Gespräche über Freundschaft. Die Konstitution persönlicher Nahbeziehungen bei Platon, Cicero und Aelred von Rievaulx [1. ed.] 9783835316072, 9783835327214

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Gespräche über Freundschaft. Die Konstitution persönlicher Nahbeziehungen bei Platon, Cicero und Aelred von Rievaulx [1. ed.]
 9783835316072, 9783835327214

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
I. Einleitung
II. Einige Grundüberlegungen zur Semantik von Freundschaft
Freundschaft als soziales Kapital
Freundschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
III. Freundschaft und Gespräch: Erzählte Dialoge
Dialogeröffnungen und die Bestimmung des Themas
Grundlagen der Dialoganalyse
Die unterschiedlichen Ebenen der Dialoganalyse
Dialogische Kooperationsprinzipien
IV. Platon: ›Lysis‹
Das erste philosophische Gespräch über Freundschaft
Die Makrostruktur des Dialogs
Der sokratische Dialog
Die Semantik von ›philia‹
Die räumliche und zeitliche Situierung des Dialogs
Die Handlungs- und Sequenzmuster des Dialogs
Die Semantik von Freundschaft im ›Lysis‹
V. Cicero: ›Laelius de amicitia‹
Die Polysemie der römischen ›amicitia‹
Laelius im Raum des Privaten
Der Adressat des Dialogs
Die Sequenzmuster des Dialogs
Ciceros ›Laelius‹ und Platons ›Lysis‹
Die Entstehungsumstände des ›Laelius‹
Ciceros ›Laelius‹ und Aristoteles’ ›Nikomachische Ethik‹
›Codex legem amicitiae‹: Die Anforderungen an Freundschaft im ›Laelius‹
VI. Aelred von Rievaulx: ›De spiritali amicitia‹
Die Semantik von ›amicitia‹ im Mittelalter
Die Makrostuktur des Dialogs
Die Mesostruktur und die Sequenzmuster des Dialogs
Das erste Gespräch über Freundschaft
Das zweite Gespräch über Freundschaft
Sorgfältig auswählen und prüfen: Das dritte Gespräch über Freundschaft
Aelreds Freundschaftskonzeption und das Problem der Intimisierung und Individuierung
VII. Schluss: Freundschaft im Gespräch
VIII. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Danksagung

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Marina Münkler Gespräche über Freundschaft

fig ura . Ästhetik, Geschichte, Literatur Band 2 Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening und Klaus Krüger

Marina Münkler

Gespräche über Freundschaft Die Konstitution persönlicher Nahbeziehungen bei Platon, Cicero und Aelred von Rievaulx

Wallstein Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Aldus nova Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf ISBN (Print) 978-3-8353-1607-2 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2721-4

Inhalt

I.

Einleitung

II.

Einige Grundüberlegungen zur Semantik von Freundschaft Freundschaft als soziales Kapital Freundschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium

III. Freundschaft und Gespräch: Erzählte Dialoge Dialogeröffnungen und die Bestimmung des Themas Grundlagen der Dialoganalyse Die unterschiedlichen Ebenen der Dialoganalyse Dialogische Kooperationsprinzipien

IV. Platon: Lysis Das erste philosophische Gespräch über Freundschaft Die Makrostruktur des Dialogs Der sokratische Dialog Die Semantik von philia Die räumliche und zeitliche Situierung des Dialogs Die Handlungs- und Sequenzmuster des Dialogs Die Semantik von Freundschaft im Lysis

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13 16 20 26 26 29 33 39 42 42 43 45 49 58 63 89

V.

Cicero: Laelius de amicitia Die Polysemie der römischen amicitia Laelius im Raum des Privaten Der Adressat des Dialogs Die Sequenzmuster des Dialogs Ciceros Laelius und Platons Lysis Die Entstehungsumstände des Laelius Ciceros Laelius und Aristoteles’ Nikomachische Ethik Codex legem amicitiae: Die Anforderungen an Freundschaft im Laelius

VI. Aelred von Rievaulx: De spiritali amicitia Die Semantik von amicitia im Mittelalter Die Makrostuktur des Dialogs Die Mesostruktur und die Sequenzmuster des Dialogs Das erste Gespräch über Freundschaft Das zweite Gespräch über Freundschaft Sorgfältig auswählen und prüfen: Das dritte Gespräch über Freundschaft

Aelreds Freundschaftskonzeption und das Problem der Intimisierung und Individuierung

94 94 97 103 107 135 139 143 147 150 154 156 157 157 172 191 217

VII. Schluss: Freundschaft im Gespräch

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VIII. Literaturverzeichnis

226

Primärliteratur Sekundärliteratur

226 227

Danksagung

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I. Einleitung

Neben der Liebe gehört die Freundschaft traditionell zu den seit der Antike häufig thematisierten Beziehungsformen. Was Freundschaft eigentlich ist, was sie begründet, welche Art von wechselseitiger Anziehung ihr zugrunde liegt, zwischen welchen Personen sie möglich oder gar wahrscheinlich ist, was sie leistet, welchen Belastungen sie standzuhalten vermag und wo ihre Grenzen liegen, ist in zahlreichen Erzählungen, Traktaten und Dialogen inszeniert und erörtert worden. Mit einem anderen befreundet zu sein, scheint nicht als selbstverständlich gegolten zu haben, sonst wäre kaum so viel darüber nachgedacht worden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Freundschaft als ein bedeutsames, aber auch als ein klärungsbedürftiges Konzept angesehen worden ist. Freundschaft, so scheint es, ergibt sich nicht von selbst, sondern wird erworben. Es handelt sich somit um ein Gut, bei dem zunächst zu klären ist, ob es lohnt, sich darum zu bemühen. Überdies wirft Freundschaft die Frage auf, ob sie nicht nur für den Einzelnen attraktiv, sondern auch für die Gemeinschaft relevant ist. Solche Überlegungen sind in der Geschichte der Philosophie und des politischen Denkens schon sehr früh angestellt und über einen langen Zeitraum in unterschiedlichen Kontexten traktiert worden  – zumeist im Rahmen der grundsätzlichen Frage, was ein gutes Leben sei. Noch heute gehört Freundschaft zu den Themen, für deren Ergründung es einen anhaltenden Bedarf zu geben scheint. Das jedenfalls legt ein Blick auf die lange Reihe der Freundschaftsbücher nahe. Die vorliegende Untersuchung widmet sich drei berühmten Gesprächen über Freundschaft: Platons Lysis, Ciceros Laelius de amicitia und Aelreds von Rievaulx De spiritali amicitia. Diese drei Dialoge sind zwischen 400 vor und 1200 7

n. Chr. entstanden, also innerhalb eines Zeitraums von etwa 1600 Jahren. Platon trennt von Cicero ein Abstand von ungefähr 400 Jahren, zwischen Cicero und Aelred liegen nahezu 1200 Jahre. Platon verfasste seinen Dialog Lysis vermutlich um 390,1 Cicero schloss den Laelius de amicitia höchstwahrscheinlich im November 44 v. Chr. ab, und Aelred schrieb sein Gespräch über die geistliche Freundschaft wohl wenige Jahre vor seinem Tod zwischen 1164 und 1167 n. Chr. Derart große zeitliche Distanzen lassen den Vergleich der drei Gespräche schwierig erscheinen, zumal diese auch noch in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind: Platons Lysis in der attischen Polis im Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern einer oligarchischen und denen einer demokratischen Herrschaft, Ciceros Laelius während des vergeblichen Kampfes um die Wiederherstellung der Römischen Republik nach der Ermordung Caesars und Aelreds De spiritali amicitia in einem Kloster des während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts rasch wachsenden Zisterzienserordens in Nordengland. Und dennoch gibt es Verbindungen zwischen den Texten, die auf den ersten Blick so vieles trennt. Was die Dialoge verbindet, ist zunächst das Thema der Freundschaft, das im Zentrum steht. Zweitens ist es die Form des Gesprächs, die alle drei Verfasser verwenden, um über Freundschaft zu sprechen. Und drittens sind sie auch intertextuell verbunden: So bezieht sich Aelred explizit auf Cicero, dessen Gespräch über Freundschaft er vom römischen

1 Vgl. Erler, Platon, S. 157. Die Datierung von Platons Lysis ist umstritten. Siehe dazu die Überlegungen bei Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 95 – 106, der nur eine relative Datierung des Lysis für möglich hält und ihn am Übergang von den Frühdialogen zu den mittleren Dialogen Platons ansiedelt, etwa zeitgleich mit dem Dialog Menon, aber vor dem Symposion und der Politieia. In seiner Platon-Einführung rechnet Bordt den Lysis zu den frühen Dialogen, die er auf die Zeit vor 389 v. Chr. datiert. Vgl. Bordt, Platon, S. 37 – 39.

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Forum ins Kloster hinüberführen möchte. Cicero wiederum orientiert sich zwar deutlich schwächer an Platon, aber auch er übernimmt die dialogische Form, um über Freundschaft zu sprechen, und setzt sich zumindest en passant mit der Figur des Sokrates auseinander, der bei Platon der Dreh- und Angelpunkt des Gesprächs ist. Außerdem fungiert Aristoteles, dessen Überlegungen zur Freundschaft stellenweise auf Platons Lysis zurückgreifen, als Intertext zwischen Platon und Cicero. So hat Cicero bei seiner Dreiteilung der Freundschaftstypen auf Aristoteles zurückgegriffen. Der Bezug ist also in den später entstandenen Texten hergestellt worden, und von daher ist zu fragen, was diese Bezugnahmen motiviert und was die drei Autoren veranlasst hat, so intensiv über Freundschaft nachzudenken. Welchen Stellenwert hat Freundschaft, wenn sich ihr mit Platon der Begründer der europäischen philosophischen Tradition, mit Cicero der bekannteste römische Rhetoriker, Jurist und Politiker sowie mit Aelred einer der einflussreichsten und bedeutendsten Äbte des Zisterzienserordens in England zuwenden? Es drängt sich jedenfalls der Eindruck auf, dass sie Freundschaft nicht als eine erfreuliche Privatangelegenheit betrachtet haben, denn Privatangelegenheiten waren nicht das, womit man sich in philosophischen, juristischen und theologischen Kreisen beschäftigte, und schon gar nicht waren Privatangelegenheiten etwas, worüber man komplexe Texte in einer anspruchsvollen literarischen Form schrieb. Andererseits ist davon auszugehen, dass die drei Autoren unter philia und amicitia nicht das Gleiche verstanden haben. Schon die sprachliche Differenz zwischen dem griechischen Wort philia und dem lateinischen Terminus amicitia legt das nahe  – auch wenn das griechische philia in der Regel mit amicitia ins Lateinische übersetzt worden ist. Die Kontextbezogenheit (Indexikalität) und Vieldeutigkeit (Polysemie) von Lexemen machen es unwahrscheinlich, dass gleiche Lexeme stets dieselbe Bedeutung haben. Vielmehr ist von Bedeutungstransformationen auszugehen, die möglicherweise 9

auch in den Dialogen selbst stattgefunden haben. Jedenfalls kann man mit gutem Grund annehmen, dass Aelred gegenüber Cicero schon durch das beigefügte Adjektiv spiritali (i. e. spiritualia) nicht nur eine einschränkende Präzisierung, sondern auch eine grundlegende Transformation des Freundschaftsbegriffs vorgenommen hat. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass die in den Dialogen erfolgten definitorischen Festlegungen, Präzisierungen und Transformationen von Freundschaft dem modernen Verständnis eher fremd sind. Insofern begründet allein der historische Abstand zu den drei Texten, dass die jeweilige Bedeutung von Freundschaft philologisch zunächst erschlossen werden muss. Dies ist nicht ohne historische Kontextualisierung möglich. Freundschaft als private, rein intersubjektive Verbindung zu betrachten, die jenseits der Öffentlichkeit stattfindet, ist eher eine moderne Vorstellung. Nach modernen Freundschaftsdefinitionen und den mit ihnen verbundenen Erwartungen bezeichnet Freundschaft eine enge, persönlich begründete Nahbeziehung, aus der Verpflichtungen erwachsen können, aber nicht müssen. So definiert etwa die Brockhaus-Enzyklopädie von 1988 Freundschaft als Form sozialer Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Partnern, die durch gegenseitige Anziehung und persönlichkeitsbezogene Vertrautheit und durch Achtung bestimmt ist und Hilfs- und Opferbereitschaft und freiwillige Verantwortung für den anderen einschließen kann, im Unterschied zu zweckbedingten partnerschaftlichen Verbindungen.2 Wechselseitige Anziehung, Vertrautheit und Achtung gelten offenbar als Voraussetzungen, Hilfs- und Opferbereitschaft sowie Verantwortung hingegen als Folgen von Freundschaft. Diese Folgen sind freilich mit einer Kann-Bestimmung 2 Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 7, 1988, S. 654 f.

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versehen, und die Verantwortung ist überdies als freiwillig markiert. Freundschaft ist dadurch relativ stark vom Bereich der Pflichten abgegrenzt: Freundschaft verpflichtet gerade nicht; zwar kann sie ein Gefühl wechselseitiger Verpflichtung umfassen, aber es wird durchweg betont, dass dies in der persönlichen Entscheidung des Einzelnen liegt. Freundschaft ist damit aus einem ethischen Anforderungskonzept entlassen. Allerdings scheint Freundschaft durchaus als ein Anspruchsbegriff betrachtet zu werden, denn Achtung und persönlichkeitsbezogene Vertrautheit sind voraussetzungsreiche Bestimmungen, die nicht nur längere Bekanntschaft implizieren, sondern auch Respekt für und Rücksichtnahme auf die Persönlichkeitsmerkmale des anderen. Zur Achtung gehört eine spezifische Form der Anerkennung, die mit Respekt gepaart ist. Persönlichkeitsbezogene Vertrautheit scheint Vertrauen zu implizieren; Vertrauen kann aber durchaus Abstufungen haben. Zwischen der Besprechung von Themen und Problemen, die vertraulich sein können, und der rückhaltlosen Selbstoffenbarung gibt es erhebliche Unterschiede. Im modernen Verständnis von Freundschaft scheint die Abgrenzung gegenüber zweckbedingten Verbindungen wichtig zu sein, die zwar partnerschaftlich genannt werden können, aber durch ihre Zweckorientierung eine Einschränkung erfahren, die ihnen den Namen Freundschaft offenbar verwehrt. Freundschaft wird damit nicht von Feindschaft abgegrenzt, sondern von reziproken Verbindungen, die um eines Nutzens willen eingegangen und gepflegt werden. Nicht jede »partnerschaftliche Verbindung« verdient schon den Namen Freundschaft. Erst wenn bloßes Bekanntsein und regelmäßiger Kontakt um Elemente der Vertrautheit und des Vertrauens angereichert worden sind, kann von Freundschaft gesprochen werden. Derartige Präzisierungen des Freundschaftsbegriffs tragen jedoch nur scheinbar zu seiner Vereindeutigung bei. Zwar ist die Herstellung von Eindeutigkeit der Zweck einer solchen Präzisierung, aber es ist offensichtlich, dass damit Aspekte 11

des Freundschaftsverständnisses abgewiesen werden, die im allgemeinen Sprachgebrauch zweifellos mit Freundschaft verbunden werden. Der Geschäftsfreund oder der Parteifreund etwa sind gängige zusammengesetzte Lexeme, und schon ihr Vorkommen macht deutlich, dass sie nicht als widersinnig betrachtet werden. Alles in allem muss also eine erhebliche Polysemie des Freundschaftsbegriffs in Rechnung gestellt werden. Freundschaft ist offenbar vieles auf einmal, und darunter findet sich manches, was man für in sich widersprüchlich halten kann. Diese Widersprüche zeigen sich nicht zuletzt in den geläufigen und bereits in der Antike vorgenommenen Unterscheidungen zwischen ›echter‹ und ›vorgetäuschter‹, ›wahrer‹ und ›falscher‹ Freundschaft. Der Freundschaftsbegriff ist insofern nicht nur polysem, sondern in ihm werden auch die Konfliktpotenziale der sich in der Polysemie zeigenden divergenten Bewertungen von Freundschaft ausgetragen. Dem Nutzen definitorischer Präzisierung für eine gelingende Verständigung steht also gegenüber, dass damit die in der Polysemie aufgespeicherten Dissense einer Gesellschaft über die Rolle und den Nutzen der mit dem Nomen amicitia bezeichneten Beziehungsform getilgt werden. Diesen Unsicherheiten und Gegensätzen soll in der nachfolgenden Beschäftigung mit den drei Freundschaftsdialogen nachgegangen werden.

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II. Einige Grundüberlegungen

zur Semantik von Freundschaft

Jüngere soziologische Freundschaftstheorien haben das Problem der Polysemie des Freundschaftsbegriffs zumeist durch die Unterscheidung von Freundschaft als persönlicher Nahbeziehung und Freundschaft als sozialer Institution aufzulösen versucht.1 Freundschaft als persönliche Nahbeziehung gilt in der Regel als Wechselbeziehung von individueller Kommunikation und emotionaler Anziehung. Freundschaft als soziale Institution dagegen wird als Gestaltung wechselseitigen Nutzens angesehen, aus dem sowohl ein Vorteil für die Gesellschaft im Sinne eines allgemeinen Altruismus resultieren kann als auch ein rein persönlicher Nutzen, der für die Gesellschaft insgesamt eher von Nachteil ist. Nun ist Freundschaft nicht die einzige Institution, die Menschen verbindet. Daneben gibt es die Institutionen der Verwandtschaft und der Ehe, der wiederum in der Moderne Liebe als begründende Voraussetzung zugeordnet wird. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, hat Igor S. Kon vier Möglichkeiten des Verhältnisses von Freundschaft als persönlicher Nahbeziehung und als sozialer Institution zu anderen Beziehungstypen, wie Liebe und Verwandtschaft, herausgearbeitet: 1. Fusion (Freundschaft und Verwandtschaft gehen ineinander auf); 2. Substitution (Freundschaft als Ersatz für Liebe oder Verwandtschaft); 3. Ergänzung (Freundschaft ergänzt Verwandtschaftsbeziehungen und Liebesbe-

1 Vgl. Nötzold-Linden, Freundschaft, sowie Hahn, Zur Soziologie der Freundschaft.

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ziehungen); 4. Konkurrenz (Freundschaft konkurriert mit Liebe und Verwandtschaft).2 Als soziale Institution schafft Freundschaft Verbindlichkeit und Vertrauen zwischen Personen, die über einen gemeinsamen Habitus und die ihm zugeschriebenen Tugenden verfügen. Als persönliche Nahbeziehung stabilisiert sie Identität durch den Austausch mit einem Anderen, der als Vorbild, als Spiegel des Selbstbildes oder auch als alter ego begriffen werden kann. Danach begründet Freundschaft sowohl sozio-politische als auch persönliche Vernetzungen, die zur Stabilisierung des sozialen Systems beitragen können. Freundschaft kann daher als zentrales Element eines gesellschaftlichen Tugendsystems sowie zur Fundierung der gesellschaftlichen Ordnung eingesetzt werden, aber auch als ein Code für Intimität, wobei sie jeweils sehr spezifische Ausprägungen erfahren kann. Geht man von dieser Aufgabenbeschreibung aus, nimmt es nicht wunder, dass das Lexem Freundschaft zu inflationärem Gebrauch tendiert. Das gilt insbesondere für bestimmte historische Perioden oder literarische Epochen, in denen die Freundschaftssemantik einen besonderen Aufschwung erfahren hat, wie etwa in der hier behandelten Zeit der griechischen Poleis und den Kämpfen der untergehenden Römischen Republik, wo sie für unterschiedliche soziale Vernetzungen in Anspruch genommen worden ist. Es gilt indes deutlich weniger für das hochmittelalterliche Ordenswesen, wo die Semantik von Freundschaft langsam eine Rolle zu spielen beginnt, sich aber nicht gegen die Semantik der Bruderschaft durchsetzen kann. Freundschaft steht hier in einem Konkurrenzverhältnis zu Verwandtschaft, die in der Idee der geistlichen Bruderschaft aber selbst metaphorisiert worden ist. Auch jenseits der jeweiligen Konjunkturen von Freundschaftssemantik gehört Freundschaft zu jenen elementaren 2 Kon, Freundschaft.

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Formen sozialer Vernetzung, für die es offenbar einen permanenten Bedarf gibt. Stratifizierte Gesellschaften, wie die der Antike und des Mittelalters, können soziale Beziehungen und deren Pflege nicht mehr ausschließlich über Familie und Verwandtschaft steuern.3 Dafür sind die gesellschaftlichen Vernetzungen bereits zu komplex und zu großräumig geworden. Der Begriff der Freundschaft muss daher soziale Strukturlasten tragen, die ihn mit einer Vielzahl von Funktionen und Aufgaben befrachten.4 Es gehört zu den Leistungen des Freundschaftsbegriffs, dass er solche Strukturlasten zu tragen vermag, weil er sowohl als Code der Öffentlichkeit fungieren kann, der in erster Linie politisch-soziale Vernetzungen bezeichnet, als auch als Code von Intimität, der enge, gegenüber Dritten abgegrenzte persönliche Bindungen markiert. Aus dieser doppelten Codierung ergeben sich weitreichende Ambiguitäten, die synchron und diachron für die Semantik von Freundschaft kennzeichnend sind. Phänomenologisch resultieren diese Ambiguitäten daraus, dass die beiden idealtypisch unterscheidbaren Arten von Freundschaft auf der Ebene der kommunikativen Codes nicht eindeutig zu trennen sind und sich obendrein mit anderen Codes, wie denen von Verwandtschaft und Liebe, überschneiden. In welcher Weise sich die Codierung ausprägt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie in Abhandlungen oder in Dialogen erfolgt. Grundsätzlich kann man dabei zwischen der Ethik und dem Ethos der Freundschaft unterscheiden: Abhandlungen begründen eine Ethik der Freundschaft, in der Freundschaft als elementarer Teil von Lebens-, Sitten- und Tugendlehren formuliert wird, wohingegen Narrationen ein Ethos der Freundschaft inszenieren, das in einzelnen Protagonisten verkörpert und in Interaktionen repräsentiert wird. Dialoge können diese Trennung von Ethik und Ethos jedoch wieder aufheben bzw. sie unterlaufen, indem sie in den Gesprächs3 Eisenstadt / Roniger, Patrons, clients and friends, S. 263 – 293. 4 Vgl. Rexroth / Schmidt, Freundschaft und Verwandtschaft, S. 9.

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anteilen einzelner Protagonisten eine Ethik der Freundschaft entwickeln und zugleich demonstrieren, in welcher Weise sie diese als Ethos des eigenen Handelns verkörpern oder ihm in ihren Handlungen widersprechen. Das ist womöglich eine erste Erklärung dafür, warum sich die drei hier behandelten Autoren für den Dialog als Darstellungsform ihrer Überlegungen zur Freundschaft entschieden haben.

Freundschaft als soziales Kapital Dialoge sind als Repräsentation von face-to-face-Kommunikation nicht nur ein entscheidendes Medium der diskursiven Bearbeitung dessen, was jeweils unter Freundschaft verstanden werden soll, sondern sie können Freundschaft auch in Szene setzen. Sie machen die Codierungen von Ethik (Anforderung) und Ethos (Leistung) durchlässig, weil sie sowohl diskursiv durch definitorische Arbeit als auch performativ durch Freundschaftsbekundungen funktionieren. Der Dialog verknüpft damit Theorien und Praktiken freundschaftlicher Interaktion; er partizipiert gleichermaßen an der Entwicklung einer Ethik wie an der Repräsentation eines Ethos der Freundschaft. Als Beziehungskonzept, für das sowohl eine Ethik als Verhaltensnormierung entworfen als auch ein gelebtes Ethos als Verhaltensorientierung beschrieben worden ist, kann Freundschaft im Sinne Pierre Bourdieus als symbolisches Kapital für diejenigen betrachtet werden, die einem solchen Ethos genügen bzw. denen es gelingt, dies für sich geltend zu machen. Das symbolische Kapital der Freundschaft beruht nicht zuletzt auf dem sozialen Kapital, über gesellschaftlich relevante Beziehungsnetzwerke zu verfügen, sowie auf dem Habitus gepflegter Umgangsformen.5 Beide 5 Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 187 – 191. Zum Habitus-Konzept vgl. Bourdieu, Soziologie der symbolischen Formen, bes. S. 37 – 40.

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sind eng mit kulturellem Kapital verknüpft, und das gilt umso mehr, je stärker Freundschaft als Anspruchsbegriff verstanden wird. Nur wer über kulturelles Kapital verfügt, wird als freundschaftswürdig betrachtet. Das hat Frauen in der Tradition der entsprechenden Diskurse und Erzählungen lange Zeit nicht nur von der Entwicklung einer Freundschaftsethik, sondern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch vom Ethos der Freundschaft ausgeschlossen. Es ist darum auch nicht verwunderlich, dass in den untersuchten Dialogen Frauen weder vorkommen noch thematisiert werden. Symbolisches Kapital bezeichnet demnach das Prestige oder die Reputation, die man aus dem Verfügen über die anderen drei Kapitalsorten bezieht. Wer über ökonomisches Kapital verfügt, kann sich, etwa als Mäzen, großzügig zeigen und darüber symbolisches Kapital aufbauen; wer über soziales Kapital verfügt, kann symbolisches Kapital durch das Renommee seiner Freunde und ihren spezifischen Habitus erringen; wer über kulturelles Kapital verfügt, kann durch seine Bildung und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften, wie Weisheit, symbolisches Kapital erlangen, das ihn als Freund attraktiv macht. Robert Putnam hat soziales Kapital anders konzipiert: Er versteht darunter ein zentrales Funktionselement des gesellschaftlichen Zusammenhalts, dessen Fehlen zur Anomie der Gesellschaft führt.6 In dem von ihm mit Kristin A. Goss herausgegebenen Band Gesellschaft und Gemeinsinn haben beide soziales Kapital in vier Gegensatzpaare unterteilt, deren Bereiche sich teilweise überschneiden: Formelles versus informelles Sozialkapital, soziales Kapital hoher Dichte versus soziales Kapital geringer Dichte, innenorientiertes versus außenorientiertes Sozialkapital, schließlich brückenbildendes (bridging) versus bindendes (bonding) Sozial6 Vgl. Putnam, Bowling Alone. Für eine kritische Zusammenfassung seiner Thesen im Vergleich mit Pierre Bourdieus Begriff des sozialen Kapitals vgl. Braun, Putnam und Bourdieu.

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kapital.7 Unter formellem Sozialkapital verstehen Putnam und Goss institutionalisierte Bindungsformen, wie sie Vereine und Verbände darstellen, in denen Vernetzung durch Mitgliedschaft entsteht. Informelles Sozialkapital wird dagegen bei losen Treffen und in Kommunikationen begründet, die eine schwache, aber durchaus beanspruchbare Verbindlichkeit auszeichnet. Soziales Kapital hoher Dichte resultiert wiederum aus engen Vernetzungen, die regelmäßige Kommunikation und feste Beziehungen voraussetzen, während soziales Kapital geringer Dichte auf loser Bekanntschaft oder situativer Verständigung beruhen kann. Die Probleme, die sozialem Kapital für das Funktionieren von Gesellschaften innewohnen, zeigen sich im dritten und vierten Typus. Innenorientiertes Sozialkapital ist im Gegensatz zu außenorientiertem auf die Mitglieder bestimmter Gruppen beschränkt, die über Klassenzugehörigkeit, Ethnizität oder Geschlecht gebildet werden, und dient wesentlich der Durchsetzung ihrer sozialen, materiellen und politischen Interessen. Außenorientiertes Sozialkapital dagegen entsteht durch die Orientierung an der Herstellung öffentlicher Güter (common goods) und zeichnet sich damit eher durch die Förderung von Gemeinsinn aus. Ähnliches gilt für brückenbildendes versus bindendes Sozialkapital, das sich in einigen Punkten mit der Innen- oder Außenorientierung überschneidet, aber einen anderen Fokus hat, insofern es sich auf die Funktion von Sozialkapital für die Struktur einer Gesellschaft bezieht. Lassen die Präsenspartizipien bridging und bonding zunächst vermuten, dass sie eine Abfolge der sozialen Integration bezeichnen, so ist tatsächlich das Gegenteil der Fall. Bridging bezeichnet die inklusiven Effekte sozialen Kapitals, durch die Netzwerke entstehen, in die auch Nichtzugehörige integriert werden können, wohingegen bonding die exklusiven Effekte betont, die Nichtzugehörige ausschließen und die Grenzen der Zugehörigkeit anhand von 7 Putnam / Goss, Einleitung, S. 26 – 29.

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Kriterien wie Klasse, Sprache oder ethnischer Zugehörigkeit herstellen. Die Negativseite von bonding überschneidet sich am ehesten mit Bourdieus Theorie des sozialen Kapitals, die in erster Linie Grenzziehungen und Zugangsbeschränkungen zeigt und soziales wie kulturelles Kapital als einander wechselseitig verstärkende Elemente sozialer Distinktion versteht. Die von Bourdieu, Putnam und Goss entwickelten Theorien sozialen Kapitals scheinen mit den zu untersuchenden Dialogen auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben. Gerade die soziale Dimension von Freundschaft und ihre Funktion für die Gesellschaft spielen aber in allen drei Dialogen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, eine zentrale Rolle. Historisch betrachtet finden sich trotz der erheblichen Bedeutungsverschiebungen des Freundschaftsbegriffs Anknüpfungspunkte, die bis in die Antike zurückreichen. So hat Aristoteles den Menschen als zōon physei politikon, als ein von Natur aus gemeinschaftsorientiertes Wesen, beschrieben und alle Formen der Gemeinschaft und der politischen Ordnung aus dieser anthropologischen Definition abgeleitet. Eine nähere Bestimmung dessen, was Freundschaft sei, findet sich daher sowohl in der Politik als auch in der Nikomachischen Ethik, in der Aristoteles die ethischen Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens bestimmt. Der Freundschaft widmet Aristoteles die Bücher 8 und 9 der Nikomachischen Ethik, die den Übergang von der Familie zur Polis behandeln. Darin unterscheidet er grundsätzlich drei Typen von Freundschaft: die Lust-, die Nutzen- und die Tugendfreundschaft. Unter Lustfreundschaft versteht Aristoteles eine Beziehung, in der das Vergnügen und die Unterhaltung im Vordergrund stehen; unter Nutzenfreundschaft fasst er jene Arten von zweckorientierter Freundschaft zusammen, bei denen die Nützlichkeit des Freundes im Zentrum steht; als Tugendfreundschaft, die ihm als die wertvollste Form der Freundschaft gilt, bezeichnet er jene Art von Freundschaft, bei der das Interesse am anderen 19

aus der Liebe zum Guten erwächst. Derartige Unterscheidungen sind auch für die hier untersuchten Dialoge relevant; für Cicero und Aelred sind sie sogar zentral. Allerdings sollten solche Feststellungen nicht zu einer vorschnellen Festlegung dessen führen, was in den untersuchten Dialogen jeweils verhandelt wird. Vielmehr kommt es darauf an, die Mehrdeutigkeit der verwendeten Freundschaftsbegriffe zunächst offen zu halten und zu beschreiben, ob und wie innerhalb der Dialoge definitorische Festlegungen getroffen werden, ob und wie sie präzisiert und welche Lexeme überhaupt verwendet werden.

Freundschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium Wenn Freundschaft historisch wie zeitgenössisch so vielfältig ist, muss sie mehr sein als eine persönliche Beziehung und auch mehr als eine soziale Institution. Sie muss vielmehr ein sowohl generalisierbares als auch individualisierbares Konzept sein, das eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt. Als generalisierbares Konzept einer positiv besetzten oder zu besetzenden Beziehung kann der Terminus Freundschaft für alle möglichen Bezugnahmen auf sozial relevante Einzelne oder Gruppen (Geschäftsfreund, Parteifreund) oder Gegenstände eingesetzt werden (Tierfreund, Weinfreund, Kunstfreund). Als individualisierbares Konzept einer Beziehung kann Freundschaft auf unterschiedliche Grade von Nahbeziehungen mit verschiedenen Ausprägungen vertraulicher Kommunikation angewendet werden. Der Begriff der Freundschaft muss demnach semantisch so anschlussfähig sein, dass er ganz unterschiedliche Aspekte zu entwickeln und entsprechende Funktionen zu erfüllen vermag. Niklas Luhmann hat Freundschaft deshalb als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium bezeichnet. Dass ein Lexem wie Freundschaft ein Kommunikationsmedium 20

sein soll, mag zunächst nicht einleuchten. Gesagt ist damit indes Folgendes: Ein Medium hat die Funktion zu vermitteln, und die einzig mögliche Weise, in der zwischen den Angehörigen einer Gesellschaft vermittelt werden kann, ist Kommunikation. Weil das soziale System auf Kommunikation beruht, gelingende Kommunikation aber unwahrscheinlich ist, bedarf sie unterschiedlicher Medien: Sprache, um Verständlichkeit herzustellen; Verbreitungsmedien, um Kommunikation zu ermöglichen, die sich an mehr als die Anwesenden richtet; und Kommunikationsmedien, die die Annahme von Kommunikation wahrscheinlich machen. Nun sind Sprache und Verbreitungsmedien zweifellos andere Arten von Medien als ein einzelnes Lexem. Diese Differenz wird durch die Adjektive symbolisch und generalisiert deutlich gemacht. Symbolisch meint hier, dass ein Lexem wie Freundschaft die Kommunikation in eine bestimmte Richtung lenkt und sie zugleich überhöht, d. h. ihr Sinn verleiht. Sinn entsteht durch die Auswahl bestimmter Selektionsofferten, die umso anschlussfähiger sind, je stärker sie auf bereits vorliegende Sinnkonstruktionen Bezug nehmen. Ein solches Kommunikationsmedium lässt sich als ein Vorrat von Wörtern, Redewendungen, Zeichen, Gesten und Bildern beschreiben, durch den unterschiedliche Selektionsofferten für die Konstruktion von Sinn verfügbar sind. Die Richtungslenkung besteht darin, dass Freundschaft eine bestimmte Bezugnahme zwischen mindestens zwei Personen bezeichnet. Diese Bezugnahme bedeutet im allereinfachsten Sinne wenig mehr als »keine Feindschaft«. Das Wort Freundschaft lenkt die Kommunikation also zunächst in eine auf Verständigung angelegte Richtung. Darauf lassen sich dann in zahlreichen Stufen weitergehende Bedeutungen aufbauen, die von friedlicher Verständigung, Ausgleich, Kompromiss, Verständnis bis zu Vertrauen, Vertraulichkeit und Vertrautheit reichen. Generalisiert meint, dass solche Kommunikationsmedien immer wieder eingesetzt werden können und dass sie auf Reziprozität angelegt sind. Kommunikation ist ohnehin im21 https://doi.org/10.5771/9783835327214

mer schon da, sobald zwei Personen aufeinandertreffen, aber der Einsatz von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gibt ihr eine positive Richtung, die die Akzeptanz von ego durch alter wahrscheinlicher macht. Kommunikationsmedien motivieren alter, bestimmte Selektionen vorzunehmen und dasselbe Kommunikationsmedium einzusetzen. Unter symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien versteht Luhmann also solche Medien, die die Akzeptanz dessen, was ego sagt, bei alter erhöhen. Als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium hat Luhmann in erster Linie die Liebe beschrieben. Er begreift sie als soziale Einrichtung, die Paarbindungen wahrscheinlich macht.8 Liebe ist nach Luhmanns Verständnis somit kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, aber auch bilden, simulieren oder anderen unterstellen kann.9 Dazu bedarf es der Etablierung von Sinn, d. h. eines in der Semantik immer wiederkehrenden Vorrats von bestimmten Bedeutungen, die jedoch nicht vollständig invariabel sind. Freundschaft gehört nach Luhmann ebenfalls zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die als »Fixierung von Sinn für den wiederholten Gebrauch« relativ stabile Interaktionen zwischen Individuen ermöglichen. Anders als der Liebe hat Luhmann der Freundschaft keine eigene Abhandlung gewidmet und sie in Liebe als Passion lediglich als zeitweilige Konkurrenzsemantik im Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft behandelt. Freundschaft erscheint in seinem Werk an anderer Stelle aber als zentraler Begriff für die Begründung sozialer Ordnung.10 Aus dieser Doppelheit der Freundschaftssemantik als Codierung sozialer Ordnung und Codierung von Intimität hat Luhmann jedoch keine weiteren 8 Luhmann, Liebe als Passion, S. 157 f. 9 Ebd., S. 161. 10 Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich?, S. 212 – 218.

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Schlussfolgerungen gezogen. Gerade in dieser Doppelheit aber gründet der spezifische Funktionsmodus von Freundschaft als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium, weil es in zwei Richtungen eingesetzt werden kann: in Bezug auf das soziale System und in Bezug auf das intime System der vertraulichen Kommunikation. Da Freundschaft die Begründung und Stabilität von Sozialbeziehungen wahrscheinlicher macht, hat sie eine andere Reichweite als Liebe. Liebe ist ein exklusiver Kommunikationscode, Freundschaft dagegen ein inklusiver Code, der steigerbar ist, d. h. unterschiedliche Arten von Inklusion und verschiedene Grade von Interaktion ermöglicht. Die Freundschaft mit einer Person schließt die Freundschaft mit anderen nicht per se aus. Weil Anschlussfähigkeit und Stabilität in der Gesellschaft als dem sozialen System, das alle anderen sozialen Systeme einschließt, von erheblicher Bedeutung ist, um gelingende Kommunikation wahrscheinlicher zu machen, ist Freundschaft, anders als Luhmann selbst das gesehen hat, eines der zentralen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien einer Gesellschaft. Jemanden als Freund zu bezeichnen, zeichnet den Angesprochenen aus, formuliert aber gleichzeitig die Erwartung, dass der Angesprochene sich auch freundschaftlich verhält, d. h. sich an gemeinsamen Neigungen, Interessen oder Werten orientiert. Das Kommunikationsmedium Freundschaft ermöglicht als »Fixierung von Sinn für den wiederholten Gebrauch« Interaktion zwischen Individuen, die bereits in Antike und Mittelalter nicht ausschließlich über den Code der Verwandtschaft geregelt werden konnte. Vielmehr muss der kommunikative Code auch in stratifizierten, d. h. nicht mehr allein über den Familienverband strukturierten Gesellschaften die Annahme von Kommunikation mit Unbekannten und die Vergemeinschaftung mit Nicht-Verwandten einbeziehen und die Kommunikation mit ihnen strukturieren. Sie hat damit erhebliche Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Verbindungen wie sozialer Verbindlichkeit. 23

Das hat Folgen für den Einsatz des Kommunikationsmediums: Wegen seiner Bedeutung für die Begründung und Stabilisierung sozialer Ordnung zeichnet sich das Kommunikationsmedium Freundschaft einerseits durch eine erhebliche Inflationstendenz, andererseits aber auch durch eine hohe Inflationstoleranz aus.11 In dieser Inflationstendenz zeigen sich die Strukturlasten, die das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Freundschaft für den Aufbau, die Differenzierung sowie die Stabilisierung des sozialen Systems zu tragen hat. Denn Freundschaft kann diese Funktion nur übernehmen, wenn sie für alles Mögliche stehen kann: für Geschäftsbeziehungen, politische Beziehungen, Patronagesysteme, politische Netzwerke, lose Vergemeinschaftungen, Mahl- und Trinkgemeinschaften, vertrauliche Beziehungen, intime Vertrauensbeziehungen und anderes mehr. Diese Strukturlasten führen normalerweise dazu, dass die jeweiligen Systeme im Umgang mit solchen Begriffen eine hohe Inflationstoleranz aufweisen. Als minimaler Konsensbegriff im Sinne von keine Feindschaft, der graduell unterschiedlich aufladbar ist, eignet sich Freundschaft in jedem Fall dazu, mittels ihrer performativen Dimension als Versprechen in eine ungewisse Zukunft zu wirken und so zur Stabilisierung des sozialen Systems beizutragen. Inflationstoleranz ist freilich nicht die einzige Möglichkeit, auf die Inflationstendenz des Freundschaftsbegriffs zu reagieren. Umgekehrt sind nämlich auch definitorische Einhegungen und Schärfungen eines solchen Mediums zu erwarten, also Inflationsbegrenzungen. In der Thematisierungsgeschichte der Freundschaft lassen sich seit der Antike solche definitorischen Schärfungen durchgängig beobachten. Wer über Freundschaft schreibt, reklamiert häufig für sich ein höheres Wissen hinsichtlich dessen, was Freundschaft bedeutet, und schränkt den Freundschaftsbegriff ein, indem

11 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 385 f.

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er zwischen wahrer und scheinbarer Freundschaft, echten und falschen Freunden unterscheidet. Dialogen als einer spezifischen Form der Thematisierung kommt dabei eine besondere Funktion zu, weil sie definitorische Schärfungen und Einhegungen im Aushandlungsprozess zeigen und nachzeichnen können. In den nachfolgenden Kapiteln sollen drei berühmte Gespräche über Freundschaft untersucht und dabei analysiert werden, auf welche Aspekte der Freundschaftssemantik sie in ihren spezifischen Kontexten jeweils rekurrieren, in welcher Weise sie Einschränkungen und Präzisierungen vornehmen und welche Spannungen daraus resultieren. Die Grundfragen der Gespräche thematisieren genau diese Probleme: Sie fragen, wer mit wem befreundet sein kann, wen man sich als Freund erwählen soll, ob und wie man den Auserwählten zu prüfen hat und unter welchen Bedingungen das erfolgreich sein kann. Diese Fragen zeigen bereits, dass Freundschaft nicht einfach als etwas Gegebenes oder sich Ereignendes betrachtet wird, sondern als eine soziale Beziehung, mit der hohe Erwartungen verbunden sind, denen zu genügen der jeweilige Einzelne bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss. Diese Voraussetzungen lassen sich ohne intensive Bemühungen nicht erfüllen. Daraus ergeben sich dann weitere Fragen: Welche Funktion wird der Freundschaft für den Einzelnen und für die Gesellschaft zugewiesen? Welche personale oder soziale Funktion erfüllt Freundschaft dabei? Ist Freundschaft wichtig für die Vorstellung von einem guten Leben und, wenn ja, inwiefern ist das so? Was sind die Voraussetzungen für die Begründung und Stabilität von Freundschaft? Wodurch gelingt und woran scheitert sie? Und ist sie in den hier untersuchten antiken und mittelalterlichen Dialogen ein stabiles Konzept mit eindeutigen semantischen Bestimmungen, oder welchen Transformationen unterliegt sie? Und vor allem: Was bedeutet es für die jeweilige Konzeption von Freundschaft, wenn sie nicht abgehandelt, sondern in einem Dialog ausgehandelt wird? 25

III. Freundschaft und Gespräch:

Erzählte Dialoge

Alle drei hier untersuchten Texte thematisieren Freundschaft in der Form des Dialogs.1 Für Platon ist der Dialog die typische Form, in der er seine philosophischen Erörterungen präsentiert. Das gilt hingegen nicht für Cicero und Aelred von Rievaulx. Cicero hat sich zwar mehrfach der Dialogform bedient, aber er hat keineswegs nur diese Form gepflegt, sondern daneben zahlreiche Reden und Abhandlungen veröffentlicht. Von Aelred sind sowohl historiographische als auch spirituelle Schriften überliefert, von denen nur zwei, nämlich die Schriften über die Seele und die geistliche Freundschaft, in Dialogform abgefasst sind. Von daher stellt sich die Frage, was die dialogische Form für den Freundschaftsdiskurs zu leisten vermag. Die naheliegende Option, dass Freunde über Freundschaft sprechen, um zu klären, was sie jeweils einzubringen bereit sind und was sie vom anderen erwarten, wird von keinem der Dialoge gewählt. In allen drei Fällen sind die Gespräche zwar thematisch auf Freundschaft bezogen, aber die Dialogpartner sind entweder nicht miteinander befreundet oder ihre Beziehung steht zumindest nicht im Mittelpunkt des Dialogs.

Dialogeröffnungen und die Bestimmung des Themas Platons Lysis erscheint als Gelegenheitsgespräch. Es entwickelt sich, weil Sokrates an einer Palaistra vorbeikommt, von 1 Grundlegend für die Dialoganalyse und das nachfolgende Kapitel sind die Arbeiten von Kilian, Historische Dialogforschung, sowie Fritz, Grundlagen der Dialogorganisation, und ders., Geschichte von Dialogformen.

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den davorstehenden jungen Männern angesprochen und dann auf deren Konflikt aufmerksam gemacht wird: Einer von ihnen spottet über die Verliebtheit des anderen in einen schönen Knaben und bringt ihn in erhebliche Verlegenheit. Ciceros Laelius und auch Aelreds Dialog werden dagegen bereits im Prolog als thematisch fokussierte Gespräche über Freundschaft angekündigt. Allerdings behandelt Aelred sein Thema in drei Teildialogen mit unterschiedlichen Gesprächsteilnehmern. Das führt dazu, dass die thematische Fokussierung sich wandelt, weil Aelreds jeweilige Gesprächspartner, im ersten Dialog sein Freund Ivo, im zweiten und dritten die beiden jungen Mönche Walter (Gualterus) und Gratian, nicht in gleichem Maße mit dem Gegenstand des Gesprächs – sei es aus eigener Erfahrung, sei es aus der Lektüre von Schriften – vertraut sind. Trotz der unterschiedlichen thematischen Fokussierung kann festgehalten werden, dass die drei Dialoge für die Themengeschichte des Dialogs eine wichtige Rolle spielen: Es handelt sich um paradigmatische Beispiele für die Kontinuität eines Themas, das sich durch die Literaturgeschichte zieht. Dabei zeigt sich, dass die Gruppe der Wissenden, der Weisen, der politisch Tätigen und der herausragenden Personen für die Themenkarriere von Freundschaft eine besondere Rolle spielt. Im jeweiligen Kontext dominieren aber unterschiedliche Einschätzungen und Normen die Behandlung des Themas, die nicht zuletzt von den Räumen vorgegeben werden, in denen sie stattfinden: So ist das Kloster seit seinen Anfängen nicht als Ort der personalen Freundschaft, sondern als Ort der Brüderlichkeit gedacht worden. Die Brüder sollen nicht aufeinander bezogen sein, sondern auf den Abbas, den Vater, der sich den Brüdern mahnend zuwendet und ihnen als Vorbild dient. Themenfindung, Themenkonstruktion und Themenwechsel erweisen sich daher zusammen mit der Konstruktion der Dialogpartner als wichtige Aspekte der Dialogdynamik.2 Sie können Übergänge zwischen einzelnen 2 Dazu Fritz, Dialogdynamik, S. 24.

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Dialogformen begründen, Abstufungen in der Anwendung von Kommunikationsprinzipien bewirken, Dialogkrisen verursachen und Klärungsversuche erforderlich machen. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass nicht leicht zu bestimmen ist, was überhaupt ein Thema ist. Zur Erläuterung des Begriffs ›Thema‹ gibt es drei verbreitete Theorien: die Propositionstheorie, die Fragetheorie und die Gegenstandstheorie. Die Propositionstheorie fragt danach, mit welcher Aussage ein Thema angeschnitten wird; die Fragetheorie danach, welche Ausgangsfrage formuliert wird und wie umfassend sie ist; die Gegenstandstheorie schließlich danach, wie und wann ein Thema formuliert wird. Da die Themen aber nicht unbedingt explizit gemacht werden, muss man sich an häufig vorkommenden und syntaktisch besonders hervorgehobenen Ausdrücken orientieren, an charakteristischen Mustern der Themenbehandlung, an den Folgerungsbeziehungen der Propositionen, den thematisch relevanten Zusammenhängen und den aktuellen Interessen, Problemen und Fragestellungen der Dialogpartner. In einfachen Fällen ist aufgrund der Häufigkeit bestimmter Ausdrücke eine mehr oder weniger mechanische Themenabstraktion möglich. Man muss nach Gerd Fritz jedoch mit ›indem‹-Zusammenhängen rechnen: dass man über ein Thema spricht, indem man über bestimmte Aspekte spricht.3 Allerdings sind ›indem‹-Zusammenhänge nicht immer völlig eindeutig, so dass unterschiedliche Beobachter zu verschiedenen Ergebnissen hinsichtlich des Themas kommen können. Das gilt etwa für Platons Lysis. Das Wort philia (Freundschaft) taucht darin nur 10 Mal auf, philos (Freund) dagegen 150 Mal. Aus der Häufigkeit des Ausdrucks lässt sich also kaum schlussfolgern, dass Freundschaft der zentrale Gegenstand des Dialogs ist. Über philia wird eher gesprochen, indem verhandelt wird, unter welchen Voraussetzungen jemand ein philos sein könne. Das hängt schon damit 3 Fritz, Grundlagen der Dialogorganisation, S. 193.

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zusammen, dass die Themenformulierung nicht als Vorgabe oder Ankündigung erscheint, wie das bei Cicero der Fall ist, wo die beiden Schwiegersöhne des Laelius nach dem ersten Teil des Gesprächs, das dessen Trauer um Scipio thematisiert, Laelius auffordern, über ihre Freundschaft zu sprechen. Damit ist das Thema festgelegt, und die beiden Schwiegersöhne könnten, wenn Laelius davon abweichen würde, ihn an diese Vorgabe erinnern. Lysis dagegen wird von Platon als ein sich spontan entspinnender Dialog beschrieben, der kein vorgegebenes Thema hat. Das Thema »Freund« ergibt sich, weil einer der jungen Männer in einen Knaben verliebt ist und Annäherungsversuche macht, die von seinen gleichaltrigen Freunden verspottet werden. Über diesen Spott wird Sokrates in das Problem einbezogen, und daraus ergibt sich die Fragestellung, wie man jemanden zum Freund gewinnt.

Grundlagen der Dialoganalyse Dialoge wären schlecht analysiert, wollte man sie lediglich als Ausformung der Position ihres Autors begreifen. Deshalb bedarf es zu ihrer Untersuchung anderer Methoden als zur Untersuchung von Traktaten und narrativen Texten. Dialoge folgen anderen Regeln als Abhandlungen und Narrationen, auch wenn letztere fingierte Dialoge integrieren können und dies in der Regel auch tun. Weil der Dialog mindestens über zwei Stimmen verfügt, kann er grundsätzlich unterschiedliche Positionen zu einem Thema präsentieren. Dadurch kann der Autor Distanz gegenüber den vertretenen Positionen einnehmen. Wenn er, wie im Falle Aelreds, selbst als Figur innerhalb seines Dialogs auftritt, reduziert sich diese Distanzierungsmöglichkeit; er wird aber doch zu einer Stimme im Dialog, zu einer Rolle, von der durchaus unklar ist, ob sie mit dem Autor, seinen persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen identisch ist. Auch können die anderen Stimmen die Funktion der Ausbalancierung einer 29

tigen Position übernehmen oder sie selbst dann performativ in Frage stellen, wenn sie ihr explizit zustimmen – einfach dadurch, dass sie die Möglichkeit von Zustimmung oder Ablehnung repräsentieren. Daneben ermöglicht es der Einsatz berühmter Personen als Dialogteilnehmer, wie Sokrates oder Laelius, deren Reputation zu funktionalisieren und auf diese Weise Positionen mit einem Ansehen auszustatten, das dem Autor selbst womöglich – zumindest im Hinblick auf den behandelten Gegenstand – abgeht. Vor allem aber kann der Dialog Positionen zu einem Gesprächsgegenstand und dessen Aspekte in einen Aushandlungsprozess verwickeln, bei dem nicht von vornherein feststeht, was das Ergebnis sein wird. Er kann demonstrieren, wie sich ein Thema entwickelt, ob es gezielt angesteuert wird oder sich im Gespräch okkasionell ergibt, wie eng es gefasst wird, welche Abweichungen im Verlauf des Gesprächs zwischen den Positionen entstehen, wie die Dialogpartner ihre jeweiligen Positionen vertreten und mit welcher Konsequenz sie diese verfolgen. Neben der thematischen Orientierung ist für den Dialog  – außer der Tatsache, dass er mindestens zwei Sprecher hat – seine szenische Konstruktion kennzeichnend. Abhandlungen und Traktate sind in der Regel ortlos und häufig auch zeitlos, Dialoge dagegen kommen ohne eine räumliche oder zeitliche Situierung kaum aus. Damit spielen deiktische Aspekte in Dialogen eine sehr viel größere Rolle als in Traktaten.4 Die Sprechsituationen werden in der Regel nicht nur durch die Gesprächsteilnehmer, sondern auch durch ihre räumliche und zeitliche Situierung markiert. Zumeist werden Räume benannt, in denen die Gespräche stattfinden, häufig findet auch eine zeitliche Festlegung statt, die aber nicht unbedingt durch die Fixierung innerhalb einer linearen Chronologie, sondern auch durch relative Zeitangaben, etwa innerhalb eines Jahreszeiten4 Zur Deixis und ihrer Funktion in der Sprachpragmatik vgl. Ehrhardt / Heringer, Pragmatik, S. 19 – 29.

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oder Festkalenders, erfolgen kann. Räume wiederum legen nicht nur einen lokalen, sondern auch einen institutionellen Rahmen fest. Insofern ist es durchaus bedeutsam zu wissen, in welchen Räumen und zu welchen Zeiten die Dialoge spielen. Das gilt zumal für erzählte Dialoge. Alle drei hier untersuchten Dialoge sind erzählte Dialoge, denen eine narrative Einleitung vorangestellt ist. Solche narrativen Einleitungen können unterschiedliche Funktionen übernehmen. Zum einen sind sie dazu da, den Ort des Gesprächs und die Zeit, zu der es stattgefunden hat, sowie die am Dialog beteiligten Personen vorzustellen. Zum anderen erläutern sie den Gesprächsanlass und geben mehr oder minder deutlich den thematischen Schwerpunkt vor. Das narrative Setting eines Dialogs macht zugleich klar, dass es sich bei der präsentierten Form nicht um die unmittelbare schriftliche Aufzeichnung eines stattfindenden Gesprächs handelt. Vielmehr verdeutlicht die Stimme eines Erzählers, der die Ausgangssituation des Gesprächs beschreibt, dass der Dialog zumindest ein erinnerter Dialog ist. Das muss nicht heißen, dass es sich um einen fiktiven oder fiktionalen Dialog handelt. Letzteres würde voraussetzen, dass der Dialog oder seine Einführung Fiktionalitätsmarker enthält, die deutlich machen, dass der Dialog erfunden ist.5 Ein fiktiver Dialog dagegen ist ein erfundener Dialog, von dem der Leser glauben soll, dass er tatsächlich stattgefunden hat. Ein fingierter Dialog schließlich ist ein inszenierter Dialog, der sich spezifischer Formen von Mündlichkeit bedient, um ihn als unmittelbaren Dialog erscheinen zu lassen, was sowohl bei einem fiktiven als auch einem fiktionalen Dialog vorkommen kann. Die Mündlichkeit eines solchen Gesprächs wäre dann fingierte Mündlichkeit.6 In diesem Sinne können in Dialogen grundsätzlich sprachliche Handlungsmuster, Sequenzmuster und Strate5 Zu Fiktionalitätsmarkern vgl. Genette, Fiktionale Erzählung, S. 76. 6 Zur fingierten Mündlichkeit vgl. Lubkoll, Fingierte Mündlichkeit. Siehe auch Koch / Oesterreicher, Sprache der Nähe, S. 22.

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gien unterschieden werden.7 Diese haben nicht nur sachlichinformationelle und argumentative, sondern auch gemeinschaftsbildende Aspekte. Mit Bronislaw Malinowski können solche Aspekte als phatische Kommunikation bezeichnet werden (Malinowski selbst spricht von phatischer Kommunion). Es handelt sich dabei um Kommunikationselemente, bei denen es nicht in erster Linie um die besprochenen Themen oder um den Austausch von Informationen und Argumenten, sondern um den Aufbau oder die Stabilisierung von Beziehungen geht.8 Ein typisches Beispiel für phatische Kommunikation sind Begrüßungsformeln und Floskeln, wie etwa die Frage nach dem Befinden des anderen, bei der es sich nicht um eine ernsthafte Nachfrage nach dem aktuellen Befinden, sondern um eine Beziehungsformel handelt. Für die Beschäftigung mit Freundschaft hat dies eine besondere Relevanz, weil sie damit dreifach angesprochen werden kann: als Gesprächsgegenstand, als Form der Beziehungsanknüpfung bzw. Beziehungsstabilisierung und als soziale Praxis. Die Beschäftigung mit phatischen Sprechakten kann für die Analyse der Freundschaftsgespräche jedoch nur ein erster Anknüpfungspunkt sein. Dialoge können mit sehr unterschiedlichen Mitteln und nach differenten Prinzipien organisiert sein. Wie ein Dialog verläuft, hängt stark davon ab, wer an ihm teilnimmt, wie die Rollen verteilt sind und in welcher Weise die einzelnen Dialogteilnehmer sich in das Gespräch einbringen. Relevant ist auch, welche Organisationsprinzipien einem Dialog zugrunde liegen.

7 Vgl. Fritz, Grundlagen der Dialogorganisation, S. 226 – 233. 8 Vgl. Malinowski, Das Problem der Bedeutung, S. 315; Senft, Phatic communion.

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Die unterschiedlichen Ebenen der Dialoganalyse Grundsätzlich kann man den Verlauf eines Gesprächs auf drei Ebenen analysieren: auf der Makro-, der Meso- und der Mikroebene. Als Makroebene eines Dialogs bezeichnet die Dialoglinguistik die grobe Struktur eines Gesprächs von Gesprächseröffnung, Gesprächsmitte und Gesprächsabschluss.9 Die Mesoebene beschreibt die einzelnen Gesprächsschritte oder -sequenzen und deren Verknüpfungen, wie Sprecherwechsel und Hörerrückmeldungen. Die Mikroebene bezieht sich auf syntaktische, lexikalische und morphologische Aspekte. Gesprächseröffnung und Gesprächsabschluss sind in der Regel durch Begrüßungs- und Abschiedsformeln ritualisiert. Die Begrüßung verdeutlicht, in welcher Beziehung die Dialogteilnehmer zueinander stehen, ob sie einander unbekannt, bekannt oder miteinander vertraut sind und welche Position sie in der Gesellschaft einnehmen.10 Die Gesprächseröffnung dient häufig auch dazu, eine wechselseitig akzeptierte Definition der Situation und der sozialen Beziehungen zwischen den Gesprächspartnern festzulegen sowie ein Thema zu fixieren.11 Der Gesprächsabschluss hat dementsprechend die Funktion, das Thema abzuschließen, indem es von den Teilnehmenden als erfolgreich behandelt oder als unabgeschlossen bzw. misslungen bezeichnet wird. Die verwendeten Abschiedsformeln verweisen noch einmal darauf, ob die

9 Vgl. Kilian, Historische Dialogforschung, S. 65 f. 10 Vgl. dazu die von Helmut Henne und Helmut Rehbock entwickelte Redekonstellationstypik, in: Henne / Rehbock, Einführung in die Gesprächsanalyse, S. 26 f. Siehe auch die Zusammenfassung bei Kilian, Historische Dialogforschung, S. 101 f. 11 Vgl. Kilian, Historische Dialogforschung, S. 66. Nicht alle Gespräche müssen fixierte Themen haben; diese können sich auch spontan entwickeln und wieder verschwinden oder völlig ausbleiben. In diesem Fall spricht man von Unterhaltung oder Plauderei.

