kein Zufall - u n d nicht Ergebnis einer unreflektierten, automatischen Kanonorientierung - wenn im folgenden Kapitel die Goethesche Morphologie in den Mittelp u n k t der Untersuchung rückt. Denn in diesem Zusammenhang scheint es nicht unwesentlich, sich zu vergegenwärtigen, d a ß der Gestaltbegriff von Anfang an mit der Goetheschen Aura aufs engste verschränkt ist u n d im deutschen Sprachraum von 31

Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache. Darmstadt 1964, passim.

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dort einen wesentlichen Teil seiner Attraktivität bezieht. Erst vor der Folie der engen Verbindung des zu diskutierenden Konzepts mit dem deutschen 'Nationalautor' kann die bemerkenswerte Erfolgsgeschichte jener Denkfigur in der Moderne plausibel u n d , damit verbunden, die sich aufdrängende Vermutung bestätigt werden, daß es sich bei der betreffenden Diskurslinie offenbar u m einen deutschen Sonderweg handelt, 3 2 der mit der im späten 19. J a h r h u n d e r t florierenden Idee einer 'Nationalkultur' u n d dem Auftrag der 'Klassikpflege' aufs engste verschränkt ist. Daher wendet sich die vorliegende Studie zunächst der morphologischen Formvorstellung Goethescher Herkunft zu, u m von diesem "klassischen' Ausgangspunkt die eigentümliche Karriere des Konzepts in der Moderne zu begreifen u n d weiter zu verfolgen. Bildet Goethes Naturtheorie u n d Poetik den glanzvollen Auftakt einer wirkungsmächtigen Diskurstradition, so soll die Trivialisierung u n d ideologische Vereinnahmung jener morphologischen Konzepte klassischer Provenienz, wie sie sich während des Nationalsozialismus abzeichnete, keineswegs verschwiegen oder gar geleugnet werden. Mitchell Ash hat gezeigt, d a ß die Gestaltpsychologen im Dritten Reich, soweit sie sich nicht - wie der jüdische Forscher Max Wertheimer u n d sein Kollege Wolfgang Köhler - zur Emigration gezwungen sahen, d u r c h a u s den Weg der Anpassung wählten u n d teilweise sogar die Rassenideologie der Nazis umworben haben. 3 3 Eine ähnliche nationale Einfärbung erhält die Gestalt-Idee auch im Rahmen eines in den vierziger J a h r e n in Halle veran32

Da die Idee deutscher Sonderwege in der Forschung überstrapaziert wurde und auf unterschiedlichen Gebieten Anwendung gefunden hat, ist diesem Konzept gegenüber - wie gegenüber allen Schlagworten grundsätzlich eine gewisse Skepsis geboten. Vgl. diesbezüglich besonders Conrad Wiedemann, Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage, in: Klassik im Vergleich. DFGSymposion 1990, hg. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1993, S. 541-569. 33 Vgl. Mitchell G. Ash, Gestalt psychology in German culture. 1890-1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge: University Press 1995, Teil IV: Under Nazism and after: Survival and adaptation, besonders Kapitel 19: Persecution, emigration, Köhler's resistance in Berlin, S. 325-342 und Kapitel 20: Two students adapt: Wolfgang Metzger and Kurt Gottschaidt, S. 342-362.

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stalteten interdisziplinären Kolloquiums, bei dem eine rege Debatte u m die adäquate Methodologie in den damaligen Naturwissenschaften geführt wurde. Es bildete sich dabei unter anderem eine explizite Frontstellung gegen die westliche Naturwissenschaft heraus - unter Berufung auf eine vermeintlich deutsche morphologische Tradition u n d die Autorität Goethes, die sich von der analytischen Methodik der post-cartesianischen u n d post-newtonschen Denktradition scharf abzusetzen suchte u n d gegen diese polemisierte. Karl Robert Mandelkow hat im Blick auf diesen Zusammenhang zu Recht auf die ideologische Besetzung der Goetheschen Morphologie in den dreißiger u n d vierziger J a h r e n aufmerksam gemacht. In der 1940 erschienenen, von Wilhelm Troll u n d dem Chemiker Karl Lothar Wolf gemeinsam verfaßten Programmschrift „Goethes morphologischer Auftrag" 34 wurde in diesem Sinne die vermeintliche „Blindheit" der europäischen, exakten Naturwissenschaften gegenüber derjenigen „sich der Quantisierung entziehenden Eigenschaften der Welt" bemängelt, worunter die Verfasser bezeichnenderweise auch „die Gestalt in allen ihren Formen" subsumierten. 3 5 Es gehöre demgegenüber, so die Meinung der Autoren, zu den „vornehmsten Aufgaben" einer spezifisch „deutschen Naturwissenschaft", dem bisher „bloß verwalteten Erbe Goethes" in sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen zum Durchbruch zu verhelfen. 36 Die deutsche Naturwissenschaft erwog in den dreißiger u n d vierziger Jahren, indem sie die Goethesche Morphologie zum transhistorisch gültigen, 'deutschen' Wissenschaftsideal hypostasierte, demnach zeitweilig einen nationalen Sonderweg, der, wäre es so weit gekommen, - pointiert gesagt - einen Rück34

Wilhelm Troll und Karl Lothar Wolf, Goethes morphologischer Auftrag. Versuch einer naturwissenschaftlichen Morphologie, 2. durchgesehene Auflage Halle 1942 [Reihe: Die Gestalt 1], Vgl. auch Wilhelm Troll, Wiedergeburt der Morphologie aus dem geist deutscher Wissenschaft, in: Die Gestalt 2, Halle 1942, S. 148-157, ders. Organisation und Gestalt im Bereich der Blüte, Berlin 1928 und ders. (Hg.), Goethes Morphologische Schriften, Jena 1926. 35 Vgl. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. I-II, München 1980-89, Band II: 19191982, S. 47. 36 Ebd., S. 47.

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schritt um fast zwei Jahrhunderte (auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand des 18. Jahrhunderts) bedeutet hätte. Wie es heißt, sind die Nazis auf jene 'Annäherungsversuche'jedoch nicht eingegangen, und zeitweilig wurden die modernen Gestaltadepten sogar durch die Dienststelle Alfred Rosenbergs mißtrauisch beobachtet und bespitzelt. Man hielt die „Hallischen Gestaltler" für spekulative Metaphysiker und mystische Träumer, die sich selbst und die Bedeutung ihres Ansatzes maßlos „überschätzten" und bei denen man deshalb darauf sehen müßte, daß sie innerhalb der festen Grenzen ihres Fachs blieben.37 Auch in Österreich gab es etwa zur gleichen Zeit engagierte Gestalttheoretiker und 'Gestaltsucher'. Ausgehend von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften hat Ferdinand Weinhandl in einer großangelegten Studie, wenn auch nicht mit demselben missionarischen Anspruch eines 'morphologischen Auftrags', die gestaltorientierte Verfahrensweise zur grundlegenden Konzeptualisierungsform des menschlichen Denkens, Forschens und Dichtens erhoben.38 (Die Vorliebe für triadische Schemata ist übrigens nicht zufällig, untermalten diese doch wirkungsvoll die quasi-magische Faszination der Gestalttheorie.) Angesichts eines solch breiten Spektrums von Anwendungsmöglichkeiten und deren Hang zur ideologischen Überformung bzw. Entstellung scheint eine gewisse Skepsis gegenüber der Logik ganzheitlicher Denkfiguren und den morphologischen Diskursen im 20. Jahrhundert geboten. Es ist indessen auch wiederum nicht zu übersehen, daß die Reduktion bzw. der Mißbrauch der morphologischen Prinzipien und affiner ganzheitlicher Denkfiguren innerhalb des nationalsozialistisch geprägten Wissenschaftsideals deren grundsätzliche erkenntnistheoretische Relevanz noch nicht per se diskreditiert. Für einen bleibenden wissenschaftlichen Stellenwert der 37

Vgl. Ralf Klausnitzer, Fallstudien als Instrument der interdisziplinären Wissenschaftsforschung - am Beispiel der Wiederentdeckung des Gestalt-Begriffes in den 30er/40er Jahren, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, hg. Jörg Schönert, Stuttgart, Weimar 2000, S. 209-256, hier S. 248.

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Gestaltpsychologie sprechen nicht zuletzt die differenzierten Weiterentwicklungen ihrer Erkenntnisse in der modernen Linguistik und den Kognitionswissenschaften.39 Auch handelt es sich, betrachtet man die Genealogie des Gestaltschemas genauer, keineswegs um eine typisch wissenschaftliche Traditionslinie, wie ein Blick auf die moderne Ästhetikdiskussion zeigt. Um 1900 wurden solche Totalitätskonzepte im deutschsprachigen Raum vielmehr häufig unter dem Eindruck der im Bildungsbürgertum verbreiteten Goethe-Rezeption sowie als Reaktion auf die Lektüre von modernen Texten aus dem Umkreis des französischen Symbolismus entwickelt und gelangten von dort in die poetologischen Schriften der literarischen Moderne. Der Georgekreis bietet das wohl prägnanteste Beispiel für den genannten rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang,40 deren genuin poetisches Potential hier besonders evident wird. George prägte im Rahmen eines Kommentars zu Mallarmé im Siebenten Ring auch den Begriff des 'Denkbilds' - der in mancher Hinsicht 38

39

40

Vgl. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. II, S. 47. Vgl. zum Beispiel Ray Jackendoff, Semantics and Cognition, Cambridge, Massachusetts, London 1983, S. 23-29. In den „Blättern für die Kunst" und den im Verlag Bondi erschienenen Werken Georges und seiner Schüler begegnet man nicht von ungefähr einer bemerkenswerten Koinzidenz von einer intensiven SymbolismusRezeption und der Akzentuierung der Gestaltfigur als erkenntnisleitender sowie poetischer Schlüsselkategorie. Zu diesem Überlagerungsphänomen vgl. meine Studie: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Habilitationsschrift, Köln 1998, bes. Kapitel 3 und 7. Zum Gestaltkonzept Georges und seinen hermeneutischen Implikationen vgl. ferner die aufschlußreiche Dissertation von Gerhard Zöfel, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt a. M. 1987. Besonders in den Werken Friedrichs Gundolfs wird die Gestaltkategorie als übergreifender Synthesemodus von dichterischem Leben und Werk stark gemacht und hier wiederum vor allem im Goethebuch (1. Auflage 1916). Vgl. dazu Hans Martin Kruckis, 'Ein potenziertes Abbild der Menschheit.' Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf, Heidelberg 1995, S. 296 333, bes. S. 302. Vgl. ferner: Rainer Kolk, Von Gundolf zu Kantorowicz. Eine Fallstudie zum disziplinaren Umgang mit Innovation, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, hg. Jörg Schönert, erscheint Stuttgart, Weimar 2000, S. 195-208.

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den anschaulichen Konzepten der Gestaltlehre affin ist. Im George-Kreis wurde 'Gestalt' nicht von ungefähr als Inbegriff des 'Dichterischen' gefeiert und zum poetischen Programm erhoben. So heißt es in der Vorrede zur ersten Ausgabe der DanteÜbersetzung in diesem Sinne, die Trias „ton bewegung gestalt" sei der Anfang und unhintergehbare Grund „aller neuen dichtung" (G X/XI 5).41 Es ist ebenso symptomatisch für die innere Logik des Gestaltdiskurses wie für die eigentümliche Poetik Georges selbst, wenn der Dichter an anderer Stelle 'Gestalt' und 'Bildung' miteinander aufs engste verschränkt. (Auf eine gewisse Affinität und semantische Nähe der beiden Konzepte wurde oben ja bereits hingewiesen.) Besteht doch spätestens seit Schiller eine latente Neigung zur Anthropomorphisierung des Gestaltkonzepts. Gestalt behauptet dann nichts weniger als die höhere, analytisch nicht weiter aufzulösende bzw. zu erhellende Einheit von Textualität und 'Leben'. Den Gestaltungsprinzipien der literarischen Produktion entspricht ein Vorgang tiefgreifender Veränderung, der sich, so George, im Autor wie im Werk gleichermaßen vollziehe: In das „reich des Geistes (!)" wird bezeichnenderweise nur derjenige aufgenommen, der zuvor - in bewußter Anspielung auf die adamitische Namensgebung - einen neuen Namen erhalten hat und, so die implizite Annahme, eine völlig andere Person geworden ist. Der Anthropomorphisierung der Literatur korrespondiert gemäß dieser Vorstellung eine analoge Ästhetisierung der Person des Autors: „Dies ist reich des Geistes: abglanz/ Meines reiches hof und hain./ Neugestaltet umgeboren/ Wird hier jeder" (G VIII 83). 41

Georges Texte werden zitiert nach folgender Ausgabe: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin Bondi 1928 ff. (Sigle G). Anläßlich seiner Dante-Übersetzung erwähnt George diejenigen Kategorien des literarischen Textes, die in seiner Dichtungsauffassung die Definition des Poetischen schlechthin ausmachen. Für den Übersetzer wie für den Lyriker George wird das Gestalttheorem in Verschränkung mit semantisch verwandten Bezeichnungen nunmehr zum emphatisch verwendeten Zentralbegriff seiner Ästhetik, der im Teppich des Lebens variierend als „großer feierlicher hauch" (G V 13), im Jahr der Seele als „schönes bildnis" (G IV 40) und im Stern des Bundes in der negativen Steigerung „schön wie kein bild und greifbar wie kein träum" (G VIII 8) als rätselhafte Totalität umschrieben wird.

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Wie aus den oben zitierten Zeilen erhellt, gehen in Georges 'Lehre' das Gestalttheorem und das Bildungskonzept eine folgenreiche, enge Synthese ein, die in ihren Implikationen noch näher zu untersuchen wäre. So viel läßt sich indessen schon jetzt ersehen: George brachte im deutschsprachigen Raum eine Texttheorie und Poetik in Umlauf,42 die zwar moderne, genauer: symbolistische Angregungen verarbeiteten, aber nur zu dem Ziel, sie mit dem Goetheschen Erbe zu einer eigentümlichen Mischform und neuen Totalitätsidee zu verschränken. Dabei hat er der morphologischen Formkonzeption klassischer Herkunft eine epochentypische, spezifisch ästhetizistische Kontur verliehen. Wenn George zugleich das hochgesteckte Ziel verfolgte, ästhetische Form und organische menschliche Bildung miteinander zu verschmelzen, dann konnte er mit dieser Überblendung und Synthese aus künstlerischer Wahrnehmung und Naturbeobachtung ebenfalls auf das Goethesche Vorbild zurückblicken. So jedenfalls suggerierte es eine um 1900 verbreitete Goethedeutung auf die im Laufe der Untersuchung noch zurückzukommen sein wird (vgl. Kap. 3). Von George wiederum gingen maßgebliche Impulse aus, die die moderne Kultur- und Kunstphilosophie inspirierten (Vgl. dazu vor allem Kap. 3.1 und 4). Es zeigt sich bereits, daß die Diskursgeschichte der Gestaltidee um 1900 einen Punkt erreicht hat, an dem sie sich in ein ganzes Netz von unterschiedlichen Entwicklungslinien auffächert, sich mit anderen, ihr bislang fremden Traditionen verschränkt und Anregungen bzw. Argumentationsmuster in die verschiedensten modernen Wissensbereiche ausstrahlt. Zu42

Adorno verlängert jene Tradition bis zu Benjamin, diagnostiziert bei diesem allerdings aufschlußreiche Divergenzen vom Georgeschen bzw. Mallarmeschen Prototyp: „Mit diesen habe Benjamins Konzeption „nur noch gemein, daß gerade solchen Erfahrungen, die der trivialen Ansicht als bloß subjektiv und zufällig gelten, Objektivität zugesprochen, ja, daß Subjektives überhaupt nur als Manifestation eines Objektiven begriffen" werde (ebd., S.27). Zu dem von Benjamin initiierten neuen Prosagenre vgl. ferner: Frank Dietrich Wagner, Das Denkbild. Eine Prosaform bei Walter Benjamin, Oldenburg 1990. Vgl. Theodor W. Adorno, Benjamins Einbahnstraße (1955), in: Ders., Ober Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel und Briefe, hg. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 27.

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nächst aber bietet es sich an, zur eigentlichen Initialzündung der Konzeptgeschichte, die später als deren legendäres Ursprungsmoment immer wieder genannt werden sollte, zurückzukehren und das schon mehrfach genannte Prinzip der morphe in seiner prototypischen Goetheschen Ausprägung näher zu betrachten.

2. „Alles Gestalt ... alles zweckend zum Ganzen": Goethes Gestaltkonzeption zwischen Biologie, Naturphilosophie und Ästhetik „Dies war die 'Natur', die er in Italien suchte, die ihm die beruhigende Gewißheit gab, daß sein innerstes Wesen kein vom Weltwesen losgerissenes, auf metaphysische Einsamkeit angewiesenes Atom war. Und sie konnte ihm das leisten, weil er in ihr die Versöhnung auch des objektiven Risses: zwischen der Wirklichkeit und der Idee ... als eine anschauliche, künstlerisch vollbrachte wiederfand." (Simmel, Goethe, S. 106)

2.1 Straßburger Impressionen: Entelechie und Monument Wer nach den ersten Ansätzen von Goethes Gestaltbegriff und seiner morphologischen Formkonzeption fragt, ist gut beraten, im Frühwerk zu blättern. Denn schon in den frühesten Aufzeichnungen, die noch Spuren von Gelegenheitsarbeiten tragen, macht sich jene ganzheitliche Gestaltorientierung bemerkbar, die von da an die kunstphilosophischen und theoretischen Schriften des Autors bis zu den späten naturphilosophischen Arbeiten leitmotivisch durchziehen und prägen sollte. In der 1772 erschienen Schrift Von deutscher Baukunst zieht Goethe aus seiner Straßburger Studienzeit eine erste kunstphilosophische Bilanz. Jener frühe Aufsatz wurde von der Goetheforschung denn auch des öfteren als Keimzelle seiner späteren Ästhetik gewürdigt.1 Hier sei die kunstvolle Balance zwischen den verschiedensten Erkenntnisinteressen des Autors, das harmonische Zusammenspiel von Naturbeobachtung, ontologi1

Vgl. Erich Trunz, Nachwort zu den Schriften zur Kunst, in: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. Erich Trunz, München 1981, Band 12, S. 551-564, hier S. 552 und 556-557.

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scher Wahrheitssuche und genuin künstlerischer Intention, zu der Goethe im Verlauf der Italienreise und in der Folgezeit gelangen sollte, im Kern bereits angelegt. Gerne zitiert man in diesem Kontext das Urteil Wilhelm von Humboldts aus der Rezension zu Goethes zweitem Römischen Aufenthalt. Dort vertritt Humboldt die These, Goethes „Dichtungstrieb" und sein „Drang, von der Gestalt und dem äußeren Objekt dem inneren Wesen der Naturgegenstände und den Gesetzen ihrer Bildung nachzuforschen," seien „in ihrem Prinzip eins und eben dasselbe."2 Erich Trunz hat, ganz in Einklang mit der durch Humboldt begründeten Auslegungstradition, gefolgert, daß aus allen Betätigungen Goethes dieselbe überragende Einheit in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen hervor „leuchtet".3 Nun mag man zugeben, daß der Gestaltbegriff selbst, den Goethe vielfach verwendet, in mancher Hinsicht durchaus eine solche Identitätslogik und ein Synthesemuster enthält, welches dem vergleichbar ist, das seine Interpreten suggerieren; aber es ist ebenso wichtig zu sehen, daß ein solches für den Autor selbst keineswegs unproblematisch und fraglos gegeben war. Wenn inzwischen Goethes Streben nach harmonischer, gestalthafter Bildung germanistisches Gemeingut geworden ist, so kaschiert dies die Tatsache, daß die Gestaltkonzeption für Goethe selbst keineswegs eine handliche Formel darstellte. Vielmehr fördert er in seinen Schriften, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, jene Spannungen und innere Widersprüchlichkeit zutage, die dem modernen 'Gestaltdiskurs', noch im Stadium seiner Genese befangen, bereits anhaften. Für Goethe ist der Gestaltbegriff, mit anderen Worten, noch nicht zu einem leicht zu handhabenden (weil reduktiven) Schema verblaßt, sondern er ist vielmehr Gegenstand wiederholter Definitionsversuche und eines sorgfältigen Studiums, da er allererst der Klärung bedarf. Daß sich Goethe dem Gestaltkonzept von verschiedenen Seiten und auf ganz unterschiedlichen Gebieten genähert hat, ist wohl weniger Indiz für die ungebrochene Einheit des umkreisten

2 3

Zitiert bei Trunz, ebd., Band 12, S. 551. Erich Trunz, Nachwort zu den Schriften zur Kunst, S. 551.

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G e g e n s t a n d s (wie noch Humboldt a n n a h m ) , als vielmehr Zeic h e n f ü r d e s s e n innere Vielschichtigkeit u n d Komplexität. Von d a h e r ist davon a u s z u g e h e n , d a ß der Autor sich in seiner Rolle als 'Diskursbegründer', die er u n b e w u ß t einnimmt, d u r c h a u s diesseits oder jenseits derjenigen Vereinfachungen u n d Reduktionen bewegt, die im wesentlichen - darauf wird noch a u s f ü h r licher z u r ü c k z u k o m m e n sein - P r o d u k t der s p ä t e r e n Rezeptionsgeschichte seiner Werke sind. In Wirklichkeit eröffnet Goethes Essay eine sehr viel subtilere Perspektive, als m a n auf den ersten Blick a n n e h m e n mag. Gleich eingangs bewegen sich die Reflexionen des Autors vor einem 'intermedialen' Horizont. Wenn seine Wahl bei der Suche eines geeigneten G e g e n s t a n d s dabei auf ein Beispiel a u s der Architektur - d a s S t r a ß b u r g e r Münster - fällt, so läßt sich zugleich beobachten, d a ß er j e n e s Bauwerk dabei a u c h als ein gen u i n literarisches sujet, genauer: als ein biblisches Motiv beh a n d e l t . Findet sich doch gleich zu Anfang von Goethes A u s f ü h r u n g e n eine bemerkenswerte Anspielung auf den T u r m b a u zu Babel: „Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, u n d bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie B ä u m e Gottes" (12, 7).4 D u r c h den Hinweis auf j e n e n a l t t e s t a m e n t a r i s c h e n Präzedenzfall u n t e r s t r e i c h t der Autor nicht allein die eigentümliche Dignität, die d a s Bauwerk Erwins von Steinbach 5 umgibt, sondern er m i ß t j e n e m z u d e m u n m i ß v e r s t ä n d l i c h eine exemplarische B e d e u t u n g bei. D a ß d a s im S t r a ß b u r g e r Münster verkörperte „neue Babylon" (12, 9) a n d a s alte mit seinen h ä n g e n d e n Gärten der Königin Semiramis, die zu den sieben Weltwundern gezählt werden, erinnert, bekräftigt den außerordentlichen, t r a n s h i s t o r i s c h e n Stellenwert, den Goethe in der gotischen Arc h i t e k u r des G e b ä u d e s zu entdecken glaubt. Wichtiger in u n s e rem Z u s a m m e n h a n g ist jedoch ein anderer G e s i c h t s p u n k t : Die 4 5

Goethes Werke werden zitiert nach der Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. Erich Trunz, München 1981. Erwin von Steinbach war bekanntlich lediglich der Architekt und Baumeister der Westfassade des Straßburger Münsters; Goethes euphorische und superlativische Darstellung suggeriert den Lesern indessen, er sei der Designer des ganzen Bauwerks gewesen.

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architektonische Leistung Erwins von Steinbach wird von Goethe von Anfang an mit dem Ästhetischen, der Idee des Schönen, in eine unmittelbare Verbindung gebracht. Nicht die gewaltige Größe, das Monumentale des Gesamteindrucks als solches, ist es, das die Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich lenkt. Vielmehr spielt die Idee einer das ganze Werk durchdringenden, noch in jedem augenscheinlich peripheren Ornament durchschimmernden Kompositionstechnik in der Goetheschen Darstellung eine wichtige, erkenntnisleitende Rolle. Mehr als das Bauwerk selbst, das fertige Ergebnis der künstlerischen und handwerklichen Bemühungen, beeindruckt Goethe an Erwin v. Steinbach ein einzigartiges Vermögen zur kreativen Gestaltung, eine ungeahnte und hemmungslose künstlerische Konstruktivität, deren Umsetzung und konsequente Durchführung sich in der konkreten Gestaltung bis ins kleinste Detail nachvollziehen lassen. Folgerichtig bewegen sich Goethes Reflexionen in einem Spannungsfeld zwischen einer partikularen Detailbeobachtung und einem weitschweifenden synoptischen Blick auf die Gesamtkomposition, zwischen der Wahrnehmung zahlreicher, zunächst disparater Einzelaspekte und dem schließlich vorherrschenden, überwältigenden Eindruck ästhetischer Totalität. Jene ganzheitliche Totalwahrnehmung, wie sie sich hier vorsichtig andeutet, ist nun für den Kunstbeobachter nicht ganz unproblematisch. Es versteht sich nämlich beinah von selbst, daß die kunstphilosophische Betrachtung selbst bei ihrem Versuch, einem derart sublimen Objekt mit den Mitteln der sprachlichen Darstellung gerecht zu werden, zum Scheitern verurteilt ist. Nur eine kultisch-sakrale Haltung der Anbetung scheint einem solchen monumentalen Werk gegenüber noch angemessen. Angesichts der beobachteten ästhetischen Totalität bleibt dem Dichter, so will es scheinen, nur die Möglichkeit, „anbetend vor das Werk des Meisters" zu treten, „der zuerst die zerstreuten Elemente in ein lebendiges Ganzes schuf (12, 12) Goethe spielt, wie ersichtlich, die vertrauten genieästhetischen Vorstellungen durch, wenn er die Konzeption des Künstlers als second mäker (Shaftesbury), als mit göttlicher Schöpferkraft ausgestattetes Wesen, aufgreift. Es ist an und für sich

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k a u m verwunderlich, den genannten epochentypischen Aspekten in der Kunsttheorie des jungen Goethe zu begegnen, vielmehr ist entscheidend zu sehen, wie der Autor jene, als solche topischen, Versatzstücke der Ästhetik bzw. Literaturtheorie des 'Sturm u n d Drang' im Kontext seiner Straßburger Eindrücke gewichtet u n d auf welche Weise er sie legitimiert. Erwin von Steinbachs Genialität liegt, so die Argumentation, nicht zuletzt darin begründet, daß er eine eigentlich hochgradig unwahrscheinliche Homogenisierung seines disparaten Materials zu leisten u n d eine ästhetische Ganzheitlichkeit hervorzubringen vermag, die in der herkömmlichen empirischen Erfahrung ihresgleichen sucht: „Er ist der erste, a u s dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganzes zusammengewachsen, hervortreten." (12, 9). In genau jenem Zusammenhang wird n u n der Gestaltbegriff erstmals erwähnt, der durch seine enge Assoziation mit der künstlerischen Schöpferkraft u n d Gottähnlichkeit einen ungea h n t e n Nachdruck erhält: Die Betrachter des Münsters „schauen die großen harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt, wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt u n d alles zweckend zum Ganzen." (12, 12) Es ist kein Zufall, daß Goethe das architektonische Kunstwerk in den Begriffen des Lebendigen u n d der Naturbetrachtung beschreibt, u m beide Bereiche scheinbar zwanglos ineinandergleiten zu lassen. Das der ästhetischen Beschreibungsintention zugrunde liegende Konzept ist nämlich kein anderes als das Bild des biologischen Organismus, der sich Goethe als entelechische Einheit darstellt, als eine nach 'sinnvollen' Gesichtspunkten entworfene, monadenhafte Existenz, mittels deren a u c h die in die Beschreibung eingebrachte, zweckgerichtete Perspektive allererst Plausibilität gewinnt. Das (verborgene) Telos u n d Gütezeichen des perfekten Baumeisters ist, mit anderen Worten, eine formvollendete, auf harmonischen Prinzipien beruhende holistische Werkgestalt, die den lebendigen Organismen der Natur in nichts nachstehen soll. Bis zu welchem Grad die Vorstellung organischer Bildung bereits in der frühen Schrift Goethes Argumentation anregt u n d steuert, wird durch die anzitierten Naturmetaphern immer wieder schlaglichtartig beleuchtet. Das Prinzip der künstlerischen

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Gestalt findet sich in analoger Ausprägung in der Pflanzenwelt verkörpert, wie etwa der Verweis auf das organische Wachstum des Baums belegen soll. Nicht von ungefähr heißt es von der ungeheuren Mauer des Gebäudes, daß sie aufsteigt „gleich einem hocherhabnen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie der Sand am Meer ringsum verkündet die Herrlichkeit des Herrn." (12, 10) Es wird deutlich, daß Goethe innerhalb seines ästhetischen Diskurses die Leitdifferenz Kunst/ Natur bereits fest etabliert hat, sie aber nur zu dem Zweck einführt, sie sogleich wieder ins Wanken zu bringen, um die beiden Pole spielerisch einander anzunähern. Das ästhetische Objekt gibt dem Autor immer wieder Anlaß, zu weitläufigen Exkursen über biologische Gesetzmäßigkeiten auszuholen und auf diese Weise die andere (vorerst ausgegrenzte) Seite der Differenz6, die Natur, über den Umweg der figuralen Rede doch noch einzuholen. Der bildende Künstler folgt - so die Leitthese - nicht allein einem organologischen Konzept, er wiederholt und verlängert im (gelingenden) ästhetischen Produktionsprozeß nichts anderes als die 'Absichten' der Natur, deren Prinzipien er sich zuvor sorgfältig zu eigen gemacht hat. Von dort aus läßt sich aber auch, ohne größere Umstellungen der Diskurselemente vornehmen zu müssen, die umgekehrte Blickrichtung einnehmen: Wenn die Kunst in einem höheren Sinne im Dienste der Natur steht und organische Bildungen hervorbringt, dann kann umgekehrt der Goethesche Naturbeobachter auf seinem Gebiet nichts anderes vorfinden und beschreiben als ästhetische Gegenstände und die in ihnen verborgenen Regularitäten des Schönen.7 6

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Zur Entstehung ästhetischer Werke durch eine Abfolge von Unterscheidungen bzw. Grenzziehungen nach den Gesetzen des mathematischen Formenkalküls vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 48-91. Vgl. diesbezüglich auch die aufschlußreiche Bemerkung von Gerhart v. Graevenitz: „Goethe geht hinter die schon vollendete Loslösung der naturwissenschaftlichen von der künstlerischen Optik zurück und macht, wie es schon bei Leonardo und Dürer der Fall war, Naturwissenschaft noch einmal zu einer angewandten Kunst der Maler." (Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes West-östlichen Divan', Stuttgart, Weimar 1994, S. 62.)

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Noch in anderer Hinsicht erweist sich Goethes Kunst- und Werkbegriff als weniger eindeutig und klar definiert, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn auch das Totalitätsschema die frühe Goethesche Kunsttheorie dominiert und sich in ihr zugleich ein unverkennbarer Hang zum Monumentalen äußert, so ist jene Darstellung insgesamt doch nicht frei von Mehrdeutigkeiten und Brüchen, die ein ganz anderes Ästhetikmodell aufscheinen lassen. Bei der Beschreibung des Münsters greift der Autor, fast möchte man sagen kontra-intuitiv, eine Semantik des Luftigen und Leichten auf, die zu dem massiven Bauwerk eigentlich in eklatantem Widerspruch steht. Nicht zufällig umkreist er immer wieder diese beiden polaren Gegensätze, die sich - in einer allerdings prekären Balance - zu einer einmaligen Synthese zusammengefunden haben: „wie das festgegründete, ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt, wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit" (12, 12) In der Beschreibung des filigranen Durchbruchmusters der gotischen Ornamente kündigt sich, mit anderen Worten, bereits ein merklich spürbares Moment der Dekomposition und Defiguration an, gleichwohl dieses noch mit einer gewissen Leichtigkeit und Zwanglosigkeit unauffällig in die ästhetische Gesamtkonstruktion integriert werden kann. Wenn die gotischen Verzierungen auch zu auffallenden 'Unterbrechungen' im Gesamtbild des Monumentalbaus führen, so tun sie dies, ohne den holistischen Eindruck tiefgreifend zu stören. Zwar wandert der Blick des Beobachters über die „unzählig kleinen Teile" (12, 12) und „abenteuerlichen Schnörkel" (12, 10), die für sich genommen eine irreduzible Heterogenität ausmachen könnten. Vorherrschend bleibt jedoch der die Goethesche Darstellung durchziehende Grundgedanke einer durch nichts zu überbietenden Totalität der ästhetischen Form, die im Gestaltbegriff ihren adäquaten Ausdruck findet und dessen kunsttheoretische Semantik bestimmt. Die anthropologische Eigenschaft der Kreativität im allgemeinen und die künstlerische Imagination im besonderen zeigen, so scheint es Goethe, von sich aus einen Hang, ganzheitliche Strukturen zu bevorzugen. Schon die 'primitive' Kunst gebe eine solche Vorliebe für das holistische Modell zu erkennen: „Und so

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modelt der Wilde mit abenteuerlichen Zügen, gräßlichen Gestalten, hohen Farben seine Kokos, seine Federn und seinen Körper. Und laßt diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen bestehen, sie wird ohne Gestaltverhältnis zusammenstimmen; denn eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen" (12, 13) Der hier vorgestellte primordiale Mensch kann sich nach Goethe einem ihm eigenen Bildungsdrang ebenso wenig entziehen wie einer unvermeidlichen Tendenz zur Ordnungsfindung und holistischen Wahrnehmung. Ganz gleich, wie regellos, chaotisch und wenig verfeinert die Maltechnik der „Wilden" auch sein mag, sie kann aufgrund einer ihr eingeschriebenen, sich mit teleologischer Sicherheit entfaltenden, inneren Bestimmung nichts anderes erzeugen als ästhetische Ganzheiten und Totalitätsmuster. Wie ersichtlich, bedient sich Goethe einer damals beliebten genetischen Argumentationsfigur,8 die zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurückführt, um durch die anzitierte frühgeschichtliche Aura das eigene Ästhetikmodell um so wirkungsvoller zu profilieren und zu untermauern. Die besondere Brisanz der Gestaltdebatte liegt darin, daß die Frage nach der Existenz einer ästhetischen Ordnung zeitgenössisch als ein Anthropologicum verhandelt wurde und durch jenen teils latenten, teils offenen anthropomorphen Bezugspunkt9 eine zusätzliche Bedeutung annimmt. Daher verbürgt selbst die ausgefallene, am Straßburger Münster beobachtete ästhetische Totalitätsstruktur mehr als ein rein artistisches bzw. architektonisches Können und impliziert weit mehr als die künstlerische Leistung eines einzelnen begabten Individuums. Zunächst scheint es so, als habe Goethe seine Schrift über das monumentale Bauwerk als eine einzige Bestätigung ganz8

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Vgl. etwa J. J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn 1984 und J. G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774), Sämtliche Werke, hg. B. Suphan, Bd. IV, Berlin 1891, Nachdruck Hildesheim 1978. Vgl. diesbezüglich auch die von Goethe in den Maximen und Reflexionen geäußerte Bemerkung: „Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist." (12, 467)

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heitlicher ästhetischer Ordnungsfiguren konzipiert. Und doch bleibt eine Diskrepanz zwischen dem gewählten Gegenstand u n d der kunstphilosophischen Darstellung bestehen, denn die Art u n d Weise seiner Präsentation, sei diese auch noch so subtil, bleibt mit dem Stigma der Unzulänglichkeit behaftet. Entzieht doch der übermächtige Eindruck monumentaler gestalthafter Ganzheit, wie Goethe selbst einräumen muß, notwendigerweise jeder ästhetischen Analyse den Boden unter den Füßen u n d macht aufgrund seiner quasi-unmittelbaren Präsenz zugleich jede Kunsttheorie überflüssig: „Was braucht's dir Denkmal ! Du hast dir das herrlichste errichtet; u n d kümmert die Ameisen, die drum krabbeln dein Name nichts, hast du gleiches Schicksal mit dem Baumeister der Berge auftürmte in die Wolken." (12, 7) Die frühe Ästhetik - wie sie Goethe hier im charakteristischen Pathos des Sturm u n d Drang entwickelt - mündet unaufhaltsam in die Aporie, da die Kunst, verstanden als 'Gestalt', jede theoretische Beschreibungsabsicht notwendigerweise darauf reduziert, hilflos u n d redundant zu erscheinen, u n d den anfänglichen 'Höhenflug' der ästhetischen Reflexion daher letztlich hemmen, wenn nicht gar im Keim zunichte machen m u ß . Wenn sich alles zu gestalthaften Entitäten zusammenfügt, dann resigniert nicht allein jegliche differenzierte, subtilere Beobachtungsintention angesichts des übermächtigen Totaleindrucks, sondern es verschwimmen auch die Leitunterscheidungen, die eine genauere kunstphilosophische Analyse allererst ermöglichen würden. Goethes kunstphilosophischer Beitrag steht daher von Anfang an im Zeichen einer Paradoxie, der zwiespältigen, wenn nicht gar unmöglichen Aufgabe, etwas, nämlich eine ästhetische Ganzheit, beobachten u n d beschreiben zu sollen, die sich im Grunde genommen nicht mehr beobachten läßt, denn beobachten lassen sich bekanntlich n u r Unterscheidungen. 10 Ohne Differenzierungen vorzunehmen, läßt sich nichts 10

Vgl. zu dieser erkenntnistheoretischen Grundannahme auch Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1993, S. 51: „Die Einheit der Welt ist unerreichbar, sie ist weder Summe noch Agregat, noch Geist. Wenn eine neue Operationsreihe mit einer Differenz beginnt, die sie selber macht, beginnt sie mit einem blinden Fleck. Sie

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erkennen, da alles grau in grau bleiben u n d verschwommen wirken würde. Dies bemerkte scharfsinnig schon Schiller, wenn er in seinem berühmt gewordenen 'Geburtstagsbrief vom 23. 8. 1794 den blinden Fleck jener von Goethe bevorzugten ganzheitlichen Perspektive vorsichtig andeutet: „In Ihrer richtigen Intuition liegt alles u n d weit vollständiger, was die Analysis m ü h s a m sucht, u n d n u r weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen; denn leider wissen wir n u r das, was wir scheiden." 11 Vor dem Hintergrund der zitierten Überlegungen ist es n u r konsequent, wenn Schiller annehmen muß, daß Goethes 'intuitive' Methode an eine Grenze stoßen muß, die sie nicht zu überschreiten vermag. Schiller versteht es indes, der Beobachtung jener "Wissenslücke' geschickt eine positive Wendung zu geben und sie als Kompliment zu tarnen, indem er lakonisch feststellt, daß „das Genie sich selbst das größte Geheimnis ist". 12 Eine solche Wendung der künstlerischen Begabung u n d ästhetischen Produktion ins Enigmatische dürfte mit Goethes eigener Kunstauffassung in Einklang gestanden haben, denn nicht weniger rätselhaft bleibt die künstlerische Leistung des Architekten in Goethes Frühwerk. Die im Kern aporetische Natur der selbstgewählten Aufgabe, die ästhetischen Prinzipien des Straßburger Münsters zu erfassen, wird durch den Tenor der Goetheschen Apostrophe an den Baumeister Erwin von Steinbach bestätigt, die nicht von ungefähr von einer schwungvollen Rhetorik u n d genialischen Sturm u n d Drang-Semantik durchzogen ist: „Was braucht's Dir ein Denkmal ! u n d von mir ! Wenn der Pöbel heilige Namen ausspricht, ist's Aberglaube oder Lästerung. Dem schwachen Geschmäckler wird's ewig schwindeln an deinem Koloß, u n d ganze Seelen werden Dich erkennen ohne Deuter." (12, 7) Hinter der emphatischen Anrufung verbirgt sich mehr als ein bloßer Bescheidenheitstopos auf seiten des Sprechers. Wer es mit ästhe-

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steigt aus dem 'unmarked State', in dem nichts zu sehen ist und nicht einmal von 'Raum' gesprochen werden könnte." Vgl. ferner ebd. S. 55: „Ohne irgendeine Unterscheidung hätte man es nur mit einer Welt als unmarked State zu tun." Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Erster Band: 17941797, hg. Siegfried Seidel, München 1984, S. 9.

