Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen 3484220503

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Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen
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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner

50

Eske; Bockeimann

Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bockelmann, Eske: Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen / Eske Bockelmann. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 50) NE: GT ISBN 3-484-22050-3

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­ wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Einband: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten

Inhalt

P r o lo g ............................................................................. I

...........................................

10

II

1624 ..................................................................................

21

III

Zur P r o s o d ie .................................................................

32

IV

Der Status von Alternation Sprache und S c h e m a ......................................................

41

Der Status von Alternation Über Sprache h in a u s ......................................................

49

VI

Totalität und I r r t u m ......................................................

57

VII

Aus der Geschichte des M u ste rs...................................

70

VIII

Verssprache und Prosasprache.......................................

86

E p i lo g .............................................................................

92

V

Das Konstitutionsproblem

1



Prolog

Eine Theorie als endlich gültige einzuführen, heißt voraussetzen, daß die bestehenden es nicht sind und die vergangenen es nicht waren. Dem allgemeinen Verständnis mag solche Vorstellung widersprechen, da ihm Metrik, die das Messen so hörbar bereits im Namen trägt, als eines der exakten Verfahren in der Literaturwissenschaft gelten muß, dazu bestimmt und befähigt, mit sicheren Hilfsmitteln einen jeden ge­ gebenen Vers in ein Schema mathematisch klarer Symbole zu verwan­ deln - wenn Metrik nicht gar umstandslos ihren Symbolen direkt gleichgesetzt wird. Und für so klar und geschlossen wird sie als Verfah­ ren erachtet, wenn man denn nur erst einmal über es verfügte, daß mit der Verwandlung ins Schema es metrisch auch bereits sein Bewenden hätte, daß damit bereits die Form eines Gedichts erkannt wäre. Schon die magere Funktion der Schematisierung aber, für die allein ihr sicher ein Großteil des Widerwillens und der verächtlichen Indifferenz gilt, worunter sie und alle Befassung mit Versen zu leiden hat, schon diese magere Funktion erfüllt Metrik nicht wirklich. Gerade auf ihrem ver­ mutet eigensten Gebiet, der technischen Einsicht, ist sie unzulänglich und des Messens nicht mächtig, und die enger mit ihr Befaßten sind sich wohl bewußt, daß eine triftige grundlegende Theorie noch immer fehlt und wieviel in ihr bisher beliebig zusammengebastelt wird.’ Mag Metrik auch meistenteils, jedenfalls bei den neueren Versen, dazu ge­ langen, in einem Versschema den Aufbau, das abstrakt Wiederkehren­ de der Verse zureichend zu notieren, so vermag sie doch bereits nicht mehr zu erklären, was die Grundlage ihrer Notationen ist; es fehlt ihr von Anbeginn, was erst Voraussetzung wäre für das genauere Aushören eines Verses, für die auch in technischen Kategorien zu bestimmende Wahrnehmung des sprachlich Besonderen eines jeden einzelnen; es fehlt ihr noch immer die konstituierende Einsicht: was Verse über­ haupt zu Versen macht. Und damit fehlt ihr das Maß, um recht zu messen; denn es wird stets erst an dem zu gewinnen sein, worin Spra­ che zur Verssprache wird. Eine kleine Zusammenstellung von Zitaten, die dieses Wissen belegen, bei Christoph Küper: Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses. Tübingen 1988, S. 1 f.

2

Prolog

Weil in den deutschen Versen eben dies aber noch nicht erkannt ist, was doch so unschwer zu erkennen scheint, teilen sich heute mehrere beliebig nebeneinanderstehende Theorien in das Gebiet der Metrik. Gerade der Mangel, daß sie jene erste und einfachste Frage nicht al­ lenfalls beantworten können, verleiht ihnen den Nimbus des Exklusi­ ven: weil der Metriker, der nicht angibt und herleitet, woher er weiß, was er angibt zu wissen, zum Eingeweihten wird; und Metrik darin zum Dogma und Numinosen. Der Metriker erteilt Bescheid darüber, was das Wesen des Verses sei, und man hat es zu glauben. Das Beliebige und Gesetzte des Bescheids aber macht diesen indifferent gegenüber einem jeden anderen, der ihm widerspricht, und so kommt es zu der gängigen Auskunft derer, die Literatur lehren, für die Analyse von Ver­ sen solle man sich getrost derjenigen metrischen Lehre bedienen, mit der man am einfachsten durchkomme; sie tun es nicht anders. Sie legen die offen ungenügende Frage nahe und gehen selbst mit ihr um, nur ob es möglich, nicht ob es richtig, der Sache angemessen ist, etwa Freie Rhythmen nach Heusler zu notieren. Aber ihre Empfehlung hat Recht so lange, als die bestehenden Theorien im Innersten vage und dogma­ tisch bleiben zugleich: beliebig in beidem, da ihnen das Entscheidende an ihrem Gegenstand, das, was ihm zugrundeliegt, verborgen geblieben ist und da sie deshalb selber der Fundierung entbehren; sie dogmatisch vorgeben oder, daß sie fehlt, überspielen. Auch unter denen, die we­ nigstens von Berufs wegen über den Bau von Versen einiges wissen müßten, da sie sich an deren Interpretation machen, ist aber die Kennt­ nis auch nur der bestehenden Lehren notorisch wenig verbreitet, und sicher ist das Lavieren, Schwanken und Danebentappen in den metri­ schen Termini, das noch jede Studie zu Werken in Versform be­ einträchtigt und schwächt, nur zu einem Teil dem anzulasten, daß die Lehren untereinander bereits in der Terminologie gerade so schwan­ kend sind, wie in ihrer Grundlage mangelhaft. Die jedoch selbst über jene Kenntnis verfügen, haben sich zwangsläufig mit einer jener Leh­ ren zu bescheiden in dem Bewußtsein, daß ihr zwar nicht rechter Grund gelegt ist, aber doch auch keine, bei der es wäre, zur Verfügung steht. Allgemein nützen die Interpreten dies, was sie in Not bringen müßte, um die schlecht überlegene Warte einzunehmen, sie würden nicht mit der Theorie, sondern mit der Ästhetik von Versen umgehen; als wäre diese anders als in Begriffen zu entwickeln, die theoretisch, was die Verse ausmacht, fassen und erschließen. Solche unkräftige, aus­ weichende Ästhetik handelt das Metrische rasch und möglichst als Be­ reich für sich ab und begibt sich danach erleichtert ans Deuten, ans Inhaltliche. Die pflichtgemäß gebotenen metrischen Bestimmungen bleiben karg, terminologisch unsicher, und sind beiseite geschoben un­ ter dem impliziten Vorgeben, daß sich aus ihnen nichts weiter für die

Schwierigkeit in der Sache

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Interpretation ergebe. Vor dem, was Metrik bisher zu bestimmen nur in der Lage ist, hat dieser Gestus sogar noch sein billiges Recht. Es ist eine eigentümliche Schwierigkeit in der Sache selbst, die diesen deplorablen Zustand bedingt hat und, unerkannt, einen solchen weiter bedingen würde. Solange er währt, bleiben der metrischen Analyse nur jene zwei Möglichkeiten: Entweder hat die Erkenntnis dessen, was ei­ nen Vers ausmacht, an den engen Grenzen haltzumachen, die mit der Notation des Versschemas erreicht sind; das verlangt zunächst nur eine gewisse Geschicklichkeit und ergibt aber keinen Aufschluß darüber, was Verse über die bloße Erfüllung ihres Schemas hinaus befähigt, in ihren klanglichen oder, um es anders zu nennen, in ihren technischen Möglichkeiten dem unterschiedlichsten Gehalt sich anzumessen, ja diesen Gehalt erst zu entfalten - er selbst bleibt unerkannt, wenn un­ erkannt bleibt oder verkannt wird, was in den Versen klanglich wirkt. Oder aber die Erkenntnis an den Versen, wenn es ihr um diesen Gehalt genauer zu tun ist, verliert sich in unsicherem Gelände, in das nur dogmatisch die festen Orientierungspunkte gesetzt sind. Wie tief das reicht, was noch immer der Klärung bedarf, jene entscheidende Schwierigkeit, darauf weist am augenfälligsten die Tatsache, daß bis heute alle Versuche, eine Prosodie der deutschen Sprache zu bestim­ men, erfolglos blieben. Bedeutende Dichter auch haben sich an diesen Versuch gemacht; zwar konnten sie Verse dichten, aber die Bestim­ mung der prosodischen Eigenart ihres Materials, mit dem sie dabei umgingen, eine Bestimmung, die etwa in den antiken Sprachen so klar und umfassend zu treffen ist, sie ist ihnen im Deutschen nicht gelun­ gen. Sie wäre ihnen aber unweigerlich gelungen, wenn sie sich rein prosodisch, bloß innerhalb des sprachlichen Materials halten ließe so, wie es der Begriff von Prosodie zwingend zu erfordern scheint. Das Rätsel der deutschen Prosodie löst sich aber selbst nur im engsten Zu­ sammenhang mit dem - einem minder augenfälligen - des deutschen Versbaus. Denn so, wie Prosodie und Versbau strikt aufeinander be­ zogen sind, so ist gerade, was die grundlegende Schwierigkeit der Pros­ odie formt, dasjenige auch, was jene andere Frage bis heute nur hilfs­ weise Antworten finden ließ, nämlich, was im Deutschen Verse als sol­ che bestimmt und wahrnehmbar macht. Erst dann wird Metrik klar benennen können, wie sie zu ihren Schemata gelangt; erst dann auch wird sie weiter kommen als zur Feststellung des Versschemas und die Versform als sedimentierten Inhalt erschließen können: wenn sie jene Rätsel löst. Ich werde es hier beginnen. Inzwischen aber wird eine gültige Theorie selber das paradoxale Phäno­ men zu erklären haben, wie bis heute es an dieser Theorie fehlen konn­ te und dennoch Metrik und nicht ganz ohne Sinn zu betreiben war;

4

Prolog

und des weiteren jenes vor allem, weshalb während Jahrhunderten Dichter haben Verse dichten können und also, da Verse der Metrik den Gegenstand vorgeben auch dann, wenn diese ihnen die Vorschriften macht, metrisch richtige Verse gedichtet haben, ohne daß geklärt sein mußte, wie Verse überhaupt möglich sind und was sie fundiert. Dies, was Verse zu Versen macht, es muß also wirksam sein, auch ohne daß seine Wirksamkeit sich der theoretischen Bestimmung erschließt; je­ dem Dichter und Leser geläufig und doch von der Metrik unerkannt und dem Erkanntwerden sich wie selbsttätig entziehend. Dies wird Theorie zu erklären und sie wird zu verstehen haben, was in der Ei­ genart ihres Gegenstandes jene verdeckende Wirkung zeitigt, unter der eben diese Eigenart den Metrikern nie vollends sich klärte und unter welcher die Metriker den Gegenstand stets auch von sich aus verdun­ kelten. Doch wie sehr auch der Gegenstand selbst sich der Erhellung ver­ weigert, er ist dennoch, wie ich zeigen werde, der Reflexion keineswegs vollkommen entzogen. Die Misere der Metrik muß deshalb auch als das Merkmal einer Geisteswissenschaft genommen werden, die aus der richtigen Überzeugung, nicht zu den exakten Wissenschaften zu rech­ nen, den falschen Schluß zieht, sie habe ihren Geist dadurch zu be­ weisen, daß sie es nicht so genau nimmt. Die Not mit der Metrik zer­ fällt deutlich in die zwei Abteilungen der Germanistik, die neuere und die ältere. Die ältere, fest entschlossen, solange nur irgend möglich durch keine neuere Einsicht sich von ihrer Auffassung der älteren Ver­ se abbringen zu lassen, geht dort von Verhältnissen aus, wie sie erst in den neueren Versen gültig wurden; die neuere, fest entschlossen, die älteren Theorien durch neue zu reformieren, bleibt stets beirrt von Ver­ hältnissen, wie sie nur in den älteren Versen galten. Objektiv zieht sich die Grenzscheide zwischen beiden Abteilungen durch das Jahr 1624, markiert von Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey, in dem die später so genannte Alternation ratifiziert ist. Allerdings verliert die ältere Abteilung, die allgemein auf jene und auf eine Dichtung nach Akzenten schwört, allmählich an Terrain. Es ist nicht sehr lange her, daß sie einsehen mußte, der Knittelvers, von dem ihr Dogma wie schier von allen Versen Alternation verlangte, sei in seiner freien Spielart durch nichts als den Reim, in seiner strengen außerdem nur durch die Zahl der Silben gebunden gewesen, Silben also, die nicht etwa nach schwer und leicht unterschieden waren und folglich darin gar nicht erst alternieren konnten. Auch der Renaissancevers ist dem Alternations­ dogma entwunden worden und als rein Silbenzählend festgestellt. Dar­ über beruhigt sich die ältere Abteilung, das Silbenzählen sei bloß vor­ übergehender fremder, welscher Einfluß gewesen, während das eigent­ lich und echt Germanische im Vers Ordnung der Akzente verlange.

Drei Verskonstituentien

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Immerhin müssen dennoch diese Verluste am Alternationsdogma auf die ältere Abteilung traumatische Wirkung gehabt haben, da ihre Pro­ fessoren nunmehr, daß in mittel- und althochdeutschen Versen alter­ niert worden sei, allen Ernstes nur noch damit bereits für schlagend bewiesen erachten, daß diese nicht silbenzählend sind. Und daß sie dies nicht etwa an dem dafür einzig möglichen Kriterium erkennen, daß nämlich dort die Zahl der Silben eben nicht fest reguliert ist, sondern beispielsweise daran, daß in einer Handschrift von Otfrids Evangelien­ buch Akzente - wenn schon auch leider nicht die vom Dogma er­ forderten vier pro Vers - notiert sind: Lesehilfen, die noch von keiner mittelalterlichen Prosa-Schrift, wo sie ebenfalls verwendet sind, bewie­ sen haben, sie sei nach Akzenten gedichtet. Durch das Prinzip des Sil­ benzählens sieht sich die ältere Abteilung aus einem Zustand der Un­ schuld gestoßen, und wenn es nun schon nicht mehr rein und aus­ schließlich Alternations- und Akzentdichtung sein darf, so hält sie doch jedenfalls bei einer reinen Dichotomie: entweder silbenzählend oder tertium non datur - alternierend. Aber Verse können mehr. Diese grundlegende Einsicht, so geringfügig sie erscheint, so gering ist ihre allgemeine Verbreitung, und so notwendig ist es, sich zuallererst ihrer kurz zu versichern. Sie bereits liegt notwendig auf dem Weg zu einer gültigen Theorie und ist mit dem, was diese aufzudecken hat, latent verwoben. Christian Wagenknecht hat, am klarsten bisher, drei grundsätzliche Phänomene unterschieden, durch die Verse konstituiert sein könnten2: den Reim; die geregelte Anzahl der Silben pro Vers; die geregelte Anordnung der Silben im Vers abhängig von einer bestimm­ ten Größe, nach der sie unterschieden werden. Dort zählen die Silben jeweils zu einer von zwei Klassen: lang oder kurz, schwer oder leicht. Jedes dieser drei Phänomene kann für sich genommen Verse konsti­ tuieren, das heißt zunächst: dasjenige sein, was in allen Versen einer bestimmten Versart als Gleiches und für diese Versart Spezifisches wie­ derkehrt. Verse etwa, die nur der Reim bestimmt, sind in ihrer Silben­ zahl frei und unterscheiden die Silben nicht nach ihrer Größe und ordnen sie folglich auch nicht nach dieser in einer bestimmten Weise an; Beispiel für einen solchen nur durch den Reim bestimmten Vers ist der freie Knittel. Die von Wagenknecht aufgeführten drei Phänomene benötigen keines für sich die anderen, um Verse zu konstituieren, kön­ nen sich aber jedes mit jedem der anderen in einer Versart verbinden. Geläufig sind uns vor allem die nach Größen geordneten Verse, und an solche denkt man wohl zunächst, wenn von Versen die Rede ist; nach Größen geordnete, die außerdem noch gereimt und in der Regel auch 2Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. 2., durchges. Aufl. - München 1989, Kapitel 1.4, S. 26-30.

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Prolog

in der Anzahl der Silben oder der Hebungen festgelegt sind. Sie werden zentral werden auch für die hier neu zu entwickelnde Theorie. Den­ noch bleibt entscheidend festzuhalten, daß Verse keineswegs grund­ sätzlich nach Größen geordnet sein müssen, um Verse zu sein. Es ist in Wagenknechts Aufstellung aber noch immer das Spektrum dessen, was als wiederkehrende lautliche Struktur Verse konstituieren kann, zu eng gefaßt. Bei aller heilsamen Behinderung des Trugschlus­ ses, die sich aus ihr ergibt, nämlich, so wie sich die heute geläufigen Versarten aufbauen, müßten es auch die älteren getan haben oder grundsätzlich alle Verse tun, schließt doch auch die Festlegung auf Reim, Silbenzahl und Ordnung nach Größen weitere Phänomene aus, die sonst noch lautlich wiederkehren und somit die Einheit des Wie­ derkehrenden im Vers bilden könnten; nach denen sich Verse als sol­ che bestimmt haben. Vom Saturnier, dem einzigen genuinen, nicht von den Griechen übernommenen lateinischen Vers, ist bekannt, daß er nicht reimt und nicht in seiner Silbenzahl festgelegt und doch auch nicht wie die späteren lateinischen Verse nach Größen, also nach lan­ gen und kurzen Elementen geordnet ist; daß er also keines von Wagen­ knechts verskonstituierenden Merkmalen aufweist. Und doch ist er Vers. Von den Psalmen des Alten Testaments gesteht es Wagenknecht ein, daß sie nach seiner Aufstellung nicht erklärt werden können, meint aber, deren parallelismus membrorum lasse sich vielleicht »schon mit Begriffen der Rhetorik beschreiben und erklären« und falle »inso­ fern aus dem Bereich der Metrik heraus.«3 Jedenfalls aus dem vorher zu eng abgesteckten. Die Zuweisung an eine andere Sparte der Wissen­ schaft, um der eigenen die Probleme zu ersparen, ist, wenn auch eine geläufige Übung, so doch stets die schlechteste Auskunft, wenn die Theorie nicht zureicht. Immerhin mögen solche Versmöglichkeiten, die jenseits der von Wagenknecht aufgezählten liegen, tatsächlich für deutsche Verse vor­ erst nicht zu erwägen sein, da diese, jedenfalls soweit sie in die neuere Abteilung fallen, sie nicht genutzt zu haben scheinen. Das bedeutend­ ste Phänomen ist in ihnen ohne Zweifel die Ordnung der Silben nach Größen. Aber gerade sie ist es, vor der die bestehenden Theorien un­ zulänglich blieben. Wird diese Ordnung nämlich einheitlich als eine solche für sich genommen, nämlich als der gleiche Typus von Ordnung unabhängig von der Eigenart der Größe, nach der geordnet wird - also unabhängig davon genommen, ob Silben nach ihrer Länge oder ob sie nach Akzent unterschieden und angeordnet werden -, so sperrt sie sich gegen den entscheidenden Aufschluß, mag sie auch noch so geläufig in Versen anzuwenden und wahrzunehmen sein. Die allgemeine Vorstel3Wagenknecht, S. 18.

Verschiebung

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lung geht davon aus, daß in deutschen Versen die Einteilung, die in den antiken Sprachen nach langen und kurzen Silben vorgenommen wird, ganz oder jedenfalls mehr oder weniger entsprechend durch die nach schwer und leicht einfach ersetzt sei. Solche Entsprechung aber besteht nicht und kann vom Anbeginn einer Dichtung nach den beiden unter­ schiedlichen Größenordnungen nicht bestanden haben. Die Ordnung nach den Größen lang/kurz gehorcht grundsätzlich anderen Gesetzen als die nach schwer/leicht; das werde ich aufweisen. Und derselbe Gra­ ben, der diese beiden Ordnungen voneinander trennt, ist es, der noch immer die Verstheorie, die ihn nicht reflektiert, von dem Eigentüm­ lichsten der deutschen Verse trennt. Ihn zu überspannen, bedarf es der Theorie, die seines Trennenden inne wird. Sie wird das Spezifische die­ ses einen verskonstituierenden Phänomens, der Ordnung nach schwer und leicht, zu bestimmen haben und aber daran auch das der übrigen, der von ihm unabhängigen historisch erhellen; denn obgleich diese unabhängig von jenem sind, haften sie an ihm, verdunkelt von ihm, das sich selbst verdeckt. Und die endlich gültige Theorie von den deut­ schen Versen haftet so an einem Phänomen insgesamt, das und obwohl es offenkundig nicht in den deutschen Versen insgesamt wirksam ist. Ich werde diese Theorie hier propädeutisch geben. Ihre umfassende Formulierung wird einmal nicht weniger verlangen, als die deutsche Versgeschichte im ganzen neu zu schreiben. Sehr vieles zwar wird von dem, was dort bisher dokumentiert und festgehalten ist, beizubehalten sein. Aber kaum etwas davon wird nicht neu erklärt werden müssen und nicht in seiner Bedeutung sich zum Teil grundlegend ändern, da seine Grundlage sich wird verändert haben. Auf ihr auch wird es mög­ lich sein, jene materiale Geschichte der deutschen Sprache zu ent­ wickeln, die mit Recht unter den Begriff ihrer Prosodie zu nehmen wäre. Kaum eines der Momente auch, die ich in dieser Theorie zusam­ menordne, das nicht für sich bereits bekannt und benannt wäre; aber kaum eines davon auch recht erkannt. Ein einziges werde ich gegen­ über der geläufigen Auffassung und nur um ein Geringes verschieben müssen; und doch verändern Funktion und Bedeutung für den Vers, die dieses Moment dadurch neu erhält, auch die jedes anderen in sich selbst. Dennoch habe ich vielleicht eher zu fürchten, daß meiner Theo­ rie das grundlegend Neue wird abgestritten werden, als daß sie als eine neue, die die alten beiseite schiebt, auf den dagegen üblichen Wider­ stand stößt. Daß ich ihre Grundlage aus einem so alten und altbekann­ ten Dokument wie den berühmten Sätzen im Buch von der Deutschen Poeterey des Martin Opitz herleiten kann, wird ebenfalls das Neue der Theorie nicht eben vorweg glaubhafter machen, da diese Sätze seit nun­ mehr über dreieinhalb Jahrhunderten vorliegen und zur Kenntnis ge­ nommen und durchdacht worden sind, und trotzdem aber, wie ich be-

8

Prolog

haupten muß, nicht den entscheidenden Aufschluß sollen gefunden haben. Ich nehme die Herleitung aus der Poeterey nicht als Möglich­ keit um solcher Provokation willen wahr, sondern als eine zwingende, weil Verstheorie, die vor den wechselnden Phänomenen in Versbau und Prosodie nicht ins Dogma flüchtet, einen historischen Kern hat auch in diesem Sinn muß sie eine endlich gültige heißen und weil Opitz’ Sätze den Punkt eines historischen Umschlags fest bezeichnen, in dem die gleichsam verspiegelte, sich selbst verdunkelnde Eigenart der Ordnung nach der Größe Akzent sich verfestigt, eines Umschlags, durch den die neueren von den älteren Versen sich strikt abtrennen und der nicht allein die späteren Verse, sondern zugleich die Theorie der Verse, die vor ihm liegen, zuinnerst ausprägt. Der Aufschluß, den ich hier gebe, betrifft zunächst also lediglich Verse aus der Zeit, in der die Alternation in Wirkung ist. Und doch sind von dort grundlegende Rückschlüsse auf die dadurch ausgegrenzte Zeit nicht allein möglich, sondern, wie zu zeigen sein wird, unumgänglich. Insofern also betrifft die hier vorgestellte Theorie, wenn auch unterschiedlich direkt, den gesamten Bereich deutscher Verse, und wohl nicht allein der deutschen. Die Verrückung, mit der sie einsetzt, ist gering, und dennoch sind die Fehler, ist das falsch oder nur halbrichtig Gesagte, das durch sie in den bestehenden Metrikbüchern sichtbar wird und in den Interpretationen, die sich metrischer Beobachtung bedienen, Legion. Ich kann nicht da­ mit beginnen, es umfassend zurechtzurücken, zu widerlegen und ab­ zuweisen; und einzelne Metriker zu zitieren, hieße zahllose andere, die es genauso schrieben, übergehen. Nur auf zwei Bücher werde ich mich gelegentlich beziehen: Christoph Küpers Studie mit dem vorbildlichen Titel Sprache und Metrum, eine neueste Bestandsaufnahme metrischer Theorie, in der entscheidende konstitutive Probleme der Verse behan­ delt sind, wenn auch in keinem Fall gelöst;4 und daneben den weitaus besten Abriß der deutschen Versgeschichte, Christian Wagenknechts Deutsche Metrik, die einige alte für unverzichtbar gehaltene Stütz­ mauern des Metrikgebäudes eingerissen und ein erstes Mal wieder für freiere Sicht und freiere Luft gesorgt hat.5 Um zu jenem Zentrum der Verstheorie zu gelangen, das seit Jahrhunderten seiner Entdeckung harrt, werde ich einen etwas verschlungenen Pfad verfolgen müssen, der gleichwohl als kürzester durch das zu durchmessende Labyrinth führt. Weder die kritische Stellung, die ich allenthalben gegen beste­ hende falsche, so sehr naheliegende und so tief eingeschliffene Erklä­ rungen der Sache einnehmen muß, noch auch vor allem die Historizität der Sache lassen es zu, sie ruhig systematisch abzuhandeln. Im Histo4 Vgl. Anm. 1. 5 Vgl. Anm. 2.

Verlauf der Propädeutik

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rischen werde ich die systematischen Bestimmungen aufzusuchen ha­ ben und im Systematischen die historischen Entwicklungen, die in ihm angelegt sind. Ins Zentrum selbst wird die Darstellung recht rasch Vor­ dringen; um aber sein Gebiet recht zu erschließen, bedarf sie weiterer Strecken, und manches von dem, was ich berühren muß, um das ein­ mal Erkannte genauer zu erschließen und vor neuen Irrtümern zu schützen, wird vielleicht an Ort und Stelle nicht sofort als notwendig zu erkennen sein. Zum Schluß dieser Propädeutik jedoch, so meine Hoff­ nung, wird ohne Tritt nebenaus der Kreis dessen, woraus eine deutsche Versgeschichte und Verstheorie gültig neu zu entwickeln sein wird, ganz ausgeschritten sein.

I

Das K onstitutionsproblem

Zu beginnen ist mit dem Aufriß des Konstitutionsproblems in der Vers­ lehre, dem Problem der Verbindung von Konstituens und Konstitutum, einem eigentlich erkenntnistheoretischen Problem. Wie weit es aber auch die Philosophie bereits durchdacht haben und wie weit Phi­ losophie in seiner begrifflichen Entfaltung auch gediehen sein mag, die Literaturwissenschaft hält mit ihrer Behandlung desselben auf einem noch weit vorkritischen Stand, den es knapp zu dokumentieren gilt. Es ist in den Versen genauer das Problem der Verbindung der Sprache mit dem, was metrisch sie bestimmt. Und zwar vorab hier historisch einge­ schränkt auf die neueren, die nach-Opitzschen deutschen Verse: die nach Akzenten gedichteten. Wer immer sich genauer mit Versen beschäftigt, kennt dies grund­ legende Problem als die Schwierigkeit, Verse auf das Schema zu brin­ gen, nach dem sie gebaut sein sollen. Damit sind sogleich zwei Ebenen berührt, mit denen die metrische Theorie zu arbeiten und die sie genau zu unterscheiden hat: Sprache und Metrum. Verse sind nicht anders als durch die Sprache - Sätze, Wörter, Silben -, die in ihnen gesetzt und gedichtet ist: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel6 Aber diese Sprache muß gebunden sein - das unterscheidet sie von der Sprache in Prosa - durch eine Regularität, die bestimmte lautliche Ein­ heiten wiederzukehren bestimmt. Diese notiert das metrische Schema; in diesem Fall:

Zu diesen beiden Bereichen, unabdingbarer Grundlage einer jeden Metrik, tritt noch ein dritter, dessen Zuordnung zu jenen zunächst denkbar einfach erscheint, aber dennoch bislang unüberwundene Pro­ bleme aufwirft: das laute Sprechen von Versen. Küper etwa bringt »[d]as abstrakte metrische Schema«, »fdlie sprachliche Realisierung des metri-

Prosodie und Versifikation

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sehen Schemas durch die (einzelsprachliche) Verszeile« zusammen mit der »Rezitation des Verses« in ein »dreistufiges Modell metrischer Ab­ straktion«,8 worin die drei Stufen in einer als generativ vorzustellenden Hierarchie zueinander stehen: Das Schema oder Metrum steht über den - virtuell unendlich vielen - sprachlich ausgeführten, also in aller Regel schriftlich festgehaltenen Versen, die das Schema realisieren; und diese sprachlich ausgeführten Verse stehen über den - wieder ih­ rerseits virtuell unendlich vielen - unterschiedlichen Möglichkeiten, jeden einzelnen notierten Vers laut zu sprechen. Sprache ist damit un­ terschieden in zwei Ebenen der Lautlichkeit: die Ebene jener Lautstruktur, die als periodisch wiederkehrende die Eigenart des Verses ausmacht, einschließend dasjenige, was die einmal festgehaltenen Wör­ ter im Vers an Lauten vorgeben; und die Ebene all des Lautlichen, was über solche Realisation des in der ersten Ebene Vorgegebenen hinaus und gegen dieses also indifferent noch außerdem im lauten Ausspre­ chen der Sprache variiert werden kann. Das metrische Schema ist notwendig zu denken als Abstraktion so­ wie als Bildungsgesetz des gedichteten Verses: Es hält von ihm jene Bestimmungen fest, die ihn als Vers ausmachen, und ist somit zugleich die Regel, nach der ihm entsprechende weitere Verse zu bauen sind. Die Verbindung zwischen Abstraktionsebene und der Ebene des in die­ sem Sinn konkreten Verses, des sprachlichen Gebildes, gilt dann nach allgemeinem Konsens auf die Weise geleistet, daß die Sprache oder das sprachliche Material bestimmte lautliche Merkmale trage, auf welche beziehungsweise auf deren Träger, in aller Regel also die Silben - das Schema verweise und deren Anordnung es bestimme beziehungsweise wiedergebe. Alle anderen lautlichen Merkmale der Sprache außer je­ nen für das Metrum relevanten gehen in die Abstraktion nicht ein und werden vom Schema frei oder außer acht gelassen. Nach dem geläufi­ gen Modell nun wäre ein Vers bereits vollständig als solcher bestimmt zum einen durch das sprachliche Material, das er verwendet und das jene relevanten lautlichen, im metrischen Sinn prosodischen Merk­ male trägt; und zum anderen durch das Schema, das festhält, wie und insbesondere wo im Vers das so bestimmte Material - und eben in Abhängigkeit davon, wie die lautlich relevanten Merkmale dies Mate­ rial bestimmen - zu setzen ist. Wagenknecht unterscheidet beide Seiten als die von Prosodie und Versifikation: Prosodie: Inbegriff derjenigen Regeln einer Metrik, die das Material des Versbaus (»linguistic constituents«) betreffen. Zur Prosodie gehört insbe­ sondere die Unterscheidung zwischen »schweren« und »leichten« Silben. Demgegenüber bildet die Versifikation den Inbegriff derjenigen Regeln einer So die Überschriften zu seinen Kapiteln 4.2.1, 4.2.2, 4.4 und 4.2.