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Unterredung im wechselseitigen Verständnis als geglückt oder gescheitert angesehen wird. Für die Beschreibung der Mesoebene und ihrer Organisation ist die Entwicklung des Dialogs auf der Verlaufsachse von zentraler Bedeutung. Die einfachste Ebene der Sequenzierung eines Gesprächs ist der Sprecherwechsel, der durch einen Gesprächsleiter oder den aktuellen Sprecher vorgegeben wird bzw. durch die Wortmeldung eines Zuhörenden erfolgen kann. Hinsichtlich der Sprecheranteile können Dialoge symmetrisch oder asymmetrisch angelegt sein; Lehrdialoge sind in der Regel asymmetrisch, weil dem Lehrenden eine bedeutendere Rolle zugeschrieben und er deshalb als Sprecher privilegiert wird, wobei die Asymmetrie freilich sehr unterschiedlich gewichtet sein kann. Häufig hängt der Sprecherwechsel von der Illokution des jeweiligen Sprechers ab. Wer eine Frage stellt, erwartet eine Antwort, wer etwas behauptet, will bestätigt werden, wer jemanden zu etwas auffordert, erwartet, dass der Gesprächspartner dieser Aufforderung folgt. Ein Gesprächsschritt determiniert dabei den nächsten, und zwar auch dann, wenn die ursprüngliche Illokution bestritten wird, indem auf eine Frage nicht eine Antwort, sondern eine Gegenfrage folgt, eine Behauptung nicht bestätigt, sondern bestritten wird, eine Aufforderung nicht befolgt, sondern zurückgewiesen wird. Ein Dialog besteht in der Regel aus mehreren sich wiederholenden elementaren Sequenzen (etwas Vorschlagen – den Vorschlag kritisieren – den Vorschlag begründen – den Vorschlag zurückweisen  – einen Alternativvorschlag machen etc.), die zumeist eine zyklische Verlaufsstruktur haben. Dabei wiederholen sich die illokutionären Muster, während sich die propositionalen Gehalte verändern. Die Verknüpfung der Zyklen kann über den thematischen Zusammenhang beschrieben werden, d. h. illokutionäre und thematische Organisation wirken zusammen.12 Daneben ist für den 12 Vgl. Fritz, Grundlagen der Dialogorganisation, S. 183.

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Dialog eine systematische Verknüpfung unterschiedlicher Typen von Elementarsequenzen kennzeichnend, wie etwa Sequenzen des Bewertens und des Argumentierens. Mit jeder sprachlichen Handlung trifft ein Sprecher eine Menge von Festlegungen, die den jeweiligen Dialogstand beeinflussen. Weil sich das in einem Dialog immer nur auf einzelne Sequenzen bezieht, kann man von einem Festlegungsnetz oder  -system sprechen. Die Festlegungen, die ein Sprecher vornimmt, müssen aber nicht mit seinen tatsächlichen Annahmen, Einstellungen und Gefühlen übereinstimmen. Ein Sprecher kann auch einen Standpunkt einnehmen, den er in Wirklichkeit nicht teilt. Das etwa ist eine der für Sokrates typischen Verhaltensweisen in Platons sokratischen Dialogen. Sokrates vertritt immer wieder Positionen, die er in Wahrheit keineswegs teilt, um auf diese Weise seine Gesprächspartner in die Irre zu führen oder zu verunsichern.13 Innerhalb von Dialogen entwickeln sich aber »Festlegungsspeicher«, die man als kritische Beurteilungen von Festlegungen beschreiben kann und die etwa irritierendes Verhalten eines Dialogteilnehmers oder widersprüchliche Aussagen beurteilen. Wie solche Beurteilungen erfolgen, hängt nicht zuletzt vom Wissen der anderen Dialogteilnehmer ab. Dabei kann man mit Gerd Fritz von verschiedenen Arten des Wissens ausgehen: 1. Ereigniswissen (dass, was, wie, wer); 2. Erfahrungswissen; 3. Fachwissen; 4. spezielles, aus dem Dialog gewonnenes Wissen.14 Ereigniswissen spielt in den hier behandelten Dialogen über Freundschaft so gut wie keine Rolle. Erfahrungswissen ist dagegen von erheblicher Bedeutung, allerdings in sehr unterschiedlicher Form und mit äußerst differenten Bezügen. So reklamiert Sokrates in der Eingangssituation des Lysis ein spezifisches Wissen darüber, wie man einen begehrten Knaben für sich gewinnt, und verspricht seinem Gesprächspartner 13 Vgl. Koyré, Vergnügen bei Platon. 14 Vgl. Fritz, Grundlagen der Dialogorganisation, S. 188 f.

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Hippothales, ihm das zu demonstrieren. Dabei geht er sehr geplant vor, indem er den schönen Knaben Lysis nicht etwa anspricht und lobt, sondern mit anderen jungen Männern spricht und auf diese Weise dessen Neugierde weckt. Anders als Hippothales gibt er Lysis nicht zu verstehen, dass er sich für ihn interessiert, sondern sorgt im Gegenteil dafür, dass dieser auf ihn aufmerksam wird und sich ihm neugierig nähert. Sokrates gibt also eine Demonstration davon, wie man einen Freund gewinnt. Im Gespräch mit Lysis und dessen Freund Menexenos behauptet er dann aber das Gegenteil, nämlich, dass er nicht wisse, wie man einen Freund gewinne. Laelius dagegen kann Erfahrungswissen auf beiden Gebieten für sich reklamieren: Aufgrund seiner schon zu Beginn des Dialogs von seinen Schwiegersöhnen als legendär apostrophierten Freundschaft mit Scipio wird er als derjenige gezeigt, der weiß, wie man einen Freund findet, seine Freundschaft erringt, sie pflegt und erhält. Dieses Erfahrungswissen prädestiniert ihn dazu, erläutern zu können, was Freundschaft ist und wie die verschiedenen Formen der Freundschaft unterschieden und bewertet werden können. Auch Aelred kann gegenüber seinen Gesprächspartnern auf das Erfahrungswissen früherer Freundschaften zurückgreifen, allerdings muss er sich gelegentlich von seinen Dialogpartnern fragen lassen, ob diese Freunde seinen Ansprüchen tatsächlich genügt hätten. Die jeweiligen Arten des Wissens können unter den Dialogpartnern sehr unterschiedlich verteilt sein. Es kann gemeinsam geteiltes symmetrisches Wissen geben, aber auch nicht-gemeinsames asymmetrisches Wissen und daneben unterschiedliche Formen der Wissenspräsenz, d. h. präsentes Wissen und Hintergrundwissen. Interessant ist auch, über welche Art von Wissen die Dialogpartner verfügen: stereotypes Wissen, also Wissen, das habitualisiert und nicht wirklich hinterfragbar ist, oder relevantes Wissen, das die Position eines Gesprächspartners untermauert, wenn es im Dialog 36

faltet wird. Welche Sequenzmuster zur Anwendung kommen, hängt indes auch von der Hierarchie der Dialogteilnehmer ab, die nicht nur auf der sozialen Position, sondern auch auf Vorwissen basiert. Aus dem geringen Vorwissen eines der Dialogteilnehmer kann sich die Notwendigkeit zu einer nachträglichen Klärungssequenz ergeben, in der die Referenz, aber auch die Relevanz des Dialogs erläutert werden. Einige Dialogformen sind durch spezifische Wissenskonstellationen gekennzeichnet. Das gilt insbesondere für Lehrdialoge, bei denen einer der Partner einen klaren Wissensvorsprung bezüglich des Themas hat, wodurch eine deutliche Asymmetrie zwischen den Dialogpartnern entsteht. Solche Asymmetrien sind für die Freundschaftsdialoge kennzeichnend, freilich sehr unterschiedlich ausgeprägt und begründet: Sokrates reklamiert an keiner Stelle, genau zu wissen, was Freundschaft ist. Er behauptet zu Beginn des Dialogs lediglich, zu wissen, wie man einen Freund gewinnt. Laelius dagegen spricht aus der selbstgewissen Position eines Mannes, der aus Erfahrung weiß, was Freundschaft ist, weil seine Freundschaft zu Scipio Africanus Minor, dem Eroberer Karthagos, schon zu seinen Lebzeiten legendär war und nach dessen Tod im erinnernden Gedenken zusätzlich überhöht werden kann. Die Freundschaft zwischen Laelius und Scipio kann nicht mehr auf die Probe oder in Frage gestellt werden, und die Geste der Trauer verleiht allen seinen Äußerungen Dignität. Aelred wiederum befindet sich während des Gesprächs mit seinem Freund Ivo in einer relativ symmetrischen Konstellation, in den nachfolgenden Unterhaltungen mit den beiden jungen Klosterbrüdern Walter und Gratian dagegen in der asymmetrischen Situation des durch sein Alter, seinen Status als Abt und sein Wissen Überlegenen. Neben der Makro- und der Mesoebene trägt auch die Mikroebene zum Verständnis von Dialogen bei. Auf ihr werden die syntaktischen Strukturen, die lexikalischen Einheiten, die Lautformen und die prosodischen Mittel (Betonung, In37 https://doi.org/10.5771/9783835327214

tonation) analysiert.15 Prosodische Mittel können bei schriftlich überlieferten Dialogen allerdings nur eingeschränkt untersucht werden, gelegentlich sind sie jedoch sprachlich markiert. Grammatische und semantische Mittel können dagegen in vielfältiger Weise analysiert werden. Für viele sprachliche Handlungen gibt es syntaktisch und lexikalisch standardisierte Äußerungsformen. Das gilt etwa für routinisierte Sprechhandlungsmuster, wie Anrede-, Gruß-, Irritations-, Ablehnungs- und Empörungsformeln.16 Unter dialoglinguistischen Aspekten kommt es lexikalisch vor allem darauf an, zu überprüfen, welche Worte für den illokutionären Aspekt sprachlicher Ausdrücke eingesetzt werden: performative Formeln (ich verspreche dir), handlungsspezifische Ausdrücke, wie etwa Schimpfwörter, bewertende Attribute (klug, weise) sowie Modalwörter (leider, vermutlich) und Modalpartikel (ja, wohl, aber, bloß, denn, doch). Daraus ergibt sich die Frage, welche Funktion die Äußerungsformen im Dialog übernehmen können, worin also ihre kommunikativen Aufgaben bestehen. Kommunikative Aufgaben sind z. B., Fragen zu stellen, Gegenstände zu identifizieren, Aspekte als besonders wichtig hervorzuheben oder Begründungen mit vorhergehenden Behauptungen zu verknüpfen. Für die hier untersuchten Texte ist es aber auch zentral, in welcher Weise sie ihr Thema semantisch konturieren, etwa wer wann von philia oder amicitia spricht, wer welche semantischen Aspekte einbringt, mit welchen Worten die Dialogteilnehmer philia oder amicitia verknüpfen, welche Synonyme sie verwenden und welche Umschreibungen oder Definitionen sie wählen.

15 Vgl. Fritz, Grundlagen der Dialogorganisation, S. 184. 16 Vgl. Fritz, Geschichte von Dialogformen, S. 554.

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Dialogische Kooperationsprinzipien Gespräche sind sowohl eine alltägliche als auch eine elaborierte Praxis. In der Regel gibt es für elaborierte Dialoge bereits eingespielte Verfahrensweisen, typische Themenabläufe, Muster und Vorbilder sowie bestimmte Ablaufprinzipien, die sich auf den gesamten Dialog wie auf einzelne Sequenzen erstrecken können. Dialogneulingen muss gelegentlich erst vermittelt werden, was einen Dialog strukturiert, bzw. sie müssen durch den Dialog geführt werden, indem der erfahrenere Dialogpartner die Fragen nicht nur beantwortet, sondern in seine Antworten Erweiterungen einfließen lässt, die die Dimension der Fragen überhaupt erst sichtbar werden lassen, oder indem er Fragen kritisiert, die dem Unerfahrenen verdeutlichen, dass sie falsch gestellt oder unterreflektiert sind. Entscheidend ist daneben auch, wie die Dialogpartner kooperieren. Dafür kann man von verschiedenen Handlungsmöglichkeiten ausgesehen, wie sie von Paul Grice entwickelt worden sind.17 Grice hat im Rahmen seiner Theorie sprachlichen Handelns auf der Grundlage eines basalen Kooperationsprinzips vier Konversationsmaximen beschrieben: 1. Sage so viel wie erforderlich (Quantitätsmaxime); 2. sprich wahrhaftig (Qualitätsmaxime); 3. äußere Relevantes (Relevanzprinzip); 4. sprich klar und geordnet, vermeide dunkle Ausdrücke und die Ambiguität des Ausdrucks (Modalitätsprinzip). Es scheinen sich von daher einfache Kriterien dafür zu ergeben, wie man die Qualität von Kommunikationsbeiträgen einschätzen kann. Allerdings können sich die Qualitätskriterien durchaus widersprechen: So kann ein Dialogbeitrag zwar dem Prinzip der Verständlichkeit folgen, das Prinzip der Relevanz jedoch verletzen. Sokrates erscheint in Platons Dialogen häufig als ein Meister der Verletzung des Relevanzprinzips, was aber in erster Linie daran liegt, dass seine 17 Vgl. Grice, Logic and Conversation, S. 26 f.

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Dialogpartner nicht verstehen, welche Bedeutung seine hintergründigen Fragen haben. Was sich vordergründig wie eine Verletzung des Relevanzprinzips ausnimmt, erweist sich im weiteren Verlauf zumeist als höchst relevant. Es gehört zu Sokrates’ Rolle, seine Kommunikationspartner auf eine Weise durch den Dialog zu führen, die für sie verdunkelt, welche Folgen es hat, wenn sie sich auf bestimmte Propositionen einlassen. Strategische Prinzipien können daher die grundlegenden Konversationsmaximen verletzen, ohne dass das grundlegende Kooperationsprinzip aufgegeben werden muss. Auch verletzt Sokrates immer wieder Ehrerbietungsprinzipien, wenn er, wie etwa im Dialog Laches, mit zwei Heerführern über Tapferkeit spricht, für die sie Experten sein müssten, denen er dann aber demonstriert, dass sie keine befriedigende Definition von Tapferkeit geben können. Sokrates macht sie auf diese Weise lächerlich. Im Lysis verletzt Sokrates die Qualitätsmaxime der Wahrhaftigkeit, weil er so tut, als spreche er spontan mit Lysis und Menexenos, während er die beiden in Wirklichkeit gezielt in ein demonstratives Gespräch verwickelt, dessen Inhalt für den Beobachter Hippothales bestimmt ist, mit dem das Gespräch ursprünglich begonnen hat. Ciceros Laelius verletzt dagegen in erster Linie das Relevanzprinzip, weil er in seiner Lobrede auf die Tugendfreundschaft immer wieder auf Freundschaften, insbesondere in der Politik, zu sprechen kommt, die aus niederen Beweggründen geschlossen werden und seiner Definition von Freundschaft nicht genügen. Die Tugendfreundschaft wird damit zu einem Konzept, das im Raum der Politik als faktisch bedeutungslos erscheint. Aelred verletzt mit seinen Dialogpartnern dagegen in erster Linie das in der Benediktinerregel formulierte Schweigegebot, das umfängliche Dialoge unter den Brüdern und über die Hierarchiegrenzen hinweg nur sehr eingeschränkt zulässt.18 18 Als Reformorden, dem es darum ging, die ursprüngliche Regeltreue wiederherzustellen, folgten die Zisterzienser der Benediktsregel. Vgl.

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Kommunikationsprinzipien unterliegen offenbar einem historischen Wandel; sie orientieren sich an institutionellen Vorgaben (z. B. den Ordensregeln), aber auch an spezifischen Mustern, wie sie etwa von Platon für den sokratischen Dialog entwickelt worden sind. Grundlegend für die Geschichte der Dialogformen sind die Veränderungen, aber auch Konservierungen einzelner Handlungs- und Sequenzmuster.19 Die Sprecherkonstellationen in Dialogen sind von bestimmten Institutionen (Schule, Kloster) abhängig, in denen sich Dialoge entwickeln (z. B. als Lehrgespräch oder Trostgespräch). Die Sprecherkonstellationen können durch bestimmte institutionelle Rollen (Politiker, Novizenmeister, Abt) vorgegeben sein. Das gilt zweifellos für Laelius, der als Politiker und ehemaliger Konsul eine zentrale politische Rolle innehat. Es gilt auch für den Abt Aelred, aber nicht für Sokrates, der für sich stets jede institutionalisierte Rolle als Lehrer abgelehnt, in Platons Dialoginszenierungen aber umso stärker den Habitus des indirekt Belehrenden ausgeprägt hat. Die nachfolgende Untersuchung der drei Freundschaftsdialoge soll die unterschiedlichen Aspekte, die verschiedenen Gesprächsebenen, die Sprachhandlungsmuster, die Kommunikationsprinzipien, die Äußerungsformen sowie die lexikalischen und semantischen Grundlagen einbeziehen und auf dieser Basis untersuchen, in welcher Weise Freundschaft im Gespräch thematisiert wird und welche Transformationen sich an einem durchgängigen Thema wie Freundschaft in unterschiedlichen historischen und institutionellen Kontexten beobachten lassen.

Benediktsregel / Regula Benedicti, VI; Hahn, Rede- und Schweigeverbote; Luhmann / Fuchs, Reden und Schweigen, S. 21 ff. Grundsätzlich war das Lehrgespräch innerhalb des Ordens nicht untersagt, aber zumeist fingierten die überlieferten Lehrdialoge Mündlichkeit. Vgl. Breitenstein, »Ins Gespräch gebracht«. 19 Fritz, Geschichte von Dialogformen, S. 550.

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IV. Platon: Lysis

Das erste philosophische Gespräch über Freundschaft Platons Lysis ist das erste überlieferte Gespräch über den Freund (philos) und die Freundschaft (philia).1 Seinen Ausgangspunkt nimmt der Dialog von dem auf einen Knaben gerichteten einseitigen Begehren (erōs) eines jungen Mannes. Freundschaft wird damit zunächst im Kontext erotischen Begehrens thematisiert, was aber nicht für den gesamten Dialog kennzeichnend ist. Sobald Sokrates beginnt, mit Lysis, dem begehrten Knaben, und dessen gleichaltrigem Freund Menexenos zu sprechen, wandelt sich das Thema. Es orientiert sich nicht mehr nur an der von dem jungen Mann gewünschten Beziehung mit dem von ihm begehrten Knaben, sondern auch an der Beziehung der Knaben untereinander. Danach wendet sich der Dialog der Frage zu, inwiefern Eltern ihre Kinder lieben (philein), und richtet dabei den Blick von der Beziehung gleichaltriger Freunde auf die elterliche Liebe, das Glück des Einzelnen und die Erziehung. Anschließend geht es um die allgemeinere Frage, wie man einen Freund (philos) findet und was die Voraussetzungen von Freundschaft (philia) sind. Damit kommen die Themen Gleichheit / Ungleichheit und Nutzen / Mangel ins Gespräch, die der Bestimmung von Freundschaft eine spezifische Ausrichtung auf ein Drittes geben. Es finden also mehrere Themenwechsel statt, die semantisch alle mit Freundschaft verbunden sind. Die wichtigsten Gesprächspartner sind dabei die Knaben Lysis und Menexenos. Mit ihnen bespricht Sokrates das Thema Freundschaft (philia). Etwa in der Mitte 1 Platon thematisiert philia und erōs auch im Symposion und im Phaidros, bei denen Freundschaft und Begehren aber nicht im Zentrum stehen.

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des Dialogs scheint es so, als hätten sie klären können, was Freundschaft sei und wer mit wem befreundet sein könne. Diese Lösung wird von Sokrates dann aber als Scheinlösung charakterisiert, was eine nochmalige Betrachtung durch die Dialogpartner erforderlich macht. Nach einer erneuten Behandlung der bereits thematisierten Fragen nach den Grundlagen von Freundschaft endet der Dialog mit einer Aporie – man habe, so Sokrates, nicht herausgefunden, wie einer des anderen Freund sein könne.

Die Makrostruktur des Dialogs Platon hat seinen Dialog räumlich, zeitlich und personal sehr genau situiert. Die deiktischen Elemente spielen folglich eine große Rolle, denn sie schaffen einen Diskursraum, in dem drei Generationen von Männern einen Gegenstand besprechen können, der kommunikativ ganz auf Männer zentriert ist, aber durchaus unterschiedliche Formen von Beziehungen umfasst und Grade der Fähigkeit, die komplexe Beziehung der Freundschaft zu unterhalten und das Ausmaß der Involviertheit zu verstehen. Die sorgsame Ausarbeitung der Ausgangssituation zeigt auch, dass Platon eine Reihe von Aspekten in spezifischer Weise bearbeitet hat. Der erotische Aspekt, der in der einschlägigen Forschung häufig betont wird, leitet den Dialog vermittelt über das Begehren des Hippothales ein, aber er steht im weiteren Verlauf keineswegs im Zentrum.2 Sokrates stellt den jungen Männern Hippothales und Ktesippos sowie den halbwüchsigen Knaben Menexenos und Lysis Fragen und beleuchtet anschließend deren Antworten, indem er Rückfragen stellt. Er bezieht die jungen Männer und Knaben also in einen Prozess des Nachdenkens über Freundschaft ein. Die Dialogsituation ist hinsichtlich der Gesprächs2 Der Aspekt des erōs als Begründung von Freundschaft wird in zahlreichen Untersuchungen zu Platons Lysis herausgestellt.

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anteile wie der thematischen Unterteilung ausgesprochen komplex: So gibt es eine schon quantitativ begründete Hierarchie, denn nur Sokrates nimmt während der gesamten Zeit am Dialog teil, wohingegen die anderen nicht die ganze Zeit anwesend sind und sehr unterschiedliche Sprechanteile haben. Ktesippos etwa hat nur am Anfang einen größeren Gesprächsanteil, ist aber derjenige, der das Gespräch auf Freundschaft lenkt, indem er Sokrates von der Verliebtheit seines Freundes Hippothales in den Knaben Lysis erzählt, und zwar in einer Weise, die deutlich macht, dass er diese Verliebtheit, insbesondere die Art des Werbens um Lysis, zutiefst missbilligt. Hippothales, von dessen Problem der Dialog ausgeht, ist als Dialogteilnehmer lediglich an dem von Sokrates erzählten Vorgeplänkel beteiligt und wird dann auf Sokrates’ Vorschlag hin zum Zuhörer des Gesprächs zwischen Sokrates und den miteinander befreundeten gleichaltrigen Knaben Lysis und Menexenos. Die Rolle des Hippothales ist freilich keine geringe, wird doch der Dialog überhaupt nur für ihn geführt, denn er soll lernen, wie man einen Knaben zu behandeln hat, den man begehrt. Gleichzeitig dreht der Dialog sich um das, was Hippothales begierig zu wissen wünscht: wie man einen begehrten Anderen zum Freund gewinnt. Aber das ist nur scheinbar eine allein auf Hippothales ausgerichtete Frage. Schon zu Beginn des Gesprächs mit Menexenos und Lysis thematisiert Sokrates deren Freundschaft und ihre Voraussetzungen. Und in einem weiteren Schritt wandelt er dies in die Fragen um: Welche Voraussetzungen muss man erfüllen, um einem anderen als Freund begehrenswert zu erscheinen, sich also seiner Freundschaft als würdig zu erweisen? Und was zeichnet Freundschaft eigentlich aus? Wenn Sokrates spricht, adressiert er seine Überlegungen daher stets an zwei Seiten: an Hippothales sowie an Lysis und Menexenos. Zu Lysis und Menexenos spricht er im Dialog, zu Hippothales mit dem Dialog. Dennoch scheint Hippothales am Ende des Dialogs vergessen: Sokrates verabschiedet sich von den beiden Knaben, die von ihren Pädagogen abgeholt und nach 44

Hause begleitet werden, während Hippothales und Ktesippos mit keinem Abschiedsgruß bedacht oder auch nur erwähnt werden. Hippothales, von dessen Begehren der Dialog seinen Ausgang genommen hat, ist in dessen Verlauf unwichtig geworden; das auf einen schönen Knaben gerichtete Begehren ist durch die Frage ersetzt worden, wer mit wem unter welcher Voraussetzung befreundet sein könne.

Der sokratische Dialog Wie aus dieser ersten kurzen Beschreibung des Gesprächs deutlich wird, unterscheidet sich die dialogische Abhandlung einer Fragestellung von der des philosophischen Traktats: Die zentralen Begriffe werden nicht definiert oder aus zugrunde gelegten Prämissen abgeleitet, sondern von einem Problem oder einer Frage ausgehend entwickelt und durch Abwägung dessen eingekreist, was sie im Verständnis der jeweiligen Gesprächspartner umfassen oder ausschließen. Der 469 v. Chr. in Alopeke bei Athen geborene Sokrates gilt als Begründer und bekanntester Vertreter dieser Form des Philosophierens. Philosophieren war für Sokrates eine rein mündliche Form des Nachdenkens im Gespräch. Folgerichtig hinterließ er keine schriftlichen Werke, denn er wollte an Ort und Stelle wirken. Bekannt ist daher nur das, was seine Schüler Platon und Xenophon von ihm aufgezeichnet, ihm zugeschrieben oder über ihn berichtet haben. Nach Xenophon sprach Sokrates bei den Säulenhallen, den Turnschulen (palaistrai) und auf dem Marktplatz über philosophische Themen, deren zentrale Punkte die Erkenntnis des Menschen, das Verstehen der Welt und die Entwicklung ethischer Grundsätze waren. Xenophon zufolge bezeichnete Sokrates selbst seine philosophische Methode des Gesprächs, mittels derer er die Dialogpartner zur Erkenntnis zu führen versuchte, als Mäeutik (»Hebammenkunst«). Sein Ziel war es nicht, wahre und gültige Sätze zu formulieren und seiner 45

Mitwelt mitzuteilen. Die Methode seiner Dialoge bestand vielmehr in der Verunsicherung des lebensweltlich für wahr und gültig Gehaltenen durch dessen kritische Befragung und die Zurückführung der bloßen Meinung (doxa) auf grundlegende Prinzipien. Die genauesten Vorstellungen davon, wie Sokrates philosophierte, hat Platon in seinen Dialogen vermittelt. Wie Xenophon war der 428 /427 v. Chr. in Athen oder Aigina geborene Platon ein Schüler des Sokrates und sah im Dialog die einzig angemessene Form des philosophischen Bemühens um Wahrheit. Anders als Sokrates war es ihm aber wichtig, diese Art von Philosophie nicht nur an Ort und Stelle zu praktizieren, sondern sie schriftlich niederzulegen, der Nachwelt zu überliefern und zu institutionalisieren. Er ist deshalb der erste Philosoph, von dem ein großes philosophisches Œuvre überliefert ist, und der Begründer einer eigenen Lehranstalt, der Akademie. Die Verschriftlichung der Dialoge führte zu einer entscheidenden Veränderung: An die Stelle des tatsächlichen und spontanen Gesprächs trat der dramatisch-literarische Dialog. Platons schriftlich überlieferte Dialoge dürfen eher als sorgfältig geplante literarische Kunstformen betrachtet werden, die sich nicht selten an der Komödie orientieren, denn als schriftlich aufgezeichnete Gespräche.3 Das wird besonders deutlich, wenn sie mit klaren Fiktionalitätsmarkern versehen sind, etwa wenn Platon nicht nur mitteilt, was die Gesprächsteilnehmer sagen, sondern auch, was sie denken. Das ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, dass das von ihnen Gedachte erfunden ist.4 Im Lysis finden sich solche Fiktionalitätsmarker freilich nicht; wenn das Denken der Personen thematisiert wird, dann stets von außen, etwa durch beobachtetes Erröten eines Dialogpartners, was dann Schlüsse auf dessen Denken und Fühlen zulässt. 3 Vgl. Schultz, Plato’s Socrates as Narrator. 4 Vgl. Genette, Fiktionale Erzählung, S. 76.

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Ziel des sokratischen Dialogs ist die gemeinsame Einsicht in einen Sachverhalt auf der Basis von Proposition, Zweifel, Frage und Gegenfrage. Sokrates stellt Fragen oder Propositionen an den Anfang seiner Dialoge, die entweder von ihm selbst stammen oder von den Dialogpartnern aufgeworfen werden. Auf die Fragen wird dann eine Antwort gesucht oder es geht darum, die Propositionen zu beweisen oder zu widerlegen. Sokrates gibt selten direkte Antworten; stattdessen bezeichnet er häufig Fragen als falsch gestellt oder reagiert auf sie mit einer Gegenfrage. Damit macht er darauf aufmerksam, dass die Sachverhalte, um die es geht, sich anders darstellen, als die Gesprächsteilnehmer dies zunächst meinen. Das kann dazu führen, dass eine gemeinsame Einsicht nicht zu erlangen ist, weil Sokrates die zugrundeliegenden Begriffe mit seinen Gesprächspartnern nicht zu klären vermag. Nicht wenige Dialoge enden deswegen in einer Aporie, dem Eingeständnis, dass der Sachverhalt nicht eindeutig geklärt werden konnte. Seine Gesprächspartner lässt Sokrates dadurch häufig irritiert und verunsichert zurück, so dass sie glauben müssen, sie wüssten jetzt weniger als zuvor. Tatsächlich wissen sie nach sokratischer Auffassung aber auch am Ende eines aporetischen Dialogs sehr viel mehr als vorher, nämlich, dass ihre vorherigen Gewissheiten nur Scheingewissheiten waren. Die sokratischen Dialoge sind zumeist nach einem bestimmten Muster aufgebaut: Im ersten Schritt verunsichert Sokrates seine Gesprächspartner, indem er ihnen verdeutlicht, dass ihre Annahmen unklar und widersprüchlich sind. Im zweiten Schritt versucht er diese Widersprüche zu ergründen, und dabei lenkt er das Gespräch unter Anknüpfung an den Erörterungsgegenstand auf Grundfragen, wie etwa das Wesen der Tüchtigkeit (in Menon und Protagoras) oder das Wesen der Tapferkeit (im Laches). Häufig spricht er mit Personen, die für die jeweils behandelte Frage besonders kompetent zu sein scheinen. So spricht er im Laches mit zwei Feldherren, die sehr genau zu wissen meinen, was Tapferkeit 47

ist, bis Sokrates ihnen demonstriert, dass sie sich in Widersprüche verwickeln, und sie damit völlig verunsichert. Sokrates depossediert dabei das als selbstverständlich geglaubte, habitualisierte Wissen von Autoritäten.5 Im Lysis spricht Sokrates mit Personen, die weder für sich besondere Kompetenz reklamieren noch große Erfahrung auf dem Gebiet der Freundschaft haben. Auch von sich selbst behauptet Sokrates dies an keiner Stelle – es sprechen also scheinbar Inkompetente miteinander über ein Thema, für das schon Knaben eine natürliche Kompetenz haben sollten, zumal dann, wenn sie miteinander befreundet sind. Daran knüpft Sokrates an, wenn er die Knaben fragt, wie einer des anderen Freund sein könne. Tatsächlich haben sie bestimmte Vorstellungen davon, was es impliziert, miteinander befreundet zu sein. Aber diese Vorstellungen zeichnen sich durch ein eher intuitives oder habituelles Verständnis aus und halten einer genaueren Befragung nicht stand. Sokrates zumindest äußert diese Überzeugung und verunsichert seine Gesprächspartner erneut, als sie bereits meinen, eine Lösung gefunden zu haben. Doch erstens, so scheint es, gilt diese Lösung nicht für alle, und zweitens hat sie Inkonsistenzen, die unauflöslich zu sein scheinen. Dennoch endet der Dialog mit einer Freundschaftsbekundung – Sokrates versichert den beiden Knaben Lysis und Menexenos, sie hätten zwar nicht herausgefunden, was ein Freund sei, aber er zähle sich nun doch zu ihren Freunden. Weil die Gesprächsteilnehmer zu keinem analytischen und definitorischen Ergebnis gekommen sind, wird Lysis zu Platons aporetischen Dialogen gerechnet. Doch die analytische und die performative Dimension des Gesprächs fallen auseinander: Die sokratische Mäeutik bringt hier etwas Anderes als üblicherweise 5 Dieser Aspekt der sokratischen Dialoge und der damit verbundene Witz sind besonders pointiert herausgearbeitet bei Koyré, Vergnügen bei Platon (zu Menon vgl. S. 17 – 29; zu Protagoras S. 30 – 48; zu Laches S. 82 f.).

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hervor: nicht ein analytisches Ergebnis, sondern einen performativen Erfolg.

Die Semantik von philia Um klären zu können, wie sich dieser performative Erfolg zum Begriff des Freundes (philos) und der Freundschaft (philia) verhält, bedarf es zunächst eines Überblicks über deren lexikalische und semantische Entwicklung seit der archaischen Zeit. In Platons Lysis taucht das griechische Wort für Freundschaft seltener auf, als man vermuten könnte. Das Lexem philia wird nur an zehn Stellen verwendet, während für das Lexem philos 151 Belegstellen zu verzeichnen sind. Aristoteles verwendet dagegen in der Nikomachischen Ethik 98  Mal das Lexem philia und 76 Mal philos. Für sich genommen ist dieser einfache lexikalische Befund noch nicht sonderlich aussagekräftig; er verweist aber darauf, dass das Lexem philia für Platons Freundschaftsdialog nicht der Zentralbegriff ist, sondern dass der Begriff des Freundes, philos, zumindest quantitativ für das Gespräch wichtiger ist. Anders als Aristoteles, der philia zu einem Zentralbegriff seiner Ethik macht, scheint Platon damit einer älteren semantischen Tradition nahe zu stehen, denn das begriffliche Abstraktum philia ist eine relativ späte Entwicklung, auch wenn sie bereits in der attischen Polis des 5.  Jahrhunderts wichtige semantische Funktionen übernommen hat. Platon ist jedoch der Erste, der Freundschaft in einem philosophischen Dialog behandelt, auch wenn er sie in erster Linie entlang der Frage thematisiert, wie einer des anderen Freund werden kann. Ob das griechische Wort für Freundschaft (philia) eine emotional grundierte Nahbeziehung zwischen zwei oder mehreren Personen bezeichnet oder eine familial, traditional oder politisch begründete institutionalisierte Beziehung, ist in der Forschung umstritten. In der jüngeren Forschung 49

hat insbesondere David Konstan die Auffassung vertreten, philia sei eine emotional begründete Beziehung, wohingegen Peter Spahn, Paul Millet und andere der Überzeugung sind, dass philia institutionalisierte Beziehungen bezeichne, für die Emotionen unwesentlich seien.6 Um die Wortbedeutung bzw. das Bedeutungsspektrum von philia zu untersuchen, ist es, wie Peter Spahn am Beispiel Homers vorgeführt hat, sinnvoll, nicht von einem unterstellten Konzept der Freundschaft auszugehen, sondern vom Wortgebrauch für unterschiedliche soziale Beziehungen, bei dem geprüft wird, welche Terminologie jeweils eingesetzt ist und welche Rolle philia dabei spielt. Spahn verwendet damit eine Mischung aus onomasiologischem und semasiologischem Verfahren, um zu sehen, welche Lexeme für den Beziehungstyp »stabile Sozialbeziehung« verwendet werden und wofür das Lexem philia und mit ihm verwandte Lexeme stehen.7 Philia ist eine jüngere Wortbildung aus dem Wortstamm phil-. Das älteste Lexem und Stammwort der Wortgruppe ist philos, das zunächst vorwiegend als Adjektiv und seltener als Substantiv verwendet wird.8 Philos ist bereits für die archaische Epik von zentraler Bedeutung und findet sich bei Homer sehr häufig. Dieser verwendet das Adjektiv entweder als reflexives Possessivpronomen (im Sinne von mein, dein, eigen, angehörig) oder als axiologisches Attribut (lieb, geliebt, 6 Vgl. Konstan, In the Orbit of Love, S. 39 ff.; ders., Greek Friendship, S. 71 f. Konstan setzt sich in diesem Artikel insbesondere mit David Millet auseinander, der die Auffassung vertritt, philia sei in der attischen Polis ein Begriff, der auf zahlreiche Beziehungen anwendbar sei und der nicht zuletzt bei Kreditbeziehungen eine wichtige Rolle spiele. Vgl. Millett, Lending and Borrowing, S. 109 – 126, sowie Spahn, ›Freundschaft‹ und ›Gesellschaft‹ bei Homer, S. 163 – 216. 7 Die Onomasiologie untersucht, welche Nomen oder Verben für bestimmte Sachverhalte oder Handlungen eingesetzt werden, die Semasiologie dagegen, welche Bedeutung und Reichweite bestimmte Nomen oder Verben haben. 8 Vgl. Landfester, Das griechische Nomen »philos«, S. 71 f.

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wertvoll, teuer), wobei nicht immer klar ist, in welcher Funktion philos eingesetzt wird. Ho philos adelphos kann demnach sowohl »der eigene Bruder« als auch »der liebe Bruder« bedeuten. Was jeweils gemeint ist, lässt sich lexikalisch nicht entscheiden, sondern nur syntaktisch oder indexikalisch durch den jeweiligen Kontext plausibilisieren.9 Wie Peter Spahn in Anlehnung an die Untersuchungen von Haiim Baruch Rosén und Manfred Landfester gezeigt hat, lassen sich die Nomen, mit denen das attributive Adjektiv philos in den homerischen Epen verknüpft ist, zu Sachgruppen zusammenfassen.10 Am häufigsten ist die Kookkurrenz mit Verwandten (187 Kookkurrenzen) und Körperteilen (104), gefolgt von väterlichem Land (45) und »außerhäuslichen Beziehungsträgern« (40).11 Ansonsten wird philos noch mit Hausangehörigen wie der Dienerschaft (21) verknüpft sowie Geschenken und Gaben (4) zugeordnet. Daraus wird deutlich, dass sich die beiden Bedeutungsebenen von eigen und lieb nicht vollständig voneinander trennen lassen. Bereits bei Homer findet sich philos aber nicht nur als Adjektiv, sondern auch als Substantiv. Homer bezeichnet mit dem Substantiv philos vor allem Verwandte oder Angehörige. Am häufigsten werden die Verwandten als philoi bezeichnet. Daraus lässt sich indes nicht unbedingt schlussfolgern, Verwandtschaft sei das dominierende Prinzip für die Konstruktion sozialer Verbindlichkeit. Die Bezeichnung der Verwandten als philoi kann auch bedeuten, dass eine vorhan9 Landfester lehnt sich mit den Überlegungen zur syntaktischen Stellung von philos an die Untersuchung Roséns an, dem er jedoch nicht in allen Punkten folgt. Vgl. ebd., S. 9 ff., sowie Rosén, Die Ausdrucksformen. 10 Vgl. Spahn, ›Freundschaft‹ und ›Gesellschaft‹ bei Homer, S. 169 f. 11 Spahn hat die Bezeichnung »außerhäusliche Beziehungsträger« von Rosén übernommen, der damit der Tatsache Rechnung trägt, dass die Art der Beziehung nicht eindeutig ist. Vgl. Spahn, ›Freundschaft‹ und ›Gesellschaft‹ bei Homer, S. 170. Landfester spricht dagegen von »Freunden«; vgl. Landfester, Das griechische Nomen »philos«, S. 21.

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dene Verwandtschaft in besonderer Weise qualifiziert wird, indem sie mit einer Bindung gleichgesetzt wird, die besonderen Ansprüchen zu genügen hat. Das ebenfalls aus der Wurzel phil- stammende Verb philein hat verschiedene Bedeutungen, die von »jemanden als den Seinen zu betrachten« über »ihn freundlich zu behandeln«, »sich mit jemandem zu versöhnen« bis zu »mit jemandem eine sexuelle Beziehung zu unterhalten« oder »ihn zu lieben« reichen.12 Das Verb philein hat keine deutsche Entsprechung, die von Freundschaft ableitbar wäre. Es gibt kein Verb wie ›freunden‹. Philein wird deshalb üblicherweise mit lieben übersetzt. Nach David Konstan verweist dies darauf, dass philos und philein unterschiedliche Reichweiten haben.13 Während philein das umfassendste Wort für jede Art von mögen oder lieben sei, beziehe sich das Nomen philos, das durch den bestimmten Artikel eindeutig vom Adjektiv unterschieden werden könne, »specifically to the more narrow bond of friendship«.14 Wo der Artikel fehle, könne philos auf alle möglichen Beziehungen angewendet werden; mit dem bestimmten Artikel »ho« grenze sich philos dagegen als Freund im engeren Sinne ab von den hetairoi, den Freunden im weiteren Sinne.15 Das Nomen hetairos findet sich bei Homer sehr häufig. Als hetairoi werden diejenigen bezeichnet, die mit anderen gemeinsam in den Kampf ziehen. Ein hetairos kann auch das Mitglied einer Schiffsmannschaft sein, wie in der Odyssee, oder der Gefolgsmann eines Heerführers, wie in der Ilias, und zwar unabhängig von seiner Stellung innerhalb der Hierarchie. Einige sind aber enge Gefährten und werden deshalb besonders herausgehoben (wie Achill und Patroklos). Hetai12 Vgl. Spahn, ›Freundschaft‹ und ›Gesellschaft‹ bei Homer, S. 173. 13 Vgl. Konstan, In the Orbit of Love, S. 40 – 44; ders., Greek Friendship, bes. S. 75 f. 14 Konstan, Greek Friendship, S. 75. 15 Ebd., S. 78.

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ros bezieht sich dann auf eine enge Paar- und Vertrauensbeziehung unter Männern. Nun ist es freilich nicht ungewöhnlich, dass bei der Schilderung eines Krieges das Wort hetairos in erster Linie für den Kampfgefährten verwendet wird und der philos im Vergleich dazu eine weniger wichtige Rolle spielt. Als weiteres Lexem für eine freundschaftliche Beziehung verwendet Homer das Wort xenos, das häufig mit dem Adjektivattribut philos kombiniert wird. Die bei Landfester als »Freunde« Bezeichneten fallen zumeist unter diese Kategorie. Der Gastfreund ist ein Fremder (xenos), den man in sein Haus aufnimmt und der dadurch zum Verbündeten wird. Gabriel Herman versteht die so begründete Freundschaft als ritualisierte Freundschaft mit langfristiger Verbindlichkeit. Ihre Dauerhaftigkeit verbindet die xenia (Gastfreundschaft) mit Verwandtschaft. Gastfreundschaft endet nämlich keineswegs mit der Abreise des Gastes, sondern gilt als Anspruch reziproker Verbindlichkeit auch für die nachfolgenden Generationen. Um die Verbindlichkeit auch über Generationen zu sichern, dient ein symbolon dazu, den xenos zu erkennen.16 Die für interpersonelle und intergesellschaftliche Beziehungen wichtige Institution der Gastfreundschaft, die beide Seiten verpflichtet, wird in der Ilias aber auch von ihrer Problemseite her behandelt, denn der Trojanische Krieg nimmt seinen Ausgang davon, dass Paris das Recht der Gastfreundschaft verletzt und Helena, die Gattin seines Gastgebers Menelaos, entführt.17 Andererseits rangiert Gastfreundschaft in der Ilias sogar vor dem politischen Bündnis: Als Diomedes und Glaukos auf dem Schlachtfeld vor Troja aufeinandertreffen und erkennen, dass ihre Großväter einander Gastfreundschaft gewährt haben, begreifen sie sich damit selbst als xenoi philoi und beschließen, nicht gegeneinander 16 Zur Bestimmung von xenia als »ritualisierte Freundschaft« vgl. Herman, Ritualised Friendship, S. 6 – 13. 17 Vgl. Fitzgerald, Friendship in the Greek World, S. 24 f.

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zu kämpfen, sondern stattdessen ihre Rüstungen zu tauschen. Sie stellen damit die einzeln eingegangene Verpflichtung ihrer Großväter über ihre politischen Bündniszugehörigkeiten, die sie zu gegenseitiger Feindschaft verpflichten würden.18 Homer erzählt von zahlreichen Freundschaftsbeziehungen, die unterschiedliche Reichweiten und Folgen haben, insgesamt aber eher auf Dauerhaftigkeit und Festigkeit angelegt und für den Zusammenhalt des Adels von großer Bedeutung sind. Das schließt Konflikte freilich keineswegs aus. Der Zorn des Achill, von dem die Ilias ihren Ausgang nimmt, zeigt den Zusammenbruch der Freundschaft zwischen Achill und Agamemnon, weil letzterer Achill seine Kriegsbeute, die junge Frau Briseis, streitig gemacht hat und Achill sich daraufhin weigert, weiterhin für die Achaier kämpfen. Dass damit eine Gefahr für die von ihm angeführten Myrmidonen einhergeht, die nun ohne Anführer in die Schlacht ziehen müssen, nimmt er in Kauf. Letztlich verschuldet dieser Rückzug des Achill den Tod seines jungen Kampfgefährten Patroklos, eröffnet aber auch die Gelegenheit, Patroklos eine Sonderposition vor allen anderen hetairoi zuzuweisen. Das Lexem philia findet sich bei Homer noch nicht.19 Wohl aber findet sich das Nomen philotēs, das zumeist mit Liebe oder Freundschaft übersetzt und als positive Bezeichnung für unterschiedliche Beziehungen verwendet wird: Philotēs kann bei Homer als Bezeichnung für einen Freundschaftspakt dienen, der durch Eide und den Austausch von Geschenken bekräftigt wird, als Bezeichnung für die Beziehung unter den Göttern, zwischen Göttern und Menschen sowie unter den Menschen, wobei sie in letztem Fall zumeist für ein Gefolgschaftsverhältnis oder die Zugehörigkeit zu einem

18 Homer, Ilias 6.224 ff.; vgl. Herman, Ritualised Friendship, S. 1 f. 19 Vgl. Spahn, ›Freundschaft‹ und ›Gesellschaft‹ bei Homer, S. 165.

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Heer steht.20 Nach Peter Karavites und Thomas Wren betont philotēs den Übergang von der Feindschaft zur Freundschaft. Nach ihrer Auffassung kommt philotēs damit, anders als dem späteren Lexem philia, ein transitorischer Charakter zu: »Philotēs changed the status of the parties from a state of enmity to one of explicit and steed friendship.«21 Als Patroklos in der Rüstung und mit den Waffen Achills zum Heer kommt, weswegen er mit Achill verwechselt wird, fragen sich die Achaier, ob Achill wieder zur philotēs zurückgekehrt sei. Nach Patroklos’ Tod verweigert sich Achill jeder Form der Mäßigung und der Versöhnung und lehnt deshalb die Forderung nach philotēs ab.22 Philotēs hält sich über die archaische Zeit hinaus und spielt nach Peter Karavites und Thomas Wren für die Bezeichnung zwischenstaatlicher Verhältnisse und die Versöhnung zwischen ehemaligen Feinden eine wichtige Rolle, bis sie vom Terminus philia abgelöst wird. Allerdings kann sie sich auch in Richtung einer spezifischen Beziehungsdefinition entwickeln. So werden Pythagoras zwei Sätze zugeschrieben, nach denen Freundschaft Gleichheit bedeute und Freunden alles gemeinsam gehöre. Der nachchristliche Philosoph Iamblichos schreibt Pythagoras den Satz philotēs isotēs (›Freundschaft ist Gleichheit‹) zu,23 und nach Diogenes Laertios führt Timaios die Äußerung, Freunden sei alles gemeinsam (koina ta tōn philōn), ebenfalls auf Pythagoras zurück.24 Im 6.  Jahrhundert wird das Lexem philos sehr häufig verwendet; die Bedeutung hat sich jedoch geändert. In den

20 Zur Semantik von philotēs, insbesondere mit Bezug auf den Gabentausch, vgl. Wagner-Hasel, Der Stoff der Gaben, S. 124 – 130; siehe auch Spahn, ›Freundschaft‹ und ›Gesellschaft‹ bei Homer, S. 174. 21 Karavites / Wren, Promise-Giving and Treaty-Making, S. 54. 22 Homer, Illias 22.261 – 262. Vgl. Karavites / Wren, Promise-Giving and Treaty- Making, S. 56. 23 Iamblichos, Pythagoras, XXIX, 162. Vgl. Riedweg, Pythagoras, S. 105. 24 Diogenes Laertios VIII, 10. Vgl. Schrey, Freundschaft, S. 591.

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Elegien des Theognis ist der philos Mitglied eines Freundeskreises, in dem alle aus der gleichen sozialen Schicht, dem Adel, stammen und die gleiche Wertorientierung haben. Allerdings sind Freundschaften bei Theognis sehr viel brüchiger als bei Homer. In dem ihm zugeschriebenen Werk finden sich zahlreiche Klagen über die Treulosigkeit von Freunden, denen man nicht vertrauen könne.25 Damit tritt der Aspekt des Scheinfreundes, der nur seine eigenen Interessen verfolgt, in den Mittelpunkt, und dieser Aspekt bleibt für die Freundschaftssemantik von dauerhafter Bedeutung. Im 6. Jahrhundert steht philos häufig auch für Bundesgenosse, und zwar im Sinne des Vertragspartners in einem positiven zwischenstaatlichen Verhältnis. Seit dem 5.  Jahrhundert werden sowohl philos als auch philia mit Vokabeln der Bundesgenossenschaft kombiniert, so etwa in den Wendungen philos kai symmachos / philia kai symmachia (Freund und Bundesgenosse / Freundschaft und Bundesgenossenschaft) oder spondas kai philia (Bündnis und Freundschaft). In der klassischen Zeit wird philos erstmals bei Platon zum Gegenstand philosophischer Reflexion. Die archaischen Bedeutungen von philos verschwinden dabei nicht völlig, aber die Polysemie des Lexems wird nun thematisiert. Zu Platons Zeit hat sich die Semantik noch einmal enorm erweitert; so kann philos bedeuten: Verwandter, enger persönlicher Freund, Ehepartner, Angehöriger eines größeren Freundeskreises, Kampfgefährte im Krieg, politisch Gleichgesinnter und schließlich Bündnispartner. Das Nomen philos hat damit die Grundformen friedlichen Zusammenlebens und wechselseitiger Verpflichtung weitgehend aufgesogen. Die affektive Bedeutung, die vorher überwiegend bei dem Wort hetairos lag, wird auf philos ausgedehnt bzw. übertragen. In diesem Kontext wurde wiederholt die Frage diskutiert, wer die wahren philoi seien: die Verwandten oder die Freunde jenseits der Familie. Dabei wurde zwischen der Freundschaft 25 Vgl. Fitzgerald, Friendship in the Greek World, S. 29 – 31.

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nach der Natur und der Freundschaft nach dem Gesetz differenziert. Die zugrundeliegenden Konzepte von Natur und Gesetz unterschieden sich freilich stark voneinander. Der Sokrates-Schüler Xenophon etwa betrachtet die philia innerhalb der Verwandtschaft als wichtiger denn die nach freier Wahl. In seinem dem Problem der Tyrannis gewidmeten Dialog Hierōn unterteilt er philia nach der Stabilität und der Verlässlichkeit der Bindung. Die stabilste und verlässlichste Bindung sei die der Eltern gegenüber ihren Kindern, danach die der Kinder zu ihren Eltern, anschließend die zwischen Brüdern, dann die von Ehefrauen zu ihren Männern und an letzter Stelle die Kameradschaft von Männern. Dies beruhe darauf, dass die philia nach der Natur stärker sei als die nach dem Gesetz. Freundschaft könne aber nicht jeder erlangen; der Tyrann könne keine Freunde haben, obwohl es viel gebe, die sich als seine Freunde ausgäben. Der Tyrann könne echte Zuneigung nicht erwarten; er dürfe niemandem trauen, weswegen er zutiefst einsam sei und in ständiger Angst lebe.26 Isokrates dagegen argumentiert in seiner an Demonikos gerichteten Rede, die Beziehung zu frei gewählten Freunden (hetairoi) stehe über der zu Verwandten (philoi). Anders als Xenophon bezeichnet er die selbst gewählten Freunde als Freunde der Natur nach und die Verwandten als Freunde dem Gesetz nach.27 Diese Auffassung dominiert in der Literatur des 5. Jahrhunderts.28 Die Differenz gegenüber Xenophon liegt in den unterschiedlichen Begriffen von Natur und Gesetz. Für Isokrates meint Natur die Wesensart des Selbst, für Xenophon bezeichnet Natur die natürliche Ordnung, deren Teil die Familie ist. Für Xenophon meint das Gesetz eine

26 Diese Fragen sind von Leo Strauss in seiner Auseinandersetzung mit Xenophons Hierōn ausführlich behandelt worden; vgl. Strauss, Über Tyrannis, wo Xenophons Abhandlung mitabgedruckt ist. 27 Vgl. Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 56. 28 Vgl. ebd., S. 57.

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artifizielle Ordnung, für Isokrates bedeutet es das, was sich aus der Natur des Menschen ergibt. Die starke Polysemie von philos und philotēs, die Einsetzbarkeit von philos als Adjektiv wie auch als Nomen, die Ableitung des Verbs philein sowie die Ausprägung des abstrakten Beziehungsbegriffs philia legen nahe, dass die unterschiedlichen, aber sämtlich positiv besetzten Beziehungsbegriffe von der archaischen bis in die klassische Zeit bereits als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium verwendet wurden. Offenbar konnten sie dazu dienen, unterschiedliche Aspekte und Funktionen von Beziehungen, von axiologischen und possessiven Bindungen bis zu solchen mit institutionellen und emotionalen Bezügen, zu umfassen. Philia und philos zeichnen sich damit bereits in der griechischen Antike durch eine erhebliche Inflationstendenz aus, und es verwundert deshalb weder, dass Platon in seinem Dialog Lysis versuchte, diese Inflationstendenz zu begrenzen, noch, dass Sokrates sich am Schluss zu dem Eingeständnis genötigt sah, es sei ihm und seinen Dialogpartnern nicht gelungen, zu einer allgemein verbindlichen Definition des Begriffs zu gelangen. Ob damit die Polysemie eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums dialogisch abgebildet wird, bedarf jedoch eines close reading mit Hilfe der Dialogforschung.

Die räumliche und zeitliche Situierung des Dialogs Platons Lysis spielt in einer palaistra.29 Die palaistra war neben dem dromos (Platz für Laufübungen) ein integraler Bestandteil des attischen gymnasion; man könnte sie auch als dessen Eingangsstufe beschreiben, die von sieben- bis vierzehnjährigen Knaben besucht wurde und der ersten Stufe ihrer körperlichen

29 Neben Lysis spielen auch Platons Dialoge Charmides und Euthydemos vor bzw. in der palaistra.

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wie geistigen Ertüchtigung diente.30 Diese palaistrai waren Hermes geweiht, dem Gott der Redekunst, der in ihnen besonders verehrt wurde. Ursprünglich handelte es sich bei ihnen lediglich um einen mit Sand bedeckten Platz, auf dem Ring- und Faustkämpfe ausgetragen wurden. Im 5.  Jahrhundert v. Chr. entwickelte sich die palaistra jedoch zu einer Bildungsstätte, die neben der körperlichen Tüchtigkeit im Zweikampf auch die geistigen Fähigkeiten ausbilden sollte. Dadurch wandelte sich auch der Raum selbst. Die einfachen Sandflächen wurden mit Säulenhallen (Peristylen) umgeben, an die sich eine Reihe von Aufenthaltsräumen anschloss.31 Nach der Beschreibung, die der römische Architekt Vitruv in seinem Buch De architectura (5,11) – allerdings erst im ersten vorchristlichen Jahrhundert – gibt, war die palaistra in fünf verschiedene Räume unterteilt: 1. exhedra spatiosa (großer Konversationsraum mit Sesseln); 2. ephebeum (Umkleideraum); 3. coryceum (Übungsraum für Faustkämpfer); 4. conisterium (Übungsraum für Ringer); und 5. elaeothesium (Massage- und Salbraum). In einer solchen palaistra spielt der Dialog, und Platon lässt seinen Erzähler Sokrates dies in der narrativen Einleitung des Dialogs bemerkenswert genau ausführen.32 Hippothales kennzeichnet zu Beginn des Gesprächs die palaistra als den Ort, an dem sich »die Schönen« treffen und sich größtenteils damit beschäftigen, miteinander zu reden. Offenbar finden die Gespräche aber durchaus nicht einfach unter den »Schönen« statt; vielmehr erkundigt sich Sokrates sogleich danach, wer denn dort lehre, und erhält von Hippothales die Antwort, es sei Mikkos, worauf Sokrates entgegnet, dieser sei sicherlich »kein schlechter Mann, sondern ein kompetenter Sophist« (Lysis 204a). Mit diesen knappen Bemerkungen ist relativ viel über die palaistra gesagt, in der 30 Vgl. Fron / Scholz, Räume, Institutionen, S. 115. 31 Zur baulichen Anlage und Funktion der palaistrai vgl. Emme, Peristyl und Polis, S. 156 – 158. 32 Vgl. Schultz, Plato’s Socrates as Narrator, S. 17 – 37.

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das anschließende Gespräch stattfindet. Dass sie ursprünglich eine Sportstätte für das Ring- und Faustkampftraining ist, bleibt unerwähnt; angemerkt wird lediglich, dass sie ein Raum für Gespräche sei und dass sich dort »die Schönen« aufhielten. Für einen attischen Leser des 5.  Jahrhunderts musste nicht erläutert werden, worum es sich bei einer palaistra handelte, und bekannt war zweifellos auch, dass die ursprüngliche Funktion, wie die des gymnasion überhaupt, von der körperlichen auf die geistige Ertüchtigung ausgedehnt worden war. Es handelte sich also um eine Erziehungsstätte für Knaben (paides), in der die körperliche Ertüchtigung eine große Rolle spielte, wo aber auch das überzeugende Reden eingeübt wurde.33 Weil man Schönheit mit Knaben und jungen Männern assoziierte, deren Körper durch das Training gezielt geformt wurden, durch den Krieg und die Mühen des Daseins aber noch nicht entstellt waren, galt die palaistra auch als der Ort der Schönen. Allerdings bedurften sowohl Schönheit als auch Vortrefflichkeit der Übung; als schön galt ein Körper erst dann, wenn er durch Training gestählt und geformt war, und als vortrefflich ein Geist, der nicht nur in Lesen, Schreiben und Musik geübt war, sondern auch die Kunst des klugen Argumentierens und Überzeugens beherrschte. Wenn die Knaben in den Palästren und Gymnasien geistig geschult worden waren, entsprachen sie am ehesten dem Ideal der kalokagathia, der Einheit von körperlicher Schönheit und geistiger Vortrefflichkeit.34 Zur Hervorbringung dieses Ideals war die palaistra gedacht, und das körperliche Training spielte dabei eine wichtige Rolle. In der palaistra wurden insbesondere Ringen und Boxen trainiert, zwei Typen des agonalen Wettkampfs, die stark kör33 Die mit Abstand beste Untersuchung zu den palaistrai ist Miller, Ancient Greek Athletics. Zu den mit der körperlichen Ertüchtigung verbundenen Männlichkeitsidealen vgl. Scheer, Griechische Geschlechtergeschichte, S. 31 – 33. 34 Vgl. Martínková, Kalokagathia.

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perzentriert waren und ebenso als paramilitärische Ausbildung fungieren konnten wie als Einübung in Agonalität als Kennzeichen männlicher energeia. Bei ihrem Training und auch bei den Wettkämpfen waren die Knaben und Jünglinge nackt, und ihre Körper glänzten infolge des Einölens. Welcher Status dem Ringkampf zugemessen wurde, wird daran deutlich, dass er gemeinsam mit dem Wettlauf für paides ab 632 v. Chr. in das Programm der olympischen Wettkämpfe aufgenommen wurde. Repräsentiert wurden Ringkampf und Wettlauf mythologisch durch die Götter Herakles und Hermes, die in den palaistrai verehrt wurden.35 Für Sokrates, der schon seinen Zeitgenossen als hässlich galt, weil er kleinwüchsig und dicklich war und alles andere als ein klassisches Profil hatte, war dieser Ort der Schönen insofern kein einfacher Ort.36 In der unmittelbaren Konfrontation mit jungen Schönen musste er umso älter und hässlicher wirken. Hippothales dagegen konnte, offenbar von seiner eigenen Schönheit überzeugt, sagen, er selbst und viele andere Schöne verbrächten dort ihre Zeit (Lysis 204a). Dass ältere Männer, um Umgang mit den jungen Schönen pflegen zu können, selbst schön sein mussten, war freilich nirgends festgelegt. Nach dem griechischen Erziehungsmodell absolvierten Knaben (paides) und Halbwüchsige (meirakia) in palaistra und gymnasion, die nicht klar voneinander getrennt waren, eine Art Laufbahn der körperlichen und geistigen Ertüchtigung, an die sich dann die ephēbeia, die militärische Ertüchtigung, anschloss.37 Um ihre geistigen Fähigkeiten zu schulen, bedurften die Knaben eines Lehrers, 35 Vgl. Miller, Ancient Greek Athletics, S. 50. 36 Zu Sokrates’ Aussehen, seiner ikonischen Darstellung und den Bemerkungen zu seiner Hässlichkeit, insbesondere in Aristophanes’ Komödie Die Wolken, vgl. Martens, Sokrates, S. 24 – 45. 37 Die ephēbeia umfasste eine zweijährige Ausbildung. Im zweiten Ausbildungsjahr traten die ephēboi den Militärdienst an. Vgl. Miller, Ancient Greek Athletics, S. 193 ff.