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tischen Totalitäten zu tun hat, dem bleibt bei der Kunstrezeption nichts anderes übrig, als auf Kongenialität zu vertrauen, während die theoretische oder kunsthistorische Deutung, so die Annahme, stets zu kurz greift und ihren Gegenstand letztlich verfehlt. So ist der einzigartigen Souveränität des Blicks, wie sie sich in Goethes ästhetischem Frühwerk manifestiert, von Anfang an eine zersetzende Tendenz beigemischt, sich das Scheitern des eigenen Projekts einer sorgfältigen kunstphilosophischen Betrachtung prägnant vor Augen zu rufen. Als nicht weniger faszinierend und zugleich in mancher Hinsicht ebenso verfänglich erweisen sich - wie im folgenden genauer zu untersuchen ist - der Goethesche Beobachtungstyp und das Modell des 'Gestalt-Sehens', wenn sie unauffällig die Seiten wechseln und auf das Terrain der Naturbetrachtung, der Morphologie im eigentlichen Sinne, hinüberwechseln. Dort nämlich findet der zunächst im Blick auf das architektonische Monument entwickelte, ästhetische Werkbegriff im Zeichen von Identität und Ganzheit sein gleichsam naturgegebenes (und aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts darum überlegenes) Pendant im lebendigen Organismus, der gegenüber dem künstlichen Objekt, so will es scheinen, den entscheidenden Vorzug hat, durch die Ordnung des kreatürlichen Kosmos und den Anschein natürlicher Evidenz unmittelbar legitimiert zu sein. Insofern die 'höhere' Weisheit der Natur in ihnen am Werk ist, sind die biologischen Gestalten, so die zeitgenössische bzw. die Goethesche Perspektive, über jeden Zweifel erhaben und bilden gleichsam von sich aus 'sinnhafte' Formen, die auch unter ästhetischen Kriterien überzeugend, wenn nicht gar vorbildlich scheinen.

12 Ebd., S. 11.

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2.2

Der Elefant in der Porzellankiste oder die morphologischen Studien des Geheimen Rats

„Eine jede Idee tritt als ein fremder Gast in die Erscheinung, und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei 2xi unterscheiden." (Maximen und Reflexionen, 12, 439) „Das Buch wird zum Herbarium der Strukturen und man sollte nicht sagen, daß das die Träumerei eines Systematikers ist, der die Naturgeschichte nicht in ihrer ganzen Ausdehnung darstellt. " (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 177).

Im Brief an Frau v. Stein vom 8. Juni 1787 schreibt Goethe aus Italien folgende euphorischen Sätze über ein bemerkenswertes, ja höchst sonderbares biologisches Phänomen: „Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt über welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen."13 Was dem Italien-Reisenden als Modell der Urpflanze vorschwebt, ist offenkundig durch eine Reihe von auffallenden Widersprüchen gekennzeichnet. Nicht zufällig bezeichnet Goethe, dem diese Diskrepanzen selbst bewußt gewesen sein dürften, sie als das „wunderlichste Geschöpf von der Welt". Die Urpflanze weist, mit anderen Worten, einen eigentümlichen Dop13

Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden, hg. K. R. Mandelkow und B. Morawe, Hamburg 1962 ff., Band II, S.60.

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pelcharakter auf, denn sie ist offenbar beides zugleich: ein empirisch wahrnehmbares, kreatürliches Wesen („Geschöpf) und dessen zugrundeliegendes „Modell" bzw. der abstrakte anatomische Bauplan, der außerdem noch geeignet sein soll, eine unendliche Anzahl weiterer denkbarer und möglicher Pflanzengestalten zu entwerfen.14 So liegt es nahe, zu vermuten, das von Goethe gesuchte morphologische Modell sei nichts weniger als der Anreger und der verborgene Motor der künstlerischen Phantasie,15 mittels dessen sich nach genauen Regeln ein ganzes Spektrum von ästhetisch reizvollen Formen erfinden ließe. Andererseits ist Goethe an der zitierten Stelle jedoch ersichtlich darum bemüht, seine naturkundlichen Studien gegenüber der bloßen Ästhetisiererei und den imaginären Entwürfen des Dichters nachdrücklich abzugrenzen und von ihnen zu unterscheiden. Die Naturstudien müssen in einer noch näher zu bestimmenden Weise „konsequent" sein, denn sie repräsentieren für Goethe offenbar einen anderen Diskurstyp als die literarische Fiktion und die kunstphilosophische Betrachtung. Nur so ist zu verstehen, warum er die Assoziationen des schönen Scheins, der ästhetischen Illusion und der poetischen Produktion („dichterische Schatten") zurückweist, um statt dessen auf der inneren „Wahrheit" und „Notwendigkeit" der Ergebnisse seiner Naturbeobachtungen zu beharren. Für die wissenschaftliche Imagination beansprucht Goethe, so will es scheinen, einen weitaus größeren Grad an Präzision und Exaktheit, als die dichterische Phantasie zu leisten vermag, sowie eine Objektivi14 15

Vgl. auch Abbildung 1. Schon Meyer-Abich verweist implizit auf den Konstruktcharakter der Goetheschen Urpflanze, die weniger archäologisch auf ein Ursprungsmoment in der Vergangenheit verweist, als daß sie ein Spektrum des Möglichen und Zukünftigen eröffnet: „ Dieser gesichtspunkt von Goethes Urpflanze ... zeigt nämlich klar und deutlich, daß Goethe gar nicht an der tatsächlichen Geschichte der Pflanzenwelt in ihrer Vergangenheit ... sondern vielmehr an ihrer Zukunft ... interessiert war" (Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt, Hamburg 1970, S. 100). Ähnlich beurteilt auch Philipp Storz das konstruktivistische Moment von Goethes Morphologie. Vgl. Storz, Naturbildungen. Die Morphologie Goethes und Alexander von Humboldts und die 'Fraktale Geometrie der Natur', Weifengarten 6 (1996), S. 83-102, hier S. 91.

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Abbildung 1: Tuschfederzeichnung, von Goethe beschriftet. Sie soll offenbar die Analogie des Kastanientriebs zum Bauplan einjähriger Blütenpflanzen unter Beweis stellen. Das Aufspüren von solchen Analogien dient Goethe wiederum als Indiz für die Existenz der 'Urpflanze'. Aus: Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München 1998, S. 97.

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tat und Verbindlichkeit der Erkenntnis, die ihresgleichen sucht und in der poetischen Produktion nicht zu erreichen ist. Goethes Bemerkungen dienen nicht allein dazu, den Vorwurf des unwissenschaftlichen Dilettantismus gleichsam im voraus zu entkräften; vielmehr geben sie darüber hinaus zu erkennen, daß er einem morphologischen Gesetz auf der Spur ist, dessen allgemeine, quasi-objektive Gültigkeit nicht anfechtbar sei, weshalb er es nachdrücklich außerhalb der subjektiven Willkür und des individuellen Ermessens ansiedelt. Die Beschäftigung mit der morphe, der (biologischen) Gestalt, bezieht für Goethe, so wird man vorläufig resümieren dürfen, ihren eigentümlichen Reiz und ihre anhaltende Faszination nicht zuletzt aus der Suggestion ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit bzw. ihrer allgemeinen überindividuellen Reichweite und Gültigkeit. Sie verspricht dem genauen und sorgfältigen Beobachter nichts weniger, als die universellen Regeln der natürlichen Formengenese zu offenbaren. Goethes anhaltende Faszination durch naturwissenschaftliche Studien, die er bis ins hohe Alter leidenschaftlich betrieb,16 sind der germanistischen Forschung nicht entgangen. Mehr noch: es gehört seit dem 19. Jahrhundert zu einem weitverbreiteten Topos der Goetheforschung, anzunehmen, es gebe einen engen wechselseitigen Zusammenhang, eine bedeutsame, wenn auch verborgene, dem Blick des naiven Beobachters entzogene Beziehung zwischen den naturphilosophischen Schriften einerseits und den fiktionalen sowie den poetologischen Texten des "klassischen' Autors andererseits. Rudolf Steiner hatte eben jene vermutete, geheimnisvolle Reziprozität zwischen Goetheschem Naturwissen und Ästhetik in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Studie Goethes Weltanschauung (1897) noch in unmißverständlichen und pathetischen Formulierungen zum Ausdruck gebracht: „Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner Dichtungen verstehen will. Die Geheimnisse, die er dem Wesen 16

Vgl. Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Band 1. Hälfte des Lebens. Königstein/Ts. 1982, S. 415-424.

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und Werden der Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen künstlerischen Erzeugnissen und werden nur demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen, die der Dichter über die Natur macht. Der kann in die Tiefen der Goetheschen Kunst nicht hinuntertauchen, dem Goethes Naturbeobachtungen unbekannt sind. "17 Obgleich nicht alle Goethe-Interpreten seit der Jahrhundertwende sich mit der gleichen Emphase auf die kunstphilosophische und literaturtheoretische Relevanz von Goethes Naturforschungen berufen haben, ist Steiners Aussage doch typisch und richtungweisend für eine generelle Neigung, genuin poetologische Aspekte von nun an gerade anhand der Goetheschen morphologischen Beiträge zu verhandeln, 18 die auch im 20. Jahrhundert immer wieder die Goethe-Spezialisten zu faszinieren vermochten. 19 Heinz Schlaffer zählt zu den weni17 18

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Rudolf Steiner, Goethes Weltanschauung, Vorrede zur ersten Auflage, zit. nach, der 4. Auflage, Berlin 1918, S. 7. Vgl. zum Beispiel Julius Schiff, Mignon, Ottilie, Makarie im Lichte der Goetheschen Naturphilosophie, J a h r b u c h der Goethegesellschaft 9 (1922), S. 133-147. Auch in der neueren Goethe-Forschung hat der Naturwissenschaftler Goethe Konjunktur u n d erscheint unter literaturwissenschaftlichen Aspekten weiterhin aktuell. Vgl. z.B. die Beiträge des Bandes von Günter Schnitzler (Hg.), Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst u n d Wissenschaft, Freiburg 1997. Vgl. ferner Hans Jürgen Scheuer, Manier u n d Urphänomen. Lektüren zur Relation von Erkenntnis und Darstellung in Goethes Poetologie der 'geprägten Form', Würzburg 1996, Peter Matussek, Naturbild und Diskursgeschichte 'Faust'-Studie zur rekonstruktion ästhetischer Theorie, Stuttgart 1992. Zur Diskussion von Goethes Morphologie in aktuellen naturwissenschaftlichen Kontexten vgl. Philipp Storz, Naturbildungen: die Morphologie Goethes u n d Alexander von Humboldts u n d die Fraktale Geometrie der Natur, Weifengarten 6 (1996), S. 83-102. So bemerkt etwa Dorothea Kuhn, das „morphologische Programm" sei nicht n u r „für sich wichtig," sondern gehöre „in größere Zusammenhänge". Dazu heißt es weiter: „Man m u ß diese Bemühungen zunächst im Rahmen dessen sehen, was Goethe und Schiller u n d die "Weimarer Kunst-Freunde' die 'gute Sache' oder "unsere gute Sache' nennen: das ist das Kulturprogramm der Weimarer Klassik." Mit jener angenommenen Analogie zwischen morphologischer Naturforschung und klassischer Ästhetik haben sich die Beziehungen zwischen Goethes Naturkonzeption u n d zeitgenössischer Dichtungstheorie indes noch nicht erschöpft, denn Kuhn vermutet auch eine Verbindung zur romantischen Identitäts- und Naturphilosophie „Jedoch gerade in dem, was die Morphologie an klassischem Einheitsstreben und an vergleichenden und analogisierenden Gedanken bereithielt, lag auch eine Beziehung zur

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gen neueren Goethe-Interpreten, die vor einer quasiautomatischen und unreflektierten Gleichsetzung von Goethes 'Dichtung' und Weltanschauung' warnen.20 Auch Karl Robert Mandelkow wendet sich zu Recht kritisch gegen die „schöne theoretische Unbekümmertheit", mit der sich solche Synthesemodelle und Verborgenen Spiegelungen' bis in die jüngste Forschungsdiskussion fortschreiben.21 Zwar mag man berechtigte Bedenken anmelden gegenüber einer solchen Suche nach morphologischen Gesetzmäßigkeiten in Goethes poetischen und kunstphilosophischen Werken, die der Spekulation Tür und Tor zu öffnen scheint. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß eine gewisse Affinität zwischen der biologischen Gestalttheorie, wie sie Goethe entwickelte, und der ästhetischen Betrachtung besteht. Beide, sowohl die Morphologie als auch die Ästhetik, haben es mit der Beobachtung von Formen und deren Genese zu tun. In beiden Fällen steigert sich, wie wir am Beispiel Goethes noch diskutieren werden, diese Aufmerksamkeit auf die Form zu einer außerordentlichen 'Kultur des Sehens', die sich im modernen Gestaltdiskurs fest verankern und bis ins 20. Jahrhundert weiterwirken sollte. Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Biologie sich im 18. Jahrhundert allererst auf dem Wege dazu befindet, sich im Zuge der Ausdif-

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romantischen Identitätsphilosophie nahe. Goethes Verbindung zu Schelling versteht sich von daher." (Dorothea Kuhn, Goethes Morphologie, in: Goethe, Sämtliche Werke. I. Abt. Bd 24: Schriften zur Morphologie, hg. Dorothea Kuhn, Frankfurt a.M. 1987, S. 853-874, hier: S. 859.) Julius Schiff, Mignon, Ottilie, Makarie im Lichte der Goetheschen Naturphilosophie, Jahrbuch der Goethegesellschaft 9 (1922), S. 133-147. Vgl. Heinz Schlaffer, Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen, in: Bausteine zu einem neuen Goethe, hg. Paolo Chiarini, Frankfurt a.M. 1987, S. 9-21, hier: S. 19. Karl Robert Mandelkow, Natur und Geschichte bei Goethe im Spiegel seiner wissenschaftlichen und kulturtheoretischen Rezeption, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. Peter Matussek, München 1998, S. 233-258, hier: S. 256. Einen lesenswerten neueren Beitrag über Goethes Naturkonzeption aus literaturwissenschaftlicher Sicht bildet die sorgfältige Studie von Margrit Wyder, Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1988.

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ferenzierung des modernen Wissenschaftssystems22 als eine eigene naturwissenschaftliche Spezialdisziplin zu etablieren. Vor diesem Hintergrund ist es grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen, daß die Beobachtungsperspektive des vergleichenden Morphologen eine ästhetiknahe Ausrichtung aufweist und gleichsam von sich aus dazu tendiert, eine genuin künstlerische Dimension zu entfalten. Im folgenden gilt daher den produktiven Verbindungen zwischen morphologischen Naturstudien und der Entwicklung einer eigentümlichen 'Gestaltästhetik' in Goethes naturkundlichen Schriften besondere Aufmerksamkeit. Dabei unterscheidet sich der in der vorliegenden Studie gewählte Blickwinkel allerdings grundlegend von den in der Nachfolge Steiners unternommenen Versuchen, Goethes literarische Werke in dessen Naturforschung zu fundieren. War es der älteren Forschung überwiegend darum zu tun, die entdeckte Verankerung von Goethes Poetik in der Naturbeobachtung als Indiz für den bleibenden Wert und die überzeitliche Gültigkeit der ästhetischen Modelle des Dichters und seiner schriftstellerischen Praxis zu werten, so liegt dem modernen literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse eine solche Zielsetzung fern. Eine solche Affinität und ein derartiger Zusammenhang interessieren nur, insofern sie als Initialmoment eines Diskurses wirksam wurden, dessen Koordinaten sie hervorbrachten und dessen eigentümliche Semantik sie im wesentlichen geprägt haben - eines Diskurses, der im deutschen Sprachraum wenig später über Goethes eigene Werke hinaus in kultureller und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht bedeutsam wurde und daher aus kulturwissenschaftlicher Perspektive höchst aufschlußreich ist. Unter diskursgeschichtlichen Gesichtspunkten ist die Frage nach der naturwissenschaftlichen Angemessenheit oder inneren Plausibilität von Goethes morphologischen Erkenntnissen tendenziell eher peripher, wenn nicht sogar belanglos, da ihre Beantwortung nichts über die tatsächliche Wirkungsgeschichte und die mentalitätsgeschichtliche Relevanz des Goetheschen 22

Vgl. dazu allgemein Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740 1890, Frankfurt a.M. 1984.

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Gestaltmodells auszusagen vermag. Demgegenüber verdienen innerhalb des hier verfolgten Erkenntnisinteresses gerade die paradoxen, heute unwahrscheinlich oder fremd, um nicht zu sagen skurril anmutenden Thesen der Goetheschen Naturbeschreibung eine gesteigerte Aufmerksamkeit, jedenfalls sofern sie in ihrer oftmals prägnanten Pointierung in die Denk- und Diskurspraxis der Folgezeit Eingang gefunden haben. Es ist also entscheidend zu sehen, inwiefern und mit welchen konzeptuellen Vorgaben Goethe bei seiner Entfaltung ganzheitlicher Gestaltkonzepte die Rolle eines 'Diskursbegründers' einnehmen konnte. Daß ihm dabei die Rezeptionsgeschichte seiner literarischen Werke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugute gekommen ist, läßt sich nicht leugnen. Denn in dem Maße, in dem Goethe zum deutschen Nationalautor avancierte, erlangten auch seine theoretischen Schriften eine zunehmende Beliebtheit und wurden aus ihrem vorübergehenden Schattendasein hervorgeholt, um von nun an einen steilen Anstieg in der Lesergunst zu verzeichnen. Über Goethes nicht nachlassendes Interesse an naturwissenschaftlichen Zusammenhängen und seine nahezu obsessive Beschäftigung mit morphologischen sowie besonders botanischen Studien kann kein Zweifel bestehen. Während es ihm im Verlauf des ersten Weimarer Jahrzehnts so gut wie nicht gelang, seine begonnenen poetischen Projekte abzurunden, und er in jener Zeit keine nennenswerte größere Dichtung vollendete,23 hielt er an seinen Naturbeobachtungen mit unvermindertem Eifer fest. Im Brief an Charlotte von Stein vom 9. 7. 1786 schildert er sein ambivalentes Verhältnis zu seiner mit unbeirrbarem Ehrgeiz betriebenen, naturwissenschaftlichen Tätigkeit, durch die er sich offenbar ebenso überschwenglich beglückt wie hartnäckig verfolgt fühlt: „Am meisten freut mich ietzo das Pflanzenwesen, das mich verfolgt ...Wenn ich nur jemandem den Blick und die Freude darüber mittheilen könnte, es ist aber nicht möglich. 23

Von der Iphigenie entstand zum Beispiel lediglich eine später wieder verworfene bzw. völlig revidierte Prosafassung. Zu den Schwierigkeiten, die sich Goethes dichterischer Produktion im ersten Weimarer Jahrzehnt in den Weg stellten vgl. Karl Otto Conrady, Goethe. Leben und Werk. Band 1: Hälfte des Lebens, S. 403-415.

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Und es ist kein Traum u n d keine Phantasie; es ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam n u r immer spielt u n d spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt." 24 Wiederum vergißt Goethe nicht, die Realitätsnähe seiner Beobachtungen zu betonen, die er gegenüber der ungebundenen Tätigkeit der Phantasie vorsichtig abgrenzt. Zugleich f ü h r t er indes mit der Vorstellung des freien Spiels, das er der Natur unterstellt, ein genuin ästhetisches Konzept ein, das u m so mehr überraschen muß, als es zu dem unmittelbar zuvor umrissenen, wissenschaftlichen Kontext u n d der geforderten exakten Beobachtungsweise merkwürdig quer liegt. Einerseits zeichnet sich in Goethes Aussage eine entschiedene Abwehr von flktionalen Elementen wie Traum u n d Phantasie ab, die den wissenschaftlichen Wert seiner Erkenntnisse schmälern könnten; andererseits verzichtet der Autor keineswegs darauf, eine ästhetisch konnotierte Begrifflichkeit ('spielen') zu verwenden, u m die in den Blick gerückten Prozesse u n d Gesetzmäßigkeiten der Natur näher zu charakterisieren. Immer wieder ergeben sich solche Ambivalenzen u n d fließenden Übergänge zwischen Naturbeschreibung u n d Ästhetik, die fast unmerklich in Goethes Darstellung einfließen. Es liegt daher nahe zu vermuten, d a ß die gesuchte „wesentliche Form" selbst eine genuin ästhetische Qualität aufweist u n d insgeheim einem Ideal der Schönheit oder formalen Ökonomie u n d Stimmigkeit verpflichtet ist. Anders formuliert: Goethe sucht während der Naturbeobachtung nach einem geeigneten Programm zur Formengenese, daß auch im künstlerischen (poetologischen u n d ästhetischen) Bereich anzuwenden wäre u n d es erlauben würde, ästhetisch überzeugende Gestalten (was immer er im einzelnen damit verbunden haben mag) systematisch zu erzeugen. Die Auflösung jenes 'Rätsels' ist jedenfalls der verborgene Motor, der Goethes botanischen Ehrgeiz in Gang hält u n d seine morphologischen Studien steuert. Am 3. 10. 1787 schreibt Goethe in diesem Sinne an Karl Ludwig Knebel: „Die Botanik 24

Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden, hg. K. R. Mandelkow und B. Morawe, Hamburg 1962 ff., Band I, S. 514.

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übe ich auf Wegen u n d Stegen. Es möchte wie Rodomontade klingen, wenn ich sagte, wie weit ich darin gekommen zu sein glaube. Genug ich werde immer sichrer daß die allgemeine Formel die ich gefunden habe, auf alle Pflanzen anwendbar ist." 25 Dem erkannten Pflanzenschema lassen sich, wie Goethe ergänzt, selbst die „eigensinnigsten Formen z. E. Passiflora, Arum" unterordnen. 2 6 Es ist in der Optik des Briefschreibers nicht zuletzt ein wirkungsvolles Indiz für die Gültigkeit des entdeckten Prinzips, daß m a n dadurch sogar bizarre, augenscheinlich regellose u n d unsystematische Pflanzentypen „erklären u n d miteinander in Parallel setzen" könne. 2 7 Es ist nichts weniger als eine umfassende Harmonie der Pflanzen, die Goethe als Zielvorstellung seiner Forschungsbem ü h u n g e n vorschwebte, ein der Linneschen Taxonomie ähnliches, aber überlegenes System von Pflanzen, deren Formen sich wie von selbst ordnen würden, u m dem aufmerksamen Betrachter ihre eigentliche Gestalt zu erkennen zu geben, die selbst durch die wahrgenommenen Abweichungen u n d Mißbildungen noch hindurchschimmert. In diesem Sinne schreibt Goethe am 18. August 1787 a u s Rom an den Freund Knebel: "... Manches was ich bei u n s n u r vermutete u n d mit dem Mikroskop suchte, seh ich hier mit bloßen Augen als eine zweifellose Gewißheit. Ich hoffe du wirst auch dereinst an meiner Harmonia Plantarum, wodurch das Linneische System auf das schönste erleuchtet wird alle Streitigkeiten über die Form der Pflanze aufgelöst, j a sogar alle Monstra erklärt werden Freude haben." 2 8 Auffallend ist zunächst, daß der Naturbeobachter durch die unmittelbare Sinneswahrnehmung, mit „bloßen Augen" den Beweis für seine wissenschaftlichen Hypothese gefunden zu haben glaubt, was er nicht zuletzt den günstigen u n d einmaligen Bedingungen der Italienerfahrung zuschreibt. Wichtiger noch als die Wirkung der äußeren Umstände scheint jedoch die Qualität des Beobachtungsergebnisses selbst. Goethe glaubt, der Entdecker oder Erfinder eines einzigartigen Gestalt25

Goethe, Briefe, Band II, S. 66-67. 26 Ebd., Band II, S. 67. 27 Ebd., S. 67. 28 Ebd., Band II, S. 64.

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musters zu sein, in das sich sämtliche bekannten Pflanzenspezies mehr oder weniger zwanglos einfügen. Auch die 'Monstren', die sich bei oberflächlicher Betrachtung als Abweichungen von der schönen Gestalt und der morphologischen Norm zeigen, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Bestätigungen des gleichen Grundmodells und der erkannten gestalthaften Gesetzmäßigkeiten. An keiner anderen Stelle der italienischen Briefe wird die ästhetische und kunstphilosophische Ausrichtung von Goethes Umgang mit der Natur so deutlich sichtbar wie hier: Obwohl die häßliche Form auf den ersten Blick aus der ästhetischen 'Harmonie' der Pflanzen herauszufallen schien, läßt sie doch die Bauprinzipien der regelmäßigen Gestalt erahnen.29 Die von Goethe geplante Harmonia plantorum ist, mit anderen Worten, in erster Linie auf den ästhetischen Gesichtspunkten des Einklangs, des harmonischen Zusammenstimmens und der Formvollendung begründet. Bemerkenswert ist dabei, daß jene Leitvorstellung selbst dann wirksam bleibt, ja erst eigentlich in dem Augenblick voll entfaltet wird, wenn Goethe den häßlichen Erscheinungen und Mißbildungen Rechnung zu tragen versucht. Die 'Urpflanze' ist so gesehen nicht die logische Abstraktion aus den empirischen Beobachtungen, die sich Goethes induktiver Begabung verdankt, sondern sie bildet vielmehr ein völlig kontra-intuitives Phänomen, das weit eher im Gegensatz zu der empirischen Evidenz behauptet wird als in Einklang mit ihr. Paradoxerweise sind es ja, wie das angeführte Beispiel verdeutlichte, gerade die Deformationen und Abweichungen, die Goethes Suche nach der perfekten Pflanzenstruktur motivieren und seine Hypothesen anregen. Mehr noch: Nur vor der Folie der empirischen Beobachtung von Deviationen scheint ihm die 'Erfindung' des (imaginären) Idealtypus der natürlichen Form überhaupt gelingen zu können.30

29 Vgl. auch Abbildung 2. 30 Hier zeigt sich, wieweit sich Goethe mitunter, sei es bewußt oder unbewußt, von der empirischen Beobachtung und der ihm von Schiller zugeschriebenen induktiven Methode entfernte, um selbst in den Naturstudien auf die konstruktiven Phantasie und die Bilder des Imaginären zu vertrauen.

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Abbildung 2: Das Phänomen des 'Durchwachsens' von Blüten, das einen wichtigen Beleg für Goethes Idee der Metamorphose der Pflanze lieferte. Aus: Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München 1998, S.

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Wenn Goethe die Abweichungen u n d die 'Monstren' als integrale Bestandteile im System der Natur betrachtet, darf er mit dieser These in den Naturwissenschaften des 18. J a h r h u n d e r t auf breite Zustimmung hoffen. Die Monstren, gegenwärtig in den Fossilien ausgestorbener Tierarten, wurden gleichsam als notwendige Irrtümer einer produktiven Natur verstanden, die grundsätzlich nicht von anderer Natur als die Arten selbst seien. Jean-Baptiste René Robinet bringt jene verbreiteten Vorstellungen auf den Punkt, wenn er festhält: „Wir sollten glauben, daß die bizarrsten Erscheinungsformen ... notwendig u n d wesentlich zur allgemeinen Ebene des Seins gehören; daß sie ebenso natürliche Metamorphosen des Prototyps wie die anderen sind ... daß sie zur Ordnung der Dinge beitragen u n d weit entfernt davon sind, sie zu stören." 31 Auch bei Robinet gibt es keinen Zweifel daran, daß die scheinbaren Deformationen der natürlichen Gestalt wie die fossilen Ungeheuer' sich in das übergreifende taxonomische Design einfügen u n d letztlich die Grundthese bestätigen, alle Spezies seien die gestaltförmigen Variationen eines zugrundeliegenden Prototyps, dessen perfekte Ausformung der Mensch sei: „Infolgedessen liegt die ganze Kontinuität der Natur zwischen einem absolut archaischen, tiefer als jede Geschichte vergrabenen Prototyp u n d der äußersten Komplizierung dieses Modells, wie m a n sie, wenigstens auf der Erdkugel, in der Gestalt des Menschen beobachten kann." 3 2 Die fremdartigen Spezies vergangener Erdzeitalter u n d die augenscheinlich deformierten Arten haben im taxonomischen System des 18. J a h r h u n d e r t s einen präzisen historischen Ort. Als „Geräuschkulisse" machen sie, wie Foucault prägnant diagnostiziert, das „ununterbrochene Murmeln der Natur" 33 aus. Um die Kontinuität u n d Einheit der Natur zu gewährleisten, bedarf es so die taxonomische Logik - der bizarren u n d grotesken Formen, die zugleich die geeignete Folie für den vollkommenen Idealtyp bereitstellen. 31

Jean-Baptiste René Robinet, Considérations philosophiques sur la gradation naturelle des formes de l'être, Paris 1768, S. 198. Zit. nach Michel Foucault, die Ordnung der Dinge, S. 200-201. 32 Michel Foucault, die Ordnung der Dinge, S. 200. 33 Michel Foucault, die Ordnung der Dinge, S. 201.

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In diesen Kontext fügt sich ferner eine von Goethe besonders geschätzte und hervorgehobene Einzelbeobachtung ein, ein seltsames Phänomen, das ihm an einer italienischen Nelkenart aufgefallen war und von dem er seinem Freund Knebel gleich zweimal34 berichtete: „Ich habe diesen Sommer eine Nelke gefunden aus welcher vier andre vollkommne Nelken herausgewachsen waren, und aus diesen wieder andre gewachsen wären, hätte die Vegetation Trieb genug gehabt. Es ist ein höchst merkwürdiges Phänomen und meine Hypothese wird dadurch Gewißheit."35 Es liegt auf der Hand, warum das genannte Beispiel Goethes Aufmerksamkeit fesselt. Die auffallende Abweichung von dem 'normalen' Wachstum der Nelke (vier Blüten statt einer) kann mit etwas Geschick und Subtilität nämlich wiederum so gewendet werden, daß sie zugleich die zugrunde liegenden Gesetze der morphologischen Form bestätigt. Was Goethe an der zitierten Stelle fasziniert, ist das Prinzip der Wiederholung und Variation der gleichen morphologischen Grundgestalt, die durch die ornamenthafte Aneinanderreihung der Formen einen zusätzlichen ästhetischen Reiz gewinnt. Vor der Folie des bisher Gesagten verwundert es kaum, wenn die Vollkommenheit der wahrgenommenen Gestalt in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen ins Zentrum der Überlegungen rückt. So heißt es über die oben beschriebene Nelkenart nicht von ungefähr, jede einzelne Blume innerhalb des Gewächses sei in sich „vollkommen, mit Stielen und allem daß man jede besonders abbrechen hätte können, ich habe sie sorgfältig gezeichnet, auch die Anatomie davon in die kleinsten Teile."36 Der in sich ruhende, abgeschlossene Organismus bleibt, wie ersichtlich, auch im Zusammenspiel mit anderen Perspektiven der Fluchtpunkt der Goetheschen Reflexionen, wie das Beispiel der miteinander verwachsenen und eng

Vgl. auch Goethes Brief an Knebel vom 18. 8. 1778 aus Rom: „Hier ist es bei der Nelkenflora etwas Gewöhnliches, daß aus einer gewissen Sorte gefüllter Nelken eine andre gefüllte, völlige Blume herauswächst. Ich habe eine solche gefunden da aus der Hauptblume vier andre herausgewachsen waren." (Briefe, Band II, S. 64) 35 Goethe an Knebel am 3. 10. 1787, Briefe, Band II, S. 67. 36 Goethe an Knebel am 18. 8. 1778 aus Rom, Briefe, Band II, S. 65.

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verbundenen Nelkengewächse unmißverständlich zu erkennen gibt. Obwohl der Hauptakzent von Goethes Darstellung in den genannten italienischen Briefen auf der beeindruckenden Eleganz des aufgefundenen Pflanzenmodells und seiner unmittelbar einleuchtenden, sinnfälligen Überzeugungskraft liegt, lassen die Beobachtungen nichtsdestoweniger eine Reihe von Fragen und Problemen offen. Dessen war sich der Autor, fern jeder wissenschaftlichen Naivität, selbst deutlich bewußt. Immerhin räumte er gegenüber Knebel ein, daß er das Ziel seiner Studien noch nicht erreicht habe. So nah er dem ersehnten Modell der Urpflanze' eben noch gewesen zu sein glaubte, so muß er sich selbst und dem Adressaten seiner Briefe doch wenig später eingestehen: „Zur völligen Ausbildung dieser Idee brauchts noch Zeit."37 Daran können selbst die günstigen Forschungsbedingungen in der italienischen Landschaft nichts ändern: „Dieses Land ist schon recht zu einem solchen Studio gemacht. Was ich im Norden nur vermutete finde ich hier offenbares Aber es mangelt an der notwendigen Fachliteratur, die zur unverzichtbaren wissenschaftlichen Ausstattung des Botanikers gehören würde: „Leider daß ich so ganz von allen Büchern, die zu diesem Studio gehören, entfernt bin ! Die Genera Plantarum [von Linné, 1752, ed. C. C. Strumpffj und noch dazu eine alte Edition, sind der ganze Vorrat meines Robinson Crusoeischen Musei."39 Ohne die fachspezifischen Kenntnisse und den genauen Forschungsstand präsent zu haben, sieht sich der Naturbeobachter mitunter durch die Gefahr des Dilettantismus bedroht. Goethe selbst stuft seine Naturstudien in seiner vielfältigen und abwechslungsreichen Korrespondenz meist als 'Gelegenheitsarbeiten' ein, die der systematischen und kontinuierlichen Durchführung entbehren. Um jenes methodische Defizit auszugleichen, setzt er auf seine zuverlässige Beobachtungsgabe und rasche Auffassungsfähigkeit. Nicht selten hofft Goethe auf die glückliche Eingebung, wie der Brief an Knebel 37 Goethe an Knebel am 3. 10. 1787, Briefe, Band II, S. 66-67. 38 Goethe an Knebel am 3. 10. 1787, Briefe, Band II, S. 67. 39 Ebd., S. 67.

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vom 24. Mai 1788 beispielhaft verdeutlicht: „Heute hat mich die Mineralogie wieder einmal angelächelt."40 Ähnlich äußert sich Goethe auch gegenüber 'Spezialisten', wie etwa im Brief an Samuel Thomas von Sömmering, der seit 1778 als Professor der Anatomie in Kassel lehrte. Auch hier sieht sich Goethe mit seinen Naturforschungen - in höflicher Untertreibung - ganz auf die 'Mußestunden' beschränkt: „Wie sehr mich diese Wissenschaft [die vergleichende Anatomie der Wirbeltiere], der ich im eigentlichen Sinne nur Minuten widmen kann, anzieht, werden Sie leicht fühlen, da Sie sich ihr ganz gewidmet haben."41 Noch in anderer Hinsicht zeigen sich gewisse Schwächen in Goethes Forschungs- und Beobachtungsweise. Der Bauplan der Urpflanze kann offenbar nur um den Preis einer konsequenten Ausblendung wichtiger Details erreicht werden und verdankt sich daher einer erstaunlichen Vereinfachung und Reduktion von Komplexität, die gemessen an der Vielfalt der in den Blick genommenen Gegenstände mitunter zu kurz greift und den Autor selbst nicht ganz zu überzeugen vermag. In diesem Sinne schreibt Goethe jedenfalls an Charlotte von Stein: „ich sinne nicht mehr drüber, es kommt mir alles entgegen und das ungeheure Reich simplificirt sich mir in der Seele, daß ich bald die schwerste Aufgabe gleich weglesen kann."42 Wenn der Italienreisende nach den gewünschten Zusammenhängen sucht, nimmt er also gewisse Vereinfachungen und Vergröberungen seiner Beobachtungsergebnisse in Kauf, um zu klaren und prägnanten Strukturen durchdringen zu können. Mehr noch: Selbst die morphologischen Studien bleiben in letzter Instanz anthropozentrisch orientiert. So verrät eine etwa zeitgleich entstandene Notiz an Charlotte von Stein vom 23. 8. 1787, in welche Richtung Goethes Gedankengänge über morphologische Zusammenhänge eigentlich tendieren: „Noch muß ich ein Blättchen einschieben um dir zu sagen wie gut es mir mit dem Modellieren geht. Sage es doch Herders. Die menschliche Gestalt tritt in alle ihre Rechte und das übrige fällt mir wie Lumpen vom Leibe. Ich habe ein Prinzip gefunden das mich wie ein Ariadnischer Faden 40 Briefe, Band II, S. 93. 41 Briefe, Band I, S. 441. « Briefe, Band I, S. 514.