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Das Konstitutionsproblem Metrik, die sich auf die Anordnung des prosodisch bestimmten Materials im Gedicht beziehen.9*

Auf der Ebene der Versifikation repräsentieren demnach in dem oben zitierten Beispiel die Elemente - und ~ Silben, die auf der Ebene der Prosodie die Merkmale schwer beziehungsweise leicht tragen, so daß die Prosodie festzulegen hätte, die Silben »-aus« »eu-« »Scha-« »re-« »Wi-« seien der Klasse - und die Silben »Her-« »in« »-re« »-tten« »-ge« »-pfel« seien der Klasse - zuzuordnen. Der Scheidung nach Prosodie und Versifikation oder anders der nach Sprache und Metrum entspricht nun weiter eine, wie sie sich tref­ fen läßt auch innerhalb der Arten, Verse laut zu sprechen - neuere deutsche und ebenso etwa englische Verse. Bekannt ist sie im heutigen Deutsch als das Phänomen, daß man Verse in freier, der Sprache an­ gemessener Rezitation so sprechen kann, daß das Versmaß kaum oder überhaupt nicht hörbar wird, so daß also die Verse in ihrer Eigenschaft, Verse zu sein, gar nicht zu erkennen sind; aber daß man sie auch skan­ dierend sprechen kann, wobei man einzelne Silben dem Versmaß ent­ sprechend besonders betont, damit vor allem eben auf diese Weise, auch für den Sprechenden selbst, der Vers als solcher deutlich hörbar werde. Wagenknecht hat für das letztere den Terminus Skansion fest­ gelegt und den Terminus Rezitation auf das erstere Verfahren eingeengt; Küper hat am klarsten gefaßt, wie beides mit den Ebenen des metrischen Modells Zusammenhängen soll: Wir haben gesehen, daß zwischen metrischem Schema und seiner sprach­ lichen Realisierung eine gewisse >Spannung< vorhanden sein kann, und die Rezitation kann sich sozusagen auf die eine oder die andere Seite schlagen oder einen Kompromiß zwischen beiden darstellen. D. h., wir müssen davon ausgehen, daß eine Rezitation immer zwischen zwei extremen Möglichkeiten angesiedelt sein kann: Entweder sie folgt voll und ganz dem »natürlichen SprachrhythmusSpannungNormalverse< zu den unverkennbar höchst ge­ stalteten Versen gehören ohne alle Eintönigkeit, und daß gerade auch widerstands- und spannungslos dahinlaufende Verse das Schema nicht im Sinne jenes Normalfalls erfüllen. Den Komplexitätsgrad 0 soll auf­ weisen und also den eintönigen Normalfall darstellen etwa der folgende Vers aus Goethes Elegie'. Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend Den Komplexitätsgrad 2 dagegen etwa der Vers Brechts Und sie gebar, so sagt sie, einen Sohn15 Vor einer Theorie allerdings, die, was an Versen über ihr blankes Sche­ ma hinaus wahrzunehmen ist, auszurechnen gedenkt oder grundsätz­ lich erst gar nicht bedenkt, werden solche Hinweise auf den Klang, so 14 Küper, S. 149. 15 Nach Küper, S. 179 f.

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Das Konstitutionsproblem

sehr er auch das eigentliche Gebiet der Metrik ist, kaum argumentative Kraft haben. Gleichwohl ist zu zeigen, daß die gängige Theorie des zwei-Ebenen-Modells objektiv deswegen dazu gedrängt wird, solchen Normalfall anzusetzen und mit ihm umzugehen, weil sich allein durch ihn mit dem Mangel, den sie trägt, notdürftig und allerdings nur scheinbar zu Rande kommen läßt. Die spezifische Ungenauigkeit, die in dem Modell zwischen Metrum und Sprache nistet, dürfte, wenn es sich selbst streng nähme, nicht bestehen; sie hat in ihm keinen Ort. Deshalb tragen die Formulierungen, mit denen die Theorie ihre Un­ genauigkeit eingesteht und einführen muß, stets zurücknehmenden Charakter: daß es eben so genau nicht zu nehmen sei. Mit dem Begriff der Spannung widerruft sich, ohne es zu reflektieren, die gängige Theo­ rie und glaubt doch gerade in ihm das Mittel gefunden zu haben, die bloß mathematische Abstraktion, in der sie sich sonst erschöpft, zu übersteigen. Das kann ihr nicht gelingen. Sie fußt auf dem Regelbegriff, und zwar in dem spezifischen Sinne einer operationalen Abbildung der Verse, in dem Sinne also, daß Regeln die von ihnen als in Operationen hervor­ gebracht gedachte sprachliche Einheit Vers umfassend bestimmen. Wenn sich nun aber zwischen den Regeln, also dem so gedachten Sche­ ma, und den sprachlich ausgeführten Versen üblicherweise eine Dif­ ferenz gerade in dem ergibt, was nach dem ausschließlichen Sinn der Regeln übereinstimmen müßte, so beweist dies den Regelbegriff als unzulänglich und die Regeln als falsch: daß sie weder strikt am Vers gewonnen sein können, noch anders ihn operational hervorbringen. Was nach Regeln eingerichtet sein soll, darf nicht von den Regeln, nach denen es eingerichtet sei, differieren; die Regeln wären keine und wür­ den genau das, wofür ausschließlich sie zuständig sind, nicht leisten. Die Metriktheorie muß daher die Regeln zu bloßen Normen, die auch durchbrochen werden könnten, herabstimmen, wie etwa Wagenknecht es ausdrücklich tut.'6 Das aber heißt den Regelbegriff nicht etwa nur modifizieren, sondern ihn selber und das, was er in der Theorie im­ merhin zu leisten hat, torpedieren; und im übrigen bleibt wiederum 16 »Dabei nun ist unter den >RegelnRegularität< zu verstehen - obwohl sich zu ihrer Ermittlung statisti­ sche Erhebungen durchaus empfehlen. Sie stellen vielmehr poetische Normen dar und gelten auch noch im Fall ihrer Verletzung.« (Wagenknecht, S. 20 f.) Diese letztere Bestimmung steht im übrigen keineswegs im Gegensatz zu statistischen Erhebungen und der Vorstellung einer Regularität, sondern ent­ spricht diesen durchaus; auch dazu im Folgenden. Sehr wohl aber steht sie im Widerspruch zu dem Regelbegriff, mit dem Wagenknecht sonst, etwa in sei­ nen zitierten Definitionen von Versifikation und Prosodie, umgeht und den er hier nur noch mit spitzen Klammern anfassen mag.

Normfall und Not der Theorie

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ungeklärt, wie es nun zu den Normen kommt, wenn sie nicht den Vers regelhaft abbilden sollen oder wenn man nicht etwa an Normen fest­ setzende Dichterkongresse glauben wollte. Regel- und Normbegriff aber schließen einander ohnedies aus, haben streng zu scheidende Geltungs- und Funktionsbereiche. Sie können falsch ineinander übergehen nur mittels einer undurchschauten Äquivokation: der von operationa­ ler Regel und einer Regel im Unterschied zur Ausnahme. So wäre der zurückgenommene Anspruch, die abbildenden Regeln seien bloße Nor­ men, allein und in bloßem Ungefähr so zu verteidigen, daß die Regeln nur »in der Regel« gälten, also statistisch zu nehmende Durchschnitts­ werte darstellten - der Unterschied in den beiden Begriffen von Regel ist hier eklatant und ebenso ihrer beider trübe Vermischung. Offen­ kundig würde aber einer solchen Fassung des Regelbegriffs allein be­ reits widersprechen, daß Verse in ihrem Maß zu erkennen und zu be­ stimmen sind, ohne daß vorher ein ganzes Verscorpus statistisch Silbe für Silbe durchgerechnet werden und daraus als Integral erst sich das Schema ergeben müßte. Kein Metriker arbeitet so; auch die generati­ ven Metriker wissen vorher, welcher wirklich ein Vers ist, bevor sie es in Regeln bringen und danach aus diesen noch immer nicht recht be­ weisen. Das statistische Vorgehen, in welchem einzig die Regeln zur bloßen Norm verblassen könnten, führt aber, wenn man es streng auf ein Verscorpus anwendet, vielmehr zu einem Ergebnis, zu einer Nota­ tion, die regelmäßig von dem jeweiligen Schema, über das in der neue­ ren Metrik kaum einmal Dissens entstehen kann, in einzelnen Positio­ nen abweicht. Das Schema ist nicht die Statistik über den Versen. Als Norm, wenn diese folglich nicht den statistischen Durchschnitt bedeuten kann, müßte das Schema durch etwas begründet sein, das außerhalb dessen liegt, worüber es als Norm bestimmen soll; und das also nur außerhalb des Modells der zwei Ebenen liegen kann. Der Normbegriff soll denn auch vor allem dies in das Modell einbinden, was sich nicht an das Modell hält und nicht von ihm fassen läßt, näm­ lich daß das Schema eben nicht vollständig an den Versen gewonnen ist, die Verse nicht vom Schema vollständig regelhaft abgebildet wer­ den: also der Regelbegriff nicht zu halten ist; und daß das Schema gegenüber dem, was die Verse sprachlich realisieren, ein gewisses Ei­ genleben führt und eine Eigenständigkeit bewahrt, die die Theorie in nichts zu gründen weiß. Sie hält mit Recht am Schema fest, gezwungen von der unklaren, aber unverkennbaren Stabilität des Schemas gegen­ über den sprachlichen Realisierungen, die es nicht wirklich realisieren. Damit das Schema mit dem, was sich nach ihm einrichten soll, in Span­ nung treten könne, bedarf es selber ja vorweg auch der Festigkeit, die es von einer reinen Abstraktion des im gedichteten Vers lautlich Vorfindlichen unterscheidet und ablöst zugleich. Damit es nun aber, da es

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Das Konstitutionsproblem

aufgrund solcher Eigenständigkeit dem Vers immer auch äußerlich bleibt, dennoch mit ihm so in Verbindung treten könne, daß es ihm die Regel vorgebe, muß diejenige Verbindung, die nach der Theorie einzig für gelungen gelten dürfte, jedenfalls zu dem genannten Normalfall erklärt werden; nämlich die Verbindung, daß das Schema Element für Element sprachlich genau realisiert werde. Wo diese nicht glückt, und das ist ja aber die reguläre Möglichkeit eines jeden der hier bedachten Verse, soll es bloße - noch immer für sich unerklärte - Abweichung von einem Normalen sein. Dieses Normale muß die feste Verbindung von Schema und Sprache recht eigentlich symbolisieren, kann sie nicht belegen, sondern nur meinen. Die Vorstellung des Normalfalls ist folg­ lich nicht an den Versen gewonnen, sondern aus dieser Not der Theorie heraus konstruiert: daß das Schema gilt, weil doch anders es an den sprachlichen Versen gar nichts Wiederkehrendes geben könnte, und daß das Schema zugleich nicht gilt, weil die Verse durch es nicht in dem, was an ihnen wiederkehrt, vollständig bestimmt sind. Die Theorie muß den Bruch, der sie durchzieht, kitten: durch die Annahme eines Normalfalls, in dem vom Bruch nichts zu spüren wäre. Der theoretisch angenommene Normalfall ist die Hypostasis des Schemas darein, was es nicht ist: abstrakte Abbildung des von der Sprache im Vers realisier­ ten Maßes, seines lautlich Wiederkehrenden. Es gibt den Normalfall nicht, sondern er ist logische Erfordernis einer unzulänglichen Theorie, die damit ihren Mangel zu decken hat. Somit gibt es auch die Spannung nicht in der Art, wie sie so sehr einleuchtet, nämlich als das Abweichen des Dichters von einer als eintönig empfundenen Kongruenz von Spra­ che und Metrum, von eben jenem Normalfall, auf dem die Theorie bis heute die Verse gründen muß und den es nicht gibt. Im übrigen geht unwillkürlich, wer ohne weitere Vorkenntnis Verse zu bestimmen unternimmt, mit dem Dilemma, daß das Schema nicht rein mit den Versen übereinstimmt, nicht grundsätzlich anders um als die wohl auch deshalb gängige Theorie: Er hält das Schema als etwas in gewisser Weise Unabhängiges den Versen gegenüber fest, das sich in ihnen gar nicht notwendig - die Metriktheorie sagt: realisiert - finden müßte und trotzdem ihr Versmaß sein soll. Jeder, der einmal deutsche Verse analysiert hat, kennt das Dilemma und vor allem wohl, wenn er von der entwickelteren metrischen Theorie noch nicht dazu gebracht war, es als inexistent anzusehen und die Schwierigkeiten, auf die er traf, als persönliche Unkenntnis hinzunehmen und nicht als die der Sache selbst zu reflektieren. Die grenzenlose Gläubigkeit der metrisch Ungeschulten in das, was die Metriker sie lehren - und darin sind die kraß dogmatischen Setzungen bis heute flagrant -, muß damit Zusam­ menhängen. Jeder stößt bei der Analyse auf die Verse, deren Maß er nicht erkennt und nicht heraushört. Leise oder laut wird er es mit der

Notationsweisen keine Hilfe

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skandierenden Leseweise probieren - ohne sich Rechenschaft darüber ablegen zu können, weshalb er dazu greift und was diese genau mit dem gedichteten Vers, der ja auch ohne Skandieren ein Vers sein muß, zu tun hat. Falls es ihm selbst durch Hin- und Herschieben der Silben nicht überzeugend gelingt, das skandierende Muster auf dem zu ana­ lysierenden Vers zu plazieren, wird er auf die nachfolgenden Verse blicken, falls sie nicht aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem anderen Versmaß gehören, und dort so lange suchen, bis es mit einem Vers glückt. Damit ist das Versmaß gefunden, und nun wird er probieren, ob die übrigen Verse auch irgendwie dazu passen. Dabei hat er aber das Entscheidende einfach vorausgesetzt: nämlich daß das Schema sich als gleiches durchhält, selbst wenn es sich nicht in jedem einzelnen Vers für sich erkennbar durchgesetzt hat. Das Schema wird in seiner Gül­ tigkeit für bestimmte Verse nicht aufgrund dessen in Zweifel gezogen, daß man es von einzelnen dieser Verse aus nicht eindeutig bestimmen kann; folglich wird es als etwas in sich Stabiles zu einem gewissen Grad von den Versen unabhängig genommen. Das hat sein Recht, hat jedoch in der metrischen Theorie bis jetzt noch keine Fundierung gefunden. Es widerspricht ihrem Modell. Weshalb es aber sein Recht hat, auch das werde ich herleiten, wenn ich im Folgenden entwickle, wie, vorweg im Deutschen, Verse als solche sich bilden können - die Frage ihrer Konstitutionsbedingungen, nicht derjenigen ihrer Produktion - und wie das Dilemma zu lösen ist, in dem sich der Ungeübte bei der Versanalyse und die Metriktheorie zumindest bei deren Begründung befin­ det. Etwas von ihrem Unbehagen daran, Reflex des Dilemmas, das ihr nicht vollkommen verborgen bleiben konnte, hat sich in den zahlrei­ chen Vorschlägen manifestiert für neue Notationsweisen anstelle der altüberlieferten mit Strich und Haken.17 Die problematisch gewordene Verbindung zwischen Schema und Sprache, die von der Theorie nicht hatte geschlossen werden können, sollte es werden wenigstens auf der Ebene der abstrakten Zeichen, indem man deren Verbindung mit den Silben, auf die sie verweisen, nicht etwa genauer faßte, sondern locker­ te. Die Möglichkeit, daß Silben die Größe sprachlich nicht wirklich realisieren, die das notierte Zeichen im Versschema von ihnen verlang­ te, war so, da die Theorie sie nur hinzunehmen, nicht zu erklären wuß­ te, den Zeichen aufgebürdet, die nicht mehr so eindeutig diese zu rea­ lisierende Größe verlangen sollten, wie Strich und Haken es tun. Es spielte mit, daß diese aus der Skansion der antiken Verse genommen sind, also für die Größen lang und kurz standen und nun aber zu über­ tragen waren auf die Größen schwer und leicht. Die handliche Art, in 17Vgl. die Aufstellung bei Kuper, S. 125, Abb. 6.

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Das Konstitutionsproblem

der sie zu schreiben sind, sollte nach den neu vorgeschlagenen Nota­ tionsweisen zugunsten aufwendigerer Zeichen aufgegeben werden, die entweder die Silbengröße, die sie zu bedeuten hatten, ungenauer bloß andeuteten oder es geradezu vermieden, auf die Größe der Silbe auch nur hinzudeuten. So wurde das Dilemma, die mangelnde Verbindung von Schema- und sprachlicher Ebene, lediglich sanktioniert und mit dem falschen Schein des angemessen Notierten und dadurch schon richtig Erkannten versehen. Es ward verschleiert, aber in nichts da­ durch gelöst. Die Zeichen Strich und Haken durch beliebige andere Paare von Zeichen, denen wiederum beliebig die gelockerte Verweis­ funktion imputiert werden muß, zu ersetzen, hilft zu nichts als dem Pseudos, man habe sich von den antiken Verhältnissen und deren Klar­ heit des Verweisens gelöst, während dennoch noch immer die neueren Notationsweisen eben als Zeichenpaare ohne Ausnahme streng analog zu der antiken Notationsweise und zu den antiken Verhältnissen kon­ zipiert sind, in welcher Verkleidung auch immer. Das Dilemma ist so nicht zu lösen, weil auf der Ebene der Notation ausschließlich das Sche­ ma wiederzugeben ist und ihr so keine Macht darüber gegeben sein kann, prosodische Verhältnisse, die sich dem Schema entziehen kön­ nen, wiederum lediglich im Schema zu bannen. Strich und Haken ver­ langen bloß das Mitdenken des Lesers, der bei deutschen Versen nicht vermuten darf, es gehe nach lang und kurz; Strich und Haken gestehen ihre antike Herkunft ein und geben nicht vor, ein Problem zu lösen, das bislang noch dessen harrte, auch nur genau als Problem erkannt zu werden, und das nicht im Schema und deshalb nicht in dessen Notation zu lösen ist.

II

1624

Um es zu lösen, setze ich an bei dem historischen Moment im Jahre 1624, als Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey den bekannten Einschnitt in der Versgeschichte markiert. Vor dem Ein­ schnitt hatte noch Opitz selbst in seinen Gedichten sich der Metrik bedient, die im sogenannten Renaissancevers in Kraft gewesen ist, ei­ nem gereimten und Silbenzählenden Vers. In ihm also waren die Silben nur als solche metrisch relevant, nicht geschieden in Klassen, nicht nach Größen geordnet - die reimenden Silben ausgenommen -, neben dem Reim bestimmten lediglich sie den Vers in ihrer festgelegt wieder­ kehrenden Anzahl. Zwischen Versen wie denen des Weckherlin Ich empfind nu in meiner brust Sich eine begird anzuzinden Die mich treibet mit grossem lust Ein newes gesang zuerfinden.18 und ihrem Schema konnte folglich gar nicht erst jene sogenannte Spannung sich ergeben, die der Metrik späterhin zu schaffen machen sollte, daß nämlich Silben nicht wirklich die Größe aufweisen, den Akzent, den das Schema einer nach Größen ordnenden Metrik an bestimmten Stellen im Vers vor­ sieht. Das entscheidende, in einem strengen Sinn erkenntnistheoreti­ sche Dilemma, in welches das Modell der zwei Ebenen Sprache und Metrum gerät und vor dem es versagt, hatte sich dort also noch nicht ergeben; es ergibt sich aber von dem Moment des Umschlags an, den Opitz’ Sätze konstatieren. Sie, mit denen die solcherart dann zuinnerst veränderten Verhältnisse umschrieben sind, haben ihren kostbaren Wert darin, daß Opitz nicht normativ in ihnen etwas setzt, was hinfort zu gelten habe, sondern weil in ihnen er einen objektiv im Material sich durchsetzenden Zwang beobachtet. Eine Notwendigkeit, die vor 18Das Erste Buch Oden und Gesang. Die 6. Ode, V. 1-4. - In: Georg Rudolf Weckherlin: Gedichte. Hrsg. v. Hermann Fischer. Erster Band. - Tübingen 1894 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, CXCIX), S. 126.

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dem Zeitpunkt, als er sie in eine Regel faßt, nicht bestand, vermerkt er und nimmt er als so zwingend wahr, daß er sie, die ihm vorher nicht empfindlich war, ohne andere Autorität als die aus der Sache gewon­ nene zum ersten Mal beim Namen nennt. Über die tief einschneidende Bedeutung seiner Beobachtung kann er sich nicht im klaren gewesen sein; in dem so knapp gefaßten Buch von der Deutschen Poeterey teilt er die Beobachtung nur gleichsam en passant mit, inmitten von allerlei Regeln »Von den reimen« und »jhren Wörtern«, wie es in der Über­ schrift zum VII. Capitel heißt, das zudem noch »arten der getichte« wie den Alexandriner-Vers oder das Sonnet behandeln wird, also prosodische mit versifikatorischen Angaben abwechselt. Opitz’ geringe Achtsamkeit darauf, die alsbald für zentral erkannten Sätze irgend her­ vorzuheben, bezeugt diese als unwillkürlichen, authentischen Reflex auf etwas, das im Versbau zwingend sich vollzog; und der Reflex stammt authentisch aus jenem Moment selbst, in dem es dies tat. Wachzuhalten ist bei der Analyse dieser Sätze der Gedanke, daß sie einem historischen Stand entsprechen, gültig zu dem Zeitpunkt, an dem er festgehalten wurde. Er betrifft fürs erste nur die damaligen Bedingungen, unter denen Verse zu Versen werden können; und diese Bedingungen müßten nicht in toto für die nachfolgenden Zeiten eben­ falls gelten. Nach Opitz bilden sich weitere Möglichkeiten des Versbaus heraus, die zu dem früheren Zeitpunkt noch nicht gegeben sind. Trotz­ dem wird sich zeigen, daß diese weiter entwickelten Möglichkeiten erst auf dem, was Opitz zu seiner Zeit erkennt, sich haben ergeben können und daß sie davon jeweils noch als ihrer Fundierung getragen werden. Weitere Möglichkeiten treten zwar zu dem, was bei Opitz gilt, hinzu; das Grundlegende aber in dem behält grundlegende Gültigkeit auch in ihnen und wird sie bestimmen bis ins Innerste. Nachmals ist auch ein jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden. Ein Jambus ist dieser: Erhalt vns Herr bey deinem wort. Der folgende ein Trocheus: Mitten wir im leben sind. Dann in dem ersten verse die erste sylbe niedrig / die andere hoch / die dritte niedrig / die vierde hoch / vnd so fortan / in dem anderen verse die erste sylbe hoch / die andere niedrig / die dritte hoch / etc. außgesprochen werden. Wiewol nun meines Wissens noch niemand / ich auch vor der zeit selber nicht / dieses genawe in acht genommen / scheinet es doch so hoch von nöthen zue sein / als hoch von nöthen ist / das die Lateiner nach den quantitatibus oder grössen der sylben jhre verse richten vnd reguliren.” 19 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hrsg. v. Cornelius Sommer. - Stuttgart 1970, S. 49.

Deutsche und antike Verse nicht analog

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Opitz bringt, was er für die Bildung deutscher Verse »hoch von nSthen« erkennt, in Analogie zu den Verhältnissen, wie sie die antiken Sprachen bestimmten. Von dieser Analogie geht die Metrik bis heute aus; sie rechnet die nach-Opitzsche ebenso wie die antike Metrik ein­ heitlich zu dem nach Größen ordnenden Verstyp, wobei lediglich, wie schon Opitz beschreibt, die Größe, nach der geordnet wird, hier und dort zwei unterschiedliche Parameter des sprachlichen Materials be­ deute: die Länge der Silbe in den antiken und ihre Betonung in den modernen Sprachen. Diese Analogie aber besteht in allem Entschei­ denden nicht. Vielmehr verbirgt sich unter der analogischen Theorie genau das, was in den modernen Versen zu dem Dilemma der Theorie führt. Denn in den antiken Sprachen kommt sie sehr wohl mit den beiden Ebenen Sprache und Metrum aus wie ähnlich auch bei dem einfacheren Renaissancevers und gerät dort nicht in Schwierigkeiten der Art, wie ich sie oben als jenes Dilemma vorgeführt habe. Diese ergeben sich von dem Moment an, wo die konstituierenden Verhält­ nisse von Versen in ganz bestimmter Weise nicht mehr analog sind zu denen in den antiken Sprachen. Was an den Verhältnissen, die Opitz reflektiert, solcher Analogie, mit der er umgeht, widerspricht, steht denn deshalb zugleich auch im Widerstreit mit dem Modell der zwei Ebenen und leitet weiters auf die Klärung dessen, was darin fehlerhaft ist. Mit allem, worin die von Opitz beschriebenen deutschen Verse zu dem als Analog gedachten der antiken Verse in Widerspruch treten, treten sie in Widerspruch zu dem Zwei-Ebenen-Modell. Das Eigentüm­ liche der deutschen Verse ist daher an den antiken Versen, gerade in der Absetzung von ihnen, am schärfsten zu konturieren. Auch deshalb ist schon zu dem frühen Zeitpunkt 1624 der grundlegende Fehler der späteren metrischen Theorie zu sichten, weil bereits dem wenigen, was Opitz dazu festhält, aufs genaueste einbeschrieben ist, wie tief die Ana­ logie zwischen deutschen und den antiken Versen von dem durchbro­ chen wird, was nachmals das Bildungsgesetz der Verse wurde; und wo­ vor zugleich die bisherige Theorie zu kapitulieren hatte. Der Teilsatz »nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner«, mit dem Opitz die Analogie zwischen moderner und antiker Sprache entwirft, wirkt wie eine bloße Erläuterung des Vorangegangenen, und doch enthält dieses bereits zwei Momente, die den radikalen Bruch mit eben jener Analogie bezeichnen. Der Satz: »Nachmals ist auch ein je­ der verß entweder ein iambicus oder trochaicus« ist ja, obwohl der Nachsatz auf die prosodischen Verhältnisse der - antiken und moder­ nen - Sprachen eingeht, eine Erklärung zur Versifikation. Er besagt nicht etwa nur, daß nachmals jeder Vers in seiner Prosodie zwischen hohen und niedrigen Silben zu unterscheiden habe, sondern er legt geradezu die Versifikation fest auf ein ganz bestimmtes Muster, umris­

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sen durch die zwei äußerst eng miteinander verbundenen Möglichkei­ ten, den durchgängig jambischen und den durchgängig trochäischen Vers. Dies eine Versmuster gilt nicht für bestimmte Verse, sondern für »ein[en] jede[n] verß«. Damit ist das Versmaß nicht mehr frei in sich. Das war es aber für die antiken Sprachen, wo unzählige verschiedene Versschemata und keineswegs nach einem einzigen, einheitlichen Mu­ ster sich herausgebildet haben. Selbst so durchaus verwandte Verse wie die zur alkäischen Strophe verwendeten

zeigen die innere Vielfalt der Schemata, und ein Blick vornehmlich in ein Lehrbuch der griechischen Metrik beweist die schier unerschöpfli­ chen Möglichkeiten der Antike bei der Bildung von Versmaßen und der Kombination der Elemente in ihnen. Ihr konstitutives Kriterium war lediglich, daß die Abfolge von lang und kurz, die der eine Vers aufwies, in einem andern wiederholt wurde. Innerhalb dieser Not­ wendigkeit zur Wiederholung war die Wahl der Abfolge virtuell frei. Wenn Opitz solche Freiheit der Versifikation im Aufbau ihrer Sche­ mata nun widerrufen muß, heißt das nicht weniger, als daß das Versschema, das die Anordnung des sprachlichen Materials bestimmen soll, nun selbst bereits bestimmt ist; bestimmt durch jenes einheitliche Mu­ ster, das ein jeder Vers aufweisen muß. Allein aufgrund dessen wäre das hierarchische Modell von Schema und Sprache um eine Ebene oberhalb der Schema-Ebene zu erweitern, um die Ebene des einheitli­ chen Musters, von dem alle es realisierenden Schemata abhängig wä­ ren. Den Mangel des Modells würde diese Erweiterung aber noch nicht beheben, da sie das Verhältnis von Schema und Sprache nicht berührte und also nicht neu bestimmte. Dazu verhilft aber das andere Moment in Opitz’ Feststellung, wel­ ches die Analogie zu den Verhältnissen in den antiken Sprachen auf­ kündigt. Dort bedeutete die Freiheit in der Wahl der Abfolge von lang und kurz, die jeden Vers, als versifikatorische Größe genommen, sein eigenes Muster besitzen ließ und ihn nicht nach einem einheitlichen sich zu richten bestimmte, daß die Silben, genauer: die ihnen auf Versifikationsebene entsprechenden Elemente, unabhängig von der Klasse, zu der sie gehören, zu kombinieren waren. Ob auf ein langes Element grundsätzlich wieder ein langes oder aber ein kurzes zu folgen hatte, war in der Bildung der Versschemata nicht festgelegt. Eine regelmäßige Folge wie der reine jambische Senar

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Elemente nicht fre i zu kombinieren

Phaselus ille quem videtis hospites

(Catull. 4,1)

gehört zu den höchst vereinzelten Ausnahmen unter den antiken Vers­ maßen. Üblich ist die freiere Kombination. Auch eine von mehreren Längen, wie z. B. in dem Hexameter Dictaeo caeli regem pavere sub antro

(Verg. georg. 4, 152)

hat im Lateinischen nicht den geringsten Anstoß, und so die von meh­ reren Kürzen, wie z. B. am Schluß eines darin extremen Versmaßes, des Galliambus: Super alta vectus Attis celeri rate maria

(Catull. 63,1)

Nur daß im Lateinischen die ununterbrochene Häufung von Kürzen insofern auf Hindernisse stößt, als die Sprache im Vergleich zu ihrer Menge an langen Silben nur sehr wenige kurze Silben aufweist. Von solchen prosodisch bedingten Einschränkungen abgesehen sind die Ele­ mente in den antiken Sprachen also frei kombinierbar; und Opitz aber muß auch das für die deutschen Verse widerrufen. Denn das eine Mu­ ster, das für alle Verse gilt, hat im Innern der Verse seine Macht auch über die einzelnen Elemente. Wenn jeder Vers entweder jambisch oder trochäisch zu laufen hat, bedeutet das die Bindung jeder Elementefolge an die Erfordernis, die Elementklassen abzuwechseln. In der Erläute­ rung, die Opitz zu seinen Beispielen gibt, wird das klar genug. Das »vnd so fortan« nach der Angabe »die erste sylbe niedrig / die andere hoch / die dritte niedrig / die vierde hoch« ist dabei vielleicht der deutlichste Reflex der übergreifenden Wirksamkeit des alternierenden Musters: Es läuft undurchbrechlich weiter. Alle Verse und innerhalb der Verse alle Elemente haben ihm so weit zu gehorchen, daß die Setzung des Ele­ ments der einen Klasse - z. B. hoch - notwendig die Setzung eines Elements der anderen Klasse nach sich zieht - z. B. niedrig. Einem Kommentar fällt zu dieser Stelle von Opitz’ Poeterey nur ein, daß »Versfüße mit Doppelsenkungen, also etwa Daktylen [...] oder Ana­ päste [...] ausgeschlossen«20 würden. Gerade das aber ist hier durchaus irrelevant und fürs erste zu vernachlässigen, da die »Doppelsenkungen« die Gesetzlichkeit des von Opitz Gefaßten in nichts durchbrechen, wie ich weiter unten noch darlegen werde. Büchners spätere Erweiterung der Opitzschen Lehre modifiziert sie um Geringes, aber - was ent­ scheidend ist - ändert nichts an der Eigenart dessen, wovon sie handelt; nämlich daß für den inneren Verlauf eines jeden Verses von nun an die 20 In der oben, Anm. 19, genannten Ausgabe, S. 89, Anm. 196.

