Gesellschaftstheorie als politische Theologie?: Zur Kritik und Überwindung der Theorien normativer Integration [1 ed.] 9783428477562, 9783428077564

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Gesellschaftstheorie als politische Theologie?: Zur Kritik und Überwindung der Theorien normativer Integration [1 ed.]
 9783428477562, 9783428077564

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GERHARD WAGNER

Gesellschaftstheorie als politische Theologie?

Soziologische Schriften Band 60

Gesellschaftstheorie als politische Theologie? Zur Kritik und Überwindung der Theorien normativer Integration

Von

Dr. Gerhard Wagner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Wagner, Gerhard:

Gesellschaftstheorie als politische Theologie? : Zur Kritik und Überwindung der Theorien normativer Integration I von Gerhard Wagner.- Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Soziologische Schriften ; Bd. 60) Zug!.: Bielefeld, Univ., Diss., 1991/92 ISBN 3-428-07756-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-07756-3

Für Ruhen und Marina

Vorwort Die Gesellschaftstheorie genießt derzeit im wissenschaftlichen Diskurs keine eben gute Presse. Der Grund hierfür ist m.E. darin zu sehen, daß nahezu sämtliche Ansätze bei ihrer Klärung der Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung auf überempirische, mit wissenschaftlichen Mitteln nicht legitimierbare Instanzen zurückgreifen. Es bewahrheitet sich immer mehr Rene Königs bereits in den 50er Jahren gefälltes Diktum, die Gesellschaftstheorie führe im Grunde nur das metaphysische Geschäft der Sozialphilosophie fort, anstatt sich zu einer wirklich wissenschaftlichen Theorie zu wandeln. Rühren die Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie daher, daß in ihr eine Säkularisierung theologischer bzw. metaphysischer Annahmen nicht oder zuwenig stattfindet, daß in ihr, anders ausgedrückt, die Neuzeit mißlingt, so trifft diese Diagnose insbesondere auf jene prominente Positionen zu, die man landläufig als Theorien normativer Integration bezeichnet. In dieser von Emile Durkheim über Talcott Parsons zu Jürgen Habermas verlaufenden Tradition wird, so die grundlegende These dieser Studie, Gesellschaftstheorie als Politische Theologie im Sinne Carl Schmitts betrieben. Diese These läßt sich exemplarisch anband einer Analyse der Werke von Durkheim und Habermas belegen. Dabei haben Definitionskriterien benannt zu werden, die erfüllt sein müssen, damit von Politischer Theologie gesprochen werden kann. In diesem Kontext gewinnt die Staatsphilosophie des Thomas Hobbes eine grundsätzliche Bedeutung, stellt sie doch das Paradigma politisch-theologischen Ordnungsdenkens dar. Hobbes' Position ist denn auch eingehend zu analysieren, und zwar in Abgrenzung von der in der Profession vorherrschenden, durch Parsons geprägten Interpretationshaltung, die Hobbes als einen Utilitaristen und Atheisten präsentiert und die theologische Komponente seines Werkes nicht zur Kenntnis nimmt. Auf dieser Grundlage kann die Perspektive entwickelt werden, daß das Hobbessche Ordnungsmodell in der Theoriegeschichte Karriere macht und sich in nuce auch in den Ansätzen von Durkheim und Habermas auffinden läßt. Um diesen Zusammenhang klären zu können, gilt es, im Rekurs auf Hans Blumenbergs Säkularisierungstheorie ein Funktionsäquivalenzenmodell zu extrapolieren, das die Analyse in die Lage versetzt, im Geiste einer Schmittschen Begriffssoziologie die grundlegenden Kategorien von Durkheim und Habermas als Umbesetzungen Hobhesseher Begriffe zu verstehen.

VIII

Vorwort

Die strukturellen Affmitäten der Werke von Hobbes und Durkheim sowie der von Hobbes und Habermas lassen sich nun ausführlich diskutieren. Dabei kann der erste Zusammenhang nicht geklärt werden ohne eine Erörterung der Position Herbert Spencers, der zweite nicht ohne eine Untersuchung der Position Max Webers, denn Spencer und Weber fungieren hier als intermediäre Instanzen. In der Tat läßt sich auf diese Weise zeigen, daß sowohl Durkheims als auch Habermas' Ordnungsdenken politisch-theologischer Natur ist. Anband eines in Anlehnung an Auguste Comte entworfenen evolutionstheoretischen Minimalprogramms ist es möglich, erste Ansätze einer säkularen Theorie sozialer Ordnung auszubilden. So kann auf dieser Folie der Nachweis geführt werden, daß sich die von Durkheim und Habermas gebrauchten ordnungskonstitutiven Muster Arbeitsteilung und Sprache auch ohne Rückgriff auf Metaphysik konzipieren lassen. In diesem Kontext kommt den religionskritisch motivierten und historistisch aufgeklärten Theoretikern Ludwig Feuerbach und Ferdinand de Saussure eine systematische Bedeutung zu. Deren Gedankengut sowie die Fortbildung desselben durch Wemer Maihafer und Armin Burkhardt erlauben die Konstruktion einer Theologie und Metaphysik entratenden Gesellschaftstheorie, die auch in Konkurrenz treten kann zu nur vordergründig säkularen Positionen wie Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. In persona sei noch hinzugefügt: Die Arbeit am Manuskript zu diesem Buch wurde in Heidelberg begonnen und in Bietefeld abgeschlossen. Der Text, der eine Art Zwischenbilanz meiner bisherigen Untersuchungen im Rahmen der Gesellschaftstheorie darstellt, lag im Wintersemester 1991/92 der Fakultät für Soziologie der Universität Bietefeld als Dissertationsschrift vor. Für zahlreiche Anregungen und kritische Stellungnahmen danke ich Torsten Bügner, Hans-Peter Müller, Rüdiger Kramme, Volkhard Krech, Heinz Harbach, Werner Maihofer, Guy Oakes, Wolfgang Schluchter, Michael Schmid, Gert Schmidt, Hartmann Tyrell und Heinz Zipprian. Mein besonderer Dank gilt Otthein Rammstedt, der über seine intellektuelle Förderung hinausgehend den erforderlichen Freiraum schuf, um die Arbeit zu einem raschen Ende bringen zu können. Nicht zuletzt danke ich Norbert Sirnon und D. H. Kuchta für die gute verlegerische Betreuung sowie der Westtälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft, die die Arbeit mit dem Universitätspreis 1992 auszeichnete. Bielefeld, im Januar 1993 Gerhard Wagner

Inhaltsverzeichnis I. II.

Schwierigkeiten mit der Gt'Sellschaftstheorie .......... ..

1

Parsons, Hobbes und das Problem sozialer Ordnung .. 24 1. Parsons' Interpretation des Hobhesseben Werkes ..... .... ...

24

2. Eine alternative Hobbes-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

3. Die Karriere von Hobbes' Ordnungsmodell in der Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

III.

Von Hobbes über Spencer zu Durkheim ............ .... ...

80

A.

Hobbes und Spencer . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

1. Das funktionale Äquivalent von ,.Naturzustand« ...... ... . ...

81

2. Das funktionale Äquivalent von ,.Gott«

87

3. Das funktionale Äquivalent von ,.Staat«

91

B.

Spencer und Durkheim ... .......................................... .. 131

1. Die kulturelle Relevanz von Durkheims Theorie .. ..... ...... 131 2. Das ambivalente Prinzip Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Suchbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

4. Inversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 IV.

Von Hobbes über Weber zu Habermas .................... 186

A.

Hobbes und Weber ........................ .................... .... ... 186 1. Das funktionale Äquivalent von ,.Naturzustande .... .. ... . .. . 188 2. Das funktionale Äquivalent von ,.Gotte

200

3. Das funktionale Äquivalent von ,.Staat«

207

X

Inhaltsverzeichnis

B.