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durch die Labyrinthe der Menschen-Bildung durchführen wird."43 Die morphologische Forschung und das anhaltende Interesse an der biologischen Gestalt münden im Falle Goethes, wie die zitierten Zeilen vorsichtig andeuten, in eine Betätigung anderer Art ein: in die zwar insgesamt über recht bescheidene Ansätze nicht hinausgekommene, aber nichtsdestoweniger mit großem Engagement betriebene Versuche des Autors in der bildenden Kunst. Letztere sind in unserem Zusammenhang insofern interessant, weil sie zeigen, inwieweit die Gestaltkonzeption bei Goethe von anthropomorphen Zügen durchdrungen und von diesen schwer abzulösen bzw. analytisch zu trennen war. Die oben beobachteten fließenden Übergänge zwischen Naturbeschreibung und Ästhetik machen sich in Goethes Werk, dies dürfte vor dem Hintergrund des bisher Gesagten kaum überraschen, auch auf einem anderen Gebiet als der Botanik bzw. der Pflanzenmorphologie bemerkbar. Gemeint sind die osteologischen Beobachtungen, die Goethe nichts weniger als das Verdienst einbrachten, als der Entdecker des Zwischenkieferknochens, des os intermaxillare beim Menschen zu gelten.44 Nicht weniger bekannt als die botanisch-morphologischen Studien sind Goethes ausgedehnte Forschungen und Versuche in der Zoologie, besonders seine Studien der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Schon im Juni 1784 berichtet Goethe im Brief an Frau v. Stein aus Eisenach von einen besonders wertvollen Fund, den er von Samuel T. Sömmering aus Kassel erhalten habe. Es handelt sich bei jenem zoologischen Objekt, dem Goethe augenscheinlich eine ganz besondere Bedeutung beimaß, um nichts weniger als einen gewaltigen Elefantenschädel. Auch auf die Aufbewahrung des erworbenen Studienobjekts in seinem Haus verwendet der Autor die größte Sorgfalt, ja er umgibt den naturkundlichen Gegenstand mit einer ausgepräg« 44

Briefe, Band II, S. 65. Vgl. Dorothea Kuhn, Geschichte, begriffen als Beschreibung, als Biographie und als Historie. Goethes Konzepte, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. Peter Matussek, München 1998, S. 44-57, hier S. 47. Vgl. auch Goethes Brief an J. G. Herder vom 27. 3. 1784, Briefe, Band I, S. 435.

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ten Aura des Geheimnisvollen und Besonderen: „Ich halte ihn im innersten Zimmergen versteckt damit man mich nicht für toll halte. Meine Hauswirthinn glaubt es sey Porzellan in der ungeheuren Kiste."45 Jene Heimlichtuerei um die anatomischen Untersuchungen muß den unbefangenen Betrachter um so mehr überraschen, als sie in merkwürdigen Gegensatz zu der sonst zur Schau gestellten Nüchternheit und Objektivität steht, mit der Goethe seine Naturbeobachtungen zu versehen pflegte. Es ist keineswegs unmittelbar einsichtig, warum der Autor soviel Aufhebens um die Verwahrung des von ihm gewählten Studienobjekts macht. Auch die Tatsache, daß Charlotte von Stein die Adressatin des Schreibens ist, kann in diesem Fall kaum zur Erklärung beitragen, denn nahezu die gleiche Darstellung Goethes findet sich auch in einem Brief an Sömmering, auf den noch zurückzukommen ist. Man darf davon ausgehen, daß eine von der Sache her bei nüchterner Betrachtung kaum motivierte, geschweige denn geforderte Strategie der Verheimlichung für Goethes Zugehensweise zur vergleichenden Anatomie typisch und daher wiederum sehr aufschlußreich ist. Das in der Porzellankiste versteckte Objekt anatomischer Forschungen wird unter der Hand zum Kultgegenstand, dessen Fragilität und geheimnisvolle Ausstrahlung nur dem eingeweihten Spezialisten zugänglich sein darf und (folgerichtig) vor unwissenden Laien wie der Hauswirtin geschützt werden muß. Der fetischhafte, ritualisierte und gleichsam kultische Umgang mit dem anatomischen Gegenstand suggeriert, daß die Gestalt des Elefantenschädels seinem Besitzer in mancher Hinsicht mehr bedeutet als ein bloßes Medium naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Ein solcher persönlicher 'Mehrwert' des erworbenen Objekts findet seine Bestätigung in der überschwenglichen Freude, die Goethe in seinem Dankesbrief an den Besitzer des Elefantenschädels, Samuel T. Sömmering, zum Ausdruck bringt. Auch hier steht die Geste der Heimlichkeit und die Notwendigkeit, mit den laienhaften Bekannten, die von Anatomie nichts verstehen, ein Versteckspiel zu treiben, im Mittelpunkt der Beschreibung: 45

Goethe am 7.6. 1784 an Frau v. Stein, Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden, hg. K. R. Mandelkow und B. Morawe, Hamburg 1962 ff, Band I, S. 440.

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„Sie haben mir durch die Übersendung des ElephantenSchädels ein großes Vergnügen gemacht. Er ist glücklich angelangt, und ich verwahre ihn in einem kleinen Cabinete, wo ich ihm heimlich die Augenblicke widme, die ich mir abbrechen kann, denn ich darf mir nicht merken lassen, daß ein solches Ungeheuer sich ins Haus geschlichen hat."46 Nur schwerlich ist eine Trennung von dem derart gehegten Objekt denkbar, so daß es kaum verwundert, wenn Goethe den Wunsch anschließt, den Schädel vorerst behalten, ja „ihn mit nach Weimar ... nehmen"47 zu dürfen. Daß darüber hinaus übrigens noch weitere Transaktionen von Tierschädeln geplant waren, gibt derselbe Brief deutlich zu erkennen.48 Von einer solchen fetischhaften Betrachtung und Umsorgung des anatomischen Forschungsgegenstands ist es nur ein kleiner Schritt, der zu der Beobachtung und Beschreibung seiner besonderen ästhetischen Qualitäten führt. Die Glücksgefühle, die Goethe dem großzügigen Besitzer des Elefantenschädels mitteilt, verdanken sich nämlich zu keinem geringen Teil dem Umstand, daß das erhaltene Exemplar außerordentlich günstige, leicht zu identifizierende und harmonische Proportionen aufweist. Die kleinsten Details der Knochenbildung lassen sich, was angesichts der Dimensionen des Elefantenschädels nicht verwundert, mühelos erkennen und entsprechen den Erwartungen des Autors aufs Schönste. In diesem Sinne bemerkt Goethe zufrieden, daß seine „Hoffnung, die meisten Suturen [Nähte und Fugen der Hirnschalenknochen] und Harmonien unverwachsen zu finden, glücklich eingetroffen" sei.49 Es ist zweifellos die Suche nach der präzise konturierten, wohlgeformten Gestalt, die Goethes anatomische Studien nicht unwesentlich motiviert und beflügelt. Die Konzentration auf die ästhetischen, d. h. die hin-

46 An S.T. Sömmering, Briefe, Band I, S. 440. 47 An S.T. Sömmering, Briefe, Band I, S. 440. 48 „Auf den Schädel des Hippopotamus hatte ich gleich nicht so sicher gerechnet als auf Ihre Gütigkeit. Vielleicht glückt es in der Folge. Durch wen könnte man denn etwa dazu gelangen?" (Goethe an S. T. Sömmering, Band I, S. 441.) Vgl. auch Abbildung 3. « An S. T. Sömmering,, Briefe, Band I, S. 441.

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Abbildung 3: Vergleichende anatomische Studien von Tierschädeln Aus: Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München 1998, S.

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sichtlich ihrer Proportionen 'schönen' Formen scheint der Naturerkenntnis (aus Goethes Sicht) förderlich, da jene eine genaue Wahrnehmung und Beschreibung der gegebenen Struktur erleichtern. Daß sich die Goethesche Methode hier auf eine zirkuläre Denkfigur einläßt, die gewissermaßen das zu bestätigen sucht, was sie implizit schon voraussetzt, läßt sich erahnen. Der ästhetische Blick auf die Anatomie begünstigt die morphologische Forschung nämlich nur insofern, als er es erlaubt, ihre angenommenen Gesetzmäßigkeiten offen zu legen, während er sie zugleich vor unerwarteten, aus dem 'Rahmen' fallenden Ergebnissen und Überraschungen abschirmt. Deshalb ist Goethes Zugehensweise eher geeignet das vorhandene taxonomische System der Spezies in der Nachfolge Linnes zu stabilisieren, als der zeitgenössischen Biologie innovative Impulse zu geben oder Unerwartetes (wie beispielsweise den Evolutionsgedanken) zu entdecken. Es deutet sich an, daß die Ausbildung eines klassischen Formideals in Goethes Schriften sich zwar gut in die zeitgenössische Ordnung des Naturwissens einfügte, daß aber die Vorliebe für in sich ruhende Gestalten, wie sie mit Klassizität oft verbunden wurde, (schon aufgrund einer gewissen Beharrungskraft der einmal gefundenen Formen) richtungweisenden Entdeckungen in der Disziplin der Biologie eher im Wege sein mußte. Umgekehrt wäre im Anschluß an die genannten Überlegungen zu fragen, inwieweit denn die Naturbetrachtung der (klassischen) Ästhetik Anregungen liefern konnte und zu Ihrer Entfaltung beitragen konnte. Daß Goethe selbst eine solche Einflußrichtung annahm und befürwortete, wird punktuell an den mitten in seine morphologische Betrachtungen eingestreuten Exkursen immer wieder deutlich. Goethes morphologische Studien greifen nämlich, wie immer man dieses Vorgehen (aus der Retrospektive) einschätzen mag, wiederholt auf ästhetische Phänomene zurück. Dieser Sachverhalt wird besonders prägnant an anderer Stelle ersichtlich. Bei der Schilderung des Knochenbaus von Rindern läßt sich Goethe nämlich dazu verleiten, in einem weit ausholenden kunstphilosophischen Exkurs an den Hörnern der Stiere die Hogarthsche Schönheitslinie zu entdecken und ihre Wirkung auf den Betrachter im Detail zu erörtern. Es ist die von William Hogarth

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erfundene und in der Analysis of Beauty 50 näher erläuterte Schlangenlinie, die figura serpentinata, der Goethe augenscheinlich unvermutet bei der Sichtung seiner gesammelten zoologischen Beobachtungen begegnet.51 Scheinbar beiläufig führt Goethe seine Leser in die zugrunde liegenden kunsttheoretischen Gesetzmäßigkeiten ein, die den merkwürdigen Reiz und die eigentliche ästhetische Qualität der gewundenen Form ausmachen: „Das Lebendige, wenn es ausläuft, so daß es, wo nicht abgestorben, doch abgeschlossen erscheint, pflegt sich zu krümmen, wie wir an Hörnern, Klauen, Zähnen gewöhnlich erblicken; krümmt nun und wendet sichs schlängelnd zugleich, so entsteht daraus das Anmutige, das Schöne. Diese fixierte, obgleich noch immer beweglich scheinende Bewegung ist dem Auge höchst angenehm; Hogarth mußte beim Aufsuchen der einfachsten Schönheitslinie darauf geführt werden..." Die Naturgestalt der Hörner ist beides zugleich: Erscheint sie dem Betrachter einerseits statisch und in ihrer Linienführung ein für alle Mal festgelegt, so verrät sie bei genauerem Hinsehen eine erstaunliche innere Dynamik und Bewegtheit. Die an und für sich leblose, 52 schöne Form des Horns erhält in Goethes Darstellung einen entscheidenden Doppelcharakter, da sie unter der Hand mit dem Pathos des Lebendigen umgeben wird. Wenn es für Hogarths kunstphilosophische Verfahrensweise charakteristisch war, wie Goethe an der zitierten Stelle implizit suggerriert, erst über die genaue Beobachtung der Natur, nämlich die vergleichende Betrachtung von Tiergestalten, zu seinen wegweisenden ästhetischen Entdeckungen zu gelangen, so gibt umgekehrt jede zufällige Begegnung mit einzelnen biologischen Spezies Anlaß zu einer Erfahrung, die nur als eine spezifisch ästhetische zu bestimmen ist. Goethe jedenfalls berichtet von einer solchen plötzlichen Wahrnehmung des Schönen im Alltäglichen, die durch das pittoreske Ambiente der sizilianischen 50

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Vgl. William Hogarth, The Analysis of Beauty, written with a view of fixing the fluctuating Ideas of Taste [1753], Neuauflage Oxford 1955. Näheres zu diesem Aspekt und dem Rezeptionsverhältnis Hogarth Goethe in: Graevenitz, Das Ornament des Blicks, bes. S. 37-67. Hörner bestehen bekanntlich aus abgestorbenen Hautzellen.

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Landschaft wirkungsvoll untermalt wird: „Hatte nun Hogarth die Schönheit bis in dieses Abstrakte verfolgt, so ist nichts natürlicher, als daß dies Abstrakte, wenn es dem Auge wirklich erscheint, mit einem angenehmen Eindruck überraschen müsse. Ich erinnere mich in Sizilien auf der großen Plaine von Catanea eine kleine, nette reinbraune Art Rindvieh auf der Weide gesehen zu haben, deren Gehörn, wenn das Tier mit freiem Blick den niedlichen Kopf emporhob, einen höchst angenehmen, ja unauslöschlichen Eindruck machte." (Fossiler Stier 13, 201) Neben der naturwissenschaftlichen Ambition ist es offenbar Goethes Anliegen, seinen Lesern zu demonstrieren, daß die genaue (wissenschaftliche) Beobachtung zu beeindruckenden Augenblickserfahrungen von herausragender ästhetischer Qualität führe, an die sich der Beobachter darüber hinaus bei Bedarf wieder erinnern könne. Vor dieser Folie verwundert es denn kaum, wenn der Autor im Rahmen seiner anatomischen Beschreibung zwanglos einen Passus über die Rolle der diskutierten Hornformen in der antiken Ikonographie integriert: „Welchen Vorteil die Alten bei Behandlung der Füllhörner aus diesen Gebilden gezogen, ist jedermann bekannt, Schon einzeln auf Basreliefen, Gemmen, Münzen sind sie erfreulich, unter sich und mit anderen Gegenständen komponiert höchst zierlich und bedeutend; und wie allerliebst schlingt sich ein solches Horn um den Arm einer wohltätigen Göttin." (13, 201) Es ist Goethe um nichts weniger zu tun, als eine gewisse Kontinuität zwischen Naturschönem und Kunstschönem zu erweisen. Liegt doch der Akzent der Darstellung auf der Austauschbarkeit beider Bereiche, insofern es den Anschein hat, daß die morphologische Gestalt erst dann zu sich selbst komme, wenn sie in ein Kunstwerk integriert und mit anderen Versatzstücken der Bildkomposition verknüpft wird, - ein Vorgang, der zugleich geeignet ist, den verborgenen Ornamentcharakter der Naturformen, ihren wohlgeformten ästhetischen Grundriß offenzulegen. Die morphologischen Studien bestätigen somit den in der Italienischen Reise geäußerten Eindruck, daß die höchsten

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Kunstwerke zugleich die höchsten Werke der Natur seien,53 ein Gedanke, der nicht zufällig auch in den Briefwechsel mit Schiller Eingang gefunden hat. Im Briefentwurf vom 8. - 19. 10. 1794 notiert Goethe in diesem Sinne: „wie das schönste Kunstprodukt, eben wie ein schönes Naturprodukt, zuletzt nur gleichsam durch ein unaussprechliches Wunder zu entstehen scheine."54 Die zitierten Zeilen betonen nicht allein das Unwahrscheinliche und Rätselhafte der Kunstgenese, sie bereiten ferner eine allmähliche Transformation von Grundprinzipien der naturkundlichen Morphologie in eine 'Gestaltästhetik' und ganzheitliche Kunsterfahrung von spezifischem Format vor, die ihre taxonomische und organologische Herkunft kaum verleugnet.

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„Glückliches Ereignis": Die Geburt des Weimarer Freundschaftsbunds aus dem Geist der Urpflanze

„ Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?" (Goethe, Italienische Reise)

Welchen herausragenden Stellenwert Goethe selbst seinen Naturstudien beigemessen hat, wird vor allem daraus ersichtlich, daß er sie im Zusammenhang seines berühmten Rückblicks auf die Anfänge der Freundschaft mit Schiller ausdrücklich erwähnt, und ihnen keinen geringen Anteil an dem Zustande-

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Vgl. Goethes Brief vom 6. September 1787, Zweiter Römischer Aufenthalt (Hamburger Ausgabe 11, 395): „Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden." Entsprechend bezeichnet Goethe die „Kunst" in den Maximen und Reflexionen als eine „andere Natur", die auch „geheimnisvoll", aber verständlicher sei, weil sie vom Menschen selbst entworfen wurde (12, 467). Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. Siegfried Seidel, S. 28.

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kommen jenes 'glücklichen Ereignisses' zuschreibt. 5 5 - Heißt es doch gleich eingangs in euphorischem Ton: „So m u ß t e n mir diese vergnüglichen Bemühungen [um die Metamorphose der Pflanze] dadurch unschätzbar werden, indem sie Anlaß gaben zu einem der höchsten Verhältnisse, die mir das Glück in spät e m J a h r e n bereitete." (10, 538) Goethes empfindsame u n d selbstzufriedene Versenkung in die Natur, wie sie in den zitierten Zeilen greifbar wird, k a n n durch nichts anderes mehr überboten werden als den mit gleicher Emphase bedachten 'Freundschaftsbund' mit Schiller, der später die Legende vom Weimarer Dioskurenpaar' 5 6 ins Leben rufen sollte: „Die nähere Verbindung mit Schiller bin ich diesen erfreulichen Erscheinungen schuldig; sie beseitigten die Mißverhältnisse, welche mich lange Zeit von ihm fern hielten." (10, 538) Ein gemeinsamer Nenner zwischen den beiden späteren Weimarer Klassikern hat sich, so jedenfalls suggeriert es Goethes retrospektive Darstellung, nicht etwa durch ein Gespräch über literarische Gegenstände oder einen Vergleich der poetologischen Standpunkte ergeben, sondern auf dem (literaturtheoretisch unverfänglichen) Gebiet der Naturphilosophie. Daß sich eine solche Übereinstimmung, eine Art Konsens zwischen den beiden, höchst unterschiedlich veranlagten Autoren ü b e r h a u p t abzeichnete, m u ß u m so mehr in Erstaunen versetzen, als Goethe in seinen weiteren Ausführungen alles daran setzt, die Gegensätzlichkeit ihrer Positionen so scharf wie möglich zu konturieren, so daß der Ausgangspunkt für eine freundschaftliche Beziehung dem unbefangenen Leser denkbar ungünstig erscheinen muß. Goethe glaubt in Schiller nichts anderes als „ein kraftvolles, aber unreifes Talent", eine Art wildlaufendes Genie, zu erkennen, das ihm nicht zuletzt deshalb in hohem Maße suspekt ist, weil es „gerade die ethischen u n d theatralischen Paradoxen, von 55

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Die retrospektive Darstellung der ersten persönliche Begegnung mit Schiller im Sommer 1794 veröffentlichte Goethe bekanntlich unter dem bezeichnenden Titel „Glückliches Ereignis" am 9.9.1817 im Morgenblatt für gebildete Stände. Vgl. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band I, München 1980.

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denen ich mich zu reinigen gestrebt, recht im vollen hinreißenden Strome über das Vaterland ausgegossen hatte" (10, 539). Besonders irritierend empfindet es Goethe, daß Schiller eben jene Poetik des Sturm und Drangs fortgesetzt hat, mit der er selbst mental längst abgeschlossen hatte und mit deren Ausprägungen er seither offenbar Berührungen scheute. „Wo war eine Aussicht, jene Produktionen von genialem Wert und wilder Form zu überbieten?" (10, 539) Goethe sieht sich gezwungen einzuräumen, daß er mit Schiller auf dessen bevorzugtem Terrain weder mithalten kann noch möchte und sich dadurch in eine äußert ungemütliche Lage gedrängt fühlt: „Die reinsten Anschauungen suchte ich zu nähren und mitzuteilen, und nun fand ich mich zwischen Ardinghello und Franz Moor eingeklemmt." (10, 539) Aufgrund des bisher Gesagten wird die eindeutige Schlußfolgerung, die Goethe in seiner autobiographischen Schilderung zieht, plausibel: Es scheint vorerst kein Kompromiß denkbar, der geeignet wäre, die polaren Gegensätze miteinander zu versöhnen oder sie auch nur auf eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu stellen: So verwundert es nicht, wenn vorerst alle vorsichtigen Vermittlungsversuche, die von Seiten Schillers unternommen werden, fehlschlagen. Das Ergebnis ist eine weitere Trennung und Distanzierung, die größer und unüberbrückbarer nicht sein könnten: „Die ungeheure Kluft zwischen unseren Denkweisen klaffte nur desto entschiedener." (10, 540) Es versteht sich, daß vor dieser Zuspitzung des untergründigen Konflikts dasjenige Moment, das die unwahrscheinlich gewordene Versöhnung schließlich dennoch herbeiführt, eine ungeahnte Emphase erhalten muß. Der unauflösliche Gegensatz und der, wenn auch nicht offen ausgetragene, so doch latent andauernde Streit der beiden Autoren bereitet in Goethes 'Bericht' nur die dunkle Grundierung und die geeignete Folie, vor der sich das Gewicht und die herausragende Rolle der Morphologie desto besser abheben können. Bezeichnenderweise macht Goethe geltend, die erste Annäherung zwischen Schiller und ihm sei nach einer Sitzung der 'Naturforschenden Gesellschaft', genauer: während eines Gesprächs über biologische Gegenstände erfolgt. Daß sich gerade auf dem Terrain der Naturbeobachtung zwischen Goethe und

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Schiller eine Konfliktlösung angebahnt haben soll, erstaunt um so mehr, als Schiller zuvor in einem Brief an Körner vom 12.8. 1787 an Goethes „biß zur Affektation getriebenem Attachement an die Natur" noch unmißverständlich Anstoß genommen hatte.57 Nichtsdestoweniger behauptet Goethe in seinem Rückblick auf das erste produktive Zusammentreffen mit Schiller unzweideutig, auf dem Boden der 'Naturtheorie' sei der bislang fehlende gemeinsame Nenner erreicht worden. Beide Autoren seien auf dem Rückweg von der erwähnten Sitzung der 'Naturforschenden Gesellschaft' nämlich darin übereingekommen, daß „eine so zerstückelte Art die Natur zu behandeln" den Laien nicht erfreuen könne (Schiller) und daß es eine Verirrung sei, „die Natur ... gesondert und vereinzelt vorzunehmen" (10, 540). Man müsse vielmehr danach streben, „sie wirkend und lebendig aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen" (Goethe, 10, 540). Daß Goethe bei der Schilderung, wie es zu der unverhofften glücklichen Annäherung der schriftstellerischen Antipoden kam, mit keinem Worte auf literaturtheoretische oder ästhetische Fragen eingeht, ist bezeichnend. Sollte man doch vermuten, die beiden hätten den sich ankündigenden gemeinsamen Nenner und vorsichtigen Konsens ihrer bisher so disparaten Anschauungen auf dem Boden jener Poetik gefunden, die man im literaturgeschichtlichen Rückblick als die 'klassische' bezeichnet. Wer aber in der Goetheschen Darstellung solche gemeinsamen literarischen Vorlieben sucht, hat weit gefehlt. Vielmehr ist jenes unter dem emphatischen Eindruck des glücklichen Augenblicks stehende Zusammentreffen mit Schiller einer ganz anderen Thematik gewidmet als der Schriftstellerei, denn in der retrospektiven Akzentsetzung gibt es Goethe vielmehr die einzigartige Gelegenheit, seine eigene organischentelechische Naturphilosophie darzulegen und ihr den gebührenden Nachdruck zu verleihen. Goethe nutzt seine späte Darstellung der Begegnung mit Schiller, mit anderen Worten, vornehmlich dazu, seine morphologische Naturauffassung prä-

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Schillers Werke, Nationalausgabe, Skrodzki, Weimar 1989, S. 129.

Band

XXIV,

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Karl

Jürgen

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gnant zu konturieren, die nun dadurch eine besondere Autorität für sich verbuchen kann, daß sie zwei höchst unterschiedlich gelagerte Talente gleichermaßen zu überzeugen vermag, die sich zudem wenig später zu literarischen Berühmtheiten entwickeln sollten. Beide Autoren stimmen nach Goethes Aussage jedenfalls darin überein, daß nur eine ganzheitliche Betrachtung der Naturphänomene die angemessene Methode sei, jene zu erfassen, während die moderne analytische Zugehensweise mehr oder weniger entschieden abgewiesen wird. Stellt sie sich doch beiden Gesprächsteilnehmern als das Zerrbild einer unnatürlichen 'Zerstücklung' organischer Formen und ihres harmonischen Zusammenwirkens dar. Je deutlicher sich dieser Konsens zwischen Schiller und Goethe abzeichnet, desto mehr nimmt er die Konturen einer auf Totalität, Ganzheit und harmonischen Zusammenhang setzenden Naturkonzeption an, die ihr emphatisches Pendant im Begriff der Gestalt (oder morphe) findet. Doch damit nicht genug. Die beiden Akteure des retrospektiv inszenierten Geschehens kommen durch die punktuell aufscheinende Gemeinsamkeit weiter ins Gespräch. Goethe notiert: „Wir gelangten zu seinem Haus, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor, und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen." (10, 540-41) Wie ersichtlich, hat Goethe sich selber die Rolle des überlegenen Wissenden zugedacht, der seinem Zuhörer jenen Wissensvorsprung in wenigen symbolischen Andeutungen zu skizzieren versteht und ihm darüber hinaus die Architektur der Pflanze sogar in unwiderlegbaren, plastischen Konturen zu evozieren vermag. Wie durch einen Geniestreich gelingt es Goethe in seiner Darstellung nicht nur, die Geheimnisse des Metamorphoseprinzips zu durchleuchten, sondern gleichzeitig auch die Widersprüche im Verhältnis zu Schiller auszuräumen und die bisher gespannte Beziehung überraschend ins rechte Lot zu bringen. In der Forschung wurden berechtigte Zweifel an der Authentizität von Goethes Rückblick geäußert, von dem dahin steht, ob

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er wirklich den historischen Tatsachen entsprach.58 Abgesehen davon, daß die berichteten Ereignisse zweifellos durch Goethes verklärende Erinnerung hindurchgegangen sind, scheinen sie zudem durch seine im Alter noch zunehmende Begeisterung für die Naturforschung wesentlich geprägt, auf deren Gebiet er sich selbst Koiyphäen wie Newton ohne weiteres überlegen fühlen mochte. Wichtiger als die Frage der Angemessenheit von Goethes Darstellung sind indessen die spezifischen Diskurselemente, die seine morphologische Position bestimmen und die im deutschsprachigen Raum lange Zeit die unangefochtene Grundlage für alle weiteren modernen Gestalttheorien bilden sollten sowie die maßgebliche Autorität darstellen, auf die sich die späteren 'Gestaltsucher' und 'Gestaltadepten' bis weit ins 20. Jahrhundert gerne berufen sollten. Kennzeichnend für die sich aus dem Dialog zwischen Goethe und Schiller allmählich herauskristallisierende Idee der Gestalterfahrung sind eine Priorität der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung und eine uneingeschränkte Hochschätzung der organischen, gleichsam natürlichen Form, deren negatives Reversbild das sich um 1800 bereits ankündigende moderne Wissenschaftsprofil mit seiner Tendenz zur Spezialisierung, fortschreitenden Technisierung und Aufgabenteilung ausmacht. Deshalb ist mit jener organologischen Gestaltkonzeption, wie Goethes 'Bericht' unmißverständlich zu erkennen gibt, von Anfang an eine (folgenreiche) polemische Stoßrichtung gegen die rein wissenschaftliche Dokumentation und die analytische Differenzierung ihrer Gegenstände aufs engste verbunden, denn sie impliziert eine entschiedene Abwertung jeglicher szientifischen und analytischen Tendenz, die mit dem ausdrücklichen Hinweis auf das Zerstörerische und unnatürlich Willkürliche eines solchen Eingriffs darüber hinaus zugleich auch moralisch disqualifiziert wird. An Stelle dessen geht der Goethesche Naturbeobachter die Verpflichtung ein, das einzelne stets (in hermeneutischer Manier) aus dem Ganzen begreifen und auf das Ganze, verstanden als die Gesamtheit des sinnlich wahrnehm-

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Vgl. Conrady, Goethe. Leben und Werk. Band S. 92.

2: Summe des Lebens,

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baren, natürlichen Kosmos, zurückbeziehen zu müssen. Somit tendiert die gestalthafte Naturauffassung gewissermaßen von Haus aus dazu, Synthesen zu stiften, mehr noch: es ist ihr offenkundig versagt, bei der Betrachtung der Natur den Blick auf isolierte, aus dem übergreifenden Nexus gelöste Einzelheiten zu konzentrieren, die aus dem einmal erkannten Gesamtschema herausfallen würden, weil solche dissonanten Momente im blinden Fleck des gewählten 'gestalthaften' Beobachtungstyps liegen. Es ist der holistischen Optik des Naturforschers vom Typ Goethes mit anderen Worten verwehrt, irgend etwas anderes zu erkennen als das, was sich mehr oder weniger zwanglos in übergreifende Synthesen und ganzheitliche Konfigurationen integriert. Geprägt durch den Anspruch, Gestalten zu sehen und im Medium der Anschauung kreativ nachzuvollziehen, bleibt der Zugang zum heterogenen Detail, das sich nicht in die kosmische Einheit einfügen will, notwendigerweise verstellt und muß daher mit einer gewissen Vehemenz abgewehrt werden. Interessanterweise übernimmt Goethe in seiner oben ausführlicher diskutierten Selbstcharakteristik im wesentlichen Schillers Deutung, wie sie jener im Brief vom 23. 8. 1794 beispielhaft entfaltet hatte. Um Goethes naturwissenschaftliches Verfahren näher zu charakterisieren und dessen hervorragende Begabung zu würdigen, skizziert Schiller, wie dieser sich in den Bahnen einer eindrucksvollen Totalitätssuche bewegt und sich dabei einer synthetischen Kraft bedient, die gleichzeitig von einer außerordentlichen Reichweite des Denkens zeuge: „Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf."59 Obgleich der Goethesche Blick gleichsam synoptisch über die gesamte Natur schweift, ist er, folgt man den Ausführungen Schillers, nichtsdestoweniger auf ein anthropomorphes Zentrum gerichtet. Ist es Goethe doch letztlich um nichts anderes zu tun, als "den Menschen aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen."60 Goethes ganzheitliche Betrachtung und Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. Siegfried Seidel, S. 9. 60 Ebd., S. 9. 59

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totalitätsorientierte Vorgehensweise hebt sich in Schillers Ausführungen von der Technik des Analytikers zweifellos positiv ab. So bemerkt der Autor mit selbstkritischem Unterton über die moderne Methode des Differenzierens: „Diese kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht die Sache des Analytikers, sondern des Genies, welches unter dem dunklen, aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen verbindet."61 Obwohl Schillers Brief oberflächlich betrachtet eine einzige Huldigung und Verbeugung vor Goethe darstellen mag,62 macht sich ungeachtet dessen leise Kritik an dem bewunderten Schriftstellerkollegen bemerkbar. Es entbehrt nicht der Ironie, daß das Genie vom Typ Goethes Schillers Argumentation zufolge nicht einmal in der Lage ist, die eigenen Vorzüge hinlänglich deutlich zu erkennen, geschweige denn sie zu beschreiben, sondern dazu eines scharfsinnigen Interpreten bedarf. Hinsichtlich ihrer eigenen Verdienste tappen die ganzheitlich orientierten Menschen bzw. die gestaltsuchenden Wissenschaftler, so die Konsequenz aus Schillers Überlegungen, notwendigerweise im Dunkeln, da ihnen die Fähigkeit zur Selbstreflexion fehle: „Geister Ihrer Art wissen daher selten wieweit sie gedrungen sind." Insofern ist der (geniale) 'Gestaltbeobachter' auf einen hilfreichen Ausleger und Vermittler wie Schiller angewiesen, ohne dessen tatkräftige Unterstützung ihm keine adäquate Selbsterkenntnis möglich wäre. Obgleich Schiller offensichtlich mit einer auffallenden Bescheidenheitsgeste schreibt, vermeidet er es in seiner Selbstdarstellung geschickt, als unterlegener Autor oder gar hilfloser Dilettant zu erscheinen, sondern er stilisiert sich Goethe gegenüber selbstbewußt in die Rolle einer notwendigen Ergänzung und komplementären ei Ebd., S. 9. 62 Der Tenor der Darstellung ist streckenweise euphorisch und ergeht sich in überschwenglichem Lob. Mit „immer erneuerter Bewunderung" habe er, so Schiller, dem „Gang von Goethes Geist" zugesehen.: „Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält." (Ebd., S. 9) Goethe entspricht nicht allein den Kriterien einer ästhetischen Einheitskonzeption, sondern nimmt in Schillers werbendem Brief darüber hinaus die idealisierten Züge einer heroischen Gestalt an.

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Begabung. Wichtiger noch als die von Schiller initiierte kontrastive Gegenüberstellung der beiden Schriftsteller als solche, die in der Folgezeit zu einem beliebten Forschungstopos avancieren sollte, 63 ist indes die Tatsache, daß jene vergleichende Methode der Goetheschen Naturkonzeption zusätzliches Profil u n d prägnante Kontur verleiht. Goethe verkörpert nach Schillers Aussage schließlich nichts weniger als „eine große u n d wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält." 6 4 Wie sehr sich Goethe tatsächlich durch Schillers Brief in dem Gefühl der Angemessenheit seiner Naturbetrachtung bestätigt gefühlt haben mochte, geht aus seinem Antwortschreiben vom 23. bis 30. August zurück, dem er als 'Beilage' nicht von ungefähr eine kleine Abhandlung über morphologische Gegenstände hinzufügte. Letztere trägt den vielsagenden Titel: „Inwiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne." J e n e Schrift ist nicht zuletzt deshalb in unserem Kontext von zentraler Bedeutung, weil sie eben denjenigen Schritt von der Biologie zur Ästhetik festhält, den vollzogen zu haben Goethe von der Forschung oft mehr unterstellt, denn systematisch nachgewiesen wird. 65 In der Tat zeichnet sich die „Abhandlung" dadurch aus, daß sie die im zeitgenössischen Umfeld d u r c h a u s wahrgenommene Differenz zwischen Naturbeobachtung u n d Kunsttheorie argumentativ gezielt zu überbrücken sucht. Es ist die vollkommene Organisation der Lebewesen, die Idee des (entelechischen) Organismus, die in der Goetheschen Optik schon rein äußerlich einen Begriff von Schönheit vermittelt. 66 Mehr noch: J e n e ästhetische Qualität stellt sich dem Betrachter als ein irreduzibles Phänomen dar, das sich nicht durch mathematisch festgelegte Proportionen berechnen lasse: „Wenn ich sage, dies Tier 63

Vgl. Jürgen Fohrmann, „Wir besprächen uns in bequemen Stunden." Zum Goethe - Schiller Verhältnis und seiner Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Klassik im Vergleich. DFG-Symposion 1990, hg. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1993, S. 570-593. 6" Ebd., S. 9. 65 Vgl. diesbezüglich auch die Anmerkungen 18 und 19 dieses Kapitels.

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ist schön, so würde ich mich vergebens bemühen, diese Behauptung durch irgendeine Proportion von Zahl oder Maß beweisen zu wollen."67 Der Eindruck einer anatomischen oder organischen Schönheit werde vielmehr durch ein bestimmtes „Verhältnis" der „Glieder" geweckt, das dem Betrachter die Existenz eines vollkommenen Gleichgewichts suggeriert. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, daß die ästhetische Wirkung des Organismus nach Goethe im Grunde auf einer Illusion bzw. Täuschung des Beobachters beruht. Sie kommt nämlich allein dadurch zustande, daß die eigentliche biologische Punktion der anatomischen Struktur, die Goethe mit den Konzepten „Notwendigkeit", „Bedürfnis"68 und 69 „Zweck" umschreibt, dem Betrachter zunächst verborgen bleibt. Statt dessen scheint das Tier in den Augen des menschlichen Beobachters allein „nach freier Willkür zu handeln und zu wirken",70 wodurch es die Vorstellung eines genuin ästhetischen Vorgangs, nämlich des zweckfreien Spiels hervorruft. Daß es sich bei dieser Interpretation des bewegten Organismus eigentlich um einen Trugschluß bzw. eine Fehldeutung handelt, tut dem ästhetischen Potential des organischen Körpers, so Goethes spitzfindige Argumentation, keinerlei Abbruch. Auch ist der Aspekt der schönen Wirkung, wie man zunächst annehmen könnte, weder an eine offensichtliche Dynamik noch an eine nur andeutungsweise erkennbare Bewegtheit der Gestalt gebunden. Selbst der ruhende Körper vermag ästhetische Energien auszustrahlen, wie Goethe am Beispiel antiker Löwenstatuen näher expliziert: „Daher bildeten die Alten selbst ihre Löwen in dem höchsten Grade von Ruhe und Gleichgiltigkeit, um unser Gefühl mit dem wir Schönheit umfassen, auch hier anzulocken."71 Wiederum sind es weniger die 'objektiven' Eigenschaften des Tierkörpers als vielmehr die in der subjektiven Betrachtung erzeugte Illusion, die den ästhetischen Reiz aus-

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67 68 69 70 71

Vgl. Der Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S.15. 15. 15. 14. 15. 16.

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macht. Entscheidend für das Zustandekommen des gewünschten ästhetischen Gesamteindrucks ist die Rezeptionsperspektive. Es kommt auf Seiten des Beobachters, so will es scheinen, lediglich darauf an, den wahrgenommenen Eindruck durch die Imagination derart zu verlängern und ergänzen, daß der betreffende morphologische Gegenstand mit Hilfe seiner Phantasietätigkeit von Dynamik erfaßt und in Bewegung versetzt wird. In diese Richtung zielt jedenfalls Goethes abschließende Bilanz: „Schön nennen wir ein vollkommen organisiertes Wesen, wenn wir uns bei seinem Anblicke denken können, daß ihm ein mannigfaltiger freier Gebrauch der Glieder möglich sei, sobald es wolle."72 Mit jener Schlußfolgerung, die das Zustandekommen des ästhetischen Phänomens ganz in die Beobachtungsperspektive hineinverlagert, ergibt sich für Goethe indes ein grundlegendes Problem. Wenn die Qualität der (organischen) Schönheit innerhalb seiner Argumentation nicht auf dem Gebiet der subjektiven Willkür, der reinen Sinnestäuschung oder des gedanklichen Fehlschlusses verbleiben soll, dann muß sie durch einen weiteren sinnstiftenden Kontext aufgefangen und garantiert sein. Betrachtet man Goethes morphologische Naturauffassung genauer, so verrät sie unverkennbar ihre vormoderne Provenienz. Es ist die Lehre von der sinnhaften uniuersitas rerum, der geordneten kreatürlichen Welt der Dinge, innerhalb deren ein universelles Prinzip der Korrespondenz zwischen makrokosmischen und mikrokosmischen Elementen den Zusammenhalt und die harmonische Übereinstimmung des natürlichen Gesamtgefüges gewährleistet und sichert. Nicht nur jede einzelne biologische Spezies findet darin ihren systematischen kreatürlichen Ort, auch jedes noch so kleine Detail zeugt von sinnerfüllter, zeichenhafter Präsenz. Eine solche Beobachtungshaltung dokumentiert nicht zuletzt, um ein weniger bekanntes, scheinbar marginales Beispiel herauszugreifen, Goethes euphorische Beschreibung von Entenmuscheln (Lepaden), bei der sich der Autor zu einer (angesichts der Geringfügigkeit des gewählten Objekts sogar leicht 72 Ebd., S. 16.