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wobei dieser nicht unbedingt der Lehrer sein musste, der in der palaistra unterrichtete. Zumindest bei vermögenden Familien war es üblich, dass die Knaben neben dem Unterricht durch die in der palaistra angestellten Lehrer noch zusätzlichen Unterricht durch Privatlehrer erhielten, zu denen zumeist die bekannten Sophisten zählten, die sich ihre Argumentationskunst teuer bezahlen ließen. Zudem unterhielten sie zu ihren Schülern häufig päderastische Beziehungen.38 Auch aus anderen Gründen war der Zugang zur palaistra für Sokrates nicht selbstverständlich. Schon die Abgeschlossenheit durch eine Mauer und das Tor verweisen darauf, dass die palaistra nicht für jedermann frei zugänglich war. Sie war ein Ort der Jugend, und Ältere hatten mit großer Wahrscheinlichkeit nur als Lehrer, Trainer oder Leiter Zugang, wenngleich das Tor zur palaistra nicht bewacht wurde und durchaus hineingehen konnte, wer wollte. Nach Xenophons Erinnerungen an Sokrates pflegte Sokrates morgens die palaistrai aufzusuchen.39 Wer die palaistrai als Älterer betrat, musste jedoch den Spott seiner Zeitgenossen befürchten. So notiert Theophrast in seinen Charakterbildern über den Schwätzer: ›Er geht in die Schulen (didascaleia) und auf die Sportplätze (palaistrai) und hindert die Kinder am Lernen, so viel schwätzt er mit den Erziehern und Lehrern.‹40 Freilich zeigt Lysis Sokrates nicht im Gespräch mit den Lehrern, sondern mit den Schülern, was mit der besonderen Situation des Hermesfestes, dem Hermaion, zu tun haben mag, an dem Platon den Dialog zeitlich situiert. Das Hermaion war ein jährlich zu Ehren des Gottes Hermes stattfindendes Fest, das vermutlich als Initiationsritus von einer Jugend38 Zur Päderastie vgl. Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 112 – 117. 39 Vgl. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, S. 5. 40 Theophrast, Charaktere 7,4. Vgl. Emme, Peristyl und Polis, S. 157.

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phase in die nächste fungierte.41 Die unterschiedlichen Altersgruppen der paides und der meirakia präsentierten dabei in sportlichen Wettkämpfen ihre Fähigkeiten und brachten anschließend Opfer für Hermes dar.42 Von den sportlichen Wettkämpfen ist im Dialog jedoch nicht die Rede, sondern lediglich von den Opfern für Hermes und davon, dass die Knaben und Jugendlichen nach der Darbringung des Opfers noch in der palaistra sind und sich die Zeit mit Spielen vertreiben (Lysis 206d4 und 207d3). Als Sokrates die palaistra betritt, sind sie festlich bekleidet und spielen ein Würfelspiel (Lysis 206d). Sie sind also nicht mehr nackt, wie während der Ausübung der Ring- und Boxkämpfe, und sie sind auch mit älteren Jugendlichen bzw. jungen Männern (neaniskoi) zusammen. Offenbar ermöglichte das Hermesfest das Zusammensein von Knaben und jungen Männern, die üblicherweise streng getrennt waren, und ebenso den Besuch der palaistra durch ältere Männer, die dort normalerweise keinen Zutritt hatten, auch wenn es Sokrates offenbar immer wieder gelungen ist, hineinzugelangen.

Die Handlungs- und Sequenzmuster des Dialogs Üblicherweise wird die Aufteilung des Dialogs nach thematischen Kriterien vorgenommen, weswegen Lysis von Michael Bordt in die Einleitung (203a1 – 204b3), drei Hauptteile (204b4 – 207b8, 207b8 – 216b9, 216c1 – 222e7) und den Epilog (223a1 – 223b 8) unterteilt wird.43 Eine feinere Gliederung nimmt David Bolotin vor, der den Dialog in insgesamt acht

41 Vgl. Miller, Ancient Greek Athletics, S. 246. 42 Vgl. ebd., S. 193. Zum Hermesfest als Übergangsritual vgl. Marinatos, Striding across Boundaries. 43 Vgl. Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 60. Bordt unterteilt die Hauptteile dann aber noch in einzelne argumentative Schritte.

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Abschnitte unterteilt.44 Bolotin orientiert sich für die ersten beiden Abschnitte an den Gesprächsteilnehmern Hippothales (203a1 – 207d4) und Lysis (207d5 – 210d8), während er die weiteren Abschnitte nach thematischen Aspekten unterteilt, nämlich nach den Fragen, wer mit wem befreundet sein könne (210d9 – 212a7), ob diejenigen, die liebten, oder diejenigen, die geliebt werden, Freunde seien (212a8 – 213c9), ob Gleiche oder Ungleiche miteinander befreundet sein könnten (213d1 – 216b9), ob der Mittlere (der weder Gute noch Schlechte) ein Freund des Guten sei (216c1 – 221d6) und ob Angehörige Freunde seien (221d6 – 222d8). Den letzten Abschnitt grenzt er davon als Gesprächsschluss (222d8 – 223b8) ab. Unter dialogtheoretischen Aspekten sind diese Unterteilungen aber nicht wirklich befriedigend, weil sie unterschiedliche Muster der Sequenzierung nutzen. Für Lysis bietet es sich wegen der Zahl der Gesprächsteilnehmer, des komplexen Beziehungsnetzes und der Konstruktion der Gesprächsteilnehmer an, die Sequenzmuster anhand der Sprechakte der jeweiligen Gesprächsteilnehmer einzueilen. Davon sind dann die narrativen Zwischenschritte abzugrenzen, in denen Sokrates erzählt. Wie bereits erwähnt, ist Sokrates der einzige Gesprächsteilnehmer, der die gesamte Zeit dabei ist und spricht, wohingegen die anderen entweder bloß zeitweilig anwesend sind oder nur zuhören. Der junge Mann (neaniskos) Hippothales eröffnet zwar den Dialog mit Sokrates, wird dann aber zum stillen und heimlichen Zuhörer des weiteren Gesprächs. Sein etwa gleichaltriger Gefährte (hetairos) Ktesippos spricht anfangs sehr viel, weil er sich bei Sokrates über Hippothales beschwert und ihn damit zwingt, einzugestehen, dass er verliebt ist. Danach hört Ktesippos aber vorwiegend zu und mischt sich nur einmal in das Gespräch ein, weil er den Eindruck hat, dass in einem Dialogabschnitt zwischen Sokrates und dem von Hippothales begehrten Knaben Lysis heim44 Vgl. Bolotin, Plato’s Dialogue on Friendship, S. 7 f.

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lich geflüstert wird, so dass er nicht hören kann, wovon die Rede ist. Den entscheidenden Anteil am Gespräch haben die beiden Knaben Menexenos und Lysis; Menexenos wird jedoch in einem frühen Stadium des Dialogs weggerufen und ist für einige Zeit abwesend. Sokrates spricht in diesem Abschnitt allein mit Lysis. Nach Rückkehr des Menexenos spricht er abwechselnd mit einem der beiden, teilweise aber auch mit beiden zugleich und verabschiedet sich dann von beiden. Folgt man dem Wechsel der aktiven Gesprächsteilnehmer, ergibt sich eine im Vergleich zu Bordt und Bolotin deutlich kleinerschrittige Aufteilung. Sie lenkt den Blick darauf, dass in den einzelnen Gesprächsabschnitten mit den verschiedenen Teilnehmern von durchaus unterschiedlichen Gegenständen gesprochen wird oder zumindest unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden. Spezifische thematische Schwerpunkte und Gesprächsmodalitäten, etwa in der Anrede, aber auch im Tempo von Rede und Gegenrede, lassen sich bei dieser Sequenzierung genauer beobachten. Betrachtet man die Sprecherwechsel und die davon abgrenzbaren narrativen Einschübe, lässt sich der Dialog in insgesamt 24 Abschnitte unterteilen, von denen sieben als narrative Zwischenstücke markiert sind, die stets von Sokrates erzählt werden. Gliedert man die 17 verbleibenden genuinen Dialogsequenzen anhand der neben Sokrates beteiligten Personen, so entfallen vier auf Hippothales, vier auf Ktesippos, einer auf Menexenos allein, drei auf Lysis allein und fünf auf Lysis und Menexenos. Diese Dialogsequenzen sind von sehr unterschiedlicher Länge und haben verschiedene Funktionen. Die Gesprächssequenzen mit Hippothales und Ktesippos haben einleitenden Charakter und dienen vorwiegend der Exposition des Ausgangsproblems, geben aber auch Hinweise auf die Funktion der nachfolgenden Dialogteile. Die Gespräche mit Menexenos und Lysis drehen sich einerseits um das inhaltliche Problem, wie und wozu man sich mit einem anderen befreunden könne, dienen andererseits aber auch dazu 65

zu zeigen, wie man eine solche Fragestellung angemessen verfolgen sollte. Narrative Einleitung (203a1 – 203a5):45 Sokrates ist unterwegs zum lykeion und wird in der Nähe der Panopsquelle auf eine Gruppe von jungen Männern aufmerksam, unter denen sich auch die ihm offenbar bekannten Hippothales und Ktesippos befinden. Gespräch mit Hippothales (203a5 – 204c3): Hippothales fragt Sokrates, woher er komme und wohin er gehe, und fordert ihn auf, sich zu ihnen zu gesellen. Sokrates entgegnet daraufhin, wohin er denn kommen solle, und Hippothales sagt, während er auf eine offene Tür in der Mauer deutet, hierher, wo wir unsere Zeit mit vielen anderen Schönen verbringen. Sokrates fragt nach, was für ein Ort »hier« denn sei und womit sie ihre Zeit verbrächten, woraufhin ihm Hippothales mitteilt, es handele sich um eine palaistra und sie verbrächten ihre Zeit mit Reden. Sokrates erkundigt sich daraufhin, wer dort unterrichte, und Hippothales teilt ihm mit, es sei sein Kollege Mikkos, den Sokrates als guten Sophisten bezeichnet. Dann fragt Hippothales nach, ob Sokrates denn nun mitkommen wolle, und Sokrates repliziert, zunächst wolle er wissen, zu welchem Zweck er denn mitkommen solle und wer der Schöne sei. Für jeden sei es ein anderer, entgegnet Hippothales, worauf Sokrates präzisierend nachfragt, wer für ihn denn der Schöne sei. Bei dieser Frage errötet Hippothales, und Sokrates bemerkt, jetzt müsse er ihm nicht mehr sagen, dass er verliebt sei, denn das sehe er, und er sehe auch, dass seine Verliebtheit schon weit gediehen sei. Verliebtheit könne er gut erkennen: Wenn er zu nichts tauge, dann doch dazu zu erkennen, 45 Die Zählung entspricht bis auf die angegebenen Zeilenzahlen der üblichen Stephanus-Zählung. Normalerweise erfolgt die Zeilenzählung nach der Oxforder Ausgabe, was das Auffinden der genannten Stellen jedoch unnötig erschwert. Die Zeilenzählung orientiert sich hier deshalb an den Zeilen der zitierten Ausgabe von Michael Bordt.

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wer ein Verliebter und wer ein Begehrter sei. Als er das hört, errötet Hippothales noch mehr. Gespräch mit Ktesippos (204c4 – 204e9): Darauf mischt sich Ktesippos in das Gespräch ein und sagt ironisch zu Hippothales, wie vornehm es doch sei, dass er erröte und sich nicht traue, Sokrates den Namen des Begehrten zu nennen. Dabei würde Sokrates, selbst wenn er nur kurze Zeit mit ihm verbringe, schon bald den Namen kennen, weil Hippothales unentwegt von Lysis schwärme. Seine unerträglichen Schwärmereien seien aber noch nicht einmal das Schlimmste, sie würden nämlich noch von den Liedern übertroffen, die er auf seinen Liebling mit eigentümlicher Stimme singe. Das sei der Grund, warum er erröte, wenn er von Sokrates darauf angesprochen werde. Daraufhin erkundigt sich Sokrates bei Ktesippos, wer Lysis sei, denn er kenne seinen Namen nicht, und äußert die Vermutung, er müsse wohl noch sehr jung sein. Ktesippos bestätigt das und teilt mit, Lysis sei der älteste Sohn des Demokrates von Aexone. Gespräch mit Hippothales (204e10 – 205a8): Sokrates fordert Hippothales auf, von seinen Liedern etwas zum Besten zu geben, damit er sehen könne, ob er wisse, was ein Liebhaber über und zu seinem Favoriten sagen müsse. Hippothales fragt ihn, ob er dem, was Ktesippos sage, irgendein Gewicht beimesse. Sokrates reagiert darauf mit der Frage, ob er bestreite, denjenigen zu lieben, von dem dieser spreche. Nein, das bestreite er nicht, aber er bestreite, Gedichte und Prosa über ihn geschrieben zu haben. Zwischenruf durch Ktesippos (205a8 – 205a9): Hippothales sei nicht ganz gesund, rede Unfug und benehme sich verrückt. Sokrates spricht mit Hippothales (205a10 – 205b6): Sokrates erklärt Hippothales, es gehe ihm nicht darum, die Lieder zu hören; er wolle nur erfahren, auf welche Weise er sich seinem Favoriten nähere. Hippothales weicht der Antwort aus und verweist auf Ktesippos, der die Frage beantworten könne, wobei er ironisch bemerkt, der müsse es ja genau wis67 https://doi.org/10.5771/9783835327214

sen, weil er, Hippothales, ihm damit angeblich ständig in den Ohren gelegen habe. Ktesippos spricht zu Sokrates (205b7 – 205d5): Ktesippos erklärt, wie peinlich Hippothales’ Gedichte seien, denn er beschreibe darin die Geschichte der hochangesehenen Familie, aus der Lysis stamme, und die Verbindung ihrer Vorfahren mit Herakles; solche Dinge sängen alte Weiber, und Hippothales nötige seine Umgebung obendrein noch dazu, sich das anzuhören. Sokrates spricht mit Hippothales (205d6 – 206e1): Sokrates tadelt Hippothales dafür, dass er Lieder auf sich selbst singe, bevor er den Sieg errungen habe. Hippothales bestreitet das und erklärt, er singe keineswegs über sich. Sokrates erläutert ihm daraufhin, alle seine Lieder lobten ihn selbst, denn wenn es ihm gelinge, seinen Favoriten zu gewinnen, lobe das seine Fähigkeit, ein so begehrenswertes Objekt zu erlangen. Gelinge es ihm jedoch nicht, habe er sich vor allen lächerlich gemacht. Deshalb solle man nie einen Begehrten preisen, bevor man ihn errungen habe. Außerdem würden die Schönen, wenn man sie preise, eingebildet werden, nicht wahr? Von da an entwickelt sich ein rasches Frage- und AntwortSpiel: Hippothales stimmt der Proposition zu, die Schönen würden eingebildet, wenn man sie preise. Sokrates fragt zurück, ob es dann nicht noch schwerer werde, sie zu erringen. Hippothales erklärt, das sei wahrscheinlich. Und was für ein Jäger sei jemand, so Sokrates, der es sich selbst schwerer mache, die Beute zu fangen? Zweifellos ein schlechter, entgegnet Hippothales. Sokrates fragt anschließend rhetorisch, dass es doch zweifellos unmusikalisch sei, durch Lieder nicht zu zähmen, sondern wild zu machen. Hippothales stimmt erneut zu, und Sokrates erklärt nun, jemand, der sich selbst durch seine Gedichte schade, könne wohl kein guter Dichter sein. Auch dem stimmt Hippothales zu und bittet Sokrates daraufhin um Rat, wie er es im Gespräch oder sonst anstellen solle, seinem Favoriten lieb zu werden. 68

Sokrates entgegnet, das sei schwer zu erklären, aber wenn er ihm die Gelegenheit verschaffe, mit Lysis zu sprechen, könne er Hippothales vielleicht demonstrieren, wie er ihn behandeln solle. Darauf erklärt dieser, das sei ganz leicht; wenn er, Sokrates, mit Ktesippos in die palaistra eintrete und mit ihm diskutiere, werde Lysis ganz von selbst dazukommen, denn er sei ganz versessen darauf zuzuhören. Im Augenblick sei das Hermesfest, da seien die Knaben und die Jünglinge ohnehin zusammen, und Lysis werde sich mit Sicherheit zu den Diskutierenden gesellen. Und falls nicht, könne Ktesippos seinen Neffen Menexenos rufen. Lysis und Menexenos seien beste Freunde (malistas hetairoi, 206d4), und er werde sich Menexenos sicherlich anschließen. Sokrates erklärt daraufhin, so solle es sein. Hippothales offenbart hier, dass er über Lysis eine Menge weiß, was eigentlich die Möglichkeit zu unbefangenem Kontakt bieten würde. So weiß er, dass Lysis neugierig und wissbegierig ist und besonders gerne Älteren zuhört. Es könnte also für ihn sehr leicht sein, Lysis’ Aufmerksamkeit zu erringen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Der Leser des Dialogs kann hier bereits erkennen, was das Problem erotischen Begehrens ist: Es behindert das natürliche Gespräch, von dem Hippothales eigentlich weiß, wie man es anfangen könnte. Aber dieses Wissen, das er als Erfahrungswissen offenbar aus der Beobachtung von Lysis gewonnen hat, ist ihm für sein eigenes Handeln nicht zugänglich, da es vom erōs verstellt ist. Das Begehren verhindert, dass er Lysis unbefangen gegenübertreten und dessen Wissbegierde wecken kann. Damit aber fehlt ihm genau jene Grundlage, auf der sich die Freundschaft zwischen einem Älteren und einem Jüngeren aufbauen ließe. Narratives Zwischenstück (206e1 – 207b7): Sokrates erzählt, wie sie die palaistra betreten, wo sich einige Knaben in einer Ecke mit Spielen die Zeit vertreiben. Unter ihnen ist Lysis, der durch seine außergewöhnliche Schönheit sofort auffällt und von Sokrates nicht nur als schön (kalos), son69 https://doi.org/10.5771/9783835327214

dern als schön und gut (kalos kai agathos) bezeichnet wird (207a2 – 3). Die Verbindung von kalos und agathos in Sokrates’ Beschreibung überrascht, wenn man denn nicht unterstellt, sie sei topisch.46 Sokrates hat mit Lysis noch kein Wort gewechselt; von daher scheint es keine Grundlage dafür zu geben, Lysis für gut zu halten. Allein seine Schönheit ist augenscheinlich. Die einzig mögliche Basis der Aussage könnte Hippothales’ Bemerkung sein, Lysis sei besonders wissbegierig, die aber noch nicht überprüft worden ist. Das zu überprüfen, ist der nächste Schritt im Dialogverlauf. Sokrates und Ktesippos nehmen in einer Ecke des Raumes Platz und beginnen miteinander zu reden. Lysis dreht sich immer wieder zu ihnen um; er würde sich offenbar gerne zu ihnen gesellen, traut sich aber nicht. Dann kommt Menexenos herein und begibt sich unbefangen direkt zu ihnen, woraufhin Lysis sich ebenfalls nähert und neben Menexenos Platz nimmt. Als Hippothales Lysis kommen sieht, versteckt er sich hinter den Rücken von anderen, die dabeistehen, und hört zu. Aus diesem narrativen Zwischenstück lässt sich schlussfolgern, dass Lysis und Menexenos eine völlig andere Beziehung haben, als Hippothales sie aufgrund seiner Verliebtheit anstreben kann. Lysis kann sich ohne Probleme nähern, wenn Menexenos da ist, der ihm offenbar die Sicherheit gibt, das zu tun, was er tun möchte, nämlich dem Gespräch der Älteren zuzuhören. Damit ist eingetreten, was Hippothales prophezeit hat: Sein Wissen wird durch den Verlauf des Geschehens bestätigt. Dass Hippothales sich versteckt, ist zuvor so eindeutig nicht vereinbart worden. Ob er sich nur versteckt, weil er mit Sokrates besprochen hat, dass dieser ihm demonstriert, wie man einen Begehrten (eromenos) behandeln müsse, oder weil ihm ein unbefangenes Gespräch mit Lysis nicht möglich ist, bleibt offen. Geht man von letzterem aus, so wird jedenfalls deutlich, dass Hippothales’ Befangenheit eine andere ist als die von Lysis, der 46 Vgl. Martínková, Kalokagathia.

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seine Schüchternheit überwinden kann, wenn ein anderer dabei ist, der ihm Sicherheit gibt. Sokrates spricht mit Menexenos und Lysis (207c1 – 207d5): Nachdem Menexenos und Lysis zu dem Gespräch hinzugekommen sind, spricht Sokrates Menexenos an und fragt ihn, wer der Würdigere von ihnen beiden sei. Sokrates spricht also nicht direkt mit Lysis, sondern lässt diesen zunächst außen vor, thematisiert aber mit dessen Freund Menexenos ihre Beziehung. Darüber, wer der Würdigere von ihnen sei, so Menexenos, würden sie streiten. Wer von ihnen denn die edlere Herkunft habe, fragt Sokrates weiter, was Menexenos mit der Antwort bescheidet, auch darüber würden sie streiten. Als Sokrates fragt, wer der Schönere von ihnen sei, lachen beide. Danach richtet Sokrates die nächste Frage an beide. Er beginnt mit der Proposition, wer der Reichere von ihnen sei, könne wohl kein Streitpunkt zwischen ihnen sein, da Freunden (philoi) alles gemeinsam gehöre. Denn sie seien doch Freunde (philoi) und würden sicherlich die Wahrheit über ihre Freundschaft (philia) sagen? Das bestätigen beide. Sokrates versucht hier also zunächst, Lysis’ und Menexenos’ Alltagsverständnis von Freundschaft zu klären. Er beginnt mit Fragen, die eine Konkurrenz zwischen beiden voraussetzen, und geht dann zu einer Proposition über, die über das Alltagsverständnis hinausgeht, indem er den Pythagoras zugeschriebenen Satz aufnimmt, Freunden sei alles gemeinsam.47 Damit führt er erstmals eine definitorische Festlegung ein, die eine Anforderung an die Freunde formuliert. Diese Festlegung wird in keiner Weise befragt; sie wird sich im weiteren Verlauf des Gesprächs aber als ausgesprochen hintersinnig erweisen. Im Hinblick auf Lysis und Menexenos thematisiert Sokrates in diesem Abschnitt zunächst die natürliche Rivalität zwischen zwei gleichaltrigen Knaben, die unbeschadet dessen die Proposition bestätigen, dass sie miteinander befreundet 47 Siehe oben, S. 55.

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seien. Die Antworten von Lysis und Menexenos sind völlig unbefangen, denn sie haben kein Problem damit, zu streiten und dennoch Sokrates’ Proposition zuzustimmen, sie seien befreundet. Ihr Alltagsverständnis von Freundschaft schließt Konkurrenz offenbar nicht aus, es ist überdies mit Humor verbunden, weil sie über eines der potentiellen Streitthemen gemeinsam lachen können. Daraus kann man schließen, dass ihre Konkurrenz eher spielerisch ist und durch Lachen aufgelöst werden kann, aber ebenso lässt sich schlussfolgern, dass es eine Differenz zwischen sozialen und natürlichen Unterschieden gibt. Die sozialen Unterschiede bieten Anlass zu Rivalität, wohingegen die natürlichen Unterschiede so unbefragbar sind, dass die Frage nach einer daraus resultierenden Konkurrenz Gelächter auslöst: Schönheit ist nach ihrem Verständnis nichts, worüber Freunde einen Konkurrenzkampf austragen könnten. Narrativer Zwischeneinschub (207d1 – 5): Danach, so erzählt Sokrates, habe er sie fragen wollen, wer von ihnen der Gerechtere und der Weisere sei, aber bevor er die Frage stellen konnte, sei Menexenos weggerufen worden. Sokrates spricht mit Lysis (207d6 – 210d12): Nach dem vorübergehenden Ausscheiden des Menexenos aus dem Dialog stellt Sokrates Lysis Fragen über den Charakter der elterlichen Liebe und des Glücks. Inhaltlich scheint sich das Gespräch damit einer völlig anderen Frage zuzuwenden, nämlich der, ob Liebe sich darin ausdrückt, dass man dem Geliebten alles erlaubt, was er will, und ob dessen Glück darin besteht, seinen Willen unbedingt zur Geltung zu bringen. Semantisch ist die Verbindung zwischen der Beziehung zweier Gleichaltriger und der elterlichen Liebe durch das Verb philein möglich.48 philein kann sich nämlich sowohl auf die Freunde als auch auf die Verwandten und die Angehörigen im weiteren Sinne beziehen, so dass damit nach unserem Verständnis völlig unterschiedliche Beziehungen thematisiert werden. 48 Siehe oben, S. 52.

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Sokrates äußert zwei Propositionen, zum einen, dass Lysis von seinen Eltern geliebt werde, und zum anderen, dass diese wollten, dass er glücklich sei. Beiden Propositionen stimmt Lysis zu. Sokrates fragt ihn daraufhin, ob er meine, dass ein Mensch glücklich sei, der diene und dem nichts von dem erlaubt sei, was er tun wolle. Das verneint Lysis nachdrücklich. Aber ob seine Eltern ihm denn alles erlaubten, fragt Sokrates zurück, was Lysis mit großer Selbstverständlichkeit zurückweist: Sie würden ihm natürlich nicht alles erlauben. Dieses Spiel von Fragen und Antworten, Propositionen und Verneinungen treibt Sokrates immer weiter, und Lysis reagiert stets sehr sicher und ist mit dem Grundsatz, dass ihm vieles verboten ist, völlig einverstanden, obwohl sich Sokrates mehrfach ungläubig oder empört darüber äußert, dass Lysis so vieles verboten werde. Gemeinsam kommen sie zu dem Schluss, dass Lysis verboten werde, wofür ihm Kompetenz oder Erfahrung fehlten, und stattdessen eher auf Sklaven vertraut werde; wo ihm hingegen Kompetenz zugeschrieben werde, dürfe er tun, was er für richtig halte. Sokrates dehnt diese Fragen und Propositionen danach auf andere Felder und Personen, die Nachbarn, die Stadt, den persischen König aus. Dabei bezieht er sich selbst in die Frage ein, wer ihnen beiden erlaube zu tun, was sie wollten, und welche Gründe dabei eine Rolle spielten. Das werde ihnen, so das Ergebnis, stets dann zugestanden, wenn sie als tüchtig auf dem je bezeichneten Gebiet, etwa der Heilkunst, gelten würden. Und in diesem Fall wollten viele ihre Freunde sein, weil sie sich von ihnen etwas versprechen würden. Sokrates stellt sich mit Lysis damit auf eine Stufe und gesteht ihm Gleichrangigkeit zu, während er zugleich durch die Gesprächsführung den Abstand zwischen Lysis und sich markiert. Lysis stimmt Sokrates grundsätzlich darin zu, dass ihnen stets dann erlaubt werde zu tun, was sie für richtig hielten, wenn man sie in der jeweiligen Tätigkeit für besonders tüchtig halte. Gleichzeitig hat er damit das Konzept der Nützlichkeit eingeführt, die er als Voraussetzung für 73

die Erfüllung des Wunsches präsentiert, mit einem anderen befreundet zu sein. Sokrates hat Lysis damit einerseits zu der Einsicht gebracht, dass er der Lehrer und »Zurechtweiser« bedarf, ihm andererseits aber vermittelt, er könne nahezu alles erreichen, sofern es ihm gelinge, tüchtig zu sein und deshalb von anderen anerkannt zu werden. Man kann diese Sequenz daher als Lehrgespräch im engeren Sinne charakterisieren: Sokrates belehrt Lysis, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um anderen lieb zu sein und von ihnen als Freund begehrt zu werden. Narratives Zwischenstück (210d9 – 211a3): Sokrates sieht hinüber zu Hippothales und hätte sich hinsichtlich des demonstrativen Charakters des Gesprächs fast verraten, denn es überkommt ihn zu sagen, »so, Hippothales, muß man sich mit seinem Liebling unterhalten und versuchen, ihn zur Demut zu bringen und in seine Schranken verweisen, aber nicht, so wie du, ihn aufgeblasen und eitel machen« (211e3 – 5). Er hält sich dann aber doch zurück, weil ihm einfällt, dass Hippothales unbemerkt bleiben möchte, und wendet sich dem Gespräch wieder zu. In diesem Augenblick kommt Menexenos zurück. Der narrative Einschub macht deutlich, dass das Lehrgespräch zwei Personen belehren soll: Lysis und Hippothales. Die narrativen Abschnitte dienen also keineswegs nur der Situierung und Füllung dramatischer Pausen sowie dem Wechsel von Gesprächsabschnitten, sondern verweisen auch auf die interne Funktion des Dialogs, der als Lehrdialog für Hippothales eröffnet worden ist. Mit Hippothales als Zuhörer des Dialogs ist zugleich ein impliziter Leser für den Dialog eingeführt, dessen Wahrnehmung über die Adressierung von Hippothales gesteuert wird. Zwischengespräch mit Lysis über Menexenos (211a3 – 211c10): Lysis bittet Sokrates, leise wie ein Liebling und ein Freund (paidikōs kai philikōs, 211a3f – 4), zu Menexenos das Gleiche zu sagen wie zuvor zu ihm. Sokrates lehnt das ab und fordert Lysis auf, es selbst zu tun, bietet ihm aber Hilfe bei Problemen an; Lysis bittet Sokrates daraufhin, mit 74

xenos über etwas anderes zu sprechen, und Sokrates nimmt Lysis das Versprechen ab, ihm beizustehen, wenn er dabei in Schwierigkeiten gerate, denn Menexenos diskutiere streitbar (eristikos), weswegen man sich im Gespräch mit ihm leicht lächerlich machen könne. Gerade deshalb, entgegnet Lysis, solle er mit ihm sprechen, und er werde ihm auch beistehen. Sokrates verspricht Lysis daraufhin, seinen Wunsch zu erfüllen. Auf der Sachebene scheint Lysis’ Wunsch, Sokrates solle mit Menexenos so reden wie mit ihm, keine besondere Relevanz zu haben, aber auf der Performanzebene impliziert Lysis’ Bitte, dass er sich mit Sokrates gegen seinen philos Menexenos verbündet. Durch dessen Charakterisierung als eristisch wird aber auch die Ebene der Dialogführung angesprochen, die für den weiteren Gesprächsverlauf folgenreich sein wird. Das Adjektiv eristikos (streitbar) leitet sich von eris (Streit, Wettkampf) ab und charakterisiert Personen, denen es in einem Gespräch darum geht, den anderen argumentativ zu besiegen. Bei der eristischen Technik der Gesprächsführung geht es nicht um Wahrheit, sondern um Diskurshoheit.49 Wenn Sokrates Menexenos als eristisch bezeichnet, diskreditiert er ihn als jemanden, der für ein analytisches Gespräch, das der Wahrheitssuche dient, nicht geeignet ist oder zumindest erst einmal belehrt werden muss. Zwischengespräch mit Ktesippos: (211c11 – 211d6): Auf dieses leise geführte und damit anwesende Zuhörer ausschließende Gespräch zwischen Lysis und Sokrates wird Ktesippos aufmerksam und fragt, was sie zu flüstern hätten. Darauf behauptet Sokrates, Lysis habe in ihrem Gespräch etwas nicht verstanden, aber gesagt, Menexenos wisse das sicher, und 49 In Platons Dialog Sophistes gehen Theaitetos und ein »Xenos« (was auch einfach Fremder bedeuten kann) die unterschiedlichen Typen von Dialogpartnern durch und bezeichnen den fünften als eristikēn technēn (Sophistes 231e), als geübt in der eristischen Technik. Vgl. zur eristischen Gesprächsführung auch Bordts Kommentar (Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 148).

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ihn deshalb gebeten, mit Menexenos zu sprechen. Ktesippos fragt ungehalten, warum er dann nicht mit Menexenos spreche, und Sokrates entgegnet, dass er das jetzt tun wolle. Ktesippos zeigt sich hier erneut überaus kritisch, dieses Mal aber gegenüber Sokrates, dem er zu verübeln scheint, dass er vertraulich mit Lysis gesprochen hat. Nimmt man das mit seiner zu Beginn des Gesprächs geübten Kritik an Hippothales zusammen, so spricht daraus etwas, das man am Anfang noch nicht bemerken konnte: Eifersucht, und zwar nicht in Bezug auf Hippothales wegen dessen lächerlichen Bemühens um Lysis, sondern auf jeden Älteren, der sich um Lysis bemüht. Im Dialog blitzt diese Möglichkeit nur kurz auf und wird nicht weiter narrativ gefüllt, aber für einen Moment lässt sie Ktesippos’ Verhalten in einem anderen Licht erscheinen. Auffällig ist aber nicht minder, dass Sokrates Ktesippos belügt. Lysis’ Aufforderung an Sokrates, mit Menexenos zu sprechen, hatte einen anderen Grund als den von Sokrates angegebenen. Dadurch erscheint Sokrates’ narrativ eingeflochtene Behauptung, Lysis habe zu ihm wie ein Liebling (paidikōs) und ein Freund (philikōs) gesprochen, ebenfalls in einem anderen Licht: Sokrates belehrt mit dem Gespräch nicht nur, sondern konkurriert auch um die Gunst des schönen Knaben Lysis; obendrein konkurriert er nicht nur mit Hippothales, sondern auch mit Menexenos und Ktesippos. Er, der alte und hässliche Mann, konkurriert mit den beiden schönen jungen Männern Hippothales und Ktesippos sowie dem Knaben Menexenos um die Gunst eines besonders schönen Knaben. Und er gewinnt. Was Hippothales mit seinen lyrischen Ergüssen nicht zu erreichen vermochte, was Ktesippos möglicherweise sorgsam verbirgt und was Menexenos durch seine rechthaberische Art gefährdet, gelingt Sokrates. Von da aus erschließt sich auch, warum Sokrates in seiner Beschreibung des Eintritts in die palaistra und beim ersten Ansichtigwerden des begehrten Knaben diesen nicht nur als schön (kalos), sondern auch als gut (agathos) bezeichnet hat. Seine Schönheit ist auffällig, aber sie ist 76

nichts, was ihn wirklich auszeichnet; was ihn auszeichnet, ist seine Gutheit, die sich in seiner Fähigkeit äußert, ein Problem gemeinsam mit einem anderen zu durchdenken, sich im Gespräch mit Sokrates zu behaupten und ihm freundschaftliches Vertrauen entgegenzubringen. Sokrates spricht mit Menexenos, und Lysis hört zu (211d6 – 213d2): Sokrates’ nachfolgende Behauptung gegenüber Menexenos, er wünsche sich nichts sehnlicher (erōtikōs) als einen Freund, aber es sei ihm noch nie gelungen, einen Freund zu finden, wirkt zumindest in ihrem zweiten Teil ironisch, hat er doch gerade mit Lysis eine Vertrauensbeziehung hergestellt. Ein Freund und Gefährte (philhetairos) sei ihm lieber als der Besitz von Pferden, Hähnen, lieber selbst als das Gold des Dareios.50 Wenn er Menexenos und Lysis sehe, sei er überrascht und preise sie glücklich, dass es ihnen, obwohl sie noch so jung seien, so leicht gelungen sei, Freunde zu sein. Er aber wisse nicht einmal, wie einer des anderen Freund werde. Da er, Menexenos, und Lysis Freunde seien, werde er es ja sicherlich wissen. Sokrates wartet die Antwort auf diese implizite Frage aber gar nicht ab, sondern fragt dann, ob einer des anderen Freund werde, wenn er ihn liebe, wenn er von ihm geliebt werde oder wenn beide sich wechselseitig liebten. Menexenos stimmt mit voller Überzeugung allen drei Propositionen zu und Sokrates demonstriert anschließend, dass sich daraus Widersprüche ergeben: Zunächst bezieht er sich auf die erste Proposition, einer sei des anderen Freund, wenn er ihn liebe. Dem stimmt Menexenos zu. Aber es komme doch häufig vor, wendet Sokrates ein, dass der Liebende vom Geliebten nicht geliebt, sondern sogar gehasst werde. Dann könne aus der Liebe des einen nicht erwachsen, dass der andere sein Freund sei. Das bestätigt Menexenos ebenfalls. 50 Eine ähnliche Proposition wird Sokrates in Xenophons Memorabilien zugeschrieben: Der Besitz eines Freundes sei ihm lieber als jeder andere Besitz, denn nichts sei so nützlich wie ein guter Freund. Vgl. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, 2.4.5.

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Wenn dem aber so wäre, fährt Sokrates fort, könne man jemanden, der Pferde liebe, aber von den Pferden nicht geliebt werde, nicht als Pferdefreund bezeichnen, und jemanden, der Hunde liebe, aber nicht von ihnen geliebt werde, nicht als Hundefreund, jemanden, der Wein liebe, nicht als Weinfreund oder einen, der die Weisheit liebe, nicht als Freund der Weisheit (philosophos), außer die Weisheit liebe auch ihn. Und dann habe wohl auch der Dichter unrecht, der sage, reich sei, wer Kinder habe, die ihn liebten, einhufige Pferde, Hunde zum Jagen und einen Gastfreund in der Fremde (212e3 – 4)? 51 Menexenos widerspricht, der Dichter habe durchaus recht gehabt, jedenfalls seiner Auffassung nach. Dann habe er, entgegnet Sokrates, also seiner Meinung nach die Wahrheit gesprochen? Erneut stimmt Menexenos zu, und Sokrates beginnt nun, die von Menexenos angenommene Überzeugung detailliert zu befragen. Wenn das zutreffe, so fragt er, sei dann nicht der Liebende (ho philos) ein Freund, sondern der Geliebte (ho philoumenos)? Und der Gehasste (ho misoumenos) sei ein Feind, nicht aber der Hassende (ho misos)? Beiden Propositionen stimmt Menexenos zu, und Sokrates beginnt nun ein Spiel der Ableitungen, aus denen sich ergibt, dass Freund und Feind nicht mehr unterscheidbar sind, weil der Freund von den Feinden geliebt, von den Freunden aber gehasst werde, so dass man schließlich nicht mehr sagen könne, ob es überhaupt noch welche gebe, die einander Freunde werden könnten (213c11). An dieser Stelle kapituliert Menexenos und gibt zu, dass er keinen Ausweg mehr sieht. Sokrates hat diese Kapitulation erreicht, indem er mit der Polysemie von philos als Adjektiv und Nomen spielt, bei der 51 Sokrates zitiert hier eine nur fragmentarisch überlieferte Elegie Solons (Fragment 23 W), des berühmten Gesetzgebers von Athen, der als einer der sieben Weisen galt. Das zitierte Fragment ist die einzige Stelle, die den Gastfreund (xenos) thematisiert, der in der archaischen Zeit eine so große Rolle gespielt hat (siehe oben, S. 53 f.).

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zwischen lieb sein, besitzen und befreundet sein lexikalisch nicht differenziert wird, und indem er mit dem Gegenbegriffspaar Freund und Feind arbeitet, das einerseits nur auf der Grundlage einer noch gar nicht gefundenen klaren Definition funktioniert, andererseits aber nicht notwendig ein Gegensatzpaar bildet, weil dem Freund keineswegs notwendigerweise der Feind gegenübersteht, sondern vielmehr derjenige, der (noch) nicht als Freund bezeichnet werden kann.52 Deshalb ist auf der Grundlage paradigmatischer Äußerungen, wie etwa einem Dichterspruch, eine sinnvolle Differenzierung auch nicht zu erreichen, was Menexenos nicht verstanden hat. Vielmehr hat er sich von Sokrates durch die semantische Ambiguität von philos und philein derart verwirren lassen, dass er am Schluss eingestehen muss, nichts zu verstehen. Sokrates hat damit erneut nach zwei Seiten hin argumentiert: Zum einen hat er den zuvor als Eristiker bezeichneten Menexenos so in die Enge getrieben, dass dieser der von ihm selbst bevorzugten Gesprächsführung, nämlich der eristischen Argumentation, zum Opfer gefallen ist und eingestehen muss, dass er nicht mehr weiterweiß. Quasi nebenbei hat Sokrates damit den Pseudo-Scharfsinn der Eristik, der in erster Linie dazu dient, den Gesprächspartner argumentativ zu besiegen, zugleich angewendet und widerlegt: In der Tat kann man damit seinen Gesprächspartner in die Irre führen und argumentativ überwältigen, aber der Wahrheit oder auch nur einer sinnvollen Analyse kommt man so keinen Schritt näher.53 Zum anderen hat er Lysis’ Wunsch erfüllt, Menexenos zu belehren, freilich anders, als Lysis sich das ursprünglich vorgestellt hat: Er hat zu Menexenos keineswegs das Gleiche gesagt wie zuvor zu 52 Siehe oben, S. 55 f. 53 Zur philosophischen Dialektik in Platons Dialogen und ihrer Abgrenzung gegenüber der sophistischen Eristik vgl. Gundert, Dialog und Dialektik, bes. S. 297 – 317; speziell zu Lysis S. 319 – 321.

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Lysis, sondern er hat ihn argumentativ gedemütigt, indem er ihm bewiesen hat, dass er einer eristischen Argumentation, in der er nach Lysis’ Überzeugung besonders brilliert, nicht gewachsen ist und obendrein über keine tragfähige Idee von Freundschaft verfügt. Diesen Gesprächsabschnitt krönt Sokrates schließlich mit der spöttischen Frage, ob sie womöglich die ganze Untersuchung nicht richtig geführt hätten. Diese Frage veranlasst Lysis, sich wieder in das Gespräch einzumischen und auszurufen, ihm jedenfalls scheine das so zu sein. Narrativer Einschub (213d3 – 213e2): Sokrates beschreibt, dass Lysis, der offenbar die ganze Zeit aufmerksam zugehört hat, bei diesem spontanen Zwischenruf errötet sei. Er habe sich dann Lysis zugewandt und das Gespräch mit ihm weitergeführt, weil er Menexenos ausruhen lassen wollte und sich über Lysis’ philosophische Begabung gefreut habe. Das ist kaum anders zu verstehen, als dass Sokrates in seinem narrativen Einschub den Spott über Menexenos fortsetzt, denn die Behauptung, Menexenos müsse sich ausruhen, ist eine weitere Bestätigung dafür, dass dieser einer schnellen Argumentationskette nicht gewachsen ist. Lysis dagegen, der viel zurückhaltender und aufmerksamer aufgetreten ist und sich mit Sokrates gegen die Eristik verbündet hat, unter deren Einfluss sein Freund Menexenos steht, wird von Sokrates als philosophisch begabt bezeichnet. Sokrates spricht mit Lysis (213e2 – 216a3): Sokrates stimmt Lysis zu, dass die bisherige Untersuchung in die Irre gegangen sei und man deshalb neu ansetzen müsse. Er schlägt nun vor, diese Art der Gesprächsführung nicht fortzusetzen, sondern zum Anfang zurückzugehen, um zu prüfen, was die Dichter dazu sagten, denn sie seien »Väter und Führer der Weisheit« (214a2) und redeten doch wohl nicht schlecht, wenn sie sich darüber äußerten, wer wessen Freund sein könne (peri tōn philōn). Zum Beleg zitiert Sokrates einen Abschnitt aus Homers Odyssee (17.218): »Wahrlich, es 80

führet der Gott den Gleichen doch immer zum Gleichen« (214a7).54 Auch in den Schriften der weisesten Männer, nämlich der Naturphilosophen, stehe geschrieben, ein Gleicher sei dem Gleichen notwendig ein Freund (to homoion tō homoiō philon einai; 214b4 – 5). Ob das wohl richtig sei, fragt er Lysis sodann, der mit einem vorsichtigen »Vielleicht« antwortet (214b9). Sokrates nimmt dieses »Vielleicht« auf und geht mit Lysis die unterschiedlichen Aspekte der Proposition durch, Gleiche seien einander Freunde. Dabei wirft er die Frage auf, ob Schlechte miteinander befreundet sein könnten. Er verneint dies auf Basis der Annahme, dass Schlechte unausgeglichen und unbeständig, also unzuverlässig seien, sich also gar nicht gleich und folglich auch nicht miteinander befreundet sein könnten. Dem stimmt Lysis zu, und Sokrates schlussfolgert, dann könnten wohl nur die Guten einander gleich und miteinander befreundet sein (214e1 – 2). Auch hier stimmt Lysis zu, Sokrates erklärt dann aber, er sehe darin doch ein Problem, denn als Gleiche könnten die Guten einander nicht von Nutzen sein (chrēsimos; 214e8); was einem nichts nütze, wertschätze man nicht, und folglich könnten auch die Guten nicht miteinander befreundet sein. Sokrates markiert damit eine Lösung, die von Lysis akzeptiert worden und in sich logisch stimmig ist, als Scheinlösung. Er führt dazu den Begriff des Nutzens ein, der später bei Aristoteles und insbesondere bei Cicero kritisch diskutiert werden wird. Sokrates betrachtet die Frage nach dem Nutzen eines Freundes offenbar als völlig unproblematisch und lässt sie sogar als Grundlage von Freundschaft erscheinen, wie die unwidersprochen bleibende Proposition zeigt, man schätze nur, was einem nütze.55 Argumentativ schwierig erscheinen 54 Homer, Odyssee 17.218. Auch hier scheint Sokrates’ Humor durch, denn die Stelle belegt genau das Gegenteil. 55 Im Vergleich zur Problematisierung der Nutzenfreundschaft bei Aristoteles fällt jedenfalls auf, dass die Beurteilung von

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eher die Gleichsetzung von »gleich« und »gut« sowie die daraus erfolgende Ableitung von »ohne Nutzen«. Wenn das Gleiche das Gute voraussetzt, weil nur die Guten beständig sein und folglich nur sie sich selbst gleich bleiben können, so geht damit doch keineswegs einher, dass sie einander nicht nützlich sein können. Das könnte nur zutreffen, wenn die Guten in jeder Hinsicht vollkommen wären, weil es ihnen nur dann an nichts mangeln würde. Das erscheint logisch als nicht überzeugend. Auch bleibt unterbelichtet, was mit »von Nutzen sein« gemeint ist. Ein Mangel könnte in einem Dritten bestehen (z. B. Mangel an Nahrung oder Kleidung), welches mit der Frage nach der Gutheit einer Person überhaupt nichts zu tun hat. Nach einem raschen Wechsel von Propositionen und Zustimmungen durch Lysis stellt Sokrates für Lysis überraschend die Frage, ob sie sich nicht im Ganzen getäuscht hätten. Lysis reagiert darauf mit einem irritierten »wieso denn?« (215c6), worauf Sokrates sich auf eine einmal gehörte Meinung bezieht, »dass der Gleiche dem Gleichen und die Guten den Guten am allerfeindlichsten seien« (215c8 – 9). Hesiod sage ja, dass der Töpfer dem Töpfer, der Sänger dem Sänger und der Bettler dem Bettler grolle, weil Neid, Rivalität und folglich Feindschaft unter ihnen herrschten. Deswegen könnten nicht Gleiche, sondern nur Entgegengesetzte einander Freund sein, der Arme dem Reichen, der Schwache dem Starken, der Kranke dem Arzt, der Unwissende dem Wissenden. An dieser Stelle fügt Sokrates die Interjektion »ō hetaire« für Lysis ein, spricht danach im Dual aber beide an und fragt Lysis und Menexenos, was sie davon hielten. Gespräch mit Menexenos und Lysis (216a4 – 217a3): Menexenos tritt wieder in das Gespräch ein und ist zunächst derjenige, der antwortet, während Sokrates fortfährt, beide anzureden. Im weiteren Verlauf antworten dann sowohl zeptionen hier nicht auf die polis ausgerichtet ist und offenbar keine politische Dimension hat.

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Menexenos als auch Lysis, wobei nicht immer eindeutig kenntlich gemacht ist, wer von ihnen jeweils spricht. Aus dem zuvor Gesagten leitet Sokrates die These ab, dass wohl das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten am meisten Freund sein müsse, und Menexenos stimmt dieser These zu. Nun aber erklärt er, diese These sei ein gefundenes Fressen für die Antilogiker, die sich ja in allem auskennen würden. Es handelt sich dabei erneut um eine antieristische Bemerkung, die als Verspottung des Menexenos im Gespräch erscheinen muss, denn Sokrates hat ihn dazu gebracht, just denen zu widersprechen, als deren Anhänger er sich versteht.56 Die Antilogiker würden fragen, ob denn nicht Feindschaft gegenüber der Freundschaft das Entgegengesetzte sei. Menexenos bejaht das, und Sokrates zählt auf, was alles einander entgegengesetzt sei: das Gerechte dem Ungerechten, das Besonnene dem Zügellosen, das Gute dem Schlechten. Diese Eigenschaften aber, das habe die vorherige Untersuchung bereits gezeigt, könnten einander nicht zugetan sein, und folglich seien »weder das Gleiche dem Gleichen noch das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten freund« (216b16 – 17). Auch hier stimmt Menexenos zu, und damit enden die Überlegungen erneut in einer Aporie. Diesmal bleibt Sokrates bei der Aporie aber nicht stehen, sondern führt ein Drittes ein, nämlich dass diejenigen, die weder gut noch schlecht seien, Freunde des Guten sein könnten. Hier fragt Menexenos zum ersten Mal misstrauisch nach, wie er das meine. Sokrates holt daraufhin weiter aus und behauptet, was gut sei, sei auch schön. Dem stimmt Menexenos zu, und Sokrates erweitert nun die Bestimmung und hält fest, dass das weder Gute noch Schlechte Freund des Schönen und Guten sei. Allerdings bedürfe es einer gewissen Ausgeglichenheit von Gutem und Schlechtem, denn wenn das Schlechte schon die Oberhand 56 Als Antilogiker galten diejenigen, denen es gleichgültig war, welche Position sie vertraten, solange sie im agonalen Gespräch siegreich blieben. Vgl. Schur, »Von hier nach dort«, S. 83.

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gewonnen habe, verhindere es das Streben nach dem Guten, weil das Gute dem Schlechten nun einmal nicht lieb sei (218a2). Und das gelte auch für das Streben nach Weisheit: Nur diejenigen, bei denen Dummheit und Ignoranz nicht überwögen, strebten nach Weisheit. Dieser Proposition stimmen sowohl Lysis als auch Menexenos zu, worauf Sokrates als Ergebnis festhält, dann hätten sie über Freundschaft herausgefunden, dass das weder Gute noch Schlechte wegen der Anwesenheit von etwas Schlechtem der Freund des Guten sei (218c2 – 3). Narrativer Einschub (218c4 – 8): Sokrates erzählt, beide hätten zugestimmt und auch er selbst sei mit dem Ergebnis des Gesprächs zufrieden gewesen. Dann aber sei in ihm der Verdacht aufgestiegen, dass das, worin sie sich einig gewesen seien, nicht wahr sei. Der narrative Einschub verdeutlicht für den Leser, dass Sokrates den Diskurs stärker reflektiert als Lysis und Menexenos. Auch wenn er wie sie mit dem Ergebnis zufrieden ist, reflektiert er den Denkprozess weiter und bezweifelt dann das diskursiv Erreichte. Das markiert eine deutliche Differenz zwischen den Gesprächspartnern, die sprachlich dadurch hervorgehoben wird, dass Sokrates die beiden danach wiederholt als Kinder (ō paides) anspricht. Sokrates spricht mit Lysis und Menexenos (218c10 – 222a7): Sokrates erklärt beiden missmutig, er fürchte, sie hätten nur geträumt, dass sie reich seien (im Sinne von: er fürchte, sie seien nicht wirklich zu einem tragfähigen Ergebnis gekommen). Menexenos äußert demgegenüber sein Unverständnis. Sokrates nimmt den Gesprächsfaden wieder auf und geht die unterschiedlichen Propositionen und ihre Folgeverhältnisse durch. Dabei wächst sein Gesprächsanteil deutlich, denn nun formuliert er die Annahmen und die aus ihnen resultierenden Folgerungen. Lysis schweigt zeitweise, Menexenos ist auf bloße Zustimmung festgelegt, und Sokrates gibt die Propositionen und das Tempo vor. In einem raschen Frageund Antwort-Diskurs versucht er zu klären, wo sie sich geirrt haben. Die Grundlage der Erörterung ist die Frage, ob das 84

Gute wirklich wegen der Anwesenheit von etwas Schlechtem geliebt werde. Wenn dem so sei, werde das Gute nicht um seiner selbst willen angestrebt, sondern wegen seines Gegenteils, und dann sei wieder das Schlechte ein Freund des Guten, was sie zuvor indes ausgeschlossen hätten. Sokrates spricht beide als Kinder (paides, 219b8) an, und von da ab ist nicht mehr markiert, ob Lysis oder Menexenos antworten. Sokrates formuliert nun die Möglichkeit, dass nicht der Mangel, sondern das Streben nach einem Guten begründe, dass man etwas liebe. Und dieses Etwas müsse doch letzten Endes auf ein höchstes Allgemeines, ein erstes Geliebtes (prōton philon) zurückführbar sein, welches man eigentlich liebe. Dem stimmen Lysis und Menexenos zu. Sokrates leitet daraus ab, dass nicht das Schlechte, sondern das Gute die Grundlage für das Streben sei. Dann bedürfe man aber des Schlechten nicht. Wenn nun aber das Schlechte wegfalle, gebe es auch keinen Mangel mehr, und wenn es keinen Mangel gebe, strebe man auch nicht mehr nach etwas, weil es keinen Nutzen mehr habe. Hier scheint nun erneut eine Aporie auf, denn es ist klar, dass Freundschaft entweder eine Wirkursache oder eine Zweckursache haben muss. Beide sind an dieser Stelle der Argumentation jedoch ausgeschlossen worden, was Menexenos bestätigt. Sokrates führt danach eine neue Bestimmung ein, wonach nicht das Schlechte oder Gute, sondern das Begehren (epithymia) die Ursache der Freundschaft sei (221d4). Das, was man begehre, müsse einem aber fehlen, was freilich nur dann der Fall sein könne, wenn es einem irgendwie zugehörig (oikeios) sei.57 Und da sie Freunde (philoi) seien, müssten sie einander auch Zugehörige (oikeioi) sein (221e12 – 13). Wenn dem so sei, ziele jemand, der einen anderen begehre (epethymei), in ihn verliebt sei (era) oder mit ihm befreundet (ephilei) sein wolle, auf das 57 Bordt übersetzt »oikeios« stets mit »angehörig«, was ich im Deutschen für missverständlich halte. Deshalb habe ich die Übersetzung »zugehörig« gewählt.

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Zugehörige (oikeion) (222a1 – 6). Diesem Satz stimmt Menexenos emphatisch zu, während Lysis, wie Sokrates bemerkt, schweigt (222a7). Dann folge daraus, so fährt Sokrates fort, dass »wir das uns von Natur aus Angehörige notwendig lieben« (222a8 – 9), und Menexenos stimmt erneut zu, während Lysis offenbar weiter schweigt. Der anschließenden Ableitung, dass demnach der richtige Liebhaber und nicht der nur vortäuschende von seinen Lieblingen geliebt werde, folgt dann ein narrativer Zwischeneinschub (222b1 – 2), in dem Sokrates berichtet, Lysis und Menexenos hätten der letzten These nur mit Mühe zustimmen können, während Hippothales vor Freude abwechselnd errötet und erbleicht sei. Sokrates hat in diesem Abschnitt neue Begriffe eingeführt, nämlich das erste Geliebte (prōton philon) und das Zugehörige (oikeion).58 Das Adjektiv oikeios ist im Griechischen ein Terminus mit hoher Konnotationsbreite. Abgeleitet von oikos (das Haus) bezeichnet es alles und jedes, was zum Haushalt gehört. Damit können sowohl die Familienangehörigen als auch zum Haus gehörende Sklaven bezeichnet werden.59 Als oikeios kann aber auch das Angehörige / Zugehörige im Sinne dessen, was zusammengehört, bezeichnet werden. Freunde jenseits der Verwandten können daher ebenfalls als oikeioi bezeichnet werden. Andererseits hat Sokrates Verben wie begehren, verliebt sein und befreundet sein wollen wiederaufgenommen, die den Ausgangspunkt des Dialogs gebildet haben. Die Reaktion der Dialogpartner darauf ist unterschiedlich. Wie so oft stimmt Menexenos zu, auch wenn ihm das bei der Behauptung schwerfällt, der richtige Liebhaber werde von seinem Liebling geliebt. Lysis ist insgesamt sehr viel zurückhalten58 Zum prōton philon bei Platon vgl. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe, S. 41; Baltes, Zum Status der Ideen, S. 319 f.; zum oikeion vgl. Dimitrakopoulos, Zur Bestimmung des oikeion-Begriffs, S. 192; siehe auch Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 141 f. 59 Vgl. Dimitrakopoulos, Zur Bestimmung des oikeion-Begriffs, S. 192.