Weber und Haberrnas . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . .. .. .. . . . . . . . . .. . . . . . 234 1. Die kulturelle Relevanz von Habermas' Theorie ............. 235

2. Das ambivalente Prinzip Sprache ............................... 274 3. Suchbewegungen . . . . . . .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 277 4. Inversion . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

V.

Von der Politischen Theologie zur Gesellschaftstheorie .. .. . .. .. . . . . . . . . . .. .. . .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. 308 1. Ein evolutionstheoretisches Minimalprogramm .............. 316

2. Bausteine einer säkularen Theorie sozialer Ordnung

VI.

346

Skizze eines Arbeitsprogramms zur weiteren Ausgestaltung einer säkularen Theorie sozialer Ordnung .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. .. . .. . . . . . . . .. . . . . . .. . 409 1. Der gesellschaftstheoretische Diskurs der Modeme . . . . . . . . . 409

Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignung der subjektphilosophischen Erbmasse .. .... .......... ...... ............ 416 2 . Zur Neuformulierung des Problems sozialer Ordnung . . . . . . 431

3. Bemerkungen zur Problemlösung

Literaturverzeichnis .. .. . . . .. . . . . .. .. .. . . . . .. . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . ..

438 444

Namenregister . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie Die Frage, wie soziale Ordnung möglich ist, bildet ohne Zweifel den Kern soziologischen Räsonnements. Als Problemstellung, von der gesagt wird, daß sie die Soziologie als Wissenschaft schlechthin konstituiere, ist sie der »allgemeinste semantische Bezugspunkt, über den die Disziplin verfiigt«. 1 Im Zuge ihrer Ausdifferenzierung delegiert die Soziologie das Ordnungsproblem an die Gesellschaftstheorie, die man mit Georg Simmel auch als philosophische Soziologie bezeichnen kann und die bis dato mit ebenso vielen Erklärungsansätzen wie Neuformulierungen des Problems aufwartet. 2 Die vorliegende Arbeit wendet sich einer in der Gesellschaftstheorie besonders prominenten, ja man könnte sogar sagen: ihrer dominanten Tradition zu. Die Rede ist von den ordnungstheoretischen Positionen, die man für gewöhnlich unter dem Begriff der Theorien normativer Integration faßt. Diese Ansätze, so unterschiedlich sie im Detail auch immer sind, konvergieren in einer gemeinsamen Frontstellung gegen eine Denkrichtung, die als Utilitarismus bezeichnet wird. Die Theoretiker normativer Integration sind sämtlich der Auffassung, daß soziale Ordnung nicht ausschließlich »auf das Eigeninteresse

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Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, S. 195. Di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme, S. 13 zufolge stellt die Erklärung, wie soziale Ordnung möglich ist, »die Achillesferse jeder Gesellschaftstheorie dar«. Vgl. hierzu Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 29ff. Wie Dahme/Rammstedt, "Einleitung", S. 22f zeigen, differenziert Simrilel zwischen allgemeiner, formaler bzw. reiner und philosophischer Soziologie; seines Erachtens stößt jede Disziplin irgendwann an eine obere Grenze, an der sie in philosophische Fragen einmündet, d.h. das Gebiet der Tatsachenfeststellung verläßt: •In seinen Abhandlungen zum Problem und zum Gegenstand der Soziologie sowie bei der Behandlung der Frage "Wie ist Gesellschaft möglich?" bewegt sich Simmel auf einem der exakten Forschung vorgelagerten Gebiet. Alle Einzeldisziplinen müssen solche erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragen behandeln. Die jeweilige Disziplin aber, auf die hin diese.. erkenntnistheoretischen Fragen gestellt werden, bleibt der Nukleus all dieser Uberlegungen. Bei der Behandlung erkenntnistheoretischer Frage~! der Soziologie bleibt also selbstverständlich die Soziologie Bezugspunkt aller Uberlegungen. Einen Großteil der Arbeiten Simmels, die sich z.B. mit Individualität, Ethik und Kultur befassen, lassen sich von der Neubestimmung des Gebiets der Soziologie her als dem Gebiet der philosophischen Soziologie zugehörig einstufen. Eine Zuordnung dieser Arbeiten zum Gebiet der philosophischen Soziologie ist dann legitim, wenn in diesen Arbeiten manifest oder latent Gesellschaft, Vergesellschaftung und ihre Folgen, das soziale Zusammenleben zum Bezugspunkt der philosophischen Fragestellung gemacht wird«.

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I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

aller beteiligten Individuen«,3 i.e. durch eine Vemetzung individueller Interessenlagen konstituiert werden kann. Vielmehr seien für das Zustandekommen sozialer Ordnung normative Integrationsmuster vonnöten, die als allen Beteiligten gemeinsame patterns der allgemeinen Orientierung dienen können. In diese Theorien normativer Integration genannte Tradition lassen sich beispielsweise die Werke von Jeffrey C. Alexander, Robert N. Bellah, Emile Durkheim, Erving Goffman, Jürgen Habermas, Alfred Marshall, Richard Münch, Vilfredo Pareto, Talcott Parsons und auch Max Weber einordnen. Es handelt sich, grobgesprochen, um alljene Theoretiker, die Parsons' in seiner Structure of social action mit Blick auf seine berühmt gewordene Konvergenzthese thematisierte, ergänzt um ihn selbst sowie um einigeneuere Positionen, die sein geistiges Erbe fortführen. Freilich ist es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht beabsichtigt, alle diese ordnungstheoretischen Ansätze normativer Integration erschöpfend zu behandeln. Zum einen wäre das aus Platzgründen gar nicht möglich; zum anderen ist es in systematischer Hinsicht für eine Arbeit, die auf eine Kritik und Überwindung dieser Positionen abstellt, auch gar nicht notwendig. Eine Auseinandersetzung mit der zu verhandelnden gesellschaftstheoretischen Tradition kann in meinen Augen durchaus selektiv verfahren und anband von Fallstudien die (im Webersehen Sinne) typische Struktur der Formulierung und Auflösung des Problems sozialer Ordnung herauspräparieren. Tatsächlich spielen die genannten Theoretiker hinsichtlich des Ordnungsproblems, wenn das Bild erlaubt ist, immer nur dieselbe Melodie in einer mehr oder weniger aufwendigen klassischen Orchestrierung. Dieser Umstand gestattet es, eine Auswahl zu treffen, wobei die Selektion der Theorien, an denen sich das für die Tradition Typische erweisen lassen soll, selbstredend begründet werden muß. Um einen Zirkelschluß zu vermeiden- wir können nicht, um das Typische einer Tradition herauszufinden, einen Repräsentanten dieser Tradition deswegen auswählen, weil er so typisch für diese Tradition erscheint - , müssen die Gründe der Selektion gleichsam externer Natur sein. Sie könnten beispielsweise in der Ästhetik der jeweiligen Theoriekonstruktion liegen, oder etwa in der logischen Stringenz, mit der sie gebaut ist. Auch ließe sich eine Position aufgrund ihrer Präsenz sowie ihres Einflusses in der aktuellen Theoriediskussion auswählen. Derlei Gründe sollen jedoch für die Belange der vorliegenden Arbeit von nachrangiger Bedeutung sein. Das Kriterium, das meines Erachtens eine Auswahl unter den genannten Theorien vorrangig plausibel macht, ist in der Fruchtbarkeit des jeweiligen Ansatzes für einen neuerlichen Erklärungsversuch des Ordnungsproblems zu sehen. Im folgenden soll es denn auch in er3

Steinvorth, Stationen der politischen Theorie, S. 48.