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Kombination der Elemente nach ihren Klassen nicht mehr frei, son­ dern von vornherein, bevor sich noch das einzelne Schema bildet, fest­ gelegt ist. Ob ein Vers dabei »iambicus« oder »trochaicus« wird, ent­ scheidet sich ausschließlich daran, welcher Klasse sein erstes Element zurechnet, der Klasse leicht/niedrig oder der Klasse schwer/hoch. Sein weiterer Lauf ist danach, vom ersten Element an, entschieden und al­ leine noch in seiner Länge, nämlich der Anzahl seiner Elemente zu bestimmen. Damit scheint nicht mehr umschrieben als das altbekannte Gesetz der Alternation, das von der Theorie bislang als lediglich ein Typus von Versschema neben anderen eingereiht wurde, obgleich es das Modell von den zwei Ebenen Schema und Sprache in Wahrheit sprengt. Ent­ scheidend ist neben der Vorstrukturiertheit der Schemata durch das eine Muster, daß dies Muster nicht mehr einzelne Elemente für sich nach ihren Klassen anordnet, wie es vom Schema in jenem Modell vorausgesetzt ist, sondern selber bereits Kombinationen von Elemen­ ten; und zwar auch gerade nicht, wie es bei Opitz klingt, Kombinatio­ nen im Sinne von Versfüßen, sondern so, daß jedes einzelne Element der einen Klasse die Umgebung eines Elementes der anderen Klasse erfordert. Versfüße sind der antiken Metrik, der sie entstammen, im Gegensatz dazu Einheiten von mehreren Elementen, sind Einheiten innerhalb eines Verses als der übergeordnet wiederkehrenden Einheit, die ihrerseits als solche isolierbar wiederkehren, und zwar mit der glei­ chen Freiheit in der Kombination ihrer internen Elemente wie eben die Einheit Vers. Wenn ein Versfuß etwa auf lang endet, ist damit nicht festgelegt, ob der folgende mit kurz oder wieder mit lang zu beginnen habe. In den deutschen Versen, die dem alternierenden Muster gehor­ chen, ist dagegen genau solche Festlegung von jedem Element aus auf die umliegenden wirksam. Die Verkettung ist nirgends durch die Gren­ ze einer isolierbaren Einheit zu unterbrechen; eine Folge------z. B. als die Versfüße | - - 1- - 1aufzufassen, würde die Notwendigkeit ausblenden, mit der auf das hier erste lange Element das zweite kurze folgt: Dazwischen eine Versfußgrenze zu setzen, fingierte die grundsätzliche Möglichkeit, es könnte nach auch z. B. |------1oder ähnlich wei­ tergehen. Diese Möglichkeit ist nun aber gerade grundsätzlich und vor­ weg ausgeschlossen und nicht erst auf der Ebene des Schemas für eine bestimmte Versart. Insofern muß das Muster, in dem dies Grundsätz­ liche beschlossen liegt, strikt abgetrennt werden von der Ebene des Schemas. Und der Umgang mit Versfüßen verliert vor solchen Gege­ benheiten sein Recht. Er trägt vielmehr zu deren Verschleierung bei; bis heute tut dies die Metriktheorie. Historisch zwar folgt im Deut­ schen etwa ein Jahrhundert nach Opitz wieder eine Verstechnik, die dem Bewußtsein der Dichter nach die Verse dezidiert in frei kombi-

Schema stabil gegen Wortbetonung

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nierten Füßen aufbaut; von ihr aber wird besonders zu erweisen sein, daß sie erst aufgrund der historisch früheren und strengeren Herrschaft der Alternation möglich ist und ihr weiter unterliegt. Der Vergleich mit den antiken Sprachen, den Opitz selber anstrengt, führt also auf bedeutende Unterschiede, durch die das Wesen der Alter­ nation, die Opitz hier bekanntlich umschreibt, zugleich in Gegensatz tritt zu dem bis heute bestehenden Modell metrischer Abstraktion. Was dieses Modell an der Eigenart der Verse immer wieder irritieren muß, das berührt schon Opitz in den Ausführungen, die an das oben Zitierte anschließen: Denn es gar einen übelen klang hat: Venus die hat Juno nicht vermocht zue obsiegen; weil Venus vnd Juno Jambische / vermocht ein Trochéisch wort sein soll: obsiegen aber / weil die erste sylbe hoch / die andern zwo niedrig sein / hat eben den thon welchen bey den lateinern der dactylus hat / der sich zueweilen (denn er gleichwol auch kan geduldet werden / wenn er mit vnterscheide gesatzt wird) in vnsere spräche / wann man dem gesetze der reimen keine gewalt thun wil / so wenig zwingen leßt / als castitas, puichritudo vnd der­ gleichen in die Lateinischen hexámetros vnnd pentámetros zue bringen sind.21

Die Formulierung, daß die inkriminierten Wörter Venus, Juno und vermocht einen bestimmten Betonungsfall haben »sollfen]«, der ihrem natürlichen offensichtlich zuwiderläuft, ist als Reflex von der bestim­ menden Kraft des alternierenden Musters durchaus ernst zu nehmen. Das »soll« besagt, daß das Versmaß nicht etwa dadurch sich nicht er­ stellte, daß ihm mindestens jene drei Wörter zuwiderlaufen, sondern daß es sich nichtsdestotrotz erstellt und sogar so wenig von dem Silben­ fall der Sprache abgenommen ist, daß es ihn geradezu selber erst be­ stimmt. Im Lateinischen wäre nichts absurder, als das Entsprechende anzusetzen: daß die Quantitäten der Wörter den vom Vers erforderten zwar zuwiderliefen, dieser aber dennoch in seiner erforderten Quanti­ tätenfolge erkennbar wäre, weil er die seinen gegen die Quantitäten der Wörter durchsetzte. Um noch einmal seines einfachen Aufbaues wegen den reinen jambischen Señar zu einem Beispiel heranzuziehen: Un­ möglich, den Vers Ait fuisse navium celerrimus

(Catull. 4, 2)

etwa durch das Vorsetzen einer zusätzlichen kurzen Silbe wie »is« wie­ derum, nur eben gegenüber den wahren Quantitäten der Silben ver­ schoben, jambisch laufen zu lassen:

21 Opitz, S. 49 f.

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Is ait fuisse navium celerrimus und dann allenfalls zu sagen, es habe einen üblen Klang. Diese letzte Wortfolge hätte kein Römer anders sprechen und aufnehmen können als in der natürlichen Quantitätenfolge

und der jambische Senar hätte sich damit einfach nicht erstellt. Die prosodische Bestimmtheit der lateinischen Silben nach lang oder kurz ist nicht durch das Schema des Verses veränderbar auch nur zu denken. Anders bei Opitz, wo selbst die klare Kenntnis des Silbenfalls einer Reihe von Wörtern es nicht vermag, eine jeweils gegenläufige Bestim­ mung durch den Vers - das Sollen - zu verhindern. Der Vers hat hier einen üblen Klang, gerade weil er, obwohl die Silben in ihren Akzenten ihn nicht erfüllen, noch zu hören ist; weil etwas in seinem Klang mit dem der Silben in objektiven Widerstreit gerät. Dies ist möglich nur, wenn der Vers sich nicht allein mittels der Silben wahrnehmbar er­ stellt. In seiner Objektivität gegenüber dem sprachlichen Material kann ihm zu diesem Zeitpunkt, bei Opitz, auch noch keine Konvention beigesprungen sein, der sie anzurechnen wäre. Denn bis zur Poeterey gab es keine Beachtung des Silbengewichts und keine Beachtung der abwechselnden Gewichte im Vers; also keine Konvention, wie der Klang des Verses hinsichtlich der Silbengewichte zu sein hätte oder wie bestimmte, nach schwer und leicht gebaute Versmaße nun einmal aufgebaut seien und wie also das Gewicht der Silben in ihnen erwartet werde. Was hier als bestimmend über dieses Gewicht hinweg sich durchhält, muß objektiv sein vor aller möglichen Übereinkunft über oder Gewöhnung an ein bestimmtes Versmaß. Daß sich im Deutschen nun anders als im Lateinischen das bestim­ mende Muster nicht an die Prosodie der Sprache vollkommen bindet jenes Phänomen, das die metrische Theorie dann als die Spannung zwischen Schema und Sprache ablegt -, das bezeugen weiter Opitz’ Überlegungen zum Wort obsiegen. Es hatte nach der Betonung zu Opitz’ Zeit einen daktylischen Fall: obsiegen, anders also als im gegen­ wärtigen Deutsch, in dem man sich den daktylischen Fall eines Wortes etwa anhand der Form »arbeiten« verdeutlichen kann. Ein solches Wort würde in den alternierenden Vers grundsätzlich nicht aufzuneh­ men sein, da es anders entweder »obsiegen« oder »obsiegen«, bezie­ hungsweise im heute besser einsichtigen Beispiel »arbeiten« oder »ar­ beiten« betont sein müßte. Der Vergleich mit dem Lateinischen, den Opitz hier neuerlich anstrengt, ergibt zunächst noch einmal etwas, was ich bereits annotiert habe. Denn lateinische Wörter eines bestimmten

Muster fü r Verse konstitutiv

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Silbenfalls, wie das Wort castitas mit der Folge---- , passen dort nur in ganz bestimmte Versmaße nicht, wie z. B. in den Hexameter, während dieser Ausschluß im Deutschen nicht mehr allein von bestimmten ein­ zelnen Versmaßen, sondern von einem jeden Versmaß gilt; eben weil jedes dem einheitlichen Muster unterliegt. Dem Ausschließlichen hier­ in auf der Ebene der Versifikation korrespondiert im Deutschen jedoch nach Opitz’ Einsicht eine Unbestimmtheit in Bezug auf die prosodische Ebene: Die Wörter, die in keinen Vers je passen dürften, passen - »mit vnterscheide gesatzt« - dennoch hinein. Nichts anderes ist daraus für die Qualität des Musters zu schließen, als daß es so sehr in sich stabil ist - um es noch einmal vorläufig so zu bezeichnen daß es nicht allein in allen Versen jeden nun noch möglichen Schemas sich bestimmend durchsetzt, sondern dann, und wohl eben deshalb, auch nicht mehr darauf angewiesen ist, prosodisch vollständig durch die Wörter und Silben des gedichteten Verses realisiert zu werden. Sondern es setzt sich über die für sich gegebene prosodische Bestimmtheit verschiedener Wörter hinweg oder realisiert sich seinerseits durch sie hindurch. Es leuchtet weiterhin ein, daß nur eine Sprache, die nicht selber so wie etwa die lateinische prosodisch eindeutig bestimmbar oder bestimmt ist, eine Versifikation ausbilden kann, in der erst auf der Ebene des einzelnen Verses über die prosodische Bestimmtheit einzelner Silben entschieden wird, wie im Falle des »obsiegen«. Und noch eine Konsequenz ist aus dem Gesagten zu ziehen, in wel­ cher wiederum die von Opitz reflektierten Verhältnisse den Verhält­ nissen in den antiken Sprachen und zugleich dem metrischen Modell widersprechen. Wenn nämlich ein jeder Vers das alternierende Muster tragen muß, folgt unabdingbar, daß nur noch derjenige ein Vers ist, der das Muster trägt; daß das Muster den Vers definiert; daß es für den Vers konstituierende Bedeutung und Funktion gewinnt. Im Gegensatz dazu genießt in der Antike die regelmäßig wechselnde Abfolge von lang und kurz, wie sie etwa im reinen jambischen Senar vorliegt, nicht den geringsten Vorzug vor einer beliebigen anderen, unregelmäßig wechselnden Folge; geschweige denn, daß diese gar irgendwie ausge­ schlossen wäre. Nicht die Art der Abfolge von lang und kurz bestimmt dort einen Vers als solchen, sondern ausschließlich, daß eine bestimm­ te, einmal festgelegte Abfolge als diese wiederholt wird. Im Deutschen ist das nach Opitz umgekehrt; nicht die Wiederholung einer frei fest­ zulegenden Abfolge von schwer und leicht, sondern ihre Festlegung auf das eine, die Wiederholung als Bestimmung bereits in sich tragende Muster bestimmt einen Vers als solchen. Undenkbar, solche Festlegung wäre von Opitz arbiträr getroffen und bloße Definition: Niemals hätte sie sich für die folgenden Jahrhunderte durchsetzen können und in Wirkung bleiben können bis heute. Auch schließen bereits Opitz’ For-

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mulierungen im zitierten Abschnitt ohne weiteres zwingend aus, er könnte diese Festlegung anders denn als eine objektiv beobachtete Not­ wendigkeit jenseits seiner Willkür ausgesprochen haben. Nur aber wenn jene Festlegung von Opitz arbiträr getroffen worden wäre, hätte die bisherige metrische Theorie sie noch mit ihrem Modell der zwei Stufen Metrum und Sprache fassen können; nur dann wäre die dem Schema vorgeordnete Stellung des alternierenden Musters als schlichte Einschränkung auf der Ebene des Schemas in diese Ebene selber zu verlegen gewesen; nur dann wäre der gleichsam apriorische nach Klas­ sen alternierende Kombinationszwang der Elemente oder Silben als Übereinkunft der Poeten wiederum auf der Schema-Ebene stillzustel­ len; nur dann wäre die gewisse Eigenständigkeit des Musters gegenüber dem, wie die gedichteten Wörter ihm folgen, als Zugeständnis an die Dichterpraxis und wäre auch die Bestimmtheit eines Verses als Vers danach, ob er das Muster tragen kann, zu einer Konvention zu ver­ harmlosen gewesen; und dann ausschließlich wäre der Charakter des Musters als einer Wiederholung in sich ohne Bedeutung dafür anzu­ sehen, daß es sich ganze Sprachen umspannend durchsetzt. Opitz’ Sätze aber waren nicht arbiträre Setzung, sondern spiegeln den objektiven Stand der Bedingungen wider, unter denen Sprache zu Versen werden kann. Daher muß die enge Verbindung, in welche die Alternation und eine nach Größen, nämlich nun nach dem Akzent ordnende Prosodie hier getreten sind, selber nicht-arbiträr, muß sie ei­ nem Begründungszusammenhang entsprungen sein. Zu erinnern ist, daß vorher, noch vor der Niederschrift der Poeterey, eine nicht die Silben nach Größen ordnende, sondern eine die Silben ungeschieden abzählende Metrik in Kraft war. Die logische Abfolge scheint demnach zunächst klar zutage zu liegen: Daß erst dann, wenn die Silben in zwei Klassen eingeteilt würden, diese Klassen überhaupt abwechseln könn­ ten, alternieren. Die prosodischen Gegebenheiten der Sprache hätten demnach das versifikatorische Prinzip nach sich gezogen. Der Ver­ gleich mit den klassischen Sprachen, die ihre Silben in zwei Klassen einteilen, hat aber gezeigt, in welch grundlegenden Hinsichten die Alternation die Gegebenheiten in den Versen gegenüber jenen Spra­ chen verändert; darin wird zugleich jene logische Abfolge unhaltbar. Der strukturelle Zusammenhang nämlich, der besteht zwischen dem Aufkommen der Alternation und dem einer nach den Akzentklassen schwer und leicht einteilenden Prosodie, ist dann nicht mehr zu denken als vom prosodischen Material bestimmt, eben weil dieses oft und leicht genug vom Schema differieren, d. h. am Schema gemessen in seinen prosodischen Bestimmungen irrelevant, also prosodisch unbe­ stimmt sein kann. Es ist somit keinesfalls geeignet, für sich die sprach­ liche, eben in sich fest genug prosodisch bestimmte Grundlage abzu­

Akzentdichtung und Alternation

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geben, auf der sich eine Metrik, die nach Größen ordnet und also auf prosodischer Bestimmtheit aufbauen muß, hätte entwickeln können oder entwickeln müssen. Folglich kann auch die logische Beziehung nur umgekehrt gelten: Erst mit der Alternation ist die Voraussetzung gegeben, daß Akzente, so oft in ihrer Lage auf den einzelnen Silben nicht klar bestimmbar, überhaupt zum prosodisch relevanten Merkmal werden können.

III

Zur Prosodie

Um diesen aller bisherigen Überzeugung offen zuwiderlaufenden, aber ebenso unabweislichen Schluß genauer noch zu fassen, ist zum einen demnach zu überlegen, was die Größe Akzent - im Gegensatz zur Grö­ ße Länge - daran hindert, eine jede Silbe prosodisch genau zu bestim­ men. Daß sie darin Einschränkungen unterliegt, steht außer Frage und ist ja der metrischen Theorie keineswegs entgangen. Karl Philipp Mo­ ritz, in seinem Versuch einer deutschen Prosodie - noch immer wert aller Beachtung, der es um Erkenntnis in der Sprache zu tun ist -, hat sich bemüht, das aufgrund solcher Einschränkungen sich aufdrängende Problem: »Haben wir wirklich in unserm deutschen Versbau ein be­ stimmtes Silbenmaaß, oder nicht?«22 - mit anderen Worten: Sind im Deutschen die Silben eindeutig prosodisch bestimmt? - durch einen genialen Ansatz positiv zu beantworten; vermochte jedoch den Nach­ weis, der allerdings auch dann nicht letztlich trägt, nur zu führen, in­ dem er anerkannte und weiterhin nachwies, daß die prosodische Be­ stimmtheit den Silben nicht inhäriert, also nicht phonologischer Be­ standteil der Silben für sich ist, sondern im Vers erst sich erstellt. Seine berühmte Erkenntnis lautet: Im Versbau der Alten entstand das Metrum erst durch die künstliche Zusam­ menstellung kurzer und langer Silben; in unserm Versbau entsteht die Länge und Kürze der Silben23 selbst erst durch ihre Zusammenstellung.24

Die Nähe dieser Einsicht zu dem oben Analysierten ist offenbar. Von der Metrik wurde sie zwar zitiert, aber nicht ernst genommen. Wagen­ knecht hat sie, weil mit ihr »sich Moritz die Sache auch wieder allzu schwer gemacht« habe, »einfach genug« in die folgende prosodische Grundregel umformuliert: Im prosodischen Sinne schwer ist eine Silbe dann, wenn sie schwerer, und leicht, wenn sie leichter ist als im Schnitt die Silben ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.25 22 Karl Philipp Moritz: Versuch einer deutschen Prosodie. - Berlin 1786 (Reprint Darmstadt 1973), S. 116. 23 Länge und Kürze wären hier eher als Betontheit und Unbetontheit der Silben zu fassen. 24 Moritz, S. 123. 25 Wagenknecht, S. 31.

Schwierigkeit deutscher Prosodie

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Es ist recht schnell zu zeigen, daß diese eingängige Regel das Pro­ blem, von dem sie handelt, einfach und vollständig genug verfehlt. Läßt sich schon schwer vorstellen, wie es einen »Schnitt« aus den Sil­ ben der unmittelbaren Nachbarschaft geben soll, da ja nur eine Silbe vor und eine nach derjenigen Silbe stehen kann, der sie unmittelbar benachbart sind, da sie also getrennt von einander stehen und schlecht zu einem Schnitt sollten vereinigt werden können - »im Schnitt«, das ist nur eine der zahllosen Formeln des spezifischen Ungefährs, mit dem die metrische Theorie über ihren Gegenstand hinwegschwindelt; so lei­ stet die Regel auch das gerade nicht, wofür sie formuliert ist und was sie auf den ersten Blick zu leisten scheint; und Moritz’ Einsicht ist darin nicht etwa nur einfacher gefaßt, sondern vollständig aufgegeben. Denn die Relation schwerer als< und >leichter als< ist wiederum nur dann irgendwie zu bestimmen, wenn das Gewicht der in Relation tretenden Silben auch absolut bereits feststeht, d. h. ihnen inhäriert. Wäre jedoch das, so gäbe es bereits ein festes Maß der einzelnen Silben im Deut­ schen, und es bedürfte gar nicht erst einer prosodischen Grundregel, die das Silbenmaß von etwas den Silben Äußerlichem, nämlich ihrer Stellung zwischen anderen, abhängig machen muß. Wagenknechts Re­ gel, ihrer eigenen Voraussetzung nach, verwandelte sich so von einer prosodischen in eine rein versifikatorische: in die Anweisung, die sich aus ihr ergibt, daß im Vers die Anordnung der in ihrem Gewicht festen Silben so zu treffen sei, daß der Wechsel von schwer und leicht, den Versifikation vorsieht, durch einen von schwerer und leichter zu rea­ lisieren sei. Das prosodische Gewicht der Silben ist dabei bloß voraus­ gesetzt, dasjenige also, was nach der Regel erst hätte bestimmt werden sollen. So schwierig läßt sich die deutsche Prosodie fassen, und so schwierig sind in den deutschen Versen die Ebenen zu trennen, daß eine Regel, die von der Prosodie zu handeln versucht, unversehens als eine sich entpuppt, welche die gängigste Anweisung der Versifikation folgenlos nur variiert. Mit ihr ist das prosodische Problem lediglich konsequent umgangen, und Moritz’ Einsicht, »daß in unserm deut­ schen Versbau die Silben, in Ansehung ihrer Länge und Kfirze,26 nicht durch sich selbst, sondern durch ihre Stellung gegeneinander, bestimmt werden«,27 verloren und durch eine ersetzt, die ihr widerspricht. Wa­ genknecht streicht die Negation »nicht durch sich selbst bestimmt«, geht davon aus, die Silben wären es doch und zwar feiner unterschie­ den als nur nach schwer und leicht und nur zusätzlich noch durch die Relation zu den umliegenden bestimmt.

26 Vgl. Anm. 23. 27 Moritz, S. 122.

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Zur Prosodie

Er folgt dabei einer Theorie, die von Paul Kiparsky am pro­ minentesten vorgetragen wurde.28 Sie sieht das prosodische Problem mit dem Akzent darin, daß die Akzentuierung in der Sprache nicht wie die Länge der Silben in den antiken Sprachen auf ein binäres System von Größen zu bringen sei, sondern daß ein weiter gespanntes Konti­ nuum von Akzentabstufungen bestehe. Das Problem löst sie sich, in­ dem sie den einzelnen Silben nicht die zwei Werte leicht oder schwer zuweist, sondern Werte auf einer Skala mehrerer, bei Kiparsky vierer Grade - andere handeln mit bis zu sieben Graden. Trage dann eine Silbe z. B. den absoluten Wert 3, gelte sie »schwer«, wenn sie neben Silben nur des Wertes 4, jedoch »leicht«, wenn sie neben Silben des Wertes 2 zu stehen komme. Diese Theorie ist schimärisch. Die Wahr­ nehmung eines Kontinuums der Akzentuierungsstärken ist - notwen­ dig - an der laut gesprochenen Sprache gewonnen. Es ist sicher, daß Silben nicht allein mit zwei unterschiedlichen Stärken gesprochen wer­ den, aber ebenso sicher ist, daß jede einzelne Silbe bereits für sich genommen jeweils unterschiedlich stark akzentuiert und gesprochen werden kann, von extrem schwer bis extrem leicht; daß also keineswegs jede Silbe in der gesprochenen Sprache, der das Stärkekontinuum ent­ nommen ist, jeweils den gleichen Grad auf einer irgendwie unterteilten Skala erreicht. Folglich ist den Silben von seiten der Sprache nicht ein wie auch immer fein und feiner unterteilter Stärkegrad fest zuzuwei­ sen. Kiparsky geht deshalb mit den vier verschiedenen Akzentgraden, auf die er das Kontinuum bringt, denn auch nur als mit den »metrisch relevantem29 um, spottet auf diese Weise seiner Theorie, und die Metri­ ker wissen nicht wie.30 Die Wahrnehmung, daß die Betonungen sich nicht real binär scheiden so, wie die Elemente des Schemas es tun, löst er nicht wirklich von deren Modell, sondern stuft eben dieses lediglich feiner ab; der Systemfehler bleibt. Der Sinn von Kiparskys Theorie kann nur sein, unabhängig vom Metrum das prosodische Gewicht der Silben zu bestimmen; danach nämlich, wie es in der Sprache vorgefun­ den wird. Wird dies aber dann doch - wie es gar nicht anders möglich ist - danach betrachtet, wie bestimmte Silbengewichte im Metrum von Bedeutung werden, ist es barer Unsinn, von vier, fünf oder sieben Ak­ zentgraden zu sprechen; denn metrisch relevant sind nicht vier, nicht fünf, nicht sieben, sondern nur betont und unbetont; und das macht 28 Paul Kiparsky: Überden deutschen Akzent. - In: Untersuchungen über Akzent und Intonation im Deutschen. - Berlin/DDR 1966 ( - studia grammatica, VII), S. 69-98. 29 Vgl. Paul Kiparsky: Stress, Syntax and Meter. - In: Language 51 (1975), S. 576-616. 30 Küper, S. 192, nennt Kiparskys Theorie »einen bedeutenden Fortschritt auf dem Gebiet der Metrik«.

Akzent nicht gleich Akzentuierung

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noch allemal nur zwei. Das Problem, die Wahrnehmung vielfältig abge­ stufter Silbengewichte mit der Wahrnehmung ihrer Binarität in den akzentordnenden Versen theoretisch zusammenzuzwingen, ist nicht so aus der Welt zu schaffen, daß man die Binarität einfach leugnet und bis vier oder sonstwohin zählt. Wagenknechts Grundregel ist dabei nichts als die Umrechnungsanweisung solcher mehr als binärer Werte ins bi­ näre System. Nur bleibt wiederum, wenn die Werte nicht vorweg einem binären System angehören sollen, dunkel, weshalb sie dann überhaupt binär umzurechnen seien. Wenn die Silben sprachlich fest nach mehr als zwei Graden unterschieden wären, bliebe unerklärlich, weshalb sich nicht ein Versbau entwickelt hat, der diese mehreren, nicht nur zwei Grade versifikatorisch regelt: da doch die Sprache gar nicht mit diesen zwei Graden umgehen soll. Daß solche Theorie aufkommen und dann allgemein anerkannt werden konnte, beweist wohl, daß die Metriker weiter als bis drei zählen können, aber leider auch, wie wenig ihnen das dazu verholfen hat, etwas über die Grundlagen ihrer Wissenschaft aus­ zumachen. Die Frage, weshalb der Akzent zum prosodisch relevanten Merkmal erst in Verbindung mit einem festen Muster wie der Alternation wer­ den konnte, verlangt es also noch einmal, auf der prosodischen Ebene zu verfolgen, weswegen der Akzent in der prosodischen Bestimmung von wirklich jeder einzelnen Silbe defizient bleiben muß - weswegen er seinen metrisch erforderten Dienst nur unvollständig tun kann. Pho­ netisch ist der Akzent bestimmt als die Hervorhebung einer Silbe: Bei gesprochenen Wörtern, die aus mehreren silbischen Einheiten bestehen, pflegt eine Lautgruppe durch irgendeine Art der Hervorhebung über die an­ deren hinauszuragen und sie damit gleichsam zu übergreifen; sie ist dann das beherrschende Glied, die übrigen sind die beherrschten Glieder. Durch die unterschiedliche Sprechstärke ergibt sich somit eine dynamische Abstufung der Glieder, eine Über- und Unterordnung, ein kleines dynamisches System [■ ■

Die Wahrnehmung des Akzents ist dabei keineswegs an die Lautstärke oder Betonungsstärke gebunden; wie diese sind »Tonhöhe, Stimmfarbe, Präzision der Lautbildung, Dauer«3132 gewöhnlich, aber auch nicht un­ verzichtbar Teil der Konstellation von Merkmalen, die man zu dem Phänomen Akzent zusammenfaßt. »Durch welche phonetischen Maß­ nahmen der Sprechende einen Wortteil hervorhebt, ist ihm vom Sprachgebilde her nicht vorgeschrieben, sondern nur daß er hervor­ 31 Otto von Essen: Allgemeine und angewandte Phonetik. 5., neubearb. u. erw. Aufl. - Berlin/DDR 1979, S. 183. 32 von Essen, S. 183.

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Zur Prosodie

heben soll.«33 So wenig ist der Akzent akustisch dingfest zu machen, daß Otto von Essen folgende - wenn auch zuletzt nicht stringent for­ mulierte - Unterscheidung zwischen Akzent und Akzentuierung trifft: Meistens wird der Begriff »Akzent« mit »Hervorhebung« oder »Betonung« gleichgesetzt. Es wäre gut, wenn man die Begriffe trennte und »Akzent« aus­ schließlich für sprachwissenschaftliche Belange reservierte. Hervorhebung und Betonung sind Tätigkeiten des Sprechenden, also phonetische Vorgänge, Akzent ist eine sprachliche Forderung, einen gewissen Wortteil hervorzuhe­ ben, zu »betonen«. Allenfalls könnte man »Akzentuierung« als sinnfällige Ausführung eines sprachlich geforderten Akzents akzeptieren.34

Wichtig ist dabei die Unterscheidung; die terminologische Not, in die sie gerät, zeugt nur von der großen Schwierigkeit, das hier Unter­ schiedene triftig zu trennen. Statt »eines sprachlich geforderten Ak­ zents« - nach der gegebenen Definition hieße das: einer sprachlich geforderten sprachlichen Forderung - müßte es etwa richtiger heißen: der sprachlichen Forderung, die von einem Akzent ergeht, beziehungs­ weise die er ist. Zu trennen sind Akzent und Akzentuierung, so schwer der Wortbedeutung der letzteren nach auch vorzustellen ist, wie ihr Ergebnis nicht der Akzent sein soll; und umgekehrt von jenem, wie er anders denn durch Akzentuierung sich ergeben soll. Aber diese erzeugt nicht erst den Akzent; und er ist nicht gleich dem, was sie erzeugt. So tief ist er in die Sprache eingesenkt, daß er des Betonens, seiner laut­ lichen Markierung nicht bedarf, um dennoch Akzent zu sein. Er ist so uneindeutigen Wesens, daß er Hervorhebung ist unabhängig vom Akt der Hervorhebung. Die Hervorhebung, die er ist, scheint wohl ver­ wandt, ist aber nicht identisch mit der der Akzentuierung; beide ak­ zentuierend, und daher so leicht für dasselbe zu erachten; aber beide unterschiedlichen Bereichen von Akzent zugehörig, oder schärfer noch: selber unterschiedliche Arten von Akzent. Nur so ist ihre Trenn­ barkeit, von der die phonetische Einsicht auszugehen zwingt, zu den­ ken. Hervorhebung aber ist der Akzent, wenn auch von der des Ak­ zentuieren unterschieden, gleichwohl. Als sprachliche Forderung, wie ihn von Essen hilfsweise nennt, ist er zugleich mehr als eine Forde­ rung. Denn die Forderung ergeht von der Sprache an den, der mit ihr umgeht, sie spricht oder sie hört. So wird der Akzent, und wäre es nur gleichsam fordernd, doch als solcher wahrgenommen. Nicht als eine Betontheit durch Lautstärke oder ähnliches, obwohl er sich mit ihr verbinden kann, und auch nicht erst durch sie. Aber dennoch als eine eigene, der Silbe geltende Hervorhebung, ihre Schwere. Der Akzent ist demnach sprachliche und insofern prosodische Größe unabhängig da­ 33 von Essen, S. 184. 34 von Essen, S. 184.

Akzentsystem prosodisch defizient

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von, ob er sprachlich, d. h. phonetisch realisiert wird: ob Akzentuie­ rung hinzutritt. Die Bedeutung dessen für die Verstheorie liegt nach den voranstehenden Ausführungen auf der Hand; ich werde es weiter unten noch einmal heranzuziehen haben. Die andere entscheidende Eigenart des Akzents ist die dialektische Bindung an sein Umfeld; insofern er eine Silbe hervorhebt, hebt er sie notwendig gegen die umliegenden Silben hervor. Akzent kann dem­ nach nicht ebensowohl neben Akzent liegen wie Nicht-Akzent neben Nicht-Akzent. Das heißt, die Silbenklassen schwer und leicht sind nicht mehr kongruent, sondern unterliegen unterschiedlichen Bedingungen, die sich nicht in dem Unterscheid der Größe erschöpfen. Dies gilt nach der zitierten Definition zunächst aber nur jeweils innerhalb des »dy­ namischen Systems< Wort, und sofern dies mehr als eine Silbe umfaßt. Daraus ergibt sich das bekannte Problem der Monosyllaba. Sie können per definitionem nicht für sich genommen einen Akzent tragen - iso­ liert gesprochen klingt z. B. »Gott« nicht notwendig schwerer als etwa »von« -, sondern erst in Verbindung beziehungsweise im Widerstreit mit anderen Wörtern; darauf beruht Moritz’ Regelwerk einer festen deutschen Prosodie. Unzählige Beobachtungen aber beweisen gegen Moritz’ Versuch, daß auch in Verbindungen mehrerer Monosyllaba die Akzentverteilung keineswegs fest ist, wie ich noch an einem Beispiel, das Moritz verwendet, belegen werde. Allerdings können durchaus mehrere Monosyllaba in ein dynamisches System zusammentreten; z. B. hat die Kombination »von Gott« unüberhörbar die gleiche Ak­ zentverteilung wie etwa das zweisilbige »vermocht«, nämlich leicht­ schwer. Im Akzentsystem also sind prosodisch bestimmt ausschließlich die akzenttragenden Silben; und außerdem die ihnen unmittelbar be­ nachbarten, falls diese innerhalb desselben dynamischen Systems oder innerhalb eines sie seinerseits eindeutig prosodisch bestimmenden be­ nachbarten liegen. Alle anderen Silben sind prosodisch unbestimmt. Das Fehlen des festen Silbenmaßes - nicht Versmaßes - liegt in dieser Defizienz des Akzents begründet. Diese Überlegung war notwendig, um die eine, die prosodische Seite der logischen Relation zu erhellen, die ich oben hergeleitet habe, daß nämlich der Akzent zum prosodisch relevanten Merkmal werden konnte nur, wenn das alternierende Muster vorausgesetzt ist. Unver­ sehens wird dadurch aber auch die eminente Funktion dieses Musters für sich genauer erkennbar. Denn ihren Umriß bestimmt ex negativo der Mangel des Akzents: Er konnte prosodische Dignität erst erlangen, wenn seine prosodische Defizienz ausgeglichen wurde; durch eine Art Außenskelett: durch das alternierende Muster. Nicht Akzente bilden das Muster, sondern das Muster bildet Akzente. Hätten nur die sprach­ lichen Akzente, die in den Silben, aber eben nicht in allen Silben ge-

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Zur Prosodie

geben sind, für sich das Muster zu bilden, es käme nie zum kompletten Muster; insofern jedoch das Muster in den Versen komplett vorliegt, ist es notwendig selber dasjenige, wodurch die fehlenden Akzente ergänzt werden. Es gleicht die Defizienz des Akzents als eines prosodischen Merkmals durch eigene prosodische Wirksamkeit aus, eine Wirksam­ keit, die derjenigen, die sie ausgleicht, nämlich der des sprachlichen Akzents, verwandt sein muß. Das alternierende Muster, nach dem sich laut Opitz alle Schemata einzurichten haben, wirkt also ein nicht allein auf diese - versifikatorisch -, sondern ebenso auf die Sprache selber prosodisch. Damit aber ist nunmehr bereits dasjenige bezeichnet und erkannt, was jene Verbindung von Metrum und Sprache, von versifikatorischer und prosodischer Ebene leistet, ja selber jene Verbindung ist, die bis jetzt unerklärlich geblieben war und unerklärt alle Einsicht in die Eigenart der Verse, die dem alternierenden Muster unterliegen, behindert und verbogen und auf Irrtümer geführt hat. Es ist das Zen­ trum einer endlich gültigen Verstheorie. Um es, das vorläufig so nur umschriebene Zentrum, zu erläutern und zu belegen zugleich, werde ich mich eines Beispiels bedienen, das Mo­ ritz in einem anderen Zusammenhang anführt, nämlich dem - objektiv verwehrten - Nachweis eines festen Silbenmaßes im Deutschen. Bald ist aber nicht an sich kurz, [.. .] wie man sieht, wenn man es in eine andre Verbindung bringt, als: Bald ist nun dein Schmerz vorüber, wo bald ist einen Trochäus - - bildet, der nicht willkürlich angenommen, son­ dern in der Zusammenstellung von bald ist gegründet seyn muß, weil das Gegentheil davon, wenn ich bald ist in einen Jambus verwandle, und etwa sage: Bald ist dein Schmerz vorüber, eine unvermeidliche Härte mit sich führt.35

Eine Härte wohl; aber der Vers geht über ihr nicht kaputt. Er mag ein schlechter Vers, Vers mit einer gewissen Härte sein, aber ist gleichwohl Vers. Anders nämlich könnte es zu der Härte gar nicht kommen, die daraus sich ergibt, daß »Bald ist« jambisch fallen soll. Dieses Sollen überhaupt ist erst Leistung des Verses; in Prosa würde es sich nicht ergeben können. »Bald« und »ist« können also, wie die beiden Versio­ nen des Verses zeigen, selbst in ihrer Verbindung jedes entweder leicht oder schwer sein. Wodurch aber werden sie jeweils darin bestimmt? Denn bestimmt sind sie; es ist nicht anzusetzen, »bald ist« wäre jeweils innerhalb beider Beispielverse unbestimmt und eben nur deshalb ein­ mal als Realisation einer jambischen, einmal einer trochäischen Ele35 Moritz, S. 118 f.