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der und schweigt, weil ihm offenbar die Konsequenzen von Sokrates’ Propositionen, dass der Liebling den lieben müsse, der ihn wahrhaft begehre, bereits klar sind, bevor Sokrates sie ausgesprochen hat. Und so nickt er zwar wie Menexenos, mit Mühe zustimmend, aber seine Reserviertheit gegenüber der These ist durch das vorangegangene Schweigen deutlich stärker markiert. Lysis möchte der These offenbar nicht zustimmen, sieht sich aber aufgrund von Sokrates’ Ableitung zur Zustimmung genötigt. Dass umgekehrt der im Hintergrund lauschende Hippothales von dieser Konsequenz begeistert ist und abwechselnd rot und blass wird, kann nicht verwundern, führt sie ihn doch direkt dahin, wo er von Beginn an hinwollte, nämlich zu der Auffassung, dass sein Liebling ihn wegen seines Begehrens lieben müsse. Der Blick auf alle drei macht deutlich, dass von einem einheitlichen Freundschaftsverständnis nicht die Rede sein kann. Das, was Lysis, Menexenos und Hippothales jeweils unter Freundschaft und ihren Voraussetzungen verstehen, ist nicht miteinander vereinbar. Im Grunde hat Sokrates damit den Dialog performativ bereits in eine Aporie geführt, bevor er ihn im anschließenden Abschnitt mit einer erneuten Ableitung auf der Grundlage der Frage, ob das Zugehörige und das Gleiche nicht letztlich dasselbe seien, auch begrifflich in eine Aporie führt. Sokrates, Lysis und Menexenos setzen das Gespräch auf der Grundlage der von Sokrates formulierten Frage fort (222b2 – 222e3), indem Sokrates die unterschiedlichen Propositionen wiederholt, Lysis und Menexenos zustimmen oder ablehnen, worauf Sokrates den Schluss zieht, dass sie zu keinem widerspruchsfreien Ergebnis gekommen seien. Durch die Wiederholung der Propositionen, die zur Identifikation von Zugehörigem und Gleichem geführt haben, festigt sich der Eindruck, dass Sokrates den Dialog absichtsvoll in die Aporie geführt hat und dieser so an sein Ende gekommen ist, ohne dass eine begriffliche Lösung herbeigeführt worden wäre. Formal abgeschlossen wird der Dialog aber 87

durch einen weiteren narrativen Einschub (223a1 – 223b4), in dem Sokrates erzählt, das Gespräch sei von den Pädagogen unterbrochen worden, die Lysis und Menexenos nach Hause geleiten sollten. Weil die Pädagogen betrunken gewesen seien und gelärmt hätten, seien sie zu dem Ergebnis gekommen, dass es sinnlos sei, das Gespräch weiterzuführen, und deshalb hätten sie es beendet. Diesen narrativen Abschluss des Gesprächs führt Sokrates mit der größtmöglichen Kontingenz ein: Er hat keinen Bezug zum Gegenstand des Gesprächs, das ad infinitum hätte weitergeführt werden können, ohne dass die Gesprächsteilnehmer je zu einem widerspruchsfreien Ergebnis gelangt wären. Den dialogischen Schluss (223a5 – 223b8) markiert dann der Abschied voneinander. Sokrates verabschiedet sich von Lysis und Menexenos mit den Worten, sie hätten sich jetzt sicherlich lächerlich gemacht, denn die Zuhörer des Gesprächs würden von ihnen nunmehr sagen, sie würden sich für befreundet halten – und darin schließe er sich selbst ein –, ohne aber sagen zu können, was ein Freund sei. Was sich zuvor in den Schlussfolgerungen und Reaktionen der Gesprächsteilnehmer abgezeichnet hat, wird mit dem Abschied deutlich markiert: Sokrates hat das Gespräch gezielt in eine Aporie geführt, indem er versucht hat, die Voraussetzungen und Ziele von Freundschaft aus unterschiedlichen Begriffen abzuleiten, und dabei hat er immer neue Kautelen eingeführt, deren Konsequenzen seine Gesprächsteilnehmer nicht oder nur mit Mühe überblicken konnten. Lysis hat dabei insgesamt eine sehr viel bessere Figur gemacht als Menexenos, den Sokrates an mehreren Stellen argumentativ vorgeführt, aber nie zum Ausstieg aus dem Gespräch genötigt hat. Das Gespräch selbst, das Ringen darum zu wissen, was die Voraussetzungen und Ziele von Freundschaft seien, erlaubt es ihm dann aber zu sagen, er rechne sich zu ihnen. Das ist nichts anderes als eine Freundschaftserklärung. Diese Freundschaftserklärung resultiert nicht aus der begrifflichen Klärung dessen, was ein Freund sei, sondern aus dem 88

ren des Gesprächs selbst. Der Dialog endet sachlich in einer Aporie, doch performativ macht er deutlich, wie einer des andern Freund werden kann: durch gemeinsames Denken und das Bemühen um Wissen. Das prōton philon wäre damit das gemeinsame Streben nach Wissen, das Eintreten in einen gemeinsamen Prozess des Denkens. Damit werden zugleich Anforderungen an die Gesprächsteilnehmer formuliert: Es darf nicht darum gehen, Diskurshoheit zu erlangen, um den anderen zu besiegen, wie Sokrates in den Gesprächsabschnitten mit Menexenos nachdrücklich demonstriert hat, sondern darum, in einen gemeinsamen Denkprozess einzutreten. Der platonische Dialog Lysis geht von einem Drang aus, dem des Begehrens, und von einem Gefühl, dem des Verliebtseins, endet aber bei einer Praxis: dem gemeinschaftlichen Streben nach Wissen. Wie Sokrates’ Feststellung zeigt, man habe nicht klären können, was Freundschaft sei, könne sich nun aber als befreundet betrachten, ist dafür nicht erforderlich, über eine widerspruchsfreie Definition von Freundschaft zu verfügen. Insofern ist Lysis auf der Sachebene, nicht aber auf der Performanzebene ein aporetischer Dialog.

Die Semantik von Freundschaft im Lysis Diese Feststellung schließt nicht aus, dass die einzelnen Dialogteilnehmer unterschiedliche Worte benutzen, um den Freund oder die Freundschaft zu bezeichnen. Der Sprachgebrauch der fünf Dialogteilnehmer Sokrates, Hippothales, Ktesippos, Menexenos und Lysis für die Bezeichnung ihrer Beziehungen unterscheidet sich deutlich: Hippothales und Ktesippos bezeichnen sich selbst nicht als philoi, und auch Sokrates nennt sie in den narrativen Abschnitten nicht philoi, sondern hetairoi. Menexenos und Lysis dagegen sagen explizit von sich, sie seien philoi, und haben auch ein intuitives Verständnis davon, was das bedeutet, wobei sie von Sokrates aber auch als hetairoi bezeichnet werden. Als zu Beginn des 89

Dialogs von Mikkos, der in der palaistra lehrt, die Rede ist, bezeichnet Hippothales ihn als Sokrates’ hetairos (204a7). Hippothales seinerseits nennt Menexenos den malista hetairos (besten Gefährten; 206d3) von Lysis. In den Augen von Hippothales sind sowohl die beiden philosophischen Lehrer als auch die gleichaltrigen Knaben, die gemeinsam eine palaistra besuchen, hetairoi. Eine enge Bindung scheint hier nicht vorausgesetzt, denn es gibt keinen Hinweis darauf, dass Sokrates und Mikkos eine solche Bindung unterhalten; was sie allenfalls miteinander verbindet, ist ihr jeweiliges Bemühen, das Denken und Argumentieren der jungen Leute zu verbessern. Das tun sie aber offenkundig auf sehr unterschiedliche Art und Weise, wie aus Sokrates’ Bemerkung hervorgeht, Mikkos sei ein tüchtiger Sophist. Die Bezeichnung Sophist ist aus Sokrates’ Mund alles andere als eine positive Charakterisierung. Mikkos gehört danach zu jenen Lehrern, die ihren Schülern geschicktes Argumentieren beibringen, um Diskurshoheit zu erlangen, nicht jedoch, um sie zur Wahrheitssuche anzuleiten. Mikkos ist aber offiziell Lehrer an der palaistra, während Sokrates nicht offiziell lehrt, sondern sich hier und dort auf Gespräche einlässt, in denen er seine Dialogpartner und auch sich selbst nach den Gründen und Begründungen für bestimmte Auffassungen befragt. Mikkos nimmt an dem Gespräch denn auch nicht teil, und dass er und Sokrates miteinander gut bekannt oder gar befreundet sind, wird an keiner Stelle erwähnt, während Menexenos und Lysis sich nicht nur durch den gemeinsamen Besuch der palaistra gut kennen, sondern auch miteinander vertraut sind. Hippothales charakterisiert die spezifische Art der Beziehung zwischen Menexenos und Lysis lediglich dadurch, dass er Menexenos den malista hetairos von Lysis nennt. Menexenos und Lysis selbst verstehen sich hingegen nicht nur als hetairoi, sondern als philoi. Sokrates befragt sie an zwei Stellen, ob sie sich als Freunde (philoi) betrachteten, einmal am Anfang ihrer Unterhaltung und einmal am Ende, und beide Male bestätigen sie das. 90

Aus dem Sprachgebrauch der verschiedenen Gesprächsteilnehmer kann geschlossen werden, dass philos die stärkere Bezeichnung für eine freundschaftliche Bindung ist als hetairos. Wenn Hippothales die beiden philoi lediglich als hetairoi bezeichnet, dann versucht er damit offenkundig, ihre Beziehung sprachlich abzuschwächen. Demgegenüber spielt das griechische Nomen xenos für den Gastfreund, das in der semantischen Tradition seit Homer immer wieder verwendet wird, keine Rolle. Es wird nur einmal anlässlich des Solon zugeschriebenen Spruchs eingeführt, glücklich sei, wer Kinder, einhufige Pferde, Hunde und einen Gastfreund (xenos) sein Eigen nennen könne; ansonsten kommt es nicht vor. Das ist auch nicht erforderlich, denn die Gesprächsteilnehmer sind in Athen räumlich eng verknüpfte Personen, die der Gastfreundschaft nicht bedürfen. Mit den einzelnen Gesprächspartnern werden in unterschiedlichen Gesprächsmodi verschiedene Aspekte dessen thematisiert, was es bedeuten könnte, befreundet zu sein. Der thematische Schwerpunkt liegt vor allem auf der Frage, wie man einen Freund gewinnt und wer mit wem unter welchen Voraussetzungen befreundet sein könne. Dabei werden aber nicht nur die Lexeme für Freund (philos), mögen/lieben (philein) und Freundschaft (philia) verwendet, sondern auch die Lexeme für Begehren (erōs und epithymia).60 Freilich steht der erōs, vermittelt durch Hippothales’ Begehren, nur am Anfang, wird in der Mitte von Sokrates einmal kurz aufgenommen und dann am Ende von ihm noch einmal angesprochen, wobei sich der Wortgebrauch jedoch entscheidend gewandelt hat. Zunächst begehrt Hippothales eine bestimmte Person, dann äußert Sokrates sein Begehren, einen Freund zu haben, und am Ende behauptet er, der Be60 Nach Bordt unterscheiden die Griechen »zwischen erōs, d. h. dem sexuellen Begehren (→ 204b6 [122]), und philia, die wir je nach Kontext mit ›Freundschaft‹ oder ›Liebe‹ übersetzen müssen«. Bordt (Hg.), Lysis, Kommentar, S. 53.

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gehrte müsse den Begehrenden lieben, was sich jedoch als eine nicht zutreffende Proposition erweist, wie die unterschiedlichen Reaktionen von Hippothales, Menexenos und Lysis zeigen.61 Betrachtet man die dialogische Bewegung des Textes, so zeigt sich, dass Freundschaft in erster Linie darin besteht, an einem gemeinsamen Nachdenken über ihre Voraussetzungen, Erfordernisse und Gelingensbedingungen teilzuhaben, ohne dabei von einem erotischen Begehren gelenkt zu sein. Daraus ergibt sich eine Abstufung zwischen den durch den Dialog mehr implizit als explizit gewonnenen Freunden: Hippothales hat an dem Denkprozess nur passiv teilgenommen und ihn überdies teilweise  – bedingt durch sein Begehren – missverstanden. Ktesippos hat den Dialog durch seine Klagen über Hippothales initiiert, ist dann aber verstummt und hat sich nur noch ein einziges Mal mit einem eifersüchtig wirkenden Zwischenruf bei einem Flüstern zwischen Sokrates und Lysis bemerkbar gemacht. Menexenos hat sich als nur eingeschränkt geeignet erwiesen, in einen offenen Denkprozess einzutreten, der nicht auf Sieg im agonalen Dialog, sondern auf Wahrheitssuche angelegt ist. Menexenos lernt im Dialog aber offenbar hinzu, denn gegen Ende werden seine Antworten zögerlicher, was darauf schließen lässt, dass er sich nun eher auf das Dialogmodell einzulassen bereit ist. Lysis erweist sich als geeignet, ein Freund zu sein, mit dem die Wahrheitssuche lohnt: Er erkennt Widersprüche, er zögert, wenn er unsicher ist, und er versteht, was der Sinn der Denkbewegung ist, nämlich, in einen Prozess des gemeinsamen Denkens einzutreten.62 Das prōton philon wäre damit nicht ein jeder Freundschaft vorgelagertes Etwas im Sinne eines höchsten Gutes, nach dem zu streben ist, 61 In welcher Relation erōs, epithymia und philia stehen, ist in der Platon-Forschung umstritten. Vgl. etwa Cummings, Eros, epithumia, and philia in Plato. Schur sieht einen klaren Unterschied der Termini; vgl. Schur, »Von hier nach dort«, S. 198 f., Anm. 317. 62 Vgl. Schur, »Von hier nach dort«, S. 214.

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sondern es wäre der Dialog selbst, ein gemeinsames Streben nach Erkenntnis, die nur auf dem Weg des Gesprächs zu erlangen ist. Das freilich gilt nur, wenn es ein freundschaftlich geführtes Gespräch ist, das nicht auf Diskurshoheit, sondern auf Wahrheitssuche angelegt ist.

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V. Cicero: Laelius de amicitia

Die Polysemie der römischen amicitia Als Cicero nahezu vierhundert Jahre nach Platon seinen Dialog Laelius de amicitia schrieb, reagierte er ebenfalls auf einen aus seiner Sicht vorhandenen Klärungsbedarf hinsichtlich dessen, was Freundschaft sei und worauf sie gründe. Die Polysemie des lateinischen Wortes amicitia stand der des griechischen Lexems philia in nichts nach: amicitia konnte eine persönliche Nahbeziehung bezeichnen, eine politische oder soziale Zweckgemeinschaft oder auch ein außenpolitisches Bündnis.1 Im antiken Rom der klassischen Zeit war die politische Bedeutung jedoch dominant. Amicitia war ein Allzweckbegriff für politische Verbindungen, Anhängerschaften, politische und soziale Abhängigkeiten sowie Bündnisse, die Rom mit anderen Mächten eingegangen war und die in den zurückliegenden Jahrzehnten als Legitimation für politisch-militärische Interventionen und die Ausdehnung der römischen Macht im mediterranen Raum hatten herhalten müssen.2 Damit war amicitia zum Legitimationsbegriff und Instrument römischer Machtpolitik geworden. Eine scharfe Definition des Begriffs amicitia war schon infolge seines Einwanderns in die Sprache der Politik unmöglich. So konnte in ›außenpolitischer‹ Hinsicht jeder, der sich mit Rom nicht in einem aktuellen Krieg oder einem kontinuierlichen Feindschaftsverhältnis befand, als amicus populi Romani bezeichnet werden.3 In den ›innenpolitischen‹ Konstel1 Vgl. Sommer, Scipio Aemilianus, Polybius and the Quest for Friendship, S. 314 – 316. 2 Vgl. Hutter, Politics as Friendship, S. 133 f. 3 Vgl. Zack, Forschungen über die rechtlichen Grundlagen III sowie VI.

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lationen Roms stand das Begriffspaar amicus / amicitia für die Teilhabe an der Politik. Befreundet war man mit denen, deren Unterstützung man im Ringen um Macht und politische Ämter benötigte. Über Netzwerke zu verfügen, die an der Semantik von amicitia partizipierten, war daher unverzichtbar.4 Das schloss eine emotionale Grundierung der Netzwerkbeziehungen keineswegs aus: Emotionalität fungierte vielmehr »als Bestandteil des praktischen Instrumentariums«.5 Hintergrund dieser semantischen Entwicklung war, dass jeder, der Macht ausüben oder an ihr partizipieren wollte, Freunde brauchte, mit denen er eine Interessenkoalition eingehen musste, um Unterstützung für seine politischen Ziele oder persönlichen Aspirationen zu erlangen. Das hatte nicht nur eine erhebliche semantische Spannweite zur Folge, sondern unterwarf die Semantik von amicus / amicitia auch den Deutungskämpfen des politischen Betriebs. Es führte aber auch zu einer enormen Flexibilität in den Beziehungskonstellationen: Wie Ulrich Gotter betont hat, gab es in Rom, trotz der latenten Bürgerkriegskonstellationen, keine prinzipielle Teilung der politischen Klasse in Freunde und Feinde, bei der die Begrifflichkeit von amicus und amicitia eine Rolle gespielt hätte.6 Vielmehr wurde der innere Zusammenhalt des Adels durch Beschwörung der freundschaftlichen Verbindung der einzelnen Adligen untereinander gewährleistet, wobei die fiktive Voraussetzung darin bestand, dass jeder, der etwas galt, zu jedem anderen Bedeutenden in einem positiven persönlichen Verhältnis stand, das amicitia genannt wurde. Horst Hutter hat ergänzend betont, amicitia habe für eine horizontale Ausdehnung des Verwandtschaftssystems gestanden, so wie patrocinium für dessen vertikale Ausdeh-

4 Vgl. Rollinger, Amicitia sanctissime collenda, S. 353. 5 Rollinger, Amicitia sanctissime collenda, S. 415. 6 Gotter, Cicero und die Freundschaft.

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nung gestanden habe.7 Dementsprechend seien auch die Gegnerschaft vor Gericht und die Konkurrenz um politische Ämter mit dem Begriff des amicus vereinbar gewesen. Amicitia sei keine Frage der inneren Einstellung, sondern der politischen Verbindlichkeit gewesen, weswegen der Appell an die amicitia auch bei politischen Meinungsverschiedenheiten durchaus möglich gewesen sei. Hutter betont deshalb die enorme Flexibilität der Allianzen, bei denen Seitenwechsel in unterschiedlichen Sachfragen üblich waren, als wesentliches Kennzeichen der republikanischen Politik. Konflikte in der römischen Aristokratie, so Hutter, konnten auf diese Weise gebändigt und offene Feindschaften (inimicitiae) lange Zeit vermieden werden. So hat der Begriff innerhalb der politischen Elite eine wesentlich inkludierende Bedeutung angenommen; in der Regel wurde er nicht zwecks exkludierender Bestimmung einer bestimmten Personengruppe gebraucht oder als philosophischer Anspruchsbegriff verwendet, sondern bezeichnete unterschiedliche, nicht selten politisch aufgeladene Formen der Verbindlichkeit. Allerdings schloss er alle aus, die keinen Zugang zur politischen Elite hatten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die extensive und inklusive Verwendung der Begriffe amicus und amicitia nach Gotter, Hutter und Rollinger ein wesentliches Merkmal der politischen Ordnung Roms gewesen ist: Sie sicherte den Zusammenhalt der politischen Klasse und blieb gleichzeitig offen für eine enorme Flexibilität der politischen Allianzen. Durch seine politische Grundierung war die Abgrenzung einer interessenlosen persönlichen Nahbeziehung von der Interessenverfolgung im politischen Raum mit dem Wort amicitia kaum möglich. Das zeigt sich auch darin, dass das Lexem amicitia mit zahlreichen anderen Nomen verknüpft worden ist: zuallererst mit amor (Liebe), von dem amicitia häufig abgeleitet 7 Hutter, Politics as Friendship, S. 141 – 147.

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wird; sodann mit axiologischen Zuschreibungen, wie virtus (Tugend, Tüchtigkeit), fides (Vertrauen)8, benevolentia (Wohlwollen), probitas (Rechtschaffenheit, Redlichkeit) und bonitas (Vortrefflichkeit, Gutheit). Daneben ist amicitia auch mit weniger anspruchsvollen Nomen verbunden, wie utilitas (Nutzen), imbecillitas (Schwäche), inopia (Not, Mangel), indigentia (Bedürftigkeit), sowie mit genuin rechtlichen Termini wie societas (Gemeinschaft), foedus (Bündnis) und pactio (Pakt).9 Amicitia zeichnet sich damit durch eine erhebliche Polysemie aus und wird inflationär gebraucht. Das Lexem vermag damit unterschiedliche Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalts zu integrieren, ist aber wenig geeignet, verschiedene Arten von Bindungen und Verpflichtungen trennscharf voneinander abzugrenzen.

Laelius im Raum des Privaten Die Ausgangssituation von Ciceros Laelius ist eine gänzlich andere als die von Platons Lysis. Zunächst lassen sich freilich einige Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in der makrostrukturellen Anlage beider Freundschaftsdialoge konstatieren: Auch hier sprechen unterschiedliche Generationen miteinander, und die räumlichen und zeitlichen Bedingungen, unter denen das Gespräch geführt wird, sind in beiden Fällen relativ genau angegeben. Im Vergleich zu Platons Lysis sind die Gesprächskonstellationen und die räumliche Umgebung, in die der Dialog eingebettet ist, allerdings deutlich weniger komplex. Während Platon seinen Dialog in einem öffentlichen Raum mit verschiedenen Zuhörern stattfinden lässt, hat Cicero das Gespräch in das Stadthaus des Laelius verlegt, einen Raum abseits der öffentlichen Diskursräume, 8 Vgl. Nörr, Mandatum, fides, amicitia. 9 Zack, Forschungen über die rechtlichen Grundlagen VI, S. 38 – 56 sowie 67 ff.

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wo Freundschaft von politisch entscheidender Bedeutung ist. Die Reflexion über Freundschaft findet also abseits der Räume statt, in denen sie praktiziert wird. Im Unterschied zu Platon sind bei Cicero die Ebenen des Reflexiven und des Performativen räumlich voneinander getrennt. Allerdings eröffnet diese Verlegung dem hauptsächlich sprechenden Laelius die Gelegenheit, im Schutz des privaten Raumes gegen die im politischen öffentlichen Raum dominante Nutzenfreundschaft zu polemisieren. Bei Cicero sprechen zwei Generationen miteinander, von denen die ältere deutlich privilegiert ist. Von Beginn an wird Laelius mit höchster Dignität hinsichtlich des Themas ausgestattet: Sein Freund Scipio Aemilianus Africanus Minor ist verstorben, und die Schwiegersöhne sind zu ihm gekommen, um zu fragen, wie er dessen Tod verkraftet habe. Die Ausgangslage ist also durch deren fürsorgliche Nachfrage nach der Trauerarbeit des Schwiegervaters gekennzeichnet. Nachdem Laelius ihnen darauf geantwortet hat, bittet Fannius seinen Schwiegervater darum, ihnen zu erklären, was Freundschaft eigentlich sei. Nach anfänglichem Zögern lässt sich Laelius darauf ein und legt ausführlich dar, was er über Freundschaft denkt, während Fannius und Scaevola nur noch gelegentlich nachfragen oder bestätigende Kommentare abgeben. Daraus resultiert eine konstitutive Asymmetrie im Dialog zwischen Laelius und seinen Schwiegersöhnen, die außer den einleitenden Fragen selbst zum Thema  – auch nach mehrmaliger Aufforderung durch Laelius, etwas zu ergänzen – nichts beitragen. Die Konstellation ist also extrem asymmetrisch, und der Dialog wirkt teilweise wie das artifizielle Korsett, in das ein Lehrvortrag gezwängt worden ist. Dennoch ist die dialogische Form für Ciceros Laelius keineswegs nebensächlich oder nur ein Kniff, um für das Thema einen kommunikativen Rahmen herzustellen. Die dialogische Form eröffnet vielmehr die Möglichkeit, durch fingierte Mündlichkeit spontane Sprachhandlungen, wie Selbstkorrekturen, Widersprüche 98

oder Abweichungen vom Thema einzubringen, die markieren, dass Laelius impulsiv spricht und offenbar im Hinblick auf das, was unter Freundschaft verstanden wird, mit sich selbst und der Welt nicht im Reinen ist. Zwar hat er eine von ihm als ideal erfahrene Freundschaft erlebt, aber aus seiner Ansprache wird deutlich, dass er in einer Welt lebt, der dieses Ideal seiner eigenen Überzeugung nach nichts gilt. Weniger durch die Nachfragen seiner beiden Zuhörer als durch diesen ihn umtreibenden Widerspruch kommt Laelius mehrfach von seinem Plan ab, darzustellen, was wahre Freundschaft sei, was sie auszeichne und welche Regeln für sie gelten. Stattdessen spricht er immer wieder über aus niederen Absichten begründete, korrumpierende und scheiternde Freundschaftsbeziehungen, die nicht selten in tödliche Feindschaft münden. Durch seine eigenen Kommentare auf das Vorgetragene und die Hinweise gegenüber Fannius und Scaevola, was sie tun und was sie vermeiden müssten, wird deutlich, dass es ihm nicht gelingt, von Freundschaft so zu sprechen, wie er selbst sich das wünscht. Immer wieder gleitet Laelius ab und spricht über die Verfallsformen der Freundschaft, die in seinen Augen diesen Namen nicht verdienen. Auch bei den Voraussetzungen seiner Definition muss er Einschränkungen und Umdeutungen gegenüber bestimmten Formen des Sprachgebrauchs machen. So kämpft er in seinem Vortrag auf zwei Seiten: gegen bestimmte philosophische Schulen, die zu anspruchsvoll für eine praktikable Freundschaft sind, und gegen andere philosophische Schulen, die so schwache Bestimmungen liefern, dass sie den Wert der Freundschaft extrem mindern. Das macht die Mesostruktur des Textes, der auf der makrostrukturellen Ebene als schlichte Vierteilung  – Begrüßung und Frage nach dem Befinden, Aufforderung, über Freundschaft zu sprechen, Rede über Freundschaft sowie Verabschiedung  – daherkommt, erheblich komplexer, als man es bei einem Lehrdialog, in dem die Rollen so klar verteilt sind, vermuten würde. 99

Cicero hat wie Platon für seine Freundschaftslehre die dialogische Form gewählt. Freilich orientiert er sich nicht an der sokratischen Mäeutik mit ihren verunsichernden Argumenten, sondern nutzt ganz im Gegenteil den Dialog als Mittel autoritativen Sprechens. Für Sokrates ist der Dialog ein Verfahren, Gewissheiten zu irritieren oder sie durch die Entlarvung als Scheingewissheiten aufzulösen; Cicero hingegen dient er dazu, mittels der eingesetzten Dialogpartner über autoritative Stimmen zu verfügen und damit Gewissheiten zu produzieren. Deshalb greift er in seinen Dialogen wiederholt auf in seinen Augen ruhmreiche Gestalten der Vergangenheit zurück. Im Hinblick auf die Freundschaft begründet er dies in seiner Widmungsvorrede an Atticus damit, dass er nicht theoretisch über die Freundschaft sprechen, sondern sich auf »wahrhaft denkwürdig[e]« Beispiele wirklicher Freundschaft beziehen wolle: Da wir von unseren Vätern her wissen, dass die Freundschaft zwischen Gaius Laelius und Publius Scipio außerordentlich denkwürdig war, schien mir die Gestalt des Laelius wie geschaffen dazu, über die Freundschaft eben das vorzutragen, was er Scaevolas Erinnerung zufolge hierzu geäußert hat. (4) 10 Für die Rolle desjenigen, der innerhalb des Dialogs erläutert, was Freundschaft sei und welchen Ansprüchen sie genügen müsse, hat er Gaius Laelius Sapiens (den Weisen; geb. 190) gewählt, dessen Freundschaft mit Scipio Aemilianus Africanus Minor, dem Eroberer und Zerstörer von 10 Die Zitate folgen in der Regel der Übersetzung von Marion Giebel, die ich gegenüber der älteren Übersetzung von Max Falter bevorzuge. Die Stellenangaben erfolgen nicht nach Seiten, sondern, wie bei der Zitation Ciceros üblich, nach den Nummern der Paragraphen. Wo ich von Giebels Übersetzung abweiche, mache ich das durch den Hinweis »Übersetzung MM« kenntlich.

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Karthago, legendär war. Beide hatten Cicero bereits in seinen Dialogen De re publica und Cato maior de senectude als Dialogpartner gedient. Indem er Laelius zum Vertreter der Tugendfreundschaft macht und diese am Beispiel von dessen eigener Freundschaft mit Scipio erläutern lässt, versucht Cicero offenbar, seinen normativ geprägten Vorstellungen von Freundschaft eine besondere Dignität zu verleihen. Der Bezug auf eine tatsächliche Freundschaft mit Vorbildcharakter fungiert als Garant für die Realitätstauglichkeit der Tugendfreundschaft, von der Cicero offenbar angenommen hat, dass sie von vielen seiner Zeitgenossen in Zweifel gezogen wurde. Das autoritative Beispiel dient dazu, den skeptischen Einspruch derer zurückzuweisen, die Politik ausschließlich als Interessenkampf und reine Nutzenverfolgung sehen. In ähnlicher Weise bezeichnete Laelius innerhalb des Gesprächs Cato als Vorbild an Weisheit und begründete damit dessen Vorrang gegenüber Sokrates: Deshalb solltest Du [i. e. Fannius] beileibe nicht dem Cato irgendjemand vorziehen, nicht einmal den Mann, den Apollon, wie du sagst, als den Allerweisesten bezeichnet hat [i. e. Sokrates]. Von Cato werden nämlich Taten, von ihm aber nur Worte gepriesen. (10) Die Bevorzugung Catos gegenüber Sokrates verweist auf Ciceros Präferenz für das tätige Leben (vita activa), das er stets einem der Betrachtung und Reflexion gewidmeten Leben (vita contemplativa) vorgezogen hat  – eine Gegenüberstellung, die auf Aristoteles und dessen Kontrastierung von bios politikos und bios theoretikos zurückgeht. Während Aristoteles das Letztere Ersterem übergeordnet hat, ist die Wertschätzung bei Cicero genau umgekehrt: Der Politiker rangiert vor dem Philosophen. Laelius und Scipio gehörten freilich einer anderen Generation an als Cicero. Scipio Aemilianus Africanus Minor war 129 v. Chr. plötzlich verstorben, und zwar unter dubiosen 101

Umständen, die Grund zu der Annahme gaben, er sei ermordet worden. Laelius starb wenige Jahre nach ihm, spätestens im Jahr 123. Der Dialog spielt kurz nach dem Tod Scipios, also 129 v. Chr. Der 106 v. Chr. geborene Cicero konnte dem Dialog folglich nicht beigewohnt haben. Anders als Platon, der nicht thematisiert, wie er von dem Gespräch zwischen Sokrates, Lysis, Menexenos, Hippothales und Ktesippos Kenntnis erlangt hat, bearbeitet Cicero dieses Problem. Damit der Dialog nicht für Theater gehalten werden kann, lässt er als Laelius’ Gesprächspartner Quintus Mucius Scaevola (um 170 bis 87 v. Chr.) sowie den rhetorisch und philosophisch gebildeten Gaius Fannius auftreten, die Schwiegersöhne des Laelius. Den Auguren und angesehenen Rechtsgelehrten Quintus Mucius Scaevola kannte Cicero gut: Scaevola hatte ihn zwischen 90 und 87 in das römische Recht eingeführt und damit den Grundstein für seine Karriere als Jurist gelegt. Durch ihn, so Ciceros Erläuterung in dem an seinen langjährigen Freund gerichteten Widmungsschreiben, habe er Kenntnis von dem Dialog erhalten, denn dieser habe ihn aus seiner Erinnerung so lebendig erzählt, dass er ihm im Gedächtnis geblieben sei. Für diese Erzählung wird mit dem Verweis auf das Zerwürfnis zwischen Publius Sulpicius und Quintus Pompeius ebenfalls ein ungefährer Zeitpunkt angegeben, nämlich das Jahr 88 v. Chr. Ciceros Laelius gibt sich also als ein erinnerter Dialog, der zwei Stufen der Erinnerung durchschritten hat: einmal die Erinnerung Scaevolas, der Cicero von dem Gespräch mit Laelius berichtet haben soll, und dann die Erinnerung Ciceros, der das, was er von Scaevola erfahren hat, für seinen Freund Atticus noch einmal aus dem Gedächtnis hervorholt.11 Für 11 Unter einem erinnerten Dialog versteht man ein nachträglich aus dem Gedächtnis aufgezeichnetes, tatsächlich stattgehabtes Gespräch. Vgl. Kilian, Historische Dialogforschung, S. 42 f. Zur Problematik des erinnerten Dialogs im Falle des Laelius und der Forschungsdiskussion dazu vgl. Burton, Genre and Fact, S. 13 – 18.

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eine Darlegung der Freundschaft, um die Atticus ihn gebeten habe, könne er sich nichts Besseres als diesen Bericht vorstellen, so Cicero. Allerdings insinuierte er keineswegs, dass er den Dialog wörtlich wiedergebe. Er habe sich, so erklärt er Atticus, die Grundgedanken von Scaevolas Bericht gemerkt und sie seinem Ermessen nach dargelegt, wobei es ihm bevorzugt darum gehe, dass sie möglichst lebendig wirkten: Ich lasse nämlich die Gesprächsteilnehmer selbst sprechen, damit ich nicht zu oft ein ›sagte ich‹ und ›sagte er‹ einschieben muss und damit das Gespräch wie ein Dialog von hier anwesenden Personen wirkt (3). Im Dialog selbst spielt Fannius, der ältere der beiden Schwiegersöhne, eine größere Rolle als Scaevola. Fannius stellt die Fragen, von denen Scaevola anschließend bekräftigt, er habe sie auch gerade stellen wollen.12 Beide sind von Cicero aber auf die Rolle von Stichwortgebern eingeschränkt worden, die durch ihre Nachfragen Laelius dazu bringen, seine Erinnerung an die zwischen ihm und Scipio gelebte Freundschaft darzulegen und dabei auszuführen, was Freundschaft sei. Ciceros Laelius gibt sich damit als definitorischer Dialog, der von einem konkreten Beispiel ausgeht und daraus allgemeine Richtlinien für Freundschaft entwickelt.

Der Adressat des Dialogs Cicero (106 – 43 v. Chr.) hat den Dialog seinem engsten Freund Titus Pomponius Atticus (110 – 32 v. Chr.) gewidmet, dem er im Verlauf ihrer von Jugend an bestehenden Freundschaft zahlreiche Briefe schrieb, von denen nahezu vierhun-

12 Zur Rolle von Fannius und Scaevola innerhalb des Dialogs vgl. Springer, Fannius and Scaevola, S. 267 – 278.

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dert erhalten sind.13 Atticus stammte wie Cicero aus dem Ritterstand, war also wie dieser ein homo novus, der von Geburt her nicht den Optimaten zugehörte. Während Cicero alles daran setzte, diesen Nachteil zu überwinden und den cursus honorum zu durchlaufen, der ihm den Zugang zur Politik und eventuell sogar zu höchsten Staatsämtern ermöglichte, hielt Atticus sich davon fern. Zwar hätte auch ihm ein ähnlicher Weg offen gestanden, denn gemeinsam mit Cicero hatte er bei Scaevola eine juristische Ausbildung absolviert, die als Grundlage einer juristischen und dann auch politischen Karriere dienen konnte.14 Aber Atticus verweigerte sich diesem Weg konsequent. Sämtliche an ihn herangetragenen politischen Ämter lehnte er ab und fand sich auch nicht zur öffentlichen Unterstützung einzelner politischer Akteure bereit. Anders als Cicero, der den Dienst für die Republik als die höchste Pflicht aller viri boni betrachtete, hielt Atticus ein Leben abseits der Politik für das einzig erstrebenswerte.15 Cicero hat sich verschiedentlich gegen eine solche politikfeindliche Einstellung gewendet. So kritisiert er in De re publica diejenigen, die den Erfordernissen des Dienstes für die Republik mit dem Argument auswichen, die Mühen und Gefahren des politischen Betriebs seien zu groß. Auch das Argument, das Schicksal großer Männer zeige, dass ein solches Engagement sinnlos sei, weil ihre Vaterstadt ihnen den Einsatz für das Staatswesen nicht gedankt habe, lehnt Cicero entschieden ab.16 Für besonders verwerflich hielt er das Argument, es sei dem Gebildeten nicht zuzumuten, sich in die Niederungen der Politik zu begeben, die ausschließlich von Taugenichtsen 13 Durch die Briefe an Atticus und andere Briefe an seine Freunde (ad familiares) weiß man über Cicero mehr als über jeden anderen Menschen der Antike, wenngleich davon auszugehen ist, dass diese Briefe nicht frei von Selbststilisierungen sind. 14 Vgl. Fuhrmann, Cicero, S. 51. 15 Zur Biographie des Atticus vgl. Perlwitz, Atticus, S. 86 – 97. 16 Vgl. Cicero, De re publica 1,3,4.

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bevölkert seien, denn, so sein Einwand, das führe dazu, dass gerade die Besten sich dem öffentlichen Leben entzögen.17 Im Gegensatz zu diesem ganz auf die Politik ausgerichteten Pflichtenkanon war Atticus ein Anhänger von Epikurs Lehre des ruhigen Lebensgenusses, weswegen er sich in die Fährnisse der politischen Angelegenheiten mit ihren Faktionsbildungen und Machtkämpfen nicht einmischte. Gemäß der epikureischen Lehre betrachtete er politisches Engagement als erhebliche Gefährdung einer gelassenen Lebensführung. Zwischen 86 und 65 v. Chr. lebte Titus Pomponius in Athen und unterstützte die in eine Notlage geratene Stadt mit einer beträchtlichen Geldsumme, was ihm den Beinamen Atticus eintrug.18 Er war in erster Linie damit beschäftigt, sein nicht unbeträchtliches Vermögen durch den Verleih von Geld und den Erwerb von Grundstücken zu vermehren.19 In solchen Angelegenheiten war er auch mehrfach für Cicero tätig, und nicht wenige Briefe Ciceros drehen sich darum, dass Atticus sich um den Kauf oder Verkauf von Grundstücken bemühen solle, um Cicero von seinen nicht unerheblichen Schulden zu befreien.20 Insofern war er für Cicero durchaus nützlich. Trotz ihrer gegensätzlichen Lebensauffassungen waren Cicero und Atticus von Jugend an eng befreundet, und Cicero vertraute ihm wie nur wenigen anderen. Cicero hatte Atticus bereits den einige Zeit vor dem Laelius entstandenen Dialog Cato Maior de senectude zugeeignet, in dem Cato der Ältere gemeinsam mit Laelius und Scipio gegen die allgemein verbreitete Rede von den Mühen des Alters dessen Vorzüge hervorhob. Atticus war aber nicht nur der Adressat von Widmungen; in Ciceros um 53 v. Chr. entstandenen Dialog De legibus, der sich an Platons Nomoi orientiert, hat Cicero ihn neben sich selbst und seinem Bruder Quintus 17 18 19 20

Vgl. Cicero, De re publica 1,5,9. Siehe dazu Perlwitz, Atticus, S. 95. Vgl. Perlwitz, Atticus, S. 86 – 97. Vgl. ebd., S. 30 – 43. Vgl. Cicero, Atticus-Briefe, z. B. S. 267 f. und 774 f.

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als Dialogpartner auftreten lassen, und auch in De finibus bonorum et malorum (45 v. Chr.), den er nur kurze Zeit vor dem Laelius geschrieben hat, war Atticus einer der Gesprächsteilnehmer. Bei der Niederschrift des Laelius war Atticus somit bereits eine in den Schriften Ciceros präsente Gestalt. Unbeschadet dessen zeichnete sich die Freundschaft zwischen Cicero und Atticus auch in Ciceros Schriften keineswegs durch vollständige Übereinstimmung aus. Schon in De legibus wurden die Gegensätze zwischen beiden deutlich. Zwar stimmt Atticus hier Cicero in einigen dezidiert antiepikureischen Positionen zu, doch er verbindet das mit dem scherzhaften Hinweis, davon dürften seine epikureischen Freunde aber nichts erfahren.21 Wenn die Freundschaftskonzeption des Laelius ein Vorbild für jemanden sein sollte, dann war sie für Atticus zumindest kein unproblematisches Vorbild. Und ganz gewiss war die Freundschaft zwischen Scipio und Laelius keine Widerspiegelung der Freundschaft zwischen Cicero und Atticus. Scipio und Laelius waren beide Politiker, die ihr Leben der Römischen Republik gewidmet hatten. Insofern konnten sie für Cicero ein Leitbild sein, der für sich in Anspruch nahm, sein Leben ebenfalls ganz in den Dienst der Republik zu stellen, nicht jedoch für Atticus, der diesen Lebensentwurf entschieden ablehnte. Wenn sie für Atticus ein Beispiel geben sollten, dann konnten sie nur ein mahnendes Beispiel sein, mit dem Atticus daran erinnert wurde, was wahre Freundschaft bedeute: sich gleichermaßen für das Wohl des Staates wie für das eigene Wohlergehen einzusetzen. Die Widmungsvorrede betont freilich das Gegenteil: Du hast mich ja schon oft gedrängt, ich solle etwas über die Freundschaft schreiben; da schien mir nun dieses Gespräch von allgemeinem Interesse zu sein und zugleich auch im Einklang mit unserer vertrauten Freundschaft zu stehen (1,4). 21 Cicero, De legibus 1,7,21.

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Einen solchen Einklang kann es aber nicht gegeben haben. Dagegen sprechen schon die bereits angesprochenen unterschiedlichen Lebensentwürfe der beiden. Ausweislich der nahezu vierhundert überlieferten Briefe Ciceros an Atticus – die Briefe von Atticus an Cicero sind nicht überliefert – besprach er mit ihm darin aber vieles von dem, was ihn gerade bewegte: Familienangelegenheiten, seine Einschätzungen von politischen Problemen sowie den Kämpfen, die er durchzustehen hatte, Erfolge und Misserfolge, seine persönlichen Erwartungen und Enttäuschungen sowie – nicht zuletzt – seine wechselnden emotionalen Befindlichkeiten. Geht man von den Briefen aus, so war Offenheit in der Kommunikation in Ciceros Freundschaftsverhalten zentral. Im Laelius ist davon freilich nichts zu spüren. Die dialogische Form und die Übertragung der Ausführungen über Freundschaft auf Laelius lösen Ciceros Ausführungen über Freundschaft von seiner eigenen Beziehung zu seinem Freund Atticus ab, der nur in der Widmung eine eingehende Würdigung erfährt. Implizit steckt in Laelius’ Kritik am epikureischen Freundschaftsverständnis aber auch eine Kritik an Atticus’ apolitischer Lebensführung. Das mochte für Atticus nicht ganz erfreulich zu lesen sein, aber mit Ciceros Freundschaftsverständnis ließ es sich durchaus in Einklang bringen: Der Freund durfte, ja er sollte kritisiert und ermahnt werden, solange die Kritik sich in gemäßigten Bahnen bewegte und nicht herabsetzend war. Dazu trug zweifellos die zeitliche und personale Distanz bei, die der Dialog mit der Hauptfigur Laelius herstellte.

Die Sequenzmuster des Dialogs Im Vergleich zu Platons Lysis hat Cicero seinem Laelius einen auf den ersten Blick recht einfachen makrostrukturellen Aufbau gegeben, der im Prinzip aus einer Vorrede (prooemium) mit der Begründung des Themas, der Begrüßung der 107

partner mitsamt der Formulierung dreier Ausgangsfragen, der umfänglichen Behandlung dieser Ausgangsfragen in Form einer auf den ersten Blick weitgehend monologischen Abhandlung (tractatio) und einem Epilog mit der impliziten Verabschiedung der Gesprächspartner besteht. Die Einführung des Themas erfolgt zunächst unauffällig, indem Cicero das Proömium mit der Erinnerung an seinen und Atticus’ gemeinsamen Lehrer, den Auguren Quintus Mucius Scaevola, eröffnet, der viel von seinem Schwiegervater Laelius erzählt habe. Besonders erinnere er sich, wie Scaevola einmal aus aktuellem Anlass darüber gesprochen habe, dass die vormals eng befreundeten Publius Sulpicius und Quintus Pompeius sich überworfen und danach tödlich gehasst hätten. Diese okkasionell scheinende Erläuterung führt bereits zu einem der zentralen Gegenstände des Gesprächs: der Brüchigkeit von Freundschaften im politischen Raum. Über dieses Leitmotiv erfolgt dann die Einführung des Dialogs: Angesichts des Zerwürfnisses zwischen Publius Sulpicius und Quintus Pompeius habe Scaevola ihm damals das Gespräch über die Freundschaft mitgeteilt, das Laelius kurz nach dem Tod des Scipio Africanus Minor mit ihm und seinem anderen Schwiegersohn Gaius Fannius geführt habe. Die Grundgedanken dieses Gesprächs habe er sich gemerkt und sie in der nachfolgenden Schrift nach seinem Ermessen dargelegt; er lasse aber die Gesprächspartner selbst sprechen. Erst danach wendet sich Cicero direkt an Atticus und erklärt, dieser habe ihn ja schon oft gedrängt, etwas über Freundschaft zu schreiben. Diese Bitte wolle er gern erfüllen, zumal dies auch einem »größeren Kreis« nützlich sein könne (4). Die knappe Erläuterung der dialogischen Form mündet in eine emphatische Widmungsformel: Er schreibe als vertrauter Freund an den Freund über Freundschaft (5). Die anschließende Überleitung zum Dialog (5) erfolgt in einer knappen Beschreibung der Ausgangssituation, in der Cicero festhält, dass das Gespräch sehr einseitig strukturiert sei: Laelius antworte auf die Fragen seiner Schwiegersöhne 108

und führe »die ganze Erörterung über die Freundschaft« (5) im Wesentlichen allein. Die Makrostruktur des Dialogs ist im Laelius demgemäß sehr viel weniger komplex als in Platons Lysis. Auf der Grundlage von Alter und Position müsste man Laelius mit Sokrates parallelisieren, aber ihre Gesprächsanteile und die Art der Gesprächsführung unterscheiden sich fundamental. Zwar kommt auch Sokrates der größte Redeanteil zu, aber er ist doch deutlich kleiner als der Laelius zugewiesene. Laelius stellt auch nicht Fragen, wie Sokrates das tut, sondern gibt Antworten. Seine Gesprächspartner fungieren dabei in erster Linie als Stichwortgeber, die Laelius zu längeren und sehr autoritativ gesprochenen Ausführungen veranlassen. Daraus ergibt sich ein grundlegender Unterschied in der Funktion des Dialogs: Für Platon ist er ein Medium des Denkens, für Cicero ein Medium der Darstellung. Das bedeutet freilich nicht, dass Cicero den Dialog als eine dem Gesprochenen äußerliche Form nutzt. Vielmehr eröffnet die dialogische Form die Möglichkeit, die formalen Aufbauregeln der Rede zu umgehen und die Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit der Freundschaft in einer Weise zu behandeln, wie dies in einer Abhandlung nicht – oder zumindest nicht in gleicher Weise – möglich wäre.22 Welch komplexe Struktur sich damit trotz der dem Lehrdialog entsprechenden Dominanz eines der Gesprächspartner erzielen lässt, zeigt ein Blick auf die von den Sequenzmustern gesteuerte Mesostruktur. Die sogenannte tractatio ist deutlich komplexer, als es die wenigen Sprecherwechsel darin vermuten lassen. Sie lässt sich auch nicht allein nach den drei von Fannius in § 16 gestellten Fragen nach der Freundschaft unterteilen: (I) quid sentias (was sie bedeutet), (II) qualem existumes (woraus sie entspringt), (III) quae praecepta des (welche Vorschriften du zu geben hast). 22 Auf dieser grundlegenden Gegenüberstellung beruht die Deutung des Laelius von Fürst, Streit unter Freunden, bes. S. 147 – 164 sowie 176 ff.

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Mit guten Gründen kann bezweifelt werden, ob man überhaupt von einer tractatio im klassischen Sinne sprechen kann, denn die konsequente Abhandlung eines Themas gehört zur Logik des Traktats oder auch der Rede, nicht aber zu der des Dialogs. Dieser wird deshalb auch anders eingeführt, nämlich als ein okkasioneller Dialog, der sich daraus ergibt, dass Fannius und Scaevola nach dem Tod Scipios zu Laelius kommen, um sich anteilnehmend zu erkundigen, wie er den Tod seines engsten Freundes verkraftet habe. Diese Frage wird sogleich in den Kontext der Verpflichtungen gegenüber dem Staat gestellt, denn Scaevola äußert die Vermutung, Laelius habe bei einer kürzlich stattgefundenen Versammlung nicht gefehlt, weil er um seinen Freund getrauert habe, sondern weil er krank gewesen sei. Dem stimmt Laelius zu und erklärt, auch die tiefste Trauer hätte ihn nicht davon abgehalten, seinen Verpflichtungen gegenüber dem Staat nachzukommen. Aus diesem Dialoganfang erwächst Laelius’ Lobrede auf seine Freundschaft mit Scipio, die Fannius veranlasst, ihn um einen allgemeinen Vortrag über die Freundschaft zu bitten, in dem er behandeln solle, (I) quid sentias, (II) qualem existumes, (III) quae praecepta des. Damit scheint eine Struktur der nachfolgenden Rede vorgegeben, doch diese Unterteilung wird nicht durchgehalten. Das hat in der älteren Forschung zu erheblichen Irritationen geführt, weil es in der Rede zu Abweichungen, Wiederaufnahmen unterschiedlicher Aspekte an verschiedenen Stellen und damit zu Wiederholungen und Widersprüchlichkeiten kommt.23 Ein Großteil dieser Irritationen geht freilich darauf zurück, dass man Laelius’ Rede als eine Abhandlung Ciceros und nicht als Dialogteil begriffen hat, bei dem die beteiligten Personen, auch wenn eine davon erheblich privilegiert ist, als 23 Das hat in einigen Fällen dazu geführt, dass man den Laelius für ein weniger bedeutendes Werk Ciceros gehalten hat. Zur ausführlichen Diskussion der älteren Forschungspositionen hierzu vgl. Fürst, Streit unter Freunden, S. 145 f.

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spontan sprechende Figuren dargestellt sind. Die von Cicero im Prolog angekündigte fingierte Mündlichkeit des Dialogs begründet, dass durch Fannius’ Frage zwar eine konsequent gereihte Abhandlung vorgegeben zu sein scheint, diese Reihung aber nicht durchgehalten wird, weil Laelius in seiner Darstellung der wahren Freundschaft nicht von der faktischen Dominanz falscher Freundschaften in Rom absehen kann. Die thematische Festlegung ist zwar eindeutig, aber der Aufforderung, »definiere Freundschaft«, kann er offenbar nicht widerspruchsfrei folgen, weil die ambige Semantik von Freundschaft keine einfache Definition zulässt. Laelius verletzt also immer wieder das Modalitätsprinzip der Klarheit und ambiguisiert damit seine Freundschaftsdefinition, indem er auch solche sozialen Beziehungen als Freundschaften bezeichnet, die seinen eigenen Ansprüchen nicht entsprechen. Andererseits versucht er aber, die inflationäre Verwendung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Freundschaft zu begrenzen, indem er wiederholt all das zurückweist, was er für ein falsches Verständnis von Freundschaft hält. Das führt aber dazu, dass er zwar eine Definition (quid sentias) geben kann, aber nicht ohne über all das zu sprechen, was er mit dieser Definition aus dem Verständnis von Freundschaft ausschließt. Die Antwort auf die zweite Frage, woraus sie entspringe (qualem existumes), führt noch tiefer in die widersprüchliche Semantik von Freundschaft hinein, denn aus ihrer Begründung erwächst die richtige oder falsche Ausrichtung. Und die erbetenen Ratschläge (quae precepta des) kann Laelius zwar geben, aber sie machen die Angelegenheit noch komplizierter und die Propositionen noch widersprüchlicher, denn Ratschläge können nur für eine bestehende, nicht für eine ideale Welt erteilt werden. Dies führt dazu, dass Laelius erneut ausführlich über das spricht, was nach seiner Auffassung der wahren Freundschaft entgegensteht. Die dialogische Struktur erscheint aus dieser Perspektive eher als Möglichkeit der Kritik an falschen Freundschaften denn als Mangel an definitorischer Klarheit. 111

Die Abweichungen markieren ein engagiertes und teilweise emotional gesteuertes Sprechen, das nicht vorgegebenen Regeln folgt, sondern der Betroffenheit des Laelius und seinem Bemühen, in einer von falschen Freundschaften beherrschten Welt zu postulieren, was wahre Freundschaft sei. Folgt man den Sequenzmustern des Dialogs, die durch Fragen und Propositionen der Dialogpartner, d. h. durch Sprecherwechsel, bestimmt werden, so zeigt sich, dass Laelius im Verlauf des Dialogs nicht eine Rede (17 – 104) hält, wie in der älteren Forschung angenommen worden ist, und auch nicht zwei Reden (17 – 24 und 25 – 100), wie Alfons Fürst im Anschluss an Karl A. Neuhausen zu zeigen versucht hat, sondern vier Reden (10 – 15; 17 – 24; 26 – 32; 33 – 100)24, die zwar alle das gleiche Thema haben, aber an unterschiedlichen Aspekten ansetzen und Freundschaft noch einmal ausdifferenzieren. Zwar könnte man zu dem Ergebnis kommen, die Sprecherwechsel nach der zweiten (25) und der dritten Rede (32 – 33) seien rein formal, weil Laelius an den beiden Überleitungsstellen Fannius und Scaevola lediglich auffordert, ihrerseits etwas zu ergänzen, was beide ablehnen und Laelius um die Fortsetzung seiner Ausführungen bitten, aber es werden damit nicht nur Einschnitte geschaffen, sondern auch neue Aspekte in das Gespräch eingeführt. Die vierte Rede (33 – 100) wird überdies dadurch untergliedert, dass Laelius auf Scipios Auffassungen zu bestimmten Aspekten der Freundschaft eingeht und dadurch nicht mehr nur seine eigenen Ausführungen weiterverfolgt, sondern berichtet, was Scipio gesagt hat und sich damit auseinandersetzt. Es entsteht damit eine weitere dialogische Ebene, nämlich die eines impliziten Dialogs zwischen Scipio und Laelius. Überdies kommentiert Laelius an mehreren Stellen sowohl in der dritten als auch in der vierten Rede seine eigenen Ausführungen. An einigen Stellen erklärt er, er spreche jetzt über wahre und nicht über alltägliche Freundschaften, an anderen 24 Vgl. Fürst, Streit unter Freunden, S. 145 – 147.

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Stellen behauptet er, er spreche über gewöhnliche Freundschaften und nicht über Tugendfreundschaften; an drei Stellen tadelt er sich sogar selbst mit dem Hinweis, er sei vom Thema der Tugendfreundschaft abgekommen und habe über gewöhnliche Freundschaften gesprochen (76, 77, 100). Nimmt man Scipios Positionen und die Selbstkommentare als weiteres Element der Sequenzmustersteuerung hinzu, so weist auch die sehr lange vierte Rede eine feingliedrigere Aufteilung auf. Die erste Rede erwächst aus der Proposition des Fannius (6 – 7), aller Augen seien nun auf Laelius gerichtet, weil er aufgrund seiner Bildung als besonders weise gelte, und deswegen alle wissen wollten, wie er den Tod Scipios verkrafte. Noch bevor Laelius auf diese Propositionen reagieren kann, entgegnet Scaevola (8), er könne erkennen, dass Laelius seinen Schmerz mit gefasster Haltung ertrage. Dieser zweiten Proposition stimmt Laelius zu, während er die erste zurückweist (9). Daran schließt sich die erste Rede des Laelius (10 – 15) an, die mit dem Verlust und dem Trost der Erinnerung (11) beginnt und dann in eine Lobrede auf Scipio mündet. Diese Lobrede besteht in einer Aufzählung von Scipios herausragenden politischen Positionen als zweimaliger Konsul, seinen militärischen Erfolgen, deren wichtigster die Eroberung und Zerstörung Karthagos war, sowie seinem Ansehen im Senat und bei den Bürgern. Laelius schreibt Scipio damit ein beachtliches symbolisches Kapital im Bourdieu’schen Sinne zu: Er verfügte über herausragende Positionen und Erfolge, die ihm Ruhm und Ansehen einbrachten. Laelius schließt diese Rede mit dem Hinweis ab, nicht wegen der ihm von Fannius zugeschriebenen Weisheit, die er für sich keineswegs in Anspruch nehme, wolle er im Gedächtnis bleiben, sondern wegen seiner Freundschaft mit Scipio, die ihm umso mehr bedeute, als es kaum mehr als drei oder vier Freundespaare gebe, die eine so vertraute Freundschaft gepflegt hätten. Laelius spielt hier zwei Kapitalsorten gegeneinander aus und gewichtet dabei die 113

Freundschaft mit Scipio höher als die ihm selbst attestierte Weisheit: Das symbolische Kapital der Freundschaftsbeziehung ist ihm wichtiger als das kulturelle Kapital der Weisheit. Diese axiologische Differenzierung wird im weiteren Verlauf des Dialogs noch eine wichtige Rolle spielen, denn mit ihr rangiert das symbolische Kapital der Freundschaft höher als alle anderen Kapitalsorten, und Laelius wird als derjenige präsentiert, der besser als jeder andere weiß, was Freundschaft ist. Im Anschluss an die Darlegung der Freundschaft zwischen Scipio und Laelius fordert Fannius seinen Schwiegervater auf, zu erläutern, was Freundschaft sei, woraus sie erwachse und welche Ratschläge er dafür geben könne. Diese Bitte wird durch die Behauptung Scaevolas bekräftigt, auch er habe darum gerade bitten wollen (16). Wie schon die erste Rede wird auch die zweite Rede des Laelius (17 – 24) mit Bescheidenheitstopik eingeleitet: Laelius weist die Aufforderung zunächst zurück und erklärt sich für inkompetent, ein Thema aus dem Stegreif zu erörtern; das könnten nur die Gelehrten. Anschließend lässt er sich aber doch darauf ein und eröffnet seine Rede mit einem Appell: Ich kann euch nur ermahnen, die Freundschaft über alle Dinge dieser Welt zu stellen; denn nichts ist unserer Natur so angemessen, nichts ist so angebracht im Glück wie im Unglück (17, Übersetzung MM). Ohne dass Fannius und Scaevola auf diesen Appell in irgendeiner Weise reagieren, erklärt Laelius unmittelbar daran anschließend, Freundschaft sei nur unter Guten möglich, wobei gut dem Alltagsverständnis gemäß begriffen werden solle (18). Der Einschränkung von Freundschaft auf die Guten folgt damit eine Einschränkung der Einschränkung, die zwei Zielrichtungen hat: Zum einen soll der Anspruch an Freundschaft nicht so hoch sein, dass niemand mehr die 114

zungen dafür erfüllen kann; zum anderen soll er aber auch nicht so niedrig sein, dass alles als Freundschaft gilt, was zwei oder mehr Personen irgendwie miteinander verbindet. Die anschließende Liste der Eigenschaften, über die verfügen muss, wer als gut bezeichnet werden soll, ist freilich so lang und enthält so hohe Ansprüche, dass sie die Einschränkung auf einen Alltagsbegriff des Guten sogleich widerlegt: Gut, so Laelius, wollen wir diejenigen nennen, deren Treue (fides), Redlichkeit (integritas), Gerechtigkeitssinn (aequalitas) und edle Gesinnung (liberalitas) erprobt sind, bei denen keine Gier (cupiditas), kein ungezügeltes Begehren (libido) und keine Skrupellosigkeit (audacia) herrschen und die ihre Charakterfestigkeit (magna constantia) bewiesen haben (19). Diese Voraussetzungen und der Widerspruch, in dem sie zu einem Alltagsverständnis von »gut« stehen, machen bereits deutlich, worin das Problem seiner Definition von Freundschaft besteht: Sie soll möglichst allgemein und zugleich ethisch überaus anspruchsvoll sein. Das zeigt sich auch an den nachfolgenden Bestimmungen. Einerseits betont Laelius, dass zwischen allen Menschen eine natürliche Gemeinschaft bestehe, andererseits grenzt er Freundschaft von der selbstverständlichen Form der Gemeinschaft durch Verwandtschaft ab, weil in der Verwandtschaft (propinquitas) wechselseitiges Wohlwollen (benevolentia) fehlen könne, nicht aber in der Freundschaft (19). Diese Abgrenzung wird durch eine zweite Einschränkung ergänzt, wenn Laelius betont, volle Zuneigung könne nur zwei oder wenige Männer umfassen (20). Erst von diesen Einschränkungen aus gelangt Laelius zu der von Fannius erbetenen Definition der Freundschaft (quid sentias): Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit Wohlwollen (benevolentia) und Liebe (caritas) (20, Übersetzung MM).

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Freundschaft sei deshalb das höchste Geschenk der Götter. Kaum, dass diese Definition und ihr Lobpreis verhallt sind, fügt Laelius – sogleich wieder einschränkend – hinzu, viele hielten aber anderes für besser: Reichtum, Gesundheit, Macht, Ehre oder auch Lust. Dem höchsten Geschenk der Götter steht somit seine mangelnde Wertschätzung bei den Menschen gegenüber. Freundschaft werde nur von denen wirklich wertgeschätzt, die in der Tugend das höchste Gut erkennen, denn ohne Tugend könne Freundschaft nicht bestehen. Damit ist Laelius im mittleren Teil seiner ersten Rede zu seiner am Beginn formulierten Aufforderung zurückgekehrt, Fannius und Scaevola sollten die Freundschaft als das höchste Gut wertschätzen. Ohne dass beide etwas geäußert haben, wird die dialogische Struktur aufrechterhalten durch die Verknüpfung der Aufforderung, Freundschaft als das höchste Gut zu schätzen, mit der negativen Proposition, gerade daran mangele es im Allgemeinen. Das wiederum begründet eine zweite Aufforderung, Tugend als die Grundlage von Freundschaft zu betrachten. Erneut schließt Laelius ausdrücklich an den alltäglichen Sprachgebrauch an und lehnt »hochtrabende« Definitionen von Tugend durch »gewisse Philosophen« ab, denen niemand genügen könne (21).25 Damit wiederholt sich das Propositionsschema von Einschränkung (nur Tugend könne als Grundlage von Freundschaft betrachtet werden), Verallgemeinerung (aber Tugend nach dem allgemeinen Verständnis) und erneuter präzisierender Einschränkung (herausragende Beispiele aus der römischen Geschichte, Personen mit tugendhaftem Ruf, zu denen auch Scipio zählt). Das anschließende Lob der Tugendfreundschaft bezieht sich ausdrücklich auf solche herausragenden Männer und verweist darauf, wie viele Vorteile (tantas opportunitates) 25 Bei den hier angesprochenen Philosophen dürfte es sich um Vertreter der älteren Stoa gehandelt haben. Vgl. Fürst, Streit unter Freunden, S. 128.