I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

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ster Linie um die gesellschaftstheoretischen Positionen von Durkheim und Habermas gehen. Mehr als die anderen der angeführten Theoretiker haben beide Denker interessante und in theoriekonstruktiver Hinsicht fruchtbare Ansätze für eine Erklärung der Auflösung des Problems sozialer Ordnung vorgelegt, was die Selektion gerade ihrer Theorien zum Zwecke der Herausarbeitung des typischen Lösungsmodus der Theorien normativer Integration aus systematischen Gründen legitimiert. Es handelt sich dabei um Gedanken im Kontext von Durkheims Theorie sozialer Arbeitsteilung sowie von Habermas' sprachtheoretisch fundierter Handlungstheorie. In der Tat sind beide Theorieelemente von nicht unbeträchtlicher kultureller Relevanz. Natürlich ist Vorsicht beim Umgang mit diesen Ansätzen geboten. Wiewohl beide Gesellschaftstheoretiker einen wegweisenden Zugang wählen, vermögen sie aufgrund weiterer Prämissen, die sie ihren Werken zugrundelegen, die sich im Laufe der Ausarbeitung ihrer Theorien einstellenden Schwierigkeiten nur durch Inanspruchnahme von mit wissenschaftlichen Mitteln nicht legitimierbaren Gedankenguts zu beheben. Um es in eine These zu kleiden: Duckheim und Habermas geben überhaupt keine gesellschaftstheoretische, ausschließlich die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität wissenschaftlich erklärende Antwort auf das Problem sozialer Ordnung. Ihre Ordnungstheorien lassen sich vielmehr unter die von Carl Schmitt geprägte Kategorie •Politische Theologie« subsumieren. 4 Diese These mag auf den ersten Blick frappieren; was haben Begriffe wie Politik und Theologie mit den soziologischen Ordnungstheorien von Durkheim und Habermas zu tun? Sie läßt sich jedoch nichtsdestominder nach den beiden begrifflichen Komponenten Politik (1) und Theologie (2) differenziert spezifizieren. (1) Es ist bekannt und in der Profession unumstritten, daß die Theorien normativer Integration im allgemeinen sowie die Positionen von Durkheim und Habermas im besonderen die Frage nach dem Zustandekommen sozialer Ordnung als Auflösung des sogenannten Hobhesseben Problems begreifen. 5 Nun hat Nildas Luhmann zwar angemerkt, daß Thomas Hobbes' Problemstellung •auf Politik, nicht auf Sozialität gemünzt«6 sei. Dieser Hinweis

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Vgl. Schmitt, Politische Theologie . In der aktuellen gesellschaftstheoretischen Debatte wird denn auch das Problem sozialer Ordnung mehr oder weniger umstandslos mit dem sogenannten Hobbesschen Problem identifiziert. Eine prominente Ausnahme hiervon ist, wie noch zu zeigen sein wird, Giddens. Luhmann, "Arbeitsteilung und Moral", S. 21: •Das Problem kommt auf in dem Maße, als es schwierig wird, sich vorzustellen, wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist. Parsons beruft sich gern auf die Art, wie Hobbes mit Hilfe von Annahmen über den Naturzustand das Problem der sozialen Ordnung stellte; aber das war auf Politik, nicht auf Sozialität gemünzt«. Vgl. in diesem Kontext auch

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I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

impliziert aber lediglich, daß Durkheim und Habermas, insofern sie sich in diesem Punkt an Hobbes orientieren, die Frage nach dem Zustandekommen sozialer Ordnung indirekt stellen würden, nämlich in einer Art strukturellen Analogie zur Frage nach dem Entstehen politischer Ordnung. Der eigentlich politische Charakter der Theorien Durkheims und Habermas' wird freilich erst dann einsichtig, wenn man, hierin Luhmann durchaus folgend, 1 den buntschillemden und in der Literatur nach wie vor umstrittenen Begriff des Politischen streng im Sinne Schmitts versteht. 8 Schmitt entwickelt sein Verständnis des Politischen vorrangig in Auseinandersetzung mit der staatsphilosophischen Position von Hobbes. Wie Helmut Rumpf zu Recht bemerkt, wird Schmitts Werk im allgemeinen und insonderheit sein Beitrag zur politischen Theorie •erst auf dem Hintergrund von Thomas Hobbes' politischer Gedankenwelt voll verständlich, die darin eine teilweise und aktualisierte Renaissance erfahren hat«. 9 Tatsächlich findet Schmitt in Hobbes' Werk sämtliche Kriterien •wahren politischen Denkens«IO angelegt. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sind vor allem drei Aspekte im •differentiellen Gebrauch der Vokabel« 11 des Politischen von Interesse, in dem Schmitts diesbezügliche •Affinität zu Thomas Hobbes«l2 pointiert zum Ausdruck kommt. (a) Die erste Differenzierung findet auf einer Ebene statt, die ich die anthropologische Ebene nennen möchte. Schmitt zufolge könne man •alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen "von Natur bösen • oder einen "von Natur guten • Menschen voraussetzen«. 13 Diese Unterscheidung will Schmitt •ganz summarisch und nicht in einem speziell

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Corning, "Durkheim and Spencer", S. 377, der behauptet, Hobbes stelle die •political order above, or over the social organism•. Vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 3, S. 271; auch Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert, S. 238 ist es ein Hinweis wert, daß sich Luhmann an dieser Stelle •explizit auf Carl Schmitts Schrift über den "Begriff des Politischen" berief«. Was Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 176 vor gut eineinhalb Jahrzehnten konstatierte, gilt heute leider noch immer: •Es gibt keine Geschichte des Begriffs "Politik"•. Vgl. dieselbe Einschätzung bei Koselleck, Kritik und Krise, S. 170. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, S. 56. In seiner Schrift Ex captivitate salus bezeichnet sich Schmitt gelegentlich als •Bruder• und •Freund• des Alten von Malmesbury; von Schmitts •tiefer Wahlverwandtschaft mit dem großen Engländer• spricht auch Taubes, "Statt einer Einleitung", S. 12. Laufer, "Homo Homini Homo", S. 330. Vollrath, "Zur Problematik eines Begriffs des Politischen", S. 315. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, S. 50. Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 59.

I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

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moralischen oder ethischen Sinne- 14 verstanden wissen. Entscheidend sei allein »die problematische oder die unproblematische Auffassung des Menschen als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung, die Antwort auf die Frage, ob der Mensch ein "gefährliches" oder ungefährliches, ein riskantes oder ein harmlos nicht-riskantes Wesen ist«.1S Nach einer tour d 'horizon durch die abendländische Ideengeschichte, deren eklektischer Charakter hier nichts zur Sache tut, 16 gelangt Schmitt zu der »merkwürdigen und für viele sicher beunruhigenden Feststellung, daß alle echten politischen Theorien den Menschen als "böse" voraussetzen, d.h. als keineswegs unproblematisches, sondern als "gefährliches" und dynamisches Wesen betrachten«.l7 So verschieden nach Art, Rang und geschichtlicher Bedeutung Denker wie Niccolo Macchiavelli, Hobbes, Jacques Bossuet, Johann Gottlieb Fichte (•sobald er seinen humanitären Idealismus vergißt«), Joseph de Maistre, Donoso Cortes, Hippolyte Taine und Georg Wilhelm Friedrich Regel auch sein mögen, in der problematischen Auffassung der menschlichen Natur stimmen sie allemal überein.18 Nun läßt Schmitt keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sich bei diesen negativen Einschätzungen der menschlichen Natur weder um Ausgeburten furchtsamer und verstörter Phantasien noch um anthropologischen Forschungen entnommene und dadurch wissenschaftlich untermauerte Einsichten handelt. Sie würden vielmehr •alle auf ein anthropologisches Glaubensbekenntnis hinauslaufen«. 19 Ein Glaubensbekenntnis dergestalt gehöre Schmitt zufolge zu den •elementaren Voraussetzungen eines spezifisch politischen Gedankensystems«.20 In Hobbes erblickt Schmitt den »großen und systematischen politischen Denker«, 21 der diesem Bekenntnis am konsequentesten Ausdruck verliehen hat; Hobbes' Ge-

14 Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 59. 15 Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 59. 16 So vermißt beispielsweise Laufer, "Homo Homini Homo", S. 341 einen •Rückgriff auf den umfassenden Wissensbestand über das Selbst-Verständnis des Menschen«, der im Laufe einer •fast 3000jährigen Selbstinterpretation entstanden ist und in der klassischen Philosophie und christlichen Theologie seine höchste Differenzierung erfahren hat. Ein Unternehmen, das von Schmitt vernachlässigt bzw. durch Eigen-Ideen ersetzt worden ist«. 17 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 61. 18 Vgl. Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 61. 19 Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 58. 20 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 65; daß eine Theorie des Menschen »die Voraussetzung und Bedingung eines weiteren theoretischen Komplexes, der als Theorie der Gesellschaft bezeichnet werden kann«, darstellt, ist Laufer, "Homo Homini Homo" , S. 326 zufolge seit Aristoteles Gemeingut der okzidentalen Ideengeschichte. 21 Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 64.