Sprache und Muster

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mentefolge zu setzen, nämlich weil es davon unberührt bliebe und neutral. Jenseits der Verse, d. h. in einem Prosasatz, mag es unbestimmt sein, ja muß es unbestimmt sein, um in einem Vers so, in einem an­ deren anders verwendet werden zu können. Aber sobald es im Vers steht, ist es nicht länger unbestimmt; sonst könnte sich das Phänomen der Härte nicht ergeben, da Unbestimmtes keinen Widerstand gegen eine Bestimmung böte. Es findet also wirklich eine Verwandlung an der Wortfolge »bald ist« statt, von schwer-leicht in leicht-schwer; Moritz schreibt mit Recht davon, daß er sie beim zweiten Beispielvers »in einen Jambus verwandle«. Die Verwandlung aber kann nicht in der Sprache selbst vollzogen sein; es ändert sich nichts an den Wörtern. Nicht einmal, daß das auf »ist« folgende Wort wechselt und statt »nun« im zweiten Fall »dein« lautet, kann sie bewirken, denn von beiden wäre durch ein ähnliches Experiment, wie es Moritz an »bald ist« durchführt - und das entgegen seinen Wünschen ausgeht -, nachzu­ weisen, daß sie weder für sich noch in der Zusammenstellung mit »ist« prosodisch fest sind. Vom Schema als solchem kann die Verwandlung jedoch auch nicht gesteuert sein, denn Moritz gibt keines dekretorisch an, nach dem der Vers angeordnet sei. Er entfernt ein Wort aus dem Vers und verwandelt damit zwei andere, die vor diesem einen liegen, in ihrem Gewicht. Was so automatisch vor sich geht und so selbstver­ ständlich ist, daß er es gar nicht erst erläutert und es wohl auch heute zunächst niemandem verwunderlich oder erläuternswert erscheint, ist das Folgende: Die unvermerkte Voraussetzung ist das alternierende Muster. Prosodisch durch sprachlichen Akzent bestimmt sind »dein Schmerz« und »vorüber« als leicht-schwer und leicht-schwer-leicht. Nach dem Alternationszwang des Musters muß nun die Silbe vor »dein« wieder schwer, die nächste Silbe davor wieder leicht, und - in der er­ sten, längeren Version des Verses - die nächste Silbe davor dann wieder schwer genommen werden. Das ist aber eine rückläufige, also vorerst nur nachträglich logische Konstruktion; hörbare Wirklichkeit kann sie nur sein, wenn tatsächlich das Gewicht der ersten Silben im Vers, »bald« und »ist«, abhängig davon wahrgenommen wird, wie der Vers danach weiterläuft. Wenn also das prosodisch bestimmtere Ende des Verses tatsächlich auf dessen prosodisch unbestimmteren Anfang zurück­ wirkt. Ich habe das Experiment mehrfach, vor unterschiedlichen Hö­ rern angestellt und habe beide Fassungen des Verses ohne jedes Skandieren, und ohne eine der sich wandelnden Silben irgendwie gegen die andere phonetisch zu erheben, laut vorgesprochen. Das Ergebnis war jedesmal, daß »bald ist« in der ersten Version des Verses als schwer­ leicht und in der zweiten Version als leicht-schwer gehört wurde. Also hatte wirklich der Schlußteil des Verses auf die Wahrnehmung des er­ sten Teiles zurückgewirkt; war wirklich die Wahrnehmung des pros-

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Zur Prosodie

odischen Gewichts der ersten Silben von dem der nachfolgenden, und war sie also notwendig durch Vermittlung des alternierenden Musters bestimmt. Das aber hilft nun schließlich dazu, den Status von Alterna­ tion gültig neu zu erkennen. Denn es bedeutet unabweisbar nicht we­ niger, als daß das alternierende Muster nicht bloß theoretische Vor­ schrift auf Schema- und Regelebene ist; sondern daß es an der prosodischen Bestimmung der im Vers gedichteten Sprache mitwirkt. Es bewirkt die Verwandlung nicht lediglich in der Abstraktion des Sche­ mas, sondern aktiv auf der Ebene der Sprachwahrnehmung selbst.

IV

D er Status von A lternation

Sprache und Schema

Verse sind nach dieser Einsicht also bestimmt nicht nur durch Schema und Sprache, wie es die Metriker bis heute glauben; sondern außerdem durch das, auf diesen beiden Ebenen wirksame, alternierende Muster auch direkt. Ohne es wären sie keine Verse. So hat die bisherige metri­ sche Theorie sie zwar als Verse hinnehmen müssen, aber nicht erklären können, da ihr die Wirkung der Alternation als einer auch prosodisch aktiven verborgen blieb. Nur jedoch aufgrund dieser aktiven Wirk­ samkeit der Alternation ist die Kluft, die anders zwischen Sprache und Schema klaffte, zu schließen. Und nur so auch läßt sich jetzt die oben logisch hergeleitete Relation real einlösen: Alternation zum einen und der Akzent als prosodisch relevantes Merkmal eines die Silben nach Größen ordnenden Versbaus zum anderen treten historisch deshalb zum selben Zeitpunkt auf, weil erst die prosodische Einwirkung des in sich stabilen Musters jenen Silben prosodische Bestimmtheit verleiht, die in ihrem sprachlichen Akzent, aufgrund dessen allgemeiner Eigen­ art, prosodisch unbestimmt blieben. Die so gegebene neue Bestimmung des Status von Alternation, da sie die grundlegende Ebene des Versbaus betrifft, die nämlich der Konsti­ tution von Versen, muß Auswirkungen haben in allen weiteren und noch den kleinsten Bestimmungen dessen, was so konstituiert wird. Die metrische Theorie konnte dieses Konstitutum, die Verse, ohne klare Erkenntnis seiner Konstitutionsbedingungen unmöglich selber klar er­ kennen; das wäre an wahrhaft unzähligen falschen Theoriebildungen nachzuweisen. Das freudlose Unterfangen solchen Nachweises werde ich mir und den Theoretikern für jetzt ersparen und es verschieben auf die weitere Ausführung des hier nur propädeutisch zu Gebenden. Die­ ses verlangt nun vielmehr die genauere Bestimmung, wie die aktive Einwirkung des alternierenden Musters auf die prosodischen Merk­ male überhaupt zu denken ist; und, verbunden damit, wie sie bis jetzt verborgen bleiben konnte. Sie ist nicht verborgen geblieben. Die frequente Laienrede davon, daß irgendeine Silbe in einem bestimmten Vers schwer werde, daß er sie schwer mache, oder meistens: daß er sie betone; und auch die wissen­ schaftlichere Rede vom metrischen oder vom Versakzent, die Wagen­

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Der Status von Alternation - Sprache und Schema

knecht mit gutem, wenn auch eben nicht mit vollem Recht zurück­ weist,3637auf welcher aber regelrechte Systeme der prosodischen Versanalyse und, wie das von Vladimir Nabokov in seinen Notes on prosodyr verwendete, sehr wohl metrisch sinnvoll aufbauen konnten, diese Vorstellung eines Versakzents meint nichts anderes. Sie ist zwar falsch und als Redeweise durchaus zu vermeiden, weil es nicht der Vers oder das Schema ist, das betont; hat aber ihr Recht so weit, als tatsächlich nach 1624 - über das Gewicht bestimmter Silben erst ihre Stellung im Vers bestimmt, und zwar so, daß sie nicht nur für schwer genommen, sozusagen im Schema bloß für schwer notiert sind, sondern wirklich für schwer wahrgenommen werden und in diesem, dem einzig triftigen Sinne wirklich schwer sind; ohne auch daß skandierendes Lesen dafür beispringen müßte - dies sei hier jeweils vorausgesetzt. Wahrzuneh­ men ist von der Wirkung des Musters ja nur, daß überhaupt bestimmte Silben, die es in Prosa nicht täten, in dem jeweiligen Vers einen Akzent tragen, ihn also im Vers und, wie es scheint, von ihm erhalten. Dieses Phänomen ist dem naiven Bewußtsein - und der metrischen Theorie bis heute - nicht anders erklärlich, als indem man dieses Gewicht ent­ weder der Silbe selbst zuschreibt oder als Leistung und Wirkung dem Schema. Beides, obgleich es sich wechselseitig ausschließt, hat seine Wahrheit; aber eben beides und deshalb keines die ganze oder auch nur die halbe. Das Gewicht kann der Silbe wahrhaft zugeschrieben werden, weil sie im Vers wahrnehmbar den Akzent trägt. Da er ihr jedoch nur dort, nicht ihr für sich inhäriert, sondern verloren ist, sobald ihr Ge­ wicht im Prosasatz gehört würde oder mitgehört wird, hat die feinere Wahrnehmung ihr Recht, daß der Silbe jenes Gewicht von außen, von einer ihr externen Ebene zukommt, die man unumgänglich zunächst mit der des Versschemas identifiziert. Daran ist wahr, daß sich das Gewicht erst erstellt vermittelt durch einen weiteren Zusammenhang, als es die bloß einzelne Silbe ist, einen Zusammenhang, der sich auch im Versschema niederschlägt und der durch dieses vermittelt sich auf die sprachliche Ebene, und das heißt auch: auf die einzelne Silbe, aus­ wirkt. Das alternierende Muster ist dieser Zusammenhang, auf beiden Ebe­ nen wirksam, der prosodischen und der versifikatorischen. Solange es nicht auch als von beiden abgetrennt erkannt wird, muß seine spezifi­ sche Leistung falsch einer von jenen beiden Ebenen zugeschrieben wer­ den. Das Dilemma der metrischen Theorie rührt daher. Auch die kleinere Beobachtung, daß es keinem Metriker gelingt, die beiden Be­ reiche Sprache und Metrum, über deren Trennung er sich noch so ge­ 36 Wagenknecht, S. 19. 37 Vladimir Nabokov: Notes on Prosody. - London 1965.

Verhältnis zu Schema und Sprache

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nau mag Rechenschaft ablegen können, nicht doch verschiedentlich zu vermischen,38 hat darin seinen Grund: Das alternierende Muster wirkt auf beiden Ebenen. Es wahrhaft ist die Vermittlung zwischen ihnen, die von der bisherigen Theorie nicht zu leisten war. Das Verhältnis, in dem das alternierende Muster zum Schema, wie auch das, in dem es zur Sprache steht, läßt sich an Hand noch einmal des aus Moritz genommenen Beispiels darlegen. In dem Vers Bald ist nun dein Schmerz vorüber geben die letzten drei Wörter prosodische Bestimmungen vor: »vorüber« als dreisilbiges Wort, in welchem die mittlere Silbe herausgehoben ist; »dein Schmerz« als eine enge Verbindung zweier Monosyllaba, ein dy­ namisches System, in welchem das Substantiv herausgehoben ist. Ge­ meinsam ergeben sie eine Abfolge, die abstrakt, auf Schema-Ebene, so zu notieren ist:------Die übrigen Silben, »Bald ist nun«, als Bestand­ teile von Monosyllaba jeweils zugleich Wörter, sind prosodisch zu­ nächst unbestimmt. Das Schema wäre auf dieser Stufe - einer selbst­ verständlich nicht genetischen, sondern diskursiv anzunehmenden - zu notieren: X

X

x

w -

v - VZ«

d. h. es hält dort, wo die Silben prosodisch nicht zureichend in sich oder gegeneinander bestimmt sind, lediglich die Zahl der Elemente fest. Das alternierende Muster, wenn man es für einen Moment logisch isoliert, legt nun gerade nicht irgendeine Zahl von Elementen fest, sondern stellt einen virtuell unendlichen Strang dar, der in sich nur als die Folge von Nicht-Akzent auf Akzent bestimmt ist; es ist insofern, in unzulässig absoluter Redeweise, reine Struktur. Auf dieser Struktur oder, um beim alten Wort zu bleiben, auf diesem Muster ist das bis jetzt gegebene Schema nur auf eine Weise zu plazieren: X X X ~ ----------------

Das Muster wirkt sich dann so auf die Sprache aus, daß die Silben, die von den ersten drei Elementen repräsentiert wurden, als die im Ge­ wicht abwechselnde Folge schwer-leicht-schwer wahrgenommen wer­ den, wodurch sich die Silben des Verses zu einer bruchlos zwischen schwer und leicht abwechselnden Reihe schließen. Demnach kann auch das Schema nicht anders notiert werden als so: 38Das Phänomen vermerkt auch Küper, vgl. S. 36f. mit Anm. 62 und S. 152 mit Anm. 1.

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Der Status von Alternation - Sprache und Schema

Es ist selbstverständlich, daß die Vorgänge bei der Bildung und der Wahrnehmung von Versen nicht in dieser Art als Reihenfolge ablau­ fen. Bereits etwa die Setzung der Wörter »dein Schmerz vorüber« ist ja vorab durch Schema und alternierendes Muster bestimmt. Aber das Zusammenwirken von Sprache, Schema und Muster ist auf diese Weise in seinen Grundzügen gefaßt. Über das hinaus, was das Schema in diesem Beispiel an Funktion trug, bleibt allgemein das Schema unter der Herrschaft des alternieren­ den Musters der Ort nicht allein der zahlenmäßigen, sondern generell sämtlicher Bestimmungen, die über die vom alternierenden Muster vorbestimmte Abfolge der Elemente hinausreichen. Also nicht nur die Anzahl der Silben oder die Anzahl der Akzentstellen im Vers, sondern ebenso, ob der Vers mit einem schweren oder einem leichten Element beginnt und auf welches er endet, übrigens auch, ob und gegebenenfalls wo im Vers zwischen zwei Akzentstellen mehr als nur eine Position ohne Akzent anzusetzen ist, und natürlich all das, was auch sonst im Schema zu notieren war, wie vornehmlich etwa Reimbindung und Zä­ surstellen. Nur was die Art der Elementfolge insgesamt betrifft, ist das Schema nicht mehr als Träger von Bestimmungen anzusehen, sondern lediglich als Widerschein oder Projektionsfolie der vorweg gegebenen, nämlich von Bestimmungen, gegeben durch das Apriori des alter­ nierenden Musters. Auch die Rolle der Sprache ist über das im Beispiel Gefaßte hinaus noch zu erweitern, wo sie, selbst was nur das grundsätzliche Zusam­ menwirken mit Schema und Muster anbelangt, zu stark vereinfacht und um etwas Entscheidendes verkürzt war. Ein Blick auf den zweiten, den »verwandelten* Vers bei Moritz wird dabei helfen. In dem Vers Bald ist dein Schmerz vorüber muß nämlich die »unvermeidliche Härte« erklärt werden, die mit sich führe, daß »bald ist« jambisch fallen soll. Auch wenn sie vielleicht nicht so unvermeidlich sein mag wie offenbar für Moritz - in meinen Lesungen haben verschiedene der Hörer sie nicht empfunden -, muß sie doch als mögliche Härte erklärt werden, stellvertretend auch für die grundsätzliche Möglichkeit, daß sich, wie außer Zweifel steht, Härten in Versen ergeben können. Nach meiner Erläuterung des ersten Beispielverses könnte es zu einer Härte gar nicht erst kommen, da vorläu­ fig angesetzt war, »bald ist« sei für sich genommen prosodisch unbe­ stimmt. Dieserart könnten die beiden Wörter der quasi nachträglichen prosodischen Bestimmung durch das alternierende Muster keinen Wi­ derstand bieten, und es ergäbe sich auch keine Härte. Da sich diese aber

Widerstand zwischen Muster und Sprache

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ergibt, folgt, daß die prosodisch unbestimmten Silben nicht völlig un­ bestimmt sind. Es mag also sein, daß die Silben »bald ist« - auf jeden Fall für Moritz - von sich aus zum trochäischen Fall inklinieren. Den­ noch ist diese Neigung zu schwach, als daß sie nicht durch Einwirken des alternierenden Musters gebrochen werden könnte, verwandelt. Aber unterhalb dieser Einwirkung des Musters, zweifellos einer Art Akzent, bleibt die andere Art Akzent hörbar. Daß es zu einer Härte kommt, heißt, daß beide und getrennt voneinander aktiv sind. So daß auf Ebene der Sprache die Silben genauer danach einzuteilen wären, ob sie prosodisch für sich, wenn auch in der Zusammenstellung mit an­ deren, bestimmt sind, oder so weit unbestimmt, daß durch das alter­ nierende Muster bestimmbar, oder endlich vollständig darauf angewie­ sen, von ihm die Bestimmung zu erhalten. Hier sicher wird man von einem Kontinuum ohne feste Marken auszugehen haben, von pros­ odisch genau bis prosodisch nicht bestimmt - jeweils von den Silben, der Sprache für sich genommen. Die Möglichkeit, daß es zu Härten kommt, belegt aber neben der abgestuften prosodischen Bestimmtheit von Silben noch einmal, daß auch wirklich das alternierende Muster aktiv auf die Sprache einwirkt. Nur so kann der Widerstand zwischen ihm und der Sprache entstehen: wenn beides auf das Gewicht der Silben einwirkt. Zwischen der Spra­ che und einer bloßen Abstraktion der in ihr realisierten Gewichte, für das die metrische Theorie das Schema nehmen mußte und doch nicht durfte, kann per definitionem kein Widerstand herrschen. Beidem fehl­ te die Ebene, auf der der Widerstand entstehen, wo sie denn hätten aufeinandertreffen können. Da aber, sozusagen durch das Schema hin­ durchgreifend, das alternierende Muster als etwas Aktives und ebenso auch die Sprache für sich auf die Akzentverhältnisse einwirken, ist damit die Erklärung für die Möglichkeit jener Spannung gegeben, die der metrischen Theorie bis jetzt nur eine Grauzone jenseits ihres Mo­ dells sein konnte. Und alles unüberblickbare Reden von »Tonbeugung« und davon, daß ein Vers hinke, und von ähnlichem hat in den so ge­ faßten Verhältnissen seine reale Begründung. Daß dieses Reden in den allermeisten Fällen jedoch ungerechtfertigt ist und dem Gedichteten Unrecht und unabsehbaren Schaden tut, wird noch zu zeigen sein; un­ gerechtfertigt nämlich in Verhältnissen, wo das alternierende Muster nicht hinzutreten, nicht aktiv werden dürfte. Zunächst jedoch ist etwas genauer darzutun, wie das alternierende Mu­ ster wirkt, und des weiteren, wenn auch nur in aller Vorläufigkeit und Knappheit, wie es diejenige Wirkung, welche dies Muster offensicht­ lich ausübt, grundsätzlich geben kann; wo sie ihren Ort hat. Was sie hervorbringt, ist ein Akzent, ist die Hervorhebung einer Silbe ganz

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Der Status von Alternation - Sprache und Schema

analog zu der, die sich bereits in der Sprache selbst findet. Und dieser letztere Akzent entsteht nicht strikt phonetisch durch Betonung, son­ dern durch »feste Regelung vom Sprachgebilde her«,39 phonologisch. Der Ort seiner Entstehung ist also nicht physikalisch meßbarer Para­ meter einer jeweiligen lautlichen Realisation, sondern liegt im Bereich der Sprachkompetenz. Der kompetente Sprecher einer Sprache kennt wie alles andere, das die Sprache ausmacht, so auch die Akzentstellen, er nimmt sie als solche wahr, in seiner Wahrnehmung realisieren sie sich. Die Eigenart dieses Hörens oder dieses Wahrnehmens mag, soweit dies schriftlich und ohne Sprechen und Hören möglich ist, ein Beispiel verdeutlichen, das ich einem Gedicht von Barthold Hinrich Brockes entnehme. Und fand von Kräutern, Gras und Klee In so viel tausend schönen Blättern Aus dieses Weltbuchs A B C So viel, so schön gemalt, so rein gezogne Lettern, Daß ich, dadurch gerührt, den Inhalt dieser Schrift Begierig wünschte zu verstehn.40 Die drei Wörter und Silben »A B C« in dem hier als drittem zitierten Vers sind zweifellos zu messen als die Folge schwer-leicht-schwer, ob­ wohl keiner der Buchstaben-Namen geringeres Gewicht oder größeres Gewicht von sich aus haben kann als die beiden anderen. Das B, das hier leicht ist, würde, wenn gedichtet wäre: »B C D«, schwer klingen, und jedem anderen Buchstaben ginge es je nach Stellung ebenso. Die drei Silben A, B und C sind denkbar gleichwertig, und dennoch, auch wenn der Vortragende jede Hervorhebung phonetischer Art vermeidet, ergibt sich das wechselnde Muster, nach dem A und C Akzente tragen und das B dazwischen nicht. So wird noch einmal besonders deutlich wenn auch hier im Schriftlichen nicht so sehr wie im mündlichen Vor­ trag -, daß Akzente auf keinen Fall für eins mit Lautstärkebetonungen zu erachten sind; die Akzente setzen sich vollständig auch ohne diese durch. Akzente unterscheiden das in diesem Fall augenscheinlich für sich genommen prosodisch ununterscheidbare Material, sobald es in Verbindung tritt. So, durch seine Stellung im Vers, aber nicht im Vers allein, ist es nicht länger prosodisch unbestimmt. Selbst wenn man die Silben aus dem Vers Brockes’ isoliert und gewissermaßen zu einem eigenen kurzen Vers macht und zugleich zu einer bereits auch der nor­ 35 von Essen, S. 185. 40Barthold Hinrich Brockes: Das Blümlein Vergißmeinnicht, V. 11-16. - In: Deutsche Dichtung im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Adalbert Elschenbroich. München 1960, S. 6.

Das wahrnehmende Subjekt

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malen Prosa zugehörenden Einheit, »/A B C/«, erhalten sie, wiederum bei der gleichmäßigsten Aussprache, den alternierend wechselnden Fall. Ohne willentliche Betonung, die selbstverständlich jeweils noch hinzutreten kann, unterliegt doch dem A und dem C ein gewisses Ge­ wicht, das vielleicht in keiner irgend gearteten akustischen Messung zu erscheinen vermöchte, aber dem Gehör oder der Wahrnehmung den­ noch sich mitteilt. Das hilft, den Ort, an dem das alternierende Muster prosodisch wirksam sich zeigt, jedenfalls systematisch anzugeben: Es ist das wahr­ nehmende Subjekt. Was dem Material, den Silben nicht objektiv für sich inhäriert und doch an ihnen wahrgenommen wird, muß als Lei­ stung im Subjekt sich vollziehen, im Wahrnehmenden; - und zwar im Subjekt, nicht im »Sprecher«, wie es nach linguistischer Terminologie naheläge, einem um das hier Entscheidende verkürzten Begriff. Wie die Sprache selbst, sind Akzente, ob von der Sprache oder vom Muster gegeben, subjektiv und objektiv zugleich: nur zu denken als vermittelt durch das der Sprache mächtige Subjekt; und aber ihm gegenüber auch objektiv, selber die Subjekte vermittelnd, der Willkür des Einzelsub­ jekts auch entzogen und dies andererseits der seinen unterwerfend. Das alternierende Muster und seine Betonungsstruktur muß nun auf einer ähnlichen Kompetenz beruhen im Subjekt wie derjenigen der Sprache. Es muß im wahrnehmenden Subjekt fest vorgebildet sein, ähnlich zwar der Erwartungshaltung, wie sie die metrische Theorie schon länger zu ihren Erklärungsmodellen heranzieht; jedoch fest prädisponiert und nicht lediglich als das »Weiterwirken eines einmal erkannten Sche­ mas«,41 das beliebig in sich gestaltet, und nachdem es sich bereits in Versen wiederholt hat, von sich aus erst die Erwartung hervorruft, es werde sich in dieser jeweiligen Gestalt wiederholen. Von solcher er­ wartbaren Wiederholung einer bestimmten jeweiligen Gestalt, die sehr wohl mit Recht als das Schema festgehalten wird, ist das Muster gerade aufs schärfste abzutrennen. Vor jeder einzelnen Gestaltung von Versen und dem in ihnen sich Wiederholenden ist das Muster als solches im­ mergleich bereits gegeben; es ist nicht so sehr die Erwartung, es werde etwas wiederholt, als der Vollzug selber einer in sich vorgeprägten Wie­ derholung; es ist jenes Einschwingen, das Metrik immer wieder und ohne Recht allen Versen überhaupt zugrundeliegend gedacht hat, das aber nicht die Verse, sondern die Wahrnehmung des Subjekts prägt, und durch diese vermittelt erst die Verse, die es wahrnimmt. Und die Verse können und müssen sich nach ihm einrichten erst, nachdem die­ se Prägung der Wahrnehmung historisch sich herausgebildet hat. Die 41Vgl. Küper, S. 107 mit Anm. 11, wo er ältere Forschungsäußerungen dazu verzeichnet.

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Der Status von Alternation - Sprache und Schema

liegt als das Muster im Subjekt in gewisser Apriorität vor, um durch Signale, die von der Verssprache ausgehen müssen, aktiviert zu werden, den wechselnden Schlag aufzunehmen und vorauszusetzen zugleich, innerlich ihn wiederum und weiter und von sich aus auszuführen und die Verse damit erst zu solchen wirklich zu machen. Zwischen Vers und Versmuster besteht eine dialektische Beziehung; die Verse als die in ihnen gedichtete Sprache sind nicht objektiv für sich Verse oder rhyth­ mushaltige Rede oder ähnliches, sondern nur in Vermittlung mit dem alternierenden Muster, durch seine Aktivierung und andererseits seine aktive Rückwirkung. Ort der Vermittlung ist das wahrnehmende Sub­ jekt, ob nun Dichter oder Hörer oder Leser von Versen. In ihm ist das alternierende Muster in gleichsam apriorischer Gegebenheit, einer sel­ ber sehr wohl historisch erst entstandenen, anzunehmen. Und dies, ver­ bunden mit der Tatsache, daß das Muster nicht der Sprache direkt ver­ knüpft ist, da diese es keineswegs notgedrungen aktiviert, sobald sie laut wird oder sobald in ihr gedacht wird, zwingt dazu, dem Muster im Subjekt einen eigenen, von der Sprache separaten Bereich zuzuspre­ chen. Anders wäre das fakultative Einwirken des Musters auf die Spra­ che nicht zu denken; es könnte keine Prosa geben neben der Vers­ sprache.