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komisch wirkenden) überschwenglichen Sprachgeste hinreißen läßt: „Wer das Glück hätte, diese Geschöpfe im Augenblick, wenn das Ende des Schlauches sich ausdehnt und die Schalenwerdung beginnt, mikroskopisch zu betrachten, dem müßte eins der herrlichsten Schauspiele werden, die der Naturfreund sich wünschen kann. Da ich nach meiner Art zu forschen, zu wissen und zu genießen, mich nur an Symbole halten darf, so gehören diese Geschöpfe zu den Heiligtümern, welche fetischartig immer vor mir stehen und, durch ihr seltsames Gebilde, die nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde und so im kleinsten wie im größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur vergegenwärtigen." (13, 206) An der zitierten Stelle gewinnt die biologische Gestaltvorstellung offenkundig eine durch nichts mehr zu überbietende Emphase, deren tiefere Begründung im latent anthropomorphen Gepräge jener Formvorstellung zu suchen ist, in der menschenähnlichen Natur und ihrem potenzierten Komplement oder Urbild - dem Göttlichen. Eine solche Gottesvorstellung hat allerdings mit der christlichen Orthodoxie nur noch wenig gemein, denn Gott avanciert hier tendenziell selbst zum Künstler, wenn nicht gar zum 'Ästhetizisten', der die kosmische Entwicklung und die biologische Evolution als grandioses Theaterstück und eindrucksvolles Gesamtkunstwerk in Szene setzt, innerhalb dessen kein noch so winziges Detail seinem übergreifenden Regiekonzept entgeht. In Goethes Schriften findet die biologische Gestalttheorie, die Morphologie des 18. Jahrhunderts, nicht nur ihre emphatischste Ausformulierung, sondern erfährt auch erste, wenn auch noch eher bescheidene Ansätze zu einer Problematisierung. So erweitert der Autor den an und für sich statischen Gestaltbegriff in entscheidender Weise durch die Einführung des Metamorphoseprinzips, das in den Heften Zur Morphologie (1817) näher erläutert wird: „Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen...Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abge-

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schlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. ... wenn wir das Wort brauchen, [dürfen wir] u n s allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung n u r für den Augenblick Festgehaltenes denken" (13, 55-56). Nach Goethes Auffassung handelt es sich bei der morphologischen Form offenbar u m ein in der empirischen Erfahrung n u r augenblickshaft aufscheinendes Modell, dessen Wahrnehm u n g einer engen zeitlichen Begrenzung, einer Konzentration auf den transitorischen Augenblick, unterliegt. Mehr noch: Es regt sich der Verdacht, daß Gestalt nicht allein ihrer Natur nach ephemer, sondern darüber hinaus möglicherweise nur eine heuristische Hilfskonstruktion sei, die einer sicheren ontologischen Grundlage entbehre. Daß es Goethe bei der Verschränkung des Gestaltmoments mit dem Metarmorphosegedanken darum zu t u n war, das Flüchtige u n d Transitorische der genannten Wahrnehmungsstruktur zu akzentuieren, h a t unter den späteren Goethe-Interpreten wohl am klarsten Georg Simmel erkannt. Er beruft sich nicht zufällig auf die Goethesche Formulierung der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt" (SG 81), u m an ihr eine grundlegende Aporie zwischen dem prägnanten Umriß der (unbewegten) Form u n d der kontinuierlichen Dynamik der Verwandlung aufzudecken, die sich nicht ohne weiteres entparadoxieren läßt. - Es erscheint Simmel indes fraglich, ob sich Goethe der Widersprüchlichkeit seiner Morphologie, insbesondere der k a u m noch zu überbrückenden Kluft, die sich zwischen dem Gestaltmoment als prägnanter Wahrnehmungsentität u n d der Annahme eines schwungvollen kontinuierlichen Formenwandels auftut, ü b e r h a u p t hinlänglich bewußt geworden sei. Nicht ganz zu Unrecht meldet der Kulturphilosoph gewisse Zweifel an, ob Goethe die mit jener eigentümlichen Dichotomie zwischen Gestalt u n d Metamorphose angesprochene erkenntnistheoretische Problematik jemals hinreichend gedanklich durchdrungen u n d erfaßt habe. 7 3 Es blieb späteren Schriftstellern - unter anderem Simmel selbst - vorbehalten, dieselbe ambivalente Konstellation u n d das oben u m 73

Vgl. Näheres dazu in Kapitel 3.

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schriebene Spannungsfeld wiederaufzunehmen, um die jenem inhärenten Paradoxien erneut durchzuspielen und aufzuarbeiten. Wenn es Goethe selbst bei allen inneren Brüchen und sich allmählich abzeichnenden Widersprüchen nicht in den Sinn kam, seine morphologischen Reflexionen einer grundlegenden Revision zu unterziehen, so sollte sich doch noch im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein diskursgeschichtlicher Wandel anbahnen, der die Goethesche Morphologie schon bald ins Abseits der modernen naturwissenschaftlichen Entwicklung drängen sollte. Goethes Gestaltlehre konnte im Verlauf ihrer weiteren Wirkungsgeschichte mit dem rasanten Tempo, mit dem sich die Ausdifferenzierung der modernen Evolutionsbiologie insbesondere im Fahrwasser der bahnbrechenden Darwinschen Entdekkungen im späten 19. Jahrhundert vollzog, kaum mehr mithalten.

2.4

Das Dilemma der Morphologie nach Darwin Diskurswandel und semantische Verschiebungen des Gestaltkonzepts

„Cuvier wird eines Tages am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach den Glasbehältern des Musée d'Histoire naturelle greifen, sie zerschlagen ...Es handelt sich ... um eine Veränderung im Raum der abendländischen Kultur: um das Ende der Geschichte im Sinne von Tournefort, Linné, Buffon, Adanson ... Das wird auch der Anfang dessen sein, was dadurch, daß ... der Organismus an die Stelle der Struktur, die innere Subordination an die Stelle der sichtbaren Merkmale, die Serie an die Stelle des Tableaus tritt, eine tiefe Masse an Zeit in die alte, flache

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und schwarz auf weiß geschriebene Welt der Tiere und Pflanzen zu stürzen gestattet. "74 „Zwar gibt es in vielen Disziplinen des 19. Jahrhunderts noch naturhistorische Reminiszenzen: ihr Überleben aber sichert sich die Naturgeschichte nicht in den Wissenschaften, sondern in der Natur. "75

Daß sich Goethes Naturauffassung, das Linnesche System und die morphologische Lehre schon zu dessen Lebzeiten nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand der damaligen naturwissenschaftlichen Erkenntnis bewegten, ist seit langem bekannt und des öfteren diskutiert worden. Die Auseinandersetzung mit Newton und die Beharrlichkeit, mit der Goethe - aller experimentellen Evidenz zum Trotz - an seiner ganzheitlichen Konzeption der Farbenlehre festhielt, scheinen die Rückwärtsgewandtheit seiner Naturphilosophie ein für allemal zu bestätigen.76 Um so mehr muß es verwundern, daß die Goethesche Morphologie und, damit verbunden, der Gestaltbegriff sich noch mehr als hundert Jahre später, bis ins beginnende 20. Jahrhundert, einer erstaunlichen Beliebtheit erfreuen sollten. Wie kommt es, so wäre im folgenden zu fragen, daß die Gestaltkonzeption nicht infolge der neuen Entdeckungen und der beschleunigten Entwicklung in den modernen Naturwissenschaften mehr oder weniger spurlos von der Bildfläche verschwunden ist? Es ergibt sich der paradoxe Befund, daß die Gestaltmodelle in dem Augenblick, in dem sie in der Biologie 74

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76

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971, S. 180. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Verzeitlichung und Enthistorisierung in der Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 9-130, hier: S. 122. Vgl. Leo Kreutzer, Wie herrlich leuchtet uns die Natur? Der Naturwissenschaftler Goethe - Porträt eines Verlierers, in: ders., Mein Gott Goethe. Essays. Reinbek 1980, S. 30-46.

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und angrenzenden Wissenschaften unwiderruflich obsolet werden, eine neue, wenn auch etwas anders gelagerte Karrierechance erhalten. Der Fortschritt in den modernen Naturwissenschaften und die Erfindung der Darwinschen Evolutionsbiologie haben die morphologischen Denkfiguren zwar aus ihrer eigenen Disziplin, der sie ursprünglich angehörten, verdrängt, aber langfristig nicht verhindern können, daß diese sich an anderer Stelle überaus erfolgreich etablierten. In dem Maße, in dem die Gestaltkategorie aus der naturwissenschaftlichen Disziplin verdrängt wurde, konnte sie in den Bereichen der Ästhetik und der Kunstphilosophie erstarken und wenig später, wie im folgenden Kapitel noch genauer zu erläutern sein wird, in den modernen Kulturwissenschaften eine erstaunliche Resonanz finden. Es ist jener, auf den ersten Blick überraschende Diskurswandel, der uns im folgenden näher beschäftigen wird. Es lohnt sich zunächst zu überlegen, was innerhalb eines diskursgeschichtlichen Ansatzes, wie er der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt wurde, Diskurswandel bedeutet und welche Implikationen er mit sich bringt. Wie Foucault in der Archäologie des Wissens dargelegt hat, ist die Kategorie der diskursgeschichtlichen Veränderung nicht als ein quasi-metaphysisches, plötzlich sich einstellendes und nicht weiter analytisch zu durchschauendes Phänomen anzusehen, sondern als ein Vorgang, der in systematischen Verschiebungen der Diskurselemente und in mehr oder weniger regelhaften Transformationen greifbar wird.77 Die diskursgeschichtlichen Veränderungen können sich in der Umstellung ganzer epistemischer Systeme äußern und ihren Niederschlag in mentalitätsgeschichtlichen Umwälzungen größerer Reichweite finden, wie Foucault sie in der Ordnung der Dinge (Les mots et les choses) beschrieben hat. Neben solchem spektakulären Wandel ist indes mit Modifikationen und Transpositionen anderer Art zu rechnen, die sich daraus ergeben, daß einzelne Diskurselemente bzw. Konzepte den Standort wechseln und in andere Diskursbereiche vordringen. Im Falle des Gestalt-

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Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 218-219.

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diskurses läßt sich eine solche Veränderung der Diskurselemente im Verlauf des 19. Jahrhunderts beobachten, denn jene morphologischen Parameter und Begriffe, die es um 1800 noch ermöglichten, das damalige Naturwissen zu strukturieren und seinen Aufbau und seine innere Systematik zu bestimmen, dringen nun vermehrt in einen anderen Bereich ein, nämlich den poetologischen und kulturphilosophischen Diskurs. Wie läßt sich eine solche Transposition sinnvoll beschreiben und welche Auswirkungen zieht sie nach sich? Es wäre - mit anderen Worten - zu überlegen, wie sich jener Diskurswandel, als Transferleistung betrachtet, im einzelnen vollzieht und welche konzeptuellen und semantischen Modifikationen der betroffenen Denkfiguren, besonders des Gestaltbegriffs, er gegebenenfalls mit sich bringt. Ferner wäre zu verfolgen, wie sich letztere, ins neue Umfeld versetzt, dort bewähren, integrieren und anpassen. In der post-darwinistischen Epoche, die in etwa mit dem Ende der europäischen Romantik und dem Beginn der literarischen Moderne konvergierte, war jene Diskursformation, die bisher die naturphilosophischen Episteme, die Tradition der histoire de la nature repräsentierte, so wurde oben argumentiert, plötzlich obsolet geworden78 und aus denjenigen Redeformen, deren sich die moderne Biologie und die Naturwissenschaften im engeren Sinne bedienten, nunmehr ausgeschlossen. Statt jedoch aus dem diskursiven Inventar der postromantischen Epoche ganz ausgegrenzt zu werden, erhält die morphologische Epistemologie nun die Möglichkeit, sich unerwartet in neue Konstellationen einzureihen bzw. auf dem Terrain der Ästhetik, auf dem sie sich schon in klassischen Zeiten (seit Winckelmann) zu Hause fühlen konnte, eine Renaissance zu erleben. Wenn jene aus dem erkenntnistheoretischen Repertoire des klassisch-romantischen Zeitalters ererbte, vorübergehend funktionslos gewordenen biologischen Diskursformationen demnach für eine neue Kontextualisierung frei wurden, die in den sich 78

Vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Verzeitlichung und Enthistorisierung in der Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 9-130.

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neu konstituierenden Bereichen des modernen poetologischen und kulturtheoretischen Wissens möglich wurde, dann hat dies einen tieferen Grund, der in der Beschaffenheit der klassischen Morphologie selbst zu suchen ist. Das von Linné entwickelte, an der anatomischen Gestalt der Spezies orientierte, taxonomische System stellt nicht nur eine eindrucksvolle Wissensordnung dar, sondern enthält bei genauerem Hinsehen eine ästhetische Qualität eigener Art. Es ist dieser, der Morphologie gewissermaßen von Haus aus inhärente Hang, ästhetisch reizvolle Strukturen auszubilden, der jene naturale Systematik der klassischen Epoche (époque classique) dazu prädisponiert, als wichtiger Anregungsfundus von der Kunstphilosophie und Poetik genutzt zu werden. Ästhetische Ordnung, Formenvielfalt, konkrete Anschaulichkeit und die Arbeit mit selektiven Strukturmustern, wie sie für das Linnésche System charakteristisch sind, begünstigen also die Aufnahme gestalthafter Denkschemata im Bereich der Kunstphilosophie und Poetik. Mehr noch: man ist sogar verleitet, anzunehmen, die morphologische Repräsentation habe die Mentalität der klassischen Epoche in einem sehr viel weiter reichendem Maße bestimmt, als es auf den ersten Blick scheinen will. Nicht von ungefähr hat Foucault die Struktur der klassischen Episteme am Beispiel des Linnéschen Systems untersucht, welches dem Goetheschen Gestalt-Denken trotz geringfügiger Divergenzen79 in vielerlei Hinsicht analog ist. Für Goethes wie für Linnés Morphologie ist nun gleichermaßen bezeichnend, daß sie die Tendenz zu einem fließenden Übergang in genuin ästhetische und poetologische Modelle aufweisen. Jener eigentümliche Hang zur Ästhetisierung sowie eine bemerkenswerte, noch näher zu bestimmende Intention auf Poetik lassen sich bereits in Linnés Klassifikationssystem beobachten. Denn letzteres steht, wie Foucault nachgewiesen hat, im Zeichen eines Primats des Visuellen, eines Postulats der prägnanten Sichtbarkeit und unmittelbaren Anschaulichkeit, dem die überschaubare Anord-

79

Linné kennt im Unterschied zu Goethe nicht den Metamorphosebegriff. Vgl. Foucaults Bemerkungen zum "Dogma der Starrheit", Die Ordnung der Dinge, S. 197.

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nung im Tableau korrespondiert.80 Die so beschaffene Art und Weise der Repräsentation steht im Zeichen einer größtmöglichen Eindeutigkeit und Klarheit, was die Zuordnung zwischen Signifikanten und Signifikaten betrifft. So findet im diskursiven Gebrauch des klassischen Zeitalters jedes Zeichen stets ein exaktes semantisches Pendant bzw. eine eindeutige konkrete Referenz im Objektbereich. Jene Eins zu eins-Relation erlaubt wiederum, die prinzipielle Transparenz der Zeichen, ihre 'Durchsichtigkeit' im Blick auf die zugehörigen Signifikate zu gewährleisten. 81 Die klassische Denkform ist also durch eine auf Transparenz setzende Strukturbeschreibung, eine 'Ordnung der Dinge' charakterisiert, welche mit den sprachlichen Signifikanten zugleich die letzteren korrelierten, empirischen Objekte unmittelbar zu erfassen glaubt. Der Glaube an die repräsentative Bedeutung der Zeichen und an ihre unangefochtene Aussagekraft hinsichtlich der durch sie beschriebenen Gegenstände haben ungeahnte Konsequenzen: Denn sie motivieren eine akribische Beschäftigung mit den verwendeten Zeichensystemen und eine immer weiter fortschreitende Verfeinerung der Beschreibungstechniken. Statt sich mit den Gegenständen selbst zu beschäftigen, ist es nun Aufgabe des Botanikers und Taxonomen, das Augenmerk auf die Signifikanten und ihre Eigenschaften zu richten - mit dem Ziel, auf dem Umweg über die Zeichen weitere Aufschlüsse über die repräsentierten Gegenstände zu erhalten. Überschaubarkeit, Anschaulichkeit sowie ein fast exklusives Privileg der Sehkraft bilden, so wurde oben erläutert, die Koordinaten, innerhalb deren sich das taxonomische Denken wie die allgemeine Systematik im klassischen Zeitalter bewegen. Linnes Zielvorstellung bildet nun ein botanisches Kalligramm, das den Traum des Taxonomen von einer exakten typographischen Präsentation der Pflanzen paradigma80 81

Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 172. Es geht in unserem Kontext nicht so sehr um die Angemessenheit des verwendeten Zeichenbegriffs, sondern um die Erfassung seiner konzeptuellen Grundzüge. Dennoch sei auf die Fragwürdigkeit bzw. Anfechtbarkeit jenes Transparenzideals der Zeichen hingewiesen. Zugrunde gelegt wird dabei nämlich implizit ein semiotisches Modell, das auf Voraussetzungen beruht, wie sie Paul de Man als fallacies of reference kritisiert hat. De Man, Allegories of Reading, S.125.

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tisch verkörpert. Die Motivation und die leitende Zielvorstellung des Systematikers sind - gemäß den Grundsätzen der klassischen Epistemologie - auf die möglichst 'naturgetreue' (was immer das im einzelnen heißen mag) und unmittelbare Präsentation des Forschungsgegenstands gerichtet, wozu das Auffinden einer textuellen und graphematischen Struktur nötig ist, die es erlauben würde, den pflanzlichen Körper möglichst in genauer Entsprechung zu seinen natürlichen Proportionen wiederzugeben. Die botanischen Untersuchungen jener Epoche arbeiten, um dieses Ziel zu erreichen, an einer zunehmenden Verfeinerung der textuellen Darstellungsmodalitäten, die nach größtmöglicher Exaktheit und Beschreibungssubtilität streben. Es entspricht der Logik dieser Tendenz, daß die Optimierung der Darstellungstechnik letztlich heuristische Funktionen erfüllen soll und mit ihr ein dem technischen Aufwand proportionaler Erkenntnisgewinn über die eigentlichen Gegenstände des morphologischen Studiums einhergehen soll. Die auf die Darstellungsmittel verwendete Sorgfalt, die aufgrund ihrer eigentümlichen Intensität und Akribie genuin künstlerischen und poetischen Bemühungen gleichkommt, rechtfertigt sich erst dadurch, daß sie durch jene angenommene und von keinem Taxonomen ernsthaft bezweifelte, grundlegende Analogie zwischen den graphischen Repräsentationen und den Gegenständen selbst gedeckt ist. Ziel der klassifizierenden und ordnenden Arbeit an der Natur ist letztlich die vollständige Übersetzung der Spezies ins sorgfältig konstruierte Gebäude der Sprache. Michel Foucault bilanziert in diesem Sinne: „Die durch die Augen gewonnenen Repräsentationen werden, wenn sie selbst entfaltet, von allen Ähnlichkeiten befreit und sogar von ihren Farben gereinigt sind, schließlich der Naturgeschichte das geben, was ihren eigentlichen Gegenstand bildet: das genau, was sie in jene wohlgeformte Sprache übergehen läßt, die sie bauen will."82 Linné unternimmt in diesem Sinne den Versuch, die Textgestalt der botanischen Studie selbst den Forschungsgegenständen weitgehend einzunähern: „Er wünschte, daß die Reihenfolge der Beschreibung, ihre Aufteilung in Paragraphen und bis hin 82

M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 175.

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zu den typographischen Verfahren die Gestalt der Pflanze wiedergäben; daß der Text in seinen Formvariablen, in den Abweichungen seiner Disposition und Menge eine pflanzliche Struktur hätte."83 Der Rückgriff auf die körperhafte, quasi-materiale Struktur des Textes konvergiert mit einem Prozeß der Metaphorisierung, welcher danach strebt, eine weitgehende Identität zwischen der Sprachstruktur bzw. der Textgestalt' des biologischen Traktats und dem beschriebenen Körper des Organismus herzustellen. Mit Foucault läßt sich die selbstgesetzte Aufgabe des Naturhistorikers als eine weitgehende Annäherung zwischen den Dingen und ihren Repräsentationen im sprachlichen Medium beschreiben, was eine bisher unbekannte Aufmerksamkeit auf die technischen Details wie die Wahl der richtigen Drucktype motiviert: „Man müßte die Beschreibung in so viele Absätze aufteilen, als die Pflanze Teile hat, und in großen Buchstaben das drucken, was die Hauptteile betrifft, in kleinen Buchstaben die Analyse der Teile von Teilen'."84 Was hier als die Aufgabe begriffen wird, möglichst überzeugende und detailgenaue Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Text- bzw. Schriftbild und biologisch gegebenem Pflanzenkörper zu erstellen, erfüllt nämlich bei genauerer Betrachtung eben diejenigen Bedingungen, die für eine Similaritätsbeziehung erforderlich sind, wie sie Roman Jakobson zufolge der Metapher zugrunde liegt.85 Zielte die botanische Taxonomie vorwiegend darauf, ihre Forschungsobjekte durch exakte, vermeintlich eindeutige Repräsentationen einzufangen, so zeichnet sich darin zugleich bereits eine moderne Intention auf die sprachlichen Strukturen selbst ab. Es ist unschwer zu erkennen, daß in der "klassischen' Strukturanalyse der botanischen Spezies bei Linné eine Methodik appliziert wird, die aus der Retrospektive als ein genuin w M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 177. 84 Ebd., S. 177. 85 Vgl. Roman Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik, in: Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983, S. 163-174. Jakobson hat außerdem festgestellt, daß besonders die symbolistische Literatur zu einer solchen, auf Korrespondenzrelationen fundierten Metaphernbildung neige.

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poetisches Textmerkmal erscheint. Jenes Verfahren findet ein weiteres sinnfälliges Korrelat in den modernen Schreibexperimenten der literarischen Avantgarde, die sich einerseits auf die Suche nach neuen typographischen Formen begab (wie sie etwa die innovative Schreibpraxis Mallarmés, die Calligrammes Apollinaires, die Experimente der Konkreten Poesie motivieren), andererseits ein neu erwachtes Interesse an den Klangñguren der Worte, der spezifischen Lautstruktur des sprachlichen Mediums selbst zeigte. Eine Sehnsucht nach gestalthaften Wahrnehmungserlebnissen artikuliert sich nicht zuletzt auch in jener „Faszination von Rhythmus und Klang" in der symbolistischen Lyrik, die in der euphorischen Begrüßung der „körperhaften Einheit von Sinn und Laut"86 gipfelt. Die Bemühungen um größtmögliche technische Genauigkeit bei der Klassifizierung der Spezies, welche die Arbeitsweise des klassischen Morphologen kennzeichneten, können aus dem Rückblick durchaus mit den formalästhetischen Intentionen postromantischer und moderner Autoren verglichen werden. Die taxonomische Obsession, durch das klassifikatorische Verfahren jede Ungewißheit und Zufälligkeit auszuschließen, entspricht in mancher Hinsicht der angestrebten Präzision im Umgang mit der Sprache, wie sie für George und andere symbolistische Autoren typisch war. Im Blick des Taxonomen ist mithin eine Beobachtungshaltung angelegt, die sich als eine genuin ästhetizistische spezifizieren läßt. Ferner bereitet die Naturbetrachtung des 18. Jahrhunderts jene Analogie zwischen Textualität und menschlichem bzw. organischem Körper87 vor, die in der Ästhetikdiskussion noch im Umkreis literarischen Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts vielfach aufgegriffen wird. Wurde oben zunächst grundsätzlich erörtert, welches die spezifischen Merkmale des 'klassischen' morphologischen Denkens sind und wie sie sich zueinander verhalten, so zeigt sich nun, 86 Vgl. Paul Hoffmann, Symbolismus, München 1987, S. 45, 96, 126, 131132, 138. 87 Linné ist in der Wahl seiner lateinischen Terminologie nicht zufällig an den Bezeichnungen für die archetypischen Formen des menschlichen Körpers orientiert.

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d a ß sich jene Denkfiguren in vermehrtem Umfang gegenüber ihrem diskursgeschichtlichen Ursprung und Kernbereich in der Biologie verselbständigten, u m auf das Terrain der Ästhetik u n d Literaturtheorie vorzudringen. In diesem Zusammenhang wäre zu überlegen, worin die Relevanz organologisch-ganzheitlicher Modelle für die Herausbildung moderner poetologischer u n d ästhetischer Argumentations- u n d Denkfiguren besteht. Eine entscheidende Zäsur u n d einen wichtigen Auslöser für den diskursgeschichtlichen Umbruch in der Gestalttheorie stellt, wie bereits erwähnt wurde, die Erfindung der Darwinschen Evolutionsbiologie dar. Von diesen Voraussetzungen her, die eine signifikante Verschiebung großer ehemals anerkannter Bereiche der Naturtheorie in andere gesellschaftliche Wissensbereiche u n d Teilsysteme mitsichbrachte, erklärt sich, warum es zu einer nachhaltigen Ästhetisierung der Morphologie kommen konnte. Ferner wird vor der Folie des bisher Gesagten auch plausibel, warum sich, wie Karl Robert Mandelkow dokumentiert hat, eine zunehmende Politisierung von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften im Verlauf ihrer Rezeption im 19. J a h r h u n d e r t anbahnen konnte. Mandelkow diagnostiziert in diesem Sinne, daß es zu einer folgenreichen Verbindung von „affirmativer Rezeption des Naturforschers Goethe u n d politischem Konservativismus" 88 gekommen sei, die eine der wichtigsten wirkungsgeschichtlichen Tendenzen der Goetheschen naturphilosophischen Schriften im ausgehenden 19. J a h r h u n d e r t darstellt. Es machte sich demnach ein zunehmendes Interesse an dem politischen Auslegungspotential des Goetheschen Naturwissens bemerkbar, das n u n erstmals in den Blick rückte u n d eine neuartige Beobachtungshaltung hervorbrachte, die, initiiert durch die Beiträge von Carl Gustav Carus u n d Rudolf Steiner, in die konservative Kulturkritik des Kaiserreichs einmündete u n d in der monumentalen Goethedeutung Chamberlains (1912) kulminierte. Besonders für die Jahrzehnte nach 1871, nach der weitgehenden Ausschaltung der politisch motivierten Kritik an Goethe im Vormärz', hat die rezeptionsge88

Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band I, München 1980, S. 177.

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schichtliche Forschung einen „mit Vehemenz geführten ... Kampf um den Naturwissenschaftler Goethe"89 nachgewiesen, an dem auch namhafte Naturwissenschaftler wie Hermann von Helmholtz und Ernst Haeckel teilnahmen. Auf der anderen Seite hat die zunehmende Vernetzung und Übertragung der Diskurselemente des ehemaligen 'Naturwissens' in Bereiche unterschiedlicher Herkunft, erstmals die These einer reziproken Erhellung von Goethes naturwissenschaftlichen und poetischen Texten aufkommen lassen, die, angeregt durch die zu literarischen Bestsellern avancierenden Arbeiten Steiners, im zwanzigsten Jahrhundert als „fundamentale Einsicht in den Fundierungszusammenhang von Kunstproduktion und Naturforschung bei Goethe"90 zu einem Topos der Goetheforschung wird. Daß die Idee einer solchen engen wechselseitigen Beziehung zwischen den poetischen und den naturkundlichen Texten Goethes im Wissenschaftssystem und darüber hinaus auf Anklang stieß, sollte sich auch für die Weiterentwicklung des Gestaltbegriffs als folgenreich erweisen. Denn ohne eine solche heuristische Annahme wäre Simmeis Goethemonographie aus dem Jahre 1913 kaum denkbar, wird doch der darin gewählte Ansatz erst vor der Folie einer geheimnisvollen Beziehung zwischen Goethes Morphologie und seiner Ästhetik bzw. Dichtungstheorie plausibel. Aber noch eine andere konzeptuelle Veränderung bahnt sich im Gestaltdiskurs der Jahrhundertwende an: Die Gestaltidee gewinnt nun eine weitaus größere Emphase, weil sie mehr als jemals zuvor in ihrer Geschichte als eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse in Erscheinung tritt und aus dieser polemischen Stoßrichtung ein eigentümliches Profil bezieht. Daher verwundert es nicht, wenn der Gestaltbegriff in der zeitgenössischen Kulturkritik um 1900 einen konjunkturalen Aufschwung verzeichnet, zu einem beliebten Modewort und wirkungsvollen Attraktor avanciert. Es sind vor allem die extremen Positionen eines Ernst Jünger oder, am anderen Ende der Skala, Carl Einstein, die sich das holistische Gestaltkonzept zu eigen machen, se Ebd., S. 189. K.R. Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band I, München 1980, S. 181, vgl. auch ebd., S. 198.

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um aus ihm die nötigen Energien im Kampf gegen den fortschreitenden Differenzierungstrend der modernen Gesellschaft und einen vermeintlichen Werteverfall in einer augenscheinlich sinnentleerten modernisierten Umwelt zu beziehen. Die modernen Verfechter holistischer Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodelle entfalten nicht selten einen generellen kultur- und zivilisationskritischen Gestus, der sich wie beim späten Einstein als Intellektuellenschelte und allgemeine Wissenschaftsskepsis prototypisch verwirklichen konnte: „Die Intellektuellen", so Einsteins kulturkritische Diagnose, die jener in seiner erst postum erschienenen Kunsttheorie Die Fabrikation der Fiktionen geltend macht, „hatten das Wirkliche spezialisiert und in scheinbar widerspruchslose Weltbilder differenziert." (F 22). In dem Maße, in dem die Diversifikation und der Spezialisierungstrend der Wissenschaftsgebiete fortschreitet und sich dabei der Verpflichtung auf eine externe, an empirischen Beobachtungen zu überprüfenden Verifizierbarkeit entledigt hat, gerate auch das Individuum mit seinen abgehobenen solipsistischen Denkformen in eine zunehmende Isolation, welche ebenfalls die spezifische Signatur der Moderne trage. Der gesellschaftlichen Differenzierung korrespondiert in der Einsteinschen Perspektive folgerichtig eine ihr komplementäre Regression des Individuums, die sich besonders markant in der modernen Kunst und Literatur manifestiere: „Aus der lähmenden Differenzierung suchten die Intellektuellen sich zu retten, indem sie in infantile Primitive flohen." (F 127) Leitmotiv der „scheinbar kühnen Moderne" sei der „Rückfall in kindhafte Vergangenheit" gewesen (F 134). Der Versuch, differentielles Denken vorübergehend zu unterlaufen und partiell außer Kraft zu setzen, erscheint Einstein demnach aus der Rückschau der dreißiger Jahre als das charakteristische Merkmal der modernen Literatur und Kunst im beginnenden 20. Jahrhundert, als ein Spezifikum, das er einerseits zwar kritisch kommentierte, das aber gleichwohl eine gewisse Faszination auf den Autor auszuüben vermochte. Umgeben mit dem Goetheschen Charisma, hat die aus der Kunstperiode ererbte Gestaltkonzeption um die Jahrhundertwende ihre eigentümliche Reizwirkung kaum eingebüßt, son-

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dern k a n n sich mehr denn je auf die faszinierende Ausstrahlung von holistischen Lösungsvorschlägen verlassen. Gerade die erhöhte Unwahrscheinlichkeit von ganzheitlichen Wahrnehmungsbildern u n d Erfahrungsmodellen verleihen diesen, so will es scheinen, einen exzeptionellen Seltenheitswert u n d einen u n geahnten Nachdruck, der sich a u s den Konzepten selbst weder systematisch herleiten noch hinreichend begründen ließe. Wie kaum einem anderen Goethe-Interpreten ist es Simmel in seiner bereits erwähnten Goethe-Monographie von 1913 gelungen, den u m 1900 erreichten Stand des Gestaltdiskurses in seiner besonderen Emphase wiederzugeben u n d dabei zugleich den eigentümlichen Doppelcharakter des Gestaltphänomens, das schon in Goethes Werken zwischen Biologie u n d Ästhetik eigentümlich oszilliert, zu erfassen, u m letzteres mit einer erstaunlichen stilistischen Prägnanz u n d Klarheit zu konturieren. Dies sind indes n u r erste Hinweise, die allerdings die Aktualität von Goethes morphologischen Schriften u n d Simmeis Monographie u m die Jahrhundertwende u n d danach bereits erahnen lassen. Wenn im folgenden die Rezeption u n d Umsetzung morphologischer Diskurse gerade anhand von Simmeis Goethestudie exemplarisch dargestellt werden sollen, liegt der Grund dafür, abgesehen von einer grundsätzlich in wissenschaftlichen Arbeiten immer vorhandenen Notwendigkeit, selektiv vorzugehen, vor allem darin, daß die Simmelschen Schriften sich trotz der akademischen Außenseiterposition des Autors bei einem weiteren Lesepublikum einer besonderen Beliebtheit erfreuten. Sie waren, wie noch genauer darzulegen ist, in vorzüglicher Weise geeignet, in den entstehenden Diskursformationen der Moderne Kristallisationspunkte zu bilden, an denen namhafte andere zeitgenössische Autoren, u n d sei es in negativer Abgrenzung, produktiv anknüpfen konnten. In Simmeis Goethebuch nimmt die Gestaltdiskussion, wie sich zeigen wird, eine zwar nicht völlig unvorbereitete, aber doch überraschende Wende. Galt bei Goethe die Gestaltidee noch primär als Bezeichnung eines in der Anschauung gegenwärtigen, quasi objektivierten Werks der Natur oder der Kunst, so verschiebt sich in Simmeis Ausführungen n u n beinah unmerk-

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lieh die bisherige Akzentsetzung. Die Rede über Gestalt verwandelt sich in der Optik des Kulturphilosophen nämlich unter der Hand in einen Diskurs über künstlerische Kreativität. Simmel versucht in seiner Goethestudie nichts weniger, als von der ästhetischen Gestalt als einem Konstrukt der Imagination auf die Gesetzmäßigkeiten der imaginativen Tätigkeit selbst hochzurechnen, die - zu einem Zeitpunkt vor der Erforschung der neurologischen Prozesse des menschlichen Gehirns - eine black box bilden. Was Simmel an dem klassischen Autor fasziniert und was er mit Hilfe des Gestaltdiskurses in den Blick zu rükken sucht, ist das Geheimnis von Goethes erstaunlicher Kreativität. Obwohl oder vielleicht gerade weil letztere es nicht immer vermag, in gelingenden Werken Kontur zu gewinnen, gilt sie Simmel als Zeichen für Goethes nicht weniger ausgeprägtes Talent, als Lebenskünstler schwierige Situationen psychologisch zu bewältigen und produktiv umzusetzen.

3. Georg Simmeis Goethebuch - der Dichter als Wahrnehmungskünstler 3.1 Moderne poetische und literaturtheoretische Kontexte „ Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstrieb zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden." (Goethe, Morphologie, 13, 55) „So sieht der Künstler die Dinge der Welt von vornherein als mögliche Kunstwerke, sie werden ihm von denselben Kategorien aus zum Erlebnis, durch deren nur noch aktivere, noch selbstherrlichere Funktionierung sie zum Kunstwerk werden." 1

Es ist kein Zufall, daß gerade moderne Autoren und Dichter an Simmeis Goethebuch großen Gefallen fanden und ihm eine begeisterte Resonanz entgegenbrachten. Wie auch manch anderer von Simmeis kulturphilosophischen Beiträgen hat die Goethearbeit im Umkreis der Autoren der 'literarischen Moderne' eine interessierte, um nicht zu sagen euphorische Aufnahme erfahren. Simmeis Schriften sowie seine Vorlesungen an der Berliner Universität fungierten in vielfacher Weise als Anregungen und Bezugspunkte schriftstellerischer Produktion, ja man darf vermuten, daß die Anstöße, die der jüdische Kulturphilosoph den zeitgenössischen Dichtern vermittelte, weitaus größer waren als seine (eher bescheidene) akademische Wirkung im

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Georg Simmel, Goethe (im folgenden Sigle SG), 1. Aufl. Leipzig 1913, hier zit. nach der 5. Aufl. Leipzig 1923, S. 18.

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Kreis der Kollegen.2 So ist z. B. bekannt, daß sich Hugo von Hofmannsthal bei der Abfassung des Jedermann von Simmeis Philosophie des Geldes stimulieren ließ, wie aus den Randnotizen der Simmel-Ausgabe in der von Michael Hamburger sondierten und ausführlich beschriebenen Hofmannsthalschen Bibliothek hervorgeht.3 Auch die enge Beziehung zwischen Simmel und Stefan George, ist in ihrer Tragweite und produktiven Bedeutung für beide Partner, wie Michael Landmann gezeigt hat, nicht zu unterschätzen.4 Nicht zufällig widmete Simmel dem 'Phänomen' George, von dem er seinerseits tief beeindruckt war, drei Essays, welche sämtlich aus der Zeit vor 1910 datieren, aber punktuell, worauf noch zurückzukommen sein wird, bereits Motive des Goethebuchs von 1913 vorwegnehmen.5 2

Auch die Wirkung des Simmelschen Goethebuchs auf die damalige Literaturwissenschaft war verhältnismäßig gering, zumal der Autor durch seine philosophische Betrachtungsweise mit ganz anderen Analysekategorien an Goethe heranging als die zeitgenössische Germanistik. Karl Robert Mandelkow notiert rückblickend: „Die besondere Schwierigkeit einer Beurteilung seitens der Literaturwissenschaft lag darin begründet, daß Simmel auf jegliche Auseinandersetzung mit der vorhandenen Goetheliteratur verzichtet und sich damit bewußt auf ein anderes Diskursfeld begeben hat" (Das Goethebild bei Georg Simmel, in: Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag, hg. Moritz Baßler, Christoph Brecht und Dirk Niefanger, Tübingen 1997, S. 219-234, hier S. 232).