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danken zur Staatsphilosophie gelten ihm gleichsam als •Muster einer pessimistischen Auffassung vom Menschen«.22 (b) Die zweite Differenzierung ist auf einer Ebene angesiedelt, die man als die sozialontologische Ebene, i.e. die Ebene der sogenannten Zweierbeziehung, bezeichnen kann. 23 Ist mit einer problematischen Auffassung des Menschen in Schmitts Augen der Weg zu einem adäquaten Verständnis des Politischen bereitet, so setzt dieses darüber hinaus auch ·die reale Wirklichkeit oder Möglichkeit der Unterscheidung von Freund und Feind voraus«. 24 In einer an die Theorie sozialer Systeme Luhmanns gemahnenden Weise setzt Schmitt seine Erörterungen zum Begriff des Politischen mit der Suche nach einem grundlegenden binären Code25 fort: »Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden. Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht. Die spezifisch poli-

22 Kuhn, "Rezension", S. 193; zu den anthropologischen Grundlagen der Hobhes-

seben Theorie vgl. weiterhin Freund, "Anthropologische Voraussetzungen zur Theorie des Politischen bei Thomas Hobbes"; konzise Darstellungen der politischen Anthropologie Schmitts liefern Kramme, Hebnuth Plessner und Carl Schmin und Balke, "Zur politischen Anthropologie Carl Schmitts". 23 Bezugnehmend auf Simmels große Soziowgie scheidet Theunissen, Der Andere, S. 6 zwischen der sozialontologischen Ebene der •Zweierverbindung« einerseits und der soziologischen Ebene der •gesellschaftlichen Wirklichkeit«, also jener •"objektiven" Gebilde, die sich nach Simmel auf der Zweierverbindung aufbauen«, andererseits; dabei geht es ihm um die •qualitative Verschiedenheit der Zweierverbindung und der gesellschaftlichen Gruppe«. 24 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 64; Schmitt fährt an dieser Stelle fort: •In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede, Sicherheit und Harmonie Aller mit Allen; die Priester und Theologen sind hier (ihrer Orientierung an der Erbsünde wegen; d. Verf.) ebenso überflüssig wie die Politiker und Staatsmänner«. 25 Vgl. Luhm~n~ 6kowgische Kommunikation, S. 78. Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert, S. 97 bemerkt hierzu mit Recht: •Die Freund-Feind-Formel war ein Beispiel der Durchschlagskraft von Denken in binären Codes«.

I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

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tische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückfiihren lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feindc. 26 Schmitt unterstreicht die Autonomie der Politik, die freilich nicht »im Sinne eines eigenen neuen Sachgebietes«, sondern darin bestehe, ,.daß sie weder auf einem jener anderen Gegensätze oder auf mehreren von ihnen begründet, noch auf sie zurückgeffihrt werden kann«. 27 Weil sie theoretisch und praktisch zu bestehen vermag, ohne daß gleichzeitig die besagten anderen Unterscheidungen zur Anwendung kommen müßten, braucht weder der politische Freund noch der politische Feind moralisch gut bzw. böse, ästhetisch schön bzw. häßlich oder ökonomisch nützlich bzw. schädlich zu sein. 28 Indem Schmitt diese Konnotationen bei seiner Begriffsbestimmung des Politischen ganz bewußt vermeidet, weist er auf dessen ausschließliche Bedeutung als ordnungstheoretische Kategorie hin: »Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen«. 2 9 Seiner Ablehnung eines »anthropologischen Optimismus«30 gemäß und seinem Verständnis vom Menschen als einem problematischen Wesen zufolge, ist Schmitt weiterhin natürlich vorrangig an der Klärung des Begriffes Feind interessiert; ein eigenständiger Begriff der Freundschaft wird von ihm denn auch nicht entwickelt,31 26 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26. 27 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27. 28 Vgl. hierzu Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 28: •was moralisch Böse, ästhetisch Häßlich oder ökonomisch Schädlich ist, braucht deshalb noch nicht Feind zu sein; was moralisch Gut, ästhetisch Schön und ökonomisch Nützlich ist, wird noch nicht zum Freund in dem spezifischen d.h. politischen Sinn des Wortes•. Auf die Affmitäten, die zwischen Schmitt und Weber existieren, wurde oftmals hingewiesen, so etwa schon von Kuhn, "Rezension", S. 190 oder kürzlich sehr eindringlich von Ulmen, Politischer Mehrwert; von Hofmann, "Feindschaft", S. 21 wird Schmitt als •Max-Weber-Epigone• bezeichnet. In dem von uns diskutierten Punkt ist der Vergleich in der Tat treffend, wie eine Lektüre der entsprechenden Passagen aus Webers Münchener Rede "Wissenschaft als Beruf', S. 603f zeigt: •Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist ... und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist ... und daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist•. Rödel!Frankenberg/Dubiel, Die demokratische Frage, S. 135 bemerken also diesbezüglich zu Recht: •Max Webers Theorie der Differenzierung der Wertsphären hat Schmitt offenbar angeregt•; zu Webers Position vgl. ausführlich Oakes, Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, S. 112ff. 29 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27, vgl. auch S. 38f sowie S. 41, wo Schmitt auf soziologischer Ebene u.a. Religionsgesellschaften, Nationen, Gewerkschaften, Familien, Sportclubs als •Assoziationen• bezeichnet. 30 Kuhn, "Rezension", S. 193. 31 Zu einem Begriff der Freundschaft vgl. Kracauer, Über die Freundschaft sowie Tenbruck, "Freundschaft". Sombart, Jugend in Berlin, S. 166 will mit Blick auf 2 Wagner

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I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

seine Analyse zielt sofort auf die Feindschaft, wie sich an der Gedankenführung seiner Arbeit ablesen läßt. In einer Nicolaus Sombart entlehnten Wendung kann Schmitts diesbezügliches Grundverständnis wie folgt umschreiben werden: »Ich bin, also habe ich Feinde«.32 Es ist, mit anderen Worten, die »konkrete Existenzialität eines Feindes«,33 an die Schmitt mit Blick auf das Politische denkt. 34 Auf die Frage, was man unter einem Feind zu verstehen habe, gibt Schmitt die lapidare Antwort, daß dieser »eben der andere« sei, »der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind«.35 Empirisch erhärtet wird dieses Schmittsche Grundverständnis jetzt offenbar durch neuere Untersuchungen u.a. aus dem Bereich der Soziobiologie, die zu belegen scheinen, daß bereits primitive Menschen »ihr Universum in Freunde und Feindec36 aufspalten: »Tatsächlich scheint unser Gehirn folgendermaßen programmiert zu sein: Wir neigen dazu, andere Menschen in Freunde und Fremde einzuteilen, im gleichen Sinne wie Vögel dazu neigen, territoriale Gesänge zu erlernen und sich an den polaren Sternbildern zu orientieren. Wir neigen dazu, die Handlungen von Fremden zutiefst zu fürchten und Konflikte durch Aggression zu lösen. Diese Lernregeln haben sich höchstwahrscheinlich während der letzten hundertausend Jahre der menschlichen Evolution entwickelt und denen, die sie mit der größten Treue befolgten, einen biologischen Vorteil verliehen«. 37 Wie dem auch sei, so lapidar Schmitts Verweis auf das »Anderssein«38 des Feindes auch klingt, mit ihm erinnert Schmitt an zwei grundlegende Gedanken Hobbes'. Erstens, daß echte Feindschaft nur zwischen Menschen möglich sei (homo homini homo), die Kategorie des Politischen mithin nur im Exi-