V

D er Status von A lternation

Über Sprache hinaus

Als eigener Bereich aber muß das Muster sich zwingend auf lautliche Phänomene auch auswirken, wenn diese der Sprache nicht direkt ange­ hören. So ist es denn tatsächlich auch in der Musik längst geläufige und reflektierte Wirklichkeit: im Hören in Takten. Und zwar in Takten als den nach Akzentstellen fest vorstrukturierten zeitlichen Einheiten. Die feste Verteilung der Akzentstellen drückt sich darin aus, daß jede Takt­ art ihre sogenannten guten und schlechten Taktteile hat. Noten, die auf einen guten fallen, werden als hervorgehoben, Noten, die auf einen schlechten fallen, als nicht hervorgehoben wahrgenommen. Auch hier gilt, was an der Verssprache zu beobachten war: Die Noten auf den guten Taktteilen müssen nicht wirklich lauter gespielt werden, und dennoch nimmt man ihre Hervorhebung wahr. Sie wird auch hier von dem Betonungsmuster erwirkt. Synkopen etwa, Noten, die von einem schlechten auf einen guten Taktteil übergebunden und damit auf die Wahrnehmung der Betonungsstruktur verwiesen sind, nimmt man als solche wahr, nämlich als gleichsam hinkend von leicht auf schwer, selbst dann, wenn sie auf dem Klavier gespielt werden, obwohl dort die Stärke des Tons nicht von leicht auf schwer steigen kann, sondern phy­ sikalisch meßbar stetig abnimmt. Der Akzent des Tons im Takt also erstellt sich aufgrund des Betonungsmusters, nach dem sich die jewei­ lige Taktart richtet und das grundsätzlich dem alternierenden ent­ spricht, und unabhängig von den Lautstärkeverhältnissen. Weitere Be­ tonungen und Akzentuierungen können wie in der Sprache, nur au­ ßerdem noch durch eine Vielzahl dynamischer Vorschriften notierbar, hinzukommen, ohne daß aber damit die im Taktschlag sich widerspie­ gelnden sogleich aufgehoben wären. In Versen ist dies selbe Muster aktiv, das in der Musik unabweisbar und leichter in seiner vom Ton­ material und dem Schema, der musikalischen Notation, getrennten Stellung kenntlich sich auswirkt. Solche Verwandtschaft zwischen Versen und Musik, nämlich daß in ihnen dasselbe Muster wirkt, hat es im übrigen bedingt, daß sich Heuslers Taktmetrik herausbilden konnte und daß sie so großen und zwin­ genden Erfolg hatte. Bis heute ist diese Irrlehre nicht wieder vollkom­ men aus den Büchern verschwunden nach ihrem alle metrische Ein­ sicht dogmatisch verheerenden Siegeszug, obgleich sie bereits in vieler

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Der Status von Alternation - Über Sprache hinaus

Hinsicht kritisiert und zurück- und in die Schranken gewiesen, aber leider in der Regel nur modifiziert, also weiter virulent gehalten wurde. Noch immer west sie, alle metrische Erkenntnis gerade deswegen nach­ haltig verbiegend, weil sie nahe am Richtigen liegt und trotzdem voll­ ständig falsch ist, störend fort. Um nicht durch die hier behauptete Identität zwischen dem alternierenden Muster in der Verssprache und dem in den musikalischen Takten wirksamen scheinbar der Taktmetrik eine Fundierung zuzusprechen, werde ich sie an dieser Stelle kurz in ihrer Fundierung widerlegen müssen; die bekannteren Mängel wie die historische Willkür und den Viertakter-Wahn, so notwendig sie zu die­ ser Theorie gehören, lasse ich beiseite. Der musikalische Takt, in dem das alternierende Muster dem Material gleichsam von außen, nämlich im wahrnehmenden Subjekt, beigefügt wird so wie in der Verssprache, definiert sich über dieses Muster hinaus dadurch, daß die Taktteile zeitlich geordnet sind, daß sie jeder für sich das gleiche zeitliche Intervall einnehmen. Heusler übernimmt dies fe­ ste Zeitmaß aus dem musikalischen Hören und setzt es von vornherein als den Versen in gleicher Weise zugrundeliegend an; von vornherein, nicht also der Sprache oder Verssprache abgehört, von der er immerhin anerkennt, sie weise »irrationale (inkommensurable) Zeitverhältnis­ se«42 auf. Das wiederkehrende feste Zeitmaß ist bei ihm, was es in der deutschen Sprache auch keinesfalls sein könnte, nicht die More, also diejenige relative Zeitgröße, die wie in den antiken Sprachen an den Silben und insofern prosodisch gewonnen wäre; sondern ist erst dedu­ ziert vom ganzen Takt her, einer zeitlichen Einheit, die zwar nirgends in einem Vers vorgegeben oder angegeben ist, aber dafür vom Metriker, der es eben weiß, erst einmal vorweg angesetzt wird.43 Laut Definition beginnt dann der Takt jeweils mit einem Iktus, einer Betonung, die von einer Silbe realisiert sein muß. Der Abstand von diesem zum nächsten Iktus wird zu einer festen unterteilbaren Zeiteinheit erklärt, analog den musikalischen Verhältnissen; die Silben dann je nach der Anzahl, in der sie sich zwischen den Ikten finden, mit einem Anteil jener Zeitein­ heit ausgestattet, so daß zuletzt - nachträglich - das vorweg angestrebte und als wiederkehrend gleiches vorausgesetzte Zeitmaß der Takte aus der Summe der unter den Silben vergebenen Zeitanteile wieder heraus­ kommt. Bei allem Zirkelschlüssigen der Konstruktion, das von vorn­ herein den unerbittlichen schlechten Glauben an diese Art Metrik hät42 Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. - Berlin 1925-29, 2. Aufl. 1956, Bd. I, S. 24. 43 Heuslers unbekümmert dogmatische Setzung des festen Zeitmaßes ist offen­ kundig, wo er unvermittelt den Pendelschlag einführt; vgl. Heusler I, S. 22 f.

gegen Taktmetrik

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te verbieten müssen, ist deutlich, daß die Taktmetrik auf der Verknüp­ fung der gleichmäßig fallenden Akzente des alternierenden Musters mit festen Zeitintervallen basiert. Diese Verknüpfung ist willkürlich und ungültig, obwohl der gleichmäßige Akzentfall nach dem Muster, notwendig ein zeitliches Phänomen, auch zeitliche Gleichmäßigkeit, eben Isochronie nahelegt. Die Taktmetrik muß dennoch der, vom alter­ nierenden Muster geleisteten, Akzentstruktur die feste Zeitstruktur erst hinzufügen. Diese - nach Heusler >rationale< - gibt es in der Sprache und auch in der Verssprache keineswegs für sich. Ihren Erfolg hat die Taktmetrik paradoxerweise denn auch dem zu verdanken, daß sie nicht streng genommen wird. Gerade nämlich die von ihr notierten und be­ haupteten strengen Zeitverhältnisse - von der ganzen Note bis hinab zur Sechzehntel, so daß es also laut Taktmetrik müßte Vorkommen können, daß eine Silbe für sechzehnmal so lang gedichtet worden wäre wie eine andere; das ist dumm -, diese metrisch zurechtgerechneten Zeitverhältnisse sind nur die Allerwenigsten auch wirklich in der Lage, zeitlich korrekt zu sprechen oder innerlich zu hören. Es ist vielmehr zu beobachten, daß die mühsam in die Verse hineinkonstruierte Isochro­ nie von fast jedem, der sie glaubt anzuwenden, wieder weggekürzt und verschliffen wird in Richtung der natürlichen Sprachverhältnisse. Wenn man ein Gedicht wirklich zeitlich streng nach der taktmetri­ schen Notation liest, wie etwa Heuslers Beispiel nach den von ihm angegebenen Zeitwerten 1 1 1 1 4 2 1 12 2 alles in der weit läßt sich ertragen44, so bestätigt den Inhalt des Verses der klangliche Effekt zwar insofern, als auch er sich ertragen läßt, aber seine zwingende Komik, wenn etwa »weit« exakt so lange klingen soll wie die vier Silben »alles in der« zusammen, zeigt doch den Widerstand, den diese Sprechweise demje­ nigen Klang bietet, der der Sprache angemessen ist. Keiner folgt spre­ chend wirklich dem auf die ganzen Zahlen hinrationalisierten Silben­ dauersystem und keiner vertraut auf das Widerstrebende, das es ihm abverlangte, sondern unwillkürlich nähert jeder das taktmetrisch No­ tierte der normalen Sprache, die er doch immerhin in ihrem natürli­ chen Tonfall kennt, an, ohne zu wissen, daß er damit der Taktmetrik im Entscheidenden, den Zeitverhältnissen, gar nicht mehr folgt, son­ dern im besten Fall lediglich das von ihr realisiert, was nach Abziehen der isochronen Ordnung bleibt, und das ist eben die Folge des alternie­ renden Musters. Dieses nur ist wahrhaft wirksam in den Versen, aber weil, was die Taktmetrik an Isochronie ihm falsch hinzufügt, ihr unter Heusler I, S. 24.

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Der Status von Alternation - Über Sprache hinaus

der Hand unversehens wieder zerfällt, kann sie als die zutreffende, das Muster recht erkennende Theorie erscheinen. Sie wäre es, sofern sie vom Takt ließe: sich widerriefe. Mit Berechtigung dürfte man die Takt­ metrik ausschließlich dort anwenden, wo wirklich durch eine zeitlich gleichmäßige Bewegung isochrone Verhältnisse entstehen; also bei Kinderabzählreimen: | Eins zwei | drei vier | Eck- | stein, | | al- les | muß ver-1 steckt | sein. | Goethe-Gedichte zum Beispiel beschreibt man auf diese Weise nicht ebenso wohl, auch wenn es die Hamburger Ausgabe tut. Außerhalb von Versgebilden des abzählenden Typus gilt keine Isochronie; und damit fällt die Taktmetrik. Auch die Neigung der vorsichtigeren Metriker, da die Taktmetrik doch in ihrer Notation der Musik nahestehe, jedenfalls oder wenigstens noch Gedichte mit einer gewissen Nähe zum Musikalischen takt­ metrisch zu behandeln, Gedichte liedhaften Charakters, die in einem Drama als gesungen bezeichnet sind oder die sonst den musikalischen Vortrag auf irgendeine Weise nahelegen, auch diese Neigung geht grundsätzlich, ja doppelt fehl. Die musikalische Fassung eines Gedich­ tes verlangt nicht allein keine Taktmetrik, sondern schließt sie erst recht aus. Denn die Musik allerdings weist den einzelnen Silben be­ stimmte zeitliche Intervalle zu; aber sie ist in der Wahl dieser Intervalle frei, sie nimmt jede Silbe so lang oder so kurz, wie sie, die Musik, und nicht wie die Silbe will. Verglichen mit dieser Willkür in den Zeitma­ ßen ist diejenige der Taktmetrik von vollkommen entgegengesetzter Natur: Sie bindet die zugrundeliegende Zeiteinheit an den Abstand zwi­ schen zwei Ikten, sie rechnet die zeitlichen Intervalle, die den einzel­ nen Silben zukommmen, aus jenem aus, sie errichtet ein vorweg festes Zeitsystem über den Silben, festgezurrt an bestimmten einzelnen von ihnen. Deshalb ist es gerade dann, wenn bei einem Gedicht die Ver­ tonung naheliegt, besonders widersinnig, die Zeitordnung, die sich in musikalischem Vortrag oder in musikalischer Notation frei verfügend ergibt, durch eine andere, gebunden errechnete zu konterkarieren; eine gleichsam mit der Sprache der Verse bereits gedichtete und vorliegende Zeitordnung anzusetzen, wenn diese Verse der Musik, einem Verfahren also zugedacht sind, das seine eigene Zeitordnung setzen muß. Diese, die Zeitordnung des musikalischen Satzes, verlangt ja und setzt ja ge­ rade voraus, daß ihr Material, die Silben der Verse, nicht bereits zeit­ lich festgelegt sind. Zwar kann die Zeitordnung eines Liedes auch ein­ mal mit der übereinstimmen, welche die Taktmetrik ausgerechnet hat, und mag auf der gleichen Rechnerei beruhen; aber die Entscheidung für diese ist der Komposition frei und nicht etwa gebunden an Zeit-

Muster als Hinzutretendes

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Verhältnisse, die bereits in der Sprache gegeben wären und für die sie sich unumgänglich entscheiden müßte. Selbst also, wenn die Takt­ metrik sonst überhaupt jemals Verse außer den Abzählreimen richtig auffassen und wiedergeben würde, was sie nicht tut, müßte sie zumin­ dest in dem Fall strikt vermieden werden, daß ein Gedicht zum Lied werden soll. Die Isochronie, deren Notation die Taktmetrik aus der Musik impor­ tiert hat und die dort wirklich, wenn eben auch entscheidend anders in Kraft ist, sie ist aber auch musikalisch durchaus nicht etwa grundsätz­ lich an das binäre Akzentmuster schwer-leicht gebunden; sie ist histo­ risch älter als dieses. Der Takt war lange Zeit lediglich und ausschließ­ lich Markierung der Zeitverhältnisse, isochron insofern, als die Noten­ werte ganzzahlige Vielfache oder Bruchteile einer zeitlichen Grund­ einheit gleicher Länge waren, aber ohne daß diese Teile innerhalb der Zähleinheit zwischen zwei Taktstrichen ein festes, vorgegebenes Beto­ nungsmuster nach guten und schlechten Taktteilen getragen hätten oder an dieses gebunden gewesen wären. In der Verssprache ist histo­ risch älter z. B. das bloße Zählen der Silben, und zwar eben ohne sie nach Größen zu scheiden. Zu den so gegebenen älteren Verhältnissen in der Musik sowohl als in der Sprache tritt das alternierende Muster jeweils hinzu und verbindet sich mit ihnen; in der Musik notwendig mit der Isochronie, da die akzentfähigen Elemente dieser vorab bereits unterlagen; in der Verssprache etwa mit der Zählung der Silben. Der Betonungswechsel in seinem aktiven Charakter, wie ihn das Muster trägt, ist also in der Musik genetisch unabhängig von den isochronen Verhältnissen, obgleich er sich mit ihnen verbindet; und so in der Vers­ sprache von der Definition eines Verses nach der Zahl seiner Silben und nach anderem, wie vor allem dem Reim. Der Betonungswechsel, Wirkung des alternierenden Musters, tritt beidemale als Externes neu und zu einem bestimmten historischen Moment in Erscheinung: Im musikalischen Takt kommt er zu Anfang des 17. Jahrhunderts auf; das ist nicht zufällig dieselbe Zeit, da Opitz ihn in der Verssprache regi­ striert. Gegen Ende der Renaissance also, in einem recht eng umgrenzten Zeitraum, tritt zugleich in zwei voneinander unabhängigen Bereichen, den Versen und der Musik, ein Phänomen auf, das seinerseits wieder­ um jeweils gegenüber diesen Bereichen unabhängig ist, nicht aus der Sprache entsteht und nicht aus den Tönen. In den Subjekten selbst muß sich in dieser Zeit jenes herausgebildet haben, was bis heute ungemin­ dert in Kraft ist: die Prädisposition des gleichmäßigen Schlages. Auch der Gleichschritt kommt um jene Zeit auf, auch er Auswirkung dieser fest, aber erst von jenem Zeitpunkt an im Subjekt vorgeprägten Struk-

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Der Status von Alternation - Über Sprache hinaus

tur. Hier wie dort wirkt sie als dieselbe, wenn auch unterschieden nach dem Material, in dem sie es tut. In der Musik etwa hat nicht dieselbe Notwendigkeit wie für Opitz bestanden, den historischen Umschlag, das Aufkommen von gewissermaßen - vom Material her gesehen externen Betonungsverhältnissen, zu beobachten und als Regel festzu­ halten, da es dort keine so tiefe Auswirkung für die Produktion hatte. Das musikalische Material, der Ton, kann nicht für sich genommen bereits Betonung tragen und kann deshalb nicht vorweg mit dem Be­ tonungsmuster in Konflikt geraten so, daß die Komponisten dessen Beachtung als Regel überhaupt erst zu formulieren hätten. Wenn der Komponist eine Tongruppe setzt, die für sich ein bestimmtes Akzent­ muster aufweist, so ist dies selber bereits durch jenes Subjekt vermittelt und geformt, das das alternierende Muster in sich trägt, und kann des­ wegen mit den Akzentverhältnissen im Takt, die durchs gleiche Sub­ jekt und in der gleichen Weise vermittelt sind, nicht ungewollt konfligieren. Anders in der Sprache, wo es im Material schon bei kleinen Systemen von nur zwei Silben feste Betonungsverhältnisse gibt, die der Dichter nicht selber vorgeben kann, sondern hinzunehmen und jetzt, nach Aufkommen des Musters, nach dessen Maßgabe anzuordnen hat, damit ihm nicht die Härten unterlaufen. Nach seinem Material jeweils unterschieden setzt dennoch in Musik und Versen wirksam jeweils das Gleiche ein, das im Subjekt vorgegebene und aktive Muster; und zu­ mindest im akustischen Vermögen des Subjekts muß zum Ausgang der Renaissance, und sicher während ihr vorbereitet, ein Umschlag sich vollzogen haben, der, weil er das Subjekt in sich und als Subjekt, als wahrnehmendes und das Wahrgenommene prägendes neu bestimmt, von den weitesten Wirkungen sein mußte. Von ihnen ist diejenige, daß die Prädisposition in der Form des alternierenden Musters hinfort in der Verssprache mitformt und mitschwingt, nur eine und vielleicht nicht einmal die wichtigste - auch die neuzeitliche Philosophie und mit ihr die Reflexion des modernen Subjekts bildet sich im System des Descartes zu dieser Zeit heraus. Die Präsenz dieses Neuen aber wird jedenfalls an Hand der Verse aus vier Jahrhunderten und damit in der Sprache, dem, worin sich das Subjekt vorzüglich ausdrückt, selber vor­ züglich zu verfolgen sein. Wie überaus weit aber die Wirkung der Prädisposition im Subjekt mittels der durch sie bestimmten Wahrnehmung auch reicht, sie trägt dabei den denkbar knappsten, prägnantesten Inhalt: das Wechselverhältnis von Akzent und Nicht-Akzent, von Qualität und Nicht-Quali­ tät. Dies Wechselverhältnis, zum Bildungsgesetz einer beliebig ausge­ dehnten Reihe gemacht, ergibt oder genauer vielleicht: ist das alter­ nierende Muster. Es alternieren in ihm nicht zwei graduell unterschie­ dene Qualitäten, wie etwa die lange und die kurze Dauer von Silben in

Binantät des Alternierens

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den antiken Versen; dort hätte Alternation keinen Sinn gewinnen kön­ nen. Sondern zur Alternation verhält erst der Wechsel von Qualität und Nicht-Qualität; im Bereich der Verssprache also: der Wechsel des Elementes, das die Qualität trägt, mit demjenigen, das dieselbe Qualität nicht trägt, d. h. den Akzent. Die Rede von schwer und leicht zur Be­ nennung der Größe von Silben ist deshalb irreführend und falsch, wenn auch wohl vorerst kaum zu ersetzen. Sie fingiert das abgestufte Vorkommen einer bestimmten metrisch relevanten Qualität in den Sil­ ben, des Gewichts; dem Glauben an diese eingängige Fiktion verdankt sich Kiparskys Irrtum. Eine solche abzustufende Qualität Gewicht wäre der Silbenlänge in den antiken Sprachen analog, würde aber keinesfalls das Alternieren bedingen; Elemente, die sich nur durch ver­ schiedene Abstufungen innerhalb der gleichen Qualität Gewicht unter­ schieden, könnten wiederum frei kombiniert werden, und eine längere Abfolge von mehreren fortlaufend wirklich in diesem Sinne leichten oder von schweren Silben wäre, wenn es solche gäbe, durchaus denk­ bar. Sie ist es nicht bei der Unterscheidung nach dem Akzent. Der Akzent ist streng bezogen auf die Nachbarschaft des Nicht-Akzent, ja ist selber überhaupt nur durch ihn, so wie dieser nur durch jenen sich als er selbst, als Nicht-Akzent bestimmt. Ohne ihren Wechsel gibt es keinen von beiden. Anders als bei der Länge von Silben, die nicht nach kürzer oder länger unterschieden sein müßte, um dennoch als Länge, also als eine Qualität bestimmbar zu sein. Alternation folglich ist strikt binär im Sinne einer Zweiheit von Qualität und dem Fehlen der Qua­ lität, einer Zweiheit von Ja und Nein, von wahr und falsch, 1 und 0; aber über deren Bezogenheit aufeinander und über die anderer ent­ sprechender Begriffspaare hinaus bestimmt durch die notwendige Fol­ ge des einen auf das andere. Also nicht allein, was das Wort »alternie­ rend« ausdrückt, und nicht allein, was das Wort »binär«, sondern bei­ des zugleich und insofern in einem strengeren Sinn. Alternation ist die Form, die Binarität annehmen muß, wenn sie sich in die Zeit auslegt. Akustische Wahrnehmung aber ist notwendig eine in der Zeit. Jenseits von Zeit, in einer dual notierten Zahl etwa, ist die Kombination der binären Elemente frei. Sobald diese aber zeitlich auseinandertreten, verlangt ihre Folge die Nachbarschaft eines Elements, das die Qualität trägt, mit einem Element, das die Qualität nicht trägt; eben weil Qua­ lität und Nicht-Qualität sich nur wechselseitig als sie selber bestimmen. Die Abfolge solcher Nachbarschaften aber ergibt zwingend den Wech­ sel der Elemente darin, ob sie die Qualität tragen oder nicht: ihre Alter­ nation. Insofern ist Alternation erst Produkt der binären Struktur. Und der historische Umschlag zu Beginn des 17. Jahrhunderts muß die sub­ jektive Wahrnehmung insgesamt in diesem Sinne umgeprägt haben: daß der Wechsel zweier im Verhältnis A und Nicht-A zueinander ste­

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Der Status von Alternation - Über Sprache hinaus

hender Phänomene sich gegenüber den graduell in ihrer Qualität un­ terschiedenen in der Wahrnehmung durchsetzt als sie bestimmend. Die Akzentlehre Kiparskys war falsch von einem festen, fein abstufbaren Gewicht ausgegangen, das den Silben inhäriere und deshalb ih­ nen direkt zugeschrieben werden könne. Zum einen aber halte ich jetzt dagegen fest: Der sprachliche Akzent als Akzent ist von binärer Natur, als das Gegenstück zum Nicht-Akzent, als das Hervorgehobene gegen­ über dem, wogegen es sich hervorhebt. Nur deshalb kann er oder kön­ nen die durch ihn bestimmten Silben im Vers unter das binäre Muster der Alternation treten. Denn - zum anderen - dieses Muster ist reine Ausformung der Binarität dialektisch einander bedingender Elemente; und zwar - bei den lautlichen Phänomenen - als in der Zeit, im Nach­ einander sich gegenseitig bedingend und als Folge erfordernd: NichtSchlag auf Schlag, Schlag auf Nicht-Schlag. Dennoch gibt es unterhalb solcher Binarität - oder, wenn man will: darüber - doch auch ein Phä­ nomen, das in abgestufter, nicht-binärer Qualität wahrzunehmen ist: die prosodische Bestimmtheit der Silben für sich. Nichts liegt näher, als sie mit einem festen abzustufenden Gewicht der Silben zu verwechseln, und auf solcher Verwechslung beruht Kiparskys Lehre; aber von nichts ist sie deswegen auch schärfer abzugrenzen. Denn die prosodische Be­ stimmtheit der Silben selbst ist nicht gleich ihrem Akzent, als würde er ihnen gleichsam elementar zugehören; sondern ist durch den Akzent vermittelt. Dieser bleibt auch in den Silben ja das binäre Phänomen. Und er kann sich ergeben erst, wenn zwei Elemente, hier also zwei Silben, zusammentreten. Im Zusammentreten sind sie durch die Lage des Akzents bestimmt, als ein Gefüge von Akzent und Nicht-Akzent; insofern binär. Was aber nicht-binär sich darin bestimmt, ist der Grad, wie fest, oder anders: wie scharf sich das binäre Verhältnis ausprägt. Auf diese graduell zu unterscheidende Festigkeit hatte Wagenknecht wohl mit seiner prosodischen Grundregel gezielt, sie aber in der Ver­ kürzung durchaus verfehlt. Der Grad der Festigkeit jenes Verhältnisses und damit der prosodischen Bestimmtheit der Silben ist bereits darge­ legt worden als abhängig von der Zusammenstellung der Silben; und er ist weiters abhängig von ihrer Stellung im Satz, im Gefüge der Wörter; und nicht zuletzt auch von ihrer Stellung im Vers. Die prosodische Bestimmtheit ist der Ort des Inkommensurablen im Klang eines Ge­ dichts; in ihr gründet der Gehalt eines jeden. Ihre Beweglichkeit, ihre abgründige Vielfalt, Vielfalt von Relationen, nicht von elementarisch in den Silben befestigten Quantitätsgraden, ist, was Metrik auszuhören fähig werden müßte; sie kann es nur werden, wenn sie die Silbe als Ort des prosodischen Zusammenwirkens von alternierendem Muster und sprachlichem Akzent reflektiert.

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Totalität und Irrtum

Damit Metrik es fähig werde, ist noch eine Reihe grundlegender Auf­ schlüsse notwendig, von denen einige wenige propädeutisch hier bereits zu geben sind; und damit vor allem die bis hier erlangte Einsicht in das Wesen des alternierenden Musters schärfere Konturen gewinnt. Auf­ grund der Überlegungen zum Charakter des Akzents läßt sich als erstes ein notwendiger weiterer Aufschluß über die innere Funktion des Mu­ sters zumindest nun leichter geben. Vom musikalischen Takt gilt be­ kanntlich nach Aufkommen der festen Akzentverhältnisse, daß mehr als dreizeitige Takte außer dem Akzent auf der Eins zusätzliche Ak­ zente bilden; daß also zwischen zwei vom Muster verlangte und vor­ gegebene Akzente höchstens zwei Einheiten ohne Akzent treten kön­ nen. In der Verssprache entspricht dem die Erweiterung der strengen Alternation um die Möglichkeit, außer der regelhaften einen Senkung noch eine zweite zwischen die Akzentsilben treten zu lassen. Bereits die Erweiterung um eine dritte ist nicht mehr möglich, und Versuche, sie unter restriktiven zusätzlichen Bedingungen zu erzwingen, vermögen allenfalls von der Einwirkung der Alternation abzulenken, nicht aber sie aufzuheben. Das alternierende Muster wird demnach nicht gestört, wenn es in dem Sinn nicht streng abwechselt, daß nach einem NichtAkzent ein zweiter Nicht-Akzent folgt und nicht sofort der Wechsel zum Akzent statthat. Diese Möglichkeit der Doppelsenkung, in Musik und Verssprache einander genau entsprechend zu belegen, ist aus dem Charakter des Akzents abzuleiten, insofern nämlich Akzent als Her­ vorhebung gegenüber dem direkt Benachbarten den Nicht-Akzent be­ dingt, ihn gewissermaßen als solchen definierend. Dem alternierenden Muster liegt zugrunde der wiederkehrende Schlag, der Akzent, im not­ wendig zweiwertigen Kontrastverhältnis zu etwas, das nicht Schlag ist. Diese Binarität ist gegeben in einer Folge:---- ; aber ist ebenfalls noch gegeben bei einer erweiterten Folge:------. Denn jedes Element steht dort im Kontrastverhältnis zu einem benachbarten; das zweite der leichten Elemente nicht zwar zu dem ihm vorangehenden, dem ersten ebenfalls leichten Element; dafür jedoch zu dem nachfolgenden schwe­ ren. Würde diese Folge erweitert:------- , wäre das nun mittlere Ele­ ment durch keinen Kontrast mehr bestimmt. Das aber verlangt das alternierende Muster. Und es würde die Bestimmung in diesem Fall

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Totalität und Irrtum

seinerseits, innerhalb der Wahrnehmung durch das Subjekt und un­ willkürlich, nachliefern und die Folge umformen z u :------- . Die Mög­ lichkeit der Doppelsenkung ist also in der Alternation deren Wesen nach angelegt, die Doppelsenkung gehorcht der Alternation bruchlos, während eine größere Anzahl von Senkungen ihr widerspricht und auch mit Hilfe besonderer Vorkehrungen ihr nicht wirklich abgerun­ gen werden kann. Die Versfußmetrik des 18. Jahrhunderts hatte dies versucht. Klopstock notiert seine Verse Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt in der folgenden Weise

und trennt zwar die kritische Aufeinanderfolge dreier kurzer Elemente dadurch in sich ab, daß er jeweils obligates Wortende nach deren er­ stem setzt - also nach seiner Notation an der Versfußgrenze. Er kann aber doch nicht hindern, auch durch die suggestiv gleichgebauten Wortgruppen innerhalb der von ihm notierten Füße nicht, daß sie, wie schon Moritz vermerkt,45 gehört werden wie: Wenn der Schimmer Von dem Monde Nun herab In die Wälder Sich ergießt

---- ---------------

und die drei Senkungen dann jeweils als w|-~, alternierend. Das alternierende Muster ist also nun, nach dem Moment seines hi­ storischen Durchbruchs, nicht mehr abzuschütteln, da es den Versen unterliegt, da die Verse auf es aufgebracht sind, ohne daß noch der Dichter willentlich darüber zu entscheiden hätte, ob er es seinen Ver­ sen unterlegen, ob er seine Verse nach ihm sich einrichten lassen solle. Das Umgreifende, das bereits Opitz verzeichnet hat, nämlich daß das Muster von nun an in einem jeden Vers wirksam sei, bestätigt sich so. Gerade weil es unabhängig von der Sprache entsteht, weil es nicht in ihr liegt, sondern in sie hinein sich vollzieht; weil es als Prädisposition in den Subjekten sich festigt, die auch alle musikalische Lautung affiziert; gerade dieser sein vom Material ins vermittelnde Subjekt verla45Das Beispiel und die Notation nach Moritz, S. 106.

Sinnfälligkeit tautologisch

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gerter, separierter Stand verleiht ihm die Totalität, mit der es im Ma­ terial sich auswirkt. Unwillkürlich, ohne daß das Subjekt es willentlich aktivieren müßte, strukturiert das Muster die subjektive Wahrneh­ mung vor und so das Wahrgenommene in sich. Dem Subjekt bleibt das Muster als etwas in ihm Aktives verborgen, weil es nur im Wahr­ genommenen, im Material und diesem einverwandelt sich zeigt; dem Subjekt als ein ihm gegenüber Objektives. Und was das Muster er­ zeugt, den Akzentschlag, er ist dem Subjekt, das auch den historisch älteren, in den Betonungsverhältnissen der Sprache liegenden Akzent vermittelnd erzeugt, nicht von diesem in der Wahrnehmung irgend noch kategorisch zu trennen. Deshalb bleibt das Muster als kategorisch davon Geschiedenes unerkannt. Aber von dem Moment an, da es historisch auftritt, im Subjekt sich etabliert, ist kein Vers mehr Vers, ohne daß er es aktiviert. Wo es endet, in der Prosa und den lyrischen Zeilenbrüchen der Gegenwart und längst schon jüngeren Vergangenheit, endet Metrik selbst und das, was den Vers als solchen bestimmt, lautliche Periodizität. Alle Verse, die vorher sich herausgebildet hatten und in denen die Silben ungeschie­ den gezählt worden waren, alle Strophen auch, werden jetzt, nach dem historischen Umschlag, wenn weiterhin in ihnen noch gedichtet wird, nach dem Muster umgebaut und in Akzenten, gleichmäßig fallenden, vom Muster bestimmt. Der Alexandriner etwa, bis dahin ein Vers von zwölf oder dreizehn Silben, wird jetzt zur sechsmaligen Abfolge von Akzent und Nicht-Akzent. Wagenknecht hat in seinem historischen Abriß diese umfassende, bis heute reichende Wirksamkeit dessen, was mit Opitz’ Poeterey explizit wurde, richtig registriert.46 Aber seine Überlegung, wie es zu der Wirksamkeit kommen konnte, zeigt dabei doch den Stand tiefer Ahnungslosigkeit, in dem sich die Metrik mit ihrer Erkenntnis vor diesem Gewichtigsten befand: »Der durchschla­ gende Erfolg erklärt sich wohl aus der Sinnfälligkeit der akzentuieren­ den Prosodie und der Einfachheit der alternierenden Versifikation.«47 Sinnfällig ist aber jede Prosodie denjenigen Zeiten, die sie jeweils her­ vorbringen und mit ihr umgehen; und vor Aufkommen der Alterna­ tion war die Einfachheit der Versifikation jedenfalls noch größer als 46 Wagenknecht, S. 59-77, Kapitel 5. Allerdings vermeidet Wagenknecht nicht die Vorstellung, die Wirksamkeit der Alternation sei eine Art Erfolg der Opitzschen Vorschrift; z. B.: »Mit seiner Reformationsschrift von 1624 hat Martin Opitz die ganze deutsche Versdichtung auf eine neue Grundlage ge­ stellt.« (Wagenknecht, S. 76) Als wäre die Grundlage etwas von Opitz Gelei­ stetes und er hätte sie nicht bloß als erster klar erkannt und knapp formuliert. Ähnlich könnte man auch von jemandem behaupten, er hätte die Elektrizität erfunden. 47 Wagenknecht, S. 76.