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die Tugendfreundschaft biete. Damit führt Laelius in subtiler Weise den Gedanken des Nutzens in die Tugendfreundschaft ein, den er aber als Ergebnis, nicht als Voraussetzung der Freundschaft präsentiert und in pathetischen, rhetorisch formulierten Fragen preist: Wie, so fragt er seine Gesprächspartner, könne es ein lebenswertes Leben geben ohne wechselseitiges Wohlwollen (mutua benevolentia)? Was sei angenehmer, als jemanden zu haben, dem man rückhaltlos vertrauen könne? Wie könne man glückliche Stunden besser genießen als mit einem Freund? Wie Unglück besser ertragen? Alle anderen Ziele seien fast immer nur einzelnen Zwecken dienlich: Reichtum, Einfluss, Ämtern, Vergnügungen, Gesundheit. Die Freundschaft aber umfasse dies alles und mehr (22). Hier ist dann einer jener Selbstkommentare eingefügt, in denen Laelius bemerkt, er spreche jetzt nicht von der alltäglichen und durchschnittlichen, sondern von der wahren und vollkommenen Freundschaft. Dieser Kommentar mündet in einen Lobpreis auf die Vorzüge der Freundschaft: Die Freundschaft bietet große Vorteile, sie erhellt die Zukunft und lässt uns nicht mutlos werden. Wer auf seinen Freund blickt, sieht ein Abbild seiner selbst. Daher sind Abwesende anwesend, Arme reich, Schwache stark und (…) Tote lebendig (23, Übersetzung MM). Aus diesem Lobpreis entwickelt Laelius die Vorstellung, Freundschaft sei die genuine Basis der sozialen wie der natürlichen Welt: Nimmt man jedoch die Bande der Zuneigung aus der Welt, kann keine Hausgemeinschaft, keine Stadt mehr bestehen, nicht einmal die Felder können bestellt werden (23, Übersetzung MM).

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Freundschaft wird von Laelius damit als soziales Kapital im Sinne Putnams bestimmt: Sie ist das Bindeglied, ohne das Gemeinschaften nicht bestehen können. Von daher kommt ihr eine unverzichtbare Funktion zu, die jede Art von Gemeinschaft trägt, weil selbst die einfachsten Tätigkeiten, wie das Bestellen der Felder, ohne sie nicht ausgeführt werden können. Sogar das Weltall, so Laelius unter Bezug auf einen »griechischen Philosophen aus Agrigent«, werde durch Freundschaft zusammengehalten (24).26 Man kann deutlich erkennen, wie Laelius in der fingierten mündlichen Rede von einem Pathos getragen wird, das ihn dazu bringt, Freundschaft als zusammenhaltende Kraft der ganzen Welt zu beschreiben. Damit kann dann freilich kaum die zuvor als Seltenheitsphänomen apostrophierte Freundschaft der Guten gemeint sein. In seinem Lobpreis der Freundschaft hat Laelius sich damit in einer Aporie verstrickt: Nichts kann ohne Freundschaft funktionieren, aber wahre Freundschaft ist zu voraussetzungsreich und deshalb zu selten, als dass sie als Grundlage für alles in Anspruch genommen werden könnte. Mit dieser Aporie endet die zweite Rede, die mit der unmittelbaren Adressierung von Fannius und Scaevola schließt, damit sei er mit seinen Ausführungen ans Ende gelangt und sie könnten diese nun selbst ergänzen (24). Dabei handelt es sich jedoch um einen Pseudo-Schluss, denn die beiden weisen die Aufforderung sofort zurück und erklären, er könne das viel besser als sie ausführen, wie er ja schon im Dialog über den Staat (De republica) unter Beweis gestellt habe, weshalb er auch über Freundschaft noch mehr und Besseres sagen könne als sie. Laelius erklärt sich daraufhin bereit, weiter zu sprechen, und damit beginnt die dritte Rede (26 – 32), die in gleicher Weise endet wie die zweite, nämlich indem er Fannius und 26 Mit dem »griechischen Philosophen aus Agrigent« ist Empedokles gemeint.

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Scaevola auffordert, ihrerseits etwas beizusteuern, was beide abermals ablehnen, woraufhin Laelius dann zum vierten Mal neu ansetzt. Danach fordert er seine Schwiegersöhne nicht mehr auf, ihrerseits etwas zu ergänzen. Dass Fannius und Scaevola sich zweimal weigern, selbst etwas zur Definition und Beschreibung von Freundschaft beizutragen, bekräftigt die Funktion des Gesprächs als Lehrdialog: Weder der eine noch der andere hält sich für kompetent, etwas über Freundschaft zu sagen. Sie tragen nicht einmal mit einem intuitiven und vorläufigen Verständnis dazu bei, wie Lysis und Menexenos in Platons Lysis. Anders als diese werden sie auch nicht als Freunde oder Gefährten bezeichnet. Sie fragen auch nicht nach, was angesichts der Widersprüchlichkeit von Laelius’ Aussagen zu erwarten wäre, und widersprechen ihm an keinem einzigen Punkt, obwohl Laelius ihnen dazu mehrfach Gründe geliefert hat. Nachdem Laelius sich bereit erklärt hat fortzufahren (26), kommt er in seiner dritten Rede – nach einem erneuten Lob der amicitia, die er lexikalisch von amor ableitet (26) – darauf zu sprechen, woraus Freundschaft erwachse (27), und geht damit zur Beantwortung von Fannius’ zweiter Frage (qualem existumes) über. Umfänglich führt er aus, dass Freundschaft nicht aus einem Mangel oder einem erwarteten Nutzen erwachse – man sucht sich einen Freund, weil man Hilfe braucht –, sondern aus der Zuneigung zu einem anderen Menschen, die dann zu einer seelischen Annäherung führe. Diese Zuneigung resultiere aus der Vorbildlichkeit des anderen durch Rechtschaffenheit und Tugend (27). Nachdem die Tugend so als Ursache und nicht nur als Voraussetzung der Freundschaft eingeführt ist, preist Laelius sie als das Liebenswerteste (nihil est enim virtute amabilius), das mehr als alles andere dazu verlocke zu lieben (nihil quod magis adliciat ad diligendum) (28). Anschließend grenzt er sich noch einmal von allen Freundschaftskonzeptionen ab, die Freundschaft auf einen erwarteten Nutzen zurückführen, 119

und wirft diesen vor, sie würden Freundschaft aus niederen Beweggründen ableiten und damit verächtlich machen. Ohne sich explizit auf ihn zu beziehen, kritisiert Laelius hier Epikurs These, Freundschaft entspringe der imbecillitas (Schwäche) des Menschen und diene seiner utilitas (Nutzen). Er bezieht also eine klar antiepikureische Position.27 Grundlage der Freundschaft sei wechselseitiges Wohlwollen; der Nutzen sei nicht Ursache, sondern Folge der Freundschaft, und das Streben nach Freundschaft entspreche einer natürlichen Anlage des Menschen. Diese Position noch überbietend, führt Laelius anschließend aus, gerade derjenige, der keinen Menschen aus Mangel benötige oder weil er sich einen Nutzen davon verspreche, strebe nach Freundschaft. Als Beispiel nennt er Scipio und sich selbst, die einander nicht im Hinblick auf einen zu behebenden Mangel oder erwarteten Nutzen benötigt hätten (30). Das heiße freilich nicht, dass Freundschaft ohne Nutzen bleibe, aber ihr Ertrag liege in der Freundschaft selbst, nicht in einem Nutzen jenseits davon (31). Nach dieser Abwertung der Nutzenfreundschaft wendet sich Laelius der Lustfreundschaft zu und erklärt auch sie für ungenügend, weil die Gedanken derer, die nur ihrer Lust frönten, sich auf etwas Niederes und Verächtliches richteten (32). Mit solchen Menschen wolle er sich nicht weiter beschäftigen. Die äußerst knappe Bemerkung zur Lustfreundschaft macht deutlich, dass sie nicht als die eigentliche Gefahr betrachtet wird. Lustfreundschaft kann als etwas Verächtliches abgewiesen werden, das der Beschäftigung nicht lohnt. Das eigentliche Problem ist die Nutzenfreundschaft, auf die Laelius unmittelbar nach dieser Bemerkung und im weiteren Verlauf seiner Ausführungen immer wieder zu sprechen kommt. Gegen sie will er die von ihm iterativ gelobte Tugendfreundschaft als ethisches Bollwerk errichten, indem er betont, dass sie die einzig beständige Art der Freundschaft sei: 27 Vgl. Mitsis, Cicero on Epicurean Friendship, bes. S. 112 – 114.

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Würde nämlich der Nutzen Freundschaftsbande knüpfen, dann würde er sie auch wieder auflösen, wenn sich die Voraussetzungen dafür geändert haben. Weil die natürliche Veranlagung aber keiner Veränderung unterliegt, bleiben wahre Freundschaften auch ewig bestehen (32). Nach dieser Betonung der Stabilität wahrer Freundschaften fragt Laelius seine Schwiegersöhne, ob sie noch etwas hinzufügen wollten, was beide erwartungsgemäß ablehnen. Da diese Frage, die zur vierten Rede überleitet, überaus kurz ist, könnte man meinen, es handele sich hier nur um eine kurze Unterbrechung der dritten Rede, doch das ist keineswegs der Fall; die Nachfrage leitet nämlich zu einer neuen dialogischen Ebene über, denn Laelius erklärt im unmittelbaren Anschluss, er wolle nunmehr über das sprechen, »was ich mit Scipio so oft über die Freundschaft erörtert habe« (33). Scipio ist zuvor zwar schon mehrfach erwähnt und in seiner zentralen Bedeutung für Laelius und das Ideal der Freundschaft gepriesen worden, aber seine eigenen Ansichten über Freundschaft sind bis dahin noch nicht explizit dargelegt worden. In der vierten Rede nun trägt Laelius an mehreren Stellen Auffassungen Scipios vor, die seinen in der zweiten und dritten Rede formulierten Positionen durchaus widersprechen. Freundschaft wird durch Scipios kritische Bemerkungen eher problematisiert als überhöht, und von daher formuliert Laelius zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen, die in Bezug auf die Auswahl des Freundes sowie die Beständigkeit und das Ende der Freundschaft zu bedenken sind. Ohne Probleme bleibt hier lediglich der Bezug auf die Freundschaft zwischen Scipio und Laelius, die stets und ständig als vorbildlich gepriesen wird. Andere Freundschaften werden dagegen problematisiert, als falsche Freundschaften beschrieben oder als solche, die man nach dem Gebot der Tugend oder der politischen Klugheit wieder auflösen sollte. Dazu gehören auch solche, die Scipio und Laelius neben ihrer eigenen Freundschaftsbeziehung gepflegt haben. Durch 121

die expliziten Bezüge auf Scipio entsteht damit ein Dialog im Dialog. Diese doppelt dialogische Situation aus evozierten Gesprächen zwischen Scipio und Laelius sowie dem fortbestehenden Dialog mit Fannius und Scaevola führt dazu, dass die Rede sich eher mäandernd fortbewegt und auf vieles noch einmal zu sprechen kommt, was zuvor bereits erwähnt worden ist. Häufiger als in den ersten Teilen wendet sich Laelius hier mit direkten Anreden an Fannius und Scaevola und fordert sie auf, seine Ratschläge und Mahnungen zu berücksichtigen. Damit erfüllt er Fannius’ dritte Aufforderung, er solle ihnen sagen, welche Ratschläge er erteilen könne (quae praecepta des). Dialoglinguistisch ist es deshalb sinnvoll, von einer vierten Rede des Laelius zu sprechen, in der dieser Scipios Auffassungen vorträgt und sich mit ihnen auseinandersetzt. Schon mit dem ersten Hinweis auf das, was Scipio über Freundschaft gedacht hat, zeigt sich ein direkter Widerspruch zu der von Laelius unmittelbar davor vorgetragenen Überzeugung, wahre Freundschaft währe ewig. Scipio, so Laelius, habe sich skeptisch über die Beständigkeit der Freundschaft geäußert und darauf verwiesen, dass sie auch bei den Guten nicht immer beständig sei: Die schlimmste Pest, die alle Freundschaften bedroht, ist nämlich bei der Mehrzahl die Geldgier, gerade bei den Besten aber der Wettstreit um Ehre und Ruhm, woraus schon oft die bittersten Feindschaften zwischen engsten Freunden entstanden sind (34). Im Prinzip ist das ein Fundamentaleinwand gegen die von Laelius vorgetragene Auffassung, wonach die Freundschaft unter den Guten ewig währe. Wenn die Konkurrenz um Ruhm und Ehre auch bei den Besten so leicht zur Feindschaft führen kann, dann sind entweder die Besten nicht zugleich die Tugendhaften, oder aber die Freundschaften der Guten und Tugendhaften sind nur so lange stabil, wie sie nicht auf 122

die Bewährungsprobe des Wettstreits um Ruhm und Ehre gestellt werden. Die nächste Scipio zugeschriebene Proposition verweist darauf, dass die Besten nicht immer tugendhaft sind. Die schwersten Zerwürfnisse nämlich ergäben sich, wenn man vom Freund etwas Unrechtes verlange. Wenn dieser das ablehne, handele er sich den Vorwurf ein, das Recht der Freundschaft zu verletzen, weil er nicht alles für seinen Freund tue, und daran würden alte Freundschaften nicht nur zerbrechen, sondern sich in »ewig dauernde Feindschaften« (35) verwandeln. Dieser Gefahr zu entgehen, erfordere nicht nur Weisheit, sondern auch Glück. Nach diesem Quasi-Einspruch Scipios, dem Laelius seinerseits nicht widerspricht, wendet er sich unmittelbar an seine beiden Zuhörer: »Darum lasst uns, wenn es euch recht ist, zunächst feststellen, wie weit die Liebe in der Freundschaft gehen darf« (36). Ausgehend von Scipios Einwand, kritisiert Laelius an verschiedenen historischen Beispielen aus der römischen Geschichte verwerfliches Handeln aus Freundschaft. Als zentrales Beispiel dient ihm dabei die Politik der Gracchen.28 Zuerst kommt Laelius auf das mahnende Beispiel des Gaius Blossius zu sprechen, der sich auf die Seite des Tiberius Gracchus gestellt und ihn in seinem »Wahnsinn« (illius furoris) noch unterstützt habe (37). Danach sei er zu ihm, Laelius, gekommen, um für seine Taten um Verzeihung zu bitten, und habe ihm versichert, er habe das alles nur für Tiberius Gracchus getan. Diese Entschuldigung, so Laelius, habe er nicht gelten lassen, denn es sei keine Entschuldigung für ein Unrecht, wenn man es einem Freund zuliebe begehe (37). An keiner anderen Stelle bezieht sich Laelius so deutlich auf die unmittelbaren politischen Ereignisse zur im Dialog angenommenen Zeit des Gesprächs wie hier. 133 v. Chr., also wenige 28 Vgl. zum Konflikt zwischen der Verpflichtung gegenüber dem Freund und dem Staat bei Cicero vgl. Konstan, In the Orbit, S. 64 f.

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Jahre vor dem auf 129 v. Chr. datierbaren Dialog, war Tiberius Gracchus ermordet worden, der als Volkstribun Agrarreformen durchführen wollte, dazu mehrere Verfassungsbrüche in Kauf nahm und sich der Zustimmung des Volkes gegen den konservativen Senat versicherte. Sein Bruder Gaius Gracchus, der die Reformen fortsetzen wollte, wurde 122 zum Volkstribun gewählt, also sieben Jahre nach dem Gespräch, ein Jahr später aber gewaltsam aus Rom vertrieben, wobei er zu Tode kam. Auf seine Politik verweist Laelius mit den Worten, »was ich von dem Tribunat des Gaius Gracchus erwarte, will ich gar nicht vorhersagen« (42, Übersetzung MM). Wenn die Tugend, welche die Freundschaft gestiftet habe, verloren gehe, könne die Freundschaft nicht länger bestehen (37). Aus diesem negativen Beispiel begründet Laelius dann als unverbrüchliches Gesetz der Freundschaft (lex in amicitia sanctiatur), dass wir etwas Unehrenhaftes weder erbitten noch auf Bitten hin tun. Denn es ist bei allen Vergehen, besonders aber solchen gegen den Staat, verwerflich und inakzeptabel, sich damit zu entschuldigen, man habe dem Freund zuliebe so gehandelt (40, Übersetzung MM). Als sei damit noch nicht genug gesagt, empört sich Laelius anschließend erneut über die Herrschaft des Tiberius Gracchus und die Männer, die sich um ihrer Freundschaft willen auf »Frevel gegen das Gemeinwohl« (42) eingelassen hätten.29 Anschließend wiederholt er nahezu wörtlich, was er zuvor bereits gesagt hat: 29 Carl P. E. Springer hat dies auch als Hinweis auf einen möglichen Konflikt zwischen Fannius und Scaevola gedeutet. Fannius, der 122 Konsul war, hatte sich mit einer Rede gegen die Gracchen einen Namen gemacht. Von Quintus Mucius Scaevola nimmt Springer dagegen an, er sei eher ein Anhänger der Gracchischen Reformen gewesen. Diese

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Das also soll als oberstes Gesetz der Freundschaft gelten, dass wir von Freunden nur Ehrenhaftes fordern, nur Ehrenhaftes Freunden zuliebe tun, ja, dass wir gar nicht abwarten, bis wir darum gebeten werden (44). Durch seine Wiederholung wirkt der Satz wie der hilflose Versuch, ein Bollwerk gegen die Korrumpierbarkeit von Tugend durch Freundschaft zu errichten. Axiologisch betrachtet, rückt Tugend damit noch deutlicher als zuvor an die erste Stelle: Tugend begründet Freundschaft nicht nur, sie rangiert auch vor ihr, und zwar insbesondere in Bezug auf den Staat und das Gemeinwohl. Sie erst gibt der Freundschaft Sinn und Richtung und bildet zugleich die Grenze, bis zu der Freundschaft reichen darf. Das Gesetz der Freundschaft besteht letztlich darin, bedingungslos der Tugend zu folgen. Faktisch führt das aber zu einer Einschränkung der Stabilität von Freundschaft. Eher muss man die Freundschaft beenden, als mit dem Freund gemeinsam vom Pfad der Tugend abzuweichen. Als Freund darf man nicht einfach darauf vertrauen, das alter ego werde schon nichts Unrechtmäßiges von einem verlangen; vielmehr muss man gegenüber dem Freund durchsetzen, dass keine derartige Erwartung mit der Freundschaft verbunden ist. Freundschaft verlangt daher sowohl Aufmerksamkeit als auch Sorge, weil sie beständig gefährdet ist. Diese Anforderung veranlasst Laelius anschließend, sich mit Positionen auseinanderzusetzen, die Freundschaft als eine Quelle von Sorge betrachten. Er formuliert sie als Kritik an Männern, »die in Griechenland als Weise gelten« (45). Solche angeblich Weisen verträten nämlich die Auffassung, Freundschaft sei der Sorglosigkeit abträglich und es sei deshalb besser, nicht allzu viele Freunde zu haben. Wer mit diesen oder ähnlichen Argumenten die Freundschaft aus dem Leben nehme, der nehme gleichsam die Sonne aus Annahme stützt sich allerdings vorwiegend auf dessen Verwandtschaft mit dem älteren Scaevola. Vgl. Springer, Fannius and Scaevola, S. 276 f.

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der Welt (47). Als habe er bemerkt, welche Schwierigkeiten sich damit für seine Begründung der Freundschaft aus wechselseitigem Wohlwollen ergeben, argumentiert Laelius anschließend gegen zwei Richtungen: gegen die Vertreter der Sorglosigkeit, von denen Freundschaft als Quelle von Sorgen abgelehnt wird, aber auch gegen die Vertreter einer unnachgiebigen und harten Tugend (48). Tugend müsse weich und geschmeidig (tenere atque tractabilis) sein, am Glück des Freundes Anteil nehmen und sein Unglück fürchten. Die Angst, die man deswegen um seinen Freund haben müsse, könne aber kein Grund sein, auf Freundschaften zu verzichten. So, als traue er der Tugend selbst nicht die erforderliche Geschmeidigkeit zu, führt Laelius die Freundschaft anschließend wieder auf die Liebe zur Tugend zurück und weist mit einer im Grunde tautologischen Beweisführung die Einwände gegen die Freundschaft um der Sorglosigkeit willen mit der Behauptung zurück, da die Liebe zur Tugend die Ursache für freundschaftliches Wohlwollen sei, würden die Guten, weil die Natur das so eingerichtet habe, zueinander finden, und ihre Güte sei der Garant dafür, dass ihre Tugend nicht menschenfeindlich und ihre Freundschaft folglich beständig sei (50). Von dieser Position aus wendet sich Laelius dann gegen die Selbstsüchtigen, die den Wonnen eines genusssüchtigen Lebens, der Schwelgerei und dem Luxus frönten. Als Beispiel für eine solche Lebensführung führt er den Tyrannen an, in dessen Leben Freundschaft keinen Platz habe, weil ihm aufgrund seiner Macht Freundschaft nur zum Schein erwidert werde. Macht schließe treue Freundschaft geradezu aus. Laelius nimmt hier ein Argument auf, das sich bereits im Dialog Hierōn des Sokratesschülers Xenophon findet: Im Leben des Tyrannen herrschten Verdacht und Argwohn, denn der Tyrann werde nur zum Schein geliebt, in Wirklichkeit aber gefürchtet, und er selbst fürchte – mit gutem Grund – seine Freunde, weil er ihnen nicht vertrauen 126

könne.30 Macht korrumpiere, so Laelius, und zwar sowohl diejenigen, die sie besäßen, als auch diejenigen, die ihr ausgesetzt seien (54), und auch Reichtum mache nicht glücklich (55). Als sei er selbst darüber erschrocken, wie viel Zeit er auf negative Beispiele verwendet hat, schließt Laelius diese Darlegungen mit der knappen Bemerkung »so viel nun hierzu« (55). Auf seine vorherigen Überlegungen zurückkommend, erklärt Laelius anschließend, es gelte nun noch zu bestimmen, welches die Grenzen der Liebe (termini diligendi) in der Freundschaft seien (56). Auch hier erfolgt die Festlegung zunächst nicht positiv, sondern ex negativo, indem Laelius zunächst drei abzulehnende Auffassungen präsentiert, die er dann einzeln zu widerlegen sucht: 1. wir sollen dem Freund gegenüber so eingestellt sein wie gegen uns selbst; 2. unser Wohlwollen gegenüber dem Freund soll dessen Wohlwollen genau entsprechen; 3. jeder soll von den Freunden genauso hoch eingeschätzt werden, wie er sich selbst einschätzt. Diese drei Auffassungen beziehen sich auf eine exakte Reziprozität in der Freundschaft nach dem Motto ›wie Du mir, so ich Dir‹. Gegen die erste führt Laelius an, sie widerspreche der Erfahrung, denn man tue vieles für seine Freunde, was man für sich selbst niemals tun würde (57). Die zweite Auffassung beurteilt er vom Standpunkt seines Freundschaftsideals her, denn eine solche Zumessung des Wohlwollens sei kleinlich und berechnend, während Freundschaft reich und großzügig sei. Das Freundschaftsideal ist auch die Grundlage für die Ablehnung der dritten Auffassung, denn seinen Freund solle man aufrichten, nicht dessen mangelnde Selbsteinschätzung bestätigen (59). Mit diesen drei Zurückweisungen ist Laelius wieder zu seinem Freundschaftsideal zurückgekehrt, doch seine von Scipios Einwand ausgehen30 Leo Strauss hat in seiner Interpretation von Xenophons Dialog Hierōn der Freundschaft längere Überlegungen gewidmet. Vgl. ders., Über Tyrannis, S. 71 ff. und 131 ff.

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den Ausführungen nötigen ihn, weiter über die Grenzen der Freundschaft nachzudenken. Bevor er dazu kommt, fällt ihm noch eine weitere abzulehnende Auffassung ein, von der er anmerkt, Scipio habe sie am meisten getadelt, nämlich die, man solle seine Liebe auf einen in Zukunft womöglich aufkeimenden Hass einstellen. Auch hier geht es um ein Reziprozitätsverhältnis, nämlich das zwischen Liebe und Hass, das Scipio auf den Philosophen Bias zurückführt.31 Dieser habe davor gewarnt, angesichts der Unbeständigkeit der Freundschaft zu viel Liebe in einen Freund zu investieren, da man ja damit rechnen müsse, dass Liebe in Hass umschlagen könne, der umso größer sei, je größer die Liebe gewesen sei. Eine solche Doktrin (praeceptus), so erklärt Laelius in Übereinstimmung mit Scipio, zerstöre die Freundschaft. Nicht in der Freundschaft, sondern vor deren Beginn solle man Vorsicht walten lassen und seine Freunde so auswählen, »dass wir […] niemals einen lieben, den wir später einmal hassen müssen« (60). Wenn man aber einmal eine falsche Wahl getroffen habe, so Scipios Auffassung, solle man das lieber hinnehmen, als einen Grund zur Feindschaft zu suchen. Er selbst, so Laelius, sei der Überzeugung, dass unter Freunden eine uneingeschränkte Gemeinschaft in allen Angelegenheiten, Plänen und Absichten bestehen solle, und dafür könnten bei abweichenden Plänen des Freundes durchaus einmal Konzessionen gemacht werden, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, denn die Tugend solle man stets hochhalten. Scipios anschließend von Laelius vorgetragener Einwand betont aber, dass die Menschen sich in allen möglichen Dingen gewissenhafter verhielten als bei der Auswahl eines Freundes (62). Aus diesem Einwand leitet Laelius den Rat ab, man 31 Bias von Priene (um 590  – um 530 v. Chr.) gilt als einer der Sieben Weisen Griechenlands. Ihm wird eine Reihe von Sentenzen zugeschrieben, die zur vorsokratischen Weisheitslehre gerechnet werden. Vgl. Karl-Joachim Hölkeskamp, Bias 2, in: Der Neue Pauly (DNP), Band 2, Stuttgart 1997, Sp. 617.

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solle sich gut überlegen, wen man zum Freund wähle. Es sei ein Gebot der Klugheit, die stürmische Zuneigung zu einer Person abzubremsen und zunächst ihren Charakter zu erforschen (63). Andererseits konzediert er aber auch, wirklich prüfen könne man den Freund erst in der Freundschaft (62). Wie Laelius’ Überlegungen verdeutlichen, bringen ihn die von Scipio aufgeworfenen Probleme in erhebliche argumentative Schwierigkeiten hinsichtlich seines eigenen Freundschaftsverständnisses. Mit der Verknüpfung von Tugend und Zuneigung ist Laelius anfänglich davon ausgegangen, dass der Charakter der Freunde ohne Makel sei, weshalb unter Freunden eine uneingeschränkte Gemeinschaft in allen Angelegenheiten, Plänen und Absichten bestehe. Nunmehr rät er aber, den Charakter eines potentiellen Freundes zu überprüfen, was schwerlich mit der vorherigen Annahme in Einklang zu bringen ist, wonach die Liebe zur Tugend die Zuneigung zum anderen begründe. Die dialogische Struktur des Gesprächs mit einem Abwesenden macht deutlich, dass Laelius und Scipio durchaus unterschiedliche Perspektiven auf Freundschaft hatten. Während Scipio Freundschaft offenbar von der Möglichkeit des Scheiterns her betrachtete und deshalb eine leichtfertige Auswahl kritisierte, postuliert Laelius sie aus der Perspektive des Gelingens. Diese Perspektive ist allerdings sehr viel schwerer durchzuhalten. Während Laelius einerseits fortwährend betont, wahre Freundschaft beruhe auf der Liebe zur Tugend, kommt er andererseits immer wieder auf Probleme zu sprechen, die auf die mangelnde Tugend eines Freundes zurückzuführen sind. Damit stehen sich die von Laelius ursprünglich pathetisch vorgetragene dogmatische und die über Scipios Auffassungen eingebrachte pragmatische Dimension gegenüber, zwischen denen Laelius hier zu vermitteln sucht: Das Lob der Freundschaft bleibt bestehen, aber die nachfolgenden Vorschläge sind pragmatisch orientiert. Daraus resultieren auch die wiederholten Hinweise, er sei von der Freundschaft der Guten zu der der gewöhnlichen Menschen abgeglitten (76, 77 und 100). Die 129

durch Scipio eingebrachte pragmatische Dimension macht es Laelius unmöglich, an seiner pathetischen Beschreibung der Tugendfreundschaft uneingeschränkt festzuhalten. So postuliert er es als ein Gebot der Klugheit, seiner stürmischen Zuneigung nicht nachzugeben, sondern zunächst den Charakter des potentiellen Freundes zu erforschen (63) und von solchen Freunden Abstand zu nehmen, die leichtfertig im Umgang mit Geld seien, bei großen Beträgen aber ihr wahres Gesicht zeigten. Freundschaft sei auch selten bei denjenigen zu finden, die über Macht verfügen, weshalb man bei denen, die hohe Ämter im Staat bekleideten, kaum wahre Freundschaften finde (64). Zwar sage Ennius zu Recht, den wahren Freund erkenne man in der Not, aber tatsächlich würden die meisten Menschen ihre Freunde vergessen, wenn sie selbst im Glück seien, oder sie im Stich lassen, wenn ihnen ein Unglück widerfahren sei (64).32 Menschen, die dem widerstehen könnten, seien überaus selten und müssten als beinahe göttlich bezeichnet werden (64). Unbeschadet dieser erheblichen Einschränkung der Praxistauglichkeit von Freundschaft hält Laelius aber an seiner Grundüberzeugung fest, wonach die Grundlage jeder beständigen Freundschaft Treue (fides) und Charakterfestigkeit (constantia) seien (65). Von da an ringt Laelius fortwährend mit dem Problem, dass er beide Arten von Freundschaft gleichzeitig thematisiert, die beständige Freundschaft und die brüchige. Das führt dazu, dass er die dogmatische und die pragmatische Dimension seiner Beschreibung von Freundschaft nebeneinander herführt. Dadurch klingen seine Ausführungen zunehmend widersprüchlich, und gelegentlich kommt es zu abrupt anmutenden Themenwechseln. So betont er im nachfolgenden Abschnitt, es sei ratsam, einen aufrichtigen, umgänglichen und gleichgesinnten Menschen zum Freund auszuwählen; diesem dürfe man dann aber auch nicht misstrauen oder mit Strenge 32 Quintus Ennius (239 – 163 v. Chr.), einer der bedeutendsten römischen Dichter der Vorklassik, war Ciceros Lieblingspoet.

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begegnen (65), vielmehr müsse das eigene Verhalten von Liebenswürdigkeit geprägt sein (66). Solche pragmatischen Anforderungen zeigen, wie gefährdet Freundschaft tatsächlich ist, weil ihre Verankerung in der Tugend die behauptete Beständigkeit faktisch nicht garantieren kann. Freundschaft ist stets von außen durch Korrumpierbarkeit und von innen durch Misstrauen oder Tugendstrenge gefährdet. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn sich Laelius schließlich die Frage vorlegt, ob es legitim sei, neue Freundschaften zu begründen, wie man dann mit älteren Freundschaften umgehen (67 – 68) und wie man gescheiterte Freundschaften beenden solle (76). Seine Antwort: Neue Freunde seien gegenüber den älteren nicht vorzuziehen, denn Freundschaft sei umso mehr wertzuschätzen, je älter sie sei (67). Deswegen müsse man neue Freundschaften nicht ablehnen; die älteren sollten aber den ihnen gebührenden Platz behalten (68). Sodann kommt Laelius auf Klugheitsregeln für das Verhalten innerhalb von Freundschaftsbeziehungen zu sprechen, für die wiederum Scipio als Vorbild dient: In der Freundschaft solle der Höhergestellte sich dem niedriger Gestellten als gleich ansehen, so wie es Scipio getan habe. Er habe gewollt, dass alle seine Freunde in höherem Ansehen stehen (69).33 An ihm sollten sich alle ein Beispiel nehmen (70), was jedoch nur wenigen gelinge (71). Beide Seiten dürften sich aber auch nicht überfordern (73). Die nächste Klugheitsregel überrascht, denn sie bildet in Laelius’ Ausführungen den schärfsten Einwand gegen die völlige Übereinstimmung der Freunde: Als eine Regel der Freundschaft müsse nämlich gelten, dass ein Übermaß an Zuneigung die Freunde bei wichtigen Unternehmungen,

33 Laelius könnte hier auf die Freundschaft zwischen Scipio und Polybios bzw. Panaitios anspielen. Als griechische philosophische Lehrer standen sie sozial weit unter dem römischen Konsul Scipio. Vgl. dazu Sommer, Scipio Aemilianus, Polybius, and the Quest for Friendship, S. 316.

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zumal solchen von großem Nutzen, nicht behindern dürfe. Wenn das vorkomme, müsse man seinen Freund verlassen: Wer sich da hindernd in den Weg stellt, weil er angeblich vor trauernder Sehnsucht umkommt, der ist eine schwächliche und weichliche Natur und wird gerade aus diesem Grund einer Freundschaft zu wenig gerecht (75). Die Schärfe dieser Wendung und ihr verächtlich invektiver Modus verdeutlichen, dass sich auch nach Laelius’ Auffassung die Zuneigung in der Freundschaft den Erfordernissen politischen Handelns unterzuordnen habe. Mit diesem unvermittelt eingeführten Primat des politischen Nutzens, der in völligem Widerspruch zu seinen vorherigen Postulaten steht, geht Laelius auf das Problem ein, welche peinlichen Zwangslagen sich ergeben, wenn man eine Freundschaft auflösen muss. Hier erfolgt der zweifach unmittelbar nacheinander formulierte Selbstkommentar, er sei von der Freundschaft der Weisen zu den gewöhnlichen Freundschaften abgeglitten (76, 77). Für diese gelten dann die Regeln der politischen Klugheit: Wenn man eine Freundschaft beenden müsse, solle man dies nicht abrupt, sondern durch allmähliche Auflösung des Umgangs tun, wie schon Cato dies geraten habe, sonst komme es zu Kränkungen und Hass (76). Auf jeden Fall müsse man den Eindruck vermeiden, bei der Auflösung der Freundschaft handele es sich um den Beginn einer Feindschaft. Auch hier dient Scipio wieder als Vorbild, der sich wegen Laelius von Quintus Pompeius zurückgezogen habe und durch einen politischen Streit von Metellus entzweit worden sei, sich den beiden gegenüber aber stets taktvoll verhalten habe.34 Zerwürfnisse, so die allgemeine 34 Quintus Pompeius hatte Scipio zugesagt, Laelius’ Kandidatur für das Konsulat zu unterstützen, sich dann aber selbst dafür beworben und das Amt erlangt. Quintus Caecilius Metellus Macedonicus, wie Scipio und Laelius einer der Auguren, trat zeitweilig als Gegner Scipios auf.

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Klugheitsregel, sollten vermieden werden, damit Freundschaft nicht in Feindschaft umschlage (78). Nachdem er mit diesen Klugheitsregeln in den Niederungen der römischen Politik und ihren wechselhaften Freundschaftsbündnissen angekommen ist, lobt Laelius noch einmal pathetisch die Vorzüge der wahren Freundschaft, wenn man die Vorsichtsregel der Beschränkung auf würdige Partner beachte (79): Tugend als Voraussetzung mit Stabilität als Folge, Tugend als Ziel (80 – 82) und ein glückliches Leben (beata vita) als Folge (84). Diese pathetisch wiederholten Glücksformeln erweisen sich aber erneut als zu schwach, um die Probleme und Einwände beiseite zu schieben: Leichtfertigkeit bei der Auswahl (86), das Erfordernis, den Freund zu ermahnen, aber ohne Schroffheit (88 – 89), dabei aber stets ehrlich zu sein und insbesondere Schmeichelei und Heuchelei zu vermeiden, damit die Wahrhaftigkeit nicht verloren gehe (91 – 92), wofür es in der Geschichte ja zahlreiche Beispiele gebe (94). So, als sei ihm erneut aufgefallen, in welch trübes Fahrwasser er damit geraten ist, führt Laelius ein weiteres Mal Scipio als Vorbild an (96) und lobt die Wahrhaftigkeit in der Freundschaft (97), um allerdings gleich danach wieder auf die Gefährdung der Wahrhaftigkeit und der Tugend zurückzukommen und schließlich erneut eingestehen zu müssen, irgendwie sei sein Vortrag von der Freundschaft weiser Menschen zu den Beziehungen haltloser Menschen herabgesunken (100). Die wiederholten Selbstkommentare machen deutlich, wie sehr Laelius in der vierten Rede über Freundschaft vom Lobpreis der wahren Freundschaft zu einer breiten Auseinandersetzung mit der falschen Freundschaft gelangt ist und darüber zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen und Handlungsmaximen formulieren musste, die einzuhalten seien, um wahre Freundschaft zu erlangen und falsche Freundschaften zu vermeiden oder sie zumindest diskret zu beenden. Freundschaft erscheint damit als eine ausgesprochen risikobehaftete Form sozialen Kapitals: Sie schafft Bindungen, wo Bindungen nicht 133

messen sind, und macht Auflösungen erforderlich, die kaum ohne Nachfolgeprobleme möglich sind. Für die Lösung dieses argumentativen und darstellungstechnischen Problems kann Laelius zum Schluss nur ein weiteres Mal auf den unmittelbaren Appell an Fannius und Scaevola zurückgreifen, der bereits den Anfang des Dialogs gebildet hat: Die Tugend, die Tugend, sage ich, Gaius Fannius und du, mein Quintus Mucius, sie ist es, die Freundschaften schließt und erhält. In ihr liegt die Harmonie, Beständigkeit und Festigkeit; wo sie zum Vorschein kommt und ihr Licht leuchten lässt und ein gleiches an einem anderen erblickt und erkannt hat, wendet sie sich diesem zu und nimmt ihrerseits das auf, was im anderen ist; daran entzündet sich Liebe (amor) oder Freundschaft (amicitia) (100). Daran habe er sich immer orientiert und deshalb in seinem Leben durchaus unterschiedliche Freundschaften gepflegt: In jungen Jahren habe er sich um die Freundschaft der Alten bemüht, in seinen mittleren Jahren die Freundschaft mit Gleichaltrigen gepflegt, und nun pflege er Freundschaften mit den Jungen (102). Aber keine Freundschaft könne er höher schätzen als jene, die ihn mit Scipio verbunden habe. Nur die Erinnerung daran lasse ihn die Sehnsucht nach dem verlorenen Freund ertragen (104). Laelius schließt den Dialog, der ohne direkte Verabschiedung endet, noch einmal mit einem Appell: Euch lege ich ans Herz, die Tugend, ohne die Freundschaft nicht möglich ist, so hoch zu schätzen, dass es für euch (…) kein höheres Gut geben kann (104, Übersetzung MM).

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Ciceros Laelius und Platons Lysis Sowohl die Sequenzmuster mit ihren zahlreichen Widersprüchen, Wiederaufnahmen von bereits zuvor Gesagtem und Kommentaren zu den eigenen Ausführungen als auch die in der Verabschiedung der Gesprächsteilnehmer formulierten Worte über den unverbrüchlichen Zusammenhang von Tugend und Freundschaft unterscheiden Platons Lysis und Ciceros Laelius deutlich voneinander. Während Sokrates am Schluss äußert, sie seien nicht zu einer Definition von Freundschaft gelangt, könnten sich nunmehr aber als Freunde begreifen, lobt Laelius die Tugend als unverzichtbare Voraussetzung echter Freundschaft. Damit bekräftigt er am Schluss noch einmal, was echte Freundschaft sei, und verankert sie in einer Sollensethik, die in der abschließenden Mahnung an Fannius und Scaevola gipfelt, sie sollten Tugend und Freundschaft als unauflöslich miteinander verknüpft betrachten und sie stets als die höchsten Güter betrachten. Eine derart pathetisch vorgetragene Sollensethik, die ihr Scheitern als praxistaugliche Lehre durch die zahlreichen Hinweise auf Fälle, in denen Freundschaften diesen Ansprüchen nicht genügten, quasi schon voraussetzt, führt den Dialog letztlich in eine Aporie, freilich eine, die Platons Lysis fremd ist – auch wenn er zu den sogenannten aporetischen Dialogen gerechnet wird. Aber die Aporie, in die Sokrates seine Gesprächspartner Lysis und Menexenos führt, ist eine völlig andere als die, in die sich Laelius verstrickt: Während Sokrates am Ende als Ergebnis des Dialogs behauptet, sie hätten nicht klären können, was Freundschaft sei und worauf sie beruhe, weiß Laelius beides ganz genau, aber es gelingt ihm nicht, seine eindeutige Definition als praxistauglich in der Welt zu verankern. Dabei steht ihm nicht nur die Welt des Politischen entgegen, von der man sich fernhalten müsse, sondern vielmehr seine eigene Auffassung vom Primat des Politischen gegenüber der idealen Konzeption von Freundschaft. Das wird nirgends deutlicher als an der Stelle, wo er 135

anmerkt, für ein politisches Ziel müsse man auch einmal eine Freundschaft opfern (75). Es stellt sich von daher die Frage, welche Rolle Platons Lysis für den Laelius de amicitia gespielt haben könnte. Insgesamt war Cicero mit Platons Schriften und der griechischen Philosophie durchaus vertraut. Wie viele seiner Freunde hatte er als junger Mann von 79 bis 77 v. Chr. eine zweijährige Bildungsreise nach Griechenland unternommen und vom Frühjahr bis Herbst 79 v. Chr. an der Akademie die griechische philosophische Tradition studiert. Einige von Platons Werken kannte er sehr gut; den Dialog Timaios hat er ins Lateinische übertragen. In dem kurz vor dem Laelius entstandenen Dialog Cato Maior de senectude hat er Platon auch erwähnt.35 Ob er auch den Dialog Lysis kannte, ist unklar. Das für Cicero zentrale Problem der Abgrenzung von Tugend- und Nutzenfreundschaft spielte darin jedenfalls keine Rolle. Wo Sokrates die Frage des Nutzens thematisierte, ging es ihm um die Frage, ob das Streben nach einem Freund auf einem Mangel beruhe. Der Nutzen bestand demnach darin, einen Mangel auszugleichen. Diese Überlegungen waren aber rein begrifflicher Art und hatten zudem innerhalb des Dialogs einen spielerischen Charakter, weil sie in erster Linie dazu dienten, Lysis und Menexenos zu verwirren. Eine politische Dimension war ihnen völlig fremd. Die politische Dimension der Nutzenfreundschaft hatte erst Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik hervorgehoben. Mit seinem Laelius de amicitia bezog Cicero sich denn auch nicht auf Platon, sondern auf Aristoteles, dessen Konzeption von Freundschaft er sehr viel näher stand. Doch auch Aristoteles dürfte nicht seine unmittelbare Quelle gewesen sein, sondern die an Aristoteles orientierten Schriften von Theophrastos und Panaitios. Theophrastos (371 – 287 v. Chr.), der ab 322 als Aristoteles’ Nachfolger die peripatetische Schule leitete, hatte einen Traktat über die Freundschaft, Peri philia, geschrieben, der sich vermutlich an das VIII. und IX. Buch der 35 Vgl. Cicero, Cato maior de senectude 44.

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Nikomachischen Ethik anlehnte. Bei dem mehrere Generationen später geborenen Panaitios von Rhodos (180 – 110 v. Chr.), der philosophiehistorisch der mittleren Stoa zugerechnet wird, handelte es sich um einen jener griechischen Philosophen, die im zweiten Jahrhundert v. Chr. nach Rom gekommen waren und dort griechische Philosophie lehrten. Er war nicht nur ein Zeitgenosse von Laelius und Scipio Minor, sondern auch mit beiden befreundet; Scipio begleitete er auf dem Feldzug gegen Karthago. Für Cicero war er ein wichtiger Orientierungspunkt. In De officiis zitierte er Panaitios wiederholt, und auch für den Laelius dürfte dessen Schrift Peri tou kathēkontos (Über die Pflichten) eine wichtige Quelle gewesen sein. Theophrasts Abhandlung Peri philia (Über die Freundschaft) und Panaitios’ Traktat Peri tou kathēkontos sind jedoch verloren, so dass sich nur auf Umwegen rekonstruieren lässt, wie stark Cicero sich an ihnen orientiert hat.36 Auszuschließen ist von daher aber auch nicht, dass er unmittelbar auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik zurückgegriffen hat. Dass Cicero seine Quellen nicht benannt hat, ist angesichts der dialogischen Situierung und seines Bemühens, ein römisches Vorbild zu konstruieren, nicht verwunderlich: Der Dialog diente ihm nicht dazu, sich in eine griechische ethisch-philosophische Tradition einzureihen, sondern die Tradition eines römischen Ethos zu konstruieren, das dem mos maiorum und der sapientia veterum entsprach.37 Für diesen Zweck waren attische Quellen und deren Hervorhebung durch explizite Bezugnahmen eher hinderlich, zumal es innerhalb eines als spontan markier36 Vgl. Panezio di Rodi, Testimonianze. Teilweise hat die Forschung das Werk des Panaitios aus Ciceros Laelius zu rekonstruieren versucht. Vgl. Steinmetz, Die Freundschaftslehre des Panaitios; Klaus Bringmann, Untersuchungen zum späten Cicero, S. 209, hat dagegen eingewendet, Steinmetz’ Unterfangen beruhe auf einer petitio principii. 37 Vgl. Jehne, Cato und die Bewahrung der traditionellen res publica.

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ten Dialogs auch nicht plausibel war, Quellen zu benennen. Hierfür genügte es, wenn mit Laelius ein Dialogpartner vorhanden war, der als perfekter Vertreter eines idealen Freundschaftsmodells fungieren konnte. Auf diese Weise konnte das Modell der Tugendfreundschaft in Rom selbst verankert werden, und andere Freundschaftsmodelle mussten nicht durch Rekurse auf angegebene Quellen zurückgewiesen werden. Die dialogische Struktur selbst, die auf den zweiten Blick sehr viel bedeutsamer ist, als es auf den ersten Blick scheint, dürfte aber erheblich durch Platon beeinflusst sein. Platon hatte mit seinen Dialogen eine Form des Philosophierens und der Darstellung entwickelt, die das räsonierende Denken in seiner unmittelbarsten Äußerungsform repräsentierte. Auch bei Platon diente das dialogisch räsonierende Denken nicht zuletzt dazu, sich abzugrenzen, und zwar in erster Linie von den Sophisten, die es in seinen Augen zu einem agonalen Wettkampf herabgewürdigt hatten, bei dem es um den Sieg im argumentativen Wettstreit, nicht aber um die Suche nach der Wahrheit ging. Wie bei Platon stand bei Cicero die Wahrheit im Zentrum, verengt auf den Begriff der wahren Freundschaft. Wie Sokrates konnte Laelius verschiedene Formen des falschen Denkens und Argumentierens kritisieren und als unzulänglich, ja schädlich zurückweisen. Mit der bei Platon entwickelten fingierten Mündlichkeit konnten die vielen kritischen Hinweise auf falsche Freundschaften plausibel aufgenommen werden, und gleichzeitig konnten sie durch die Figur des Laelius historisch zurückverlegt werden, was verhinderte, dass Cicero sich auf die unmittelbaren Machtkämpfe seiner Zeit einlassen musste. Einer der Gründe dafür, dass er dies vermeiden wollte, dürfte in der Entstehungszeit des Laelius zu suchen sein.

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Die Entstehungsumstände des Laelius Cicero begann die Arbeiten am Laelius vermutlich bereits im Jahr 45 v. Chr. und stellte ihn wohl im November 44 fertig, am Ende jenes Jahres also, in dem Caesar (106 – 44) an den Iden des März im Senat ermordet wurde.38 Auch wenn Cicero an dem Mordkomplott nicht beteiligt war, so war er doch ein entschiedener Verteidiger der Tat. Unter den Anhängern Caesars hielten ihn nicht wenige für mitschuldig, denn Brutus hatte sich nach der Tat im Senat zu Cicero umgewendet, das blutige Messer in die Höhe gereckt und ihm zugerufen, er habe das für ihn getan.39 Cicero rechtfertigte die Tat jedenfalls als Tyrannenmord, der die Republik vor der Vernichtung durch Caesars Machtwillen bewahrt habe.40 Mochte Cicero, ebenso wie die Caesarmörder Brutus und Cassius, auf ein Ende der Diktatur und die Wiederherstellung der Republik gehofft haben, sah er sich in diesen Erwartungen schon bald enttäuscht, denn den Verschwörern gelang es nicht, die Macht wieder an den Senat zurückzugeben. Stattdessen sicherte Caesars Stellvertreter Marcus Antonius seine Machtstellung nicht nur, sondern baute sie, gestützt auf Caesars sogenanntes Testament und seine vorgeblichen Anordnungen, weiter aus. Dabei half ihm nicht nur seine Behauptung, Caesars Freund gewesen zu sein, sondern auch die Tatsache, dass er den jungen Octavian, den späteren Kaiser Augustus, auf die Seite des gegen die Republik gerichteten Freundschaftsnetzwerks zu ziehen vermochte.41 Den jungen Octavian hatte Cicero selbst als einen seiner Freunde betrachtet 38 Zur Datierungsfrage vgl. Bringmann, Untersuchungen zum späten Cicero, S. 215; Heldmann, Ciceros Laelius und die Grenzen der Freundschaft, S. 72. Als terminus ante quem kann eine Stelle in De officiis (II,31) gelten, wo Cicero den Laelius erwähnt. 39 Vgl. Cicero, Zweite Philippische Rede 28. 40 Vgl. Cicero, Ad Familiares 10, 27 (28). 41 Vgl. Cicero, Ad Familiares 10, 24. Zur Funktion von Netzwerken

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und musste nun erkennen, wie sehr er sich in ihm getäuscht hatte. Mit Octavians Seitenwechsel verfügte Antonius über ein politisches Netzwerk, das Cicero nicht mehr zur Verfügung stand. Während er also an seinem Gespräch über die Freundschaft arbeitete, tobte der Kampf unterschiedlicher sozialer Netzwerke um die Macht in Rom. Cicero versuchte im Einvernehmen mit seinen Freunden, den Tyrannenmördern Brutus und Cassius, die Republik wiederherzustellen, während Antonius einen Bund mit Octavian schmiedete, um Caesar zu beerben und sich Rom zur Beute zu machen. Ciceros unmittelbarer Beitrag zu diesem Kampf bestand nicht zuletzt in seinen gegen Marcus Antonius gerichteten Philippischen Reden.42 Die meisten dieser 14 Reden hielt Cicero zwischen September 44 und April 43 im Senat, zumindest die zweite fasste er lediglich schriftlich ab, ohne sie tatsächlich zu halten. Die ersten Reden hielt oder schrieb er, während er am Laelius de amicitia arbeitete, die letzten vor seiner Flucht aus Rom und seiner Ermordung durch die Häscher des Antonius am 7. Dezember 43. In diesen Reden prangerte er das System der Nutzenfreundschaft, mit dem Caesar seine Macht gesichert hatte, scharf an und warf ihm vor, Freunde nicht nach ihrer Tugend, sondern ganz im Gegenteil nach ihrer Skrupellosigkeit ausgewählt und sich dabei deren Notlage zu Nutze gemacht zu haben: So verfuhr Caesar ja immer: wenn er sah, daß jemand durch seine Schulden gründlich ruiniert und am Ende und zugleich ein skrupelloser Draufgänger war, dann nahm er ihn bereitwilligst in den Kreis seiner Freunde auf.43

wie insbesondere der Rolle Octavians in Rom vgl. Rollinger, Amicitia sanctissime collenda, S. 406 – 411 sowie 429. 42 Cicero nannte sie Philippische Reden, um sie in die Tradition der Reden des Demosthenes gegen König Philipp II. von Makedonien zu stellen. 43 Cicero, Zweite Philippische Rede 79.

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Damit habe Caesar ein System begründet, das Senatsmitglieder und Bürger gleichermaßen korrumpiert und den Staat zerstört habe. Im Vergleich zu Antonius hätten Caesar aber immerhin noch gewisse Fähigkeiten ausgezeichnet: Er [Caesar] besaß Genie, Scharfsinn, Erinnerungsvermögen, Bildung, Fürsorglichkeit, Gedankenzucht und Umsicht; er hatte kriegerische Leistungen vollbracht, die zwar verderblich für den Staat und doch bedeutend waren, hatte viele Jahre von der Absicht, Alleinherrscher zu sein, durchdrungen, nach großer Mühe und großen Gefahren sein Ziel erreicht, hatte durch Spiele, Bauten, Geschenkverteilungen und öffentliche Festschmäuse die unwissende Menge kirre gemacht und seine Freunde durch Belohnungen, seine Feinde durch den Schein der Milde an sich gefesselt − kurz und gut, er hatte unserem freien Volk die Knechtschaft teils durch Furcht, teils durch Abstumpfung bereits zur Gewohnheit gemacht. Mit diesem Manne kann ich dich vergleichen, was den Machthunger betrifft, doch in allen übrigen Punkten bist du keineswegs mit ihm vergleichbar.44 In aggressiv-invektiver Form klagte Cicero das System der Belohnungen und Gefälligkeiten an, dessen Zentrum die vorgebliche Freundschaft war, die von allen Beteiligten, besonders aber von demjenigen, der die Macht im Staate an sich reißen wollte, zur Schaffung von Abhängigkeiten, d. h. zum Zwecke der eigenen Nutzenmaximierung, betrieben wurde.45 Wie Cicero am Beispiel Caesars hervorhob, war Freundschaft die Leitsemantik der Korrumpierung, mittels derer die Republik vernichtet wurde. 44 Cicero, Zweite Philippische Rede 117 – 118. 45 Zu Ciceros zweiter Philippischer Rede und den Invektiven gegen Marcus Antonius vgl. Ott, Die zweite Philippica als Flugschrift in der späten Republik, bes. S. 516 – 525.

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Auf Grundlage dieser Beobachtungen zur Rolle der Freundschaft in der politischen Ordnung Roms lässt sich eine erste Antwort auf die Frage formulieren, warum Cicero sich unter dem Eindruck einer erneut wachsenden Bürgerkriegsgefahr dem Bedeutungsfeld der amicitia zugewandt und sie am Beispiel der Beziehung zwischen Laelius und Scipio erläutert hat: Für ihn waren die im Begriffsfeld von amicitia versammelten Normerwartungen, zu denen virtus (Tugend, Tüchtigkeit), fides (Vertrauen), benevolentia (Wohlwollen), probitas (Rechtschaffenheit, Redlichkeit) sowie bonitas (Güte) gehörten, von entscheidender Bedeutung für das Wohl des Staates und ein Abwehrbollwerk gegen die Errichtung einer Diktatur. Dagegen machte der Blick auf utilitas (Nutzen), imbellicitas (Schwäche), inopia (Mangel, Not) und indigentia (Bedürftigkeit) deutlich, dass der sozialmoralische Kitt der politischen Ordnung brüchig wurde und die Infiltration der Freundschaft mit Nutzenerwartungen zur Erosion der im Begriff der amicitia zusammengefassten Verhaltenserwartungen führte und damit in Ciceros Augen eine schwerwiegende Bedrohung der republikanischen Ordnung darstellten. Das war für ihn keine Frage, die sich in einem für Widerspruch und Aporie offenen Gespräch klären ließ, wie es Sokrates im Lysis geführt hatte, sondern die in der Form eines autoritativen Lehrdialogs beantwortet werden musste, um die Verbindlichkeit dieser Vorstellung zu kräftigen und zu stärken. Nur eine auf Tugend beruhende amicitia war für Cicero dem ähnlich, was Putnam als soziales Vertrauen im Sinne von sozialem Kapital bezeichnet hat, ohne das politisch-partizipatorische Ordnungen auf Dauer nicht funktionieren können. Die exemplarische Beschreibung dieses Typs von Freundschaft sollte im performativen Sinn zu deren Erneuerung und Stärkung führen. Die Orientierung an griechischen Texten zur Ethik implizierte die Distanzierung von der sozialen Praxis der römischen amicitia und bildete damit einen Gegenentwurf zur 142

römischen Politik seiner Zeit. Die so gewählte polemischkritische Position machte es freilich unmöglich, die Rede von den falschen Freundschaften, die die römische Politik dominierten, einzuhegen und allein die wahre Freundschaft zu loben.

Ciceros Laelius und Aristoteles’ Nikomachische Ethik Unbeschadet der Tatsache, dass Cicero sie nicht als Quelle nennt, lohnt sich ein Vergleich des Laelius mit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, der die Unterscheidung von Nutzen-, Lust- und Tugendfreundschaft eingeführt hat. Ähnlich wie für Aristoteles war für Cicero Freundschaft ein zentraler Aspekt der Ethik, die auf die polis bzw. die res publica ausgerichtet war. Aristoteles hatte die Freundschaft in der Nikomachischen Ethik, in der ihr die Bücher VIII und IX gewidmet sind, am Übergang vom oikos zur polis angesiedelt. Im systematischen Aufbau der praktischen Philosophie bildete die Freundschaft somit das Verbindungsglied zwischen dem Einzelnen und der Stadt, und damit stand sie für den Übergang von der Ethik zur Politik.46 Nach der aristotelischen polis-Konzeption reichen Recht und Gerechtigkeit nämlich allein nicht aus, um eine echte Gemeinschaft zu bilden. Gemeinschaft wird erst durch die über dem Reich der dike (Göttin des Rechts) liegende Sphäre geschaffen, in der man dem Anderen mehr zubilligt, als ihm nach Recht und Gesetz zusteht (epieikeia). Für Aristoteles ist dies eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren der polis, denn nur dort, wo die Menschen befreundet sind,

46 Zur Definition von Freundschaft in den Büchern VIII und IX der Nikomachischen Ethik vgl. von Siemens, Aristoteles über Freundschaft, S. 37 – 40.

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herrschen die Göttinnen der Eintracht (homonoia) und der Gerechtigkeit (dikaiosynē).47 Die Erfahrung lehrt auch, daß Freundschaft die Polisgemeinden zusammenhält und die Gesetzgeber sich mehr um sie als um die Gerechtigkeit bemühen, denn die Eintracht hat offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Freundschaft. […] Sind die Bürger einander freund, so ist kein Rechtsschutz nötig, sind sie aber gerecht, so brauchen sie noch außerdem die Freundschaft […].48 Die Gemeinschaften, von denen hier die Rede ist, sind die Polisgemeinden, die auf der Freiheit und Gleichheit der Bürger (wobei Bürger nicht mit Bewohner der Stadt identisch ist) fußen, die also nicht vertikal durch eine Macht von oben zusammengehalten werden, sondern die, weil horizontal geordnet, auf dem Einander-Zugetansein der Bürger beruhen. Nur dann, wenn die Bürger (politai) einander freundschaftlich gesinnt sind, hat eine auf Bürgerschaftlichkeit gegründete Stadt Bestand. Darin unterscheidet sich die polis von den Binnenverhältnissen des oikos, der nicht egalitär, sondern hierarchisch strukturiert ist. Weil der Hausherr (oikodespotes) an der Spitze der Hierarchie steht, ist Freundschaft entbehrlich  – was nicht heißt, dass sie im oikos nicht vorkommen kann. Innerhalb des Hauses ist sie jedoch additiv und keine unverzichtbare Voraussetzung. In der polis ist Freundschaft dagegen eine Grundvoraussetzung der bürgerschaftlich verfassten Stadt. Das Streben nach philia ist für Aristoteles zunächst ein natürlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, weil der Mensch von Natur aus ein nach Gemeinschaft strebendes Wesen (zōon politikon) ist; sie ist darüber hinaus aber auch 47 Zur Funktion der Gerechtigkeit in der Nikomachischen Ethik vgl. von Siemens, Aristoteles über Freundschaft, S. 156 – 158. 48 Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII, 1.