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Schmitt in der Kategorie des Freundes nicht ein •bürgerliches Subjekt, sondern eine soziologische Kategorie« erkennen: •Der Freund ist der "Bund"«. Sombart stellt darauf ab, die Differenzierung zwischen Freund und Feind in toto als •bündische Devise« zu begreifen; vgl. dazu jetzt auch ausführlich Sombart, "Der Ort der •Ent-Scheidung•" sowie Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Zum Begriff des Bundes vgl. bis heute unübertroffen Schmalenbach, "Die soziologische Kategorie des Bundes". Sombart, Jugend in Berlin, S. 166. Hofmann, "Feindschaft", S. 19. Vgl. hierzu Hofman, "Feindschaft", S. 19: •Aus der unbestreitbaren Tatsache, daß es Feindschaft zwischen politischen Einheiten gibt, welche die reale Möglichkeit eines "wirklichen", d.h. blutigen Kampfes auf Tod und Leben beinhaltet, leitet Carl Schmitt die Unterscheidung zwischen Freund und Feind als die grundlegende politische Kategorie ab«. Schmitt, Der Begriffdes Politischen , S. 27. Wilson, Biologie als Schicksal, S. 111. Wilson, Biologie als Schicksal, S. 114.

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stenzhereich des Menschen Anwendung finde: •Wer die Beziehung von Hund und Katze als Beispiel einer natürlichen Feindschaft ansieht, hat damit schon zum Ausdruck gebracht, daß eine Feindschaft unter Tieren etwas anderes bedeutet als unter Menschen. Der Hund stellt die Katze geistig oder moralisch mit ihrem Wesen nicht in Frage, und die Katze nicht den Hund. Indem der Hund die Katze anbellt oder die Katze den Hund anfaucht, machen diese Tiere es nicht wie Menschen, die imstande sind, ihrem Feind die Qualität des Menschen abzusprechen ... Die Feindschaft zwischen den Menschen enthält eine Spannung, die das Natürliche bei weitem transzendiert«. 39 Und zweitens, daß zum Begriff des Feindes •die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes«40 gehöre, Konflikte von daher stets die •Negation der eigenen Existenz«41 im Sinne •physischer Tötung«42 bedeuten könnten. (c) Die dritte Differenzierung kann man auf der soziologischen Ebene lokalisieren, i.e. auf der Ebene jener objektiven Gebilde, die sich auf der Zweierverbindung aufbauen. 43 Bildet die sozialontologische Ebene die nach dem Freund/Feind-Schema differenzierbaren Zweierverhältnisse ab, so gerät aufgrundder Tatsache, ,.daß dem dissoziativen Moment in der Bestimmung der Primat zukommt«, 44 auf der soziologischen Ebene das Politische auf eine Weise in den Blick, in der prinzipiell jeder Mensch einen potentiellen Feind des anderen darstellt (homo homini Iupus), wodurch eine Ordnungstheorie nur von dieser potentiell möglichen Situation eines Kampfes aller gegen alle ihren Ausgang nehmen kann. Vor diesem •hobbesischem Gedankenboden«,45 in dem der Kampf aller gegen alle bekanntlich mit dem Begriff des Naturzustandes bezeichnet wird, ist der erste Satz der Untersuchung zum Begriff (ies Politischen zu verstehen: Der Begriff des Staates setze den des Politisclen voraus.46 Eine, wie es Habermas in einer die Konzepte Hobbes' und Schmitts gleichsam aufeinander beziehenden Weise nennt, •ungezähmte politische Situation mit ihren universellen Freund-Feind-Verhältnissen«47 ist in logischer Hinsicht die Voraussetzung für die Herstellung einer Staat genannten Situa38 Kuhn, "Rezension", S. 190. 39 Schmitt, "Die geschichtliche Struktur des heutigen Weltgegensatzes von Ost und West", S. 149f. 40 Schmitt, Der Begriff des Politischen , S. 33 . 41 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27. 42 Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 33. 43 Vgl. Theunissen, Der Andere, S. 6. 44 Vollrath , "Wie ist Carl Schmitt an seinen Begriff des Politischen gekommen?", S. 153. 45 Rumpf, Carl Schmitl und Thomas Hobbes, S. 76. 46 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20. 47 Habermas, Theorie und Praxis, S. 69. 2•

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tion von •Ruhe, Sicherheit und Ordnung«48 - ebenso wie eine negative Anthropologie logische Voraussetzung des Primats der Feindschaft, dieser wiederum Prämisse jenes Naturzustand genannten Kampfes aller gegen alle ist. 49 Schmitt bringt die Hobbessche Differenzierung von Naturzustand und Staat wie folgt zum Ausdruck: •Ausgangspunkt der Staatskonstruktion des Hobbes ist die Angst des Naturzustandes, Ziel und Endpunkt die Sicherheit des zivilen, staatlichen Zustandes. Im Naturzustand kann jeder jeden töten; "jeder kann dieses Größte". In Hinsicht dieser Bedrohtheil sind alle gleich. Hier ist, wie Regel es umschreibt, "jeder ein Schwaches gegen den andem". Insofern herrscht "Demokratie". Jeder weiß, daß jeder jeden töten kann. Jeder ist daher jedesandem Feind und Konkurrent- das bekannte bellum omnium contra omnes. Im "zivilen", staatlichen Zustand sind alle Staatsbürger ihres physischen Daseins sicher; hier herrscht Ruhe, Sicherheit und Ordnung«. SO Mit den Begriffen Naturzustand und Staat ist das Spannungsverhältnis von Unordnung und Ordnung skizziert, mit dem Schmitt die Definition seines Begriffes des Politischen am prononciertesten zum Ausdruck bringt. Selbstredend nimmt Schmitt auch die nähere Explikation der Differenz Naturzustand/Staat in Anlehnung an Hobbes vor. Sie braucht an dieser Stelle jedoch nicht eingehend erörtert zu werden; es genügt der Hinweis auf eine weitere begriffliche Differenz, mit der Schmitt die erstgenannte Unterscheidung präzisiert. Es handelt sich um die Begriffspaare Ausnahmefall/Normalfall bzw. Ausnahmezustand/Souveränität, mit denen Schmitt die Absolutheil von Unordnung und Ordnung, die von den Begriffen Naturzustand und Staat bedeutet wird, relativiert und die Möglichkeit des Übergangs von der Unordnung zur Ordnung, aber auch umgekehrt, in den Blick rückt. SI Die in (1), Teile (a), (b) und (c), getätigten Aussagen zu Schmitts Begriff des Politischen zusammenfassend, läßt sich nun die These zum politischen Charakter der Ordnungstheorien von Durkheim und Habermas über die Bemerkung hinaus, sie stellten die Frage nach dem Zustandekommen sozialer Ordnung als das sogenannte Hobbessche Problem, wie folgt präzisieren: Wenn sich wie im Falle von Hobbes bei Durkheim und Habermas sowohl ein negatives anthropologisches Glaubensbekenntnis, darauf fußend eine entlang der Unterscheidung von Freund und Feind entwickelte sozialontologische Grundbegrifflichkeil und schließlich die soziologische Vorstellung eines dem 48 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 46. 49 Folglich gilt in der Tat, was Hood, The divine politics of Thomas Hobbes, S. 77 unterstreicht: •The account of the state of nature is, however, based on a view of human nature«. 50 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 47. 51 Vgl. hierzu Schmitt, Politische Theologie, S. 19 sowie Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 42f.