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unter der nun zusätzlichen Erfordernis, zu alternieren. Sinnfälliger und einfacher als andere Arten des Versbaus erscheint die Alternation nur nachträglich, notwendig und ausschließlich deshalb, weil sie mit dem historischen Umbruch ubiquitäre Wirklichkeit jeder Verswahrnehmung wurde: weil der Sinn danach nichts anderes mehr sich einfallen lassen will als die Akzentalternation; und weil ihm deshalb eine jede andere Art der Versifikation, und wäre sie noch so einfach, Schwie­ rigkeiten bereitet. Wagenknecht vollführt, da ihm der Status von Alter­ nation verborgen blieb, den exemplarischen Zirkelschluß, die Tatsache, daß die alternierende, diese so festgelegte und umfassend prädisponier­ te Verswahrnehmung aufkommt, nur wiederum mit ihr selbst, der prä­ disponierten Verswahrnehmung zu erklären und damit, daß ihr Sinn sich selbst in den Sinn paßt. Ihre Totalität erstreckt sich nicht allein auf die Verse, die unter der Herrschaft der Alternation geschrieben wurden und nach ihr sich eingerichtet haben. Eben weil die Wahrnehmung nun in sich durch das alternierende Muster vorstrukturiert ist, weil dieses nicht bloß in der Anordnung der Sprache sich auswirkt, sondern vorab die Wahrneh­ mung des Subjekts selbst auch unabhängig von der Sprache bestimmt, muß das Subjekt von nun an alle, auch alle älteren Verse nach diesem Muster wahrnehmen, und die älteren ebenso unwillkürlich wie die be­ reits nach dem Muster gedichteten. Und dies ist der Grund, weshalb die genaue Theorie der Verse nach Opitz, der Verse nach dem historischen Umschlag, weshalb diese Theorie zugleich entscheidenden Aufschluß gibt auch über die Verse, die vor dem Umschlag liegen. Obgleich sie den Bedingungen, die dort Wirksamkeit gewinnen, nicht selber unter­ lagen, unterliegt doch später die Theorie über sie, die ja erst der nachOpitzschen Zeit zurechnet, eben diesen Bedingungen: weil die Bedin­ gungen der Verswahrnehmung dann direkt im Subjekt gegeben sind; weil dadurch die Theoretiker selber ihnen unterliegen; und weil die älteren Verse von den Theoretikern nach deren neuerem, dem verän­ derten und gebundenen Wahrnehmungsvermögen mißverstanden wer­ den müssen. Das Subjekt kann, seitdem es den neuen Bedingungen unterliegt, vor keinem Vers mehr umhin, das alternierende Muster auf­ zusuchen beziehungsweise hineinzulegen, es zu aktivieren zu suchen; auch wenn die Verse unter ganz anderen Gesetzlichkeiten gedichtet waren und also gegen ihre Eigenart verstoßen wird, indem man sie für alternierend nimmt. Nur die Einsicht in die hier notwendig verfäl­ schende Bedingtheit der neuzeitlichen Theorien über Verse der älteren Zeit vermag dazu zu verhelfen, die Mißdeutungen aufzulösen und die ewig gleichen und gleich falschen Vorentscheidungen über jene Verse zu verhindern und so auch manches Unrecht von ihnen zu nehmen. Denn es können diejenigen Akzente, die die Sprache für sich trägt und

Falsche Wahrnehmung älterer Verse

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die ursprünglich nicht wie späterhin durch solche des Musters ergänzt wurden, in diesen älteren Versen selbstverständlich so zu liegen kom­ men, daß sie mit dem Muster später nicht in Einklang zu bringen sind. Unsinnigerweise wird das den Versen oder deren Dichtern als Fehler oder Nachlässigkeit angelastet. Und so entsteht eine Klage, von der z. B. die Knittelverse noch nicht allzu lange freigesprochen sind, sie würden hinken. Solange sie nicht auf Akzenten zu gehen hatten, haben sie auch nicht nach Akzenten gehinkt. So tief selbstverständlich ist das Muster aber in dieser seiner Wirkung, daß mir einmal, als ich in einem Gespräch erwähnte, Knittelverse seien nicht nach Akzenten gedichtet, eingewendet wurde, dann würde man doch gar nicht mehr davon spre­ chen können, daß sie hinken. Man kann es in der Tat nicht. Aber eher nimmt man millionenfach den Fehler im Vers hin, als daß einmal die Präsupposition der eigenen Wahrnehmung an solchen Versen als falsch reflektiert würde. Weil das Muster der Wahrnehmung inhäriert, ent­ geht es selbst der Wahrnehmung, so in sich selbst dicht verspiegelt, daß es jede Reflexion hartnäckig abweist. Die Historizität aber der Dichtung nach Akzenten und, woran sie unabdingbar gebunden ist, der Alternation, die Tatsache, daß sie erst zu einer historisch eng eingrenzbaren Zeit neu auftritt, schließt aus, daß Akzent und Alternation vorher Verse, sowenig wie die Musik, hätten bestimmen können. Die Akzentverhältnisse der Sprache boten ja, wie ich hergeleitet habe, vorher, ohne das aktiv dazutretende Muster, gar nicht die zureichenden prosodischen Voraussetzungen dafür, daß nach der Größe Akzent ordnende Verse hätten entstehen können. Vor Auf­ kommen der Alternation war ein Dichten, das sich durch die Akzent­ verteilung konstituiert hätte, nicht möglich; d. h. nicht vor dem frühen 17. Jahrhundert. Nach ihrem Aufkommen jedoch ist es den Subjekten umgekehrt so gut wie unmöglich, Verse überhaupt noch anders als nach Akzenten und deren Alternation wahrzunehmen. Für alle Verse, die vor dem historischen Umbruch entstanden waren, heißt das, daß sie nach diesem Zeitpunkt - jedenfalls nach einer Phase des Übergangs falsch wahrgenommen werden, nach einem Muster und nach Beto­ nungsverhältnissen selber, die sie gar nicht hatten tragen können und die sie jetzt aber mit aller - unwillkürlich von den Subjekten geübten Gewalt tragen müssen. Die metrische Theorie hat solche Gewalt vor­ nehmlich ausgeübt und in ihrem vermeintlichen Recht aufs Unseligste bekräftigt. Ein krasser Beleg sowohl für die unglaublich aktive Stabilität des Mu­ sters als im besonderen auch für seine hier berührte totale, auch retrojizierende Auswirkung und die Verheerung, die sie in Metrikerköpfen anrichtet und angerichtet hat, ist die Iktustheorie, mit der die antiken

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Verse überzogen worden sind. Sie, von denen jedem bekannt ist, daß sie nach den Silbenquantitäten, nach lang und kurz gedichtet sind, ha­ ben es dennoch leiden müssen, daß man ihnen die alternierenden Ak­ zente überstülpte und dann gar noch behauptete und bewies, das sei schon in der Antike so getan worden. Dieser, alle Wissenschaft, die sich zu solchem Beweis hergegeben hat, tief entblößende Unsinn war auf die folgende Weise möglich, ja fast zwingend: Die Quantität der anti­ ken Silben hatte sich in der Spätantike bereits verloren und wurde nur mittels aufwendiger Regelsysteme das Mittelalter hindurch lehrbar er­ halten und tradiert. Die Verse aber, die durch die Abfolge langer und kurzer Silben sich erstellt hatten, waren nun, da niemand die Quantität mehr sprach noch sie hörte, als solche nicht mehr wahrnehmbar. Und nach dem historischen Umschlag zum alternierenden Vers ist die Wahrnehmung von Versen ohnedies an dessen Muster gefesselt, nur durch dieses möglich. Es wird auf die antiken Verse aufgebracht, so wenig sie ihm auch entsprechen, indem man die Verspositionen nach der Gesetzlichkeit des Musters alternierend mit Akzenten belegt, unab­ hängig davon, wie die sprachlichen Akzente der im Vers gesetzten Sil­ ben dort liegen. Die Vorstellung einer Analogie zwischen dem Akzent­ verfahren und dem nach Silbenlängen, von der Opitz ausging und von der die metrische Theorie sich noch immer nicht gelöst hat, und au­ ßerdem wohl die vage Verwandtschaft, die den Akzent als phonetisches Phänomen mit der Wahrnehmung einer größeren Silbendauer verbin­ det, legten es nahe, vor allem lange Elemente mit Akzent zu besetzen. Jeder kennt diese Technik des iktierenden Lesens aus dem Lateinunter­ richt, und die meisten werden sie noch für richtig oder jedenfalls un­ umgänglich halten. In der Schule lernt man, die antike Sprache und ihre Wörter in Versen mit einem Mal völlig anders auszusprechen, als man es sonst tut; man muß erst lernen, Verse zu sprechen, nämlich den Silben auf bestimmten Verspositionen ohne Rücksicht auf ihre natür­ liche Betonung den Iktus zu verpassen. Diese Übung ist schon mehrere Jahrhunderte alt, aber deswegen doch den Versen so unangemessen wie je. Der Zeitpunkt, zu dem dies Iktieren aufkommt, ist dabei durchaus von Bedeutung: Es ist nicht zufällig wiederum das frühe 17. Jahrhun­ dert,48 die Zeit, da sich das alternierende Muster im Subjekt ausgeprägt hat. 48Vgl. Wilfried Stroh: Der deutsche Vers und die Lateinschule. - In: Antike und Abendland XXV, H. 1 (1979), S. 1-19. Stroh hat dort auch bereits den Zusam­ menhang zwischen der Akzentmetrik und dem Akzentmuster, das in die mu­ sikalischen Takte eindringt, berührt. Zu erwähnen ist auch Wilfried Stroh: Kann man es lernen, lateinische Verse zu sprechen? - In: Begegnungen mit Neuem und Altem. - München 1980 (= Dialog Schule-Wissenschaft, Klassi­ sche Sprachen und Literaturen, XV), S. 62-89.

Trennung von Terssprache und Prosasprache

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Die Trennung von Verssprache und Prosa ist aus dem Deutschen geläufig, obwohl sie hier nicht in gleichem Maße als solche empfunden wird; den Römern war sie fremd. Die Quantität, mit der bei ihnen eine Silbe im Vers gemessen wurde, hatte sie als die natürlich gesprochene, ob nun in Prosa oder im Vers. Wenn ein Römer einen Vers ganz ein­ fach so in seinen Silben und Wörtern las, wie er sie eben nach seiner Vertrautheit mit der Sprache nur sprechen konnte, so erstellte sich durch die natürliche Quantität der Silben unwillkürlich die Abfolge von lang und kurz, die den Vers bestimmte. Genauso wie ein Vers lange und kurze Silben trug und also nach Längen und Kürzen zu analysie­ ren war, so auch jeder Prosasatz:49 Gallia est omnis divisa in partes tres

(Caes. Gail. 1,1,1)

Im Lateinischen kann folglich die prosodische Gestalt eines jeden ein­ zelnen Verses für sich genommen im Schema angegeben werden und ebenso die eines Prosasatzes. Der Unterschied zwischen beidem ist le­ diglich, daß die Abfolge von lang und kurz im Vers als solche in meh­ reren Versen wiederkehrt, während die eines Prosasatzes nicht durch solche Wiederkehr zu einer Einheit gebunden ist. Aufgrund der ein­ deutigen Beziehbarkeit der Sprache auf das Längen/Kürzen-Schema reicht für die Verhältnisse der antiken Sprachen denn auch das zwei­ wertige Modell von Sprache und Schema aus. Im Deutschen - und in allen Sprachen, die die Alternation zulassen - ist das grundsätzlich an­ ders. Ein Prosasatz ist nur an den allerwenigsten Stellen durch Akzente fest bestimmt, und bekanntlich kann jeder auf so viele unterschiedliche Weisen betont werden, daß keine Notation seiner Akzentverhältnisse irgend eindeutig und verpflichtend wäre. Die werden grundsätzlich zu geordneten erst, wenn das alternierende Muster, im Subjekt aktiviert, hinzutritt. Jede Notation eines einzelnen Verses, wie die eingangs ge­ gebene des ersten Verses von Goethes Iphigenie, ist nicht möglich als sprachliche Analyse des einzelnen Verses, also der einzelnen sprachli­ chen Folge, sondern schließt den Rekurs ein, wenn nicht auf die fol­ genden Verse oder auf das vorgegebene Wissen, es handle sich um ei­ nen Blankvers, so jedenfalls und unumgänglich auf das alternierende Muster. Dieses Auseinanderklaffen von Verssprache und Prosasprache, das einem an der eigenen Sprache nicht notwendig bewußt wird, wird ekla­ tant, wenn dasjenige, das die Kluft schafft und überbrückt zugleich, 49Daß es im Lateinischen keinen grundsätzlichen Unterschied im Sprechen von Prosa und von Versen gibt, belegt Stroh: Kann man es lernen, S. 64 f. mit Anmm. 3 und 4.

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nämlich das Muster, welches ein Prosasatz nicht aktiviert, willkürlich auf eine fremde, eine in ihren natürlichen Quantitäten nicht mehr ge­ hörte Sprache übertragen wird. Der Iktus, der sogenannte Versakzent, ist nichts anderes, als das nackte Alternationsmuster, unter der voll­ ständigsten Gleichgültigkeit gegen deren natürlichen Akzentfall auf die Silben einer Sprache aufgebracht, von der kein native Speaker mehr lebt, dem es darüber die Ohren zerreißen könnte. Das Iktieren hat der Lateinschüler unter Mühen wie eine eigene Disziplin zu lernen, und dennoch kann ihm nur so der Vers als Klang - aber falsch - eingehen, nämlich als iktierender und das heißt alternierender; nicht als der na­ türliche in der Abfolge der Quantitäten, für die ihm die Wahrnehmung fehlt. Im iktierenden Lesen klaffen natürlicher Wortakzent und der vom Muster gelieferte, die Ikten, auseinander; jener wird zu dessen Gunsten unterdrückt. Die Iktustheorie, Anfang des 19. Jahrhunderts vorgetragen von Gottfried Hermann, konnte es bis heute zu beweisen unternehmen, daß dies bereits in der Antike so gewesen wäre; darauf gründende große Studien zur >Spannung< zwischen Wortakzent und Iktus in den antiken Sprachen waren noch nie etwas anderes als Ma­ kulatur, da der Iktus zwangsläufige und nachträgliche Erfindung des alternierenden Zeitalters ist und in der Antike notwendig - und nach­ weisbar50 - unbekannt war und unsinnig gewesen wäre. Iktus und Ik­ tustheorie und alle auf ihr fußenden ernsthaft-nichtigen Studien sind aber jedenfalls zugleich Wirkungsdokument der Totalität von Alterna­ tion. So stark und aktiv ist ihre Wirkung, daß, wer ihr unterliegt - und das ist nach dem historischen Umbruch jeder einzelne -, sich nicht einmal mehr vorzustellen vermag, daß ein Vers auch habe hörbar und als ein Vers habe erkennbar sein können, wenn nicht in ihm regelmä­ ßig die Akzente schlagen; und daß derjenige als Wissenschaftler not­ falls sogar den haltlosen Beweis anstrengt, es könne nie anders als mit dem Akzentschlag gewesen sein. Er kann es nicht mehr anders wahr­ nehmen, da die Struktur der Wahrnehmung apriorisch nun jedes An­ dere ausschließt, das vorher in Versen gehört wurde. Die hartnäckigen Fehler der metrischen Theorie bis hin zum Wahnsystem eines Iktus in den antiken Versen würden sich zwar auch in ihrer wissenschafts­ geschichtlichen Vererbung verfolgen lassen; zu erklären sind sie jedoch nur mit jenem Status der Alternation, den ich hier zum ersten Mal bestimmt habe. Nur als Prädisposition der Wahrnehmung im Subjekt kann das alternierende Muster zu solch umgreifender, totaler Herr­ schaft gelangen. 50 Endgültig widerlegt kann die Iktustheorie gelten seit dem jüngsten Aufsatz von Wilfried Stroh: Arsis und Thesis oder: Wie hat man lateinische Verse gesprochen? - In: M usik und Dichtung. Neue Forschungsbeiträge, Viktor Pöschl gewidmet. Hrsg. v. Michael von Albrecht und Werner Schubert. Frankfurt a. M. (u. a.) 1990, S. 87-116.

Not der älteren Verse

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Was aber an den antiken Versen absurd sich betätigt, unwillkürlich und unvermeidlich in ein ihnen Fremdes sie verwandelnd, tut es mit noch schwerer zu brechender Macht an allen Versen, die in der eigenen Spra­ che historisch vor dem Aufkommen der Alternation liegen. Diese äl­ teren deutschen Verse sind noch nicht einmal durch so umfassende Nachrichten zeitgenössischer Philologen in ihrem richtigen metrischen Aufbau beschrieben und insofern vor Mißdeutung geschützt, wie die antiken Verse es waren; und schon diesen hatte es nichts gegen die Imputation des Alternierens und Iktierens genützt. Wie es dem Knit­ telvers erging, der inzwischen wenigstens dem Irrtum ja entrissen ist, er hätte alterniert, so ergeht es noch immer fast allen anderen älteren Versen: Unumgänglich versteht das vom Muster geprägte Wahrneh­ mungsvermögen sie als alternierend. Wie das Aufkommen des Iktus und der Iktustheorie bei den antiken Versen erst verständlich wird, nachdem nun der Status und die in sich stabile Eigenart des alter­ nierenden Musters erkannt sind, so ist jetzt auch das Auffassen der älteren deutschen für alternierend als das Rückwirken der Wahrneh­ mungsstruktur des neuzeitlichen Subjekts zu erkennen; und die Lehre vom Alternieren jener Verse als Dogma und falsch. Einsichtig ist, daß es aufkommen mußte und jedem einzelnen immer wieder so gut eingehen; schändlich dennoch, wie es sich wissenschaftlich eingerichtet hat. Was an jenen Versen nicht in die Alternation paßt, hat das Dogma passend gemacht oder als Mangel ihnen zur Last gelegt. Keine Kon­ struktion ist haarsträubend, kein Zirkelschluß offensichtlich genug, daß nicht Wissenschaftler sie aufböten, um die Alternation oder, wo sie diesen Terminus nur für das strenge Alternieren ohne Mehrfachsen­ kungen nehmen, jedenfalls das geregelte Akzentuieren und Iktieren oder aber gar das Taktieren der Verse zu beweisen. Dabei leisten die älteren deutschen Verse diesem Versuch, obwohl sie sich immer wieder über gewisse Strecken alternierend lesen lassen, dennoch größeren Wi­ derstand als die antiken. Diese können sich der Vergewaltigung durch den Iktus nicht erwehren, weil es niemandem mehr gegen das Sprach­ gefühl und durch Mark und Bein geht, wenn er etwa im Eingangsvers der Aeneis das Verbum »cano«, natürlich »cäno« zu betonen, in ein »canö« zerbrochen hört. Die antiken Wörter sind, weil ihnen kein Ge­ hör mehr gerecht wird, widerstandslos den falschen Akzenten des Iktus preisgegeben. Anders im Deutschen, wo eine Betonung »ich singe« noch Unbehagen, wenn auch nicht die Besinnung auslösen würde, die weit genug reichte; selbst gegenüber den mittelalterlichen Wörtern noch ist das moderne Gehör in aller Regel ja sicher genug im richtigen Orten des Wortakzents. Der Widerstand allerdings, den diese natürli­ chen Wortakzente in den älteren deutschen Versen ihrem Einspannen in das ihnen fremde Muster bieten, wenn sie nun einmal nicht regel­

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mäßig genug verteilt sind, er wird blindlings und zugleich unter Auf­ bietung allen Scharfsinns dem Alternationsdogma eingepaßt oder ein­ fach übergangen. Zum festen Inventar des Dogma gehört die feste Zahl der Hebungen; noch Küper wiederholt etwa von dem letzten Abvers in der Nibelungenstrophe, daß er »deutlich vier Hebungen«51 habe, und notiert diese, durch untergesetzte Punkte, so: muget ir nu wunder hceren sagen - wobei aber nur eines deutlich ist, nämlich daß er dem »muget« die Hebung vorenthält, dem kein Gott zu sagen gab, was es damit leidet, obgleich derselbe Gott es Küper und vor ihm ganzen Generationen von Literaturwissenschaftlern eingegeben haben muß, welche Wörter mit ihrem Akzent es zu einer Hebung bringen und welche nicht. Zwar bekennt der Metriker direkt neben der Nibelungenstrophe ohne Scheu von der Strophe des Hildebrandliedes, daß deren Vierhebigkeit, die er voraus- und en passant mit der Viertaktigkeit gleichsetzt, noch »sehr viel schwieriger mit dem sprachlichen Material in Übereinstimmung zu bringen«52 ist; aber immer noch nicht schwierig genug, daß er davon ablassen und dem sprachlichen Material den Tort ersparen würde und daß er nicht noch manchen Unsinn darüber aufschichten und die Viertaktigkeit der alten Strophe mit der Melodie eines Liedes belegen könnte, das nur nebenbei ein gutes Jahrtausend später, aber dem Metri­ ker nun einmal unbedingt näher liegt als die alten mseren. Keine von ihnen kündet von festen Hebungszahlen, aber dafür raunt die Wissen­ schaft seit Jahrhunderten: »bekanntlich«. Für sie sind etwa Otfrids Verse bekanntlich Vierheber, und wenn das erst einmal amtlich und bekanntlich und hauptsächlich überhaupt vorausgesetzt ist, dann bringt man noch dem sperrigsten Vers Anstand und vier Hebungen bei und beweist damit, daß er bekanntlich vier Hebungen hat. Daß kaum ein Vers sich nicht gegen diese Disziplin sperrt, die der aufgewendeten Mühe nach durchaus Gewichtheben heißen dürfte, wird wissenschaft­ lich damit erklärt, die vier Hebungen ordentlich zu vollziehen, das sei eben zwar des Dichters Ideal, aber leider nur das Ideal gewesen: Er habe es trotz guten Willens noch nicht erreichen können.53 Es muß ihm wohl damals schon so fest vorgeschwebt sein, wie es heute den Metri­ kern vorschwebt. Sie zwar würden es sicher nicht zu einer Verdich­ tung, aber dafür ohne Schwierigkeit zu den vier ordnungsgemäßen He­ bungen pro Vers bringen, eine geringe Kunst, welche, obgleich sie dem 51 Küper, S. 278. 52 Küper, S. 278. 53 In aller Knappheit läßt sich solche Lehre etwa nachlesen in Werner Hoff­ mann: Altdeutsche Metrik. 2., überarb. u. erg. Aufl. - Stuttgart 1981, S. 33 f.

Zwang der festen Hebungszahl

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Dichter als Ideal vor Augen gestanden haben soll, dennoch dessen Kraft so weit überstiegen hätte, daß er zuweilen doch buchstäblich nur ganze vier Silben in einen Vers zu stemmen vermochte. Doch da springt ihm auch schon der Metriker bei, legt seine ganze Autorität erst in die Waagschale und anschließend auf die vier Silben und erklärt sie eine jede für sich zu einer vollen Hebung; was zwar, wie man meinen möchte, der Hebung widerspricht, die doch, um Hebung zu sein, einer Senkung neben sich bedürfte, aber dem Metriker nur das besondere Gewicht der vier Silben beweist, das er selbst daraufgelegt hat. Denn wenn sie alle vier nebeneinander vier Hebungen sein sollen, dann müs­ sen sie wohl gleichzeitig Hebung und Senkung in einem sein, und sind also, nicht genug damit, daß sie überhaupt alle Hebungen sind, auch noch »beschwerte Hebungen«, wie der Wahnwitz dann heißt. Und eine Wissenschaft schickt sich an und verfaßt Studien darüber, wie die alten Dichter dieses neuzeitliche Produkt, noch bevor sie überhaupt etwas davon hatten ahnen können, so kunstvoll eingesetzt hätten. Im Un­ tertitel heißen die Studien »Über die Bedeutung der beschwerten Hebung< im mittelhochdeutschen Vers«, und ihr Titel aber lautet, wo der Unsinn blüht, »Vers und Sinn«.54 Der Literaturwissenschaftler erteilt, er beschwert oder er verweigert eben die Hebungen, und die Silben mögen sich nicht über Willkür beschweren, hat das alles doch Metho­ de: die der undurchbrechlichen Alternation. Die feste Hebungszahl ist die notwendige und die einzige Krücke, um dem systematisch fallenden Akzent, von dem der Metriker seiner vorgeprägten Wahrnehmung taub vertrauend nicht lassen kann, gegen den Widerstand der in den alten Versen unsystematisch verteilten Wortakzente Eingang zu verschaffen. Nur durch Festlegung der He­ bungszahl kann der Metriker die festgelegte Zahl der Hebungen erhal­ ten; es ist die bekanntliche. Und nur, wenn er sagt, die Zahl der He­ bungen soll festgelegt gewesen sein, kann der Metriker Silben, deren Akzent ihm nicht in den geregelten Akzentfall paßt, dazu verhalten, schlichtweg keinen Akzent zu haben oder aber gleich Akzent und Nicht-Akzent in einem zu tragen - damit schließlich diejenigen Ak­ zente, die er gelten läßt, das gleichmäßige Muster ergeben können. Welcher Silbe er den Akzent raubt, welcher ihn zuteilt, welche er dop­ pelt beschwert, das hängt lediglich davon ab, wie sich die Zahl an He­ bungen, die der Metriker zu verteilen sich entschließt, am leichtesten verteilen läßt; die Entscheidung hat nie ihr Fundament im Gewicht 54So - für die vielen anderen - eine Studie von Ulrich Pretzel. In: W W 3 (1952/53), S. 321-330; wieder abgedruckt in: WW, Sammelband II: Ältere deutsche Sprache und Literatur (1963), S. 231-240; und in: Ulrich Pretzel: Kleine Schriften. - Berlin 1979, S. 335-347.

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Totalität und Irrtum

oder beim Taktieren: in der Länge - der verrechneten Silben. Küper zum Beispiel hätte natürlich, um vier Hebungen zu erhalten, auch no­ tieren können: muget ir nu wunder hceren sagen55 Aber so wären doch immerhin drei Senkungen zwischen die ersten beiden Hebungen zu stehen gekommen, und anders, wenn das »muget« in seinem Recht verkürzt wird und das »ir« zur Hebung erkoren, sind es nur zwei, vor der ersten Hebung. Nur solche Bequemlichkeit, dump­ fes Lavieren entscheidet darüber, welcher Silbe eine der zu vergeben­ den Hebungen zufällt, kein in den Versen liegender, ihnen objektiv abzulesender Grund. Auch wieviele der Hebungen ein Dichter pro Vers festgelegt haben soll, kann der Metriker zwar keinesfalls den Ver­ sen selber entnehmen, da er ja sonst diese später in ihrer Akzentzahl nicht erst noch maßregeln müßte. Doch sieht er eine gewisse Tendenz mit Vorliebe sieht er die Tendenz zu vier Hebungen - und weiß aus der Tendenz, daß sie nicht nur Tendenz ist, sondern strenge Vorschrift. Und weil sie strenge Vorschrift ist, müssen Verse, die sie nicht zu er­ füllen scheinen, ins Prokrustesbett steigen, das in die vorschriftliche Anzahl Abschnitte eingeteilt ist, und ihre Glieder werden so oft ge­ brochen oder so lange gestreckt, bis sie die Abschnitte gleichmäßig fül­ len. Die Festlegung, die der Metriker vorab an den Versen tätigt, ist dieselbe, die er dann als Ergebnis seiner Analyse präsentiert. Die jahrhundertealten petitiones principii aber sind in ihrer Struk­ tur nichts anderes als die der Verswahrnehmung unter der Alternation selbst, die den eigenen Vorgaben folgend nur wieder diese, nicht sich selbst in ihrer reflexiven Struktur wahrzunehmen vermag. In einer Sprache jedoch, deren Philosophie wie die vielleicht keiner anderen die, um den Zirkel aufzubrechen, notwendige Reflexion, das Denken des Denkens aufgeboten und entwickelt hat, ist es ein doppeltes Ver­ brechen, solche Reflexion zu unterlassen und der Sprache, die es leiden muß, ein Versverhalten nachzusagen, das sie dem Stumpfsinn auslie­ fert; jenem Stumpfsinn, zu dem die Alternation am widerstandslosen Material wird, einem Material nämlich, das nicht bereits nach dem Muster eingerichtet wurde und deshalb noch nicht durch es vermittelt in sich dessen stumpfe Gewalt gestaltend hätte brechen können oder auch nur hatte brechen müssen. Unter dem Muster konnten Versgebilde entstehen, die denkbar weit von dessen stumpfsinnigem Immerglei­ chen sich entfernten, obgleich oder eben weil sie mit dem Muster, nicht passiv, umgingen. In Versen, denen es nachträglich übergelegt wird, klingt es nackt und ungeformt durch als der bare Schlag. Um die älte­ 55 Küper, S. 278.

Reflexion der Wahrnehmungssiruktur

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ren Verse aber richtig zu lesen, muß gerade das ihnen Fremde reflek­ tiert werden, die Alternation: damit diese ihnen nicht in irgendeiner der vielen möglichen verdeckten Weisen falsch aufgedrungen wird. Die älteren Verse von den alteingesessenen Irrlehren zu befreien, wird eine wahre Hercules-Arbeit werden. Ich werde sie hier nicht beginnen.

VII

Aus der Geschichte des Musters

Damit der Akzent zum verskonstituierenden Merkmal und in diesem eminenten Sinn prosodisch relevant werden konnte, bedurfte es erst der Konstellation, die sich im frühen 17. Jahrhundert ergeben hat, be­ durfte es der prosodischen Wirksamkeit des alternierenden Musters. Vorher konnte wohl der Akzent in Versen eine Rolle spielen, wie etwa in den lateinischen Versen der Spätantike, als die Silbenquantitäten nicht mehr sicher gehört wurden und deshalb Wörter mit falschen Quantitäten gesetzt werden konnten, wenn sie nur die gleiche Be­ tonungsverteilung aufwiesen, wie ein Wort mit den der jeweiligen Versposition richtig entsprechenden Silbenquantitäten; so daß also in ge­ wisser Weise die Berücksichtigung des Akzents an die Stelle der Be­ rücksichtigung der Quantitäten trat. Dennoch aber blieben diese das­ jenige, das die Verse als solche konstituierte. Auch im Deutschen mag der Wortakzent verschiedentlich auch früher vom Bau der Verse nicht unabhängig gewesen sein, konstituiert haben aber kann er für sich, wegen seiner prosodischen Eigenart und Defizienz, keinen Vers, bevor nicht das alternierende Muster als ein in sich festes prosodisch wirksam dazutrat. Deshalb muß bei den älteren Versen, und wenn selbst welche sich über weite Strecken - wie Wagenknecht richtig sagt: trivialerwei­ se56 - alternierend lesen lassen, mit Versgesetzen gerechnet werden, die sich zwar indirekt auf die Stellung der Wortakzente auswirken konn­ ten, aber nicht deren Stellung direkt regelten; sonst dürfte es auch nicht zu den allfälligen Abweichungen des Wortakzents von dem alternie­ rend gedachten gekommen sein. Dennoch wird, wie das alternierende Muster selber schon vor dem historischen Umschlag zu seiner vollen historischen Wirksamkeit im Subjekt muß angelegt gewesen sein, so auch der Akzent auf seine neue Rolle hin sich entwickelt haben. Opitz mußte an den Versen, die er vor der Poeterey geschrieben hatte noch unbewußt dessen, was er dort erst konstatieren sollte, nur weniges um­ stellen, damit sich der vom alternierenden Muster geforderte Akzent­ fall ergab; und Weckherlin etwa, obwohl er die Poeterey nicht geschrie­ ben hat, in seinen Versen kaum mehr. Der Zeitpunkt, den Opitz mar­ kiert, ist wohl ein Umschlag, in welchem die Verhältnisse in den Ver­ 56 Wagenknecht, S. 40.

Akzent und Versende

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sen - und dort ja nicht allein - eine neue Qualität annehmen, doch fehlte weder eine Entwicklung der Verhältnisse auf diesen Umschlag hin, noch wurde Entwicklung in ihm etwa sistiert; weder die des deut­ schen Wortakzents findet dort ihr Ende noch auch die des Musters selber. So konstant, undurchbrechlich und gleichsam überzeitlich es sich auch einrichtet und auswirkt, so kennt es doch eine ganz eigene Geschichte, in sich und in den Versen, die nach ihm gedichtet werden und denen es Möglichkeiten erschließt, die in den früheren Versen undenkbar gewesen waren. Von solcher Geschichte werde ich in ganz wenigen Ausschnitten einen vorläufigen Umriß geben. Als das alternierende Muster in die Geschichte eintritt, trifft es auf Verse, die nur durch ihre Reimbindung oder auch durch die wieder­ kehrend gleiche Silbenzahl bestimmt sind. Zwei Konstitutionsmerk­ male unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Bedeutung waren so ineinandergefügt. Das ältere, die bloße Reimbindung, hat z. B. den heute als besonders kunstlos empfundenen freien Knittelvers be­ stimmt, der strenge beachtet bereits die Zahl der Silben außerdem. Die Regelung nach Akzenten und gar deren eine gleichmäßige Abfolge ist diesen Versen fremd. Trotzdem ist die Alternation, als sie dazutritt, in den bestehenden Verhältnissen des Versbaus nicht gänzlich unvor­ bereitet. Denn an einer bestimmten Stelle im Vers war die Lage des Akzents bereits länger von Bedeutung. Nicht ganz zufällig nämlich schreibt etwa Opitz in dem Abschnitt, der dem über das Alternieren unmittelbar vorangeht, von der Einteilung des Versendes nach feminin und masculin.57 also danach, ob die vorletzte oder die letzte Silbe im Vers einen Akzent trägt. An jener Stelle im Vers, die ihn abschließt und, solange noch nicht sein innerer Verlauf einem konstituierenden Gesetz unterworfen war, ihn damit erst zum Vers, nämlich zu einer nach klanglichen Merkmalen wiederkehrenden Einheit machte; an der auch der Reim eben zum Abschluß dieser Einheit steht, zur Kennzeich­ nung des Versendes, ja als dieses Versende selbst: an dieser eminent verskonsituierenden Stelle hatte der Akzent eine den Versbau prägende Funktion. Sie liegt bereits in der Gesetzlichkeit beschlossen, daß in der Regel das klangliche Material vom letzten akzenttragenden Vokal eines Verses an reimt. Und sie hatte, im Reim wirksam, Wirkung auch auf das andere Konstituens dieser Verse, auf deren Länge, die Festlegung in der Silbenzahl. Denn diese konnte je nach weiblichem oder männli­ chem Versende variieren; sie rechnete streng genommen nur bis zu der Silbe, die den letzten akzentuierten, den reimbestimmenden Vokal trug. Folgte auf sie, bei weiblichem Versende, noch eine unbetonte, so 57 Opitz, S. 48 f.