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Vgl. Michael Hamburger, Hofmannsthals Bibliothek. Ein Bericht, Euphprion 55 (1961), S.15-76. Vgl. auch Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart 1993, S. 67-68. Landmann hat die Entwicklung der Freundschaft, die Mitte der neunziger Jahre begann, über ein Stadium wechselseitiger Befruchtung bis hin zu einer ab 1910 einsetzenden reziproken Entfremdung im einzelnen rekonstruiert. Vgl. Michael Landmann, Georg Simmel und Stefan George, in: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, hg. Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1984, S. 147 - 173. Vgl. ebd., S. 159 - 160. Landmann erwägt außerdem, daß in Georges Lyrik möglicherweise verschlüsselte Abbreviaturen Simmelscher Philosopheme eingebettet sind, eine These, die aufgrund der aufgefundenen Parallelstellen eine gewisse Plausibilität gewinnt. Demnach evozieren die Verse „Aus einem Staubkorn stelltest du den Staat ... bestimmtest Währung spräche und gesetz" aus dem Stern des Bundes die Simmelsche Analyse der modernen Kultur, wie jener sie in Die Großstädte und das Geistesleben zusammengefaßt hatte. Landmann verweist u.a. auf die beiden Autoren gemeinsame Metapher des Individuums als Staub-

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Aufschlußreich für die in unserem Kontext besonders wichtige zeitgenössische Rezeption von Simmeis Goethebuch sind jedoch die Zeugnisse eines anderen Autors. Gemeint ist Rainer Maria Rilke, dessen Lektüre des Goethebuchs, in einem Brief vom 2.12.1913 an Lou Andreas-Salomé greifbar wird. Hier wird die Simmelsche Goethe-Interpretation mit vorbehaltloser Zustimmung, wenn nicht gar rückhaltloser Begeisterung begrüßt, heißt es doch in einer an den Rand geschriebenen Notiz in euphorischem Gestus: „Simmeis Goethe mit ununterbrochener Zustimmung und Freude gelesen!"6 Offenbar entdeckt Rilke gerade in der Goethestudie eine gewisse Übereinstimmung zwischen der dort dargelegten Goetheschen Ästhetik bzw. Poetologie und seiner eigenen Dichtungsauffassung - eine Parallele, durch die er sich nicht wenig geschmeichelt gefühlt haben dürfte. Es sei nebenbei erwähnt, daß die sich hier abzeichnende Übereinstimmung und Affinität zwischen Rilke und Simmel hinsichtlich dichtungstheoretischer Fragestellungen keineswegs selbstverständlich waren noch kontinuierlich bestanden haben. Wie weit die beiden Autoren in Fragen der Kunst und Ästhetik anfänglich von einem Konsens entfernt waren, läßt sich unter anderem an einem nur fragmentarisch überlieferten Brief vom 26. Juni 1905 ablesen. Hier beklagt Rilke, Simmel könne den Naturbegriff, den er einseitig auf die naturalistische Tradition beziehe, nicht in adäquater Weise in moderne poetologische und kunstphilosophische Kontexte einbringen und integrieren: „Einen Zustand, in dem mein den Inbegriff seiner Vorbilder nach vielen Verwandlungen wieder nur la nature nennen durfte ... konnte Simmel sich nicht vorstellen. La nature war für ihn der Vorwurf des plattesten Naturalismus, während das Modell Rodin's [sie] nothwendig etwas anderes, zusammengesetzteres sein

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korn, die prägnant dessen Status als quantité negligeable innerhalb des modernen Gesellschaftssystems konnotiere. Für den nachhaltigen 'Einfluß' Simmeis auf weitere moderne Schriftsteller spricht Landmanns Vermutung, George habe den Kontakt zu dem jüdischen Philosophen abgebrochen, weil letzterer seinem „Exklusivitätsanspruch" nicht genügen wollte und auch rege Beziehungen zu anderen zeitgenössischen Dichtern pflegte. Rainer Maria Rilke - Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, hg. E. Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1975, S. 307.

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müsse." 7 Im Goethebuch hingegen scheint Rilke eben jene angestrebte übergreifende Synthese aus organischem Naturbegriff und anti-mimetischer Kunstauffassung verwirklicht zu finden, die er in den gemeinsamen Gesprächen mit Simmel über Rodin während seines Pariser Aufenthalts und in Berlin so sehr vermißt hatte. 8 Noch Walter Benjamins uneingeschränkt positive Rezension des Buchs von 1932 faßt den euphorischen Grundtenor aus den Reaktionen der literarischen Moderne auf Simmeis GoetheInterpretation bündig zusammen, wenn er notiert, Simmeis Goethe sei die „spannungsreichste und für den Denker spannendste Darstellung", die Goethe je „gefunden" habe. Benjamin resümiert ferner prägnant, worin das eigentümliche Spannungsmoment der Darstellung bestehe: „Wenn Franz Mehring als erster das soziologische Material für eine zukünftige GoetheDarstellung zusammengetragen hat, so finden sich bei Simmel die wertvollsten Hinweise auf deren dialektische Struktur." (B 3 339) Es sind die inneren Widersprüche, faszinierenden Brüche und spannungsvollen Polaritäten in Simmeis Goethebuch, die Benjamin Anlaß geben zu vermuten, der Argumentations-

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Rainer Maria Rilke - Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, hg. E. Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1975, S. 207. In diesem Kontext sind die wechselseitigen freundschaftlichen Kontakte zwischen Simmel u n d Rilke zu nennen, die in den erhaltenen Briefen recht gut dokumentiert sind. Folgt m a n den plausiblen Überlegungen N.H. Donahues, so darf m a n davon ausgehen, daß sich Rilke während der Niederschrift seines Malte-Romans intensiv mit Simmeis Schrift Die Großstädte und das Geistesleben auseinandergesetzt und jene Anregungen zur Darstellung wahrnehmungspsychologischer Probleme des Protagonisten genutzt hat: „In fact Simmel's categories of psychological response to urban life provide the inner scaffolding for Malte's scattered notes and observations." (Neil H. Donahue, Fear and Fascination in the Big City. Rilke's Use of Ge.org Simmel in The Notebooks of Malte Laurids Brigge, Studies in Twentieth Century Literature 16,2 (1992), S. 198.) Donahue erinnert ferner daran, daß Rilke in den J a h r e n 1899 und 1905 Simmeis Vorlesungen in Berlin besucht habe und mit ihm durch „occasional letters and visits" in Kontakt blieb. Es sei also sehr wahrscheinlich, d a ß er Simmeis Thesen über das moderne großstädtische Leben „either as essay, lecture or through conversation" zur Kenntnis genommen habe. (Ebd., S. 198.)

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struktur liege nichts anderes als eine dialektische Verfahrensweise zugrunde. Was macht das Faszinierende jener Goethestudie aus,9 so wäre im Anschluß an die genannten Beispiele einer produktiven Rezeption zu fragen, daß es ihr gelungen ist, so viele nichtwissenschaftliche Leser, und zwar vornehmlich moderne Schriftsteller, in ihren Bann zu ziehen? Simmeis Goethebuch umkreist nicht allein das rätselhafte Phänomen der 'Gestaltbeobachtung'; sie enthält darüber hinaus eine eindrucksvolle Theorie der Kreativität und des künstlerischen Schaffensprozesses. Goethe stellt sich in der Studie des Kulturphilosophen weniger als der monumentale klassische Nationalautor dar, den das 19. Jahrhundert im Bild des 'Olympiers' verehrte, er avanciert vielmehr zu einem rastlosen, ständig in intellektueller (oder körperlicher) Bewegung befindlichen Menschen, der gewissermaßen auch im alltäglichen Leben von dem kreativen Schwung des Schriftstellers erfaßt wird. Gleichzeitig verschiebt sich in Simmeis Goethe-Monographie das Interesse bzw. die Vorliebe des Betrachters von der bisher höher bewerteten Natur zur Kunst und den Objekten der Kultur. Dies hat unter anderem epochenspezifische Ursachen: Durch die zeitgenössischen Tendenzen des l'art pour l'art inspiriert, steht Simmeis Goethedeutung, selbst da, wo sie die Goethesche Naturphilosophie referiert, unter einem bemerkenswerten Primat des Ästhetischen und, damit verbunden, der ästhetischen Form.

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Zu Simmeis originellem Ansatz im Goethe-Buch vgl. auch Karl Robert Mandelkow, Das Goethebild Georg Simmeis, in: Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag, hg. Moritz Baßler, Christoph Brecht und Dirk Niefanger, Tübingen 1997. Vgl. auch Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band I: 17731918, München 1980, S. 267-279.

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3.2 Die Kunst des Sehens „Dies formgebende, geistige, schöpferische Sehen war Goethe im höchsten Maße eigen und kam ihm vielleicht gerade darum zu besonderem Bewußtsein, weil er kein bildender Künstler war, so daß der innere Akt nicht wieder in ein sinnliches Bild mündete. " (SG 53) Goethe verfügt in der Simmelschen Optik wie kein anderer Autor der deutschen Literaturgeschichte über eminent schöpferische Momente. Diese Einsicht wäre vor der Folie der im wilhelminischen Zeitalter weit verbreiteten Goetheverehrung für sich betrachtet nichts Neues, wenn Simmel sie nicht in einer ganz bestimmten Richtung weitergedacht hätte. Denn der deutsche Klassiker hat, wie Simmel annimmt, seine außerordentliche Begabung nicht nur und nicht einmal in erster Linie in seinen literarischen Werken entfaltet. Sein unübertroffenes kreatives Potential erweise sich, so die Argumentation, als derart ausgeprägt und wirkungsmächtig, daß sich schon die Goethesche Wahrnehmung selbst von der gewöhnlichen Erfahrung anderer Menschen radikal unterscheide. Unter dem Goetheschen Blick werden „die Dinge der Welt von vornherein als mögliche Kunstwerke" (SG 18) perzipiert. Mehr noch: Was Goethe vor den üblichen, anthropologischen Eigenschaften und dem kreativen Vermögen gewöhnlicher Sterblicher auszeichne, liege in „einer organisierenden Kraft" von „solcher Breite und so unbedingt formgebend", daß ein „weiter Kreis von Welt und Erlebnis durch sie gleichsam zu potenziellen Kunstwerken geschaut" werde (SG 19). Zugespitzt formuliert: Um ästhetische Werke hervorzubringen, bedarf Goethe im Grunde keiner anderen Werkzeuge und Hilfsmittel als des bloßen Blicks. Die künstlerischen Fähigkeiten Goethes bewähren sich mithin bereits in der empirischen Wahrnehmung selbst und geben einen Beobachtungstyp besonderer Art zu erkennen, der mit den zeitgenössischen Ästhetikmodellen des Fin de siècle sowie der Position einer fortgeschrittenen, radikalisierten Autonomieästhetik im Fahrwasser des

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l'art pour l'art konvergiert. 10 Das dichterische Genie beschränkt sich nicht mehr darauf, empirisch Gegebenes zu beobachten, sondern erzeugt noch während der Sinneserfahrung selbst imaginäre Räume u n d Strukturen. Mit der These „Sein Schaffen schien ihm von dem Erleben nicht getrennt, weil schon sein Erleben ein Schaffen war" (SG 19) sucht Simmel jene einmalige Konvergenz von Wahrnehmung u n d ästhetischer Produktion zu erfassen, wie sie n u r durch Goethes besondere Begabung, seine durch nichts zu übertreffende „künstlerische Apriorität" (SG 19) gewährleistet sei. Hinzu kommt, daß der von Simmel am Beispiel Goethes rekonstruierte Wahrnehmungstyp eine deutliche holistische Kontur aufweist. Denn für Goethe könne es aufgrund seines außerordentlichen künstlerischen Talents u n d , damit verbunden, seiner erhöhten 'Erlebnisfähigkeit' letztlich keine andere Wirklichkeitserfahrung geben als die (synoptische) ästhetische Gesamtschau. Daß sich ein solches ästhetisches Erfahrungsmoment im Modus der Totalität logisch stringent k a u m herleiten u n d begründen läßt, hat Simmel offenbar nicht gestört, denn ihm stellt sich jene einzigartige u n d potenzierte Gestaltwahrnehmung als „Glück" der Goetheschen „Existenz" dar, als harmonische Einheit oder „Parallelität des bewußten persönlichen Daseins u n d Sich-Entwickeins mit dem sachlichen Bilde der Struktur der Dinge" (SG 61). Innerhalb der gewählten Argumentationsrichtung ist es n u r folgerichtig, wenn Simmel Goethes 'Genie' nicht so sehr an den konkreten Ergebnissen seiner schriftstellerischen Produktion mißt, unter denen er bezeichnenderweise, fern jeglicher unreflektierter Klassikerverehrung u n d Goethe-Apotheose, auch d u r c h a u s Minderwertiges u n d Zweitrangiges entdeckt. 1 1 Worauf sich Simmeis Aufmerksamkeit statt dessen richtet ist die „souveräne Ungestörtheit" (SG 19), mit der Goethe seinem unbedingten u n d unerschöpflichen Schaffenstrieb, ,jener Rastlosig10

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Vgl. meine Arbeit: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen Niemeyer 2000, Kapitel 7. Simmel notiert lapidar und apodiktisch: „Goethe hat eine große Anzahl von unbestreitbar völlig minderwertigen Produkten hinterlassen,

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keit von Selbstentwicklung und Produktivität" (SG VI) folgt, wenn er konkrete Wahrnehmungen scheinbar mühelos - und augenscheinlich „ohne Energieverlust" (SG 15) - in imaginäre Bilder umsetzt, verlängert und dabei beinah unmerklich umformt: „Sein Schaffen machte nur anschaulich, was sein Lebensprozeß schon bei der Empfängnis der Lebensinhalte geformt hatte." (SG 19). Für Goethe stellt sich, mit anderen Worten, das unmittelbare „Erlebnis" schon als ein genuin ästhetisches Phänomen, ein „artistisches Halbprodukt" dar (SG 17). Die Annahme einer derartigen ästhetisch geprägten Totalwahrnehmung lenkt die Aufmerksamkeit mit einer gewissen Notwendigkeit von den literarischen Produkten auf die produktionsästhetische Komponente, den Prozeß der schöpferischen Tätigkeit selbst. Nur dem klassischen Autor ist es, so die Argumentation, vergönnt gewesen, eine eigentümliche 'Artistik des Sehens' zu entwickeln, die in der deutschen Literaturgeschichte ihresgleichen sucht. In Anlehnung an ein Goethezitat bemerkt Simmel in diesem Sinne, der „morphologische Forscher", der die „Organe bildsam sieht", müsse auch „die Art zu sehen bildsam erhalten" (SG 40). Wie ersichtlich, verleiht der Interpret dem Gestaltbegriff eine ambivalente, vieldeutig schillernde Dimension, die zwischen den Polen von ästhetischer Struktur und kreativem Vermögen unsicher oszilliert und in der Argumentation daher immer wieder zu überraschenden Pointen genutzt werden kann. Als Schlüsselbegriff fungiert dabei die vielsagende Bezeichnung „hervorzubringende Gestalt" (SG 126), die ein im Gestaltkonzept selbst verstecktes kreatives Potential hervorhebt und aktualisiert. Gestalt bedeutet demnach, wie der GoetheInterpret betont, nicht so sehr das Ergebnis als vielmehr ein schöpferisches Grundprinzip der künstlerischen Imagination, das den verborgenen Ursprung der von Simmel so sehr bewunderten Goetheschen Schöpferkraft markiert. Anders formuliert: Die „typisch bestimmte morphologische Erscheinung der Dinge" ist gleichzeitig die „wirksame Potenz in allem Geschehen" (SG 126).

Künstlerisches von radikalem ästhetischen Unwert, Theoretisches von der erstaunlichsten Flachheit und Falschheit. (SG 8)

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Insgesamt wird deutlich, daß Simmel mit seinem eigentümlichen Primat der empirischen Sinneswahrnehmung Impulse der zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie aufnimmt, zugleich verfolgt er am Paradigma Goethe aber auch eine bemerkenswerte Überbietung der Gestaltpsychologie. Wurde letztere durch Christian von Ehrenfels gleichsam wissenschaftsfähig, so holt Simmel nun im Gegenzug jenes Modell für die Kunstphilosophie wieder ein, um seine spezifisch ästhetische Natur an der vermeinten Einmaligkeit von Goethes kreativem Vermögen aufzudecken. Das „Entscheidende ist doch wohl," so die vorläufige Bilanz, „daß der Künstler eben nicht nur mit den Sinnen wahrnimmt, nicht nur ein Gefäß für jenes passive Aufnehmen und Erleben ist, sondern daß sein Wahrnehmen sogleich oder vielmehr zugleich schöpferisch ist." (SG 52) Wogegen sich Simmel an der zitierten Stelle wehrt, ist die bekannte sensualistische Vorstellung eines mehr oder weniger passiven Wahrnehmungs- und Rezeptionsvorgangs, innerhalb dessen sich die Daten der empirischen Erfahrung quasiautomatisch in das menschliche Auffassungsvermögen einschreiben, dessen kognitive Ausstattung einer unbeschriebene Seite gleicht. Gegen eine solche, als unzulänglich und irreführend erachtete Leitkonzeption passiver Aufnahmefähigkeit bietet er sodann die Ehrenfelssche These einer aktiven inneren Wahrnehmung im menschlichen Bewußtsein auf, deren gestaltpsychologische Grundlagen in Kapitel 4 noch näher zu definieren sein werden: „Auch die reine Fantasiekunst scheint die Schauung durch eine innere Sinnlichkeit vorauszusetzen, die dem Künstler nicht weniger Gegebenes und Bindendes ist, als die sogenannte äußere Sinnlichkeit." (SG 52-53)12 Der Gestaltbegriff ist bei Simmel nicht zuletzt deshalb ambivalent, weil er eine doppelte Sinneswahrnehmung bezeichnet und die Schaltstelle zwischen einer inneren und einer äußeren Sinnlichkeit markiert. Jene Innen/Außen-Differenz der Gestaltbeobachtung ist wiederum geeignet, die Brücke zwischen der empirischen Naturwahrnehmung und der konstruktiven Leistung des Künstlers zu schlagen. 12

Hervorhebung A.S.

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Simmel ist - trotz oder gerade wegen der in Kauf genommenen Paradoxien - bemüht, die zentrale, mit dem Gestaltkonzept umschriebene enge Wechselbeziehung zwischen Naturbeobachtung und Kunst auf eine plausible philosophische Grundlage zu stellen. Wenn das Goethesche Subjekt in der lebensweltlichen, naturhaften Umgebung „einem harmonisch angemessenen Gegenbild" (SG 40) begegnet, so entspricht diese Erfahrung einem der alteuropäischen und neuzeitlichen Hermeneutiktradition nahestehenden, epistemologischen Grundsatz, wie ihn Simmel im folgenden als die alte „Empedokleische Weisheit", daß „wir Gleiches durch Gleiches" (SG 42) erkennen, beschreibt und präzisiert. Das Gestalttheorem avanciert für Simmel nunmehr zu einer Schlüsselfigur, die über den klassischen Autor und seine Epoche weit hinausweist. Nicht von ungefähr sieht Simmel sich veranlaßt, die „Linien" über den historischen Standort Goethes zu „verlängern", weil „nur so die Art und Weite von dessen Bedeutung ermessen werden" könne (SG VI). Wenn sich die Leistungsfähigkeit des gestalthaften Sehens auch primär in der ästhetischen Wahrnehmung und Kunst bewährt, so zeichnet sich gleichzeitig eine ebenso wirkungsvolle synthetische Kraft des Gestaltkonzepts auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie ab. Es sei nämlich das besondere Verdienst der Goetheschen Morphologie, einen für die abendländische Tradition symptomatischen Dualismus, nämlich die starre, schon von Nietzsche beklagte Dichotomie zwischen Idee und Körper, Geist und Sinnlichkeit, überwunden zu haben.13 Simmel skizziert zunächst die im Verlauf jener Debatte alteuropäischer und platonischer Herkunft mehr und mehr verhärteten Positionen: „Auf der einen Seite steht die Erkenntnis der 'Elemente', die physikalisch-chemische Wissenschaft, die prinzipiell im Gebiet der reinen Erscheinung verharrt, Erscheinung durch Erscheinung erklärt... Auf der anderen Seite erhebt sich die 'Idee', die eben

13

Auch Dorothea Kuhn schließt sich dieser Argumentation implizit an, wenn sie bemerkt: „Den Vorgang des Blickwechsels zwischen Ideellem und Empirischem nennt Goethe das 'Sehen mit den Augen des Geistes' oder 'sinnliches Anschauen' - und in diesem Zusammenführen von Forschungs- und Vorstellungsweisen rundet sich das morphologische Programm ab." (Goethes Morphologie, S. 859.)

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prinzipiell nicht Erscheinung ist, sondern diese nur als Abfall, Schattenbild, subjektives Phänomen zuläßt..." (SG 51) Beide Standpunkte werden, was angesichts der im Argumentationsgang selbst angelegten Vorliebe für Synthesen im Grunde keiner näheren Erläuterung bedarf, von Simmel aufgrund ihrer Einseitigkeit als defizient verworfen. Erst Goethes Gestaltdenken bietet - so die Interpretation des Kulturphilosophen - in jenem Prioritätsstreit das ersehnte Lösungsangebot. In Simmeis kulturhistorischer Rekonstruktion ist es daher Goethe vorbehalten, jenen vermeintlich fundamentalen Gegensatz in einer übergreifenden 'morphologischen' Synthesis zu versöhnen und 'aufzuheben': „Diesen polaren Gegensätzen gegenüber ist für die Goethesche Synthese die Gestalt als solche die unmittelbare Offenbarung der Idee. Alles, was man mit dem Begriff hier meint: Sinn, Wert, Bedeutung, Absolutheit, Geist, Übereinzelheit - bildet für ihn nicht mit der sinnlichen Gestaltung jenen Dualismus, dessen verschiedene Seiten die auf die Elemente gehende Naturwissenschaft und die auf Ideen' gehende Spekulation ergriffen haben." (SG 51) Goethes besondere Leistung wird als Rettung aus einem mentalitätsgeschichtlichen Prozeß der Dichotomisierung von (ursprünglich vereinten) Erfahrungsmomenten gewertet und als wirkungsvolles Remedium gegen neuzeitliche Entfremdungsprozesse angesehen. Die in Aussicht gestellte Vermittlungsleistung, die Simmel bei Goethe vorgezeichnet glaubt, erweist sich dabei als ein im Kern höchst paradoxes Phänomen. Wenn der Simmelsche Goethe in der okzidentalen Tradition einer zunehmenden Dichotomisierung und sich weitenden Kluft zwischen (sinnlicher) Erfahrung und Idee begegnet, so liegt die Aufhebung jener Polarität nicht in einer versöhnlichen Mitte. Simmel begreift die Goethesche morphe statt dessen als eine konkrete, empirisch erfahrbare Struktur, in der das Ideelle gleichsam in materieller Präsenz unmittelbar gegenwärtig ist: „Insoweit die Gestalt sichtbar gegeben ist, hat sie die volle, von keiner nicht sichtbaren Instanz erst zu entlehnende Realität." (SG 51) So reagiert Simmeis Goethe auf das Problem der wachsenden Dissoziation und Gespaltenheit menschlicher Erfahrung weniger mit einem (dem Genie unangemessenen) gewöhnlichen oder gar billigen

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Kompromiß als vielmehr mit einer weiteren Pointierung der gegebenen Konstellation im Rahmen eines äußerst paradoxen Gedankengangs, innerhalb dessen die Gegensätze sowie die relevanten Leitdifferenzen materiell/ideell, immanent/transzendent, empirisch/transempirisch im Moment der Koinzidenz eher noch verschärft werden. Wir haben es mathematisch und systemtheoretisch gesprochen mit der Figur eines re-entry14 zu tun, einem Wiedereintritt der Differenz in die eine Seite der Differenz, die durch die materielle Zeichenstruktur repräsentiert wird. Jener Wiedereintritt der Form in die Form bezeichnet in Simmeis Studie zugleich den systematischen Ort, an dem die Erkenntnistheorie in Ästhetik umschlägt. Diese Überlegungen sind im zeitgenössischen Kontext nicht ganz neu, denn einer ähnlichen Argumentationsstrategie bediente sich auch schon Rudolf Steiner, der Goethe zum Überwinder eines 'mißverstandenen' Piatonismus stilisierte;15 sie werden aber von Simmel weitaus differenzierter und prägnanter dargestellt als in der Steinerschen Goethe-Apotheose.16 Simmeis Deutung der Goetheschen Gestaltbeobachtung ist ferner der philosophisch durchdachte Ausdruck dessen, was Franz Koch

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Zur mathematischen Figur des re-entry vgl. ausführlich George Spencer Brown, Laws of Form, S. 69-76 und Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 19, 64 und 78. Vgl. Rudolf Steiner, Goethes Weltanschauung, 4. Kapitel: Goethe und die platonische Weltansicht, S. 36-60. Dem bei Goethe diagnostizierten synthetischen Impuls entspricht in den eigenen kultursemiotischen Arbeiten Simmeis eine Favorisierung paradoxer Argumentationsfiguren und eine markante Tendenz, abstrakte soziale Prozesse anhand ihrer materiellen, gegenständlichen Korrelate zu analysieren. In der Philosophie des Geldes wird in Analogie zu der Argumentationsrichtung des Goethebuchs ein Prozeß diagnostiziert, innerhalb dessen das materielle Substrat des Zahlungsmittels zunehmend als Codierung sozialer Wechselwirkungen erfaßt wird. Simmel resümiert diese gesellschaftliche Entwicklung pointiert in einer die Goethestudie vorwegnehmenden Denkfigur, die jene charakteristische Koinzidenz materieller und ideeller Aspekte thematisiert, als „steigende Vergeistigung des Geldes". Es entbehrt dabei nicht der Ironie, daß das Goethesche Morphe-Konzept gerade im Rahmen der Geschichte und Analyse der modernen Geldwirtschaft, eines auf den ersten Blick denkbar unliterarischen Gegenstands, appliziert wurde, was dem Autor wahrscheinlich unbewußt gebleiben ist.

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wenig später als eigentümliche Mischung von Biologie und Spiritualismus auf seinen esoterischen Begriff bringen sollte.17 Wie ersichtlich wird, umfaßt das Gestaltmodell einen bemerkenswerten, über eine rein funktional gedachte Einheit der Struktur weit hinausgehenden qualitativen Mehrwert. Dabei wird der organologische Ursprung des Konzepts kaum verhüllt, rekonstruiert Simmel doch im einzelnen die Herkunft jener holistischen Denkfigur aus Goethes morphologischen Naturstudien, wenn er etwa auf die Auseinandersetzung des Autors mit Alexander von Humboldt eingeht. Diesem gegenüber soll Goethe, die Differenz von analytischer Methode und ganzheitlicher Gestaltwahrnehmung betonend, geäußert haben, daß „ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt ausgehen..." (SG 50) Es sei eben jener vorherrschende Gedanken einer organologisch gedachten, harmonischen ästhetischen Einheit, der es Goethe verbiete, den differentiellen und destruktiven Erfahrungsmomenten irgendeine formative oder ästhetische Bedeutung beizumessen. Folgt man Simmeis weiterer Argumentation, nahm der 'Klassiker' Anstoß an der These einer kollektiven Autorschaft der Homerschen Epen aus eben denselben Gründen, deretwegen er an der geognostischen Vorstellung einer vulkanistischen Entstehung der Erde Kritik übte. Simmel erwägt, daß es nicht so sehr der Gesichtspunkt der „Gewaltsamkeit" (SG 71) als solcher gewesen sei, der Goethes Abneigung verursachte, sondern vielmehr der offenkundige theoretische Widerspruch, der sich zwischen jenen Hypothesen und der eigenen Konzeption eines morphologischen Kontinuums auftat. Zeichentheoretisch gewendet, artikuliert sich in der Goetheschen Einstellung nichts weniger als die „Scheu vor der Zerstörung" des „ästheti17

Vgl. Franz Koch, Plotins Schönheitsbegriff und Goethes Kunstschaffen, Euphorion 26 (1925), S. 50-74. Koch bezieht sich direkt auf Simmeis Goethebuch, vgl. ebd., S. 66, und er bemerkt, „das schwankende Beziehungsverhältnis von Biologie und Spiritualismus im Begriff der Gestalt" werde „aufs trefflichste illustriert, wenn Goethe selbst auf die Doppelheit des Wortes Bildung verweist, das bald vom Hervorgebrachten, bald vom Hervorgebrachtwerden, also bald im statischen, bald im dynamischen Sinne verwendet wird" (ebd., S. 66).

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sehen Bildes" (SG 64), - eine Einstellung, an der Goethe aller wissenschaftlichen Evidenz zum Trotz festhielt und in der Simmel zufolge auch der tiefere Beweggrund für dessen heftige Polemik gegen Newton liegt. Gerade an jener Debatte zeige sich, daß Goethe eine auf den ersten Blick irrationale Abwehrhaltung eingenommen habe, für die schließlich die „Aversion gegen das Hindurchquälen der Spektra durch viele enge Spalten und Gläser, das deren unmittelbares ästhetisches Bild zerreißt" (SG 64) als auslösender Faktor namhaft gemacht wird. Schon um 1800 ist Goethes morphologische Einstellung, wie Simmel durchaus kritisch bemerkt, dem erreichten Problemniveau der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurse nicht mehr ganz adäquat. Wenn sich Goethe in die wissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit einzuschalten sucht, dann folgt er in seiner Thesenfindung insgeheim ästhetischen Kriterien: Denn er habe die „ästhetische Unzulänglichkeit jener Erscheinungen" (aus der Newtonschen Optik) als Signal und untrügliches Indiz für ihre theoretische Schwäche bzw. Untauglichkeit als wissenschaftliche Argumente gelesen und mit letzterer strategisch verwechselt (SG 75). Noch in anderer Hinsicht deckt Simmel in Goethes Morphologie gewisse Schwächen auf. Auch das dem Gestaltbegriff komplementäre Konzept der Metamorphose vermag Simmel in seiner Goetheschen Ausformulierung nicht recht zu überzeugen, denn zwischen beiden Aspekten, der Form und ihrer Verwandlung bzw. Umbildung, tue sich eine nur oberflächlich kaschierte Kluft auf, die - konsequent zu Ende gedacht - der morphologischen Betrachtung den Boden unter den Füßen entziehen würde.

3.3 Gestalt und Entwicklung - Die Grenzen des morphologischen Blicks

„Nun aber müssen wir, indem wir bei und mit dem Beharrlichen beharren, auch zugleich mit und neben dem Veränderlichen unsere Ansichten zu verändern und mannigfaltige Beweglich-

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keit lernen, damit wir den Typus in aller seiner Versatilität zu verfolgen gewandt seien und uns dieser Proteus nirgendhin entschlüpfe." (Goethe, Morphologie, 13, 177) „Hier also beglückt ihn offenbar jene Gesetzlichkeit, die an der unmittelbaren, sinnlichen, totalen Gestalt aufgezeigt wurde, die entdeckte Norm des unzerlegt dargebotenen Naturbildes, die kein Zurückgehen auf die unsinnlichen Elemente forderte." (SG 56) Simmel bemerkt zu Recht, die Suche nach dem „Wesen der Gestalt" habe von Haus aus „etwas Isolierendes" an sich (SG 76). Wenn sich Goethe nun in einer „gigantischen Bestrebung" (SG 76) gegen eine solche unvermeidliche Vereinzelung stemmt, so haftet diesem Versuch in Simmeis Darstellung von Anfang an unwillkürlich etwas Vergebliches an. Goethe unternimmt mit der Entfaltung des Metamorphose-Gedankens nichts weniger als die Anstrengung, die wahrgenommene „Umschlossenheit und Vereinzelung der Gestalten von einem einheitlichen Alles mit Allem verbindenden Leben durchfluten zu lassen" (SG 76). Und doch läßt Simmel immer wieder durchblicken, daß ihm dieser Lösungsvorschlag, solange er innerhalb des starren Bezugsrahmens des taxonomischen Systems Linnescher Herkunft verbleibt, unzureichend erscheint. So ist nicht daran zu rütteln, daß die „Vermittlung durch morphologische Zusammenhänge ins Unendliche geht", einen schwindelerregenden progressus ad infinitum in sich birgt, der sich einem naiven Verständnis entzieht. Denn zwischen je zwei differente Glieder der geordneten anatomischen Reihen lassen sich immer weitere Formen und Spezies dazwischenstellen, so daß letztlich „kein Unterschied der kleinste ist" (SG 76). Simmel diagnostiziert deshalb eine bleibende „tiefe Diskrepanz" in der Goetheschen Naturauffassung, da es „zwischen der Vorstellung einer „Kontinuität im Sinne einer fließenden Bewegtheit" (der Metamorphose) und der „singulären Einheitlichkeit der Gestalt" im Grunde keinen kleinsten gemeinsamen Nenner gebe. Goethe muß, um dieses

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erkenntnistheoretische Defizit zu überbrücken, daher immer wieder zu paradoxen und kiyptischen Formulierungen18 Zuflucht suchen, wie z.B. der lapidaren Feststellung „Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern" (SG 76). Goethes 'morphologisches' Mißverständnis besteht darin, daß er Kontinuität nicht als ein tatsächlich dynamisches oder fließendes Formenmedium begreifen, sondern nur immer im Sinne einer Reihe von diskreten (anatomischen) Gestalten denken kann, die sich eines bleibenden statischen Gepräges nicht erwehren kann. Jeder Unterschied kann zugleich als Beleg einer tiefer liegenden Ähnlichkeit gewertet werden. Mit diesem Argumentationsmodell teilt Goethe genau die Vorlieben der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts und bleibt insgeheim einer Identitätssuche verpflichtet, die sich durch alle beobachtbaren Abweichungen der Arten hindurch behaupten kann, wie Foucault am Beispiel des Fossils erläutert: „Das Fossil läßt die Ähnlichkeiten durch alle Abweichungen hindurch fortbestehen, die die Natur durchlaufen hat; es funktioniert wie eine ferne und approximative Form der Identität. " 19 Goethes Reflexionen umkreisen zwar das grundlegende Problem des Zusammendenkens von Einheit und Differenz, das sich in der traditionellen philosophischen Optik meist als Suche nach der Einheit in der Differenz äußert, können es aber - so die Argumentation - nicht in angemessener Weise lösen. Zur Illustration dessen, was er als die methodisch nicht hinreichend motivierte These von den fließenden Übergängen zwischen „dinghafter Disparität und Kontinuität" (SG 77) begreift, beruft sich Simmel primär auf Goethes Untersuchungen in der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere: „welch eine Kluft zwischen 18

19

Zu Recht betont Mandelkow, daß Simmel im eklatanten Gegensatz zum wilhelminischen Goethekult und zu Wilhelm Diltheys Auslegung eine höchst widerspruchsvolle und rätselhafte Goethefigur zeichnet, die letztlich in ihrer eigentümlichen Ambivalenz belassen wird: „Hatte Dilthey noch 1910 behauptet, daß es bei Goethe ,kaum Rätsel und Dissonanzen' gebe, so werden diese drei Jahre später bei Simmel aufgespürt und ohne Lösung stehengelassen" (Goethe in Deutschland, I, S. 275). Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 203.

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dem os intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten, und doch läßt sich eine Reihe von Formen dazwischen stellen, die beide verbindet." (SG 76) Aus dem statischen Nebeneinander der Objekte, dem Prinzip der 'abgestuften Ähnlichkeit',20 soll unvermittelt jenes dynamische Ineinanderfließen und Gleiten der Formen im Sinne des Gesetzes der Metamorphose hervorgehen, das die Konturen und festen gestalthaften Kristallisationspunkte wiederum zurücknimmt. Das von Simmel festgestellte 'Kontinuitätsprinzip' widerspricht also im Grunde der Genese diskreter struktureller Einheiten: „Denn wo Kontinuität ist, verbietet sich jene Abgrenzung von Einheit gegen Einheit." (SG 79) Die Diskrepanz zwischen amorphen Bewegungsstrukturen, der „konstanten Dynamis" der Formen (SG 92), und gestalthafter Ästhetik bildet ein für Simmel „höchst schwieriges und fragwürdiges Verhältnis" (SG 81), eine „Labilität" (SG 76), die im Zentrum der Goetheschen Naturkonzeption und Poetik stehe. Simmel läßt es interessanterweise offen, ob Goethe selbst über ein deutliches Problembewußtsein für das prekäre Moment seiner morphologischen Vorstellungen verfügt habe: „Ich lasse dahingestellt, ob er selbst ein theoretisches Bewußtsein über die Tiefe des Abgrundes hatte, der sich zwischen der künstlerischen Umgrenztheit und Selbstgenügsamkeit der 'Gestalt' und der Unendlichkeit des Werdens auftut." (SG 81) Der klassische Autor habe, wenn auch letztlich erfolglos, immerhin versucht, das beobachtete Spannungsverhätnis zu entparadoxieren, indem er an einer Stabilisierung der Form im Sinne klassischer Poetologie gearbeitet habe. Mit der Erwähnung der „künstlerischen Umgrenztheit und Selbstgenügsamkeit", die zu den grundlegenden Theoremen der klassischen Autonomieästhetik seit Karl Philipp Moritz gehören,21 signalisiert Simmel jedenfalls explizit, daß er die Ebene der Goetheschen Naturphilosophie teilweise schon zugunsten der kunst20

21

Zu diesem morphologischen Gesetz und seiner Bedeutung für Goethes Naturvorstellung vergleiche Dorothe Kuhn, Goethes Morphologie, S. 855. Vgl. dazu ausführlich: Annette Simonis, 'Das Schöne ist eine höhere Sprache.' Karl Philipp Moritz' Ästhetik zwischen Ontologie und Tran-

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theoretischen verlassen hat. Folgerichtig zitiert er sodann eine Gedichtzeile aus den Urworten Orphisch, in der Goethe „die Gegensätze ganz nahe zusammenbringt": „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt" (SG 81). In jener contradictio in adiecto liegt für Simmel „das ganze Problem" (SG 81), das folgerichtig in der Überwindung des klassisch geschlossenen Werkkonzepts sowie des festgefügten morphologischen Weltbilds resultieren müßte - eine Konsequenz, der Goethe sich indes allenfalls undeutlich bewußt war. Simmel läßt es sich jedenfalls nicht nehmen, an den Goetheschen Grundannahmen Zweifel anzumelden und kritisch zu kommentieren: „Denn das ist eben die Frage, die diese Formulierung gar nicht als Frage anerkennt: wie die Form leben kann, wie das Geprägte sich noch entwickeln kann, und ob überhaupt Geprägtheit und Entwicklung nicht eine Unvereinbarkeit sind" (SG 81-82). Wenn Simmel hier auf eine Grenze in der Reichweite des Goetheschen Denkens aufmerksam wird, begibt er sich auf ein problematisches Terrain. Denn indem sich Goethe mit lapidaren und kryptischen Feststellungen begnügt, ohne deren eigentliche Problematik zu erkennen, gerät er in gefährliche Nähe zur Mittelmäßigkeit. Hatte Simmeis Goethe-Darstellung als Phänomenologie des schöpferischen Menschen oder Genies begonnen, so rückt sie Goethe nun implizit näher an die durchschnittliche Mentalität und die Logik des common sense. Die Goethesche These, daß „die Abweichungen der Erscheinungen von ihrem Gesetz in diesem Gesetz selbst inbegriffen sind" variiert nämlich, wie Simmel feststellen muß, auf den ersten Blick nichts anderes als „die mißbrauchteste aller Banalitäten: daß die Ausnahme die Regel bestätigt." (SG 139) Um Goethes Morphologie vor dem Verdacht zu bewahren, lediglich Gemeinplätze zu bieten und Altbekanntes zu reformulieren, bedarf es einiger argumentativer Anstrengungen und Spitzfindigkeiten. In diesem Sinne, suggeriert Simmel den Lesern, daß es nicht so sehr intellektuelle Schwäche sei als vielmehr ein freiwilliger Verzicht und eine bescheidene Selbstbeschränkung, die

szendentalphilosophie. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994). S. 490-505.