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mit dem Streben nach Nutzen und Lust, Tugend und Glückseligkeit verbunden. Freundschaft hat somit gleichermaßen eine funktionale und eine teleologische Dimension für das Leben der Menschen. Freundschaft ist es auch, die die Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit. […] Denn unter Freunden bedarf es der Gerechtigkeit nicht.49 Aristoteles betrachtet die Freundschaft als Perfektionsform des Sozialen, in der die idealen Merkmale einer politischen (also auf Egalität gegründeten) Gemeinschaft vollkommen realisiert werden.50 Allerdings ist nicht jede Form der Freundschaft vollkommen. Vollkommen ist die Freundschaft nur als Tugendfreundschaft, die durch Vertrauen und Stabilität gekennzeichnet ist, während die Lust- und die Nutzenfreundschaft auf einen Zweck bezogen sind und mit der Erreichung dieses Zwecks vergehen.51 Aristoteles unterscheidet daher drei Formen der Freundschaft: die Nutzen-, die Lust- und die Tugendfreundschaft. Die Tugendfreundschaft gilt ihm als die vollkommenste, weil sie sich nicht aus dem Interesse an einem Dritten speist, wie Nutzen- und Lustfreundschaft, die aus dem Streben nach einem persönlichen Vorteil und nach Vergnügen erwachsen. Sind Nutzen- und Lustfreundschaft also auf einen ihnen vorgeordneten Zweck bezogen, so hat die Tugendfreundschaft ihren Zweck in sich selbst und stellt damit den Endpunkt einer teleologischen Reihung dar. Grundlage der Tugendfreundschaft ist die wechselseitige Anziehung beider Partner aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit, die sie gleichermaßen nach dem Guten streben lässt (VIII, 4). Tugendhafte wünschen einander um des je anderen wil49 Ebd. 50 Vgl. Cooper, Political Animals, S. 227 – 229. 51 Zur Tugendfreundschaft vgl. von Siemens, Aristoteles über Freundschaft, S. 154 – 160, sowie Liatsi, Philia bei Aristoteles.

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len das Gute und erfüllen so den Anspruch der eigentlichen Freundschaft. Deshalb sind solche Freundschaften beständig, wegen des damit verbundenen hohen Anspruchs aber selten. In der Tugendfreundschaft fehlen die Vorzüge der anderen Freundschaften aber keineswegs: Weil die Tugendhaften prinzipiell und zugleich in Bezug aufeinander gut sind, sind sie einander zugleich angenehm und nützlich (VIII, 4).52 Im nachfolgenden Kapitel (VIII, 5) vergleicht Aristoteles die drei Arten der Freundschaft miteinander und beschreibt sie in einer absteigenden Hierarchie: An der Spitze steht die Tugendfreundschaft, auf sie folgt die Lustfreundschaft und am Ende der Hierarchie steht die Nutzenfreundschaft. Nach Aristoteles können aber alle drei als Freundschaften bezeichnet werden. Dass Aristoteles hier keine scharfe Grenze zieht, etwa indem er nur der Tugendfreundschaft den Rang einer Freundschaft zuerkennt oder zwischen Tugendfreundschaft auf der einen Seite sowie Lust- und Nutzenfreundschaft auf der anderen Seite die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Freundschaft festmachen würde, begründet sich darin, dass Freundschaftlichkeit nach seiner Auffassung sowohl als Haltung (habitus) wie auch als Handlung (actus) zu betrachten ist (VIII, 6). Nutzen- und Lustfreundschaft haben in ihrem Zentrum ein Handeln und sind mit vielen möglich (VIII, 7). Deshalb finden sie sich auch häufig zwischen sozial Ungleichen (VIII, 8). Tugendfreundschaft setzt dagegen die Gleichheit des Wollens voraus; die Freundschaft besteht hier mehr im Lieben als im Geliebtwerden (VIII, 9). Freundschaft und Gegensätze schließen sich aber nicht aus; Unterschiedliche erstreben das Mittlere, d. h. das Gute. Für Aristoteles gehören vollkommenes Leben und philia zusammen, insofern letztere keine Regelung durch Gesetze brauche, sondern von sich aus mehr gebe, als erforderlich sei, weil sie das

52 Vgl. Utz, Freundschaft und Wohlwollen, S. 545 – 550; Brewer, Virtues We Can Share, S. 726 – 732.

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Billige (epieikeia), d. h. das Ausreichende und Erforderliche, überschreite und sich dabei selbst genug sei.

Codex legem amicitiae: Die Anforderungen an Freundschaft im Laelius An dieser ethischen Fundierung von Freundschaft hat sich Cicero in seinem Laelius de amicitia orientiert. Er hat Freundschaft aber sehr viel tiefer in einer Sollensethik verankert als Aristoteles. Dessen Überlegungen zur Freundschaft haben zwar ebenfalls eine präskriptive Dimension, die ein unverzichtbares Element jeder Ethik ist. Ohne sie verwandelt sich Ethik von einem Bestandteil der Philosophie in ein Unterkapitel der Soziologie. Deskription und Präskription sind in Ethiken also stets ineinander verschlungen. Cicero verschärft jedoch die Anforderungen an Freundschaft und formuliert einen codex legem amicitiae, einen Gesetzeskodex der Freundschaft, dessen Kern die Definition wahrer Freundschaft und die Formulierung der sich daraus ergebenden Pflichten ist. In der römischen Tradition war ein solches Unterfangen ohne Vorbild, weswegen Cicero auf der Suche nach anschlussfähigen Überlegungen auf eine Reihe ethischer Abhandlungen griechischer Philosophen zurückgreifen musste. Cicero bestimmt das Wortfeld durch Verknüpfung der Freundschaft mit einer Reihe von axiologischen Begriffen. Zum einen leitet er amicitia von amor ab, zum anderen verknüpft er sie mit benevolentia (Wohlwollen, Zuneigung), caritas (Liebe), virtus (Tugend, Tüchtigkeit), probitas (Rechtschaffenheit, Redlichkeit) und mit bonitas (Güte). Dagegen weist er utilitas (Nutzen), imbecillitas (Schwäche), inopia (Not, Mangel) und indigentia (Bedürftigkeit) als Grundlage von Freundschaft zurück. Zwar schafft Freundschaft einen Nutzen, aber sie darf niemals um eines Nutzen willens geschaffen werden. Zwar hilft Freundschaft bei Mangel und 147

Bedürftigkeit, aber das darf niemals der Grund dafür sein, sie anzustreben. Freundschaft ist das zentrale Element einer gänzlich auf Gemeinschaft und Gemeinsinn hin orientierten Politik, die den hierarchischen Strukturen einer stratifizierten Gesellschaft entspricht. Wahre Freundschaft, so Laelius, kann es nur unter den viri boni (tugendhaften Männern) geben, die sich durch Beständigkeit, Festigkeit und insbesondere durch Treue (fides) auszeichnen. Diese tugendhaften Männer sind grundsätzlich Angehörige der herrschenden Oberschicht, die für das Wohl der politischen Gemeinschaft, der res publica, Sorge zu tragen haben. Cicero nutzt die Arbeit am Begriff der Freundschaft also, um diese als soziales Kapital im Sinne Bourdieus zu charakterisieren, durch das sich eine – in diesem Fall politische  – Elite gegenüber dem Rest der Gesellschaft abgrenzt. Aber an diese Elite wird der Maßstab der Tugendhaftigkeit angelegt: Tugend ist demnach der Code ihres Herrschaftsanspruchs. Die Liebe gibt den ersten Impuls, ein Band der Freundschaft zu knüpfen, aber erst die Tugend kann sie wirklich hervorbringen: […] gerade die Tugend ist es, die Freundschaft hervorbringt und zusammenhält, und es kann Freundschaft ohne die Tugend unter keinen Umständen geben (155). Die Tugend (virtus) ist aber nicht nur Ursache und Maßstab der Freundschaft, sondern zugleich ein politischer Kampfbegriff, der nicht nur die politische Elite vom Rest der Gesellschaft trennt, sondern innerhalb der politischen Elite eine Grenzlinie zieht: Wer untugendhaft zu seinem eigenen Vorteil agiert, verliert den Anspruch auf wahre Freundschaft und damit zugleich die Legitimität seines Machtanspruchs. Die Dreiteilung von Freundschaft in Lust-, Nutzen- und Tugendfreundschaft führt somit nicht nur terminologische Differenzierungen ein, sondern Scheidelinien im Kampf um die Vorherrschaft in der res publica. 148

Niemals, so Laelius, dürfe man vom Freund Untugendhaftes verlangen oder dem Freund nachgeben, wenn er Untugendhaftes verlange. Das Streben nach Tugend und das Erleben der Tugend im alter ego des Freundes bilden somit den Kern wahrer Freundschaft. Sie sind ein äußerst kostbares, aber auch seltenes Gut, weil Rom von Nutzenfreundschaften beherrscht wird, die sich den Staat zur Beute machen. Gegen diese Realität der politischen Freundschaft ist die von Laelius vorgetragene Konzeption der Tugend als Voraussetzung jeder wahren Freundschaft gerichtet. Die Konzeption von Freundschaft als vollkommene Übereinstimmung in allen menschlichen und göttlichen Dingen ist deshalb auch nicht privatistisch, sondern zutiefst politisch. Tugend ist nicht nur die zentrale Voraussetzung für den Bestand der Freundschaft, sondern auch für den Bestand des Staates als Republik.

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VI. Aelred von Rievaulx:

De spiritali amicitia

Anders als im Falle Ciceros, bei dem sich die Frage, ob und in welcher Weise er auf Platon rekurriert, nur mittelbar im Hinblick auf die Funktion der dialogischen Form beantworten lässt, ist bei Aelred von Rievaulx klar, dass Ciceros Laelius de amicitia der zentrale Bezugspunkt seines Gesprächs über die geistliche Freundschaft ist. Der Prolog benennt das Thema des Buches und begründet seine Abfassung mit Aelreds früher Begeisterung für Ciceros Freundschaftsdialog.1 Bereits als Schüler, so Aelred, habe er Ciceros Schrift kennengelernt und sei von ihr tief beeindruckt gewesen. Zuvor zwischen unterschiedlichen Verliebtheiten und Freundschaften hin und her flatternd (inter diversos amores et amicitias fluctuans), habe ihm Ciceros Laelius eine anspruchsvollere ethische Orientierung für das Eingehen von Freundschaftsbindungen vermittelt, mit deren Hilfe er die »vielen Umwege seiner Neigungen und Gefühle« (Prolog, 3) überwunden habe. Freilich bleibt diese Bezugnahme nicht gänzlich ungebrochen, denn unmittelbar im Anschluss an sein Lob Ciceros erzählt Aelred, dass Gott ihm den Weg ins Kloster gewiesen habe. Seit er dort die Süße der Heiligen Schrift geschmeckt habe (sacra Scriptura dulcesceret; Prolog, 4), sei ihm die Weisheit der Welt schal und nichts mehr köstlich vorgekommen, was nicht vom honigsüßen Namen Jesu versüßt und vom Salz der Heiligen Schrift gewürzt worden sei. Auf das Lob der Cicero’schen Freundschaftskonzeption folgt also eine unmittelbare Distanzierung, indem Aelred sie als 1 Zum Prolog vgl. McEvoy, Notes on the Prologue; Rener, Ein Humanist, S. 400 – 403.

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»Weisheit der Welt« abtut und ihr den unendlich höheren Wert der Heiligen Schrift entgegenstellt. Aelred verknüpft seine Erzählung von der Rolle Ciceros für sein Leben also mit einem doppelten Konversionsnarrativ: Zuerst habe ihn Cicero von der Sucht nach falschen Freundschaften befreit, und dann habe ihm der Herr den Weg ins Kloster gewiesen. Dieses zweite Konversionsnarrativ, das seinen Übertritt vom weltlichen ins monastische Leben beschreibt, verbindet Aelred mit der Bibellektüre, die ihm eine neue Art der Erfahrung vermittelt, die er als »Süße«, als »Honig« und als »Salz« beschreibt und damit als eine durchaus sinnliche Erfahrung ins Spiel bringt. Die Vorstellungen vom Schmecken der Heiligen Schrift und der ihr gegenübergestellten Schalheit, die er im Vergleich für die »Weisheit der Welt« konstatiert, sind nicht einfach nur metaphorische Ausdrücke für Weltabgewandtheit oder Weltverhaftetheit, sondern markieren eine elementare sinnliche Erfahrung, die das Klosterleben nicht als ein Leben jenseits von Sinnlichkeit versteht, sondern als ein Leben mit einer sublimeren sinnlichen Erfahrung, welche die Bibel vermittelt. Aelred orientiert sich mit diesem Konversionsnarrativ an Augustinus’ Confessiones.2 Anders als Cicero lieferte Augustinus für Aelred jedoch keine Freundschaftskonzeption, an die er positiv anschließen konnte, sondern das Vorbild für die Ablehnung der in seinen Augen falschen, von jugendlichem Leichtsinn, Gefallsucht und homoerotischen Neigungen geprägten Freundschaften, die in der geistlichen Freundschaft überwunden sind.3

2 Zur Transformation der Semantik von Confessio in der Patristik und der lateinischen Traktatliteratur des 12. Jahrhunderts vgl. Jussen, Confessio. 3 Augustinus war neben Cicero und Ambrosius einer der wichtigen Bezugspunkte für Aelred. In seinen Speculum caritatis zitierte er ihn teilweise nahezu wörtlich. Vgl. De speculum caritatis 1,28 (CCM 1,47) und Augustinus, Confessiones 8,11. Für Augustinus selbst war Cicero kaum

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Das impliziert bei Aelred freilich nur einen vorübergehenden Abschied von Cicero. Gleich im Anschluss an das Lob der Bibellektüre beschreibt er sein Ziel, Bibel und Weltweisheit in Bezug auf die Freundschaft miteinander zu versöhnen: Aber wieder und wieder kam ich darauf zurück, wie die Gedanken der Freundschaft mit der Autorität der Heiligen Schrift untermauert werden könnten (Prolog, 5).4 Nimmt man dies als Selbstbeschreibung ernst, so hat man den Eindruck, die Heilige Schrift vermittle für Aelred keine hinreichende Konzeption von geistlicher Freundschaft und enthalte auch keine Definition, die geeignet wäre, die Cicero’sche zu überwinden. Der Bibel gedachte Aelred die Funktion zu, Ciceros Konzeption von Freundschaft zu untermauern und zu erhöhen, nicht sie abzulösen. Die Formulierung dieses Ziels und seine Verknüpfung mit einem Konversionsnarrativ verweisen aber darauf, dass die Übernahme der Cicero’schen Freundschaftskonzeption in die Welt des Klosters keineswegs unproblematisch, sondern in hohem Maße begründungsbedürftig war. Auch wenn Ciceros Laelius im 12. Jahrhundert zur universitären Lehre

anschlussfähig. Vgl. McDonie, Friendship and Rhetoric, S. 43 f. sowie 50 – 60. 4 Die Zitate aus Aelred folgen in der Regel der deutschen Übersetzung in der lateinisch-deutschen Ausgabe von Rhaban Haacke, deren lateinischer Text auf die Ausgabe Anselm Hostes zurückgeht. Die Nummerierung folgt der üblichen Stellenzählung nach Büchern (mit römischen Zahlen) und Abschnitten (mit arabischen Zahlen). Gelegentlich weiche ich von dieser Übersetzung ab und greife auf die Übersetzung Moses Hamms in der von Wolfgang Buchmüller edierten einsprachigen Ausgabe zurück oder verwende meine eigene Übersetzung, was dann jeweils mit den entsprechenden Kürzeln (MH oder MM) kenntlich gemacht ist.

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gehörte, bedeutete das nicht, dass sich sein Freundschaftskonzept ohne Weiteres ins Kloster übertragen ließ.5 Die von Cicero ins Zentrum gestellte Tugend genügte den monastischen Ansprüchen nicht, denn das Kloster war kein Ort der Freundschaft, sondern der Brüderlichkeit, die überdies auf einen Vater ausgerichtet war.6 Wenn Aelred im Allgemeinen als zentraler Baustein für die Übernahme von Ciceros Freundschaftskonzeption in die mittelalterliche Kultur gilt, so ist dies in doppelter Hinsicht einzuschränken: Die Übernahme in die monastische Kultur kann nicht mit der Übernahme in die weltliche Kultur des Mittelalters gleichgesetzt werden, und der Freundschaftsbegriff der mittelalterlichen Kultur lässt sich keineswegs grundsätzlich auf Cicero zurückbeziehen.7

5 Vgl. Delhaye, L’enseignement de la philosophie morale, S. 83 f., der sich auf eine Alexander Neckam zugeschriebene Leseliste der Pariser Universität vom Ende des 12. Jahrhunderts bezieht, in der Ciceros Laelius genannt wird, sowie auf Konrads von Hirsau Dialogus super auctores, der ihn ebenfalls erwähnt. 6 Zur Problematik des Rückgriffs auf Cicero aus christlicher Perspektive und zur Transformation von Ciceros Freundschaftsbegriff bei Aelred vgl. Haseldine, Friendship, Equality, bes. S. 193 – 195. 7 Die Bedeutung Ciceros für mittelalterliche Freundschaftskonzeptionen, und zwar sowohl weltliche als auch geistliche, ist in der Forschung immer wieder hervorgehoben worden. Vgl. Ziolkowski, Twelfth-Century Understandings, S. 61 – 62; Jaeger, The Envy of Angels, S. 70 – 73 und 103 – 106; siehe auch ders., Ennobling Love, S. 29. Dabei ist m. E. nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass die Differenzen zwischen beiden Konzeptionen erheblich sind und Cicero teilweise sehr selektiv gelesen worden ist. Häufig wird ein Einfluss von Cicero auch dort unterstellt, wo lediglich eine emphatische Sprache der Freundschaft gepflegt wird. Ciceros Einfluss unter diesem rhetorisch-phatischen Aspekt betont auch McDonie, Friendship and Rhetoric, S. 2 – 5, der ansonsten aber sehr viel vorsichtiger argumentiert und die Schwierigkeiten der Rezeption von Ciceros Freundschaftskonzeption am Beispiel von Augustinus (vgl. S. 50 – 60) sehr deutlich macht.

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Die Semantik von amicitia im Mittelalter Wie Verena Epp in ihrer Studie zur amicitia im frühen Mittelalter gezeigt hat, wurde der Begriff für vier unterschiedliche Beziehungsverhältnisse eingesetzt: die persönliche Freundschaft, die Klientel- bzw. Gefolgschaftsbeziehung, das außenpolitische Bündnis sowie die geistliche Verbindung der Christen untereinander und mit Gott.8 Nach ihrer These wurde amicitia als eine wechselseitig bindende Verpflichtung verstanden, die sowohl eine vertragliche als auch eine affektive Bindung bezeichnen konnte.9 Sie betont die Einheitlichkeit dieser Aspekte und definiert amicitia für das Frühmittelalter als »eine wechselseitige, wertbezogene und moralisch bindende Verpflichtung […], die von zwei oder mehreren Partnern  – Individuen oder Kollektiven  – geschlossen wird, affektive und kontraktuelle Elemente enthält und sich in gegenseitigen Diensten äußert«.10 Aufschlussreich ist in diesem Kontext die Verknüpfung von vertraglichen und affektiven Aspekten als konstitutiv für die mittelalterliche Konzeption der amicitia. Auch wenn sie ein politisches Bündnis bezeichnet, wird amicitia mit Gesten, Zeichen und Ritualen affektiver Bindung verbunden.11 Dominant war diese Verknüpfung in der laikalen ritterlichen und höfischen Welt sowie im Weltklerus; für die monastische Welt waren solche Freundschaftskonzeptionen dagegen sehr viel weniger anschlussfähig. Mit der Institutionalisierung des Mönchtums in Europa wurde die Semantik von Freundschaft im monastischen 8 Vgl. Epp, Amicitia, S. 11 – 24. Epp orientiert sich bei der Thematisierung von Freundschaft als Semantik von Verwandtschafts-, Gefolgschaftsund Bündnisbeziehungen im Mittelalter an Gerd Althoff, der sie eingehend erforscht hat. Vgl. Althoff, Verwandte, Freunde, Getreue. 9 Vgl. Epp, Amicitia, S. 84 f. und 299. 10 Ebd., 299. 11 Vgl. Münkler / Standke, Freundschaftszeichen, bes. S. 11 – 15.

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Kontext weitgehend von der Semantik der Bruderschaft und der Brüderlichkeit verdrängt. Freundschaft wurde im frühen Mönchtum, wie aus verschiedenen Ordensregeln hervorgeht, häufig als Überrest weltlicher Bindungen begriffen, die den im Kloster geforderten ausschließlichen Bezug auf Transzendenz gefährdete. Insbesondere Johannes Cassianus, der Begründer des westeuropäischen Mönchtums, stand der Freundschaft, die er als potentielle Ursache von Zwietracht unter den Brüdern betrachtete, ausgesprochen kritisch gegenüber.12 Im 12. Jahrhundert wurde jedoch auch im monastischen Kontext Freundschaft als wechselseitiger Bezug unter den Menschen verstanden, bei dem Gott als Ursache und Garant aller Freundschaft die innige Verbundenheit mit einem anderen Menschen schützte und überhöhte.13 Diese Entwicklung hängt mit mystischen Vorstellungen von der unio durch Liebe und seelische Verbundenheit (cor unum et anima una) zusammen.14 Dabei wird Freundschaft zu einem inklusiven wie exklusiven Begriff, der die Nähe zu einem anderen Menschen mit der Gottesnähe verknüpft. Die daraus resultierende Freundschaft ist freilich nur für die Tugendhaften erreichbar, was innerhalb der monastischen Kultur als Engführung auf diejenigen verstanden wurde, die sich der klösterlichen Observanz unterworfen hatten.

12 Vgl. McDonie, Friendship and Rhetoric, S. 43 f. und 59 f.; McEvoy, Theory of Friendship, S. 19 f.; McGuire, Friendship and Community, bes. S. 134 – 179. 13 Vgl. Haseldine, Monastic Friendship; ders., Friendship, Equality. 14 Die Vorstellung, die Brüder sollten »cor unum et anima una« sein, ist ein zentraler Gedanke der Zisterzienserregel, aber auch anderer monastischer Regeln. Vgl. Martin, Augustine and the Politics of Monasticism.

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Die Makrostuktur des Dialogs Aelreds De spiritali amicitia setzt sich nach dem Prolog aus drei Dialogen zusammen, nämlich dem ersten mit seinem engen Freund Ivo und sodann zwei weiteren mit den noch jungen Mönchen Walter und Gratian, die einige Zeit nach Ivos Tod stattfinden.15 Dementsprechend sind die Gewichte unter den Gesprächsteilnehmern sehr unterschiedlich verteilt. Während im ersten Gespräch Ivo einen relativ großen Anteil hat, beschränken sich Walter und Gratian in den beiden nachfolgenden Gesprächen darauf, um Belehrung zu bitten und Nachfragen zu stellen, die aber durchaus kritisch sein können. Die thematische Makrostruktur der drei Dialogteile expliziert Aelred bereits im Prolog: Der erste Teil erläutere, was Freundschaft sei und woraus sie entspringe, der zweite thematisiere ihren Segen und ihre Schönheit, d. h. ihren Wert für den Menschen, und der dritte erörtere die Frage, welche Voraussetzungen Menschen erfüllen müssen, um vollkommene Freundschaft bis zum Lebensende zu erleben. Diese Explikation der Dialogstruktur ist allerdings sehr grob und unterschlägt wichtige Aspekte des Dialogs, wie etwa die langen Abschnitte, in denen Aelred von seinen eigenen Freundschaftserfahrungen erzählt, die sich insbesondere im dritten Dialog finden. Wie aus einer ebenfalls überlieferten Schedula de amicitia spiritalis hervorgeht, hat Aelred offenbar in Vorbereitung auf die Abfassung des Dialogs einen traktatartigen Entwurf angefertigt, der die zentralen Aspekte bereits behandelt, teilweise aber anders gegliedert ist.16 Nach dem einleitenden Prolog spricht Aelred zunächst mit Ivo; einige Zeit später mit Walter und Gratian im Wech15 Zur Funktion des Dialogs im monastischen Diskurs vgl. Breitenstein, »Ins Gespräch gebracht«. 16 Vgl. dazu Hoste, First Draft; Dartmann, Stilisierung und Selbstaussage, bes. S. 297 – 302.

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sel von Frage und Antwort über den Ursprung sowie das Wesen und die Funktion der geistlichen Freundschaft; dabei übernimmt er die Rolle des unterweisenden Lehrers. Nichtsdestoweniger zeigt sich Aelred stets bescheiden, geht geduldig auf die Nachfragen seiner Gesprächspartner ein und versucht, sie von seiner Vorstellung von Freundschaft zu überzeugen, indem er ihnen anhand zahlreicher Beispiele aus der Bibel und von Ambrosius, Hieronymus und Augustinus zeigt, dass Ciceros Bestimmung mit den Ansprüchen des Klosters vereinbar ist, und indem er zugleich unter Rückgriff auf seine eigenen Erfahrungen demonstriert, wie dauerhafte Freundschaftsbeziehungen gelingen können.

Die Mesostruktur und die Sequenzmuster des Dialogs Das erste Gespräch über Freundschaft Das erste Buch umfasst das Gespräch zwischen Aelred und seinem jüngeren Mitbruder Ivo, der wissbegierig fragt, Überzeugungen äußert und von Aelred belehrt wird. Das Gespräch findet jenseits der Versammlung der Brüder an einer abgelegenen Stelle des Klosters statt – es ist also kein öffentliches, sondern ein privates Gespräch. Man kann es auch als quasi-privat bezeichnen, weil es hier als ein Modus der Entwicklung von Argumenten eingesetzt wird, durch den der Leser in den Kreis der Gesprächspartner und damit in ihr Denken eingeführt wird.17 Die Absentierung Aelreds und Ivos von der Gruppe der anderen Brüder wird ausführlich begründet: Aelred hat in ihrer Gemeinschaft den Eindruck gewonnen, dass Ivo ihn gerne etwas fragen möchte, sich in Anwesenheit der anderen aber nicht traut, die Frage an ihn zu richten (I, 2). Schon dieser narrative Auftakt beleuchtet ei17 Zum Aspekt der literarischen Stilisierung des Dialogs vgl. Dartmann, Stilisierung und Selbstaussage.

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nen Aspekt von Freundschaft: Die Aufmerksamkeit für den anderen sowie seine Wünsche und Sorgen, die zum Anstoß für die Vertraulichkeit des Gesprächs wird, ist ein Beispiel für die innere Anteilnahme am anderen. Ivo ist also offenbar bereits Aelreds Freund; die Grundlage des Dialogs über das Wesen der Freundschaft ist demnach die schon bestehende Freundschaft zwischen ihnen. Aelred eröffnet das Gespräch mit dem Hinweis, nun seien sie beide allein, nur Christus, so hoffe er, sei als Dritter bei ihnen. Ivo solle nun die Gelegenheit nutzen, sein Herz zu öffnen und die Ohren seines Freundes alles hören zu lassen (I,1). Ivo drückt seine Freude darüber aus, dass Aelred durch den Geist der Liebe (spiritus caritatis) seinen Herzenswunsch erkannt habe, und bittet darum, ihn immer allein sprechen zu dürfen, wenn er seine Söhne (filios tuos) besuche, damit er ungestört vorbringen könne, was ihm auf der Seele brenne (I, 3). Aelred sagt ihm dies gerne zu und zeigt sich erfreut davon, dass Ivo sich nicht mit eitlen und unnützen Dingen beschäftigen wolle. Er könne gerne mit ihm sprechen und alle Sorgen und Pläne teilen, gleich ob er lehre oder lerne, gebe oder empfange (I,4). Ivo betont, dass er ausschließlich lernen und empfangen wolle, wie es seiner Jugend zukomme, seine Unerfahrenheit erfordere und sein Gelübde ihn mahne (I,5). Nach diesen phatischen Anteilen des Gesprächs, die aus wechselseitigem Lob und der Anhäufung von Bescheidenheitstopoi bestehen, bittet Ivo Aelred, ihm die geistliche Freundschaft zu erläutern (de spiritali amicitia doceas); was sie sei, welchen Nutzen sie habe, was ihre Ursache, was ihr Ziel (finis) sei, ob sie zwischen allen bestehen könne und, wenn nicht zwischen allen, zwischen wem sie dann bestehen könne, wie sie zu erhalten sei und ob sie ohne den Verdruss der Zwietracht (dissensionis molestia) bis zum heiligen Ende (sancto fine) bestehen könne (I, 5). Mit dieser Fragenkaskade gibt Ivo nicht nur die thematische Fokussierung, sondern auch den Verlauf und die Struktur des Gesprächs vor. Die Belehrung wird damit aus dem Frageinteresse des 158

den abgeleitet, der aber bereits sehr präzise vorherbestimmt, welche Aspekte er für relevant hält, womit er bereits ein Gerüst für den Dialog formuliert. Aelred geht auf diese Festlegung freilich nicht ein, sondern drückt seine Verwunderung über die Bitte aus, da doch die vortrefflichsten Lehrer der Antike dieses Thema gründlich behandelt hätten, zumal Ciceros Buch De amicitia in glänzendem Stil eine Reihe von Gesetzen und Vorschriften für die Freundschaft aufgestellt habe, das Ivo doch schon in seiner Kindheit gelesen habe (I, 6). Ivo reagiert auf diesen Gesprächsschritt, der den Dialog beenden könnte, bevor er thematisch begonnen hat, indem er ganz wie Aelred in seinem Prolog berichtet, dass ihm Ciceros Buch freilich bekannt sei und ihm zeitweise sehr gefallen habe. Doch seit die Honigwaben der Heiligen Schrift ihm von ihrer Süße eingeträufelt hätten und der honigfließende Name Christi seine ganz Liebe in Anspruch genommen habe, schmecke ihm nichts mehr – auch wenn es noch so scharfsinnig gedacht sei  –, was nicht vom Salz himmlischer Schriften gewürzt und von dem heiligen Namen Christi gesüßt sei. Er wolle, dass alles, was darin zu lesen sei und der Vernunft entspreche, von der Heiligen Schrift gestützt werde (I, 7). Nach diesem Gesprächsschritt, der noch einmal die Distanz gegenüber Cicero herausstellt, präzisiert er seine Frage nach der geistlichen Freundschaft dahingehend, dass er gründlich darüber belehrt werden wolle, wie sie in Christus beginne (in Christo inchoetur), in Christus bewahrt werde (secundum Christum servetur)18 und wie ihr Zweck und Nutzen sich auf Christus richte. Was sich mit der Emphase auf Christus bereits angedeutet hat, präzisiert Ivo anschließend zu einem zentralen Einwand: Cicero könne die Tugend der wahren Freundschaft nicht gekannt haben, 18 Die Edition von Hoste übernimmt die Schreibung der Handschriften, in denen »v« häufig als »u« geschrieben wird. Wegen des Irritationspotentials habe ich das stillschweigend korrigiert.

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weil ihm Christus, ihr Ursprung und ihr Ziel (principium finemque) unbekannt gewesen seien (I, 8). Auf diesen scharf formulierten Einwand geht Aelred zunächst nicht ein, sondern weist Ivos Wunsch, ihn zu belehren, mit topischer Bescheidenheit zurück, indem er erklärt, mit seinen Fragen habe Ivo ihnen beiden den Weg gewiesen und sie sollten deshalb gemeinsam überlegen (I, 9). Aelred begibt sich damit scheinbar aus der Rolle des Lehrenden in die des Belehrten und wendet Ivos Frage, wie die Freundschaft in Christus beginne, aufrechterhalten und vollendet werde, in ein pathetisches Lob: Was könne man Schöneres, Wahreres und Heilsameres über die Freundschaft sagen, als dass sie in Christus beginne, in ihm ihren Fortgang und ihre Vollendung erhalte (I, 10)? Unvermittelt kommt Aelred danach auf Cicero zurück und fragt Ivo, ob ihm denn nicht Ciceros Definition genüge, Freundschaft sei die mit Liebe und Wohlwollen verbundene Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen (I, 11)? Auf diese Frage antwortet Ivo sehr knapp, wenn sie Aelred genüge, wolle auch er damit zufrieden sein (I, 12). Aelred paraphrasiert Ciceros Definition daraufhin noch einmal und fragt nach, ob dies die Definition vollkommener Freundschaft sei (I, 13). Ivo äußert zunächst, er wolle dem nicht widersprechen, wendet dann aber ein, ihm sei nicht klar, was jener Heide (ethnicus ille) mit Liebe (caritas) und Wohlwollen (benevolentia) gemeint habe (I, 14). Mit dem Rückbezug auf Cicero gerät der Dialog ins Stocken; Ivo antwortet zunächst einsilbig mit einer offenkundig widerwilligen Zustimmung, die auch von Aelreds nochmaliger Ausführung über Ciceros Freundschaftsdefinition nicht überwunden werden kann. Sie bewegt Ivo lediglich zu einer Höflichkeitsformel, auf die mit der Bezeichnung Ciceros als »jener Heide« eine scharfe Distanzierung erfolgt: Er verstehe nicht, was dieser mit Liebe (caritas) und Wohlwollen (benevolentia) gemeint habe. Hier wird explizit deutlich, was sich bereits im Prolog, sodann in Ivos daran anschließender Erzählung, nach der Lektüre der Heiligen Schrift sei ihm 160

die Weisheit der Welt schal vorgekommen, sowie in dessen Vorgabe für den Gesprächsverlauf und die abzuarbeitenden Fragen gezeigt hat: Die Übernahme von Ciceros Definition der Freundschaft ins Kloster ist kein unproblematischer Akt, sondern bedarf einer sorgfältigen Begründung. Sie ist nur möglich, wenn es gelingt, die Freundschaft in Christus zu fundieren und damit über Ciceros Bestimmung deutlich hinauszugehen. Aelred reagiert auf diese missmutige Äußerung zunächst mit der Mutmaßung, vielleicht habe Cicero mit Liebe die Neigung des Herzens (caritatis mentis affectum), mit Wohlwollen die Verwirklichung im Tun (operum expressit effectum) gemeint (I, 15). Aelred nimmt sich hier als Lehrender deutlich zurück und behauptet, nicht zu wissen, was Cicero gemeint hat, sondern lediglich Vermutungen darüber anstellen zu können. Ivo hält dennoch an seinem Einwand fest und präzisiert ihn dahingehend, wenn Aelreds Annahme zutreffe, müsse sie gleichermaßen für Heiden, Juden und auch schlechte Christen gelten; nach seiner Auffassung aber könne es wahre Freundschaft ohne Christus nicht geben (I, 16). Dieser Proposition stimmt Aelred zu, verweist aber auf den weiteren Verlauf des Gesprächs, in dem sich noch klären werde, ob Ciceros Definition hinreichend sei, auch wenn sie Ivo unvollkommen erscheine (I, 17). Ivo insistiert darauf, dass die Definition nicht genüge, lenkt aber dann mit den Worten ein, er wolle Aelred nicht molestieren (I, 18). Der Dialog zeichnet sich in diesem Teil durch erhebliche Spannungen zwischen den Gesprächspartnern aus, die auch durch die Bescheidenheits- und Höflichkeitstopoi nur oberflächlich abgemildert werden.19 Faktisch bleibt bis zu diesem Punkt der Gegensatz zwischen Aelreds und Ivos Einschätzung bestehen: Während Aelred der Überzeugung ist, Cicero 19 Zu den Spannungen im Dialog vgl. Kunzmann, Aelred von Rievaulx, S. 241.

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sei mit einer geistlichen Freundschaftskonzeption vereinbar, meldet Ivo daran erhebliche Zweifel an, die er auch nicht rasch aufgibt. Durch die Rollenverteilung zwischen Aelred und Ivo wird klar, dass das von Aelred im Prolog angekündigte Ziel, Ciceros Auffassung mit der ganz auf Christus ausgerichteten Konzeption der geistlichen Freundschaft zu verknüpfen, anfechtbar und die angestrebte Verbindung alles andere als selbstverständlich ist. Aelred hebt dann erstmals zu einer längeren Erklärung an, die den Übergang von einem Definitionsdialog, in dem beide Dialogpartner miteinander ringen, zu einem Lehrdialog markiert, in dem durch die Verteilung der Gesprächsanteile zunehmend deutlich wird, dass Aelred in die Position des Lehrenden und Ivo in die Position des Belehrten wechselt. Amicus, so führt Aelred aus, leite sich von amor ab und amicitia von amicus. Amor sei ein gewisser Antrieb der vernunftbegabten Seele (quidam animae rationalis affectus), der diese etwas sehnsüchtig begehren lasse, um es genießen zu können. Der Genuss sei mit einem inneren Gefühl der Süßigkeit verbunden. Diesen Antrieb habe er in seinem Speculum caritatis beschrieben, das Ivo ja kenne (I, 19). Der Freund sei außerdem der Schützer der Liebe, weil er Geheimnisse treulich hüte, alle Fehler ertrage und zu bessern helfe, sich mit dem Fröhlichen freue, mit dem Weinenden weine und als seine eigene Sache empfinde, was des Freundes sei (I, 20). Freundschaft sei demzufolge die Tugend, die zwei Seelen durch das Band der Liebe und des Wohlgefallens so fest verknüpfe, dass aus zweien eins werde (unum de pluribus). Deshalb hätten auch die weltlichen Philosophen die Freundschaft nicht als vergängliche Erscheinung betrachtet, sondern zu den ewigen Tugenden gerechnet. Mit ihnen stimme Salomon überein (Spr. 17,17), wenn er sage: »Allzeit liebt derjenige, der ein Freund ist« (omni tempore diligit qui amicus est) (I, 21). Trotz der Bekräftigung dieser Ausführungen durch das Salomon-Zitat zeigt sich Ivo von der Ewigkeit wahrer Freundschaft nicht überzeugt und fragt nach, wie es dann aber sein 162

könne, dass man lese, zwischen besten Freunden sei erbitterte Feindschaft entstanden (I, 22). Dieser Einwand bewegt sich auf einer anderen Ebene als die in Frage stehende Fundierung der Freundschaft in Christus. Er verweist eher auf das Wissen um die Brüchigkeit von Freundschaften und damit bereits auf die Differenzierung unterschiedlicher Typen von Freundschaft, die sich nicht zuletzt anhand ihrer Stabilität oder Instabilität unterscheiden lassen. Aelred verschiebt diese Frage auf später und bittet Ivo fürs Erste festzuhalten, dass ein Mensch, der seinen Freund kränke, niemals ein echter Freund gewesen sei und dass umgekehrt der Gekränkte niemals die wahre Freundschaft erkannt habe, wenn er wegen einer Kränkung aufhöre, seinen Freund zu lieben (I, 23). Denn gleich, was geschehe, ob der Freund ihn tadele, kränke, den Flammen übergebe oder ans Kreuz schlage, alle Zeit liebe, wer ein Freund sei, wie auch Hieronymus bestätigt habe, wenn er sage, Freundschaft, die aufhöre zu bestehen, sei niemals wahre Freundschaft gewesen (I, 24).20 Ivo entgegnet darauf, wenn Freundschaft eine solche Vollkommenheit verlange, wundere es ihn nicht, dass die Alten so wenige als wahre Freunde betrachtet hätten und Cicero kaum mehr als drei oder vier Freundespaare habe nennen können. Er frage sich freilich, ob es auch in christlicher Zeit so wenige Freunde gebe, denn dann mühe er sich vergeblich. Ihre wunderbare Erhabenheit sei abschreckend (I, 25). Auf diesen erneuten, nun aber vom gegenteiligen Aspekt ausgehenden Einwand hin, nämlich dem allzu hohen Anspruch an wahre Freundschaft, hebt Aelred erneut zu einer längeren Ausführung an: Zunächst gibt er zu bedenken, auch der Versuch, Großes zu erreichen, sei groß. Deshalb sei es nicht geringzuschätzen, wenn einer die Tugend kenne, aber wisse, dass er noch weit von ihr entfernt sei (I, 26). Anschließend führt er aus, ein Christ dürfe nie verzweifeln und annehmen, er könne solche Tugend nicht erlangen, denn täg20 Hieronymus, Epistola 3,6.

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lich klinge die Stimme Gottes aus dem Evangelium in sein Ohr mit dem Versprechen, »bittet, und ihr werdet empfangen« (Mt 7,7; Joh 16,24). Es sei also kein Wunder, wenn die Heiden so selten die Tugend erlangten, denn sie würden den Herrn nicht kennen, von dem geschrieben stehe: »Dominus virtutem ipse est Rex gloriae« (Ps 23,10/Vulgata) (I, 27). Unter denjenigen aber, die dem Herrn nachfolgten, könne er ihm nicht drei oder vier, sondern tausend und mehr Freundespaare zeigen, die bereit gewesen seien, füreinander zu sterben. All jene, von denen die Heilige Schrift berichte, die Menge der Gläubigen sei ein Herz und eine Seele gewesen (Apg 4,32), verwirklichten Ciceros Definition der wahren Tugendfreundschaft (I, 28). Oder solle nicht die höchste Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen zwischen denjenigen geherrscht haben, die ein Herz und eine Seele waren? Wie viele Märtyrer hätten ihr eigenes Leben für ihre Brüder gegeben? Wie viele habe es gegeben, die weder Geld noch Mühe noch Folter gescheut hätten? Und er habe doch wohl mehr als einmal und nicht ohne Tränen der Rührung von dem antiochischen Mädchen gelesen, das von einem Soldaten aus einem Bordell befreit worden sei und in ihm einen Gefährten des Martyriums gefunden habe (I, 29). Wenn ihn nicht die vorgerückte Stunde daran hindere, könne er zahllose solcher Beispiele nennen, die Christus selbst mit den Worten angekündigt habe, eine größere Liebe habe niemand, als wer sein Leben hingebe für seine Freunde (I, 30). Aelreds lange Ausführung über die Freundschaft unter Christen, die – anders als bei Cicero – kein Seltenheitsphänomen sei, und der Bezug auf die Märtyrer veranlassen Ivo zu der rhetorischen Frage, dass es dann wohl keinen Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft gebe (I, 31). Dem widerspricht Aelred jedoch entschieden und entgegnet, zwischen Freundschaft und Liebe gebe es einen gewaltigen Unterschied. Nach Gottes Willen müsse man mehr Menschen lieben, als man Freunde habe, denn lieben müsse man auch seine Feinde. Freunde nenne man jedoch nur diejenigen, denen 164

man alles anvertrauen könne, denn mit ihnen sei man durch das gleiche Gesetz des Glaubens und der Hilfe verbunden (I, 32). Aelred definiert an dieser Stelle Freundschaft als freiwilliges Reziprozitäts- und Vertrauensverhältnis im Gegensatz zur Liebe, die nicht Reziprozität, sondern Pflicht impliziert. Ivo wendet dagegen ein, viele seien durch ihr Lasterleben miteinander verbunden und genössen neben den vergänglichen Freuden der Welt auch das süße Band solcher Freundschaft (I, 33). Ivo greift damit erneut auf ein Erfahrungselement zurück, von dem aus er Aelreds anspruchsvolle Freundschaftskonzeption beurteilt. Insgesamt kritisiert er Ciceros Freundschaftskonzeption aus drei Richtungen: Einerseits sei sie ethisch-theologisch wertlos, weil sie nicht in Christus fundiert sei, andererseits sei sie ethisch zu anspruchsvoll, um praktikabel zu sein, und drittens lehre die Erfahrung, dass Freundschaft von vielen reklamiert werde, die einem solchen Anspruch keineswegs genügten. Letzterer Einwand bezieht sich auf den üblichen Wortgebrauch, also die allgemein gepflegte Semantik von Freundschaft, die mit einem ethisch anspruchsvollen Begriff nicht übereinstimmt. Aelred reagiert auf diesen Einwand Ivos mit einer längeren Ausführung, in der er in impliziter Anlehnung an Cicero drei Arten der Freundschaft voneinander unterscheidet: Diejenigen, die Laster teilten, eigneten sich fälschlicherweise den wohlklingenden Namen der Freundschaft an, denn weil sie die Sünde liebten, könnten sie sich selbst nicht lieben und damit auch keinen anderen Menschen (I, 35). Die Trennung von Freundschaft und Liebe sei durch den Sündenfall entstanden, denn mit der Sünde sei die Begierde in die Welt gekommen und habe den reinen Glanz von Liebe und Freundschaft verdunkelt.21 Dann aber hätten die guten Menschen gelernt, zwischen Liebe und Freundschaft zu unterscheiden (I, 36). 21 Zur Affektenlehre bei Aelred und zur Verbindung von memoria, ratio und amor vor dem Sündenfall vgl. Buchmüller, Affectus und memoria, S. 203 – 207.

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Die Schlechten hätten sich das Gebot der Freundschaft jedoch ebenfalls angeeignet, denn als vernunftbegabten Menschen sei ihnen eine Sehnsucht nach Gemeinsamkeit geblieben. Sie hätten nur abscheuliche Bünde (foedera detestanda) geschlossen, aber ihnen den glanzvollen Namen der Freundschaft verliehen. Solche Menschen wollten allein den Ruhm der Freundschaft genießen und sich selbst täuschen. In einer Freundschaft, die durch die Begierde besudelt, durch den Geiz verunstaltet und durch die Ausschweifung entstellt sei, könne es keine wahre Freude geben. Von daher könne man sich leicht denken, wie viel mehr Freude wahre Freundschaft zu bieten habe (I, 36). Wegen gewisser Ähnlichkeiten in den Gefühlsäußerungen dürfe man es jedoch zulassen, sie Freundschaften zu nennen, auch wenn sie keine wahren Freundschaften seien (I, 37). Es gebe demnach drei Arten der Freundschaft (amicitia): eine fleischliche (carnalis), eine weltliche (mundialis) und eine geistige (spiritalis). Die fleischliche resultiere aus der gemeinsamen Lasterhaftigkeit (vitiorum consensus), die weltliche aus der Hoffnung auf Gewinn, die geistige aus gleicher Lebensart, Sittlichkeit und Strebsamkeit (I, 38). Die fleischliche Freundschaft (amicitia carnalis) erwachse aus dem Gefühl der Leidenschaft (ab affectione); sie werfe sich wie eine »Dirne« (meretrix) jedem Vorbeigehenden an den Hals, weil sie Augen und Ohren überall schweifen lasse. So drängen Bilder schöner Körper und wollüstige Dinge in die Seele, die schließlich als das Glück erschienen, das man ungehemmt genießen wolle, was man gemeinsam mit einem Freund umso besser könne (I, 39). Eine Seele entzünde die andere, aber was aus diesem traurigen Bund entstehe, sei nichts anderes als Sünde und Schande vor Gott. Da beide Gleiches wollten und Gleiches nicht wollten, meinten sie, das Gesetz der Freundschaft zu erfüllen (I, 40). Eine solche Freundschaft werde weder überlegt geschlossen, noch könne sie gebilligt werden, und kein noch so verständiger Mann könne sie zügeln. Sie gebe jedem Trieb nach, lasse sich 166

reißen, kenne weder Maß noch Anstand, sei leichtsinnig und hemmungslos und ebenso schnell wieder beendet, wie sie geschlossen worden sei (I, 41). Die weltliche Freundschaft (amicitia munidalis) beruhe auf der Gier nach Gütern und Schätzen; sie sei voll von Trug und Täuschung, unbeständig (I, 42) und halte insbesondere nicht in Notlagen, wie schon das Buch Sirach (Sir. 8) belege: »Manch einer ist nur Freund auf Zeit und nicht am Tage der Not« (I, 43). Dennoch entwickelten einige auf der Grundlage dieser lasterhaften Bindung ein gewisses Maß echter Freundschaft, weil sie gelegentlich zu einem weitgehenden und vorteilhaften Einvernehmen gelangten. Aber derlei sei keineswegs wahre Freundschaft, denn sie sei um eines Vorteils willen eingegangen worden (I, 44). Die spirituelle Freundschaft (amicitia spiritalis) dagegen sei die wahre Freundschaft, denn man wähle sie aus der Würde der eigenen Natur (ex propriae naturae dignitate) und dem Gespür des menschlichen Herzens (humani pectoris sensu) (I, 45). Das meine der Herr im Evangelium, wenn er sage, ihr sollt Früchte bringen, das heißt einander lieben (I, 46): Geistige Freundschaft ist wahrhaft die mit Wohlwollen und Liebe gepaarte Übereinstimmung in menschlichen und göttlichen Dingen. Diese Definition scheint mir genügend auszudrücken, was Freundschaft ist, wenn allerdings wir an unserem Begriff der Liebe festhalten, der alles Sündhafte ausschließt, und wenn der Begriff Wohlwollen besagt, dass das innere Gefühl der Liebe und seine süße Empfindung dem anderen zugewendet wird (I, 47). Für solche Freundschaft gelte tatsächlich »Gleiches wollen und Gleiches nicht wollen«  – umso süßer, je aufrichtiger, umso anziehender, je heiliger. Menschen, die sich so herzlich liebten, seien unfähig, etwas zu wollen, was sich nicht schicke, etwas nicht zu wollen, was sich gehöre (I, 48). Über dieser Freundschaft walte die Klugheit, throne die Gerechtig167 https://doi.org/10.5771/9783835327214

keit, wache die Tapferkeit, schwebe die Mäßigkeit. Anschließend fordert Aelred Ivo auf, ihm zu sagen, was er von dieser Definition halte (I, 49). Ivo stimmt der Definition uneingeschränkt zu, will aber noch wissen, woraus die Freundschaft bei den Menschen ursprünglich entstanden sei: aus ihrer Natur, aus einem Zufall oder aus Not? Oder habe sie sich durch ein den Menschen auferlegtes Gesetz oder Gebot entwickelt und sei dann durch Gewohnheit zu Ehren gekommen (I, 50)? Auch diese Frage veranlasst Aelred zu einer längeren Ausführung, in der er die Dreiheit der Freundschaftsgründe differenziert und erläutert. Die erste Gefühlsregung der Freundschaft habe die menschliche Natur den Sinnen eingeprägt, dann habe die Erfahrung sie gefördert und schließlich die Gesetzgebung sie verordnet. Gott sei das sich selbst genügende Gute (I, 51). Außerhalb seiner existiere nichts, er schenke das Sein und das Empfinden (I, 52). Weil er selbst die Natur sei und alles geordnet habe, habe er vorgesehen, dass alle Geschöpfe in Frieden und Einheit miteinander verbunden seien. Und so habe jedes Geschöpf eine Spur der Einheit mitbekommen (I, 53). Alles gehöre zu einer jeweiligen Gattung, die sich durch Gemeinschaft auszeichne. Wer würde da nicht leicht erraten, in welcher Art von Freundschaft und Liebe die mit Wahrnehmung begabten Geschöpfe (d. h. die Tiere) verbunden seien (I, 54). Wenngleich ihr Unverstand in allen übrigen Bereichen erkennbar sei, so folgten sie einander und spielten zusammen, so dass man meinen könne, sie praktizierten, was die Freundschaft befördere (I, 55). Auch bei den Engeln herrsche die Freundesliebe (I, 56). Dem als letztes geschaffenen Menschen habe Gott die Gemeinschaft noch stärker empfohlen, als er sprach, es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei. Mann und Frau existierten Seite an Seite, und die so gegebene Gleichrangigkeit sei auch ein Merkmal der Freundschaft (I, 57). So habe die Natur von diesem Ausgangspunkt her die Neigungen der Freundschaft und Liebe eingepflanzt. Doch mit dem Sündenfall sei die Begierde an die Stelle der Liebe getreten. Danach hätten 168

Habsucht und Neid den Glanz von Freundschaft und Liebe verdunkelt; Missgunst, Rivalität, Hass und Argwohn seien entstanden (I, 58). So hätten die Guten gelernt, Liebe und Freundschaft voneinander zu unterscheiden. Liebe solle man allen entgegenbringen, auch Feinden und Sündern, aber befreundet könne man nur mit den Guten sein, die sich durch die Wahrnehmung des Üblen noch fester zusammengeschlossen hätten (I, 59). Da die Vernunft auch in den Pflichtvergessenen nicht jeden Sinn für Tugend ausgetilgt habe, sei auch ihnen die Neigung zu Freundschaft und Geselligkeit geblieben, auch wenn es sich nicht um wahre Freundschaften handele (I, 60). Deshalb sei die Freundschaft eine naturgegebene Tugend, ähnlich wie die Weisheit (I, 61). Dagegen wendet Ivo ein, dass viele die Weisheit, auf die sie sich etwas einbildeten, missbrauchten (I, 62). Von da ab entspinnt sich eine längere Debatte über die Gleichsetzung von Weisheit und Freundschaft. Aelred macht zunächst Anleihen bei Augustinus und dessen Satz, »wer sich selbst gefällt, gefällt einem Toren«,22 um zu zeigen, dass Weisheit nicht mit Eitelkeit verknüpft werden könne (I, 63), was freilich noch kein Argument für die Gleichsetzung von Freundschaft und Weisheit ist, wie Ivo auch sogleich anmerkt (I, 64). Aelred versucht daraufhin, die Gleichsetzung durch den Vergleich zu ersetzen und so eine argumentative Brücke zu bauen: Man könne das Kleine mit dem Großen, das Schwache mit dem Starken vergleichen, weil sie, wenn auch in unterschiedlichem Grade, hinsichtlich der Tugend Ähnlichkeit besäßen. So sei etwa die Witwenschaft der Jungfräulichkeit vergleichbar (I, 65). Jungfräulichkeit, eheliche Keuschheit und Witwenschaft seien zwar nicht das Gleiche, aber doch vergleichbar. Und das gelte auch für Freundschaft und Weisheit, denn die Freundschaft sei so sehr von der Weisheit durchdrungen, dass er fast sagen wolle, Freundschaft sei Weisheit (I, 66). 22 Vgl. Augustinus, Soliloquiae 47,9,13.

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Ivo gibt sich von dieser Wendung überrascht, will aber nach wie vor nicht zustimmen (I, 67). Aelred erinnert ihn daraufhin an das alttestamentarische Schriftwort »Allzeit liebt, wer ein Freund ist« (Spr. 17,17). Wenn also in der Freundschaft die Ewigkeit wirke, die Wahrheit aufleuchte und die Liebe ihre Seligkeit verströme, könne er diesen dreien den Namen Weisheit doch wohl nicht versagen (I, 68). Ivo fragt, wie er das verstehen solle: Solle er dann etwa das, was der Freund Jesu, Johannes, über die Liebe sage, auf Freundschaft übertragen und sagen, dass Gott Freundschaft sei (1 Joh 4,16) (I, 69)? Das erscheine sicher ungewöhnlich und könne sich nicht auf die Bibel stützen, aber was Johannes noch weiter über die Liebe sage, »wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott«, könne er auf die Freundschaft übertragen. Das werde Ivo noch besser erfahren, sobald sie sich über die Früchte und den Zweck der Freundschaft unterhielten. Aber das sollten sie auf ein anderes Mal vertagen (I, 70). Ivo erinnert daraufhin daran, dass die Abendessenszeit gekommen sei, auch wenn dies seinem Wissensdurst missfalle (I, 71). Damit enden das Gespräch zwischen Aelred und Ivo und das erste Buch über die geistliche Freundschaft. Dieser erste Dialog endet somit kontingent und unabgeschlossen; er ist nicht zu einem Ende gekommen, sondern hat nur eine Zwischenstufe erreicht, von der ab er fortgesetzt werden soll. Diese Fortsetzung erfolgt jedoch nicht: Zu Beginn des zweiten Gesprächs erfährt der Leser, dass Ivo zwischenzeitlich verstorben ist. Die kontingente Unterbrechung wegen der Abendessenszeit wird so zu einem absoluten Ende, ohne dass Ivos Tod als Ursache für die ausbleibende Fortführung angegeben würde. Inhaltlich befasst sich das Gespräch im ersten Buch mit der Definition von Freundschaft und der Unterscheidung unterschiedlicher Arten von Freundschaft, die sich auf Cicero stützt, dessen Konzeption jedoch entscheidend transformiert. Ciceros Unterscheidung von Lust-, Nutzen- und Tugendfreundschaft findet terminologisch 170

abgewandelt in die Unterscheidung von fleischlicher, weltlicher und geistlicher Freundschaft Eingang. Zwar kennt Ciceros Freundschaftskonzeption bereits die Einschränkung, dass nur die Tugendhaften zu wahrer Freundschaft in der Lage seien, doch Aelred schränkt dies noch weiter mit der Propostition ein, dass wahrhaft tugendhaft allein Christen sein könnten, weswegen auch nur sie wahre Freundschaft pflegen könnten. Die fleischliche Freundschaft wird sehr viel schärfer abgelehnt als die weltliche Freundschaft. Aelred orientiert sich in diesem Aspekt stärker an Augustinus als an Cicero.23 Cicero lehnt die Lustfreundschaft zwar ebenfalls ab, aber er sieht in ihr nicht das Hauptproblem eines falschen Freundschaftsverständnisses. Für Cicero ist das Feindbild jene die Republik zerstörende Nutzenfreundschaft, für Aelred ist es die fleischliche Freundschaft, welche die Keuschheit (castitas) zerstört; ihre zentrale Semantik ist nicht der Nutzen, sondern die Sünde. Das begründet zugleich die wertende Differenzierung zwischen caritas und amicitia: Die caritas richte sich gleichermaßen auf Freunde und Feinde, während die Freundschaft nur unter den wahrhaft Tugendhaften walte; sie gebe es nur bei den wenigen Guten, die sich nicht durch die Welt hätten verführen lassen und sich angesichts der Sündhaftigkeit der Welt noch enger zusammengeschlossen hätten. Ihre Liebe richte sich immer noch auf alle, auch auf Feinde und

23 Ungeachtet dessen hat seit John Boswells Untersuchung (Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality) eine breite Diskussion um Aelreds Homosexualität stattgefunden. Siehe dazu McGuire, Friendship and Community, bes. S. 298 – 304, sowie ders., Aelred of Rievaulx. Dabei ist häufig übersehen worden, dass die Sprache der Liebe und die Sprache der Freundschaft in mittelalterlichen, insbesondere mystisch beeinflussten Texten, nicht zu trennen sind und beide einen stark körperlichen Aspekt haben, der sich nicht ohne Weiteres auf eine Konzeption homo- oder heterosexueller Identitätsmodelle übertragen lässt. Vgl. Dutton, Aelred of Rievaulx.

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Sünder, aber zwischen den Guten und den Schlechten herrsche keine wahre Gemeinsamkeit: So kam es, dass die Freundschaft, die in gleichem Maße wie die Liebe zuerst von allen geübt worden war, nur noch bei wenigen Guten wohnte; ja, wenn diese erlebten, wie die heiligen Rechte des Glaubens und der Gemeinschaft von vielen mit Füßen getreten wurden, schlossen sie sich zu einem noch engeren Bund der Liebe und Zuneigung zusammen. Gerade angesichts der erlittenen Schlechtigkeit fanden sie Ruhe in der Gnade wechselseitiger Liebe (I, 59). Der in diesem Zusammenhang formulierte Hinweis auf diejenigen, die sich angesichts der Sündhaftigkeit der Welt noch enger zusammengeschlossen hätten, könnte als positiver Hinweis auf das Mönchtum gelesen werden und damit den Gedanken nahelegen, dass wahre Freundschaft innerhalb des Zisterzienserordens mit seinen tugendhaften Mönchen quasi eine Selbstverständlichkeit sei und schon durch die Ordensregel garantiert werde. Dass dies so einfach und eindeutig jedoch nicht ist, machen das zweite und dritte Gespräch deutlich.