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erweiterte diese die feste Silbenzahl um eins; zählte also in gewisser Weise nicht mehr zu dieser Zahl. Der Alexandriner hat deswegen mit männlicher Endung zwölf Silben, bei weiblicher Endung aber um eine, die letzte unbetonte Silbe mehr, dreizehn. Die eminente Funktion des Versendes lebt unter dem alternierenden Muster fort, obgleich sie das konstitutive Moment an jenes abgeben muß, lebt fort insofern, als im allgemeinen die Silben gegen das Ende eines Verses hin genauer in sich und genauer so, wie es das Schema verlangt, prosodisch bestimmt sein müssen, d. h. auch ohne die ergänzende Hilfe durch das Muster den verlangten Akzentfall aufweisen. Das Beispiel aus Moritz, an dem ich die Wirkung der Alternation dargetan habe - »Bald ist nun dein Schmerz vorüber« -, hat diese Inkongruenz der Versbereiche bereits zu erkennen gegeben: Die letzten Wörter waren fest, die ersten Wörter waren nicht fest in sich prosodisch bestimmt. Den größeren Anforde­ rungen, die das Versende prosodisch an die Silben und Wörter stellt, korrespondiert die größere Freiheit, die am Versbeginn herrscht. Hier dürfen prosodisch unklar bestimmte Wörter stehen, die das Versende nicht ertrüge, oder dürfen sie dem Muster eher zuwiderlaufen als dort. So hüllt er alles, was den Menschen nur Ehrwürdig, liebenswürdig machen kann, In’s blühende Gewand der Fabel ein.58 Der Akzentfall des »ehrwürdig« kann sich hier ohne Schaden, ja kaum daß man es überhaupt hört, mit dem schematischen A kzentfall---reiben; nicht ebenso leicht gegen Versende: So hüllt er alles was den Menschen nur Der Liebe wert, so recht ehrwürdig macht, In’s blühende Gewand der Fabel ein. Dieses Phänomen hat die Metriktheorie in seiner bekanntesten Ausprä­ gung, sobald sie es dort nur recht verzeichnete, zur Lizenz erklärt und neutralisiert, zum geregelten Regel-, oder wie sie sagt: Normverstoß. Nämlich daß vor allem zu Beginn - wie im Beispiel - des Blankverses, wo das Schema die Folge leicht-schwer vorsieht, ohne weiteres Wörter oder Silben stehen können, die sich zueinander wie schwer-leicht ver­ halten. Ohne Einsicht in die prosodische Wirksamkeit des alter­ nierenden Musters mußte die Metrik solchen Widerstreit zwischen versifikatorischer und prosodischer Ebene, wenn sie nicht etwa selbst Goe­ the regelmäßige prosodische Verstöße, Verkennung des natürlichen Akzentfalls anhängen wollte, durch einen versifikatorischen Trick zu schlichten suchen. Sie mußte ansetzen, die ersten Elemente des Blank58Goethe: Torquato Tasso, V. 713-715. - ln: WA 1.10, S. 134.

B egriff der Lizenz falsch

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versschemas könnten auf Schemaebene gleichsam umgekehrt werden, also von - - in — ; »Fußsubstitution«59 ist der Fachbegriff für das, was auf diese Weise unbegriffen bleibt. Dem Unangemessenen der rein versifikatorischen Konstruktion an das Phänomen entspricht, daß sie Ter­ mini der Fußmetrik nahelegt60 - ein Jambus werde durch einen Trochäus ersetzt -, die in alternierenden Verhältnissen grundsätzlich fehl am Platz sind und sie grundsätzlich verzeichnen. Falsch ist die Konstruktion, weil aus ihr folgerte, solche Verse würden in ihrem Be­ ginn so gehört werden wie die Folge------. Ein Vers jedoch wie der vierte aus Goethes Iphigenie Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,61 obwohl »Tret’ ich« für sich genommen fraglos als - -zu notieren wäre, klingt gleichwohl aufs reinste im jambischen Fluß. Möglich ist dies aufgrund der prosodischen Einwirkung des alternierenden Musters auf die Wahrnehmung des Silbenfalls, und weil das Muster darin unver­ wirrt und ohne Umstellung der Elemente in sich stabil dahinläuft. Für dergleichen Fälle falsch davon auszugehen, daß das Schema in seinen ersten beiden Elementen umgestellt werde, ist für die bisherige Metrik, da sie mit einer Differenz zwischen Schema und Sprache nicht zu Ran­ de kommt, unvermeidlich und verdeckt aber gerade das Entscheidende: die eigentümliche Freiheit der Verse, die vom alternierenden Muster gestützt sind, in der Gewichtung vor allem der Silben am Versanfang, eine Freiheit, die besteht, auch ohne daß sie den normalen gehörten Akzentverlauf des Verses störte oder verdrehte. Sie verdankt sich einer gewissen Suspension, wie ich sie an Moritz’ Beispielvers aufgezeigt ha­ be, derjenigen nicht unähnlich und wohl strukturell verbunden, die im Sprachvermögen auch auf syntaktischer Ebene wirksam ist. So ist es dort z. B. möglich, daß Kasus und syntaktische Funktion der ersten Wörter eines Satzes oder Teilsatzes erst dessen weiterer Verlauf erkenn­ bar macht; so lange bleiben sie ambig und sind dennoch am Ende, gleichsam nachträglich, in Kasus und syntaktischer Funktion be­ stimmt, ohne daß der Leser oder Hörer diese Festlegung bewußt nach­ träglich zu vollziehen hätte. Geläufig ist die Suspension ebenso grund­ sätzlich im Periodenbau, wo regelmäßig erst das letzte oder doch ein spätes Glied den Sinn und die Funktion dessen, was voranging, ab­ schließend festlegt. Alles Erste wird so lange offen-, aber in seiner Offenheit festgehalten, und ist doch, auch ohne den bewußten Rekurs, zum Schluß der Periode selber und in sich bestimmt. Was im Perioden59 Vgl. Küper, S. 212 f. 60 So auch bei Wagenknecht, S. 21. 61 Goethe: Iphigenie a u f Tauris, V. 4. - In: WA 1,10, S. 3.

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bau für die Bestimmung in semantischen und sytaktischen Zusam­ menhängen gilt, dasselbe gilt in den Versen für die prosodische Bestim­ mung im Zusammenhang des alternierenden Musters; virtuell muß es erst zum Schluß des Verses eindeutig an den Silben festgemacht sein, um seine Wirkung im ganzen Vers tun zu können. In diese Tendenz verwandelt lebt unter der Alternation fort, was vor ihrem Aufkommen das Versende zum konstitutiv wichtigsten Teil bestimmt hatte. Als nach dem historischen Umschlag die Akzente nicht allein mehr dort, sondern im ganzen Vers bedeutsam sind, liegen sie dennoch prosodisch vor allem in den Monosyllaba noch nicht so fest, wie es von den späteren Versen geläufig ist. Gryphius kann in der Trawrklage einen Vers dichten Daß vom Blutt feiste Schwerd62 in welchem die Wortfolge »vom Blutt« als Realisation einer Elemente­ folge schwer-leicht gesetzt ist, obwohl sie nach späteren Maßstäben, wie sie etwa Moritz anlegt und wie sie heute unbezweifelt wären, als leicht-schwer aufgefaßt würde. Wagenknecht meint darin eine Rat­ losigkeit der Dichter im Umgang mit ihrem Material zu erkennen, offenbar in der lustigen Vorstellung, die Dichter hätten sich eine neue Art des Versbaus ausgedacht, hätten gemeinsam beraten und beschlos­ sen, sie einzuhalten, und würden dann erst merken, daß ihnen das Ma­ terial gar nicht so recht dazu taugt. Der Versbau aber ändert sich nie­ mals auf solche abderitische Weise, sondern kann sich nur ändern in­ nerhalb der Möglichkeiten des Materials, wobei unter der Alternation noch die verfestigte Struktur der Wahrnehmung selbst zum Material zählt. Die vermeintliche Ratlosigkeit des Gryphius in der Bestimmung des Akzents ist nichts als die retrojizierte Ratlosigkeit der neueren Metrik vor Abweichungen vom Muster, wie es heute gilt und bedient wird. Wie Gryphius die Monosyllaba setzt, beweist nur, daß die sprach­ lichen Akzente, Moritz’ festes Silbenmaß, zu jener Zeit noch weniger stark und weniger fest gehört und empfunden wurden als heute und um so leichter sich von den Akzenten des Musters tragen ließen. Das dy­ namische System, zu dem laut phonetischer Definition der Akzent ge­ hört, war damals offenbar noch so gut wie ausschließlich das mehrsil­ bige Wort, nicht die Folge von einsilbigen Wörtern, mit der und ihren dynamischen Verhältnissen sich Moritz später befassen sollte. Was er Silbenmaß nannte und was aber auch zu seiner Zeit nicht wirklich fest war, war es noch weniger in der frühen Zeit der Alternation. Der Wort­ akzent hatte ja noch eben vorher im Versbau außer im Reimwort keine Nach Wagenknecht, S. 59.

Ablösung der alten Verskonstituentien

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Rolle gespielt, war also nicht bestimmend gehört worden. Und dazu fügt sich, daß er, wie man notwendigerweise erst an den nach Akzenten gedichteten Versen ablesen kann, zu deren früher Zeit auch weniger bestimmend gehört wurde als in den späteren, uns darin näheren Zei­ ten. Seine Entwicklung verläuft unter der Alternation als ein stärker, ein fester Werden. Aber gerade daß er schwächer war, als sie auf­ kommt, zeugt anders von der gleich zu Anfang großen Kraft des Mu­ sters, die prosodische Defizienz der Sprache auszugleichen, Akzente gleichsam zu ergänzen. Wenn erst das alternierende Muster zu den bisherigen Konstitutions­ merkmalen Reim und Silbenzahl hinzugetreten ist, die in dem zwei­ stufigen Modell von Schema und Sprache zureichend festzuhalten wa­ ren und festzuhalten bleiben, danken sie als solche ab. Sie treten zwar weiterhin in den Versen auf als Bestimmungen, verlieren aber die verskonstituierende Funktion. Der freie Knittel wäre ohne Reim überhaupt nicht Vers gewesen; und der frühe, vor-Opitzsche Alexandriner etwa wäre kein Vers gewesen ohne Einhaltung der festen Silbenzahl. Nach dem historischen Umschlag aber werden Verse als Verse konstituiert nur noch von der möglichen Aktivierung des Musters; das war bereits an Opitz abzulesen. Was aber deshalb nicht mehr verskonstituierend ist, kann in den Versen beibehalten werden und weiter seine Rolle spielen und ist dann noch immer triftig im Versschema zu fixieren; es kann jedoch nun auch wegfallen. Daher die Möglichkeit der reimlosen Lyrik in Klopstocks Tradition. Daher auch, wie Christoph Martin Wie­ land seine Versepen gedichtet hat, die Möglichkeit, die Länge der Verse variieren zu lassen, ohne daß deswegen die einzelnen, die davon jeweils in der Länge übereinstimmen, also z. B. alle sechssilbigen, alle achtsilbigen und alle zehnsilbigen Verse, auch zu einer jeweils eigenen Versart zu erklären wären; der Vers bleibt der gleiche, ob er nun dreimal, viermal oder fünfmal alterniert. Und daher schließlich die Möglich­ keit, die der volksliedhaften Lyrik am geläufigsten zugeschrieben wird, nicht die Silben zu zählen, sondern die Akzentstellen; zwischen diesen aber die Zahl der Nicht-Akzente - in den engen Grenzen, die die Alter­ nation dieser Möglichkeit zieht - freizulassen und zuweilen auch, ob vor der ersten und ob nach der letzten Akzentstelle noch jeweils ein nicht aktzenttragendes Element erscheint. Wagenknechts Notation des Typus: 4 m oder 4 w trägt dem Rechnung. Sie gibt in der Ziffer ledig­ lich die Anzahl der Akzentstellen an und durch das nachgesetzte w für »weiblich« beziehungsweise m für »männlich«, ob auf die letzte Ak­ zentstelle noch eine Position ohne Akzent folgt oder nicht. Und der Beginn des Verses, ob mit einer unbetonten Silbe vor dem ersten Ak­ zent, könnte unschwer etwa durch einen Haken - vor der Ziffer notiert

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werden. Für das frühere sogenannte Volkslied aber können aus den genannten historischen Gründen diese Bedingungen, daß in den Ge­ dichten nämlich eine festgelegte Anzahl von Akzentstellen den Vers bestimmte, nicht gegolten haben, weil solche Bedingungen unabding­ bar Alternation voraussetzen, ja genau genommen diese bloß um­ schreiben. Und so muß auch die Vorstellung eines eigenen, durch den Umbruch nicht berührten Traditionsstrangs der Volksmetrik aufgege­ ben werden. Selbst Wagenknecht, der doch den Renaissancevers und den Knittelvers von ähnlichem Aberglauben freihält, läßt sich hier beirren und vermutet im Volkslied grundsätzlich, also auch schon vor 1624, akzentuierende Verhältnisse.63 Wenn er schon über die frei wech­ selnde Anzahl der Silben pro Vers nicht hinwegsehen kann, so hält er doch allgemein, als gäbe es das Volkslied so allgemein, die Zahl der Hebungen dort für festgelegt. Doch zwingt ihn das, anstelle der hier gekappten die andere, gründlich absurde Freiheit im Versbau anzuset­ zen, die »Anzahl der zwischen den Hebungen stehenden Silben [. . .] reichfe] zuweilen bis fünf.«64 Aus dem Schatz ewiger Metrikerweisheit muß er das Wissen gezogen haben, daß sich unter diesen fünf keine Hebung mehr befinde; aus dem gleichen Schatz, dem Metriker auch entnommen hatten, der Knittelvers hätte vier Hebungen, und was an Silben nicht gut dazwischen paßt, wäre vom hinkenden Übel. Nichts aber fällt den Metrikern schwerer als die Vorstellung einer Freiheit, die sich im Versbau habe finden können: daß etwas nicht so fest soll geregelt gewesen sein, wie es heute der alternierende Schlag ist. Noch bei den Stabreimversen hören sie über die Jahrtausende hinweg genau, wenn eine Silbe plötzlich stärker als gewöhnlich akzentuiert worden sei, da sie anders eine Regel nicht setzen oder die Abweichung von einer Regel, die sie gesetzt haben, nicht recht begründen und wie­ derum für geregelt erachten könnten. Heusler, dem schon seine Vor­ gänger noch mit viel zu vielen unterschiedlichen Regeln und mögli­ chen Spielarten im Versbau umgingen und folglich als Oberkonfusions­ räte verächtlich galten, war auch hierin Meister und hat alles auf eine einzige Regel gebracht, die vom Lied am Lagerfeuer der germanischen Stämme bis zu den Freien Rhythmen jeden echtgermanischen Vers durchdrungen haben soll. Eine wahrhafte und nicht mehr wahnhafte Erkenntnis der frühen Verse wird dagegen anzuerkennen haben, was sich vorzustellen so schwer fällt und behindert wird auch durch die Übermacht des alternierenden Musters: die größere Freiheit, das gerin­ ge Maß an Regelung der alten Verse. Der freie Knittel, um ihn immer noch einmal zu bemühen, da man es von ihm schon weiß, hatte genug 63 Vgl. Wagenknecht, S. 47. 64 Wagenknecht, S. 48.

Muster und Freiheit

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an dem Reimklang, der sich nach einer gewissen, nicht allzu langen Reihe von Wörtern einstellte, und sonst war die Sprache in ihm frei. Und von solcher, von ähnlicher Freiheit findet sich in den anderen frühen Versen ungleich mehr, als der Regelwahn der Metrik verträgt. Was an ihnen Freiheit war, etwa nur als Füllungsfreiheit zwischen ei­ ner festen Zahl Hebungen anzuerkennen, verunstaltet die Freiheit zu einer Fratze ihrer selbst, durchzogen von dem Zwang, manchen Silben den Akzent zu entziehen und, wenn die Silben in einem Vers zur Fül­ lung der festen Hebungen nicht ausreichen, diese für beschwert zu er­ klären, damit der Mangel ausgeglichen sei. Jene Freiheit aber war kein Mangel und wäre wohl noch dann, wenn man sie etwa unvorgreiflich Freiheit in der Silbenzahl nennen wollte, nicht richtig gefaßt, da es keine gegenüber der Silbenzahl speziell geübte Freizügigkeit ist. Viel­ mehr war, was den Vers als solchen erkennbar machte, in solchen Fäl­ len etwas anderes als die Zahl der Silben und hatte mit ihr allenfalls indirekt zu tun. Wenn neben der Reimbindung die Länge der Verse nicht zahlenmäßig bestimmt, aber dennoch offensichtlich nicht unbe­ stimmt ist, mag das häufig auch zu erklären sein mit jener Freiheit des musikalischen Satzes oder Vortrags, unterschiedlich lange Sequenzen zu bauen oder in die gleiche Länge einer Sequenz unterschiedlich viele Silben aufzunehmen. Diese letztere Freiheit ist aber musikalisch und strikt unabhängig auch von einer bestimmten Anzahl sprachlicher Ak­ zente, über welche Musik, sogar unter der späteren Herrschaft der Alternation, also des musikalischen Taktschlags, ohne weiteres hinweg­ gehen kann. Die Musik kann niemals den Vorwand abgeben, um in die Metrik jener Verse die Regelhaftigkeit hineinzutreiben, sondern würde eine solche selbst aufheben, wenn die Verse nicht in jener spezifischen Weise frei gewesen wären. Die Alternation hat dieser Freiheit ein Ende gesetzt; und doch auch gewinnen unter ihr die Verse an Freiheit. Aber diese ist von der alten grundsätzlich geschieden. Dort war der innere Verlauf der Verse frei, geregelt war nur ihr Abschluß: Bestimmung ihrer Länge und klangli­ chen Bindung an die anderen Verse im Reim. Diese Bestimmungen verlieren ihre Bedeutung und Funktion durch das Auftreten der Alter­ nation, weil sie jedes einzelne Element im Versinnern regelt: als Be­ standteil der nun allein möglichen Elementekombinationen, in denen der alternierende Schlag sich realisiert und auswirkt zugleich. Aber gerade, daß nun jedes Element im Vers vorweg so gebunden ist, und noch bevor eine einzelne Versart in ihrem spezifischen Verlauf und ihren genaueren Bestimmungen sich herausbildet, ermöglicht Freiheit in diesen Bestimmungen, da sie nicht mehr den Vers konstituieren müssen; dies leistet virtuell das Muster alleine. An die Stelle der Frei-

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heit von fester Regelung tritt die Freiheit über dem geregelt Festen. Daß die Festigkeit, die das alternierende Muster dem Versverlauf gibt, Reimbindung und Bindung der Verslänge abzuwerfen ermöglicht, war bereits erwähnt. Aber sogar im Versinnern, dort also, wo das Muster eigentlich herrscht, gibt es dem, was es negiert, Raum: der freien Kom­ bination der Elemente. Auf dieses Exempel hat Klopstock die Probe gemacht. Die Freiheit, mit der er den Versbau zur Nachbildung der antiken Versmaße verhält und so deren nicht vorweg an ein Muster gebundene Kombination von Elementen der beiden unterschiedlichen Klassen zurückzugewinnen unternimmt, scheint der Bindung an die Alternation zu entraten, ihr dezidiert zu widersprechen und von ihr sich zu lösen; und hebt sie doch nicht auf. Im Gegenteil; diese Freiheit erkennt die Wirksamkeit des alternierenden Musters vollständig an und nützt sie zu dessen Negation, indem sie es nur strenger noch und zusätzlich bindet. Denn ferne davon, die antiken Schemata wirklich analog nachzubilden, nämlich jedes lange Element dort als schweres Element hier zu setzen und jedes kurze als ein leichtes, charakterisie­ ren sich jene Verse im allgemeinen dadurch, daß sie die iktierende Leseweise, die ja alternierende Verhältnisse auf die ihnen fremden an­ tiker Verse retrojiziert, zum Maß des Schemas machen und nach ihr zwischen den Ikten, den schweren Elementen, die sich jeweils ergeben­ de Zahl von Nicht-Akzenten festlegen. Die alternierende Folge, die für sich neutral ist gegenüber dem, ob ein oder zwei Nicht-Akzente zwi­ schen die Akzente fallen, wird in diesem Sinn auf der Ebene des Sche­ mas strenger festgelegt, so nämlich, daß für bestimmte Stellen im Vers einfache, für andere zweifache Senkungen vorgeschrieben sind. Verse wie die der alkäischen Strophe, die ich oben einmal notiert habe, kön­ nen im Deutschen unter der Alternation deswegen nicht wirklich ent­ sprechend gebaut sein, sondern werden - von der Notation der antiken Verse nach Längen und Kürzen übertragen in die der deutschen Verse nach Akzenten - z. B. so umgewandelt:

Nur der letzte der notierten Verse ist ohne weitere Änderungen, das letzte Element ausgenommen, in die Verhältnisse der deutschen Verse zu übertragen, weil er sich den Möglichkeiten der Alternation, zwar doppelte Senkungen, aber schon keine doppelten Hebungen mehr zu­ zulassen, zufällig anbequemt. Die Mühe, die dann aber selbst so ein­ fache Schema-Verhältnisse wie die des Hexameter dem Leser dabei be­ reiten, jeweils rechtzeitig zu merken, ob nun nach einer Akzentsilbe nur eine oder aber zwei nächstfolgende Silben nicht akzenthaltig sein

Unterlaufen des Musters

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sollen, - hier als Beispiel ein sicher nicht schlecht gebauter Hexameter von Voss: Sonderbar, wie es dort plazregnete; doch von der Brücke Bis zu dem Dorf hat kaum ein einziger Tropfen gesprenget.65 - diese Mühe zeugt noch einmal von der mangelnden prosodischen Bestimmtheit der Akzentverhältnisse in der Sprache, sobald das alter­ nierende Muster an einer Stelle nicht mehr bestimmend mit einwirkt. Denn die Setzung von einer oder zweier Senkungen hat gewissermaßen unterhalb des von der Alternation unterstützten Rasters statt, und dort haben folglich die prosodischen Bestimmungen der Sprache selbst ein­ zutreten. Sie aber, wie ich mehrfach dargetan habe, sind nicht zurei­ chend und lassen in einer großen Zahl von Fällen die Akzentlage un­ bestimmt. Offen sichtbar wird dieser Mangel vornehmlich bei den Odenmaßen, wenn der Dichter ihnen das Schema separat voranstellen muß, damit es - nicht den Versen für sich abzulesen - mit einiger Bewußtheit jedenfalls in sie hineingelegt wird. Der Propagator des la­ xesten Versbaus, Heine, der dem Alternieren sozusagen ganz ohne Wi­ derstand das Feld überläßt - es wird’s bei ihm mit den einfachen und doppelten Senkungen schon immer irgendwie richten -, Heine hat für die Lesehilfe des beigedruckten Schemas beißenden Hohn gefunden. Die Not entsteht, wenn das Odenmaß entweder über den alternieren­ den Fall hinaus zu viel an zusätzlicher, eben dem Schema aufgebür­ deter Bestimmtheit und Festlegung einführt, oder aber wenn es, wie in dem bereits angeführten Beispiel aus Klopstock, etwa mit vorgesehenen dreifachen Senkungen wirklich gegen die internen Gesetze der Alter­ nation verstoßen will und ihrem Einfluß dennoch, auch bei Ermah­ nung durch das vorangesetzte Schema an einen wohlgesonnenen und in den Odenmaßen versierten Leser, unweigerlich anheimfällt. Große Mühe ist dabei auf das Problem der Doppelhebungen ge­ wandt worden, des Spondeus vor allem im Hexameter, wo er zusam­ men mit - nach antiker Auffassung - der ersten Länge des folgenden Versfußes eine Folge von drei Längen ergab, im Deutschen von drei schweren Elementen hätte ergeben müssen. Das alternierende Muster jedoch läßt nicht zu, daß jemals eine solche Folge anders a ls ----, also unter Akzentwechsel wahrgenommen würde. Johann Heinrich Voss’ Zeitmessung der deutschen Sprache66 aus dem Jahre 1802, wo es mit Hilfe der geschleiften Spondeen dennoch gelungen scheint, ist nichts 65Die Kirschenpflückerin. V. 29 f. - In: Johann Heinrich Voss: Idyllen. - Kö­ nigsberg 1801 (Reprint Heidelberg 1968), S. 239. “ Johann Heinrich Voss: Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilage zu den Oden und Elegieen. - Königsberg 1802.

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anderes als die konsequente Ausnutzung dieses Mechanismus der Alternation gegen seinen eigenen Sinn. Denn wenn das Raster alter­ nierender Akzentstellen von sich aus im wahrnehmenden Subjekt sich erstellt und diese Stellen als schwere realisiert, und wenn deren Plazie­ rung grundsätzlich, wie bei einem so bekannten Vers wie dem Hexamter, feststeht und dem erfahreneren Leser bekannt ist, so kann die Spra­ che ihrerseits sich darauf konzentrieren, die vom Muster nicht akzent­ besetzten Stellen durch entsprechende, den sprachlichen Akzent tra­ gende Silben zu beschweren. Nur dürfen, damit dies gelingt, jene an­ deren Silben, die auf den vom Muster vorgegebenen Akzentstellen zu liegen kommen, nicht deren Akzentuierung abweisen, müssen also sprachlich bereits ein gewisses Gewicht haben und dürfen in ihm ge­ genüber denjenigen Silben, die den sprachlichen Akzent tragen, nicht zu stark abfallen: Als ringsher pechschwarz äufstieg gräundröhende Stürmnacht67 Nirgends ist besser zu hören, wie sprachliche Schwere und die durch das Muster aktivierte bis »graun-« nebeneinander oder übereinander liegen. Sie auf diese Weise gegeneinander zu verschieben und so die Akzente des Musters und der Sprache beide für sich zu nutzen und zu den gewünschten Spondeen zu akkumulieren, ist Voss’ geniale Idee ge­ wesen. Um die Macht der Alternation zu unterlaufen, erkennt er sie vollständig in ihrer unwillkürlichen Wirksamkeit an und nutzt sie ge­ gen sie selbst. Er nennt es: »zugleich Ton und Takt zu halten«;68 Ton als den sprachlichen Akzent und Takt als die Reihe jener vom Wort­ akzent unabhängigen, dem Vers eigenen Schläge, die das alternierende Muster vorgibt und die aber schon Voss, eben im Interesse einer Zeit­ messung der Sprache, mit den isochronen Verhältnissen des musikali­ schen Taktschlags konfundieren mußte. Da er aber Ton und Takt selbst auseinanderhält, ist eingestanden, daß die Zeitmessung, für die er sich bereits auch der musikalischen Taktnotation bedient, nicht eine der Sprache sein kann, sondern Sprache lediglich auf ihr aufgetragen wird. Überhaupt setzt seine Technik, wozu sie dienen soll, nämlich daß die Silben mit einem gewissen Verweilen gesprochen werden, eher als Be­ dingung voraus, als daß diese Zeitdauer sich dank der Technik von selbst ergäbe. Mit ihrer Hilfe, einer Technik, welche die prosodisch aktive Einwir­ kung des alternierenden Musters bereits aufs genaueste reflektiert, ob­ wohl die theoretische Erkenntnis dessen, was das Ohr des Dichters 67 Voss: Zeitmessung, S. 132. Ich habe durch untergesetzte Punkte notiert, was Voss durch Unterstreichung. 68 Voss: Zeitmessung, S. 148.

Verlagerung ins Versinnere

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wohl wahrgenommen hatte, sich damals nicht einstellte und bis heute nicht hatte einstellen wollen, listen die deutschen Verse ihrer Ge­ bundenheit eine Freiheit und versifikatorische Möglichkeiten ab, die vorher, unter den freieren Verhältnissen der älteren Verse, nicht denk­ bar waren. Eben weil in diesen - entgegen der gängigen Lehrmeinung die Silben nicht nach einer Größe geschieden waren außer etwa am Ende des Verses, war dessen innerer Verlauf auch nicht nach der Ab­ folge der unterschiedlichen Größen zu gestalten. Solche Gestaltungs­ möglichkeit aber war den antiken Versen und in vorzüglicher Weise gegeben, und die jüngeren Verse im Deutschen, nach dem historischen Umschlag, gewinnen sie da erst neu, wenn auch eben grundsätzlich anders als die antiken und unter grundsätzlich anderen Bedingungen. Gemessen an der wunderbaren Vielfalt der unterschiedlichen antiken Versmaße, die in ihrem inneren Verlauf an kein bestimmtes Muster gebunden waren, bedeutet die durch das Alternieren allen Versen auf­ erlegte Bindung immer zunächst einen schweren Eintrag. Und den­ noch, in solcher Einschränkung, eben weil das einzelne Element nicht allein für sich bereits prosodisch bestimmt ist und also nicht wirklich frei kombinierbar; eben weil jede Silbe vom Muster ebenfalls pros­ odisch bestimmt wird; weil sie in ihrer Größe der Dialektik von Spra­ che und Muster unterliegt: vermag sie beiden gegenüber eine ganz ei­ gene Freiheit zu gewinnen, nicht Freiheit von beidem zugleich, aber vom einen jeweils vermittelt durch das andere. Die Vossischen Spondeen sind dafür vielleicht nur ein besonders schematisch verfahrendes Beispiel. Und doch gehört mit ihnen zusammen eine der negierenden Kraft jener Dialektik entspringende Freiheit, die über die reichen, aber anders gearteten Möglichkeiten der antiken Verse sogar hinausführt. Sie wird zuletzt gar die Emanzipation der Verse von dem alles bestim­ menden Muster erschließen - aufgrund dessen eigener Gesetzlichkeit. Mit der neu gewonnenen technischen Einsicht läßt sich die geschicht­ liche Bewegung dorthin nun beschreiben und, etwas ausführlicher, her­ leiten. Durch das alternierende Muster trägt jeder Vers die Wiederholung be­ reits in sich, als den wiederkehrenden Akzentschlag. Das versteht sich auch bei den nach Größen ordnenden Versen keineswegs von selbst. Ein weiteres Mal mag der Vergleich mit den antiken Versen dies Spe­ zifische der deutschen Verse demonstrieren. In der Antike mußten die Verse erst als ganze die Wiederholung aufweisen, nämlich als erst in ihrer gesamten Lautstruktur wiederkehrende; und darauf gründete sich ihre Freiheit in der Anordnung des Versinneren, die im Deutschen verloren war. Innerhalb der antiken Verse konnten zwar ebenfalls kleinere Einheiten als solche wiederkehren, die Versfüße, aber sie ge­

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hörten dort keineswegs zu den konstituierenden Merkmalen eines Ver­ ses. Außerdem sind die antiken Versfüße wie die Verse auch selber in der Zusammenstellung von lang und kurz nicht grundsätzlich an ein Muster gebunden. Weil aber die Wiederholung, die vom antiken Vers erst als ganzem gefordert war und ihn darin als Vers definierte, im alternierenden Vers ein Gesetz wird, das sich in seinem Inneren voll­ zieht, verändert die andere, gleichsam äußere Wiederholung ihre Funk­ tion und ist nicht länger verskonstituierend. In den deutschen Versen war diese geleistet durch Reim und feste Silbenzahl, in ihnen die wie­ derkehrende Einheit als ganze abschließend und in ihrer Länge bestim­ mend. Mit der Verlagerung des konstitutiven Moments vom Äußeren in den inneren Versverlauf sind sie für einen Vers nicht mehr vonnö­ ten. Die Verlagerung ins Innere hat aber weitere, historisch wirksame Konsequenzen. Den Vers konstituiert unter der Alternation der Wech­ sel von Akzent und Nicht-Akzent, als Vers wird er durch diesen Wech­ sel wahrgenommen. Wie oft der Wechsel, selber das kleinste System der Wiederholung, innerhalb eines Verses statthat, ist für die Wahrneh­ mung desselben als Vers irrelevant. Der wird als solcher daran erkannt, daß, und nicht, wie oft in ihm der Wechsel sich ergibt. Gerade die enge Bindung der Verse unter der Alternation, ihre Unfreiheit, macht sie als Verse in den kleinsten Einheiten erkennbar; und gibt ihnen dafür je­ doch die Freiheit, alle weiteren Bestimmungen, diejenigen, die etwa in den antiken Versen für sich den Vers umfassend bestimmten, abzu­ legen. Das alternierende Muster ist in seinem aktiven Charakter eine Art Außenskelett, das der Verssprache Halt - nämjich bestimmte Ak­ zente - von sich aus verleiht, den der Vers folglich nicht mehr selbst aufzubringen hat. Unter der Alternation kann jeder Vers unterbrochen werden, ohne daß er zerbricht. Auch das war, so selbstverständlich es bei den modernen Versen ist, in Verhältnissen des Versbaus wie den antiken ums Ganze anders. Ein lateinischer Vers, als zeitlich struk­ turierte Folge, konnte beim Vortrag nicht unterbrochen werden, ohne daß sich die Zeitverhältnisse verschoben hätten und somit das dem Vers spezifische Maß nicht mehr gehört worden wäre. Auch hätte sich buchstäblich die Quantität bestimmter Silben für sich geändert, wenn durch Unterbrechen des Redeflusses die im Vers folgende Silbe nicht lautlich direkt an die vorangegangene angeschlossen hätte.69 Der Vers 69 Das hängt mit der Eigenschaft der sogenannten positionslangen Silben zu­ sammen. Silben mit kurzem Vokal sind dann nämlich lang, wenn sie ge­ schlossen sind, d. h. wenn ein auf den Vokal folgender Konsonant noch zu dessen Silbe gezogen wird. Im Sprechfluß wird z. B. »primus ab oris« so zusammengezogen: pri-mu-sa-bo-ris. Würde ein Sprecher nach »primus« mit der Stimme absetzen, könnte er das Schluß-s nicht zum folgenden Vokal a von »ab« ziehen, die Silbe »-mus« wäre geschlossen und damit lang.