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Goethe bewegt hätten, seine morphologischen Studien nicht konsequent zu Ende zu denken. Goethes Verhältnis zur Natur ist nicht umsonst durch eine merkwürdige Doppelheit von „enthusiastischem Eindringen und dem gleichzeitigen Haltmachen vor den letzten Geheimnissen" bestimmt, der Überzeugung, „daß ein Unerforschliches da sei, das sich uns versage." (SG 180) Der selbstgewählten Begrenzung der wissenschaftlichen Perspektive entspricht dabei ein ebenso konzentriertes ästhetisches Verfahren bzw. Formprinzip. In Simmeis Darlegungen setzt der kreative Künstler vom Format Goethes auf klare Strukturgebung und Formprägung, die letztlich keinerlei ungeregelte Züge oder gar chaotische Momente zulasse. Es handelt sich mit anderen Worten um eine Form der Kreativität, die sich immer wieder in präzise konturierten Gestalten und 'Gebilden' objektiviert, ohne jemals über ihr Ziel hinauszuschießen. Es ist die Leitidee von Goethes ästhetischer Produktion, „keine seelische Energie rein, gleichsam leergehend, in sich schwingen zu lassen, sondern für eine jede Anknüpfung, Gegenbild und Halt in der objektivierten Welt zu suchen." (SG 184) Fern jeder willkürlichen Askese sei der Goetheschen Beobachtung und Kunstproduktion eine quasinatürliche Neigung zu maßvoller Selbstbegrenzung eigen. Die „organisierende Kraft" seiner künstlerischen Intention bedürfe gar keiner vorsätzlichen oder nachträglichen Disziplinierung bzw. Steuerung, denn sie enthalte das „Gestaltbildende, Formbegrenzende von vornherein in sich". (SG 126) Goethes Imagination ist in Simmeis Deutung eine eigentümliche Selbstdisziplin inhärent, die es sich niemals erlaubt, aus dem Rahmen zu fallen oder die angestrebte Form zu sprengen. 'Gestaltwerdung' bildet für Simmel, wie ersichtlich, nicht allein ein besonderes ästhetisches Prinzip oder künstlerisches Verfahren, sondern ist zugleich Ausdruck eines spezifischen 'Ethos', das man mit dem Begriff der 'Resignation' (SG 179, 181) oder, um eine Goethesche Formulierung zu gebrauchen, der 'Entsagung' näher bestimmen kann: „Der 'Entsagende' ist der Mensch, der seinem subjektiven Dasein die Form gibt, mit der es sich der objektiven Ordnung der Gesellschaft oder des Kosmos einfügen kann." (SG 181) Die ästhetische Produktion, als Formfixierung

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gedacht, enthält in der Simmelschen Optik immer auch ein gleichsam pädagogisches oder selbsttherapeutisches Potential, denn sie geht mit einem Vorgang der stetig fortschreitenden Selbstbildung Hand in Hand: „Jede Form ist Begrenzung, ist Verzicht auf das, was jenseits der Grenze ist; und nur durch Formung entsteht jenes feste und weltmäßige Sein, das dem Subjekt gegenübersteht, und zu dem es sich selbst zu gestalten hat." (SG 181) Das am Beispiel Goethes vorgestellte und durch ihn verwirklichte Modell eines gelingenden Bildungswegs wird indes durch ein unterschwelliges, aber durchaus merkliches Defizit erkauft. Denn die glückliche „Harmonie" der Goetheschen „Existenz" (SG 181) ist auch in Simmeis sympathetischer Darstellung nur möglich um den Preis eines Wissensverzichts. Goethe hat nicht zuletzt eben jenen Schlußfolgerungen entsagt, welche die moderne Evolutionsbiologie und die französische Lebensphilosophie wenig später aus ganz ähnlichen Naturbeobachtungen ziehen sollten. Statt die im Metamorphoseprinzip enthaltene Sprengkraft erkannt zu haben, die letztlich alle klar konturierten, gestalthaften Entitäten auflösen müßte, zieht es Goethe vor, an der organologischen Einheit der Gestalt festzuhalten. Simmel glaubt in der Goetheschen Erfahrungstheorie und Poetik einen angestrebten Idealzustand des „Gleichgewichts" (SG 87 u. 93) zu entdecken, dem Goethe auf der Spur sei, wenn von den „Urphänomenen" die Rede ist. Indem das Gestaltkonzept mit der nicht weiter in Frage zu stellenden Dignität des Ursprungs versehen wird, erweist es sich als unhintergehbares Axiom des Goetheschen Denkens, als Urphänomen, „über das innerhalb dieser Weltanschauung nicht hinausgefragt werden" (SG 58) könne. Es sei nichtsdestoweniger das bleibend „Paradoxe" (SG 139) dieser Auffassung, so meint Simmel, daß die mit sich selbst identische Form gemäß der Logik der Metamorphose plötzlich die „fortwährende Unruhe des Gestaltens und Umgestaltens" umfassen und in sich enthalten soll und daß somit die „Abweichungen der Erscheinungen von ihrem Gesetz in diesem Gesetz selbst inbegriffen sind" (SG 139). Simmel wird also auf eine Aporie aufmerksam, welche die einheitliche, systematische Grundlage der gesamten bisher dar-

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gestellten Natur- und Dichtungsauffassung gewissermaßen zu sprengen droht. Es gelinge Goethe nämlich nur durch ein gleichsam dezisionistisches Moment, jenen inneren Widerspruch mehr zu überbrücken denn eigentlich zu lösen. Das morphologische Gesetz soll die disparaten Erfahrungsmomente umgreifen und zusammenhalten, indem es sich als 'eminenter', "bedeutender' oder 'symbolischer' Fall (Simmel betrachtet die genannten Adjektive als Teilsynomyme, vgl. SG 130) herauskristallisiert. Die Formulierungen, mittels deren der Interpret die Goethesche Funktion des Symbolischen weiter spezifiziert, enthüllen die nachhaltige Ambiguität der morphologischen 'Gesetzeskonzeption': Zum einen nämlich trägt letztere Züge einer gewaltsamen und willkürlichen Subsumption der empirischen Individualität unter das Allgemeine, insofern „das Zufällige, Relative, individuell Unzulängliche jedes einzelnen Erfahrbaren in ihm (d.i. im symbolischen Fall) paralysiert" sei (SG 130). Gleichzeitig ist der Goethe-Interpret wiederum bemüht, die dem Formgesetz inhärenten, totalisierenden Momente einzuschränken, um Goethes Reflexionen für die klassische Ästhetik zu 'retten'. Dies geschieht, indem Simmel gezielt auf Formulierungen zurückgreift, die an Konzepte des ästhetischen 'Spiels' (in der Nachfolge Schillers) erinnern.22 Das symbolische Gesetz erscheint nunmehr als der „freie", die „starre Norm" mehr oder weniger zwanglos „umspielende Charakter der natürlichen Erscheinung" (SG 141). Wenn die Gestalt auch als „Verwirklichung eines Typus" ihrer Natur nach gewissermaßen normativ gedacht ist, so wird Simmel dennoch nicht müde zu betonen, daß sie sich von diesem in „unabsehbaren Modifikationen, Hypertrophien und Atrophien" (SG 128) entfernen kann. Es sind genau jene heterodoxen Varianten des Formgesetzes, in denen sich die Goethesche Kunst des Ausgleichs in einer immer wieder von neuem ansetzenden schmalen Gratwanderung zwischen starrer Norm und amorpher Formlosigkeit bewährt. Das von Goethe (und Simmel) angepeilte liöhere' Gleichgewicht erweist sich mithin als die

22

Vgl. auch Karl Robert Mandelkow, Das Goethebild bei Georg Simmel, S. 224: „Die Anleihen ... bei Schillers Ästhetischen Briefen sind deutlich."

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einmalige und zwanglose „Vereinigung von Beweglichkeit und Balance" (SG 93). In demselben Spannungsbogen bewegen sich auch die fiktionalen Texte des Autors. Denn der GoetheInterpret erkennt in der erwähnten Tendenz zum Ausgleich der Gegensätze nichts weniger als die einzigartige Ermöglichungsbedingung für jene „ungeheure Kulturleistung", die im Weimarer „Klassizismus" verwirklicht worden sei (SG 111). Jene paradoxe „Lösungsformer (SG 130) findet Simmel nämlich auch in Goethes Romanen bestätigt, einerseits verwirkliche sich dort das Gesetzmäßig-Symbolische in der Entwicklung eines ausgeprägten „künstlerischen Stils", dem die Einführung einer übergeordneten Erzählinstanz korrespondiere. Letztere gewährleiste selbst den inneren Zusammenhalt und die Kohärenz eines so disparaten und modernistisch anmutenden23 Textes wie der Wanderjahre: „Bei aller Selbständigkeit der Personen und aller Zerpflücktheit der Komposition, die etwa die Wanderjahre zeigen, bleibt doch der Dichter die Einheit der Apperzeption." (SG 155) Es ist für Simmeis Deutung symptomatisch, daß die typisch modernen, kontingenten Aspekte des späten Meister-Romans der Tendenz nach einem durchgängigen erzählerischen Ordnungsprinzip, einer eigentümlichen Logik der Homogenisierung, untergeordnet und so gesehen letztlich tendenziell relativiert werden. Eine entsprechende Gesetzlichkeit meint der Kulturphilosoph auch in der Figurendarstellung aus Goethes „Reifezeit" zu entdecken, die in der „vollen klassischen Rundung" der fiktiven Personen die „Ganzheit eines einheitlichen, unmittelbar nicht auszusprechenden Lebens mitklingen lassen." (SG 159) Wie die zuletzt zitierten Formulierungen andeuten, artikuliert sich in Goethes Dichtung nach Simmel allerdings eine nicht restlos geklärte Kategorie des Unaussprechlichen, eine der konventionellen Sprache inkommensurable Er-

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Zur Modernität von Goethes Roman vgl. Gerhard Neumann, Struktur und Gehalt, in: Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. G. Neumann und H.G. Drewitz, S. 963-968.

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fahrung, 24 die einen leisen Bruch in der figuralen Gesamtkonzeption zu erkennen gibt.

3.4

Die Kulturtheorie der Moderne und das Faszinosum der Goethe-Nachfolge

„Es hat sich in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen ... Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche eine Lehre zu begründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten." (Goethe, Morphologie, 13, 55) Die Gestaltkonzeption des 18. Jahrhunderts, wie sie Simmel an ihrer paradigmatischen Ausprägung bei Goethe nachvollzieht, muß insofern letztlich unzureichend erscheinen, als sie auch dort, wo - wie in der wissenschaftlichen Argumentation, etwa der Auseinandersetzung mit Newtons Optik - eine differenziertere Struktur angemessener wäre, unweigerlich in organologischen und holistischen Denkfiguren befangen bleibt. Um so mehr muß es verwundern, daß Goethes Naturbeobachtung und Ästhetik für den modernen Kulturphilosophen letztlich doch als weitgehend unangefochtene Vorbilder bestehen können, deren innere Überzeugungskraft unter den Bedingungen der Moderne nicht wieder zu erreichen sei.25 So zeugt es von einem Anflug 24

25

Eine solche Erfahrung führt in die eschatologisch-mystischen Bereiche der Rosenzweigschen Sprachphilosophie. Vgl. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M. 1988. Zum ästhetischen Erbe von Simmeis Kulturtheorie vgl. auch: David Frisby, Fragmente der Moderne. Georg Simmel - Siegfried Kracauer Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück 1989, Linda Simonis, Reflexion

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melancholischer Resignation, wenn Simmel bemerkt, daß sich die gestalthaften Momente des Erkenntnisvorgangs und des Kunstwerks nur dem „richtig eingestellten Blick" (SG 51) enthüllten. Andererseits erinnert die an Goethe vorgestellte Gesamtwahrnehmung an eine Formulierung, die Simmel in der Soziologischen Ästhetik gebraucht, um seine eigene soziologische Analyse zu erläutern, innerhalb deren 'fragmentarische Bilder' den Schlüssel zur „Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit" darstellen. Dort notierte er fast zwei Jahrzehnte vor der Veröffentlichung seines Goethebuchs: „Das Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung liegt für uns darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten... jeder Punkt birgt die Möglichkeit der Erlösung zu absoluter Bedeutsamkeit, aus jedem leuchtet für den hinreichend geschärften Blick die ganze Schönheit, der ganze Sinn des Weltganzen hervor." Innerhalb von Simmeis Kulturtheorie bilden demnach die fragmentarischen Momente der modernen Wirklichkeitserfahrung den Ausgangspunkt einer soziologischen Analyse, die selbst allerdings letztlich wiederum auf Sinngebung setzt, auf die Reintegration des Fragments in einen übergreifenden symbolischen Bedeutungsgehalt im Zeichen von Ganzheitlichkeit, der sich unter dem aufmerksamen Blick des Betrachters gleichsam von selbst konstituiert. Der 1895 entstandene Text antizipiert also die Goethe-Interpretation in entscheidender Hinsicht; umgekehrt läßt sich feststellen, daß die frühe soziologische Studie möglicherweise implizit schon am Paradigma 'Goethe' orientiert ist. Vor der Folie des bisher Gesagten ist zu vermuten, daß die moderne Kulturphilosophie mit ihrem geheimen Wunsch nach Synthesen, sei es bewußt oder unbewußt, die Goethenachfolge angetreten hat.

der Moderne im Zeichen von Kunst. Max Weber und Georg Simmel zwischen Entzauberung und Ästhetisierung, in: Konzepte der Moderne. DFG-Symposion 1997, hg. Gerhart v. Graevenitz, Stuttgart, Weimar 1998, S. 612-632 und Klaus Lichtblau, Ästhetische Konzeptionen im Werk Georg Simmeis, Simmel Newsletter 1 (1991), S. 22-35.

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Denn für die Gestalttheorie des späten 18. Jahrhunderts wie für die Simmelsche Kulturphilosophie kann eine charakteristische Privilegierung des erkennenden Subjekts geltend gemacht werden, insofern nur von einem solchen Standpunkt aus die empirischen Objekte und Relationen jene symbolische Prägnanz gewinnen, die dem Blick des ungeübten Laien notwendig verborgen bleibt. Nichtsdestoweniger bleibt ein Abstand zwischen 'Kunstperiode' und Moderne bestehen: Daß Simmel über Goethe als seiner historischen Identifikationsfigur bei aller Affinität in mancher Hinsicht möglicherweise weit hinausgeht, scheint ihm selbst bewußt geworden zu sein, erinnert er doch gelegentlich daran, daß für den klassischen Dichter morphe nur „den reinen, im genauen Sinne unvermittelten Eindruck der Sinnlichkeit" (SG 54) diesseits jeglicher philosophischer Deutungsmuster bezeichnet habe. Es gibt, wie die zitierten Überlegungen andeuten, offenbar einen Wissensvorsprung, der Simmeis eigene Ästhetik und Philosophie von den Gestaltvorstellungen des 18. Jahrhunderts trennt und zugleich einen vorsichtigen Bruch mit den überlieferten ganzheitlichen Formkonzeptionen markiert.26 Die gewünschte Ganzheit und, damit verbunden, das verborgene Sinnzentrum der modernen Kultur, bilden für Simmel zwar noch wichtige Leitvorstellungen am Horizont seiner Kulturanalyse, aber sie sind bereits problematisch geworden. Heiko Christians hat diese Akzentverschiebung im Blick auf die erstaunliche Renaissance der Physiognomik im Zeitraum zwischen 1910 und 1930 überzeugend dargelegt. Die Konstruktion eines ganzheitlichen Sinnzusammenhangs ist im Rahmen der modernen Kulturbeobachtung, wenn überhaupt, nur augenblickshaft möglich, denn die „Teile bleiben in Bewegung" und können lediglich „zum kurzzeitigen Sinnzentrum avancieren."27 Die überlieferte ganzheitliche Erkenntnismethode physiognomischer 26

27

Nicht von ungefähr bemerkt Simmel im Vorwort in Anlehnung an ein Goethe-Zitat, auch seine Abhandlung werde in mancher Hinsicht „eine Konfession des Deutenden" sein (SG VII). Heiko Christians, Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte, DVjs 74 (2000), S. 84-110, hier: S. 85.

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Herkunft wird von einer plötzlichen Dynamik erfaßt, die das morphologische System von innen her zu sprengen droht. Fragt man nach dem Auslöser eines solchen Diskurswandels, so sieht man sich auf die Zeitphilosophie Henri Bergsons verwiesen, die Simmel etwa zeitgleich mit der Arbeit am Goethebuch intensiv rezipierte. Wie kein anderer zeitgenössischer Philosoph hatte Bergson den Evolutionsgedanken der modernen Biologie aufgenommen und besonders in L'éuolution créatrice einen umfassenden Prozeß der Verzeitlichung der Lebensformen beschrieben, wie er sich im Goetheschen Metamorphoseprinzip allenfalls in bescheidenen Ansätzen ankündigte.28 In seinem Bergson-Essay von 1914 notiert Simmel zu Recht: „Hier ist die Zeit nicht mit einzelnen Konstellationen ausgefüllt, die beliebig nahe aneinander gerückt werden können, sondern mit einer stetigen Strömung, in der es überhaupt keine festen, bestimmt begrenzten Zustände gibt."29 Damit bezeichnet der Bergsonsche Standpunkt den genauen Gegenpol zur gestaltorientierten Denkform Goethescher Herkunft, zumal er die Beobachtung diskreter in sich geschlossener Einheiten geradezu apodiktisch ausschließt. Die eigentümliche Kontinuität der durée, des Bergsonschen Lebensstroms, läßt sich nicht mehr mit Hilfe eines Spektrums einander ähnlicher morphologischer Gestalten

28

Vgl. die aufschlußreichen Beiträge des Bandes: Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998. Die Beiträgerfinnen) sind sich interessanterweise hinsichtlich der Bedeutung des Zeitfaktors und des Geschichtsbewußtseins in Goethes Morphologie und Naturkonzeption keineswegs einig. Während Hugh Bahr Nisbet Goethes „relative Gleichgültigkeit gegenüber der zeitlichen Dimension" (Naturgeschichte und Humangeschichte bei Goethe, Herder und Kant, S. 15-43, hier: S. 30) betont, glaubt Dorothea Kuhn, vor allem im Rahmen von Goethes Spätwerk durchaus „Geschichtliches in der Beschreibung der Natur" zu entdecken (Vgl. Geschichte, begriffen als Beschreibung, als Biographie und als Historie. Goethes Konzepte, S. 44-57, hier: S. 57). Vgl. ferner: Robert Spaemann, Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 59-74 und Manfred Wenzel, Goethe und Darwin. Goethes morphologische Schriften in ihrem naturwissenschaftshistorischen Kontext, Bochum 1982.

29

Georg Simmel, Henri Bergson, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Berlin 1922, S. 126145, hier S. 29. Im folgenden zitiert unter der Sigle ZPK.

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definieren, da Bergson aus jenen auffallenden Ähnlichkeitsbeziehungen eine wesentlich radikalere Konsequenz zieht als Goethes Naturstudien. Simmel rekonstruiert zur Illustration dieses Phänomens nun genau diejenige Argumentation, die Bergson bereits in seinem Frühwerk, dem Essay über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins (Essai sur les données immédiates de la conscience) entfaltet hat. Die festen körperhaften Formen stellen sich Bergson nämlich lediglich als mentale Konstruktionen dar, die auf eine eigentlich alles andere als statische Wirklichkeit nurmehr projiziert werden und der objektiven Korrelate entbehrten. Die Gesetzmäßigkeiten der klar konturierten Wahrnehmung und die präzisen sprachlichen Begriffe bzw. Definitionen sind demzufolge gleichermmaßen trügerisch, da sie lediglich einem anthropologischen Bedürfnis und der Macht der Gewohnheit entspringen, aber kaum Aufschlüsse über die empirische Wirklichkeit geben: „Das Denken kann wohl aus der beweglichen Realität feste Begriffe ziehen, indem es sie zum Zweck des praktischen und wissenschaftlichen Verfahrens mit ihr stillstellt, erstarren läßt, zerschneidet, mechanisiert; niemals aber kann umgekehrt ... aus den festen als fertig angesehenen Elementen und Begriffen die Bewegung zurückgewonnen werden." (ZPK 140-141) Die Entlarvung der ganzheitlichen Wahrnehmungsbilder aus der Gestaltpsychologie könnte kaum gründlicher und konsequenter ausfallen, erscheinen jene doch nurmehr als willkürliche Fixierungen und Illusionen des menschlichen Intellekts. Zugleich haftet der Entwicklung des Lebens im Bergsonschen Entwurf etwas Inkalkulables an, da sich jene nicht mehr aus den vorhergehenden bzw. unmittelbar benachbarten Strukturen der Reihe berechnen läßt. Die zukünftigen Entfaltungsmöglichkeiten eines Organismus bzw. eines Lebewesens „sind weder aus vorher bestehenden Stücken zusammenzusetzen, noch ist es jeweils so in einem Augenblick gegeben, daß sich seine Zustände für alle Zukunft" prognostizieren ließen. (ZPK 125) Anders als alle anderen alteuropäischen und neuzeitlichen Denker der abendländischen Philosophiegeschichte habe Bergson sich nicht der Vorstellung angeschlossen, daß das „Feste ... das

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wahrhaft Wirkliche und Letzte" sei, sondern umgekehrt das „Fließende" als Grundbestimmung des Lebens erkannt (ZPK 125). Man könnte nun meinen, Simmel habe sich, von dem kühnen Vorschlag des französischen Philosophen nicht wenig beeindruckt, jener Inversionsbewegung angeschlossen und in der Bergsonschen Lebensphilosophie eben diejenige systematische Lösung des Formproblems gefunden, die er in Goethes Schriften vermißte. Aber auch Bergsons Modell der Dauer bleibt für Simmel in letzter Instanz ein wenig unbefriedigend. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß der Kulturphilosoph sich der Radikalität, mit der Bergson die Totalitätsfigur der Gestalt bzw. der organisch-geschlossenen Form verabschiedet, nicht recht anschließen möchte. So zeichnen sich gegen Ende des Bergson-Essays Ansätze zu einer Retotalisierung ab, die den wahrgenommenen Diskurswandel und den daran gekoppelten Verlust, die Auflösung der traditionell verbürgten ästhetischen Form, partiell wieder zurückzunehmen versuchen. Bergson verkörpert zwar gewissermaßen den modernen Gegendiskurs zur Goetheschen Gestaltlehre, aber ob er damit eine tatsächlich überlegene Position vertritt, scheint Simmel fraglich und zweifelhaft. So hält er sich bezeichnenderweise mit Lob und affirmierenden Bemerkungen zurück, wenn er folgende abschließende Bilanz zieht: „Auch Bergson steht nicht wirklich über diesen Parteien, sondern auf der Seite der einen, nach der Seite der andern hin unvermeidlich eine Unbefriedigtheit hinterlassend." (ZPK 142) Was Simmel den Lesern seines Essays schließlich in Aussicht stellt, ist nicht die Zurücknahme der gestalthaften Orientierung und ihres synthetischen Beobachtungstyps zugunsten einer Freisetzung differentieller und heterogener Momente der Form. Vielmehr sucht er die synthetischen Aspekte auf einer höheren Ebene zu bewahren, in der jener fundamentale Gegensatz der beiden Formkonzeptionen aufgehoben wäre. In prophetischem Gestus verkünden die Schlußzeilen des Bergson-Essays die Erwartung einer solchen philosophisch durchdachten, höheren Erkenntnis der Natur und der modernen Kultur: „Vielleicht wird die Philosophie ihren nächsten Schritt mit der Eroberung eines Begriffs vom Leben tun, mit dem dieses sich wirklich jenseits jene Gegensätze stellt,

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in eine Höhe, von der aus das Fließen des Realen wie des Idealen und die Festigkeit beider die Absolutheit ihres Gegensatzes verlöschen und als Offenbarungsweisen einer für jetzt noch unsagbaren Einheit des metaphysischen Lebens erschaut werde." Sich in solch luftige Höhen aufzuschwingen, vermag freilich nicht jeder. Es bleibt zu bemerken, daß die in Aussicht gestellte Synthesestiftung und übergreifende Versöhnung der Gegensätze einer privilegierten Beobachtungsposition bedürfte, die selbst dem unvergleichlichen „Glück der Goetheschen Existenz" (SG 61) noch überlegen wäre. Deshalb mag es dahingestellt bleiben, ob Simmel selbst danach strebte, einen Schritt in Richtung jener übergreifenden Totalerkenntnis zu tun. Noch im Goethebuch manifestieren sich gelegentlich die um 1900 aktuellen lebensphilosophischen Überzeugungen, die mitunter die Wahl der Formulierungen bestimmen: „Der Organismus", wie er Goethe vorschwebe sei „niemals" ein bloß mechanistisch gedachtes bzw. mathematisch konstruiertes „numerisches Eins", denn seine „Vielheit" werde nicht allein „funktionell zur Einheit verbunden", sondern jene „Verbindung" wird von einer vitalistischen Strömung erfaßt und sei nichts Geringeres als „das Leben." (SG 69) Auch wenn bei Goethe die heterogenen Wahrnehmungselemente letztlich wieder in einem gestalthaften Entdifferenzierungsmoment aufgehoben werden, geschieht dies, wie die Simmelsche Diktion verrät, innerhalb eines durch die Lebensphilosophie hindurchgegangenen Modells, das mit dem bergsonistisch inspirierten Stichwort des Weltprozesses' eine immanente Dynamisierung des Formschemas suggeriert, ohne indessen den mit der klassischen Symbolfigur gesetzten Rahmen vollends zu sprengen.: „Jedes Ding ist nur ein Pulsschlag des Weltprozesses, und offenbart deshalb, richtig beschaut, dessen Totalität von Wirklichkeit und Wert, Sinnenbild und Idee." (SG 60) Wie sich zeigt, neigt Simmel im Goethebuch gelegentlich dazu, in Einklang mit Bergson die prägnanten Gestaltfixierungen aufzulösen und die Gestalt zum geheimen Motor der biologischen wie künstlerischen Produktivität umzudeuten. So erscheint die Gestalt zuweilen als „das treibende, alles Werden erklärende Movens in allen Elementen" (SG 128). Es sei Goethes Verdienst, die Gestalt „als unmittelbar treibende Kraft" ange-

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setzt zu haben. Mehr noch: Simmel suggeriert, der klassische Autor habe damit „einige Theorien der allerjüngsten Zeit" (Darwin? Bergson?) gleichsam vorweggenommen (SG 126-127). Wenn die biologischen Untersuchungen Simmel zufolge ein System bereit stellen, anhand dessen sich die allgemeinen Prinzipien der Goetheschen Epistemologie und Mentalität sowie die Grundsätze seiner literarischen Produktion eruieren ließen, dann verwundert es nicht, wenn die enge reziproke Beziehung von „Naturschauer" (SG 50) und (erfolgreichem) Künstlertum in Simmeis Goethemonographie beispielhaft dargestellt und diskutiert werden. Die punktuell aufscheinenden Schwierigkeiten und die Problematisierungen des Gestaltkonzepts sind dabei letztlich verdrängt und einer „morphologisch-künstlerischen Synthese" (SG 74) assimiliert worden, die für Simmel die unnachahmliche und unwiederbringliche Eigenart von Goethes souveränem Künstlertum ausmacht. In diesem Sinne behält die synthetische Wahrnehmungs- und Beobachtungsform das Übergewicht gegenüber den sich ankündigenden Ansätzen zur Auflösung und Dissoziation: „Im Gegensatz zu der sensuellen Anschauung, die nur Einzelheiten sieht, war die seine [i.e. Goethes] die intellektuelle, die nur Ganzheiten sieht." (SG 68) Wie immer man die jeweiligen Argumentationsschritte Simmeis im einzelnen einschätzen mag, ist nicht zu leugnen, daß die Argumentationslinie im Goethebuch durch die Bündelung aller Einzelaspekte in einem übergreifenden Gestaltschema (das in mancher Hinsicht dem klassischen Werkbegriff mit seiner Neigung zum überzeitlichen Ideal äquivalent ist) einen stromlinienförmigen Zuschnitt und eine erstaunliche innere Kohärenz erhält. Als Resultat des Simmelschen Philosophierens über Goethes Naturbegriff und Poetik läßt sich eine letztlich nicht weiter in Zweifel zu ziehende strukturelle Einheit der Gestalt erkennen, die hinter den im Verlauf der Abhandlung erreichten Komplexitätsgrad indessen teilweise zurückfällt. Demgemäß liegt den Texten Goethes (in Simmeis Perspektive) ein sich über Heterogenität und Kontingenz letztlich hinwegsetzendes künstlerisches Streben zur Vereinheitlichung und Identitätsstiftung zugrunde, das sich in den Vorgängen des „aktiven Verbindens des Getrennten zur Identi-

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tat" und „des Anschauen des Verschiedenen als 'identisch'" (SG 136) manifestiert. Es ist entscheidend zu sehen, daß die Akzentuierung, die Simmel vornimmt, eine im Rahmen des aufgezeigten Problemhorizonts zwar mögliche, aber keineswegs zwingende ist. Das „Gleichgewicht", welches er als bestimmende Figur der Naturbeobachtung sowie der literarischen Produktion Goethes wahrzunehmen glaubt, ist bei ihm ein deutlich zugunsten der gestalthaften, identitätsstiftenden Komponente verschobenes, während die Einheit der morphê, die „Struktur" des „Wirklichen" (SG 130), zugleich durch die Besetzung mit metaphysischen und ethischen Begriffen wie „Idee" und „Wert" überhöht wird. Bei Bergson, dem unmittelbaren Vorbild Simmeis, blieb das Spannungsverhältnis zwischen der kontinuierlichdynamischen Fluktuation und der punktuellen Kristallisation der Formen im Wahrnehmungsprozeß hingegen erhalten, insofern keiner der beiden Pole dominierte. Das Bergsonsche Reale, verstanden als „changement continuel de formes", erlaubte nämlich nur die augenblickshafte Genese solcher Formen, die sich im Akt der Wahrnehmung vorübergehend und spontan einstellten: „la forme qui n'est qu'un instantané pris sur une transition"30 (EC 750). Da Bergson zufolge die Form - im Unterschied zum Goetheschen Urphänomen - einen unvermeidlich flüchtigen und transitorischen Charakter besitzt, vermeidet der französische Philosoph konsequent jegliche traditionelle ontologische Terminologie. Die Genese der 'Bilder' wird bewußtseinspsychologisch weitgehend subjektimmanent rekonstruiert: „notre perception s'arrange pour solidifier en images discontinues la continuité fluide du réel" (EC 750). Für Simmel richten sich die Bemühungen Goethes indes letztlich sogar wiederum auf ein ontologisches Telos, auf ein „Letztes und Absolutes der Kunst", das mit dem „Letzten und 30

Bergsons Werke werden nach folgender Ausgabe zitiert: Henri Bergson, Œuvres, hg. André Robinet und Henri Gouhier. Paris 1959. Ders. Essai sur les Données immédiates de la conscience (Sigle DI), in: ders. Œuvres, hg. André Robinet und Henri Gouhier. Paris 1959. Ders. Matière et Mémoire. Essai sur la relation du corps à l'esprit (MM), in: ders. Œuvres, hg. André Robinet und Henri Gouhier. Paris 1959. Ders. L'Evolution Créatrice (EC), in: ders. Œuvres, hg. André Robinet und Henri Gouhier. Paris 1959.

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Absoluten der Wirklichkeit" koinzidiere. Es sei mithin die seine Poetik weitgehend bestimmende Intention Goethes gewesen, das „Ewige im Vorübergehen zu schauen" (SG 80). Die Goethedarstellung kulminiert hier in einem bekannten und vielzitierten, aber auch polyvalenten Goethezitat. Wenn die Goethesche Poetik, folgt man der Simmelschen Rekonstruktionsarbeit, letztlich auf die Überwindung moderner Kontingenzerfahrung zielt, so ist es entscheidend zu sehen, daß diese Option nur ein Paradigma neben anderen bildet, die für Simmeis moderne Kunst- und Kulturphilosophie richtungweisend wurden. Es zeigt sich nämlich, das Simmel einen ganz anderen Weg geht, wenn es ihm darum zu tun ist, die Eigenart der modernen zeitgenössischen Kunst zu beschreiben. Wenn Goethe und Bergson in systematischer Hinsicht als Kontrahenten zu betrachten sind, dann kann eine ähnliche Entgegensetzung auf zwei unterschiedliche Bildhauer übertragen werden, die im Simmelschen Oeuvre eine wichtige Rolle gespielt haben - gemeint sind Michelangelo und Rodin. Dabei zeigt sich zugleich, daß Goethes morphologisch grundierte Ästhetik sich nicht ohne weiteres auf die moderne Kunst und Dichtung um 1900 übertragen läßt und für diese ihre Idassische' Vorbildfunktion bereits eingebüßt hat. Simmel hat den Gestalt-Diskurs im Blick auf die bildende Kunst selbst in jene Richtung eines nicht mehr zu hintergehenden Epochenumbruchs bzw. ästhetischen Diskurswandels weitergedacht, wie die kontrapunktisch konzipierten Studien über Michelangelo und Rodin aus der Philosophischen Kultur zeigen.31 Läßt sich Michelangelos Kunst noch durchaus adäquat in der Terminologie der traditionellen Gestalttheorie beschreiben, so gilt dies für Rodin nur noch sehr bedingt. Der Moment des Übergangs von der Gestaltästhetik in ihrer ursprünglichen, 'klassischen' Konzeption zu einer modernen Neuformulierung derselben wird in Simmeis Rodin-Essay daher sehr genau greifbar. Der Autor gewinnt seine Definition der Rodinschen und 31

Vgl. Georg Simmel, Philosophische Kultur. Berlin 1911. Zitiert nach der Neuauflage: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Berlin 1983, S. 119-153.

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mithin der modernen Kunsttheorie zunächst durch ihre Kontrastierung mit der griechischen Plastik (eine Verfahrensweise, deren man sich seit der Querelle des Anciens et des Modernes im 18. Jahrhundert bediente und die um 1900 fast schon zu einen topischen Versatzstück der Ästhetik und Kunstgeschichtsschreibung verblaßt war). Wie die Goethesche Morphologie wird die griechische Kunst Simmel zufolge durch einen ausgeprägten synthetischen Zug gekennzeichnet, in dem Formgebung und Inhalt aufs engste verknüpft sind, insofern „die ganze Idealbildung des griechischen Geistes auf ein festes, geschlossenes, substantielles Sein ging und ... sie dieses Sein als ein Geformtes erfaßte"32 Der Autor spricht dieser Kunstrichtung ferner dynamische Momente weitgehend ab, denn „die Unbestimmtheit des Gleitens von Form zu Form, die Bewegung als das fortwährende Zerbrechen der festgefügten, in sich befriedigten Gestaltung" sei der griechischen Ästhetik fremd gewesen und von ihr als das „Häßliche" schlechthin abgewertet worden.33 In Übereinstimmung mit dem frühen Lukäcs glaubte Simmel die griechische Kunstphilosophie sei an die substanzialistische und metaphysische Logik jenes „prästabilierten, ewigen Orts der Form"34 gebunden, ein Muster, das in prototypischer Form die Homerschen Epen erfüllten. Mit der Figur der 'in sich selbst befriedigten Gestaltung' spricht der Verfasser sodann die Selbstgenügsamkeit und Selbstreflexion als Postulate einer traditionalen klassischen Autonomieästhetik (Moritzscher und Winckelmannscher Herkunft) an. Das Neue und Überraschende der kunsttheoretischen Bestimmungen Simmeis zeichnet sich indes erst im Kontext des sich anschließenden Versuchs ab, die besonderen künstlerischen Verfahrensweisen Rodins zu erfassen, der als Wegbereiter einer Ästhetik der Moderne in Erscheinung tritt. Im folgenden sucht Simmel nämlich gerade nach Möglichkeiten, eine spezifisch moderne Autonomie-Ästhetik ohne Rekurs auf jene "klassisch' gewordene Lösung zu begründen. Für Simmel besteht Rodins außergewöhnliches Verdienst darin, daß er die abschlie32 Ebd., S. 142. 33 Ebd., S. 142. 34 Georg Lukäcs, Die Theorie des Romans, S.31.

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ßende Bilanz und letzte Konsequenz aus einer sich seit längerem anbahnenden kunstgeschichtliche Entwicklung gezogen habe, innerhalb deren der Körper allmählich zum „Träger der Bewegtheit" gemacht werde und „aus der substantiellen Sicherheit seiner Form"35 heraustrete. Jene Entwicklung kulminiert Simmel zufolge in der Rodinschen Plastik und den Van Goghschen Gemälden, die nun auch im Rückgriff auf eine lebensphilosophische Terminologie - der Verfasser beruft sich im Vorwort der Philosophischen Kultur nicht von ungefähr auf Bergson und Nietzsche - dynamisiert und vom élan vital durchflutet werden: „Er trägt in seine Bilder", so heißt es über Van Gogh, „ein Leben so ungestüm, vibrierend, fieberhaft, wie kein anderer Maler."36 Rodin avanciert indes zum eigentlichen Neuerer, zum Entdecker des Bewegungsprinzips, der die Funktionen des Gestischen und der Gebärde als psychologisierende Ausdrucksmittel erprobt und damit zugleich eine neue rezeptionsästhetische Haltung provoziert habe, die von der konventionell passiven, „genießenden"37 sehr verschieden ist. Der Rezipient der Rodinschen Skulptur sehe sich nämlich plötzlich dazu aufgefordert - so die Simmelsche Interpretation - den „Schaffensprozeß in sich zu wiederholen", das „Unvollständige selbst zu vollenden,"38 indem sich die „produktive Bewegtheit"39 des Objekts auf den Betrachter überträgt, in seiner Reflexion gleichsam fortsetzt. Dieser, der Plastik eigenen, inneren Bewegtheit, wie sie hier vorgestellt wird, ist mit anderen Worten ein Moment der Dynamik und der Verzeitlichung inhärent, wie sie der bildenden Kunst und Malerei konventionsgemäß bislang abgesprochen wurden. Ähnlich wie bei Stefan George bemerkt Simmel bei Rodin ferner die Wahl der „monumentalen Form" als Ausdrucksmedium und die Suche nach einer neuen 'Monumentalität', die dem All35

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Georg Simmel, Philosophische Kultur. Berlin 1911. Zitiert nach der Neuauflage: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Berlin 1983, S. 143. Ebd., S. 145. Ebd., S. 145. Ebd., S. 145. Ebd., S. 145.