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Begriffspaar Naturzustand/Staat nachempfundenen Spannungsverhältnisses von Unordnung und Ordnung findet, dann ist es gerechtfertigt, diese Ansätze als politisch zu bezeichnen. Dabei steht es außer Frage, daß Durkheim und Habermas im Unterschied zu Hobbes den politischen Charakter ihrer Theoriekonstrukte nicht expressis verbis verkündet haben. Von daher gilt es, deren politische Grundannahmen hermeneutisch zu erschließen, was in der vorliegenden Untersuchung auch erbracht werden soll. (2) Daß die Werke von Durkheim und Habermas, prominenter Religionssoziologie der eine, Visionär in Sachen Versöhnung und Verständigung der andere, der Theologie einiges zu bieten haben, dürfte der Profession eine ebenso unbefragte Selbstverständlichkeit sein wie beider Formulierung des Ordnungsproblems als Hobbessches. Diese Relevanz dürfte die Bezeichnung theologisch jedoch kaum rechtfertigen. Aber auch in diesem Punkt vermag die Philosophie Schmitts einen Beitrag zur Klärung zu leisten. Dabei sind vor allem dessen Ausführungen zum ,.semantisch verkorksten Titel "Säkularisierung"«52 von Interesse. Der Begriff der Säkularisierung, dem manche einen ,.zweifelhaften analytischen Status..53 attestieren, ist ebenso wie die Kategorie des Politischen mannigfaltig konnotiert; und seine Verwendung ist tatsächlich nicht minder problematisch: ,.Wie die Debatte zeigt, schillert der Begriff der Säkularisation nicht nur in seinen einzelnen Merkmalen, sondern - konsequenterweise - auch in seiner Verwendbarkeit gegenüber historischen Phänomenen«.54 Schmitt selbst gebraucht diesen Begriff als Interpretationskategorie. Er entwickelt sein eigenes Verständnis von Säkularisierung in Anlehnung an das sogenannte Dreistadiengesetz Auguste Comtes, des in seinen Augen »größten Soziologen«.55 Wie Hans Blumenberg zu Recht bemerkt,56 erinnert Schmitt im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Politischen Theologie - obschon er dortselbst den Begriff des Positiven vermeidet - an das Dreistadiengesetz, wenn er die Stufen des Säkularisierungsprozesses bestimmt als »vom Theologischen über das Metaphysische zum Moralisch-Humanen und zum Ökonomischen«57 gehend. Doch hören wir dazu erst einmal Comte selbst: »Im theologischen Zu52 Luhmann, Funktion der Religion, S. 232.

53 Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 513. 54 Hassemer, "Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung", S. 239. Zum Begriff der Säkularisierung seien aus der Fülle der Literatur an dieser Stelle nur Stallmann, Was ist Säkuklrisierung? und Lübbe, Säkuklrisierung genannt. 55 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 27. 56 Vgl. Blumenberg, Säkuklrisierung und Selhstbehauptung, S. 108, 274. 57 Schmitt, Politische Theologie, Vorwort (ohne Paginierung); vgl. hierzu auch Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 73, wo von •Comtes berühmtem Dreista-

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stand richtet der menschliche Geist seine Untersuchungen auf die innere Natur der Dinge und auf die ersten Ursachen und letzten Ziele aller Erlebnisse, die ihn treffen; mit einem Wort: auf die absolute Erkenntnis. Die Vorgänge gelten ihm hier als die Taten weniger oder zahlreicher übernatürlicher Wesen, und deren Einwirkungen erklären ihm alle auftretenden Unregelmäßigkeiten der Welt. Im metaphysischen Zustand, der nur eine Abwandlung des vorgehenden ist, werden die übernatürlichen Mächte durch abstrakte Kräfte oder Entitäten ersetzt, die den verschiedenen Wesen der Welt innewohnen sollen. Sie sollen imstande sein, alle beobachteten Erscheinungen zu erzeugen, deren Erklärung darin besteht, daß man ihnen die jeweilig entsprechende Entität zuweist. Im positiven Zustand erkennen wir endlich die Unmöglichkeit, zu absoluten Begriffen zu gelangen; wir geben es auf, den Ursprung und die Bestimmung des Weltalls zu ermitteln und die inneren Ursachen der Erscheinungen zu erkennen«. 58 Schmitt nimmt an Comtes Dreistadiengesetz deswegen Interesse, weil darin, wie es Eric Weil in einem Diskussionsbeitrag formulierte, »die Idee einer fortschreitenden Säkularisierung des Denkens exemplarisch vorgedachtc5 9 ist. In der Tat enthält das Dreistadiengesetz schon in seiner populärsten Form, welche die einzelnen Stadien »in ihrer höchsten Allgemeinheit betrachtet und auf ihre entschiedensten Gestaltungenc60 zurückführt, einen zweistufigen Säkularisierungsbegriff. Das eine Mal meint Säkularisierung die Aufhebung, Transformation und dadurch Bewahrung von etwas in einer anderen Form {Sl); das andere Mal meint Säkularisierung die völlige Abkehr davon (S2). Diese beiden Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffes charakterisieren gewissermaßen zwei unterschiedliche Rationalisierungsschübe und lassen sich von diesem Ende her auch zwei unterschiedlichen Phasen in der Geschichte zuordnen. Comte beschreibt in seinem Dreistadiengesetz mit dem ersten Säkularisierungsbegriff den Übergang vom theologischen zum metaphysischen, mit dem zweiten den vom metaphysischen zum positiven Stadium. Ein Schaubild soll der Anschaulichkeit dienen.61

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diengesetz (von der Theologie über die Metaphysik zur positiven Wissenschaft)« die Rede ist. Comte, Die Soziologie, S. 2. Weil, zitiert nach Braun, "Diskussionsbericht zur Debatte ~Säkularisation«", S. 333. Comte, Die Soziologie, S. 168. Vgl. zum Nutzen graphischer Präsentation gedanklicher Zusammenhänge Krysmanski, "Reflexionen über das Visuelle in der soziologischen Produktion", S. 335, der konstatiert, daß die Fach- und Sachbuchpublikationen •visuell verannt« seien. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lynch, "Pictures of nothing?", S. 1, der den Wert von Graphiken ebenfalls unterstreicht: ~Although theory pictures rarely show much beyond what a text already says in its writing, they

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Schaubild 1 T -------------- > M ---------------- > P Sl S2

Im Übergang vom theologischen zum metaphysischen Stadium wird dementsprechend bei der Erklärung von Phänomenen eine theologische Instanz in ihrer Eigenschaft, oberstes Prinzip und Explanans zu sein, durch eine metaphysische ersetzt. Das metaphysische Stadium ist bloß eine Abwandlung des theologischen, eine »auflösende Abart des ersten«,62 wie Comte an anderer Stelle bekundet. Es »dient nur als Übergang von der ersten zur dritten«63 Kategorie: »Der Übergang der theologischen Philosophie zur positiven geschieht niemals plötzlich. Ihr Gegensatz ist zu schneidend, und unserm Geist widerstrebt ein so unvermittelter Wechsel. Als Zwischenglied dient die metaphysische Stufe«. 64 Säkularisierung befördert hier insofern eine »entzauberte Präsenz von Religiösem«, 65 als nun der metaphysischen Instanz Qualitäten zugeschrieben werden, die ehedem die theologische innehatte. Im Übergang zum positiven Stadium verschwinden diese Qualitäten. Ein Rekurs auf ein oberstes Prinzip findet im positiven Stadium nicht mehr statt. Die Säkularisierung wird gleichsam total. Während sich die ersten beiden Stadien durch Bezugnahme auf Instanzen auszeichnen, die in einer Hinterwelt im Sinne Webers angesiedelt sind, 66 existiert im positiven Stadium keine Möglichkeit einer Verankerung dortselbst. Erklärungsleistungen können jetzt nicht mehr mit dem Hinweis auf etwas Überpositives, etwas Transzendentes erbracht werden. Das Ergebnis hiervon ist, wie Ulrich Ruh im Anschluß an Ernst Troeltsch formuliert, eine radikale ,.verdiesseitigung... 6 7 Die •Ausgelebtheit der alten Welt..68 wird charakterisiert durch eine »Naturalisierung des Überzeitlichen,