Das zweite Gespräch über Freundschaft Die Gespräche des zweiten und dritten Buches mit den noch jungen Ordensbrüdern Walter (Galterus) und Gratian haben – so der Rahmen – Jahre später stattgefunden; die Verbindung zu dem ersten Dialog mit Ivo muss daher narrativ und argumentativ hergestellt werden. Das zweite Gespräch beginnt zunächst zwischen Aelred und Walter. Aelred begrüßt ihn ganz ähnlich wie zuvor Ivo, indem er bemerkt, es sei ihm, während er mit Weltleuten gesprochen habe, die zum Kloster gekommen seien, aufgefallen, dass Walter sehr 172

unruhig gewesen sei, zornig gewirkt und offenbar etwas auf dem Herzen habe (II,1). Walter bestätigt dies, begleitet von dem Vorwurf, dass Aelred anderen zu viel Zeit widme, während er für die Mönche, denen er so viel mehr schulde, keine Zeit habe (II,2). Aelred verweist auf seine Pflicht, sich auch den »Weltleuten« zu widmen, zumal man auf ihr Wohlwollen angewiesen sei und ihre Feindschaft fürchten müsse. Dieses kurze Geplänkel dient keineswegs der spielerischen Einleitung in den zweiten Dialog; es lässt vielmehr erkennen, dass Freundschaft für Aelred eine durchaus pragmatische Dimension hat und Nutzenfreundschaft, selbst wenn sie nur der Vermeidung von Feindschaft dient, durchaus Teil seiner Lebenspraxis ist. An Walters Vorhaltungen dagegen wird gleich zu Beginn deutlich, dass Eifersucht ein negativer Aspekt freundschaftlicher Zugewandtheit ist: Er kann nicht geduldig warten, bis Aelred Zeit für ihn hat, sondern klagt darüber, dass dieser seine Zeit mit anderen verschwende, die er invektiv als »Steuereintreiber des Pharao« bezeichnet. In der Herabsetzung der Anderen wird ein unkontrollierter emotionaler Überschuss deutlich, der einem freundschaftlichen Gespräch entgegensteht. Aelred reagiert denn auch auf die Vorhaltungen Walters mit dem Hinweis, wenn er so gerne mit ihm sprechen wolle, solle er keine Zeit mehr mit Vorwürfen verschwenden (II, 3). Damit wird schon in der Überleitung zum thematischen Gegenstand des Dialogs deutlich, dass die affektive Dimension der Freundschaft einen wichtigen Aspekt des anschließenden Gesprächs bildet: Nachdem sie nun allein seien, so Aelred, könne Walter ihm alles sagen, was er auf dem Herzen habe und sich an dem Gespräch wie an einer geistlichen Speise erquicken, nach der sein Hunger so groß sei (II,3). Aelred betont damit den Wert des beginnenden Dialogs als Möglichkeit, sein Herz zu öffnen und Erleichterung im Gespräch zu finden. Walter befragt ihn nach dem früheren Gespräch mit Ivo über die geistige Freundschaft: was dabei herausgekommen 173

sei, welche Fragen Ivo gestellt habe, wie weit sie gekommen seien und was er davon aufgeschrieben habe (II,4). Aelred beantwortet diese Frage nicht unmittelbar, sondern spricht zunächst über den verstorbenen Ivo: Unauslöschlich ist mir die Erinnerung an ihn, den Vielgeliebten, unvergeßlich mir, wie er mich umarmte und seine Liebe äußerte. Wenn er von der Erde, der er das ihre zurückgab, befreit ist, – in meinem Herzen ist er niemals gestorben. Dort ist er mir immer nahe, sein liebes Antlitz leuchtet, seine süßen Augen lächeln mir zu, seine freundlichen Worte gefallen mir so sehr, als wenn ich an seiner Seite ginge zur besseren Heimat, oder als wenn er hienieden immer noch mit mir spräche (II,5). Dieses gefühlsbetonte Lob auf den verstorbenen Freund Ivo erinnert an Laelius’ Lobrede auf Scipio, aber es unterscheidet sich doch erheblich davon: Während für Laelius Scipios sozialer Rang und sein Ruhm von zentraler Bedeutung sind, spricht Aelred ausschließlich über Ivo als den Geliebten, der ihn zärtlich umarmt und seine Liebe geäußert habe. Aelred wie Laelius betonen aber gleichermaßen, der verstorbene Freund lebe in ihrem Gedächtnis weiter. Die erinnerte Freundschaftsbeziehung hat im Falle von Aelred und Ivo aber eine deutlich affektivere Dimension als bei Laelius und Scipio, wenngleich auch diese von Laelius nicht ohne Pathos geschildert wird. Diese affektive Dimension markiert bereits die Differenz zwischen einer innerweltlichen und einer spirituellen Freundschaft mit Transzendenzbezug, der im Verweis auf eine himmlische Heimat dem Tod seine Spitze zu nehmen vermag. Erst nach seinem Lob auf die Freundschaft mit Ivo geht Aelred auf Walters Frage ein und berichtet, seine Aufzeichnungen des Gesprächs über die geistliche Freundschaft seien ihm schon vor Jahren abhandengekommen (II,5). Walter bemerkt dazu, dass ihm das nicht verborgen geblieben, ihm 174

aber zu Ohren gekommen sei, dass Aelreds Aufzeichnungen aufgefunden und ihm vor wenigen Tagen zurückgegeben worden seien. Gerade deshalb sei er so unruhig gewesen. Er brenne darauf, sie zu lesen und nach Maßgabe seines Verstandes oder seiner Eingebung hinzuzufügen, was der Abhandlung fehle, oder sie zu korrigieren, um sie sodann Aelreds väterlichem Urteil vorzulegen (II,6). Dieses anmaßend erscheinende Ansinnen des jungen Mönchs, die Aufzeichnung von Aelreds Dialog mit Ivo zu korrigieren, ignoriert Aelred geflissentlich und versichert ihm, er wolle seinem Wunsch gerne entsprechen, aber Walter solle den Dialog zunächst still lesen und nicht öffentlich machen, denn einiges müsse er vermutlich streichen, Neues hinzuzufügen, vor allem aber vieles korrigieren (II,7). Diskret weist Aelred Walters Anspruch zurück, den Dialog zu verbessern, ohne Walter explizit zu tadeln, sondern kehrt lediglich implizit um, wer etwas zu korrigieren habe. Danach sind die beiden offenbar auseinandergegangen, denn Walter nimmt im nächsten Abschnitt (II,8) den Gesprächsfaden mit dem Hinweis auf, er sei nun wieder da und ganz aufmerksam, denn er habe den Dialog zwischenzeitlich gelesen, der ihm hervorragend dargelegt habe, was Freundschaft sei. Er wolle daher wissen, welchen Nutzen Freundschaft habe, denn erst dann könne sie wirklich erstrebt werden (II,8). Walter erweist sich damit erneut als kritischer und unbotmäßiger Geist, denn sein Lob wirkt vergiftet, insofern es mit der Behauptung einhergeht, der Nutzen der Freundschaft sei ihm bislang noch verborgen geblieben. Die Frage nach dem Nutzen wird damit im ersten kurzen Vorgespräch des zweiten Dialogs zweifach thematisiert: einmal als der pragmatische Nutzen freundschaftlichen Verhaltens gegenüber Personen, denen man sich verpflichtet fühlt, ohne dass man ihnen größere Zuneigung entgegenbringt, deren Feindschaft man aber vermeiden möchte; und sodann der Nutzen als eine Perspektive auf Freundschaft, die darüber entscheidet, ob man sich um sie bemühen sollte oder nicht. 175

Auf letzteren Aspekt, den er nach dem vorangegangenen Dialog mit Ivo uneingeschränkt zurückweisen müsste, geht Aelred mit keinem Wort ein. Erneut vermeidet er die Konfrontation mit Walter, indem er dessen Frage gerade nicht beantwortet, sondern stattdessen mit einem emphatischen Lob der Freundschaft reagiert: Nichts Irdisches werde mit mehr Heiligmäßigkeit erstrebt, mit mehr Gewinn erforscht, nichts sei köstlicher, aber auch nichts schwieriger zu finden. Denn Freundschaft berge in sich die Frucht jenes Lebens, das jetzt schon beginne und ewig währe (1 Tim 4,8) (II, 9). Aelred leitet damit unausgewiesen eine umfängliche Laelius-Paraphrase ein, in die er mehrere Zitate aus der Bibel einflicht: Die Freundschaft mache alle Tugenden angenehm, zerstöre die Laster, mildere das Unglück und mehre das Glück.24 Einem Menschen, dem ein Freund fehle, könne nichts Freude bereiten, weder im Glück noch im Unglück. Er habe niemanden, der seine Last mit ihm teile, niemanden, der sich mit ihm freue (II, 10). »Wehe dem Einsamen: Wenn er fällt, ist niemand da, ihm aufzuhelfen« (Kohelet 4,10). Ohne Freund sei man ganz auf sich allein gestellt. Doch welches Glück, welche Geborgenheit, welche Seligkeit, wenn man mit jemandem sprechen könne, als spräche man zu sich selbst, und alle Geheimnisse mit ihm zu teilen vermöge. Was also könne herrlicher sein, als wenn sich zwei Herzen verbänden und aus zweien eins werde. Dann tue Zurechtweisung nicht weh und Lob sei echt (II, 11). Erneut fügt Aelred zwei Bibelzitate ein: Der Weise spreche: »Ein Freund ist ein Lebenselixier« (Jes Sir 6,16), und der Apostel sage: »Einer trage des anderen Last« (Gal 6,2) (II, 12). Auf diese Ausführungen folgt ein erneut unausgewiesenes wörtliches Zitat aus dem Laelius: »Die Freundschaft macht demnach die Erfolge glänzender, sie teilt Misserfolge und nimmt Anteil am Glück« (Laelius 22), und ein weiteres, in dem ein Satz aus dem Laelius als Sprichwort der Heiden zitiert wird: »Wo immer 24 Vgl. Cicero, Laelius 22 und 23.

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wir sein mögen: Weder Wasser noch Feuer brauchen wir so sehr wie einen Freund« (Laelius 22). Erst danach erfolgt der erste explizite Bezug auf Cicero: Freunde seien, wie Cicero geschrieben habe, stets zur Stelle (II, 13). Daher gereiche die Freundschaft den Wohlhabenden zur Ehre, schenke den Verbannten ein wenig Heimat, den Armen Almosen, den Kranken Medizin. Den Freunden folgten Ehre, Ruhm und Bewunderung über den Tod hinaus. Nach dieser umfänglichen Cicero-Paraphrase, die performativ wiederholt, was Aelred im ersten Dialog mit Ivo argumentativ zu begründen versucht hat, nämlich, dass Ciceros Freundschaftskonzeption für Christen anschlussfähig sei, folgt dann eine Bestimmung, die deutlich über Cicero hinausgeht: Freundschaft sei eine hohe Stufe auf dem Weg zur Vollkommenheit, die in der Liebe und Erkenntnis Gottes bestehe. So werde aus dem Menschenfreund ein Gottesfreund gemäß den Worten des Erlösers: »Ich will euch nicht mehr Knechte nennen, sondern meine Freunde« (Joh 15,15) (II, 14). Walter zeigt sich von diesen Ausführungen zutiefst beeindruckt und bittet Aelred auszuführen, inwiefern Freundschaft der beste Aufstieg zur Vollkommenheit sei (II, 15). In diesem Moment kommt Gratian dazu, den Walter als einen »Jünger der Freundschaft« bezeichnet: Sein ganzes Streben bestehe darin, zu lieben und geliebt zu werden, wobei zu hoffen sei, dass er nicht dem Trugbild der Freundschaft verfalle und die fleischliche der spirituellen Freundschaft vorziehe (II, 16). Gratian dankt Walter ironisch für die Menschlichkeit, ihm »Zugang zum geistlichen Gastmahl« zu gewähren, und merkt mokant an, wenn er mit Recht ein Jünger der Freundschaft genannt werden könne, so hätte man ihn doch sogleich dazuholen sollen. Er wolle sich aber gerne mit einem Anteil an der Nachspeise begnügen, nachdem Walter schon weiß Gott wie viele Gänge verspeist habe (II, 17). Bereits mit dem Eintritt Gratians als Drittem in das Gespräch ist eine performative Ebene eröffnet, die den Dialog bis zum Schluss begleiten wird: die spannungsreiche Bezie177 https://doi.org/10.5771/9783835327214

hung zwischen Walter und Gratian, von der zweifelhaft ist, ob sie freundschaftlich genannt werden kann, wenngleich die gespannte wechselseitige Beobachtung der beiden zumindest einen Hinweis darauf gibt, dass sie es gerne wären. Wie schon die erste Bemerkung Gratians verdeutlicht, wetteifern beide darum, mit Aelred sprechen zu dürfen, sind aber gleichzeitig intensiv aufeinander bezogen und bedenken sich mit Herabsetzungen und Sticheleien. Anders als die Beziehung zwischen Fannius und Scaevola, die gänzlich unthematisiert blieb, spielt die Beziehung zwischen Walter und Gratian eine große Rolle; die wechselseitige Kritik, die abschätzigen Bemerkungen übereinander, aber auch die Wachsamkeit, mit der sie sich beobachten, begleiten den Dialog bis zum Schluss. Der Dialog ist damit nicht nur strukturell als Lehrdialog angelegt, sondern erweist auch die beiden belehrten Personen als solche, die der Lehre bedürfen. In dieser Hinsicht ähnelt Aelreds Dialog weniger Ciceros Laelius als vielmehr Platons Lysis, bei dem die performative Dimension in der Präsentation der beteiligten Personen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Anders als Lysis und Menexenos aber nennen sich Walter und Gratian nicht Freunde; sie sind Ordensbrüder, was einen liebevollen Umgang miteinander begründen sollte – von dem freilich wenig zu spüren ist. Ihre aufeinander bezogenen Äußerungen erwecken eher den Eindruck, dass sie feindselig kommunizieren, wenngleich sie gerne miteinander befreundet wären, wenn sie denn wüssten, wie das ginge. Anders als zuvor bei Walter reagiert Aelred auf Gratians Besorgnis, durch seinen späten Eintritt ins Gespräch vieles verpasst zu haben, und erklärt, über die Freundschaft sei noch sehr viel zu sagen; wenn ein Weiser ihm das bisher Besprochene schildern würde, käme er zu dem Ergebnis, es sei noch gar nichts gesagt. Gratian solle jetzt aufmerksam verfolgen, inwiefern die Freundschaft ein Aufstieg zur Liebe und Erkenntnis Gottes sei. In der Freundschaft gebe es nämlich nichts Ehrenrühriges, nicht Falsches, nichts Geheucheltes, alles was in ihr sei, sei heilig (sanctum), freiwillig ( 178

luntarium) und wahr (verum). Dasselbe gelte auch für die Liebe (II, 18). Erneut hat Aelred damit ein unausgewiesenes Laelius-Zitat eingeflochten, gleichzeitig als Ziel der Freundschaft aber noch einmal den Aufstieg zur Liebe und zur Erkenntnis Gottes vorgegeben, der nicht an Cicero anschließen kann.25 Aelred behauptet damit als Übereinstimmung im zweiten Dialog, was einer der zentralen Diskussionspunkte zwischen Ivo und ihm war, die Frage nämlich, inwiefern Ciceros innerweltliche Freundschaftskonzeption mit der Hinwendung zu Gott vereinbar sei, die den Kern der vita monastica bildet. Zugleich impliziert diese Proposition eine mögliche Kritik an Gratian, sofern zutrifft, was Walter ihm vorhält: dass er gefallsüchtig sei und in der Gefahr stehe, die fleischliche Freundschaft mit der geistlichen zu verwechseln. Anschließend differenziert Aelred zwischen Liebe und Freundschaft: Freundschaft sei eine Entscheidung, Liebe eine Verpflichtung. Man liebe auch solche, die einem lästig und unangenehm seien, um die man sich aber dennoch kümmern müsse. Aber zu den Vertraulichkeiten der Freundschaft gewähre man ihnen keinen Zugang (II, 19). Daher verbinde sich in der Freundschaft die Ehrbarkeit (honestas) mit der Annehmlichkeit (suavitas), die Aufrichtigkeit (veritas) mit Freude (iucunditas), der Wille (voluntas) mit Güte (dulcedo) und die Zuneigung (affectus) mit dem Handeln (actus). Das alles nehme in Christus seinen Anfang, werde von ihm vorangebracht und in ihm vollendet. Daher sei der Aufstieg auch nicht so schwer, denn Christus hauche die Liebe ein, mit der man den Freund liebe (II, 20). Auf diese Weise werde derjenige, der im Geiste Christi einem Freund anhänge, mit ihm ein Herz und eine Seele (Apg 4,32; 1 Kor 6,17), und beide würden eins mit Christus im Kusse seines Geistes (II,21). Nach diesem Kuss sehne sich die heilige Seele, wenn sie spreche: »Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes« (Hohelied 1,2) (II, 21).

25 Vgl. Cicero, Laelius 26.

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Mit der Vorstellung von der Freundschaft mit Christus, zu der die Liebe der Freunde hinaufführe, und der Einswerdung im Kuss seines Geistes orientiert Aelred sich nicht mehr an Cicero, der die wahre Freundschaft zwar als geistige Verschmelzung zweier Personen, aber völlig unkörperlich und mit bestenfalls vagem Gottesbezug (Übereinstimmung in allen menschlichen und göttlichen Dingen) gedacht hatte. Er folgt vielmehr der mystischen Vorstellung von der Vereinigung mit Gott, die als Gottesfreundschaft verstanden wird.26 Damit führt er eine körperliche Dimension in die Freundschaftsbeziehung ein, die einer genaueren Ausführung bedarf, denn gerade durch Walters Anschuldigung, Gratian sei ein Anhänger der fleischlichen Freundschaft, ist das Bild des Kusses der Freunde ausgesprochen prekär. Aelred verwendet denn auch viel Mühe darauf, seinen beiden Dialogpartnern die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Arten des Kusses zu erklären. Um die Eigenschaften eines natürlichen (sinnlichen) Kusses verstehen zu können, müsse man begreifen, dass der Mensch durch den Mund Nahrung und Luft aufnehme, die man Lebensatem (spiritus) nenne (II, 22). So vermischten sich beim Kuss zweierlei Lebensatem, woraus ein Glücksgefühl erwachse, das die Leidenschaft der Küssenden befeure (II, 23). Nachdem dieser Verweis auf die Leidenschaft die Verfänglichkeit des Kusses deutlich gemacht, andererseits aber der Hinweis auf den spiritus dessen Bezug auf eine spirituelle Verbindung offengehalten hat, unterscheidet Aelred drei Arten des Kusses: den leiblichen (corporale), den spirituellen / geistlichen (spiritale) und den geistigen (intellectuale) Kuss.27 Im leiblichen Kuss berührten sich die Lippen, im spirituel26 Zur Konzeption der Gottesfreundschaft bei Aelred vgl. Egenter, Gottesfreundschaft, S. 203 – 223; zur antiken, vorchristlichen und frühchristlichen Tradition der Gottesfreundschaft vgl. Peterson, Der Gottesfreund. 27 Haacke übersetzt intellectuale mit »seelischem« Kuss, Moses Hamm mit »Kuss der Erkenntnis«.

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len fänden sich die Herzen, und im geistigen Kuss ergieße sich die Gnade Gottes. Den leiblichen Kuss dürfe man nur aus bestimmten und ehrbaren Gründen empfangen, etwa als Zeichen der Versöhnung, als Symbol des Friedens, der Liebe oder auch der Freundschaft nach längerer Abwesenheit eines der Freunde (II, 24). Lasterhafte (perversi) und unsittliche (turpes) Menschen aber missbrauchten den Kuss als Würze ihrer Schandtaten. Wie abscheulich, verachtenswert, zu fliehen und zu bekämpfen dies sei, verstehe jeder ehrenwerte Mensch (II, 25). Der spirituelle Kuss sei dagegen Freunden eigen, die unter einem Gesetz der Freundschaft stünden (una amicitia lege). Er komme nicht durch die Berührung des Mundes zustande, sondern durch die Zuneigung der Herzen, es vereinigten sich nicht die Lippen, sondern die Seelen, gereinigt durch den Geist Gottes. Das könne man passend als den Kuss Christi bezeichnen, den er nicht durch seinen eigenen, sondern einen anderen Mund gewähre. Mit ihm hauche Christus den Liebenden die heilige Zuneigung ein, so dass es scheine, als gebe es in zwei Leibern nur eine Seele (II, 26). Daraus erwachse die Sehnsucht nach dem geistigen Kuss, dem Kuss Christi, dem die Seele unter Beruhigung aller irdischen Leidenschaft entgegenfiebere (II, 27). Aelred bedient sich hier sehr sorgsam einer mystischen Sprache der Liebe, die den Körper nicht von vornherein ausschließt, aber sehr deutlich macht, dass eben dieser Körper der Ausgangspunkt der Leidenschaften und der Sünde ist.28 Gratian äußert darauf, dass diese wahre Freundschaft nicht die sei, wie er sie bislang verstanden habe. Vielleicht habe Walter das schon besser begriffen. Bislang habe er immer gedacht, Freundschaft sei die Übereinstimmung der Absichten zweier Personen im Guten wie im Bösen (II, 28). Dieser Antwort ist zu entnehmen, dass Gratian durch Aelreds Ausführungen eine Vorstellung von Freundschaft ver28 Zur mystischen Spiritualität bei den Zisterziensern vgl. Mikkers, Die Spiritualität, bes. S. 144 – 149.

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mittelt bekommen hat, die sein bisheriges Verständnis deutlich überschreitet. Dieses Verständnis war durch eine schon die Cicero’sche Definition deutlich unterschreitende Bestimmung von Freundschaft als Übereinstimmung im Guten wie im Bösen gekennzeichnet. Intellektuell vollzieht Gratian damit bereits Aelreds Lehre nach. Walter bemerkt dagegen zu Aelreds Ausführungen, er erinnere sich, aus der Lektüre des ersten Gesprächs (in priori dialogo) gelernt zu haben, dass man ein Ziel festlegen müsse, auf das die Freundschaft zulaufen solle. Freilich wiederholt er danach gerade nicht die Lehren des ersten Gesprächs, nämlich dass Christus das Ziel wahrer Freundschaft sei, sondern trägt unterschiedliche Meinungen über dieses Ziel vor, die größtenteils den bereits von Laelius scharf zurückgewiesenen Auffassungen entsprechen: Es gebe Menschen, die meinten, die Freundschaft sei selbst dann vorzuziehen, wenn sie gegen den Glauben, die Ehrbarkeit, das gemeine oder das eigene Wohl gerichtet sei. Andere wiederum meinten, nur den Glauben dürfe man nicht verraten, alles sonstige aber preisgeben (II, 29).29 Die einen urteilten, dem Freund zuliebe sei Geld zu verachten, Ehre gering zu schätzen, die Feindschaft der Mächtigen und Verbannung auf sich zu nehmen, sich selbst der Verachtung und Schande preiszugeben, solange nicht das Vaterland geschädigt und das Recht des anderen verletzt werde. Auch gebe es Leute, die behaupteten, man müsse seinen Freund so behandeln, wie man selbst behandelt werden wolle (II, 30). Einige verträten die Auffassung, es sei der Freundschaft Genüge getan, wenn man dem Freund alle Wohltaten und Gefälligkeiten mit Gleichem vergelte.30 Aber keiner dieser Auffassungen könne er zustimmen – so viel habe er aus dem bisherigen Gespräch gelernt. Deshalb bitte er Aelred, ihm ein Ziel der Freundschaft zu vermitteln; insbesondere erbitte er dies für Gratian, damit dieser nicht seinem Namen zu Ehren allzu 29 Vgl.Cicero, Laelius 61 und 65. 30 Vgl. Cicero, Laelius 56.

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gnädig sei, so dass er aus mangelnder Vorsicht lasterhaft werde (II, 31). Gratian bedankt sich ironisch für so viel Fürsorge und ergänzt, er würde sie ihm sogleich heimzahlen, wenn ihm die Fortsetzung des Gesprächs und die Beantwortung seiner Fragen nicht wichtiger wäre (II, 32). Aelred erklärt, Christus selbst habe der Freundschaft ein klares Ziel vorgegeben, als er gesagt habe, »niemand habe eine größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde« (Joh 15,13) (II, 33). Gratian stimmt zu, dass eine größere Freundschaft wohl nicht denkbar sei (II, 34), wohingegen Walter einwendet, das könnten ja auch Bösewichte füreinander tun wollen (II, 35). Aelred erklärt, das sei ausgeschlossen, denn unter den Schlimmsten könne es keine Freundschaft geben (II, 36). Diese rasche Folge von Propositionen zeigt, dass Walter und Gratian nicht nur unterschiedliche Auffassungen vertreten, sondern auch, dass Gratian sehr viel bereitwilliger Aelreds Positionen übernimmt als Walter. Walter bleibt deutlich skeptischer und widerspruchsbereiter, während Gratian eher geneigt ist, sich auf Aelreds Propositionen einzulassen. Das entspricht durchaus Gratians Charakterisierung durch Walter als »der Gefällige«, der es allen recht machen möchte, aber es zeigt auch seine größere Bereitschaft zu lernen. So ist es denn auch Gratian, der Aelred anschließend bittet, ihnen zu erklären, wer Freundschaft schließen und bewahren könne (II, 37). Aelred beantwortet jedoch nicht nur Gratians Frage, sondern behandelt auch die von Walter vorgetragenen Positionen und weist sie allesamt scharf zurück. Freundschaft, so führt er aus, sprieße nur bei den Guten, bei den Besseren könne sie gedeihen, aber den Gipfel der Vollkommenheit erreiche sie allein bei den Besten. Wer sich willentlich am Schlechten ergötze, ziehe das Schändliche dem Ehrbaren, die Wollust der Keuschheit, die Leichtfertigkeit der Mäßigung und die Schmeichelei der Zurechtweisung vor. Wie könne der nach Freundschaft streben und sie schmecken, der den 183

Quell, aus dem sie entspringe, nämlich die Tugend, nicht kenne (II, 38)? Jene Bindung aber, in der Schändliches vom Freund verlangt werde, verdiene weder den Namen der Liebe noch den der Freundschaft. Daher sei die Auffassung verwerflich, man dürfe dem Freund zuliebe gegen Glauben und Sittlichkeit handeln (II, 39). Es sei nicht im Mindesten eine Entschuldigung der Sünde, wenn sie dem Freund zuliebe begangen werde. Um dies zu verdeutlichen, zieht Aelred als Beispiele aus dem Alten Testament Adam (Gen 3,6), Jonadab (2 Sam 13, 3 – 5) und die Freunde das Absalom (2 Sam 15,12) heran. Diese Beispiele ergänzt er durch den Hinweis auf das zeitgenössische Schisma von 1159 /1164 mit der Doppelwahl zweier Päpste, bei dem ein Freund sich vom Gegenpapst lossagte, während der andere ihm weiter anhing. Daraus könne man ersehen, dass die Freundschaft nur unter den Guten Bestand haben könne (II, 40 – 41). Aelred paraphrasiert hier inhaltlich Laelius, tauscht aber dessen Negativbeispiele aus der römischen Geschichte, etwa die Gracchen, gegen Negativexempel aus der Bibel und der zeitgenössischen Kirchengeschichte aus.31 Diese Methode ist grundsätzlich kennzeichnend für Aelred: Das Grundgerüst übernimmt er aus dem Laelius, aber die Beispiele aus der römischen Geschichte tauscht er gegen Bibelexempel aus. Anders als Gratian ist Walter auch mit Negativbeispielen aus der Bibel nicht leicht zu beeindrucken, sondern verweist nunmehr darauf, dass sie selbst den hohen Anforderungen der Freundschaft nicht genügen könnten (II, 42). Diesen Einwand versucht Aelred mit dem Hinweis zu entkräften, dass er »gut« nicht so eng definiere wie manche Leute, die nur die Vollkommenen gut nennen würden. Er aber bezeichne denjenigen als gut, der besonnen, fromm und gerecht in dieser Welt lebe (Tit. 2,12), von niemandem etwas Unlauteres verlange und es auch nicht auf die Bitte eines anderen tue. Ein solcher Mensch könne Freundschaften gewinnen, bewahren 31 Vgl. Cicero, Laelius 37 – 41; siehe dazu Kap. V, S. 123 – 126.

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und darin zur Vollendung reifen, daran bestehe kein Zweifel (II, 43). Diejenigen aber, die zwar den Glauben, den Schutz des Vaterlandes oder ihres Nächsten hochhielten, sich selbst aber dem ungeordneten Begehren ihrer Freunde unterwerfen, wolle er eher krank als dumm nennen, denn sie achteten auf andere, nicht aber auf sich selbst (II, 44). Auch hier greift Aelred für seine Argumentation wieder breit auf Laelius zurück und folgt weitgehend dessen Propositionen. Walter erklärt darauf, er neige fast zu der Überzeugung derjenigen, die Freundschaft überhaupt für gefährlich hielten, weil sie voller Sorgen und Nöte sei, vor Angst nicht gefeit und mit Schmerzen verbunden (II, 45). Nichts gelte ihnen zudem als schwieriger als die Aufrechterhaltung der Freundschaft bis zum Lebensende. Auch sei es schändlich, nach dem Ende einer Freundschaft die Liebe in Hass zu verkehren. Deswegen hielten sie es für sinnvoller, die Bande der Freundschaft locker zu halten (II, 46). Damit formuliert er eine der von Laelius scharf kritisierten epikureischen Propositionen, die Freundschaft als einen zu vermeidenden Quell der Sorge charakterisieren. Wenngleich Walter sich diese Position nicht komplett zu eigen macht, trägt er sie doch zustimmend vor und integriert damit in die dialogische Auseinandersetzung, was im Laelius allein in dessen Rede bzw. den impliziten Dialog mit Scipio verlegt ist. Die Mesostruktur von De spiritali amicitia erweist sich an solchen Stellen als sehr viel stärker dialogisch durchkomponiert als im Laelius. Das zeigt sich auch an dem unmittelbar darauf entbrennenden heftigen Wortwechsel zwischen Gratian und Walter. Zunächst entgegnet Gratian mit empörtem Unterton, vergeblich hätten sie aufmerksam zugehört, wenn ihre Begeisterung für die Freundschaft, die ihnen Aelred als so nutzbringend, heilig und gottgefällig, als der Vollkommenheit so nahe und so vielfältig schmackhaft gemacht habe, so rasch erkalten würde. Aber Walter könne ja gerne bei seiner Meinung bleiben und allen so verbunden sein, dass er keinem 185

treu sei: heute lobend, morgen schimpfend, heute schmeichelnd, morgen bissig etc. Seine Liebe sei leicht zu haben und erlösche bei der geringsten Kränkung (II, 47). Walter kontert diese Kritik mit der spöttischen Bemerkung, »Ich dachte, Täubchen wären ohne Gift«, und bittet dann Aelred, ihnen zu erklären, wie sie die Meinungen gewisser Leute widerlegen könnten, die unserem »Gefälligen« [Gratian] so missfielen (II, 48). Aelred lobt daraufhin Cicero, der die Freundschaft als das Schönste gepriesen habe, was Gott den Menschen geschenkt habe.32 Die Freundschaft zu verachten, um sich vor Kummer, Sorge oder Furcht zu schützen, sei ebenso klug wie zu meinen, man könne ohne Mühe auch nur eine einzige Tugend erwerben oder bewahren. Wie solle der Hang zum Irrtum ohne Klugheit bekämpft werden wie die Lust ohne die Mäßigung, wie die Neigung zum Bösen ohne die Gerechtigkeit und wie die Trägheit ohne Tapferkeit (II, 49)? Implizit reiht Aelred damit – ganz wie Ciceros Laelius – die Freundschaft unter die Tugenden und betont anschließend, dass Tugend nichts Gegebenes sei, sondern mühsam errungen werden müsse. Wer, insonderheit welcher junge Mann, könne ohne seelischen Schmerz und Furcht seine Keuschheit bewahren? Und sei Paulus etwa töricht (stultus) gewesen, weil er nicht ohne Fürsorge und Mühe für andere leben wollte? Von Nächstenliebe gedrängt, die ihm als die höchste der Tugenden gegolten habe, habe er mit den Schwachen ihre Schwäche und mit den Bedrängten (scandalizatis) ihren Schmerz geteilt und sei um seiner Brüder willen traurig gewesen (II, 50). Daraus folge: Wer die Besorgtheit aus der Welt schaffe, vertreibe die Tugenden selbst, denn die Sorge sei deren stete Begleiterin (II, 51). Auch hier folgt Aelred erneut sehr eng Laelius – ergänzt um biblische Beispiele. Mit empörtem Unterton formuliert er die rhetorische Frage, ob es etwa töricht gewesen sei, dass der Arkiter Huschai sich mit David verbunden und 32 Vgl. Cicero, Laelius 47.

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die Sorge der Sicherheit vorgezogen habe, lieber am Schmerz des Freundes teilgehabt habe, als sich für den Vatermord belohnen zu lassen. Und in erstmals scharfer Distanzierung von Walter ergänzt er: Ich möchte diejenigen eher als Tiere denn als Menschen bezeichnen, die niemanden trösten, mit keinem Kummer teilen und keinem zur Last fallen wollen, die sich nicht freuen, wenn es einem anderen gut geht, und nicht mit ihm leiden, wenn es ihm schlecht geht, die nicht lieben und geliebt werden wollen (II, 52). Wer Freundschaft als Ware einschätzt, kann in meinen Augen niemals ein Liebender sein (II, 53). Bedrängt von diesen gegen ihn gerichteten Vorhaltungen, bittet Walter Aelred, ihnen zu erläutern, vor welchen Freundschaften sie sich hüten, welche sie anstreben, pflegen und bewahren sollten (II, 54). Auf diese Bitte reagiert Aelred zum ersten Mal unwirsch und betont, er habe ja schon gesagt, dass die wahre Freundschaft nur unter den Guten Bestand haben könne, weshalb es Walter ein Leichtes sein müsse einzusehen, dass man keine Freundschaften schließen solle, die sich für Gute nicht ziemten (II, 55). Gratian springt Walter darauf mit der Bemerkung bei, es könne ihnen schwerfallen zu unterscheiden, was sich zieme und was nicht (II, 56). Auf diese Bemerkung reagiert Aelred konziliant und erklärt seine Bereitschaft, ihnen die Arten von Freundschaften aufzuzählen, die zu meiden seien. Allerdings richten sich alle nachfolgenden negativen Beispiele offenbar gegen Gratian, denn das Thema sind die Jugendfreundschaft und die mit ihr verbundenen Verlockungen der Unkeuschheit: Zuallererst sollten sie die Jugendfreundschaft meiden, die unstete und übermütige Gefühle verursache. Sie werfe sich jedem Vorübergehenden an den Hals, ohne Vernunft und Tiefgang, ohne Maß und Verantwortung. Aber Zuneigung ohne Vernunft sei ein tierischer Trieb, jeder Verführung geneigt und ohne die Fähigkeit, zwischen Erlaubtem und Verbotenem zu unterscheiden. Zwar gehe der Freundschaft oft die Zuneigung voraus, aber man dürfe ihr 187

nicht folgen, wenn die Vernunft sie nicht leite, die Ehrbarkeit sie nicht mäßige und die Gerechtigkeit sie nicht lenke (II, 57). Vor dieser Art von Freundschaft die ebenso treulos wie instabil und mit unkeuscher Liebe vermischt sei (impuris semper mixta amoribus), müssten sich alle diejenigen hüten, denen die Süße der geistlichen Freundschaft Freude bereite (spiritalis amicitiae dulcedo delectat). Die Jugendfreundschaft könne nicht Freundschaft genannt werden; sie sei vielmehr das Gift der Freundschaft, da in ihr die Ordnung der Liebe nicht gewahrt werde, die von Herz zu Herz spreche. Sie sei durch die Vernachlässigung des Geistes von den Begierden des Fleisches vernebelt und zu ihnen herabgezogen (II, 58). Am Anfang der geistigen Freundschaft stünden dagegen zuallererst die Absicht der Reinheit, die Aufsicht der Vernunft, die Zügel der Mäßigung. Es gebe auch eine Freundschaft, die durch die Gleichheit in den schlimmsten Sitten hervorgerufen werde. Über sie werde er nicht sprechen, denn sie sei es nicht wert, als Freundschaft bezeichnet zu werden (II, 59). Nach diesen mahnenden Ausführungen über die fleischliche Freundschaft wendet sich Aelred der Nutzenfreundschaft zu, und diese Ausführungen scheinen eher auf Walter gemünzt zu sein, der die Nutzenfrage zu Beginn des Gesprächs mit Aelred aufgeworfen hat. Es gebe außerdem, so führt Aelred weiter aus, eine Art der Freundschaft, die der Aussicht auf einen Nutzen entspringe. Viele hielten sie deswegen für erstrebens- und erhaltenswert, aber das schließe viele aus, die unsere Liebe besonders verdienten, weil sie nichts besäßen (II, 60). Wenn man freilich als Nutzen den Rat im Zweifel, den Trost bei Unglück und ähnliches mehr verstehe, dürfe man sie von einem Freund durchaus erwarten, aber solcher Nutzen folge der Freundschaft und gehe ihr nicht voraus. Wer einen anderen Lohn von der Freundschaft erwarte als sie selbst, habe nicht verstanden, was Freundschaft sei. Als Lohn werde sie nur jenen zuteil, die sich ganz Gott übereignet hätten, die ganz in seiner Betrachtung versunken seien, denn sie sei es, welche die Freunde vereine 188

(II, 61). Wenngleich die Freundschaft unter Guten vielfältigen Nutzen hervorbringe, werde dieser nicht von den Freunden, sondern von der Freundschaft hervorgebracht. Als der Galaaditer Berzellai den vor seinem vatermörderischen Sohn fliehenden David aufnahm, unterstützte, versorgte und seinen Freund nannte, habe er es nicht um eines Nutzens willen getan, sondern wegen ihrer bestehenden Freundschaft (II, 62). Das zeigt sich auch darin, dass er Davids Geschenke nicht annehmen wollte. Auch die denkwürdige Freundschaft zwischen David und Jonathan sei aus der Anschauung der Tugend (virtutis contemplatio) hervorgegangen, nicht aus der Hoffnung auf einen künftigen Nutzen (II, 63). Bei den Guten gehe also immer die Freundschaft voraus, und der Nutzen folge ihr nach. So sei nicht der erlangte Nutzen, sondern die Liebe des Freundes selbst Grund zur Freude (II, 64). Anders als Laelius weist Aelred die Nutzenfreundschaft sehr viel weniger drastisch zurück als die Lustfreundschaft. Und mehr noch als Laelius versucht er, den Nutzen nicht vollständig zu exkludieren, sondern ihn von einer Ursache für Freundschaft in eine Folge von Freundschaft zu transformieren. Anschließend fasst er seine Ausführungen noch einmal zusammen und verbindet das mit der an Walter und Gratian gerichteten Frage, ob sie nun genügend vom Ertrag der Freundschaft gesprochen hätten und ob sie die Bedingungen, unter denen sie geschlossen, bewahrt und zur Vollendung gebracht werden könne, hinreichend bestimmt hätten. Sie sollten nun beurteilen, ob sie die Liebedienerei, die fälschlich als Freundschaft bezeichnet werde, klar beim Namen genannt und die Ziele aufgezeigt hätten, nach denen die Freundesliebe streben müsse (II, 64). Erneut ist es Walter, der sich nicht überzeugt zeigt und äußert, er könne sich nicht erinnern, dass Aelred Letzteres schon deutlich genug erklärt habe (II, 65). Ohne das zu kommentieren, fasst Aelred die schon einmal vorgetragenen Verurteilungen der fleischlichen und der weltlichen Freundschaft noch ein weiteres Mal zusammen 189

(II, 66 – II, 68) und weist auch die Vorstellung eines berechnenden Einsatzes, dem Freund nur so viel geben zu wollen, wie man zurückbekomme, zurück (II, 67), um in Abgrenzung dazu den Wert der wahren Freundschaft emphatisch zu loben. Aus all dem, so hebt er abschließend hervor, erkennen wir das wahre Ziel der geistlichen Freundschaft: Das Leben des Leibes ist für den Freund jederzeit zu opfern, nicht aber das Leben der Seele, denn was die Seele tötet, ist die Sünde. Nun wirklich zum Schluss kommend, ergänzt er dann, es wäre noch zu erläutern, was man dem Freund gewähren, welches Maß man halten und worin man Vorsicht walten lassen solle, aber dafür fehle nun die Zeit (II, 69). Mit dieser deiktischen Abschlussformel bereitet Aelred den nachfolgenden dritten Dialog vor und benennt seinen Gegenstand. Man kann in dem Hinweis auf die zu Ende gehende Zeit aber auch eine implizite Kritik an Walter sehen, der ein ums andere Mal Wiederholungen provoziert hat. Gratian hingegen verteidigt Walter mit den Worten, dieser habe mit seinen Nachfragen nicht wenig beigetragen, denn er habe Aelred dazu gebracht, die ganze Diskussion zusammenzufassen. Der anschließenden Bitte, weiterzumachen und ihnen darzulegen, welches Maß einzuhalten und welche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen seien (II, 70), kommt Aelred unter Verweis auf die fortgeschrittene Zeit und seine Verpflichtungen gegenüber den anderen Brüdern nicht nach (II, 71). Walter äußert daraufhin sein Bedauern und kündigt an, sich am nächsten Morgen pünktlich wieder einzufinden  – nicht ohne noch einmal gegen Gratian zu sticheln, der zusehen solle, dass er ebenfalls rechtzeitig da sei (II, 72). Der Ton ist hier jedoch deutlich versöhnlicher als bislang. Nachdem Gratian ihn bereits mehrfach und ohne ironischen Unterton gelobt hat, ist Walter jetzt zumindest bereit zu konzedieren, dass der Dialog nicht als Zwiegespräch zwischen ihm und Aelred fortgeführt wird, sondern als ein Dialog unter Dreien, an dem auch Gratian legitimerweise teilnehmen kann. 190

Die Geplänkel zwischen Walter und Gratian, die mitunter komödienhaft wirken, verdeutlichen auf der Performanzebene, was Aelred seinen beiden Mitbrüdern zu vermitteln sucht: dass ein Lernprozess notwendig ist, um zur wahren Freundschaft zu gelangen. Die wechselseitige Kritik der beiden ist aber auch ein impliziter Kommentar zu den Mühen des Klosterlebens. Der Eintritt ins Kloster und die Unterwerfung unter die Regel garantieren offenbar keineswegs per se, dass die Mönche zu Brüderlichkeit oder gar wahrer Freundschaft fähig sind. Vielmehr bedarf es eines langen Lernprozesses, um zu begreifen, welche Anforderungen wahre Freundschaft stellt und in welchem Maße es erforderlich ist, sich zu zügeln, sich zurückzustellen, sich dem Freund anzunähern und ihm stets geduldig und freundschaftlich gegenüber zu treten.

Sorgfältig auswählen und prüfen: Das dritte Gespräch über Freundschaft Offenbar am nächsten Tag begrüßt Aelred Gratian und fragt, ob er fortfahren solle, aber dieser erklärt, er wolle Walter die Treue halten und auf ihn warten. Aelred spricht daraufhin den offenbar ebenfalls schon anwesenden, aber von Gratian nicht bemerkten Walter an und weist ihn darauf hin, wie freundschaftlich verbunden sich Gratian ihm gegenüber fühle, was dieser mit der Bemerkung quittiert, das sei nicht verwunderlich, denn Gratian sei ja mit allen befreundet. Aber da sie nun alle da seien, sollten sie die Gelegenheit zur Fortsetzung des Gesprächs nutzen (III, 1). Auf der Performanzebene wird damit deutlich, dass zwischen Walter und Gratian ein fortwährendes Spannungsverhältnis besteht, das einerseits auf der Konkurrenz zwischen beiden um die Gunst Aelreds gründet, andererseits – und mehr noch  – aus einer unausgegorenen Freundschaftsbeziehung zwischen den beiden resultiert, in der beide emo191 https://doi.org/10.5771/9783835327214

tional aufeinander bezogen sind, dem jeweils anderen aber unterstellen, dass er es nicht gleichermaßen sei. Der Dialog führt damit auch im dritten Gespräch einen Konflikt mit, der immer wieder darin zutage tritt, dass insbesondere Walter sich gegenüber Aelred negativ über Gratian äußert, an dessen Freundschaftsfähigkeit zweifelt oder ihm unterstellt, zu wahrer Freundschaft nicht fähig zu sein. Walter ist gegenüber Gratian überaus kritisch, während Gratian sehr viel mehr Rücksicht auf ihn nimmt und nur ab und an spöttisch ist. Der Dialog zeigt damit eine fragile, noch im Anfangsstadium befindliche Beziehung, die affektiv überdeterminiert ist, aber noch keine kommunikative Stabilität erlangt hat und von der bis zum Schluss offen bleibt, ob sie das Potential hat, die von Aelred formulierten Erwartungen zu erfüllen. Ohne weitere Einleitung erläutert Aelred in enger Anlehnung an Cicero die Differenz zwischen Freundschaft und Liebe sowie die Art ihrer Verknüpfung. Liebe könne es ohne Freundschaft geben, aber niemals Freundschaft ohne Liebe. Liebe wird somit als einseitiges Gefühl präsentiert, Freundschaft als wechselseitige, gefühlsbezogene Bindung. Als Grund für die Liebe listet Aelred unterschiedliche Ursachen auf: die Natur, wie im Falle der Mutterliebe; das Pflichtgefühl (ex officio) aufgrund der Verbindlichkeit wechselseitigen Gebens und Nehmens; die Vernunft, wie im Falle der Feindesliebe, die nicht der Neigung des Herzens, sondern dem Gebot folge; die bloße Zuneigung (ex solo affectu), die aus der Schönheit, Fähigkeit oder Gewandtheit eines anderen erwachse (III, 2). Liebe aus Vernunft und Zuneigung entstehe, wenn einerseits die Tugend eines Menschen es verdiene und der Verstand dazu rate und andererseits das Verhalten und die gewinnende Art eines reinen Charakters das Herz eines anderen berührten. Vernunft und Zuneigung vereinten sich, wenn die Liebe dank der Vernunft keusch und dank der Zuneigung süß sei. Diese Ausführungen über die Liebe und deren Differenz zur Freundschaft beendet Aelred mit der Frage 192

an Walter und Gratian, welche ihrer Arten ihnen angemessener erscheine (III, 3). Walter antwortet darauf im Brustton der Überzeugung, selbstverständlich die letzte; aber er wolle doch wissen, ob man alle, die man auf diese Weise liebe, zum süßen Geheimnis der Freundschaft zulassen solle. Walter bearbeitet hier auf der Performanzebene offenbar weiterhin das Problem, dass Gratian sich großer Beliebtheit erfreut und von vielen geliebt wird. Auf der Sachebene wechselt der Dialog an dieser Stelle von der Definition der Freundschaft zur Frage, wie und mit wem man eine Freundschaftsbeziehung begründen solle (III, 4). Aelred beantwortet diese von Walter aufgeworfene Frage, indem er die Metapher eines Gebäudes mit festem Fundament ins Spiel bringt, auf dem die tragenden Säulen errichtet würden, von denen aus man weiterbauen könne (III, 5). Dieses Fundament sei die Gottesliebe. Man dürfe daher nicht mit jedem, den man liebe, einen Freundschaftsbund schließen. Freundschaft sei die Verbindung zweier Herzen bei völligem Vertrauen.33 Zuvor aber müsse man auswählen, wer dieses Vertrauen verdiene, dann müsse man ihn prüfen und zuletzt annehmen (III, 6). Auch dürfe man nicht leichtfertig die Freunde wechseln, denn das kränke den Freund; einen einmal zugelassenen Freund müsse man in allem ertragen, solange er nicht vom Fundament abweiche; deshalb sei die sorgfältige Auswahl unabdingbar (III, 7). Vier Stufen führten hinauf zur perfekten Freundschaft (ad amicitiae perfectionem): die Auswahl (electio), die Prüfung (probatio), die Annahme (admissio) und viertens die mit Liebe und Wohlwollen gepaarte gänzliche Übereinstimmung (consensio) in allen göttlichen und menschlichen Dingen (III, 8).34 Walter erinnert daran, dass Aelred diese Definition bereits in seinem Dialog mit Ivo gegeben habe, und fragt nach, ob 33 Aelred bezieht sich an dieser Stelle auf Ambrosius, De officiis 3,134. 34 Vgl. Cicero, Laelius 20.

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sie für alle Arten von Freundschaft gelte (III, 9). Diese Nachfrage irritiert, denn sie unterläuft die bereits zuvor von Aelred vorgetragenen Differenzierungen, nach denen doch klar sein müsste, dass sie nur für die geistliche Freundschaft gelten kann. Auch in diesem Fall nimmt Aelred von einer direkten Ermahnung Abstand und betont lediglich, dass sie nur für die wahre Freundschaft unter den Guten gelte, die nicht gegen den Glauben und die guten Sitten verstießen (III, 10). Gratian fragt daraufhin nach, warum nicht auch jene Definition passend sei, die ihn gestern beglückt habe: dasselbe Wollen und Nicht-Wollen (III, 11)? Erneut zeigt sich Aelred gegenüber Gratian konzilianter und entgegnet, dass man sie bei jenen mit gefestigtem Lebenswandel und geordneten Affekten durchaus gelten lassen könne (III, 12). Walter reagiert darauf mit einer weiteren abfälligen Bemerkung über Gratian: Dieser solle zusehen, dass diese Dinge bei ihm selbst und bei dem, den er liebe, zuträfen. Weder solle er erwarten noch für andere tun, was ungerecht (iniustum), unehrenhaft (inhonestum) und unanständig (indecens) sei. Von Aelred aber erwarte er, dass er sie noch mehr über die vier Stufen lehre (III, 13). Ohne die Frage nach den vier Stufen zu beantworten, erläutert Aelred zunächst, welche Personen man meiden solle, sofern man sie nicht von ihren Lastern / Fehlern (vitia) heilen könne: die Jähzornigen (iracundi), die Wankelmütigen (instabiles), die Argwöhnischen (suspiciosi) und die Geschwätzigen (verbosi) (III, 14). In Anlehnung an die Bibel (Jes Sir 6,9; Spr 22,24 f., Koh 7,9) führt er dann ergänzend aus, dass man mit einem Jähzornigen nicht dauerhaft befreundet sein könne (III, 15). Dagegen wendet Walter ein, sie beide hätten ihn doch mit dem zornigsten Menschen bis zu dessen Tod in innigster Verbindung eine Freundschaft pflegen sehen (III, 16). Zum ersten Mal kommt damit eine Erfahrungsebene ins Spiel, in der nicht mehr Walters und Gratians ungenügendes Freundschaftsverständnis thematisiert wird, sondern die Frage, ob Aelreds Freundschaftsbeziehungen selbst seinen 194

Ansprüchen genügen. Aelred ist damit erstmals in der Defensive, zumal Walter und Gratian in ihren Beobachtungen übereinstimmen. Aelred führt daraufhin aus, es gebe Menschen, die aus Veranlagung zum Zorn neigten, ihre Leidenschaften aber dennoch so mäßigten, dass sie nie in die fünf Fehler verfielen, die nach der Heiligen Schrift (Jes Sir 22,19 – 22) Freundschaft zerstörten. Gleichwohl seien solche Menschen gelegentlich unbedacht. Wenn man sie als Freunde annehme, müsse man nachsichtig mit ihnen sein und sie liebevoll ermahnen (III, 17). Nun ist es Gratian, der widerspricht und einwendet, ein anderer Freund, den Aelred offenbar allen anderen vorziehe, habe vor wenigen Tagen etwas gesagt, wovon er wissen musste, dass es ihn kränke, aber sie hätten nicht den Eindruck, dass er ihn deshalb weniger liebe. Und sie wunderten sich, dass er sich für sie nur so viel Zeit nehme, wie es diesem Freund recht sei. Dieser dagegen könne seinetwegen nicht einmal die geringste Kleinigkeit hinnehmen (III, 18). Offenbar ist dieser Frage eine Kommunikation zwischen Gratian und Walter vorausgegangen, in der sie sich über Aelreds Freundschaftsbeziehung ausgetauscht haben. Unbeschadet dessen, kritisiert Walter Gratians Nachfrage als unverfroren; er selbst habe sich vorgenommen, dazu zu schweigen (III, 19). In seiner Antwort geht Aelred auf die Kritik Walters und Gratians an beiden Freundschaften ein, wobei er nicht explizit zwischen seinem jetzigen Freund und dem früheren Freund unterscheidet. Deutlich wird die Differenzierung nur aus dem Tempuswechsel. Er bezeichnet den aktuell Kritisierten als seinen liebsten Freund (ille mihi carissimus est), den er unverbrüchlich liebe, nachdem er ihn einmal als Freund akzeptiert habe. Bei seinem früheren Freund habe er seinen Willen vielleicht besser beherrschen können als dieser; und da dieser nichts Unehrenhaftes getan habe, den Glauben nicht beschädigt und die Tugend nicht geschmälert habe, habe er seinen Willen vorgezogen (III, 20). 195

Walter, der sich mit dieser Antwort scheinbar zufriedengibt, fragt daraufhin nach, welches die fünf Fehler seien, die die Freundschaft zerstörten, und wen sie sich auf keinen Fall als Freund auswählen sollten (III, 21). Aelred verweist erneut auf die Bibel und zitiert nun die bereits angesprochene Stelle aus Jesus Sirach (22,19 – 22), wobei er einschränkt, dass man die Freundschaft auch bei Fehlverhalten des Freundes nicht einfach aufkündigen solle (III,  22). Auch das Buch Jesus Sirach betone die Möglichkeit der Versöhnung, von der es fünf Ausnahmen aufliste: Schmähung (convicium), Verhöhnung (improperium), Hochmut (superbia), Geheimnisverrat (mysterii revelatio) und Arglist (plaga dolosa). Diese fünf sollten sie sich nun genauer ansehen. Dafür gibt Aelred zahlreiche Beispiele aus dem Alten Testament (III, 23). Er beklagt Hochmut, Vertrauensbruch und Geheimnisverrat, Hinterlist, Schmähung, Stolz, Verleumdung, wobei er Geheimnisverrat und Verleumdung besonders hervorhebt (III, 24 – 25). Anschließend betont er, dass man sich vor denjenigen, die solchen Lastern frönten, in Acht nehmen solle, und ermahnt seine beiden Zuhörer, sich vor solchen Lastern zu hüten, welche die Strafe Gottes, wie er an mehreren Beispielen aus dem Alten Testament belegt, nach sich zögen (III, 26 – 27). Hüten müsse man sich aber auch vor dem Gift, über den Freund hinter dessen Rücken herzuziehen. Die Jähzornigen, die Unsteten, die Misstrauischen müsse man meiden (III, 28). Dem Misstrauischen sei die Ruhe des Herzens fremd, ihn plage die Neugier, er wittere überall Verrat (III, 29).35 Auch Schwätzer solle man sich nicht zum Freund wählen. Vielmehr solle man sich jemanden suchen, der nicht jähzornig sei, nicht wankelmütig, nicht misstrauisch und nicht geschwätzig. Man solle jemanden wählen, 35 Aelred schließt mit dem Bezug auf die curiositas als Eigenschaft des Misstrauischen an ein spezifisches Verständnis von curiositas an, das nicht, wie Augustinus, von der Augenlust (concupiscentia occulorum) ausgeht, sondern von der Sorge. Vgl. Bös, Curiositas, S. 12.

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dessen Sitten (mores) und Eigenschaften (qualitates) mit den eigenen übereinstimmten. Zwischen ungleichen Charakteren, so habe schon Ambrosius gesagt, könne es keine Freundschaft geben. Und außerdem müsse gegenseitiges Wohlwollen (utriusque gratia) noch dazukommen (III, 30).36 Walter fragt daraufhin entmutigt nach, wie man jemanden finden solle, der nicht jähzornig, wankelmütig oder misstrauisch sei. Nur beim Geschwätzigen wisse man ja schnell Bescheid (III, 31). Aelred entgegnet, dass es nicht leicht sei, jemanden zu finden, der nicht von solchen Leidenschaften ergriffen sei, aber es gebe viele, die sie überwunden hätten. Gerade solche Menschen seien zu bevorzugen, die mit Hilfe der Tugend die Laster überwunden hätten (III, 32). Walter wendet dagegen vorsichtig und sich für seine Nachfrage entschuldigend ein, ob ihm denn nicht der Freund, den Gratian vorhin erwähnt habe, jähzornig vorkomme (III, 33)? Aelred konzediert dies, betont aber, dass er es am wenigsten im Rahmen der Freundschaft sei (III, 34). Nun ist es Gratian, der sich nicht überzeugt gibt und fragt, was »im Rahmen der Freundschaft« bedeuten solle. Daraus entspinnt sich ein knapper Wortwechsel zwischen Aelred und Gratian, in dem Aelred sich vergewissert, dass er doch wohl keinen Zweifel an seiner Freundschaft mit dem erwähnten Bruder habe, was Gratian zugesteht. Aelred hakt dann nach, ob Gratian je vernommen habe, dass zwischen ihnen Zorn (ira), Streit (rixa), Uneinigkeit (dissensio), Eifersucht / Rivalität (aemulatio) oder Spannung (contentio) geherrscht hätten. Niemals, entgegnet Gratian. Aber das rechneten Walter und er Aelreds Geduld zu, nicht der seines Freundes (III, 36). Im Dialog entfaltet sich damit ein potentieller Widerspruch zwischen dem von Aelred verkündeten Ideal und seinen tatsächlichen Freundschaftsbeziehungen, die von Gratian und Walter auf der Grundlage ihrer Beobachtungen überaus kri36 Vgl. Ambrosius, De officiis 3,133.

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tisch befragt werden. Aelred gerät darüber in argumentative Schwierigkeiten, die er nur durch eine Differenzierung zwischen dem allgemeinen Verhalten des Freundes und seinem Verhalten innerhalb der Freundschaftsbeziehung lösen kann, was freilich kaum mit der Konzeption von Tugendhaftigkeit in Übereinstimmung zu bringen ist. Zorn und Kränkung sind mit tugendhaftem Verhalten schwerlich vereinbar. Aelred erkennt diesen Widerspruch durchaus, beharrt aber darauf, dass die Freundschaft die wichtige Funktion habe, Tugendhaftigkeit zu verwirklichen. Deshalb hält er Gratian und Walter vor, sie irrten sich, wenn sie meinten, seine Geduld sei der Grund dafür. Wenn nicht die Zuneigung den Zorn zügele, werde ihn die Geduld eines anderen erst recht nicht besänftigen. Derjenige, so führt er weiter aus, über den wir hier sprechen, hält mir die Pflichten der Freundschaft; ein Kopfnicken von mir genügt, und er mäßigt sich; stets hält er sich in der Öffentlichkeit (in publicum) zurück und spricht sich erst aus, wenn wir allein sind; aus Freundschaft bezwingt er sich (III, 37). Das würde ich für weniger tugendhaft halten, wenn es ihm nicht die Freundschaft, sondern seine Natur (natura) vorgäbe (III, 38). Walter befindet nun, Aelred habe Gratian hinreichend geantwortet, beschließt damit diesen Gesprächsabschnitt und eröffnet einen neuen mit der Frage, was man tun solle, wenn man sich unvorsichtigerweise auf eine Freundschaft eingelassen habe, vor der man sich hätte hüten sollen, oder wenn der Freund in alte Laster zurückfalle. Ob man ihm dann die Treue halten solle (III, 39)? Der Dialog ist damit erneut an einem heiklen Punkt angekommen, denn Aelred muss nun zugestehen, dass die Prüfung nicht immer erfolgreich ist. Ähnlich wie Laelius, den er in diesem Abschnitt erneut breit paraphrasiert, muss er zugestehen, dass es bei der Erprobung zu Irrtümern komme, die es mit Umsicht zu heilen gelte.37 Wenn irgend möglich, 37 Cicero, Laelius 76.