>Versigkeit< der Teile

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war ein Klangkontinuum, das nicht zu unterbrechen war. Auch etwa die bekannte Zäsur im Pentameter war keine Pause, zu der sie im Deut­ schen üblicherweise wird, sondern Wortende, auf das ohne Absetzen der Stimme das nächste Wort folgte, in kontinuierlichem Klang.70 Im Knittelvers, durch nichts als den Reimklang zum Vers gemacht, wäre wohl ein Absetzen der Stimme denkbar, nicht aber, daß das so abge­ trennte Stück Vers für sich genommen als Element eines Verses irgend zu erkennen gewesen wäre. Solche Erkennbarkeit aber tritt auf, sobald die Alternation als Muster in jedem Element eines Verses gleich prä­ sent ist, sobald sie das Versinnere an jeder Stelle formt. Weil die Alter­ nation selber eine Art Klangkontinuum vorgibt, unter dem der Vers liegt, muß nicht mehr er es erstellen und kann er unterbrochen werden. Innerhalb des Verses sind nun folgenlos für seine Eigenschaft als Vers Sprechpausen möglich, nach welchen er deshalb unzerstört neu anset­ zen oder weiterlaufen kann, weil er nicht als ganzer, nicht als komplett in seiner Struktur wiederkehrender gehört werden muß, um als Vers erkannt zu werden. Jede kleinste oberhalb der einzelnen Silbe liegende Einheit im Vers weist das Muster auf und deshalb ist sie auch für sich genommen als zum Vers gehörig zu erkennen, und sind anders die Verse in eben sol­ che Einheiten zu zerteilen, ohne daß sie deshalb aufhörten, Verse zu sein. Wenn aber Verse noch in ihren Bruchteilen als Verse wahrzuneh­ men sind, heißt das zugleich, daß sie nicht hauptsächlich als die in ihrem Ganzen von einem Schema genau bestimmten Verse wahr­ genommen werden, sondern lediglich als >versigVersigkeitVersigkeit< von Sprache. Diese Loslösung vom alternierenden Muster haben die Freien Rhythmen, und hat des­ halb das Muster selbst als Möglichkeit in sich getragen; eine Möglich­ keit, die nicht viel später eigentlich metriklose Verse zur historischen Wirklichkeit hat werden lassen, die lyrischen umbrochenen Prosa-Zei­ len.

VIII

Verssprache und Prosasprache

Das leitet zuletzt auf das Problem zurück, das zu Beginn jeder Metrik zu stehen hätte und das ich hier zum Abschluß propädeutisch behan­ deln werde: Wie die gesprochene Sprache die Eigenschaft der >Versigkeit< annehmen oder ablegen kann, da sie nicht ihr selbst inhäriert; wie das alternierende Muster aktiv werden oder inaktiv bleiben kann; wie sich das Sprechen von Verssprache und Prosasprache unterscheidet. Ein Problem also, das die Metrik unter dem Spannungsbogen zwischen rezitierendem und skandierendem Sprechen säuberlich abgelegt hatte. Es ist kein Spannungsbogen; Rezitation und Skansion sind kategorial von einander zu scheiden. Denn durch die genaue Bestimmung des alternierenden Musters ist jetzt auch die Funktion des skandierenden Sprechens genau einzugrenzen: Sie ist nichts anderes als die Überset­ zung derjenigen Akzente, die durch das Muster vermittelt den Vers überziehen, in buchstäbliche Stärkebetonung, die so zu nennende Ak­ zentuierung. Der sprachliche Akzent verlangt die Stärkebetonung ja keineswegs, darf mit ihr durchaus nicht ineins gesetzt werden, wie die Phonetik aufgewiesen hatte; kein Akzent, auch der des Musters nicht, ist auf die Realisierung durch Stärkebetonung angewiesen, auch wenn er jeweils und grundsätzlich durch sie markiert werden kann. Stärke­ betonung und jene Akzente, die verskonstituierend sind, können ohne weiteres auch auseinandertreten. Ein Gedicht aus Goethes Divan mag das als Beispiel belegen: Ja, die Augen waren’s, ja der Mund, Die mir blickten, die mich küßten. Hüfte schmal, der Leib so rund Wie zu Paradieses Lüsten. War sie da? Wo ist sie hin? Ja! sie war’s, sie hat’s gegeben Hat gegeben sich im Fliehn Und gefesselt all mein Leben.72 Das Schema dieser Verse ist ohne Zweifel so zu notieren:

72Goethe: West-östlicher Divan, Buch der Liebe. - ln: WA 1.6, S. 52.

Akzent kein Parameter

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------------ (-)(-) Eine skandierende Lesung ergäbe also die folgende Stärke-Verteilung im ersten Vers: »Ja, die Augen wären’s, ja der Mund«. Nun sind die beiden bestimmten Artikel hier jedoch deiktisch, genauso wie im sechsten Vers das Personalpronomen »sie«, und müssen also durch Be­ tonung hervorgehoben werden: »Ja, die Augen waren’s, ja der Mund«. Diese sprachnotwendige Betonung widerspricht ganz offensichtlich der Schwereverteilung, wie sie vom alternierenden Muster vorgegeben und von der skandierenden Lesung in Stärkebetonung übersetzt wird. Die skandierende Leseweise kann hier also auf keine Weise mit der von der Sprache beziehungsweise der syntaktischen Funktion unabdingbar er­ zwungenen und richtig betonenden Lesung zur Deckung gebracht wer­ den. Sie ist kategorial von ihr geschieden und ist nicht etwa der eine Pol eines Kontinuums möglicher Leseweisen, an dessen entgegengesetztem die sprachlich richtige läge. So glaubte es die Metrik bis heute. Wohl hebt die skandierende Lesung das Metrum hervor; aber dies ver­ schwindet auch in der richtigen Leseweise nicht. Wer auf die skandierende Lesung des Verses hin ihn sprachrichtig mit den deikti­ schen Betonungen spricht, wird wahrnehmen, daß durch diese hin­ durch das alternierende Muster, das dem Vers zugrunde liegt und dem die deiktischen Betonungen zuwiderlaufen, sehr wohl hörbar bleibt. Umgekehrt aber duldet die skandierende Sprechweise nicht die deikti­ schen Betonungen, sondern muß sie, da sie nicht auf den vom alter­ nierenden Muster vorgegebenen Akzentstellen liegen, ausschließen. Eben das beweist das Skandieren als die Hilfskonstruktion, die jene oft nur leicht mitschwingenden Akzente des alternierenden Musters und ausschließlich sie und als solche übersetzt in unmißverständliche, un­ überhörbare Akzente, nämlich Stärkebetonungen. In einem Vers, der nicht wie der des Beispiels zwingend Stärkebetonungen verlangt, die jenseits der im Schema sichtbaren und durchs skandierende Sprechen mechanisch realisierten liegen, kann es nicht auffallen, daß die skandierende mit der sprachrichtigen Lesung nicht übereinstimmt und daß sie lediglich ein einzelnes Moment, das in dieser richtigen Sprech­ weise nur neben anderen Momenten wirksam ist, auf einer Ebene iso­ liert und mit Hilfe jenes Übersetzungsmechanismus der Stärkebeto­ nungen für das ungeschulte Ohr hörbar macht: das Moment des alter­ nierenden Musters. Die Skansion antiker, jedenfalls der griechischen Verse hatte zu ih­ rer Zeit kein grundsätzlich anderes Lesen der Verse erfordert, sondern lediglich das Begleiten der sprachrichtigen lauten Lesung der Verse mit verschiedenen Techniken, die, was da erklang, messen sollten.73 In den 73Für das Herauspräparieren der Versfüße allerdings wurde im Lateinischen

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Verssprache und Prosasprache

Versen unter der Alternation trägt die richtige Lesung die verlangten Akzente offenbar nicht für alle Ohren deutlich genug, so daß das Skan­ dieren als Hilfskonstruktion einzutreten hat, die jene Akzente erst in einen Parameter übersetzt, damit er dann als solcher messend wahr­ genommen werden kann. Daß in der sprachrichtigen Lesung die Her­ vorhebung durch Akzent nicht einem bestimmten Parameter zuzuwei­ sen ist, hatte die Phonetik erkannt. Trotzdem ging die metrische Theo­ rie bis jetzt von Verhältnissen aus, wie sie die Hilfskonstruktion des skandierenden Sprechens erst geflissentlich und jenseits der Sprache herstellt, nämlich davon, daß die Größe, nach der die Verse nach Opitz ihre Silben ordnen, als Parameter aufträte, wie es einmal in den anti­ ken Versen der Fall war. Der Akzent aber, und schon gar der vom alternierenden Muster aktiv den Silben hinzugefügte, parametriert nicht. Das naive und das Bewußtsein der Metriker aber muß, um sie sich verständlich zu machen, die Akzente parametrisch in die Silben hinein umbilden: muß skandieren beziehungsweise mit einer Theorie umgehen, die den Hilfsstatus der Skansion zwar vermerkt, aber nicht als einen wirklich separierten erkennt und durchdenkt. Parameter sind auch in der Mathematik Hilfsgrößen. Die skandierende Sprechweise ist die Mathematisierung derjenigen Leistung ins Meßbare, die sonst nur im wahrnehmenden Subjekt sich vollzieht, die des alternierenden Mu­ sters. Das skandierende Lesen stellt mittels des Parameters Stärkebeto­ nung auf lautlicher Ebene die Binarität her, die wahrhaft nur in der vom Muster aktiv strukturierten Wahrnehmung statthat. Kiparskys fal­ sche Lehre gründet auf der Verwechslung jener beider Ebenen. Auf der lautlichen, gleichsam physikalischen herrscht keine Binarität, sehr wohl aber auf der für die Verse konstituierenden der Akzentwahrneh­ mung: Akzent oder Nicht-Akzent. Und diese allein ist, als die konsti­ tutive, metrisch relevant. Die Frage nach dem Unterschied von Verssprechen und Prosasprechen ist aber durch die Feststellung des Status des skandierenden Sprechens noch nicht beantwortet, sondern hat sich nur präzisierend verschoben. Denn auch nach der notwendigen Ausgrenzung der skandierenden Sprechweise gibt es den Unterschied zwischen einer, in der die Verse gut als solche gehört werden, und einer, in der dies nicht möglich ist. An deutschen Theatern ist lange Zeit einiger Ehrgeiz darein gesetzt worden, Verse, wenn ein Drama in solchen geschrieben war, um alles nicht als solche mehr, sondern folglich nur wie Prosa wahrnehmen zu lassen, von jeder anderen Prosa durch nichts zu unterscheiden als viel­ tatsächlich in einer bestimmten Weise anders als natürlichsprachlich betont; vgl. dazu Wilfried Stroh: Arsis und Thesis, S. 104 ff.

dynamische Einheit

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leicht den hochgestimmten Ton der Dichtung. Wem Verse nicht recht ins Ohr wollen, auch der wird sie nicht viel anders sprechen können. Die Sprechweise, die dieser entgegengesetzt ist, mag vorläufig die gute Rezitation heißen; in ihr sind die Verse gut hörbar, ohne daß sie nach dem Paradigma der Skansion umgewandelt würden. Noch die besten und reinsten Verse können aber mit einigem Fleiß zur Prosa einge­ ebnet werden, wenn es der Sprecher darauf anlegt oder aber wenn ihm das Gehör für Verse tatsächlich abgeht. Anders jedoch sind auch die erkennbar als solche gesprochenen Verse nicht von jedem gleich gut zu hören; es bedarf dazu der Schulung des Ohrs. Die gute Rezitation wird gleichwohl auch dem ungeschulten und ohne die Hilfskonstruktion des Skandierens Verse unabweisbar vor die Wahrnehmung führen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Sprechens ist für die hier vorbereitete Theorie deswegen von Bedeutung, weil er nur dadurch entstehen kann, daß das alternierende Muster im einen Fall aktiviert wird, im anderen nicht. Ist erst das skandierende Sprechen als virtuell sprachwidrig ausgeschlossen, kann es keine andere Erklärung für den möglichen Wechsel einer sprachlichen Folge darin, ob sie >versig< ist oder nicht, geben. Im Lateinischen etwa konnte ein Sprecher bei allem schlechten Willen, wenn er nur die Sprache nicht buchstäblich fehler­ haft benutzen wollte, die Abfolge von lang und kurz nicht vermeiden, die sich durch die gesprochenen Silben ergab. Auch nachlässiges Spre­ chen konnte die gedichtete natürliche Abfolge nicht verschwinden ma­ chen. Im Deutschen dagegen läuft die, ob ungewollte oder angestrengte Prosa-Lesung eines Verses der Sprache nicht zuwider, während gerade es die skandierende, wie gezeigt, sehr wohl tun kann. Gegenüber dem Unterschied zwischen den zwei extremen Sprechweisen, der guten und der versvermeidenden, ist die Sprache also in gewissem Grad neutral. Wie aber kann sie dennoch beide als Möglichkeit, wenn schon nicht vollständig in sich tragen, so doch jedenfalls zulassen? Karl Philipp Moritz hat in seinem Versuch die Sprechweise des Ge­ dankenausdrucks von derjenigen des Empfindungsausdrucks unter­ schieden, die erste der Prosa, die zweite den Versen zugeordnet. Die erste strebe auf die inhaltlich wichtigste Silbe zu - »Das gewaltsame Hinstreben nach der Silbe, die den Hauptgedanken in sich faßt« -, während für die zweite gelte: »Die Empfindung aber vertheilt den Ein­ druck, welchen das Ganze macht, wieder auf das Einzelne, dieß Ein­ zelne mag nun an sich bedeutend seyn oder nicht«.74 Die beiden Mög­ lichkeiten, Sprache zu sprechen und sicher nicht allein die in Verse gebrachte, sind damit, wenn auch heutiger, gar linguistischer Termi74Moritz, S. 24. Die Unterscheidung durchzieht das Einleitungskapitel und den Beginn des ersten Briefes.

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Verssprache und Prosasprache

nologie zuwiderlaufend, nicht schlecht umschrieben. Was in der ProsaSprechweise wegfällt und was die andere hervorbringt, ist eine Reihe von Akzenten: denjenigen, deren Fehlen die prosodische Unbestimmt­ heit der Sprache ausmacht und die in der Vers-Sprechweise durch das alternierende Muster ergänzt würden, nicht jedoch in der ProsaSprechweise. Akzente aber sind nach der Einsicht der Phonetik Kerne von dynamischen Systemen. Die unverweilend auf ein Ziel hinstreben­ de Sprechweise, die ihren Namen nicht umsonst von »provorsa« ablei­ tet, setzt in jedem Satz oder Teilsatz nur einen einzigen rhematischen Kern, auf den sie hinstrebt, und macht damit nur diesen ganzen Satz oder Teilsatz zum dynamischen System, innerhalb dessen sich keine kleineren mehr herausbilden können. Die übrigen Silben, außer der rhematischen, bleiben in ihr gleichwertig, unfähig, eine Folge von Ak­ zenten zu bilden, unfähig, Gewicht auf sich zu ziehen. Von dieser Sprechweise, in welcher der Vers als solcher nicht erstehen kann, muß danach offenbar die gute Rezitation sich dadurch unterscheiden, daß sie dynamische Systeme in allen Bestandteilen des Satzes entstehen läßt. Eben das aber erfordert jenes gewisse Verweilen auf den Silben, durch das sich diese Art des Sprechens am deutlichsten wahrnehmbar bestimmt und von der des Prosasprechens unterscheidet. So kann sich das alternierende Muster aber bereits im einzelnen Wort wirksam zeigen, solange dies selber dynamische Einheit ist, wie virtuell in allen Silben, wenn sie nicht durch das rhematisch zielende Sprechen der bloßen Kommunikation kraftlos in eine größere einge­ reiht werden. Verssprache, um eine zu sein und um dem alternierenden Muster überhaupt die Möglichkeit des Wirkens, auf das sie angewiesen ist, zu geben, muß alle Silben als Bestandteil kleinster dynamischer Systeme gelten lassen, der binären Folge von Akzent und Nicht-Ak­ zent. Dies notwendig verweilende Sprechen der guten Versrezitation kann aber sehr wohl auf Prosa angewandt werden, auch ohne daß diese deswegen durchaus zu Versen werden müßte; die Akzente, die in ihr aufgrund prosodischer Bestimmtheit der Silben für sich vorliegen und im Sprechen realisiert werden, könnten - zufällig oder aber als der sogenannte Prosarhythmus angestrebt - so zu liegen kommen, daß, an ihnen festgemacht, das alternierende Muster aktiviert würde und daß es die prosodisch nicht vollständig bestimmten Silben passend aufnähme. So kann Prosa den Freien Rhythmen entsprechen. Die Wirkung des Musters ist denn auch in der normal gesprochenen Sprache, also außerhalb von Versen zu konstatieren. Denn die Ge­ wichtsverteilung, welche im abgeschliffen dahineilenden Sprechen aufgelöst wird zu der gerafften eines ganzen Kolon, tendiert in den einzelnen Wörtern, die mehr als eine Silbe haben, inzwischen bereits von der Sprache aus zu einem alternierenden Fall der Akzente. So z. B.

Ausgreifen des Musters

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in dem bekannten Phänomen, daß bei bestimmten zusammengesetzten Wörtern sich der Akzent des Grundwortes von dessen Stammsilbe löst und auf die ihr benachbarten legt: Bahnhof - Häuptbahnhöf.75 Dieses Phänomen hat sich erst im Laufe der Zeit, nicht allsogleich beim Auf­ treten der Alternation herausgebildet. Noch bei Goethe ist ein Wort wie »rückhaltend« als die Folge----gedichtet.76 Das Muster wirkt auf diese Weise, nachdem einmal es jeweils zu dem Akzentfall der Sprache den seinen nur hinzugefügt hatte, in einzelnen Phänomenen bereits auf jenen direkt ein, prägt die Sprache bereits in sich. Das weist noch ein­ mal auf ein geschichtliches Moment der Alternation: ihr Ausgreifen in weitere Bereiche außer den ihr gewissermaßen angestammten, der Mu­ sik und den Versen.

75 Dazu Küper, S. 262 f. 76 Goethe: Iphigenie a u f Tauris, V. 169. - In: WA 1.10, S. 9.

Epilog

Metrische Theorie, die an Versen wie denen der antiken Sprachen nur deskriptiv die lautlich wiederkehrenden Phänomene zu benennen hat­ te, um ihrem Gegenstand Genüge zu tun, kann es nicht länger, wo die lautliche Periodizität nicht allein in der Sprache mehr sich vollzieht, nicht mehr in ihr vollständig gleichsam vorliegt, auch wenn die sprach­ lichen Elemente nach den Regeln angeordnet sind. Vergils Aeneis kann vom Computer metrisch analysiert werden, nicht mehr die deutschen Verse nach Auftreten des alternierenden Musters. Was dort objektiv genug dem sprachlichen Material einbeschrieben ist, daß es diesem für sich abgenommen werden kann, die prosodische Bestimmung, ist hier nur in der besonderen Vermittlung durchs Subjekt. Erkenntnistheorie hatte aufgewiesen, daß jedes Objektive subjektiv vermittelt ist, wahr­ genommen nach den Mustern, die das Subjekt prägen und die diesem wiederum als objektiv gegenübertreten, wie im Objekt gegeben er­ scheinen müssen. Gerade ihre Innersubjektivität macht sie dem Sub­ jekt unsichtbar; sichtbar in ihrer Wirkung im Objekt, doch verborgen in sich, als zugleich vom Objekt getrennt. Deshalb ist das alternierende Muster nicht in seinem Status erkannt worden, dem eines im Subjekt Aktiven; und dies gar, obgleich es bestimmender, aktiver vom Subjekt auf das Wahrgenommene sich auswirkt als sonst die Kategorien sich in den Objekten. Die Macht, die es historisch erst gewann, ist von anderer Natur als sonst die der subjektiven Kategorien. Subjektivität selbst wohl hat sich in jenem Umschlag gewandelt, in dem das Muster be­ stimmend wurde und der nicht umsonst eine Zeit bezeichnet, aus wel­ cher der Beginn des neuzeitlichen Individuums datiert. Ohne Reflexion auf jenes Subjektive mußte metrischer Theorie ihr Gegenstand, in welchem es wirkt, dunkel bleiben; und mußte, was es bewirkt, dem Material, der Sprache zugeschrieben werden oder aber dem von ihr abstrahierten, abgetrennten Bereich, dem Schema, von dem unerklärlich blieb, wie es ohne Sprache, von der Sprache in be­ stimmter Weise unabhängig und eben abgetrennt für sich wirken kön­ ne. Das alternierende Muster aber tut, als gleichsam a priori im Sub­ jekt, eben dies und kann es tun. Nicht von aller Zeiten Anfang, da es zu Beginn des 17. Jahrhunderts sich erst im Subjekt sedimentiert, aber gerade weil es dort apriorisch dann vorliegt, wirkt es danach wie schon

Epilog

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immer gegeben. Das Paradoxon zwischen älterer und neuerer Abtei­ lung läßt sich deshalb so auflösen: Die ältere nimmt ihre Verse nach dem Muster wahr, das bei deren Entstehen nicht in Kraft war und das ihnen gegenüber fremd und falsch ist; nach dem Muster, das erst in den neueren Versen gültig wurde und wirksam. Die neuere Abteilung nimmt zwar ihre Verse mit Recht nach dem Muster wahr, reflektiert es aber so wenig wie die ältere in seinem spezifischen Status, fügt es nicht, diesem Status entsprechend, als dritte Ebene ihrem Modell ein, sondern beharrt bei den beiden, Sprache und Metrum, allein, die nur so lange ausreichten, als das Muster noch nicht aufgetreten war; die also dem metrischen Stand nur der Verse in der älteren Abteilung angemessen sind. Damit zeichnet sich zugleich der Umriß dessen ab, wie nach gültiger Theorie die Geschichte der älteren und die der neueren Verse zu ent­ wickeln sein wird. Die Verse, die vor dem historischen Umschlag ent­ standen sind, müßten strikt von all dem freigehalten werden, wovon sie bis jetzt überwuchert sind, von allen Implikaten jener falschen Grund­ annahme, in ihnen wäre der Akzent gleichmäßig gefallen, d. i. dem Muster gefolgt. Mit allem Fleiß müßte vermieden werden, in irgend­ einer Weise ihren Aufbau danach aufzufassen, wie sie uns heute ins Ohr gehen. Denn was dort ins Ohr geht, liegt längst im Ohr. Es darf nicht den Versen zugeschrieben werden; ihnen tut es Gewalt. Was diese Verse als Wiederkehrendes zu Versen macht, ist nicht jene interne Wie­ derholungsstruktur, die erst das Muster leisten wird; sondern es ist auf­ zusuchen in anderen, in der Regel kargeren Bestimmungen, wie etwa denen bloß des Reims, auch wenn dadurch sich eben noch nicht die >Versigkeit< ergibt, nach der heute wir Verse als solche erkennen und anerkennen. Daß diese sich nicht ergebe, darauf gerade wäre bei den älteren Versen zu achten; und der Mangel an Bestimmtheit, den dies vor unseren Ohren hat, wäre zu achten als ihre spezifische Freiheit. Der musikalische Vortrag, dem ein großer Teil von ihnen zugedacht war, hat ihre Form jeweils auch auf eine Weise geprägt, die nicht in metrische Regelmäßigkeit gezwungen werden dürfte. Der wechselsei­ tige Sukkurs, den Musikwissenschaft und Metrik bisher beieinander finden, indem sich jene über bestimmte Notenwerte und Pausen aus den Dogmen dieser, diese über mögliche Taktgeschlechter bei jener Auskunft einholt, er wäre von der falschen Voraussetzung, dem alter­ nierenden Muster und dem ihm gemäßen Akzentfall, zu lösen, einer Voraussetzung, die in beiden Bereichen zu den ewig gleichen Fehlern führen muß. Das Alternieren hätte nur so weit in eine Theorie dieser älteren Verse einzugehen, als zu erklären bleibt, weshalb sie, die der Alternation nicht unterliegen, dennoch in bestimmten Bereichen dem, was später der alternierende Fall wird, sich eher anbequemen, als dies

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Epilog

Prosasätze der Zeit tun; nur daß auch dabei die suggestive Kraft, die das alternierende Muster heute auf den Betrachtenden und Wahrneh­ menden ausübt, mit aller Wachsamkeit als täuschendes Moment mit­ bedacht werden müßte. Vielfältiger ist, was die Theorie, der hier Grund gelegt ist, in den neueren Versen zu erkennen verlangt, aber auch endlich zu erkennen geben wird. Wenn die älteren Verse vornehmlich die Aufgabe stellen, überhaupt recht erst in ihrer Versifikation bestimmt zu werden, die jetzt noch unter der Masse taktmetrischer oder allgemein alternieren­ der Willkür verschüttet liegt, so ist in den neueren Versen dasjenige, dem entscheidende Einsicht nun abzugewinnen ist, vielmehr die Pros­ odie. Sie wird durch das Auftreten des alternierenden Musters für sich selbst zu einem gegenüber ihrem alten Bereich völlig Anderen; daher die Unmöglichkeit, sie danach noch in der Art der antiken Prosodie zu bestimmen und gemäß der üblichen Vorstellung und Definition ihres Bereichs. Noch in den älteren Versen gilt diese, und die prosodischen Bestimmungen sind dort - entgegen dem bisher geltenden versifikatorischen Wahnsystem, das den Silben einigen prosodischen Unsinn ab­ verlangt - recht klar und einfach. Anders in den neueren Versen, wo Prosodie zum Ort wird der Einwirkung des Musters, das zugleich den Bereich der Versifikation ebenfalls bestimmt; wo Prosodie also durch ein Drittes mit dem ihr sonst getrennt gegenüberstehenden Bereich zu­ innerst verschränkt ist und die Bestimmungen nicht mehr in sich trägt, sondern nur durch dieses erst gewinnt. Zwar hat, daß dies nunmehr erkannt ist, tief reichende Folgen auch in das Gebiet versifikatorischer Theorie; zwar ist dort, was dem Schema als solchem zuzurechnen ist und also in ihm zu notieren, nunmehr mit klarer Sicherheit zu ent­ scheiden; zwar auch können deswegen all die Theoreme, die aus Un­ kenntnis des Musters Phänomene von dessen prosodischer Einwirkung falsch auf der Ebene der Versifikation stillgestellt hatten, beseitigt oder zurechtgerückt; zwar kann weiters nun auch dasjenige allererst recht begriffen werden, was an versifikatorischer Einwirkung des Musters bisher mit dem Schema schlechtweg ineins gesetzt wurde; zwar ist so außerdem das Instrumentarium gegeben, um eine Liste von Versifikationstypen, wie sie etwa Küper gibt77 und auf welcher noch immer gar einer wie der taktierende firmiert, um das offen sichtbar gewordene Falsche zu beschneiden und das darin Beschriebene so wie versifikatorische Beschreibungen überhaupt von den schweren Schlacken des Un­ erhellten zu befreien; doch wird insgesamt an den versifikatorischen Notationen, den Versschemata, wie sie sich etwa nach Wagenknechts Einführung ergeben, nur weniges nach der neuen Theorie zu ändern 77Küper, S. 253-281, Anhang I.

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sein. Prosodie dagegen, die so lange in den Metrikbüchern kümmerli­ ches Anhängsel geblieben war, denen Not an prosodischer Einsicht die Konzentration auf das Gebiet der Versifikation geboten hatte, Prosodie wird endlich sich erschließen als der Bereich, worin der Gehalt von Versen, ungleich genauer als in dem gleichsam Äußeren des Schemas, mit dem metrische Analyse bislang fast ausschließlich hantiert, spezi­ fisch zu fassen ist. Spezifisch nun erst - und entscheidend anders als in den älteren Prosodien, die sich als eigener Bereich lediglich dem der Versschemata gegenüber sahen - eben aus dem Grund, daß unter der Herrschaft der Alternation, als der Akzent erst prosodisch volle Dig­ nität erlangen kann, Prosodie sich nur in der Konstellation bestimmt, der Konstellation innerhalb des spezifischen einzelnen Verses. Es tre­ ten in Konstellation jeweils der sprachliche Akzent, der Akzent, der durch das Muster vermittelt ist, und jene prosodische Bestimmtheit der Silben, die selber nur in Konstellation, nämlich in der Festigkeit be­ steht, mit der die Silben gegen andere sich zu einem dynamischen Sy­ stem schließen; auch Akzentuierung, die vom sprachlichen Akzent ab­ zutrennen war, wird zuweilen als ein Akzent, den sie gleichwohl ergibt, in Gedichten genutzt. Die Genauigkeit des Klangs und der große Reichtum an Weisen, in denen deutsche Verse klingen können, sie ha­ ben ihre objektive Möglichkeit aus dem, was die deutsche Prosodie so schwierig: von der gängigen Vorstellung von Prosodie radikal geschie­ den sein läßt. Gerade weil ihre Bestimmungen nicht der einzelnen Sil­ be gleichsam elementar zugehören, sondern aus Unterschiedenem und dessen Verhältnis zueinander sich ergeben, gewannen historisch Verse die Fähigkeit zu so sehr unterschiedenen Prägungen, daß sie nachge­ rade unterschiedlichen Arten der Versifikation zugeschrieben werden konnten. Der Ort des Unterscheids ist jedoch die Prosodie. Sie konnte im Deutschen nur deshalb so feine Unterschiede entwickeln und so große Unterschiede zulassen in dem, was als einheitlich prosodisch Re­ levantes im Vers wiederkehrt, weil ihr festen Grund legt dieses Feste: das alternierende Muster. Es, selbst unabhängig von Sprache, hat sich nicht allein im Deut­ schen entwickelt. Fast alle europäischen Sprachen kennen alternieren­ de Verse; in ihnen also sind Verhältnisse zu vermuten denen entspre­ chend, wie ich sie hier dargelegt habe. Die russische Sprache allerdings übernimmt die Akzent- und also alternierende Dichtung erst spät und wie auf einen Beschluß hin; die französische hat sie nie angenommen. Das alternierende Muster zwar ist auch im französischen Sprachraum nicht etwa unbekannt geblieben, hat sich dort sehr wohl ebenfalls nie­ dergeschlagen: Die französische Musik kennt den gleichmäßigen Wechsel innerhalb des Taktes so gut wie alle andere europäische. In der französischen Sprache jedoch muß etwas liegen, was verhindert, daß

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Epilog

dieses gleiche Muster für Verse aktiviert wird. Es weist so sich noch einmal als eigenständig im Subjekt, von Sprache unabhängig und nur eben aufzunehmen und hervorzulocken von ihr. Wie dies die einzelnen Sprachen und wie weit unterschiedlich tun, bleibt noch zu bestimmen; die Grundzüge aber auch der alternierenden Dichtung dieser anderen Sprachen müssen durch das hier Gegebene bereits erschlossen sein. Die Monographie des Musters, welche seiner Entwicklung in den Sprachen und deren Entwicklung in ihm genaueren Grund zu geben haben wird, ist nur über die nationalsprachlichen Grenzen hinweg zu entfalten, eben weil es über die Grenzen von Sprache überhaupt hinausreicht, weil es in den Subjekten direkt sich ausformt. Wie dies möglich ist; weshalb es im frühen 17. Jahrhundert sich festigt; wie es danach a priori in den Subjekten gegeben sein kann: dies wird sich nicht leichter und nicht anders beantworten lassen als die klassischer erkenntnistheo­ retischen Fragen nach den a priori gegebenen Kategorien und nach dem, was ihnen zu widersprechen scheint, ihrem Ursprung. Die Ge­ schichte der neueren Verse aber wird zu schreiben sein nur zugleich mit der Geschichte auch des alternierenden Musters. Und diese nicht anders denn als Moment der Geschichte des Subjekts.