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simulate a hermeneutic passage from written ideas to an independant representational or mathematical space•. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, S. 5. Comte, Die Soziologie, S. 2. Levy-Bruhl, Die Philosophie August Comte's, S. 32. Marquard, "Aufgeklärter Polytheismus- auch eine politische Theologie?", S. 77. Vgl. zum Begriff der Hinterweit einstweilen Treiber, "•Wahlverwandtschaften • zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie", S. 23 sowie Schluchter, Religion undLebensfilhrung, Bd. 2, S. 25ff, 37ff, 167f, 499,511. Ruh, Sllkularisierung als lnterpretationskategorie, S. 144. Ruh, Säkularisierung als lnterpretationskategorie, S. 169.

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Auflösung des Transzendenten in die Sphäre der natürlichen Immanenz, des rein naturhaften Wachstums-, Entwicklungs-, Werdeprozesses«. 69 Schmitt war bekanntlich im Kontext seiner eigenen Untersuchungen zur katholischen Staatsphilosophie der Gegenrevolution - insbesondere zu de Maistre, Louis de Bonald und Cortes70 - hauptsächlich am Übergang vom theologischen zum metaphysischen Stadium (SI) interessiert. Daß eine theologische Instanz nicht gänzlich abgeschafft wird, ihre Qualitäten vielmehr in einer anderen Instanz aufgehoben werden, bildet den Kern seiner Säkularisierungstheorie. Was ist das Besondere gerade an dieser Auffassung von Säkularisierung? Nun, sie eröffnet die Tiefendimension der Geschichte für eine durch Kontingenzen gefährdete Gegenwart und verschafft auf diese Weise •historische Identität«. 7l •Gleichsam aus der Tiefe der Zeit die Unverbrüchlichkeit von Ordnungen produzierend«, 72 wird Säkularisierung dadurch zu einem diachronischen, historisch-horizontalen Fundierungszusammenhang. Das Säkularisierungstheorem ist somit »ein Kontinuitäts- und damit TraditionsTheorem, dessen Prinzip - in jedem Sinn des Wortes - eben der Ursprung ist«. 73 Dabei bedeutet Tradition •ein Doppeltes«, nämlich, wie Richard Faber im Anschluß an Paul Tillich formuliert, •die Herleitung von einem Ursprung und die Unterwerfung unter die Autorität des Ursprungs«.74 Durch die Tradition soll »das dem Ursprung Entspringende ... an der unbedingten Macht des Ursprungs« teilhaben; und wenn einmal ein Traditionsbruch vorliegt, geht es bei diesem Gebrauch des Säkularisierungstheorems darum, »alte verlorene Traditionen wieder aufzunehmen«. 75 Es versteht sich von selbst, daß nur bestimmte »traditionalistische« Traditionen wiederaufgenommen werden sollen, »nicht subversive Gegentraditionen des Brechens der Ursprungsautorität; nicht Traditionen der auf ihre Erfüllung wartenden, d.h. (sieb) weiterbin (zur Selbstaufklärung) aufgebenden Aufklärung«. 76 Eingedenk dieses Verständnisses von Säkularisierung (SI) wird der spezifische Bedeutungsgehalt der zweiten Begriffskomponente dessen einsichtig, was 69 Wust, "Die Säkularisier ng des europäischen Geistes und ihre Überwindung in der Gegenwart", S. 3. 70 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 67ff. 71 Blumenberg, Stikularisierung und Selbstbehauptung , S. 113 . 72 Blumenberg, Stikularisierung und Selbstbehauptung, S. 111. 73 Faber, "Von der »Erledigung jeder Politischen Theologie« zur Konstitution Politischer Polytheologie", S. 87. 74 Faber, "Von der »Erledigung jeder Politischen Theologie« zur Konstitution Politischer Polytheologie", S. 87. 75 Faber, "Von der »Erledigung jeder Politischen Theologie« zur Konstitution Politischer Polytheologie", S. 87.

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Schmitt Politische Theologie nennt. Kennzeichnet diese Art von Säkularisierung den Vorgang einer ,.Begriffsübertragung, der zugleich eine Positionsübernahme«77 impliziert, so läßt sich sagen, daß in der neuen Position das Theologische nicht abgestreift, sondern aufgehoben ist. Die neue Position kann unter diesen Auspizien auch als Metaphysik im Sinne Comtes bezeichnet werden, der ja bekanntlich keinen qualitativen Unterschied zwischen beiden Stadien zulassen, das Metaphysische freilich als eine Art Dekadenzstadium des Theologischen bezeichnet wissen wollte. Von daher ist es kein Wunder, wenn in der Literatur ,.Politische Theologie« synonym mit ,.Politische Metaphysik«78 gebraucht wird. Und wie bei der Entwicklung eines adäquaten Begriffes der Politik kommt Schmitt zufolge auch in diesem Kontext der politischen Philosophie Hobbes' eine herausragende Bedeutung zu. Als paradigmatischen Fall von Säkularisierung führt Schmitt nämlich das Beispiel des ,.allmächtigen Gottes« an, der im Werke Hobbes' ,.zum omnipotenten Gesetzgeberc79 geriet: ,.Die Wendungen von der "Allmacht" des Staates sind in der Tat oft nur oberflächliche Säkularisierungen der theologischen Formeln von der Omnipotenz Gottes«. 80 Tatsächlich habe sich ein solcher Vorgang einer Begriffsübertragung »exemplarisch in der Ausbildung des staatlichen Souveränitätsbegriffs ... vollzogen. Attribute, die theologisch zur Kennzeichnung Gottes, seiner Allmacht, Schöpferkraft usw. dienten (potestas absoluta, creatio ex nihilo, norma normans, potestas constituens .. .)«, wurden nun auf die Staatsgewalt und ihren Inhaber übertragen, die dadurch in den Besitz »Vordem nur dem Gott der christlichen Offenbarung zuerkannter Positionen und Eigenschaften gesetzt wurden«.8l Die in (2) gemachten Aussagen zu Schmitts Begriff des Theologischen zusammenfassend, läßt sich die These vom theologischen Charakter der Gesellschaftstheorien Durkheirns und Habermas' über den bloßen Hinweis hinaus, 76 Faber, "Von der •Erledigung jeder Politischen Theologie• zur Konstitution Politischer Polytheologie", S. 87. 77 BöckenfOrde, "Politische Theorie und politische Theologie", S. 19. 78 So etwa von Faber, "Von der •Erledigung jeder Politischen Theologie• zur Konstitution Politischer Polytheologie", S. 85. 79 Schmitt, Politische Theologie, S. 49. 80 Schmitt, Der Begriffdes Politischen, S. 42f. 81 BöckenfOrde, "Politische Theorie und Politische Theologie", S. 19. Den Umstand, daß Schmitt seine eigene Staatskonstruktion •parallel zum Leviathan von Thomas Hobbesc entwickelt, betont auch Staff, "Zum Begriff der Politischen Theologie bei Carl Schmitt", S. 193; allerdings scheint Staff Hobbes' Modell des Staates in einem •rein säkularen• Sinne zu verstehen (S2), was natürlich der von Schmitt •selbst behaupteten• Auffassung von Säkularisierung als •Umbesetzung•