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solle man schon bei der Auswahl und Erprobung darauf achten, sich nicht vorschnell mit unwürdigen Menschen zu befreunden, denn nur diejenigen seien der Freundschaft würdig, die den Grund ihrer Liebenswürdigkeit in sich trügen (III, 40).38 Doch wenn das unmöglich sei, wie es jemand einmal formuliert habe, solle man die Freundschaft nicht abrupt beenden, sondern langsam auslaufen lassen, wenn nicht unerträgliche Schmähungen vorgekommen seien, die eine unmittelbare Trennung erforderlich machen.39 Wenn jemand etwas gegen seinen Vater oder sein Vaterland (aut in patrem aut in patriam) im Schilde führe, müsse man dagegen sofort einschreiten; es werde ja nicht die Freundschaft verletzt, wenn ein Verräter und Feind ausgeliefert wird. Aelred differenziert damit zwischen der Idee der Freundschaft und einem konkreten Freund (III, 41). Es gebe jedoch andere Fehler, die nicht zu einem Bruch, sondern zu einer langsamen Auflösung der Freundschaft führen sollten, damit man Feindseligkeiten vermeiden könne (III, 42). So solle man auch verfahren, wenn jemand, mit dem man befreundet sei, einen plötzlich angreife, denn solche Menschen seien selbstgerecht und würden den Fehler nie bei sich selbst suchen (III, 43). Wenn einem dies widerfahre, solle man es so lange wie möglich ertragen.40 Wenn der Freund so gehandelt habe, dass man ihm die Freundschaft entziehen müsse, solle man ihm aber nicht auch noch die Liebe entziehen (nunquam tamen subtrahatur dilectio) (III, 44). Walter fragt dann noch einmal, was denn die fünf Laster seien, wegen derer man die Freundschaft auflösen solle (III, 45). Anders als sonst übernimmt Walter hier keine kritische Frageposition, sondern dient nur dazu, eine Wiederholung und Präzisierung zu initiieren. In seiner Antwort hebt 38 Cicero, Laelius 79. 39 Mit »jemand«, der das einmal formuliert habe, ist Cicero gemeint. Vgl. Cicero, Laelius 76. 40 Cicero, Laelius 78.

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Aelred zwei von den zuvor genannten fünf Lastern besonders hervor: Geheimnisverrat und üble Nachrede. Außerdem fügt er ein sechstes Laster an, das unverzeihlich sei: Wenn man die verletze, die zu lieben man verpflichtet oder für deren Heil man verantwortlich sei. Liebe, so betont Aelred, dürfe die Religion, den Glauben, die Nächstenliebe und das Heil des Volkes nicht überwiegen (non enim amor praeponderare debet religioni, non fidei, non caritati civium, non plebis salutati) (III, 46), was er erneut mit einer Reihe von Beispielen aus dem Alten Testament belegt (III, 47). Offenbar hält Aelred diese Ausführungen über die Auflösungsgründe für eine Freundschaft aber selbst für eine Untergrabung seines Ideals und fügt deshalb hinzu, dass es unter den Vollkommenen, den weise Erwählten und umsichtig Geprüften kein Zerwürfnis geben könne, und fügt in unausgewiesener Anlehnung an Hieronymus hinzu: Freundschaft, die enden kann, ist niemals wahre Freundschaft gewesen (amicitia quae desinere potest, nunquam vera fuit) (III, 48).41 Dennoch bleibe sie im Beleidigten, was sie war: Er liebe, achte und segne weiterhin den, der ihn verschmäht; er tue weiterhin Gutes für ihn (III, 49). Angesichts dieses Anspruchs fragt Gratian nach, wie man denn von einer Auflösung der Freundschaft reden könne, wenn man weiterhin so viel Gunst erweisen solle (III, 50). Er verdeutlicht damit, dass ihm die vorherigen Ausführungen Aelreds über die Differenzierung von Liebe und Freundschaft (III, 2) nicht präsent sind, bzw. übernimmt im Dialog die Funktion, Aelred die Gelegenheit zur Wiederholung und Präzisierung dieses Aspekts zu geben. Dieser bemüht sich dann auch, die Differenzierung zwischen Liebe und Freundschaft anhand von Einstellungen und Handlungen näher auszuführen. Zur Freundschaft gehörten vor allem vier Dinge: Liebe (dilectio), Zuneigung (affectio), Unbesorgtheit (securitas) 41 Vgl. Hieronymus, Epistola 3,6.

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und Liebenswürdigkeit (iucunditas). Zur Liebe gehörten mit Wohlwollen verbundene Wohltaten; zur Zuneigung die innerlich empfundene Freude; zur Unbesorgtheit, dass man alle Geheimnisse miteinander teile; zur Liebenswürdigkeit, dass man sich auf angenehme und vertraute Weise austausche (III, 51). Gratian direkt adressierend, fragt er ihn anschließend, ob er bemerke, was alles bei der Auflösung der Freundschaft wegfalle, und gibt darauf selbst die Antwort: die innere Freude (interior delectatio), die Unbesorgtheit (securitas), die Liebenswürdigkeit (iucunditas), die Vertrautheit (familiaritas). Aber die Liebe werde nicht entzogen, so dass immer noch Spuren der alten Freundschaft zurückblieben (III, 52). Gratian zeigt sich mit dieser Präzisierung zufrieden, während Walter erneut um eine Zusammenfassung bittet (III, 53), was Aelred sogleich zusagt. Der Dialog verwandelt sich hier stärker als in den vorhergehenden Abschnitten in einen Lehrdialog, denn die Fragen Gratians und Walters formulieren jetzt nicht mehr deutlichen Widerspruch, sondern fungieren eher als Stichwortgeber zur Vertiefung und Wiederholung der Lehre von den Voraussetzungen und Vorsichtsmaßnahmen bei der Begründung wie der Auflösung von Freundschaft. Liebe, so fasst Aelred zusammen, sei der Grund für die Freundschaft, und zwar eine solche, die gleichermaßen aus Vernunft und aus Gefühl (de ratione simul et affectu) hervorgehe. Sie sei keusch aus Vernunft und süß aus dem Gefühl. Ihr Fundament sei die Gottesliebe, an der alles gemessen werden müsse (III, 54). Vier Stufen der Freundschaft müsse man einhalten, über die man allmählich zur höchsten Vollendung gelange: erwählen, erproben, annehmen und als Freund behandeln. Bei der Erwählung müssten die Jähzornigen, die Wankelmütigen, die Misstrauischen und die Geschwätzigen ausgeschlossen werden – freilich nur diejenigen unter ihnen, die ihre Leidenschaften nicht bändigen könnten; wer das könne, sei umso wertvoller (III, 55). Wer aber sei201 https://doi.org/10.5771/9783835327214

nen Leidenschaften nachgebe, stürze in den Abgrund jener Laster, durch die nach der Heiligen Schrift (Jes Sir 22,22) die Freundschaft zerstört werde: Schmähung (convicium), Verhöhnung (improperium), Hochmut (superbia), Geheimnisverrat (mysterii revelatio) und Arglist (plaga dolosa) (III, 56). Wenn du das alles dennoch von jemandem erleidest, den du erwählt hast, so ergänzt er, dann brich die Freundschaft nicht gleich ab, sondern lockere sie allmählich. Entziehe dem alten Freund nicht Liebe, Hilfe und guten Rat, auch wenn du ihm nichts mehr anvertraust. Selbst wenn er dich blindwütig schmäht, entziehe ihm nicht deine Liebe, denn schuldig ist nur der, der Unrecht tut (III, 57). Sollte er allerdings dem Vater (pater), dem Vaterland (patria), den Mitbürgern (cives), den Untertanen (subdites), den Freunden (familiares) Schaden zufügen, dann löse das Band der Freundschaft sofort. Dem beugt man vor, wenn man sorgfältig wählt. Wählt darum keinen, der von Zorn (furor), Leichtfertigkeit (levitas), Geschwätzigkeit (verbositas) oder Argwohn (suspicio) beherrscht wird. Vor allem sollten sie sich einen Freund wählen, der die gleiche Einstellung (III, 58) habe. Aelred beschließt diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass er nur von der wahren Freundschaft gesprochen und deshalb diejenigen beiseitegelassen habe, die auf keinen Fall ausgewählt werden dürften: die Unsittlichen (turpes), die Habgierigen (avari), die Schmeichler (ambitiosi) und die Verbrecher (criminosi). Wenn sie nun genügend über die Auswahl wüssten, könnten sie zur Erprobung übergehen (III, 59). Nach dieser Zusammenfassung und der Ankündigung eines neuen Abschnitts thematisieren Walter und Gratian die Dauer des Dialogs, der tatsächlich deutlich länger ist als die beiden vorangegangenen. Walter äußert seine Sorge, es könne jemand hereinkommen und das Gespräch stören (III,  59), während Gratian anbietet, sich an die Tür zu setzen, um den bereits herannahenden Cellerarius aufzuhalten (III, 60). Was wie eine floskelhafte Abschnittsgliederung erscheint, verweist darauf, dass ein solches Gespräch innerhalb 202

des Klosters durchaus prekär ist, denn grundsätzlich gilt im Zisterzienserorden ein Schweigegebot. Dieses Schweigegebot konnte zugunsten der religiösen Unterweisung durchaus suspendiert werden. Das führte aber eher dazu, dass der Dialog als fingierter Dialog zur Lektüre und damit als Kunstform der Unterweisung im Gespräch eingesetzt wurde. Aber Aelred inszenierte hier zumindest eine Situation, die auf einen echten Dialog verweist, dessen Verabredung und Durchführung durchaus prekär blieben: Das Gespräch konnte gestört oder von außen abgebrochen werden, zumal wenn es spontan und nur unter den Teilnehmern verabredet war.42 Was eine mögliche Gefährdung für das Gespräch hätte sein können, blitzt hier freilich nur kurz auf, bevor es nach der Prüfung mit der Erprobung des Freundes, also der zweiten Stufe auf dem Weg zu vollkommener Freundschaft, fortgeführt wird. Vier Dinge, so führt Aelred aus, müsse man an einem Freund erproben: Treue (fides), Absicht (intentio), Takt (discretio) und Geduld (patientia); Treue, damit man sich ihm anvertrauen könne; Absicht, um sicher zu gehen, dass er sich von der Freundschaft nichts anderes erhoffe als ihren eigenen Wert und den Weg zu Gott; Takt, damit er wisse, wie man sich dem Freund gegenüber verhalten solle; Geduld, damit er mit einer Rüge umgehen könne (III, 61). Anschließend geht Aelred die einzelnen zu erprobenden Eigenschaften in der Reihenfolge ihrer Nennung durch. In der Freundschaft gebe es nichts Besseres als die Treue, weil sie nur auf das Herz des Freundes achte (III, 63). Die Treue zeige sich vor allem in schlechten Tagen, nämlich in der Not (III, 63).43 42 Vgl. Rüffer, Orbis Cisterciensis, S. 203 f.; zum fingierten Dialog als bevorzugter Lehrform innerhalb des Zisterzienserordens vgl. Breitenstein, »Ins Gespräch gebracht«. 43 Ähnlich äußern sich schon Ambrosius und Bernhard von Clairvaux. Vgl. Ambrosius, De officiis 3, 129; Bernhard von Clairvaux, Epistola 125,1.

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Dieser in der antiken wie christlichen Tradition verbreitete Topos von der Treue in der Not als Prüfstein wahrer Freundschaft kann Gratian freilich nicht völlig überzeugen. Das monastische Leben kennt offenbar zu wenig Notlagen, und so fragt er, wie man denn die Treue eines Freundes prüfen könne, wenn man niemals in Not gerate (III, 64). Aelred gibt darauf eine Antwort, die auf die Situation innerhalb des Ordens zu rekurrieren scheint: Man könne den Freund vor allem dadurch prüfen, dass man seine Vertrauenswürdigkeit beobachte, indem man ihm zunächst unwichtigere Dinge anvertraue und darauf achte, ob er sie für sich behalte (III, 65). Wenn er sich darin als treu erweise, solle man ihn mit wichtigeren Dingen prüfen, zum Beispiel damit, wie er reagiere, wenn der Freund verleumdet werde. Wenn er sich nicht von einem Verdacht irritieren lasse, sei seine Treue erwiesen (III, 66). Diese Prüfung ist offenbar eng mit dem Erfahrungsraum des Kloster verbunden, denn Gratian äußert daraufhin, er erinnere sich an einen Freund Aelreds, der sich als vertrauenswürdig erwiesen und nicht habe beirren lassen, als man Aelred verleumdet habe. Damit habe er noch Aelreds allerbesten Freund, den früheren Sakristan von Clairvaux, übertroffen. Freundschaft dient hier offenbar dazu, auch negative Erfahrungen innerhalb des Ordens, wie insbesondere Verleumdungen, zu kompensieren.44 Diese kompensatorische Funktion wird nicht weiter ausgeführt, aber sie verweist noch einmal darauf, dass die Verhältnisse innerhalb des Ordens sich von den weltlichen Verhältnissen keineswegs so fundamental unterschieden, dass Feindseligkeiten, üble Nachrede und Verleumdungen undenkbar gewesen wären. Nicht nur an Walter und Gratian zeigt sich innerhalb des Dialogs, dass der Eintritt in den Orden keine Garantie dafür war, die Unzuverlässigkeit der Welt hinter sich zu lassen. Nur vor diesem Hintergrund 44 Vgl. Langer, teleia philia und amicitia spiritalis, S. 179 f.

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war es ja auch erforderlich, innerhalb eines monastischen Dialogs der Prüfung des Freundes so viel Platz einzuräumen. Über Treue, so beschließt Gratian diesen Abschnitt, sei nun genug gesprochen, Aelred solle jetzt ausführen, was sonst noch zu prüfen sei (III, 67). Als nächstes sei die Absicht zu prüfen, denn es gebe Menschen, die allein ihren Nutzen suchten. Aelred thematisiert damit die Nutzenfreundschaft, die im Laelius eine so große Rolle spielt. Allerdings bespricht er sie deutlich kürzer und thematisiert sie nicht, wie Laelius, anhand zahlreicher Negativbeispiele, sondern verweist vorwiegend darauf, dass sie nicht dem Gesetz der Freundschaft entspreche, das der »Herr und Heiland« den Menschen mit dem Gesetz der Nächstenliebe (Mt. 22,9) vorgegeben habe (III, 68 – 69). Anschließend spricht er Gratian direkt in ermahnendem Ton an: Wenn Du den Freund nicht um seiner selbst willen liebst, begreifst Du nicht, was wahre Freundschaft (vera amicitia) ist (III,69). Aber wenn Du die Liebe, die Du für Dich selbst hegst, auf einen anderen überträgst, wird er zu Deinem alter ego. Mit einem Ambrosius-Zitat nimmt Aelred dann die zentrale Laelius-These auf, dass Freundschaft eine Tugend sei, die von der Habgier häufig verdunkelt werde, weswegen man sehr genau prüfen müsse, worum es dem Freund gehe (III, 71).45 Unmittelbar danach und ohne eine Reaktion von Gratian und Walter abzuwarten, kommt Aelred als dritten zu prüfenden Aspekt auf das Taktgefühl zu sprechen. Manche Leute seien so unverschämt, dass sie am Freund schon der geringste Verstoß empöre und sie ihn ohne Rücksicht auf Zeit und Ort kritisierten (III, 72). Ob der Freund über die Tugend des Taktgefühls verfüge, lasse sich leicht prüfen, weil man seine Geduld (patientia) auf die Probe stellen könne, indem man ihn seinerseits zurechtweise (III, 73). Allerdings solle man bei jeder Prüfung darauf achten, dass man die Freundschaft nicht immer gleich aufgebe, wenn an einem Probanden etwas zum Vorschein komme, was das Herz 45 Vgl. auch Cicero, De officiis 3, 134.

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kränke. Auch solle man des Auswählens und Erprobens nicht vorschnell überdrüssig werden, denn die Frucht dieser Mühe sei ein Lebenselixier und sicheres Fundament der Unsterblichkeit (medicamentum et immortalitatis solidissimum fundamentum) (III, 74). Es sei eine Sache des Unverstands, sich bei der Erprobung von Freunden keine Mühe zu geben. Nur vor ungestümem Liebesverlangen (impetus amoris), das dem Urteil vorauseile, müsse man sich hüten (III, 75).46 Der kluge Mann, so beschließt Aelred diesen Abschnitt, zügele diesen Impuls, bestimme das rechte Maß des Wohlwollens und schreite allmählich in der Zuneigung voran, bis er sich dem erprobten Freund gänzlich öffne. Die so geforderte Sorgfalt in beide Richtungen – nicht zu schnell aufgeben, aber sich auch nicht zu früh begeistern – stößt freilich bei Walter wieder einmal auf eine negative Reaktion, der angesichts der Höhe der Anforderungen bekennt, unter diesen Umständen lieber ohne Freunde leben zu wollen. Aelred reagiert darauf mit dem erstaunten Ausruf: Das wundert mich, da das Leben ohne Freund freudlos ist, worauf Walter mit einem verständnislosen »wieso« reagiert (III, 76). Von da aus ergibt sich eine neue Form der Dialogführung, die einen grundsätzlich anderen dialogischen Modus impliziert: Aelred stellt Walter Fragen und reagiert auf seine Antworten mit weiteren Fragen, die diesen zunehmend in seiner Überzeugung verunsichern. Zunächst fragt er ihn, ob es ihm wohl Freude bereiten würde, wenn er allein auf der Welt wäre, alle Schätze ihm allein gehörten und alle Tiere ihm untertan wären? Ob er sich daran wohl ohne einen Gefährten (sine socio) erfreuen würde? Walter antwortet darauf mit einem »gewiss nicht« (III, 77). Aelred fragt dann nach, wie es wäre, wenn er einen Gefährten hätte, dessen Sprache und dessen Sitten er nicht verstünde und dessen Liebe ihm verborgen bliebe. Walter antwortet, wenn er nicht einmal mit Zeichensprache erreichen könne, dass er sein Freund 46 Cicero, Laelius 62.

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würde, wolle er lieber niemanden um sich haben, worauf Aelred nachfragt, wenn da aber einer wäre, den er so liebe wie sich selbst und der ihn ebenso liebe, werde dann nicht alles süß, was vorher bitter war? Walter konzediert schließlich: Ja, ganz gewiss (III, 78). Die Art, wie Aelred an dieser Stelle durch den Dialog führt, erinnert an die sokratische Mäeutik: Aelred führt Walter in einem raschen dialektischen Frage- und Antwortspiel dazu, sein eigenes Verständnis zu formulieren, dessen Widersprüche zu erkennen und ihn auf diese Weise zu der Einsicht zu bringen, dass seine Ablehnung von Freundschaft aus Angst vor Enttäuschung hinter seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zurückbleibt. Anders als Sokrates bleibt er freilich bei dieser Aporie nicht stehen, sondern formuliert anschließend das Versprechen der wahren Freundschaft: Sie sei jenes große Glück, das die Menschen erwarteten. Gott selbst werde über sich und seine Schöpfung die Fülle von Freundschaft und Liebe ausgießen. Dann werde die ewige und wahre Freundschaft, die hier begonnen wurde, vollendet (III, 79). Und wenn sie auf Erden selten sei, bestehe sie dort zwischen allen; dort bedürfe es keiner Prüfung mehr. Dazu seien die Freunde, die sie hier so liebten wie sich selbst, denen sie sich ganz anvertrauten, die Vorstufe. Glaubst du noch, so schließt er, es gebe unter den Menschen irgendeinen, der nicht geliebt werden möchte? Walter lenkt darauf ein und entgegnet, das glaube er nicht (III, 80). Noch einmal schließt sich daran ein Abschnitt des dialektischen Frage-und-Antwort-Spiels an: Nehmen wir an, so fragt Aelred Walter weiter, du findest einen Menschen, der allen misstraut, der niemanden liebt und von keinem geliebt wird. Findest du nicht, das wäre der elendeste Mensch? Walter konzediert, dass dies gewiss der Elendeste wäre, worauf Aelred nachfasst, dass er dann wohl auch nicht abstreiten werde, dass derjenige, der von allen geliebt werde und alle liebe, am glücklichsten sei. Walter bestätigt daraufhin, dass dies sehr gut gesagt und wahr sei (III, 81). 207

Damit ist die sokratisch-dialektische Fragetechnik aber auch bereits wieder beendet. Aelred bedient sich ihrer nur sehr kurz und mit dem eindeutigen Ziel, Walter zum Einlenken zu bewegen, ohne sie – wie Sokrates – zu einer zentralen Technik des Dialogs mit offenem Ausgang zu machen. Dass er Platons Lysis kannte, ist freilich auszuschließen, und ob er einen anderen platonischen Dialog gekannt hat – immerhin hatte Cicero Platons Timaios ins Lateinische übersetzt –, ist fraglich. Eher dürfte er diese Fragetechnik aus dem dialektischen Unterricht gekannt haben, der an den Kathedralschulen und den Universitäten des 12. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte.47 Sie diente hier nicht dazu, Fragen mit offenem Ausgang zu verhandeln, sondern den Dialogpartner zu überzeugen. Für Aelred gibt es keine offene Frage. Wie Laelius hat er eine sehr genaue Vorstellung von der Unverzichtbarkeit und Realisierbarkeit wahrer Freundschaft und dem mit ihr verbundenen großen Versprechen auf ungetrübte Gemeinschaft. Wie Laelius ist er freilich auch gezwungen, dieses große Versprechen mit den Interessen und Verhaltensweisen abzugleichen, die diesem Versprechen entgegenstehen. Anders als Laelius hat er jedoch einen Transzendenzraum zur Verfügung, der als unantastbares Refugium der wahren Freundschaft zu fungieren vermag, von dessen Glanz sein eigener Bericht von geläuterter Liebe bereits etwas vermittelt. Als Exemplum führt er den beglückenden Eindruck an, den er zwei Tage zuvor gehabt habe, als er durch den Kreuzgang gewandelt und auf die Runde seiner Mitbrüder gestoßen sei, die ihm vorgekommen sei wie das Paradies. Keiner sei in ihrer Schar gewesen, den er nicht liebe. Da sei eine Freude über ihn gekommen, die alle Lust der Welt übertraf. Er habe gefühlt, wie sein Geist auf alle überströmte und die Liebe aller auf ihn übergegangen sei, und er habe mit dem Propheten (Ps 133,1)

47 Vgl. Verbaal, Cistercians in Dialogue, S. 236 f.

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ausgerufen: »Seht nur, wie gut und schön ist es, wenn die Brüder alle miteinander in Eintracht wohnen« (III, 82). Aelred nimmt damit eine Engführung zwischen Liebe und Freundschaft vor, was Gratian auffällt und zu der Frage veranlasst, ob sie denn davon ausgehen sollten, dass Aelred alle, die er liebe, in den Bund der Freundschaft aufgenommen habe (III, 82)? So will Aelred das freilich nicht verstanden wissen: Mit unserer ganzen Zuneigung, so betont er, umfassen wir auch diejenigen, die nicht unsere engsten Freunde sind und denen wir nicht alles anvertrauen (III, 83).48 Wir lieben also viele, aber es wäre nicht klug, ihnen allen unser Herz auszuschütten. Ihr Alter (aetas), ihr Feingefühl (sensus), ihr Takt (discretio) reichen nicht aus, um alles zu bewahren (III, 84). Damit scheint der Dialog einen Punkt erreicht zu haben, in dem das klösterliche Leben die alles überströmende Liebe einschließt, von der Freundschaft als eine höhere Form, die auch noch Vertraulichkeit impliziert, aber immer noch abgegrenzt werden kann. Umso deutlicher ist der Absturz durch Walters Einwand, diese Art von Freundschaft sei so erhaben und vollkommen, dass er es nicht wage, sie anzustreben. Ihm und Gratian genüge, was der Aelred so teure Augustinus schreibe: Freundschaft sei miteinander reden und lachen, einander wohlwollend zuhören, zusammen lesen und beratschlagen, einander ärgern und loben, sich zuweilen streiten, aber ohne Hass, voneinander lernen, einander mit Unruhe herbeisehnen und freudig begrüßen (III, 85).49 Durch diese und ähnliche Zeichen, durch Mund, Zunge und Blicke, würden die Herzen entzündet und zwei Herzen zu einem werden. So verstünden Gratian und er die Freundesliebe (III, 86). Betrachtet man das Gespräch als Lehrdialog, so ist er auf der Sachebene hier an seinem Tiefpunkt angelangt. Walter 48 Aelred verweist an dieser Stelle auf Joh 15,15 und die Auslegung in Ambrosius’ De Officiis 3, 136. 49 Vgl. Augustinus, Confessiones 4,8,13.

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und Gratian scheinen nichts von Aelreds so geduldig vorgetragener Lehre verstanden oder zumindest nichts davon innerlich angenommen zu haben. Was Walter hier als die von ihnen bevorzugte Freundschaft ausgibt, kann sich auch keineswegs auf Augustinus als Vorbild stützen, sondern bezieht sich eben auf jene Art von Freundschaften, mit denen Augustinus versucht, nach dem Tod eines geliebten Freundes seine Trauer abzutöten, ohne verstanden zu haben, dass sie nur in Christus überwunden werden kann. Walter apostrophiert damit jene Art von Freundschaft positiv, deren Überwindung Augustinus in seinen Confessiones beschreibt. Auf der Performanzebene findet sich mit der Behauptung, dies sei die von Gratian und ihm bevorzugte Art der Freundschaft, erstmals eine Übereinstimmung zwischen Walter und Gratian; freilich auf einem Niveau, das alles unterschreitet, was Aelred gelehrt hat, und mit einem Bezug, der mehr als irritierend ist. Auf diesen Tiefpunkt des Dialogs, der eigentlich sein komplettes Scheitern als geistlicher Lehrer markiert, reagiert Aelred erstaunlicherweise überaus nachsichtig. Zwar führt er aus, dies seien die fleischliche Freundschaft (amicitia carnalium) und insbesondere die Freundschaft der Jugend, der Augustinus selbst einmal angehangen habe. Anders als Augustinus und trotz seiner eigenen sehr scharfen Verurteilung der fleischlichen Freundschaft innerhalb des Dialogs erklärt er aber, wenn sich nichts Unehrenhaftes einschleiche, könne sie als Ausgangsbasis für eine heiligere Form der Freundschaft dienen. Von da aus könnten die Freunde dann weitere Stufen emporsteigen (III, 87). Diese Einschätzung kann sich zwar darauf stützen, dass Augustinus an der von Walter paraphrasierten Stelle der Confessiones die sündige Lust in seinen Freundschaftsbeziehungen nicht wie an anderen Stellen hervorhebt, aber es ist doch unabweisbar, dass sie für Augustinus zu jener Art von Freundschaftsbeziehungen gehören, die den Weg zu Gott verstellen. Ohne weitere Erläuterung und mit der eher blassen deiktischen Überleitung, dass die Zeit dränge, kommt Aelred 210

danach auf die Pflege der Freundschaft zu sprechen. Dabei wiederholt er in enger Anlehnung an Ciceros Laelius vieles von dem, was er schon ausgeführt hat: Treue sei das Fundament der Freundschaft, ohne sie habe nichts Bestand;50 Übereinstimmung und Einigkeit gehörten dazu (III, 88); vor Misstrauen müsse man sich hüten; dagegen liebenswürdig sprechen, um der Freundschaft zu dienen (III, 89).51 Durch die Kraft der Freundschaft würden Statusunterschiede ausgeglichen, der Reiche werde arm, der Arme reich (III, 90 – 91).52 Diesen Aspekt erläutert er dann an der Freundschaft zwischen Jonathan und David (III, 92 – 94) und betont an diesem Beispiel den Unterschied zu Cicero, der gemeint habe, es sei unmöglich, jemanden zu finden, der nicht Ehre, Status, Macht und Herrschaft der Freundschaft vorzöge, wohingegen sie das Beispiel Jonathans und Davids vor Augen hätten (III, 95).53 Aelred versucht damit, Walter und Gratian die Freundschaft zwischen Jonathan und David als wahre, beständige und ewige Freundschaft vor Augen zu führen und sie als Vorbild zu etablieren (III, 96). Freilich ergänzt er sogleich mahnend, dass die Freundschaft dort nicht recht gepflegt werde, wo die Gleichheit nicht gewahrt werde. Man müsse, wie Ambrosius gesagt habe, den Freund wie seinesgleichen behandeln, denn Freundschaft kenne keinen Stolz.54 Den Blick sodann wieder auf Laelius richtend, betont Aelred, man dürfe den Freund um alles bitten und müsse ihm umgekehrt alles gewähren, ohne zu zögern (III, 97).55 Nicht nur mit Geld, sondern auch allem anderen Nutzbringenden

Vgl. Cicero, Laelius 65. Vgl. Cicero, Laelius 66. Vgl. Cicero, Laelius 69. Laelius führt freilich Scipio als Gegenbeispiel an. Vgl. Cicero, Laelius 63 und 64; für die Freundschaft zwischen David und Jonathan siehe 1 Sam 22,6 – 10 und 23,7 f. 54 Vgl. Ambrosius, De officiis 3,128. 55 Vgl. Cicero, Laelius 44. 50 51 52 53

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und Notwendigen solle man dem Freund helfen (III, 98) und ihm alles geben, ohne dass er darum bitten müsse (III, 99). Auch hierfür fügt Aelred ein alttestamentarisches Beispiel an, nämlich das der Moabiterin Rut (III, 100).56 Ohne sich von diesem Exempel beeindrucken zu lassen und in weitgehender Verkennung seiner Funktion, von der er nicht erwartet, dass es seine eigene Situation abbildet, fragt Walter, welchen Anteil sie denn an der geistlichen Freundschaft nehmen könnten, da sie doch nichts annehmen und nichts verschenken dürften (III, 100). Aelred reagiert auch dieses Mal nachsichtig und erklärt, die heilige Armut verleihe der Freundschaft Stabilität, weil die Gier ja bereits überwunden sei. Dennoch gebe es Gaben, mit denen die Freunde einander helfen und die sie teilen können: Fürsorge, Gebet, Freude, Erfolg und Misserfolg (III, 101). Aelred kommt von da aus noch einmal darauf zu sprechen, wie Freunde einander beistehen, sich trösten, unterstützen, mäßigen und ermahnen (III, 102 – 104) und wie wichtig es sei, auf die Ermahnungen zu hören und Liebedienerei zu vermeiden (III, 105 – 109). Aelreds Ausführungen haben hier eine erhebliche Redundanz; er wiederholt vieles, was er im zweiten und dritten Teil bereits ausgeführt hat. Am Ende dieser länglichen Ausführungen kommt es dann aber noch einmal zu einem bezeichnenden Wortwechsel zwischen Aelred und Walter. Nachdem Aelred viel von der Notwendigkeit zur Ermahnung und zum Tadel gesprochen hat, bemerkt er, unter Umständen dürfe man etwas mit Nichtbeachtung übergehen (dissimulatio), aber niemals mit Verstellung (simulatio), worauf Walter irritiert nachfragt, wie Nichtbeachtung, die doch immer schlecht sei, akzeptabel sein könne (III, 109). Aelreds Erklärung, auch Gott sehe gelegentlich über Sünden hinweg, denn er wolle nicht den Tod des Sünders, sondern seine Umkehr, stellt Walter nicht zufrieden, und er bittet ihn, den Unterschied zwischen Nichtbe56 Vgl. Rut 2,8 f.

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achtung und Verstellung zu erklären (III, 110). Aelred führt daraufhin aus, dass Verstellung ein unehrlicher Entschluss gegen das Urteil der Vernunft und deshalb immer verwerflich sei (III, 111), wohingegen über etwas hinwegzusehen bedeute, dass man abwäge und einen Tadel unter Umständen zeitlich aufschiebe (III, 112).57 Als Beispiel verweist er auf Nathan, der David den Ehebruch mit Bathseba und den Mord an ihrem Ehemann Uriah nicht sofort vorgeworfen, sondern den König erst einige Zeit später dazu gebracht habe, das Urteil über sich selbst zu fällen (III, 113).58 Von diesem Exempel zeigt Walter sich überzeugt, wechselt dann aber gänzlich unvermittelt das Thema und fragt, ob ein Freund, der Ämter zu vergeben habe, seine Freunde bevorzugen solle (III, 114). Aelred, der hier in seiner Funktion als Abt angesprochen ist und sich durch die Frage durchaus angegriffen fühlen könnte, kommentiert diesen plötzlichen Themenwechsel nicht, sondern weist darauf hin, dass nicht jeder, den man liebe, für ein Amt geeignet sei (III, 115), und man bei der Auswahl deshalb der Vernunft und nicht der Zuneigung (affectus) folgen müsse (III, 116). Erneut zieht er ein biblisches Exempel heran, diesmal Jesus, der Petrus im Hinblick auf das Amt vorgezogen, in der Liebe aber Johannes den Vorrang gewährt habe (III, 117). Umgekehrt dürfe man einen Freund aber auch nicht aus Liebe von Ämtern fernhalten, in denen er von großem Nutzen sein könne (III, 118).59 Aelred nutzt diese durchaus heikle Frage, um danach über zwei Freunde zu sprechen, die ihm eng verbunden gewesen seien. Beide Freunde sind bereits verstorben und bleiben anonym; von dem ersten ist nur kurz die Rede, über den zweiten und seine Freundschaft mit ihm spricht Aelred ausführlich; dabei lobt er ihn zunächst in höchsten Tönen und beschreibt anschließend das Werden und Wachsen ihrer 57 Vgl. Cicero, Laelius 93. 58 Vgl. 2 Sam 12,1 – 15. 59 Vgl. Cicero, Laelius 75.

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Freundschaft gemäß den von ihm aufgestellten Regeln, denen sie in allem entsprochen habe; die Beziehung wird so als ideale Freundschaft etabliert. Aelred wechselt damit vom Dialog in eine dreiteilige pathetische Rede über: Im ersten Teil erzählt er von seinen Freundschaften, wobei er der zweiten, durch Vernunft begründeten sehr viel mehr Platz einräumt (III, 119 – 127); im zweiten Teil ermahnt er Walter und Gratian, sich daran zu orientieren und alle Stufen zu erklimmen (III, 128 – 133); im dritten Teil preist er in einer Schlussapotheose die Freundschaft als Weg zu Gott und dessen alles überströmender Liebe (III, 134). Insbesondere in der pathetischen Schilderung der zweiten Freundschaftsbeziehung wird sehr deutlich, wie Freundschaft mit den Regeln des Klosterlebens versöhnt werden kann, denn sein geliebter Freund unterwirft sich dem Joch der klösterlichen Observanz (iugum disciplinae regularis), nimmt Aelreds Freundschaftslehre an, besteht demütig die Prüfungen seiner Tugend, denen Aelred ihn unterzieht, und erklimmt mit ihm alle Stufen der Freundschaft, so dass er sich den Untergebenen zum Gefährten (de inferiori socium), den Gefährten zum Freund (de socio amicum) und den Freund zum Vertrauten (de amico amicissimum) macht. Das Amt des Subpriors, das er ihm aufbürdete, habe der Freund aus Bescheidenheit und weil er um ihre Freundschaft fürchtete, zunächst abgelehnt, dann aber demütig auf sich genommen (III,  122), aber mit Aelred freimütig über seinen Wunsch gesprochen, es wieder loszuwerden. Dieser Freimut seines Geistes und seiner Stimme (mentis vocisque libertas) habe ihrer Freundschaft die Krone aufgesetzt (amicitiae nostrae cumulum addidit), ihre Liebe zum Wachsen gebracht (amor crevit), bis sie schließlich dahin gekommen seien, dass wir »ein Herz und eine Seele waren« (Apg 4,32), »dasselbe wollten oder nicht wollten« und die Liebe frei von Furcht (timoris vacuus), frei von Schmähungen (offensionis nescius), ohne Misstrauen (suspicione carens) und Schmeichelei gewesen sei (III, 124). Und weil sie den Weg der Geradlinigkeit 214

schritten hätten, habe Tadel keine Kränkung hervorgerufen (nullius correptio indagnationem) und die Übereinstimmung keine Sünde (nullius consensium culpam pariebat). Der Freund habe sich in allem bewährt, für seinen Frieden und seine Herzensruhe gesorgt (III, 125). Als er schon kränkelte, habe er ihn einmal mit zeitlichen Dingen trösten wollen, doch er habe es nicht zugelassen und betont, sie müssten darauf achten, dass ihre Liebe nicht nach solchen fleischlichen Tröstungen bemessen und dies mehr seinem sinnlichen Affekt als seiner Notlage zugeschrieben werde (ne id magis carnali affectui meo quam eius necessitati ascriberetur), wodurch sein Ansehen Schaden nehmen würde. Dieser Freund sei das Ruhekissen seines Geistes und der süße Trost seines Schmerzes (dolorum meorum dulce solatium) gewesen. Der Schutz seiner Liebe habe ihn aufgenommen, wenn er erschöpft war, sein Rat ihn aufgerichtet, wenn er in Traurigkeit oder Kummer zu versinken drohte (III, 126). Was immer ihm Unerfreuliches widerfuhr, habe er ihm berichtet; was er alleine nicht habe tragen können, hätten sie gemeinsam umso leichter geschultert. Am Ende dieser emotionalen und pathoserfüllten Schilderung richtet sich Aelred noch einmal an Walter und Gratian mit der rhetorischen Frage, ob es nicht ein Stück vom Himmel sei, so zu lieben und geliebt zu werden, solche Hilfe zu bieten und zu erfahren und sich so von der Annehmlichkeit brüderlicher Liebe zum erhabenen Ort und zum hellen Glanz der Gottesliebe aufzuschwingen und auf dieser Leiter der Liebe hinaufzusteigen zur Umarmung Christi und diese wieder hinabzusteigen zur Nächstenliebe. Frei von Pathos erklärt er dann, warum er ihnen diese Freundschaft geschildert habe: damit sie ihnen als Exemplum diene, das sie nachahmen und sich zu eigen machen könnten (III, 127). Im zweiten Teil seiner Rede, die er mit einem deiktischen Verweis auf die untergehende Sonne einleitet, die sie ermahne, ihr Gespräch zu Ende zu bringen, tritt der Lehrcharakter wieder explizit in den Vordergrund, wenn Aelred 215

erläutert, welchen Regeln sie bei der Auswahl und Prüfung des Freundes folgen (III, 128 – III, 133), wie sie die Stufen der Freundschaft erklimmen sollten und welcher Lohn ihnen dafür zuteilwerde (III, 128-III, 133). Diese stark didaktische, aber durchaus auch pathoserfüllte Rede mündet dann in den dritten Teil der Rede, die Schlussapotheose, in der Aelred die Funktion von Freundschaft als Weg zur Liebe Gottes preist: Die heilige Liebe, die den Freund umarmt, führt hinaus zu jener seligen Liebe, die uns Christus in die Arme schließen läßt. Dann genießt man in vollen Zügen diese geistigste aller Früchte der heiligen Freundschaft, erwartend die volle Seligkeit. Dann ist alle Furcht vertrieben […], der Stachel des Todes vernichtet […]; dann erhalten wir den sicheren Besitz und die ewige Freude des höchsten Gutes. Im Himmel wird die Freundschaft, die wir hier auf Erden nur wenigen schenken können, auf alle übertragen und von allen wiederum Gott zurückgeschenkt, denn Gott ist alles in allem (III, 134). Mit diesen Worten endet der Dialog, ohne dass Walter und Gratian darauf noch einmal zu Wort gekommen wären und ohne dass sie von Aelred verabschiedet werden. Die dreiteilige Schlussrede wirkt damit bei allem Pathos wie das Eingeständnis eines Scheiterns: Was Aelred im Dialog nicht erreicht hat, dass nämlich Walter und Gratian seiner Vorstellung von Freundschaft folgen und sie innerlich annehmen, versucht er durch das Pathos seiner Rede und die eingeschobene Ermahnung, dem Beispiel seiner Freundschaft zu folgen, sowie das Versprechen auf die transzendente Einheit mit Gott zu erreichen. In den dialogischen Teilen wird freilich deutlich, wie wenig seine beiden discipuli bereit sind, seine Lehre anzunehmen. Deshalb ist der Übergang vom Dialog zur Rede erforderlich.

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Aelreds Freundschaftskonzeption und das Problem der Intimisierung und Individuierung Aelreds anspruchsvolle Freundschaftskonzeption war nicht nur bei seinen beiden Gesprächspartnern von mäßigem Erfolg: Innerhalb des Zisterzienserordens ist sie zwar durchaus rezipiert worden, hat aber sonst auf den monastischen Freundschaftsdiskurs keinen größeren Einfluss gehabt.60 Und auch innerhalb des Ordens wurde die Schrift nicht wirklich einflussreich. Schon Walter Daniel, der Aelreds Vita verfasst hat und mit jenem Walter identisch ist, der als einer der Gesprächspartner in De spiritali amicitia auftritt, erwähnt den Dialog nur als eines seiner unbedeutenderen Werke und nennt als dessen wichtigstes Werk De speculo caritatis, das Aelred auf Bitten Bernhards von Clairvaux verfasst hat.61 Offenbar ist seine im Dialog immer wieder deutlich werdende Skepsis gegenüber einer Freundschaftskonzeption, die so viel versprach, aber so hohe Anforderungen stellte, selbst wenn Aelred diese Anforderungen verschiedentlich abzumildern suchte, nicht wirklich überwunden worden. Aristoteles spielte für Aelred keine Rolle. Die Nikomachische Ethik wurde erst Mitte des 13. Jahrhunderts von Robert Grosseteste ins Lateinische übersetzt und war Aelred von daher nicht zugänglich. Aristoteles’ bürgerschaftliche Freundschaftskonzeption, die sehr viel weniger anspruchsvoll war als die ciceronische, insofern sie zwischen den drei unterschiedlichen Arten der Freundschaft sehr viel weniger tiefe Gräben zog, wäre für Aelred auch deutlich weniger anschlussfähig gewesen. Ciceros Freundschaftskonzeption mit der scharfen Differenzierung zwischen zwei unechten und einer wahren Form der Freundschaft war für ihn erheblich besser adaptierbar. Gemäß seinem Programm, Ciceros 60 Vgl. Schuster, Aelred von Rievaulx, S. 19. Siehe dazu auch McGuire, The Cistercians, S. 11. 61 Vgl. Schuster, Aelred von Rievaulx, S. 21.

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Freundschaftskonzeption durch die Bibel zu untermauern, ergänzte er die Vorstellung wahrer Freundschaft durch zahlreiche Exempel aus dem Alten und Neuen Testament, die er durch die Apostelakten und Märtyrerexempel komplettierte. Den Psalmen und Sprüchen entnahm er gültige Kernsätze, mit denen er die von Cicero adaptierte Freundschaft in den Lehren der Bibel verankerte. Diese Verankerung ergänzte er durch die Kirchenväter, insbesondere durch Ambrosius’ De officiis.62 Cicero aber blieb der wichtigste Text für seine Konstruktion der geistlichen Freundschaft: Wie bei Cicero sollte sich die Wahl des Freundes an der Liebe zur Tugend orientieren, und wie bei Cicero ist der Diskurs als Dialog zwischen Lehrer und Schüler gestaltet. Nichtsdestotrotz ist der Abstand zwischen Cicero und Aelred erheblich. Um Cicero handhabbar zu machen, musste Aelred dessen Tugendbegriff religiös umcodieren und ihn um Transzendenzaspekte ergänzen, die für Cicero irrelevant waren. Zwar gründete auch Cicero seine Freundschaftsdefinition auf der Übereinstimmung in allen menschlichen und göttlichen Dingen, aber damit war kein zentraler Gottesbezug gemeint, welcher der Freundschaft erst ihren Sinn verlieh. Doch nicht nur im Hinblick auf Cicero war Aelreds Freundschaftskonzeption problematisch. Auch im Hinblick auf die vita monastica war sie nicht ohne Weiteres anschlussfähig. Einerseits rückte Aelred religiöse Transzendenz in den Mittelpunkt seiner monastisch grundierten Freundschaftskonzeption, andererseits aber redete er Transformationen der religiosen Observanz das Wort, die lange Zeit freundschaftliche Bindungen unter den Brüdern als Ablenkung von Gott und als eine die Ordnung des Klosters störende Sonder62 Zur Augustinus-Rezeption bei Aelred vgl. Dutton, Friendship and the Love of God; zur Ambrosius-Rezeption vgl. Dutton, A Model for Friendship; zur Freundschaftskonzeption in Ambrosius’ De officiis vgl. McDonie, Friendship and Rhetoric, S. 44 – 47; siehe daneben auch Ziolkowski, Twelfth-century Understandings.

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dyade untersagt hatte. Zwar verknüpft Aelred Freundschaft (amicitia) und Liebe (amor, caritas), aber während die Liebe alle, auch die Feinde, einschließen soll, ist die Freundschaft eine Teilmenge davon, die über axiologische Eigenschaften, wie etwa Vertrauen, enge Verbundenheit und Vertraulichkeit der Teilhabenden, verwirklicht wird. Liebe ist bei Aelred demnach ein inklusiver Kommunikationscode nach dem Modell der christlichen Nächstenliebe (caritas). Insofern ist Liebe kein Code der Intimität, sondern ein Code der in der Transzendenz verankerten Soziabilität. Freundschaft ist dagegen ein exklusiver Kommunikationscode, der auf dem Ausschluss vieler beruht. Freundschaft wird damit zum Code der Intimität und erhält so einen höheren Wert als Liebe. Freundschaft erfordert nach Aelred Vertrauen, Vertraulichkeit und Offenheit, die keineswegs mit allen geteilt werden sollen, auch nicht mit allen Brüdern eines Klosters. Damit ist die zweite Stufe der Exklusivität erreicht, denn für die Pflege wahrer Freundschaft genügt es weder Christ noch ein von der Welt abgewandter Mönch zu sein. Zentral ist für Aelred die innere Bezogenheit auf Christus, in dem die Freundschaft ihren Anfang hat und ihre Vollendung findet. Der wahren geistigen Freundschaft wird daher das Attribut der Ewigkeit zugesprochen; sie ist quasi in ihrer irdischen, interpersonalen und personalen Beziehung zu Christus auf die Einswerdung mit und in Gott hin ausgerichtet. Trotz dieser Verschmelzungsmystik ist Freundschaft bei Aelred ein Konzept der Individualisierung, insofern gegenüber dem Freund Vertrauen und Vertraulichkeit gefordert sind; andererseits ist sie aber auch eine Form der gegenseitigen Ermahnung, die zu wechselseitiger Besserung beiträgt. Danach führt nicht die Ordensregel, auf die Aelred so gut wie keinen – zumindest keinen expliziten – Bezug nimmt, die Brüder zu Gott hin, sondern die wechselseitige Freundschaft, in der wahre Freunde in der gegenseitigen Liebe Gott erst wirklich erfahren. Beide übernehmen dabei gegenseitig 219

Verantwortung füreinander. Aelred ersetzt damit das Konzept der Observanz durch das der gegenseitigen Verantwortung der Freunde füreinander. Der Begriff des Freundes wird damit höher gewertet als der des Bruders. Garant dieser hochgradig anspruchsvollen Freundschaftskonzeption ist Christus, der den Menschen zu seinem Freund gemacht habe und dadurch die Vollendung einer jeden Freundschaft bilde. Die völlige Hingabe zu Gott ist für Aelred Voraussetzung und Ziel jeder wahren Freundschaft. Freundschaft hat damit neben dem exklusiven durchaus auch einen inklusiven Aspekt. Sie führt zu Gott und wird von Gott geleitet, denn er allein garantiert in der Ausrichtung der Freunde auf ihn die Beständigkeit der Freundschaft, die im Himmel in ewige Freundschaft und Liebe transformiert wird. Damit werden die exklusiven Aspekte der Freundschaft jedoch nicht aufgehoben. Freundschaft ist bei Aelred eine hochgradig komplexe Form von Intimität, die als Modell für einen ganzen Orden oder gar den Austausch zwischen der monastischen und der laikalen Welt nicht geeignet ist.63 Die Fortführung des monastischen Freundschaftsdiskurses im 13. Jahrhundert, etwa bei Thomas von Aquin und Vinzenz von Beauvais, rekurriert denn auch nicht auf Cicero oder Aelred, sondern unmittelbar auf Aristoteles. Die von Aelred gewählte Sprache der Intimität machte es eher schwierig, sie in die Fortführung des monastischen Freundschaftsdiskurses zu integrieren. Zwar bot die Sprache der Brüderlichkeit im monastischen Diskurs einen Anknüpfungspunkt, aber die Ordenshierarchie und der geforderte Gehorsam konnten eine so intime Freundschaftskonzeption nur schwer integrieren. Cicero hatte Freundschaft im System der Politik ange63 Vgl. Münkler, L’›amicitia‹ come concetto d’individuazione. Demgegenüber betont Otto Langer, teleia philia und amicitia spiritalis, S. 179 f., dass Intimität und Sozialität bei Aelred eng miteinander verknüpft seien, insofern die intime Dyade die gesellschaftliche Funktion habe, die Soziabilität der Freunde zu stützen.

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siedelt, sich dafür aber der Sprache der Intimität bedient, um die politisch nach seiner Auffassung unverzichtbare Tugendfreundschaft herauszuheben. Aelred siedelte sie im System der Religion und, genauer, im monastischen Teilsystem der Religiosen an. Das war möglich, weil das System der Religion ihm ebenfalls eine Sprache der Intimität zur Verfügung stellte, die jedoch in Transzendenz grundiert war und sich von der politisch orientierten Sprache Ciceros deutlich unterschied. Dennoch blieb Aelreds Freundschaftskonzeption für die monastische Welt sperrig, weil sie letzten Endes die Ordensobservanz überflüssig machte, auch wenn er in seiner ersten Schlussrede versuchte, Freundschaft und Observanz über den Tugendbegriff miteinander zu verknüpfen.

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VII. Schluss: Freundschaft im Gespräch

Wie die Untersuchung gezeigt hat, ergeben sich zwischen den Dialogen schon bei der Frage der Definition von Freundschaft erhebliche Differenzen. Platons Dialog Lysis endet mit dem Eingeständnis, man habe nicht herausgefunden, was Freundschaft sei, könne sich nun aber im Sinne eines performativen Gesprächsergebnisses als Freunde betrachten. In Ciceros Laelius dagegen gibt Laelius eine Definition von Freundschaft, die eine bestimmte Form der Freundschaft, nämlich die Tugendfreundschaft, als die einzig wahre bestimmt, andere Formen dagegen scharf zurückweist und negativ charakterisiert. Aelred hat Ciceros Definition der Tugendfreundschaft übernommen, aber in einen völlig anderen Kontext übertragen und so transformiert, dass von ihrem ursprünglich politischen Verständnis wenig übrigbleibt. Andererseits gibt es hinsichtlich der Voraussetzungen für Freundschaft eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Freundschaft bedarf eines Dritten, auf das bzw. den hin sie orientiert ist: das Gute bei Platon, die Tugend bei Cicero und Gott bei Aelred von Rievaulx. Dieses/dieser Dritte ist nicht identisch, aber es bzw. er ist stets die entscheidende Voraussetzung der Freundschaft. Ohne ein höherstehendes Drittes, das der Freundschaft Sinn verleiht, kann sie offenbar nicht als begrifflich-logisch überzeugend, ethisch-politisch tragfähig oder ethisch-theologisch anspruchsvoll gedacht werden. Deswegen kann Cicero für Aelred eine anknüpfungsfähige, aber keine hinreichende Definition von Freundschaft bieten; deshalb kann Platon für Cicero nicht der zentrale Anknüpfungspunkt sein, denn dessen begrifflich-logische Arbeit erlaubt es nicht, unterschiedliche Freundschaftskonzeptionen im Hinblick auf ihre politischen Effekte gegeneinander abzugleichen. Trotz des dominanten Bezugs auf ein Drittes ist für 222

Cicero nicht die begriffliche Ableitung der Freundschaft aus dem Guten zentral, sondern die wertende Gegenüberstellung von erlebbaren Freundschaftskonzeptionen, von denen die Rom dominierende Nutzenfreundschaft geeignet ist, die res publica und ihre ethischen Grundlagen zu zerstören. Sein Begriff der Tugendfreundschaft ist deshalb in erster Linie ein Kampfbegriff in der politischen Auseinandersetzung um die Grundlagen der res publica. Diese Frontstellung war freilich folgenreich: In der Einschätzung der gesellschaftlich relevanten Beziehungen machte Cicero Tugendfreundschaft auf diese Weise zur Ausnahme, als normative Vorgabe jedoch für lange Zeit zur Regel. Möglicherweise war es aber gerade das, was Ciceros hochgradig anspruchsvolle Beschreibung von Freundschaft als Tugendfreundschaft so erfolgreich gemacht hat. Da Selbstbeschreibungen selten ohne Selbststilisierungen auskommen, lässt sich konstatieren, dass der Tugendfreundschaft in der Geschichte der Freundschaftsethik nicht zuletzt deshalb der Vorzug gegeben wurde, weil man sich damit selbst aufwerten konnte. Wer die Tugend ins Zentrum seiner Freundschaftskonzeption stellte, reklamierte für sich selbst Tugendhaftigkeit. Zur Lust- und Nutzenfreundschaft mochte sich kaum jemand bekennen. Beide wurden zweifellos gepflegt, aber nicht zur Norm erhoben oder gar gepriesen, was indes nicht verhindert hat, dass politische, ökonomische und soziale Vorteile in der Begründung und Pflege von Freundschaften eine zentrale Rolle spielten und nach wie vor spielen. Insbesondere der Nutzenfreundschaft haftet seit ihrer Verdammung durch Cicero der Ruch der Falschheit, der Verlogenheit und der Korruption an, weswegen in der Geschichte des Freundschaftsdiskurses auch nicht besonders häufig versucht wurde, Differenzierungen einzuführen, die eine Unterscheidung zwischen Beziehungspflege sowie politischer Verbindlichkeit und eigennütziger Interessenverfolgung etabliert hätten. Das macht Freundschaft allerdings zu einem so anspruchsvollen Konzept, dass 223

sie zwar als überaus lobenswert, aber kaum verwirklichbar erscheint. Platons Konzeption von Freundschaft als Gespräch erweist sich hier als sehr viel zugänglicher denn die Ciceros, während Aelreds ganz auf die Einswerdung mit Gott bezogene Konzeption den Anspruch noch einmal steigert und sich damit nicht einmal im Kloster als vollständig realisierbar zeigt. Unbeschadet der ciceronischen Bürde verweisen alle drei vorgestellten Dialoge darauf, dass Freundschaft als zentrales Konzept der Verwirklichung des Selbst betrachtet werden kann. Bei allen drei Autoren erfüllt Freundschaft eine unverzichtbare Voraussetzung, ohne die das Selbst sich nicht verwirklichen kann. Für die Vorstellung von einem guten Leben – so unterschiedlich alle drei auch den Bezug auf das Gute definieren – ist Freundschaft unverzichtbar, denn sie bildet die Grundlage für die Suche nach Wahrheit, nach einem tugendhaften Leben und nach der Einswerdung mit Gott. Von daher lassen sich die eingangs gestellten Fragen nach der personalen und sozialen Funktion von Freundschaft eindeutig beantworten: Freundschaft hat für alle drei Autoren eine unverzichtbare personale und soziale Funktion, ohne die weder eine stabile Identität des Selbst noch der sozialen Gemeinschaft erreicht werden kann. Allerdings macht dieser Anspruch die Störanfälligkeit solcher Freundschaftskonzeptionen deutlich: In einer nicht idealen Welt sind ideale Freundschaftskonzeptionen zwar postulierbar, aber es ist schwer zu zeigen, dass sie auch funktionieren können. Welche Probleme sich hier ergeben, erweist sich nicht zuletzt durch die dialogische Form selbst: Wenn es im Gespräch nicht einmal gelingt, sich selbst restlos vom Funktionieren seiner Anspruchskonzeption von Freundschaft zu überzeugen, wie im Laelius, oder wenn es nicht einmal gelingt, die Dialogpartner zur Annahme dieser Konzeption zu bringen, wie in Aelreds De spiritalia amicitia, dann wird der Dialog per 224

se quasi zu einem Kommentar gegenüber diesem Anspruch. Nur derjenige, der auf den Dialog als Medium der Freundschaft vertraut, wie Platons Sokrates, kann am Schluss sagen, man habe zwar nicht herausgefunden, was Freundschaft sei, könne sich nun aber als Freunde betrachten. Als einziger der drei Dialoge endet Platons Lysis zwar argumentativ aporetisch, aber nicht in einer Aporie seines Anspruchs – eine Paradoxie, die erst bei einer dialogtheoretisch angeleiteten Analyse sichtbar wird.

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Danksagung

Die Arbeit an diesem Buch hat eine lange Geschichte. Ursprünglich aufgenommen wurde sie innerhalb des von der Deutschen Forschungsgemeinschafts geförderten Projekts »Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur« im Rahmen des an der TU Dresden eingerichteten Sonderforschungsbereichs 804 »Transzendenz und Gemeinsinn«. Ausgegangen ist sie von der Frage, welchen Einfluss insbesondere Cicero auf die mittelalterlichen Konzeptionen von Freundschaft hatte. Fortgesetzt wurde sie deutlich später unter der Fragestellung, welche Funktion der Dialog für das Nachdenken über Freundschaft hat. Erst aus dieser Fragestellung ergab sich der Vergleich zwischen Platon, Cicero und Aelred von Rievaulx. Die Möglichkeit, das Buch nach zahlreichen Unterbrechungen anderer Projekte wegen schließlich abzuschließen, verdanke ich der Auszeichnung durch die Carl Friedrich von Siemens Stiftung mit einem einjährigen Fellowship ab Oktober 2022, das es mir ermöglicht hat, mich dem Abschluss des Buches endlich ungestört widmen zu können. Dafür möchte ich der Stiftung und ihrem Geschäftsführer Prof. Dr. Heinrich Meier sehr herzlich danken. Ein ganz besonderer Dank gilt daneben meinem Ehemann Prof. Dr. Herfried Münkler, der die Arbeit an dem Buch mit großer Geduld begleitet, die unterschiedlichen Fassungen aufmerksam und kritisch gelesen und mit mir diskutiert hat. Danken möchte ich weiterhin meinen früheren studentischen Mitarbeiter:innen Aiko Fischer, Lore Kurtz und Dr. Matthias Standke für umfassende Unterstützung bei der Aufarbeitung der Texte, meiner Sekretärin Verena Wielens, die Teile des Manuskripts verschriftlicht hat, sowie 238

ner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Theresa Beckert, die mich bei den Endkorrekturen unterstützt hat. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch den Herausgebern der Reihe »figura«, Prof. Dr. Bernhard Jussen, Prof. Dr. Christian Kiening und Prof. Dr. Klaus Krüger für die Aufnahme in die Reihe, sowie meinem Lektor Jonas Haas, der das Manuskript sorgfältig redigiert hat. Die Arbeit an einem Buch über die Funktion des Dialogs für die Konstitution von Freundschaft hat auch dazu geführt, dass ich über eigene Freundschaften nachgedacht habe. Mit meinem akademischen Lehrer Prof. Dr. Werner Röcke habe ich vielleicht weniger Lehrgespräche geführt, als dies in den von mir untersuchten Dialogen der Fall ist, aber bestimmte Formen des Nachdenkens über Literatur und des akademischen Engagements habe ich von ihm gelernt, und er hat meinen Weg in der universitären Welt von der Dissertation ab mit großer Anteilnahme und stetem Interesse begleitet. Ihm ist das Buch in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet.

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