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täglichen heroisierende und mythisierende Qualitäten verleihe.40 Wichtiger erscheint in unserem Kontext die Einsicht in die tendenzielle Auflösung der Form durch die Freisetzung einer immanenten Bewegung und der ihr inhärenten destruktiven Impulse, die, konsequent zu Ende gedacht, die Gestalt als solche aufheben würde. Im Rodin-Essay von 1910 hat Simmel also die Basis der Goetheschen Morphologie (noch vor der Veröffentlichung seines Goethebuchs !) bereits zugunsten eines kunsttheoretischen Neuansatzes verlassen, der die Gestaltästhetik langfristig untergraben sollte, aber der Autor bleibt auch hier die Wahl der Rodinschen Plastik als Gegenstand seiner Kunstphilosophie deutet es an - am Paradigma des menschlichen Körpers orientiert; in diesem Sinne ist sein Ansatz ungeachtet der zunehmend komplexen Binnendifferenzierung des ästhetischen Diskurses noch immer von anthropomorphen Reflexionsfiguren geprägt.

Vgl. ebd., S. 146.

4. Gestaltpsychologie und Gestaltkultur - Ein ästhetisches Konzept macht Karriere in den modernen Wissenschaften 4.1 Entdifferenzierung und literarische Moderne Gestalt als Schlüsselbegriff

„Die gehetzte Differenzierung hatte ... labil und wankend werden lassen." (Carl Einstein, Die Fabrikation der Fiktionen, S. 163) „Hat das Auge die Zeichen in ihrer gewaltigen Fülle aufgenommen, so muß es sich eher schließen, um von der Einheit eine Ahnung zu bekommen, die immer nur annähernd bleiben kann: ein verhülltes und ruhendes Gegenbild der rastlos kreisenden Welt." (Ernst Jünger, Adnoten zum Arbeiter, Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Essays II, Band VIII, S. 333)

Die Wiederkehr der Goetheschen Morphologie in den Schriften Simmeis sollte im zeitgenössischen Epochenkontext kein peripherer Einzelfall bleiben. Die ganzheitliche Perspektive, die von den morphologischen Beschreibungskategorien eröffnet wurde, versprach ihren modernen 'Entdeckern' weit mehr, als Goethe selbst je geahnt haben mochte. Schien sie doch den entscheidenden Vorzug zu bieten, daß sie eine in der Moderne hochgradig unwahrscheinliche Beobachtungsform, eine von der Spezialisierung unberührt gebliebene Totalwahrnehmung erlaubte. So konnte der Gestaltbegriff als wirkungsvolles Entdifferenzierungsmoment gehandhabt werden, das zu den fortschreitenden Modernisierungsprozessen und den Spezialisierungstendenzen im Wissenschaftssystem sowie im gesellschaftlichen Gesamtgefüge quer lag.

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Daher rührt nicht zuletzt die markante Vorliebe für gestalthafte Formmodelle in der Kulturkritik der Moderne, für die Ernst Jüngers Trias 'Name', Typus', 'Gestalt' exemplarisch erwähnt sei.1 Nicht von ungefähr avancierten die genannten Termini zu Eckpfeilern seiner kulturphysiognomischen Erkenntnismethode, wie Jünger sie etwa in der zeitdiagnostischen Schrift Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932) konsequent zur Anwendung brachte.2 Gestalt bezeichnet nach Jünger nicht allein ein Moment der Vergangenheit, sondern enthält zugleich ein zukünftiges Potential, das wirkungsvoll zur Geltung gebracht wird: „In der Gestalt", so Jünger, „ruht das Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile umfaßt und das einem anatomischen Zeitalter unerreichbar war. Es ist Kennzeichen einer heraufziehenden Zeit, daß man in ihr wieder unter dem Banne von Gestalten sehen, fühlen und handeln wird."3 Die Renaissance des morphologischen Konzepts stellt sich Jünger dabei weniger als eine objektive Gegebenheit dar denn als ein ganz bestimmter Wahrnehmungsmodus und Erfahrungstyp: „Von 1

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Zu diesen kulturphysiognomischen Leitkonzepten vgl. Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt, Stuttgart 1963. Bei Jünger avanciert der Arbeiter vor der Folie der nihilistischen Grundierung der 'geschichtsmetaphysischen' Schrift zum Typ des heroischen Menschen, der vermittels des emphatisierten Gestaltbegriffs als ambivalente Figur zwischen totaler Determination und autonomer Existenz bestimmt wird: In seiner „Gestalt" selbst ruhe, so Jünger, „ganz unabhängig von jeder nur moralischen Wertung, jeder Erlösung und jedem 'strebenden Bemühen' ... sein unveränderliches und unvergängliches Verdienst, seine höchste Existenz und tiefste Bestätigung." Vgl. E. Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung. Essays II. Band VIII, Stuttgart 1981, S. 40.- Durch die heroisierte Figur des Arbeiters evoziert Jünger zugleich die Züge der formalen Einheit und Geschlossenheit, wie sie dem klassischen Werkkonzept in seiner prototypischen Ausprägung eigen sind, die allerdings durch die Zusatzannahme einer spezifischen Signatur des Providentiellen neu definiert wird: „In der Fülle ihres Seins gesehen und in der Gewalt einer Prägung, die eben erst begonnen hat, erscheint die Gestalt des Arbeiters reich an Widersprüchen und Spannungen in sich, und doch von einer wunderbaren Einheit und schicksalsmäßigen Geschlossenheit." (Ebd., S. 49) Zur theoretischen Grundlegung des Gestaltbegriffs in den Schriften Jüngers vgl. auch ders., Typus, Name, Gestalt, Stuttgart 1963.

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dem Augenblick, in dem man in Gestalten erlebt, wird alles Gestalt. Die Gestalt ist also keine neue Größe, die zu den bereits bekannten hinzu zu entdecken wäre, sondern von einem neuen Aufschlag des Auges an erscheint die Welt als ein Schauplatz der Gestalten und ihrer Beziehungen."4 Es kommt Jüngers Vorlieben entgegen, daß die Gestaltwahrnehmung eine gleichsam totale Inanspruchnahme sämtlicher Sinne und menschlicher Vermögen bedeutet. Zudem verbindet sich der programmatisch aufgerollte Gestaltdiskurs in Jüngers Schriften mit spezifischen gesellschaftspolitischen Interessen, verweist der Autor doch selbst auf dessen Bedeutung für den Bereich des Politischen.5 Daraus zu folgern, die morphologischen Formmotive als solche seien innerhalb der damaligen Diskursformationen an einen spezifischen politischen Standort gebunden und in erster Linie als dessen ästhetische Dispositive zu begreifen, wäre jedoch weitgehend irrführend. Vielmehr verdankte sich die Ausbildung der literarischen 'Gestaltkonzeption' und affiner ganzheitlicher Poetikmodelle um 1900 einem weiteren ideen- und diskursgeschichtlichen Umfeld,6 dessen geschichtliche Voraussetzungen, Formationsbedingungen und spezifische Modalitäten im folgenden in systematischer und historisch-epochenspezifischer Hinsicht erkundet werden sollen. Dabei hatten die soziokulturellen 3

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Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung. Essays II. Band VIII, Stuttgart 1981, S. 37. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 37. Vgl. ebd., S. 39. Zu der (in der Forschung kontrovers verhandelten) politischen Dimension von Jüngers Werk vgl. auch Uwe K. Ketelsen, Ernst Jüngers 'Der Arbeiter' - ein faschistisches Modernitätskonzept, in: Helmut Brackert, Fritz Werfelmeyer (Hg.), Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1990, S. 219-254. Zu den diskurs- und mediengeschichtlichen Voraussetzungen vgl. auch Heiko Christians, Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte, DVjs 74 (2000), S. 84-110. Zu den Beziehungen des kulturphysiognomischen Denkens zur Hermeneutiktradion vgl. ferner die ausführliche und sachkundige Darstellung von Heiko Christians, Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen, Berlin 1999. Vgl. außerdem Gert Mattenklott, Der mythische Leib. Physiognomisches Denken bei Nietzsche, Simmel und Kassner, in: Karl-Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 1983, S. 138-156.

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Umbrüche in der Moderne eine Auslöserfunktion, zumal sie ästhetische Gegenbewegungen mit utopischer oder kompensatorischer Akzentuierung anregten, im Sinne jenes Denkprozesses, den man mit Norbert Bolz als 'Exodus aus der entzauberten Welt' beschreiben könnte.7 Es ist in diesem Zusammenhang entscheidend zu sehen, daß jene gesellschaftlichen Umbrüche, die bekanntlich die Ausdifferenzierung komplexer sozialer Systeme auf dem Niveau moderner funktionsorientierter Leistungsgesellschaften begleiten und individuell als Entfremdungsprozesse erfahren werden können, nicht allein von der konservativen Kulturkritik der Moderne beklagt wurden. Obwohl politisch völlig unterschiedlich ausgerichtet, stimmten Autoren wie Georg Simmel und Carl Einstein doch darin überein, daß die gesellschaftliche Differenzierung einen Grad und eine Geschwindigkeit erreicht habe, die den Bedürfnissen der Individuen abträglich seien. Von daher ist zu verstehen, warum die moderne Gesellschaftsentwicklung vermehrt literarische bzw. künstlerische Gegenentwürfe provozierte. Während Georg Simmel eine „Hypertrophie der Kultur" beklagte und den daraus hervorgehenden Orientierungsverlust des Individuums ausführlich in seinem kulturkritischen Essay „Der Begriff und die Tragödie der Kultur" (1911)8 darstellte, äußert sich in den Schriften der modernen Dichter eine entsprechend pessimistische Zeitdiagnose. Eine solche prägt noch Carl Einsteins aus der Retrospektive des Pariser Exils entworfene Ästhetik der Moderne. So kennzeichnet der ideologiekritisch ge7

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Vgl. Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989. Abgedruckt in: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Berlin 1983, S. 183 - 207. Simmel stellt in der Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Funktion kultureller Gebilde ein nicht zu umgehendes Paradoxon der Kultur (Ebd., S. 186) heraus, das in der Moderne unvermeidlich eine Konfliktsituation hervorruft: „Indem die Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge mit Dynamik geladen ist, entstehen zwischen diesen und den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit harte Reibungen, die in der Form der Kultur als solcher eine einzigartige Zusammendrängung erfahren." (Ebd., S. 179).

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stimmte Gestus der Fabrikation der Fiktionen die zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaften und die mit ihr einhergehende Spezialisierung in karikaturhafter Überzeichnung als Strategien eines sozialen Konkurrenzverhaltens und der Konfliktbewältigung, die wiederum bewirkten, daß sich die gewonnenen Ergebnisse aufgrund ihrer Verselbständigung ins Abstrakte der empirischen Überprüfbarkeit entziehen. Wenn die Diversifikation der Wissenschaftsgebiete fortschreitet und sich der externen empirischen Verifizierbarkeit mehr und mehr entledigt, so erfährt die Rolle des Individuums in proportionalem Verhältnis zu diesem Vorgang eine zunehmend isolierte Ausprägung, die ebenfalls die spezifische Signatur der Moderne trägt. Jene gesamtgesellschaftlichen Prozesse, die Simmel und seine Zeitgenossen unter überwiegend kritischem Vorzeichen diagnostiziert haben, sind inzwischen von namhaften Theoretikern des zwanzigsten Jahrhunderts mit je unterschiedlicher Akzentuierung als folgenreicher Wandel sozialer Strukturen vielfach beschrieben worden,9 so daß hier auf eine eingehendere Darstellung derselben verzichtet werden kann. Wichtig erscheint indessen, daß die weite Verbreitung von Entdifferenzierungsund Totalitätskonzeptionen in Texten höchst unterschiedlicher politischer und dichtungstheoretischer Provenienz vor der Folie der genannten Modernisierungsschübe allererst zu plausibilisieren ist. Im Blick auf das universitäre und wissenschaftliche soziale Subsystem läßt sich, zugespitzt formuliert, beobachten, wie die Verwendung von Gestaltkonzepten und ähnlichen entdifferenzierten Strukturbegriffen eine Reaktion auf die wachsende „Verwissenschaftlichung der Wissenschaften" darstellte.10 9

10

Gemeint sind jene Systemdifferenzierung und wachsende Systemkomplexität, die Niklas Luhmann insbesondere für die moderne funktionsorientierte Gesellschaft geltend gemacht hat (vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 38 und 41). Zu mentalitätsgeschichtlichen und soziologischen Konsequenzen der sich beschleunigenden Modernisierungsprozesse vgl. auch Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979 und Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M. 1971. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 90. Aufschlußreich hinsichtlich der zunehmenden

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Es handelte sich also um einen spezifischen Respons auf die Modernitätserfahrung und ihre vermeintlichen Schattenseiten, wie er sich vor allem in den Arbeiten der aus dem Georgekreis hervorgegangenen Germanisten artikulierte. Im Umkreis Georges erfreute sich bekanntlich die Gattung der monumentalen Autorenbiographie großer Beliebtheit. Es handelte sich bei diesem Phänomen um nichts weniger als den ambitionierten Versuch, Differenzierungsprozesse und deren diskursive Spuren in der nach-idealistischen Epoche im Rückgriff auf ältere, klassisch-romantische Denkschemata und Dispositive aufzuheben oder wenigstens einzuschränken, ein Unterfangen, dessen erkenntniskritische Reichweite - selbst bei der Eingrenzung des Untersuchungsbereichs auf historische Themen (Dante, Shakespeare, Rembrandt, Goethe) - nichtsdestoweniger problematisch war. Als Folgeerscheinung ergab sich eine eigentümliche Art von Literaturgeschichtsschreibung, die - darin geht der Georgekreis mit Nietzsches Standpunkt konform - im wesentlichen auf der Dichotomie von individueller, kreativer Autorschaft und (schweigender, passiver) 'Masse' beruht, was zu einer (problematischen) Isolation des einzelnen Schriftstellers führt, einer deutlichen Distanzierung des heroisch gedachten DichterSchöpfers von der jeweiligen Epochenströmung, der er angehört. Im Unterschied zu einer Dichtung die „Ausdruck des Zeitgeists" sei, verkörpert Georges Lyrik, so Gundolfs Argumentation, das überzeitliche, transhistorische Ideal einer „Sprachgestaltung gehobnen Menschentums", das sich an einen gleichgesinnten sowie kongenialen Rezipienten wendet und sich (zirkulär) nur dem erschließt, „dem Dichtung das bedeutet was sie seit Goethe und Hölderlin zum erstenmal wieder durch George geworden."11 Nicht zufällig beharrt Gundolf auf der Affinität der Georgeschen Physiognomie zur Danteschen,12 gehört George

Spezialisierungstendenz und ihrer fachwissenschaftlichen Konsequenzen ist vor allem das Kapitel „Funktionswandel der Wissenschaft", ebd., S. 89-94. 'i Friedrich Gundolf, Dichter und Helden, S. 73. 12 Ebd., S. 74.

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doch wie jener zu den „gesteigerten Gestalten," 13 denen die Aufgabe einer grundlegenden quasi-metaphysischen „Erneuerung" der Literatur zugemutet sowie nichts weniger als ein universeller Bildungsauftrag, der „Traum eines menschenbildenden Willens", 14 anvertraut wird. Es entspricht der Logik seiner genieästhetischen Provenienz, daß die Protagonisten (oder 'Gestalten") eines so konzipierten literarhistorischen Verlaufs den zeitgenössischen Epochentendenzen gegenüber mehr oder weniger gleichgültig sein können, gleichwohl sie - auf der anderen Seite - trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer auratisierten Vereinzelung mitunter noch die geniale u n d zugleich einmalige Summe ihrer Zeit repräsentieren können. Das heroische Individuum des mit visionären Kompetenzen begabten Dichters, handele es sich n u n u m Dante, Shakespeare, Goethe oder George (der sich selbst bevorzugt in diese Genealogie stilisierte) 15 , figurierte somit als die einzigartige Verkörperung einer Denksynthese, die sich zugleich - unter poetologischen Vorzeichen - als Suche nach einem analogen, nicht weniger wirkungsmächtigen textuellen Totalitätsmodell herauskristallisierte. Die Engführung beider Bestrebungen, der literaturgeschichtlich-historiographischen u n d der poetologischen, verdichtet sich prägnant in der Bevorzugung des Gestaltbegriffs, da letzterer sowohl geeignet ist, die personalen Träger von Literaturgeschichte in ihrer jeweiligen, spezifischen Ausstrahlung als auch die gesuchte ganzheitlich-organologische Textpoetik selbst zu bezeichnen. Die Beliebtheit des Gestaltbegriffs u m 1900 beruht also nicht zuletzt auf seiner schillernden Semantik, die je nach Akzentuierung u n d Bedarf sowohl die heroisch-schöpferischen Individuuen als auch die Kunstwerke in ihrer anschaulichen Gegebenheitsweise bezeichnen kann. Gerade das Gestaltkonzept in seiner verborgenen anthropomorphen Qualität regte eine Überlagerung u n d konzeptuelle 13 Ebd., S. 76. Ebd., S. 75. is Vgl. Paul Gerardy, Widmung an Stefan George, Blätter für die Kunst, 2 (1894) und Friedrich Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, in: Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S.73.

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Synthese aus den Kategorien des 'Lebens' und der 'Schrift' an, die es erlauben würde, die charismatisch aufgefaßten Künstlerpersönlichkeiten und die nun ebenfalls mit der Aura des Lebendigen versehenen Strukturgegebenheiten der Werke zusammenzudenken. Pointiert gesagt, bediente man sich, wie angedeutet, zunächst der Mehrdeutigkeiten der erwähnten Diskurskonstellation, einer ihr eigentümlichen Unschärfe, die das Fortbestehen naturaler, organizistischer Kunstauffassungen in der Moderne begünstigte. Das Fehlen begrifflich-analytischer Genauigkeit, das dem Gestaltkonzept von Haus aus anhaftet, wird auf diese Weise strategisch genutzt und zugleich - durch die inneren Ambivalenzen der verwendeten Denkfigur - systematisch überdeckt.16 16

Walter Benjamin machte den Georgeschülern genau jenen Mangel an moderner, zeitgemäßer Theoriebildung zum Vorwurf, zumal er sich einer Methode verdankte, die sich - im bewußten Verzicht auf eine differenziertere literaturkritische bzw. philologische Terminologie - dem visionären Erkenntnismodus des Dichters anvertraute. Damit geriet die Vorgehensweise der Georgeschüler, wie Benjamin im Rückblick resümiert, unweigerlich in den Verdacht, an die poetische Ausdrucksform in einer zwar durchaus beeindruckenden Sprachgebung und stilistischen Nuancierung, aber ohne jegliche distanzierenden Momente anzuschließen und jene nurmehr zu reproduzieren. „Eine [Kritik], die nichts als Schau ist," so Benjamins Einwand, „verliert sich, bringt die Dichtung um die Deutung, die sie ihr schuldet, und um ihr Wachstum." (B III 259) Eine an den poetischen Stil und die ihm eigene Rhetorik gebundene Interpretationsweise wie diejenige Gundolfs oder Kommereils verharrt demnach, so Benjamins Kritik, letztlich in geistiger Abhängigkeit und Unproduktivität. Sie liefert somit ex negativo, als kontrastive Folie, die Definition dessen, was Benjamin selbst als Ideal der eigenen literaturkritischen Arbeit vorschwebt: „Wir aber müssen aber gerade im Angesicht solch blumenhaft offenen Blicks... zu der unansehnlichen Wahrheit, zum Lakonismus... der Fruchtbarkeit uns bekennen, damit aber zur Theorie, die den Bannkreis der Schau verläßt" (B III 258). Umgekehrt geben Benjamins Einwände zu erkennen, daß der Autor Ganzheitskonzepte und Entdifferenzierungsmomente zwar in der wissenschaftlichen Analyse als unzulängliche Kategorien betrachtet, ihren Geltungsbereich im Medium der Fiktion indessen weitgehend unangetastet läßt. Im Baudelaire-Essay fungiert die Lyrik in diesem Sinne als Remedium gegenüber einer kontingenten, unüberschaubaren und schockartigen Realitätserfahrung, so daß das Schöne in seiner Exklusi-

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Es läßt sich mithin eine gewisse Eigendynamik u n d Flexibilität der Form- u n d Gestaltdiskurse u m 1900 beobachten, so daß es nicht verwundert, wenn jene Totalitätsschemata sich einer ü b e r a u s großen Beliebtheit erfreuten. Deren ungewöhnliche Karriere im Umfeld der Moderne findet nicht zufällig darin eine Bestätigung, d a ß sie von manchen als Provokation aufgefaßt wurden u n d sehr bald Gegenkonzepte analytischer u n d differentieller Art herausforderten, die im weiteren Verlauf des 20. J a h r h u n d e r t s langfristig zur kritischen Auflösung ganzheitlicher Kunst- u n d Textmodelle in der poetologischen Diskussion gef ü h r t haben. 1 7 Um 1900 behaupteten sich die ganzheitlichen Textmodelle u n d Formvorstellungen indessen weitgehend uneingeschränkt, nicht zuletzt aufgrund ihres modernitätskritischen Potentials u n d ihrer spezifischen Ambivalenz, ihrer merkwürdigen Synthese a u s rückwärtsgewandter u n d utopischer Semantik. Dieser eigentümliche Doppelcharakter der genannten Denkfiguren bedingte wiederum eine erhöhte Anpassungsfähigkeit in unterschiedlichsten Kontexten u n d sicherte ihnen zeitweilig einen immensen Erfolg. Die Gestaltkategorie avancierte wohl a u c h deshalb zu einem Schlüsselkonzept u n d geheimen Attraktor, weil sie sehr unterschiedliche Verwendungsmöglich-

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vität gerade besonders deutlich oder sogar ausschließlich unter der Signatur der modernen Entfremdungserfahrung zur Geltung kommt. Zugleich erhebt sich im Blick auf die veränderte Ausgangssituation poetischer Produktion unter den Bedingungen der Moderne die brisante Frage, „wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könne, der das Chockerlebnis zur Norm geworden ist" (B 1.2 614) Benjamin nimmt im Rahmen seiner Baudelaire-Analysen in nuce die Argumentationsfigur einer modernen sozialpsychologischen Erklärung moderner Kunstformen vorweg, wenn er erwägt, daß die Chockrezeption wohl durch ein spezifisches „Training in der Reizbewältigung" erleichtert werde, an dem auch die den poetischen Produktionsprozeß steuernden Faktoren „Traum" und „Erinnerung" nicht unwesentlich beteiligt seien (vgl. B 1.2 614f). Zu den epochemachenden Revisionen innerhalb der poetologischen Verhandlungen der Moderne vgl. Erich Kleinschmidt, Gleitende Sprache. Sprachbewußtsein und Poetik in der literarischen Moderne, München 1992, S. 170-253.

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keiten in einem interdisziplinären Bezugsfeld versprach. Worin aber das Faszinierende der ganzheitlichen Form im einzelnen bestand, der sich selbst die modernen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts oft nicht entziehen konnten, ist damit noch keineswegs restlos geklärt und bedarf im folgenden einer genaueren Untersuchung. Ein aufschlußreiches Beispiel für diesen Sachverhalt bietet die moderne Gestalttheorie, die sich in ihrer wahrnehmungspsychologischen Ausprägung bei Christian v. Ehrenfels als durchaus wissenschaftsfähig erwiesen hat, wie die weitere Entwicklung jener Theorie in den modernen Kognitionswissenschaften,18 etwa der Kognitiven Linguistik, zeigen sollte. Ehrenfels' Entdeckung sogenannter 'Gestaltqualitäten'19, die er für die empirische Wahrnehmung als solche geltend machte, war in epochenspezifischer Hinsicht in der Tat symptomatisch. Die Gestaltpsycholgie postulierte nichts weniger als die Existenz von ganzheitlichen Gebilden in der Sinneswahrnehmung, beispielsweise bei der Apperzeption von Lautbildern, Melodien und mehrdimensionalen räumlichen Gebilden. Es ging Ehrenfels um einen Modus des Erkennens, der die Summe der jeweils gegebenen Einheiten, der einzelnen Wahrnehmungs- und Bewußtseinsdaten transzendieren und ein Mehr erfassen sollte, das den etwa im selben Zeitraum in der anti-naturalistischen Kunsttheorie geltend gemachten Vorstellungen von ästhetischer Totalität ähnelt und dem Typ des Wagnerschen 'Gesamtkunstwerks' in auffallender Hinsicht vergleichbar ist.20 18

19

20

Vgl. etwa W. Köhler, The task of gestalt psychology, Princeton 1969, W. Köhler, H. Wallach, Figural aftereffects. An investigation of visual processes, Proceedings of the American philosophical Society 88 (1944), S. 269-357. Vgl. auch M. Denis, Image and Cognition, New York 1991 und P. Saariluoma, Do visual images have Gestalt properties?, Quaterly Journal of Experimental Psychology. Human Experimental Psycholgy 45A (1992), S. 399-420. Vgl. Christian von Ehrenfels, Über 'Gestaltqualitäten' (1890), in: ders., Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie. Philosophische Schriften. Band 3, hg. Reinhard Fabian. Mit einer Einleitung von Peter Simons. München, Wien 1988, S. 128-155. Vgl. diesbezüglich auch meine Arbeit: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000. Zum ästhetischen Erbe des modernen wissenschaftli-

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Die Gestalttheorie folgt dabei, wie noch genauer zu zeigen ist, einer unterschwelligen Identitätslogik, die selbst da noch greifbar wird, wenn es eigentlich um die Beschreibung von Formveränderungen geht. Wertheimers Beobachtung, „daß eine Melodie auch dann wiedererkannt werde, wenn sie transponiert vorgeführt wird"21, wie er sie in Anschluß an Ehrenfels und Mach formuliert, dient als beispielhaftes Indiz für das Vorhandensein einer spezifischen Strukturqualität, die sich von den angenommenen „Ganzverhältnissen" und der „figuralen Ganzbedingung" her definiert22. Das Identische wird jenseits aller augenscheinlichen Diskontinuität und Veränderung weiterhin als eine unhintergehbare Voraussetzung der Gestalterfahrung eingeschätzt, daher ist es kein Zufall, daß Wertheimer das aufschlußreiche Attribut „gestaltident"23 prägte.

4.2

Die 'Erfindung' der Gestaltpsychologie durch Christian von Ehrenfels und ihre Verlängerungen in der neueren Kulturtheorie

„ So aber entsteht nun wirklich eine zwar geometrisch aufgebaute, selber aber der Geometrie fremde Figur, nämlich überhaupt keine 'Figur', sondern - eine Gestalt. Denn dadurch unterscheidet sich Gestalt von Figur, daß die Gestalt zwar auch aus mathematischen Figuren zusammensetzbar sein mag, daß aber in Wahrheit ihre Zusammensetzung nicht geschehen ist nach einer Regel, sondern nach einem übermathematischen Grund." (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 285) chen Gestaltkonzepts vgl. auch: Mitchell Ash, Gestalt psychology in German Culture, 1890-1967. Holism or the quest for objectivity, Cambridge 1995, S. 84-99. 21 Wertheimer, Über Gestalttheorie, Symposion. Zeitschrift für Forschung und Aussprache (1927), S. 39-60, S.46. 22 Ebd., S. 48. 23 Ebd., S. 57.

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Im Ehrenfelsschen Werk gehen Wahrnehmungstheorie, Psychologie und Ästhetik eine komplexe Verbindung ein, so daß es schwierig ist zu entscheiden, welcher der beiden Aspekte in den überlieferten Texten entstehungsgeschichtlich gesehen das ursprünglichere Moment darstellt. Ebensowenig läßt sich eindeutig entscheiden, ob für Ehrenfels selbst das Interesse an den Fragen der Ästhetik im engeren Sinne vorrangig war oder die Entfaltung der Gestaltpsychologie als einer neuen wissenschaftlichen Teildisziplin für ihn Priorität hatte (und lediglich aus diesem übergeordneten Gesichtspunkt sein Interesse an literarischen und ästhetischen Fragen rührt). Weniger Mühe bereitet indes die literaturgeschichtliche Standortbestimmung von Ehrenfels' ästhetischer Position. Wie sich zeigt, tritt der Gestaltpsychologe in seinen Vorlesungen und Schriften zur Ästhetik (die in der neueren Münchner Werkausgabe nicht von ungefähr etwa ein Viertel des Gesamtcorpus der Ehrenfelsschen Abhandlungen konstituieren) nämlich als entschiedener Verfechter einer anti-mimetischen Dichtungskonzeption auf, der naturalistische Positionen entweder entschärft oder philosophisch zu widerlegen sucht.24 Den literarischen 'Naturalisten' des ausgehenden 19. Jahrhunderts weist er (angebliche) Inkonsequenzen und Widersprüche nach, zumal sie ihre eigene Poetik kaum angemessen in die poetische Praxis umgesetzt hätten: „Zola strotzt von phantastischen Übertreibungen, Ibsen erlaubt sich auf der Bühne die gewagtesten psychologischen Experimente."25 Eine konsequente realistische Ästhetik lasse sich, so der Tenor der Argumentation, kaum einlösen, da die künstlerischen Medien keinen unmittelbaren Durchblick auf die Wirklichkeit, kein detailgetreues Abbild, erlauben. „Wir stehen vor dem seltsamen Paradoxon, daß möglichst genaue Nachahmung der Wirklichkeit nur dort als Kunst gilt, wo sie - wie in der Malerei und erzählenden Dichtung - mit Mitteln angestrebt wird, welche ... eine vollkommene Erreichung des Zieles von vornherein ausschlieVgl. Chr.v. Ehrenfels, Wahrheit und Irrtum im Naturalismus (1891), in: ders., Philosophische Schriften, Band II: Ästhetik, hg. R. Fabian, München 1986, S. 29-35. 25 Ebd., S. 32.

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ßen."26 Ehrenfels stellt seine eigene Kunstauffassung implizit eher in die Nähe der symbolistischen Strömung in der Nachfolge Edgar Allan Poes, wenn er zusammenfassend bemerkt: „So wichtig auch gewissenhafte Beobachtung für manche Zweige der Kunst sein mag - ihr Lebenselement ist die gestaltende und ordnende Phantasie."27 Wagner verkörpert für Ehrenfels nicht zuletzt deshalb den Inbegriff vollkommenen Künstlertums, weil seine Ästhetik mit Gestaltkonzepten harmoniert. Es sei ihm in seinem „mächtigen Bedürfnis nach Anschaulichkeit und Plastik" gelungen, „auch die Gegenstände der umgebenden leblosen Welt mit Sinn und Bedeutung" zu erfüllen.28 Nicht zufällig zitiert Ehrenfels in diesem Zusammenhang Franz Liszts Verse auf Wagners 'Siegfriedidyll', in denen die ganzheitliche Tendenz der Wagnerschen Opern hervorgehoben wird: „Wie alles sich zum Ganzen hebt, / Eins in dem Andern wirkt und lebt."29 Was Ehrenfels an Wagner fasziniert, ist - mit anderen Worten - ein spezifischer ästhetischer Überschuß, ein eigentümlicher Mehrwert, der das Ausschnitthafte und Partikulare der geläufigen Wirklichkeitserfahrung transzendiert: „Er will stets mehr geben als einen beliebigen Ausschnitt der Wirklichkeit."30 Was die Wagnerschen Werke auszeichnet, sei eine gesteigerte Prägnanz des Ausdrucks; was dem Dichter und Komponisten als ästhetisches Ideal vorschwebt, ist, so Ehrenfels, ein „Verdichten der Wirklichkeit"31, das sich aufgrund einer Intensivierung und Steigerung der Erfahrungsmomente über die Kontingenz der alltäglichen Realität hinwegsetzt: „- so springt vor allem das Typische, Stilisierte seiner Gestaltungen in die Augen ... Daher die Ausscheidung des Kleinen und Zufälligen, die Vereinfachung der Charaktere und der Handlung, die Beschränkung auf wenige, markige Züge und stark heraustretende psychische Motive, welche sich in dem breit angelegten Umriß der dramatischen 26 Ebd., S. 31. 27 Ebd., S. 31. 28 Chr.v. Ehrenfels, Richard Wagner als Dichter (1891), in: ders., Philosophische Schriften, Band II: Ästhetik, hg. R. Fabian, München 1986, S. 21-27, hier: S. 27. 29 Ebd., S. 27. so Ebd., S. 25. 31 Ebd., S. 25. Ehrenfels' Hervorhebung.

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Entwicklung voll entfalten und ausleben."32 Ehrenfels bevorzugt eine Ästhetik der starken Kontraste, die sich wie diejenige Wagners einer klar konturierten Hell-Dunkel-Grundierung bedient. Auch im Zusammenspiel der Sprache mit der Musik setzt sich, wie Ehrenfels ausführt, jene Beobachtung von effektvollen Kontrastwirkungen fort: „Während aber jene [Wagners Musik, Anm. A.S.] ... des bestrickenden Klangzaubers seiner Instrumentation teilhaftig wird, bietet diese [die Diktion] in ihrer gedrängten Kürze und gleichsam Nacktheit kein ähnliches, die Sinne gewinnendes Äquivalent."33 Je mehr sich Wagner auf die Wirkung seiner Kunst konzentriere, desto deutlicher stehe für ihn die Prägnanz der Darstellung im Vordergrund: „Stets setzt er die Energie des Ausdruckes den Forderungen der äußeren Schönheit und Glätte voran."34 Die sinnlich-unmittelbare, gestalthafte Evidenz sei Wagners oberstes künstlerisches Ziel, das ihn immer wieder zu kreativen, sprachschöpferischen Leistungen motiviere: „Wagner schuf sich so eine neue, vor ihm nur erst geahnte Sprache in der Ausdrucksfähigkeit seiner Musik."35 Nicht nur die Kommentare zu den Werken anderer Autoren, auch die eigenen schriftstellerischen Ambitionen scheinen aufschlußreich im Blick auf Ehrenfels' Vorlieben und Denkweisen. So ist bekannt, daß der in Wien habilitierte, später in Prag lehrende Philosophieprofessor sich nebenberuflich als Schriftsteller betätigt hat und als Verfasser sogenannter 'Allegorischer Dramen'36 hervorgetreten ist. Letztere fanden beim zeitgenössischen Publikum indes wenig Beachtung, geschweige denn zustimmende Resonanz.37 In der 'Nachschrift zu den allegorischen 32 Ebd., S. 25. 33 Ebd., S. 24. 34 Ebd., S. 24. 35 Ehrenfels, Die Wertschätzung der Kunst bei Wagner, Ibsen und Tolstoi (1901), in: ders., Philosophische Schriften, Band II: Ästhetik, hg. R. Fabian, München 1986, S. 135-153, hier S. 146. 36 Vgl. Christian von Ehrenfels, Allegorische Dramen, für musikalische Komposition gedichtet, Wien 1895. 37 Trotz der mangelnden Beachtung durch das Publikum und des offenkundigen Mißerfolgs seiner Theaterstücke hat Ehrenfels seine Schriftsteller-Rolle nicht weniger wichtig genommen als seinen wissenschaftlichen Beruf, wie Rudolf Haller in seiner Einleitung in pathetischer Stilisierung bemerkt: „Wahrscheinlich war um diese Zeit [i.e. 1895] der in-

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Dramen' heißt es programmatisch: „Alles Innerliche, Psychische läßt sich nur allegorisch veranschaulichen."38 Wie im Kommentar zu Wagner betont Ehrenfels also auch hier eine nach innen gewendete Anschaulichkeit, einen Aspekt, dem wir in seinen wissenschaftlichen Schriften wiederbegegnen werden. Worin besteht nun Ehrenfels spezifischer Beitrag zur Entwicklung des Gestaltdiskurses im 20. Jahrhundert? Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, seine wissenschaftlichen Thesen näher zu betrachten. Der leitende Gesichtspunkt der Gestaltpsychologie besteht in der Basishypothese, daß das psychologische Subjekt, sei es nun empirisch oder transzendentallogisch konzipiert, im Akt der akustischen oder visuellen Wahrnehmung gewisse Einheiten zu erfassen vermöge, die keine bloßen Zusammensetzungen aus kleineren Elementen, also nicht bloß summarischer Art seien, sondern eigenständige, irreduzible Gebilde. Für diese eigentümlichen Wahrnehmungsentitäten hat Ehrenfels - nicht ohne sich der Emphase seiner Begriffswahl bewußt zu sein - die Bezeichnung 'Gestaltqualitäten' geprägt. Ehrenfels versuchte, seine grundlegende Entdeckung in dem Satz zu präzisieren, daß die räumliche oder tonale Gestalt, wie sie als Wahrnehmungsbild' im menschlichen Bewußtsein erscheint, jeweils die Summe der gegebenen, einzelnen Bestimmtheiten transzendiere, insofern das menschliche Bewußtsein, welches die betreffende Figur auffaßt, mehr zu der erfaßten Vorstellung hinzubringe als die übrigen individuellen Bewußtseinsinhalte.39 Die Gestalttheorie beruft sich also auf einen Prozeß der Synthesestiftung, der vielfältige und verschiedenartige Merkmale quasi-automatisch als bewußtseinsimmanente Ganzheiten erkennt und somit über die Wahrnehmung disparater Sinnesdaten ebenso hinausgeht wie über eine rein additive Operation. Die Kategorie des gestalthafnere Kampf zwischen Dichtung und Philosophie aber noch nicht entschieden. Hätte der ersteren nur größeres Echo gegolten, wer weiß, welchen Weg der Philosoph Ehrenfels genommen hätte" (Ehrenfels, Philosophische Schriften, Band II, S. 1). 38 Ehrenfels, Nachschrift zu den 'Allegorischen Dramen' (1895), in: ders., Philosophische Schriften, Band II: Ästhetik, hg. R. Fabian, München 1986, S. 45-95, hier: S. 47. 39 Vgl. Ehrenfels, Philosophische Schriften, Band I, S. 130.

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ten, ganzheitlichen Erkennens bildet für die Gestaltpsychologen in diesem Sinne auch den Ermöglichungsgrund für räumliche, zeitliche und tonale 'Erinnerungsbilder', ohne den komplexere Gedächtnisleistungen wie die Vergegenwärtigung bzw. Wiederholung von Melodien nicht denkbar wären - die auf raumzeitliche Totalitäten ausgerichtete Ehrenfelssche Kognitionspsychologie muß so gesehen über den reinen Perzeptionsprozeß hinaus eine Theorie des Gedächtnisses umfassen. 40 Jedenfalls läßt sich erkennen, daß die Existenz von „Gestaltqualitäten" im Ehrenfelsschen System zur Strukturierung der 'inneren Wahrnehmung', der Retention und Modellierung der apperzipierten Gegenstände im menschlichen Bewußtsein, wesentlich beitragen. Ehrenfels zufolge stellen jene Bewußtseinsinhalte wie 'Raumgestalt' und Melodie, wie ersichtlich, nicht nur eine bloße additive Zusammenfassung, eine mathematisch berechenbare Aggregation von Elementen dar, sondern etwas diesen gegenüber qualitativ Neues, das durch den Vorgang der „inneren Wahrnehmung" 41 selbst bedingt werde. Welche Bedeutung der Ehrenfelsschen Entdeckung von kognitiven Entitäten, die letztlich anthropologisch fundiert sind, zukommt, ist bis heute wissenschaftlich umstritten. An ihrer historischen Relevanz als Ausdruck der spezifischen Mentalität einer Epoche kann indes kein Zweifel bestehen. Es gibt ferner auffallende Parallelen zur zeitgenössischen Literaturtheorie und Ästhetik. So korrespondiert die Ehrenfelssche Idee der „inneren Wahrnehmung"42 genau jener Vorstellung psychologischer „Innenräume", wie sie in der in etwa zeitgleichen symbolistischen Literatur zu beobachten ist, mit welcher der Wiener und Prager Philosophieprofessor bestens Die maßgebliche Beteiligung des Gedächtnisses an kognitiven Prozessen wie z.B. an der Genese von Vorstellungsbildern haben neuere Studien aus der Kognitiven Psychologie näher untersucht. Vgl. etwa D.L. Schacter, L.A. Cooper, S.M. Delaney, Implicit memory for visual objects and the structural description system, Bulletin of the Psychonomic Society 28 (1990), S. 367-372. Vgl. auch D.L. Schacter, L.A. Cooper, S.M. Delaney et al., Implicit memoiy for possible and impossible objects. Constraints on the construction of structural description, Journal of Experimental Psychology: Learning, memoiy and Cognition 17 (1991), S. 3-19. 41 Ehrenfels, Philosophische Schriften, Band I, S. 131. « Ebd., S. 131, S. 142. 40

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vertraut war. Mit Paul de Man zu sprechen, handelt es sich bei diesem Phänomen um eine „certain mode of inwardness, that remains to be defined."43 Es ist diese (wahrnehmungspsychologische) Dimension einer eigentümlichen Innerlichkeit der Erfahrung, die Ehrenfels im Blick hat, wenn er über zwei so unterschiedliche Talente wie Wagner und Tolstoi schreibt: „Beide sind von der Überzeugung erfüllt, daß die Erlebnisse ihres Inneren typische Bedeutung und höchsten Wert für die Mitwelt besitzen."44 Es sei die vornehmlichste Aufgabe des Künstlers, so heißt es weiter, nach einer „möglichst klaren, intensiven, schrankenlosen Mitteilung ihres Innern" zu streben. Somit erscheint Ehrenfels gestaltpsychologisches Programm auch im Blick auf die weiteren diskursgeschichtlichen Zusammenhänge und unter literarhistorischen Gesichtspunkten höchst aufschlußreich.45 Eine äußerst ästhetiknahe Ausrichtung verrät die moderne Gestaltpsychologie durch die von ihr vertretene These, daß sich bei jeder Sinneswahrnehmung unter dem Blick des Beobachters quasi-spontan klar konturierte Formen einstellen, die jenseits einer bloß ungeordneten oder gar chaotischen Flut der Eindrücke anzusiedeln sind. Folgt man der gestaltpsychologischen Argumentation und ihrer Grundhypothese, der Annahme, es gebe besondere Totalitätsmomente nicht-summarischer Herkunft (sogenannte Gestaltqualitäten), die im Prozeß der alltäglichen Sinneswahrnehmung spontan hervortreten, so ist dem Wahrnehmungsvorgang selbst von sich aus eine bemerkenswerte Ordnungsfmdung bzw. Syntheseleistung inhärent. Diese erweist sich in den Augen ihrer Entdecker oder Erfinder zudem als so grundlegend, daß sie der bewußten Manipulation der gegebenen, aus der empirischen Erkenntnis gewonnenen Daten entzogen ist und durch das wahrnehmende Subjekt im allge-

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Vgl. Paul de Man, Allegories of Reading, Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven and London 1979, S. 21. Ehrenfels, Die Wertschätzung der Kunst bei Wagner, Ibsen und Tolstoi (1901), in: ders., Philosophische Schriften, Band II: Ästhetik, hg. R. Fabian, München 1986, S. 135-153, hier S. 146. Vgl. meine Arbeit: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Kapitel 7.

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meinen nicht willentlich herbeigeführt, sondern allenfalls nachträglich stärker konturiert und weiter entfaltet werden kann. Mit der Goetheschen Morphologie, die den optischen Wahrnehmungsprozeß tendenziell privilegierte, teilt die Gestaltpsychologie einen Primat des Visuellen und Anschaulichen. Der ansonsten nüchterne Tenor der Ehrenfelsschen Abhandlung ändert sich unvermutet, wenn es um die Beschreibung der visuellen Wahrnehmung geht, und nimmt hier streckenweise sogar eine euphorische Tonlage an: „Zunächst auf dem Gebiete des Gesichtssinnes und der durch ihn vermittelten Phantasmen sahen wir Raum- und Farbgestalten aller Art sich in der konkreten Anschauung verbinden; denken wir uns diese nun noch sich verändernd, so erhalten wir eine unermeßliche Reihe von zeitlichen Gestaltqualitäten, von deren Reichtum die kargen sprachlichen Bezeichnungen für Phänomene solcher Art auch nicht die entfernteste Vorstellung zu bieten haben." 46 Die trokkene wissenschaftliche Sprache und das analytische Denken greifen angeblich zu kurz und scheitern daran, einen adäquaten Eindruck von der eigentümlichen, phänomenalen Wirkung zu vermitteln, welche die Gestalterfahrung auf den Betrachter auszuüben vermöge. Ferner schreibt sich das von Ehrenfels entwickelte Kognitionsmuster zwanglos in die tradierte nachkantische Ästhetikdiskussion ein. Unverkennbar zeigt sich dies daran, daß Ehrenfels die grundlegenden Kategorien seiner Lehre bevorzugt anhand der Analyse künstlerischer Phänomene veranschaulichte.47 (Die ergänzende Ausgestaltung durch die Phantasie ändert aber nichts an der Tatsache, daß die beobachtete Einheitsstiftung der Wahrnehmung selbst angehört und daher der individuellen Kreativität zugrunde bzw. vorausliegt.) Wenn schon die Alltagserfahrung gestalthafte Erfahrungsmomente in sich birgt, wieviel deutlicher müssen sich - so die Argumentation - solche herausgehobenen Formmuster dann in der künstlerischen Wahrnehmung einstellen: „Der Phantasie [wird] ziemlich allgemein die 46

47

Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, S. 140. Dies schließt ein Interesse an der Musik und an den sogenannten Schall- oder Tongestalten keineswegs aus. Vgl. Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, S. 149-151.

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Fähigkeit zuerkannt, die durch Empfindung und innere Erfahrung gegebenen Elemente frei zu kombinieren. Daß aber hierin nach unserer Auffassung von dem Wesen der Gestaltqualität ein schöpferisches Vermögen größten Stiles eingeschlossen liegt, kann nicht mehr bezweifelt werden."48 Die latente ästhetische Dimension von Ehrenfels wahrnehmungspsychologischen Analysen kommt also genau dort in vertrauter Schärfe zum Vorschein, wo es um die Beschreibung genuin künstlerischer Prozesse geht. Diesen Gesichtspunkt haben namhafte Kultur- und Kunsttheoretiker des 20. Jahrhundert bereitwillig aufgegriffen, um ihn für ihre Zwecke fruchtbar zu machen. Die Gestaltpsychologie kommt da erst eigentlich zu sich selbst, wo sie es mit Kreativität im starken Sinne zu tun hat, wie die folgenden, offenkundig gestaltpsychologisch inspirierten Formulierungen aus Simmeis Goethebuch verraten: Es sei ein untrügliches Indiz für die herausragende „Produktivität des Künstlers", wenn „dessen Anschauen schon ein Gestalten ist." (SG 53) Weit davon entfernt, lediglich ein „Gefäß" für „passives Aufnehmen und Erleben" zu sein, bewährt sich an Goethe in einem höheren Sinne der gestaltpsychologische Grundsatz, daß das „Wahrnehmen" selbst „sogleich oder vielmehr zugleich schöpferisch ist." (SG 52). Mehr noch: Auch Ehrenfels' Idee, die holistischen Wahrnehmungsbilder umfaßten einen spezifischen Überschuß, einen in der Summe ihrer Teile noch nicht enthaltenen 'Mehrwert', läßt sich vorzüglich in kunsttheoretische Reflexionen umsetzen. Denn jene Überschußqualität kann mit relativer Leichtigkeit als spezifisch ästhetische Differenz aufgefaßt und bestimmt werden. So glaubt noch Adorno, daß selbst das nüchterne „radikal unpathetische Werk" der Moderne über den „Gestus eines Mehr" verfüge, über ein besonderes, nicht wegzudenkendes „Pathos", das seinem „Auftreten" ein ausgeprägtes positives, wenn nicht gar glanzvolles Profil verleiht. 49 Aus der Ehrenfelsschen Schlüsselfigur der 'Gestaltqualität' ergeben sich nun weitreichende Konsequenzen im Blick auf die zugrundeliegende Anthropologie sowie in Hinblick auf die in der « 49

Ebd., S. 149. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1970, S. 155 - 156.

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Wahrnehmungspsychologie selbst im Keim bereits enthaltene Ästhetik bzw. Kunstphilosophie. Wurde oben gesagt, daß die Wahrnehmungsprozesse sich Ehrenfels nicht als passive, mechanische Vorgänge darstellen, sondern als spontane, kreative und synthetische Akte des menschlichen Bewußtseins, so setzt dies ein (wenn auch im allgemeinen verborgenes) strukturierendes, aktives Vermögen auf Seiten des erkennenden Subjekts immer schon voraus. Dies hat eine Akzentuierung der poietischen Momente der Wahrnehmung zur Folge, die - blickt man auf die philosophische Tradition, in die sich Ehrenfels als Vertreter dieser Disziplin einschreibt, insbesondere den sensualistischen und empiristischen Erfahrungstheorien diametral, wenn nicht gar polemisch entgegengesetzt sind. Analoge Modelle zum Ehrenfelsschen Gestaltkonzept finden sich eher in der idealistischen Philosophie seit Leibniz' Theorie der ideae innatae und im Neukantianismus in der Nachfolge Hermann Cohens, der für einen 'methodischen Idealismus' plädierte und einige Kantische Postulate sogar verschärft hat. Die Objekte der empirischen Wahrnehmung haben Cohen zufolge kein substanzialistisches Korrelat in Form eines 'Ding an sich', sie seien vielmehr als spontanes und methodisches Erzeugen der Welt im (transzendentalen) subjektiven Bewußtsein zu betrachten.50 Sowohl Ehrenfels als auch Cohen greifen in ihrem Ansatz auf die Kantische Kritik der reinen Vernunft zurück, insofern sie die Annahme teilen, daß die Erkenntnistätigkeit nichts anderes darstelle als ein selbständiges Bearbeiten und Formen der Daten aus der sinnlichen Wahrnehmung nach den Gesetzen des Erkenntnisapparates, wie er dem menschlichen Subjekt eigen ist. Aufschlußreicher in unserem Zusammenhang ist indessen die Beobachtung, daß auch die Anthroposophie Rudolf Steiners, des Herausgebers von Goethes morphologischen Schriften, unverkennbare Affinitäten zu den synthetischen Konzepten des Wahrnehmens, Erkennens und Schreibens aus der Ehrenfelsschen Wahrnehmungspsychologie aufweist, die für die Ausbildung des Gestaltdiskurses in der Moderne eine formative Be-

50

Vgl. Hermann Cohen, System der Philosophie, Band I: Logik der reinen Erkenntnis, 1902.

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deutung hatten. Das kreative, poietische Moment der reinen empirischen Wahrnehmung betonend, berührt sich Steiner mit der Gestaltpsychologie in der Annahme, daß „alles Gegebene nur insofern gegeben ist, als es zugleich ein im Erkenntnisakt Hervorgebrachtes ist."51 Die entscheidenden erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die seine Position legitimieren, hat Steiner in seiner Kantkritik in Wahrheit und Wissenschaft ausführlicher erörtert. Gegen die als einseitig rationalistisch empfundene, kritizistische Philosophie Kants vertrat Steiner nachdrücklich die Möglichkeit einer 'intellektuellen Anschauung'52 und brachte damit also wiederum ein ganzheitliches Konzept in die nachkantische Erkenntnistheorie ein.53 Steiner knüpfte mithin, sei es bewußt oder unbewußt, an die gestaltpsychologischen Entdeckungen an, in welcher er die eigene anthroposophisch-ganzheitliche Philosophie präformiert glaubt. Er kennzeichnet die intellektuelle Anschauung ferner als ein anthropologisches Vermögen, mittels dessen eine Synthese aus Wahrnehmung und Denken vollzogen werden könne. Aus der sorgfältigen Koordination von empirischer Wahrnehmung und Idee im Erkenntnisakt gehe erst „das ganze Ding" hervor,54 das dem vermeintlich defizienten, Kantischen 'Ding an sich' nun in polemischer Absicht entgegengesetzt wird und als „totale Wirklichkeit"55 aufzufassen sei. Für Ehrenfels' Methodik erscheint es spezifisch - und darin besteht eine Tendenz zur wissenschaftlichen Systematisierung der psychologischen Thesen - daß er jene kreative Kompetenz, die sich bereits in der reinen (empirischen) Perzeption manifestiere, nicht in einer vagen, nicht weiter analysierbaren Phantasietätigkeit (wie Rudolf Steiner) oder Intuition (im Sinne Wilhelm Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer 'Philosophie der Freiheit' (1892), Dornach 1958, S. 54-55. 52 Vgl. ebd., S. 55-56. 53 Bei der intellektuellen Anschauung handelt es sich bekanntlich um ein Konzept, das auch von Hölderlin und den Frühromantikern begrüßt worden war. Zum Komplex der 'intellektuellen Anschauung' vgl. etwa Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1989, S. 231- 186. s4 R. Steiner, Die Philosophie der Freiheit (1894), Dornach 1949, S.115. ss Ebd., S. 115. 51

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Diltheys) zu verankern, sondern in mathematischen Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben sucht. Entsprechend dem sich abzeichnenden Objektivierungsbestreben konzentriert Max Wertheimer sich folgerichtig zunehmend auf den Funktionsbegriff56, mittels dessen er die gewählte Terminologie („Teil,Ganzes, Voninnen-her-bestimmt"), die „in der philosophischen Diskussion endlos belastet"57 sei, revidieren zu können glaubt. Die Beobachtung, daß sich konsistente visuelle, auditive und kinästhetische Strukturen im Wahrnehmungsprozeß abzeichnen, wird demnach nicht als eine schlechthin unerklärliche, nicht weiter zu spezifizierende oder kontingente Komponente empirischer Erfahrung beurteilt, sondern als erkenntnistheoretisch aufschlußreiche Regularität gewertet. Jene Tendenz zu einer systematischen, quasi-mathematischen Ergebnisformulierung in der um 1900 allererst zu entwickelnden bzw. im Entstehen begriffenen Gestaltpsychologie korrespondiert den gleichzeitigen Bemühungen E. Husserls um eine Verwissenschaftlichung der Philosophie im Sinne einer mathesis universalis. Es ist im übergreifenden Kontext der vorliegenden Untersuchung entscheidend zu sehen, daß Ehrenfels die Gestaltkategorie nicht einfach als gewissermaßen axiomatische, unumstößliche Figur seiner Lehre postuliert, ohne sie dabei - gemäß den zeitgenössischen philosophischen Argumentationstechniken gleichsam in die Rolle des advocatus diabolus schlüpfend selbst in Frage zu stellen. Innerhalb dieser methodischen Strategie, die eigentlich der Erhärtung der gewonnen Resultate dienen soll, zeichnet sich bereits ein Problemhorizont ab, der erst von den später zu behandelnden Autoren in seiner ganzen Tragweite erkannt bzw. thematisiert wird. Ehrenfels sieht sich nämlich nicht nur vor die Aufgabe gestellt, die „Möglichkeit der Existenz von Gestaltqualitäten"58 wissenschaftlich nachzuweisen, sondern er erkennt inmitten des Argumentationsgangs eine Konsequenz, die die Idee der Gestaltwahrnehmung selbst brüchig werden läßt. Der Autor stößt auf eine irritierende Beob56 Vgl. Max Wertheimer, Über Gestalttheorie, S. 44. 57 Ebd., S. 44. 58 Chr. v. Ehrenfels, Philosophische Schriften, Band I, hg. R. Fabian, München 1986, S. 132.

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achtung, auf die Möglichkeit einer „unendlichen Komplikation" der wahrgenommenen Vorstellungsgebilde', die in der Logik des Gestaltdenkens selbst angelegt ist und sich daraus ergibt, daß die Einzelteile stets ein übergeordnetes Ganzes implizieren, daß zwei Bewußtseinselemente stets ein neues, drittes Element in Form einer von den ersten qualitativ verschiedenen Entität hervorbringen.59 Wie ersichtlich, wird Ehrenfels hier - inmitten seiner argumentativen Grundlegung der Gestaltpsychologie - um die Jahrhundertwende bereits auf einen Widerspruch im eigenen Diskurs aufmerksam, eine prekäre Stelle, von der aus sich die gesamte Argumentation und mit ihr die sichere Basis der vorgeschlagenen Theorie aushebeln lassen. Es zeigt sich, daß die Berechnung des Wahrnehmungsbildes nach den angegebenen Gestaltprinzipien sich letztlich der anschaulichen gestalthaften Gegebenheitsweise und der eindeutigen Form der Objekte 60 ebenso widersetzen müßte wie der unterstellten Einheit und Geschlossenheit der betreffenden Figuration. Was Ehrenfels als mathematische Gesetzmäßigkeit für die Berechnung bzw. das Zustandekommen gestalthafter Wahrnehmungstotalitäten vorstellt, führt, wie sich zeigt, implizit schon weit über die Anschaulichkeit der Figuren im einfachen geometrischen Raum hinaus zugunsten der Konzeptualisierung eines ndimensionalen Raums, der sich der optischen Realisierung entzieht und innerhalb der Grenzen des holistischen wahrnehmungspsychologischen Diskurses notwendig peripher bleibt oder gar nicht zur Sprache kommen kann. Jene Beobachtung findet innerhalb der gestaltpsychologischen Systematik Ehrenfelsscher Herkunft in der Tat keine befriedigende Erklärung; der genannte Gesichtspunkt kann erst in 59

60

Vgl. ebd., Band I, S. 133: „Denn gesetzt, es bedingten die zwei Elemente e^ und das Element eg , so müßte konsequenterweise eg und e^ etwa e^, eg und das Element 65, e^, eQ und eg zusammen eg ergeben, diese Elemente würden wieder andere bedingen, und den stets sich vermehrenden Forderungen könnte die Endlichkeit nicht Genüge leisten." Wenn im obigen Argumentationszusammenhang die Gestaltqualität als ein Relationsbegriff aufgefaßt wurde, so wurde damit zugleich das Problem der Produktion einer unendlichen Menge von Elementen berührt, das in der Genese solcher Gebilde involviert scheint.

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den Erweiterungen der Gestalttheorie in den Poetiken der literarischen Moderne angemessen thematisiert werden, zumal sich letztere nicht mehr selbstverständlich auf der von Ehrenfels noch nicht verlassenen anthropologischen Basis bewegen u n d ihr Erkenntnisinteresse sich weniger auf die Funktionsweise der menschlichen Psyche u n d Kognition denn auf Entwürfe neuer Textmodelle richtet. Bei Ehrenfels rückt, mit anderen Worten, jene der Idee der gestalthaften Erkenntnis inhärente Problematik noch nicht voll in den Blick, handelt es sich doch bei der Frage nach der Abschließbarkeit des Wahrnehmungsvorgangs, der Möglichkeit seiner Stillstellung in einer verbindlichen 'Gestaltfixierung' u m ein Strukturproblem, das innerhalb des gewählten morphologischen Diskurses weder angemessen zu lösen noch ü b e r h a u p t hinreichend zu beschreiben ist u n d insofern innerhalb der gegebenen Rede- u n d Denkform in der Tat im Foucaultschen Sinne 'unsagbar' erscheint. 6 1 Foucault geht von der Überlegung aus, daß sich die anthropologischen Reflexionen des 19. u n d beginnenden 20. J a h r h u n derts im Rahmen einer 'Analytik der Endlichkeit' bewegen, welche die Grenzen ihrer Denkmodalitäten u n d potentiellen Redeformen markiert: Auf der archäologischen Ebene, die das „historische u n d allgemeine Apriori eines jeden der Wissenschaftsgebiete" aufdecke, sei der „moderne Mensch", genauer: der in „seiner körperlichen, arbeitenden u n d sprechenden Existenz bestimmbare Mensch" n u r als „Gestalt der Endlichkeit" denkbar. 6 2 Innerhalb des modernen humanwissenschaftlichen u n d erkenntnistheoretischen Diskussionshorizonts erscheint das menschliche Subjekt Foucault zufolge erstmals als hochgradig ambivalente Figur, als „eine seltsame empirisch-transzendentale

61

62

Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 68: „Die Bedingungen dafür, daß ein Diskursgegenstand in Erscheinung tritt, die historischen Bedingungen dafür, darüber 'etwas sagen' zu können... sind...zahlreich und gewichtig. Das bedeutet, daß man nicht in irgendeiner Epoche über irgendetwas sprechen kann. Es ist nicht einfach, etwas Neues zu sagen." Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971, S. 384.

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Dublette",63 die aus einer merkwürdigen Verdopplung der Beobachtungsperspektive, der Verschränkung des transzendentalphilosophischen mit einem modernen empirischen Diskurs hervorgeht. Über diese an und für sich paradoxe Konfiguration argumentativ hinauszugehen, scheint nun in der als Wahrnehmungstheorie entworfenen Gestaltpsychologie der Jahrhundertwende weder möglich noch intendiert zu sein. Der Begründer der Gestaltpsychologie akzentuiert vielmehr die synthetische Modalität der Wahrnehmung und der empirischen Erfahrung, den gewissermaßen totalen Blick des erkennenden Subjekts, indem er voraussetzt, daß diesem ein spontanes, überwiegend unbewußtes Vermögen eigen sei, die empfangenen Sinneseindrücke zu modellieren, einzelne Töne als Melodie zusammenklingen zu lassen und 'Bilder' als mehrdimensionale, räumliche Konstruktionen synoptisch zu erfassen. Das Ehrenfelssche Bewußtsein tritt, mit anderen Worten, in ein theatralisches Spektakel der unterschiedlichsten sinnlichen Wahrnehmungen ein, in ein Szenario, das dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk in seiner totalen Beanspruchung der rezeptiven Fähigkeiten des Zuschauers in nichts nachsteht. Die Ehrenfelsschen Gestaltqualitäten bilden, obwohl ihre Entdeckung durch die prägnante Art und Weise ihrer Präsentation besonderes Aufsehen erregte, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, keinen Sonderfall; sie lassen sich zum einen als Äquivalent dessen begreifen, was Husserl etwa zur gleichen Zeit in der Philosophie der Arithmetik als 'figurale Momente' des Erkennens beschrieben hat.64 Wichtiger in unserem Zusammenhang scheint jedoch die Tatsache, daß gestalttheoretische Ergebnisse in der neueren Kognitiven Linguistik und in sprachpsychologischen Untersuchungen eine produktive Aufnahme und Erweiterung erfahren haben.65 63

64

65

Ebd., S. 384. Foucault hält der anthropologischen Analytik desweiteren „eine Vermengung des Empirischen und Transzendentalen" vor, deren systematische Trennung und „Teilung Kant indessen gezeigt" habe (ebd., S. 410). Vgl. Edmund Husserl, Philosophie der Arithmetik, Den Haag 1970, S. 203ff. Vgl. Ray Jackendoff, Semantics and Cognition, Cambridge, Massachusetts, London 1983, S.23-29.

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Aufgrund der engen wechselseitigen Verschränkung zwischen psychologischem und poetologischem bzw. ästhetischem Diskurs ist die Frage nach dem historischen Ausgangspunkt der Denkfigur der Gestalt um 1900, dem genauen Ort ihrer Renaissance, nicht eindeutig zu beantworten; vielmehr ist angesichts des hohen Grads an Intertextualität und diskursiver Interferenz wohl ein reziprokes Bedingungsverhältnis der beiden Diskursformationen anzunehmen. Ehrenfels konnte bei der Wahl seiner Terminologie und der theoretischen Fundierung seiner Wahrnehmungspsychologie beispielsweise auf Elemente der bereits stärker ausdifferenzierten kunstwissenschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, die den Gestaltbegriff vor allem einsetzten, um fortgeschrittene autonomieästhetische Positionen zu begründen. Konrad Fiedler notiert in einem Essay von 1876 in diesem Sinne: „...die Kunst" habe „es nicht mit Gestalten zu tun, die sie vor ihrer Tätigkeit und unabhängig von derselben vorfindet, sondern Anfang und Ende ihrer Tätigkeit liegt in der Schaffung der Gestalten, die durch sie überhaupt erst zum Dasein gelangen." In diesem Sinne kann Fiedler folgern, es sei die Funktion der Kunst, „die Welt erst durch und für das künstlerische Bewußtsein"66 zu erzeugen. Von dieser Argumentationsbasis ausgehend, konnte Ehrenfels, ohne tiefgreifende sprachliche bzw. semantische Veränderungen vorzunehmen, zu den eigenen wahrnehmungstheoretischen Formulierungen gelangen, wobei es nur einer leichten Modifizierung der Diskurselemente bedurfte.67 Auf der anderen Seite leitet sich der gestaltpsychologische Ansatz offenbar auch aus jenen poetologischen Konzepten in der Nachfolge des französischen Symbolismus her, mit denen Ehrenfels, wie die 'Nachschrift' zu seinen Allegorischen Dramen

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Konrad Fiedler, über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst, in: ders., Schriften über Kunst, hg. Hans Eckstein, Köln 1977, S.55. Es ist ferner zu beobachten, daß sich die kunstwissenschaftliche Diskurslinie von Konrad Fiedler über Alois Riegl und Wölfflin bis hin zu ihrer Aneignung durch Carl Einstein einerseits und - in den Anfängen der Germanistik im 20. Jahrhundert - durch Oskar Walzel andererseits weiterverfolgen läßt.

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von 1895 zeigt, 68 wohl vertraut war. Die Entstehung der Gestaltpsychologie verdankt sich zu einem nicht unwesentlichen Teil dem spezifischen Fin-de-siècle-Ambiente in Wien u n d in Prag u n d dem Kontext einer radikalisierten Autonomieästhetik, wie sie in der symbolistischen u n d postsymbolistischen Literatur entwickelt wurde. So findet die Gestalttheorie ein auffallendes Pendant im französischen Symbolismus seit Mallarmé. In diesem Kontext ist die von Mallarmé favorisierte Technik einer sukzessiven Darstellung der poetischen Objekte durch suggestive Details zu nennen, mittels deren er eine zugleich präzise u n d hermetische Schreibweise entfaltete. Die erwähnte Schreibdisposition artikuliert sich pointiert in Mallarmés programmatischer Formulierung, daß die eigentümliche Jouissance du poème" auf dem gelingenden Suggestionsprozeß, „le bonheur du déviner peu à peu", beruhe. 6 9 Wir haben es also bei den symbolistischen Dichtern mit einer Literaturkonzeption zu tun, die von ihren Lesern besondere, kreative Rezeptionsleistungen erwartet. Damit setzt die symbolistische Poetik implizit jenes Vorstellungsvemögen u n d jene kognitiven Prozesse voraus, deren wahrnehmungspsychologische bzw. anthropologische Grundlage die Gestalttheorie sowie die modernen Kognitionswissenschaften allererst entdeckt u n d wissenschaftlich beschrieben haben. Die Aufgabe der literarischen Gegenstandskonstitution wird nämlich in vielfacher Hinsicht an den Rezipienten symbolistischer Texte weitergegeben, was eine aktive, am poetischen Gestaltungsprozeß selbst partizipierende Leserrolle voraussetzt. Auch Mallarmés Aufmerksamkeit auf das einzelne Wort in seiner besonderen ästhetischen Kontur, seine Vorstellung vom mot 68

69

Dort heißt es plakativ formuliert: „Symbolistische Dramen! - So dürfte es in manchem literarisch geschulten Ohr auf die Titelbezeichnung meines Buches hin widerhallen; - und in der Tat, fast wäre ich versucht worden, mit jenem Schlagwort an die Sympathien der allermodernsten Kunstrichtung zu appelieren" (Ehrenfels, Philosophische Schriften Band II: Ästhetik, hg. R. Fabian, München 1986, S.45.) Ehrenfels insistiert als Verfechter der modernen Gattungsmischung ferner auf der „inneren lyrischen Einheit des Dramas" (ebd., S. 49) und ist in seinen schriftstellerischen Versuchen von der monumentalen Zielvorstellung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks inspiriert (vgl. ebd., S.46, 50). Jules Huret, Enquête sur l'évolution littéraire, Paris 1891, S.60.

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total findet ein geaues pendant in der Ehrenfelsschen Gestaltpsychologie. Denn auch hier gilt dem sprachlichen Ausdruck in seinen unmittelbaren sinnlichen Eigenschaften eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Ehrenfels notiert: „Jedes gesprochene Wort ist seinem sinnlichen Teile nach eine eigentümliche Schallgestalt."70 Überhaupt ist den hier behandelten Theoretikern (Ehrenfels, Cassirer, Simmel) eine Bevorzugung anti-mimetischer Dichtungstraditionen gemeinsam, deren Postulate in ihre eigenen Schriften in modifizierter Form eingeflossen sind; sie stehen ferner in einer nachkantischen Ästhetiktradition, die ihre Wahrnehmungs- und Kulturtheorien nicht unwesentlich geprägt hat und diese wiederum gewissermaßen dazu prädisponiert, über die Prozesse der Rezeption und Adaptation in poetologische und fiktionale Texte umgesetzt zu werden. Die Voraussetzung eines verbreiteten literarischen und ästhetischen Interesses der Geisteswissenschaftler um 1900 begünstigte die Zirkulation von Diskurselementen unterschiedlicher Provenienz, die Versetzung ursprünglich philosophischer Konzepte in poetologische Zusammenhänge und vice versa, was im Blick auf die diskursiven Vernetzungen in einem interdisziplinären Bereich die Möglichkeit gleichsam osmotischer Austauschprozesse eröffnete, zumal die Spezialisierungstendenzen im Wissenschaftssystem noch nicht so weit fortgeschritten waren, als daß sich reale, schwerwiegende Kommunikationsbarrieren zwischen professionellen Wissenschaftlern und selbständigen, nicht institutionell gebundenen Autoren oder interessierten Laien hätten ausbilden können. Daß die wissenschaftlichen Arbeiten einiger Autoren aus dem Georgekreis zugleich große Publikumserfolge waren, dokumentiert schlaglichtartig das potentielle Gelingen einer solchen Zirkulation von signifikanten Diskursmomenten über die engeren Fachgrenzen hinweg. Bemerkenswert erscheint ferner, daß ein ursprünglich esoterisches Konzept wie dasjenige der 'Gestalt', auf dessen Herkunft bzw. Vorgeschichte oben bereits näher eingegangen wurde, somit im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte im 20.Jahrhundert 70 Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, S. 142.

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in einen empirischen, wissenschaftlich orientierten Kontext reintegriert wurde. Dies ist funktionsgeschichtlich gesehen insofern relevant, als sich der entdifferenzierte Formbegriff demnach nicht einfach in seiner Entlastungsfunktion erschöpft, sondern offenbar einen unabhängigen erkenntnistheoretischen Stellenwert besitzt, der in unterschiedlichen Kontexten produktiv werden kann. Auch im kulturwissenschaftlichen Sektor hat die Annahme wahrnehmungspsychologischer und kognitiver Entitäten eine produktive Aufnahme und Weiterentwicklung erfahren. Mit einer stärker produktionslogischen Akzentuierung haben gestalttheoretische Voraussetzungen in Ernst Cassirers Philosophie der kulturellen Symbolfunktionen, auf die in Kapitel 4.4 zurückzukommen sein wird, Eingang gefunden und von dort Impulse an die neueren, deutlicher pragmatisch ausgerichteten amerikanischen Kulturanthropologien Susanne Langers, Cliffford Geertz' und Stephen Greenblatts weitergegeben. Es gab indes noch ein weiteres vielversprechendes Anwendungsgebiet der 'Gestaltlogik das nähere Aufmerksamkeit verdient. Da der wahrnehmungspsychologische Gestaltbegriff, wie gezeigt wurde, im Grunde aus der Ästhetikdiskussion entlehnt worden war (auch wenn Ehrenfels selbst und seine Schüler dies - sollten sie es überhaupt bemerkt haben - aus plausiblen wissenschaftspolitischen Gründen nicht allzu explizit machten), ist es kaum verwunderlich, daß ihm der Rückweg aus der Wissenschaft in die Kunst offen stand. Ja, die gestalthafte Wahrnehmungspsychologie schien geradezu prädestiniert, nochmals die Seiten zu wechseln, um wieder in die moderne Ästhetik und Literaturtheorie Eingang zu finden. Anders ist die plötzliche Hochkonjunktur von Gestaltmodellen in den Textinterpretationen, Literaturkritiken und Kunstbesprechungen um 1900 kaum zu begreifen, die sich in den Arbeiten der Literaturwissenschaftler Oskar Walzel und Leo Spitzer fortsetzte, um schließlich in der werkimmanenten Interpretation der fünfziger und sechziger Jahre noch ein spätes Echo zu finden. Die kunstphilosophischen Beiträge Georg Simmeis fügen sich ebenfalls in den skizzierten Kontext ein. So verwendet der Autor im Kommentar zu Böcklins Gemälden - in genauer Entsprechung zur zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie - ein

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Prinzip der 'Raumgestalt', von dem angenommen wird, daß es der konkreten künstlerischen Ausführung, der Durchführung des gewählten Motivs und der dekorativen Bildgestaltung immer schon vorausliege. Der angenommene „logische Zwang des Raumes" geht der Konzeption und malerischen Ausführung voraus, so daß sie jegliche individuelle Darstellung und Einzelleistung des bildenden Künstlers gleichsam apriori konditioniert und bestimmt. In diesem Sinne heißt es in paradoxer Zuspitzung, aber durchaus folgerichtig, der „entschieden gegliederte Raum" würde aufgrund der gegebenen Prämisse selbst dann für sich bestehen, wenn der „ganze stoffliche, farbige Inhalt" des jeweiligen Gemäldes plötzlich „verschwände".71 Die zitierte Überlegung ist natürlich, wie sich unschwer erkennen läßt und durch Simmeis Biographie bzw. durch seine philosophischen Vorlieben erhärtet wird, auch neukantianisch modelliert, sie gewinnt ihre aktuelle Brisanz indes aus ihrer kühnen wahrnehmungstheoretischen Implikation, welche die Kantische Epistemologie in spezifischer Weise radikalisiert, um dann mit einer gewissen Konsequenz in der emphatischen Setzung einer „Gewalt der räumlichen Form über den Inhalt des Landschaftsbildes"72 zu kulminieren. Vergleichbare gestalthafte Momente begegnen auch in Simmeis George-Rezeption. Die Eigenschaften des 'Materials' werden, wie es in einer der drei George-Besprechungen von Simmel heißt, demgemäß als Widerstände im dichterischen Produktionsvorgang gewertet, die nur in der angestrebten ästhetischen Ordnung der Georgeschen Lyrik aufgehoben werden könnten. Der „Rohstoff des Gefühls" muß folglich „solange umgeschmolzen" werden, „bis er in sich der ästhetischen Formung keine Grenze mehr durch sein Fürsichsein setzt." (ZPK 32) Daher bewirkt „alle Kunst" gemessen an den Kriterien des „lebendigen Daseins ihres Gegenstands" notwendig einen Realitätsverlust und trägt einen „Zug von Resignation". (ZPK 32) Die Form bedarf zu ihrer angemessenen Profilierung des Gegenkonzepts, sei Georg Simmel, Böcklins Landschaften, in: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Berlin 1922, S.9. Im folgenden zitiert unter der Sigle ZPK. 72 Ebd., S. 9. 71

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letzteres nun als „Inhalt" oder „Medium" gedacht, aber sie darf die Unterscheidung zwischen beiden Seiten dabei nicht allzu deutlich markieren, um zu vermeiden, daß die „innere Einheit" (ZPK 31) der organisch vorgestellten Werkgenese aufs Spiel gesetzt wird. Den einzigen Ausweg, um dem Negativbild bloßer „formalistischer Vollendung" (ZPK 32) zu entgehen, bietet eine im Kern paradoxe Kunstdefinition, gemäß derer sich die mit „nichts vergleichbare Einheit" des poetischen Ausdrucks über die „Zweiheit von Form und Inhalt erhebt wie die spezifisch ästhetische Erregung über die primären Gefühle." (ZPK 32) Die paradoxe Verschränkung von ästhetischer Form und emotivem Substrat leitet ihrerseits eine bemerkenswerte Apotheose ästhetischer Einheit und Identität ein, die den privilegierten Status der ganzheitlichen Formkategorie in Georges Poetik anzeigt und zugleich konsolidiert. Es zeigt sich, daß die Auffassung der ästhetischen Werke als Gestalten dahin tendiert, sich mit ontologischen Modellen unauflöslich zu verschränken, und in dieser Kombination geeignet ist, eine wirkungsmächtige Forschungsrichtung zu lancieren und eine überaus erfolgreiche (wenn auch problematische) Auslegungstradition zu begründen. Die Wirkungsgeschichte der Gestaltpsychologie in der ästhetischen Theorie des 20. Jahrhunderts verwundert insofern kaum, als in jener Wahrnehmungstheorie, wie gezeigt wurde, im Keim bereits eine besondere, rezeptions- und produktionsästhetisch orientierte Poetik angelegt war, als deren wissenschaftliche Grundlage und Legitimationsbasis sie gelesen werden kann.

4.3 Zwischen Temporalisierung und Einheit der Erfahrung: Zur deutschen Bergsonrezeption um 1900

„ 'Matière et mémoire' bestimmt das Wesen der Erfahrung in der durée derart, daß der Leser sich sagen muß: einzig der Dichter wird das ad-

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äquate Subjekt einer solchen Erfahrung sein... Man kann Prousts Werk 'A la recherche du temps perdu' als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen.,