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daß die Religion in beider Werke häufig Gegenstand der Reflexion ist, fol-

gendermaßen präzisieren: Wenn sich wie im Falle von Hobbes die Ordnungstheorien von Durkheim und Habermas bei ihrer Klärung der Frage nach dem Zustandekommen sozialer Ordnung säkularisierter theologischer Begriffe im oben beschriebenen Sinne bedienen, dann ist es gerechtfertigt, diese Ansätze als theologisch zu bezeichnen. Mit anderen Worten, wenn auch in den Positionen von Durkheim und Habermas die Integrationsmuster der »unerklärlichen Identität«82 Gottes nachgebildet sind, dann müssen deren »prägnante« ordnungstheoretische Begriffe als »säkularisierte theologische Begriffe«83 bezeichnet werden. Natürlich sollte es auch in diesem Falle klar sein, daß Durkheim und Habermas im Unterschied zu Hobbes den theologischen Charakter ihrer Theoriekonstrukte nicht eigens verkündet haben. Aus diesem Grunde ist es auch hier erforderlich, deren theologische Grundannahmen hermeneutisch zu erschließen, was in der vorliegenden Arbeit gleichfalls unternommen werden soll. Hatten wir eingangs die These formuliert, Durkheim und Habermas stellten gar keine gesellschaftstheoretische Auflösung des Problems sozialer Ordnung bereit, sondern betrieben diesbezüglich vielmehr Politische Theologie, so sind wir nun in der Lage, im Eingedenken der in (1) und (2) aufgestellten Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit von einer Politischen Theologie die Rede sein kann, an die Überprüfung unserer These zu gehen. Bevor wir uns jedoch dieser Aufgabe widmen, soll noch eventuellen Mißverständnissen vorgebeugt werden, die sich dem einen oder anderen angesichts dieser Thesenstellung aufdrängen könnten. Dabei geht es weniger um Durkheim denn um Habermas, der in der Profession ja als dezidierter Gegner Schmitts bekannt ist und, wie wir wissen, nicht eben Begeisterung empfindet, wenn sein Werk mit dessen Kategorien in Beziehung gesetzt wird. Wie enerviert Habermas selbst sowie die Koterie der Intellektuellen in seiner Gefolgschaft reagieren, wenn jemand sich anschickt, ihn »mit Carl Schmitt in Zusammenhang zu bringen«, 84 sozusagen den ,. Weimarer Antidemokraten mit einem der profiliertesten prodemokratischen Denker der Bundesrepublik«, SS zeigt sehr schön die Debatte um den Versuch Ellen Kennedys, Wechselwirkungen zwischen Schmitt und der sogenannten Frankfurter Schule nachzuzeichnen. 86 Im Unterschied frei-

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nicht gerecht wird, wie Staff, "Zum Begriff der Politischen Theologie bei Carl Schmitt", S. 204 denn auch selbst einsieht. Schmitt, Politische Theologie, S. 51. Schmitt, Politische Theologie, S. 49. Haungs, "Diesseits oder jenseits von Carl Schmitt?", S. 529. Söllner, "Jenseits von Carl Schmitt", S. 518. Vgl. Kennedy, "Carl Schmitt und die Frankfurter Schule", Söllner, "Jenseits von Carl Schmitt", Jay, "Les extremes ne se touchent pas", Preuß, "Carl Schmitt und die Frankfurter Schule" und Haungs, "Diesseits oder jenseits von Carl Schmitt?";

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lieh zu Kennedy, der es um eine minutiöse Rekonstruktion der •Rezeption im Verborgenen«81 geht, in der Habermas Schmittsche Gedanken aufgenommen hat, ist die vorliegende Untersuchung nicht an einer auf der Ebene der Werkgeschichte mehr oder weniger nachweisbaren Einflußbeziehung interessiert. Ob bei Habermas die •politische Theorie Schmitts erneut zu einer Quelle für Begriffe und Kategorien der Analyse des Staates«88 geriet, soll hier denn auch nicht entschieden werden. Wenn in der vorliegenden Untersuchung das Sch.mittsche Verständnis von Politischer Theologie mit Blick aufHabermas' Schriften in Anschlag gebracht wird, dann geschieht das ausschließlich im Sinne eines metatheoretischen, begrifflich-analytischen Instrumentariums, das es ermöglichen soll, den eigentlichen Charakter von Habermas' Theorie sozialer Ordnung freizulegen. Insofern ist nicht mehr - aber auch nicht weniger - beabsichtigt. Einen besseren Zugriff auf unsere Thematik, als ihn die Debatte um Kennedy abgibt, bietet Habermas' eigene Auseinandersetzung mit Dieter Henrich. Tatsächlich erweist sich Habermas' Vorwurf an Henrich, eine •Rückkehr zur Metaphysik« zu betreiben und dadurch eine gewisse •Tendenz in der deutschen Philosophie«89 loszutreten, als ein Bumerang. Renrieb kann nämlich ein paradoxales Verfahren Habermas' dahingehend aufzeigen, daß dieser auf der einen Seite zwar im Namen der Aufklärung Front macht gegen jedwede Form von Metaphysik, auf der anderen Seite aber die Metaphysik als konstitutives Moment in seine eigene Theorie integriert: •Habermas ist beim Zeugenaufruf gegen die Nachricht vom Überleben einer Metaphysik in der Moderne schlechtweg jedermann willkommen, wenn er nur bereit ist, der Interaktionsgemeinschaft den Primat hinreichend eindeutig zu bestätigen und sich folglich gegen "Philosophie der Subjektivität" und Metaphysik nachhaltig genug abzugrenzen oder abzuschirmen. Von dieser These hat Habermas ... sein ganzes Werk abhängig gemacht ... Auf der durch sie markierten Seite abständiger Vergangenheit sollen sich die Fußkranken der fortschreitenden Modernität zusammen mit allen Varianten des konservativen Denkens fmden, auf der anderen die von Habermas aufgerufene Zeugengemeinschaft. In diesem Zeugenverband darf sogar von einem "Absoluten" die Rede sein, wenn sie sich nur

Söllner, "Jenseits von Carl Schmitt", S. 502 weiß von einer diesbezüglichen »scharfen Abwehrreaktion« Habermas' zu berichten. Wie Haungs, "Diesseits oder jenseits von Carl Schmitt?", S. 526ff anmerkt, steht Kennedys Ansatz freilich in einer Reihe anderer Versuche, »Carl Schmitt frankurterisch« zu lesen; Haungs nennt u.a. Hennis, Verfassung und Verjassungswirklichkeit, Jäger, t>.ffentlichkeit und Parlamentarismus und Rhonheimer, Politisierung und Legitimitlitsentzug. 87 Kennedy, "Carl Schmitt und die Frankfurter Schule", S. 402. 88 Kennedy, "Carl Schmitt und die Frankfurter Schule", S. 402. 89 Habermas, "Rückkehr zur Metaphysik", S. 905.

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zugleich gegen den Subjektbegriff und den Terminus "Metaphysik" feindselig äußert«. 90 Zwar hat Habermas in einem rejoinder noch einmal seine Auffassung bekräftigt, Henrich wolle sich •zum Anwalt einer Metaphysik, die nach Kant Bestand haben kann«, 91 machen. Doch fällt dieser Vorwurf mehr und mehr auf ihn selbst zurück, was seine eigene Theoriekonstruktion ebenfalls zu einem Bestandteil der von ihm konstatierten Tendenz in der deutschen Philosophie werden läßt. In der Profession wird nicht länger darüber binweg gesehen, daß Habermas •metaphysische Erwartungen weckt, und in seiner Theorie Metaphysik betreibt, mit dem Namen der Metaphysik aber nichts mehr zu tun haben möchte«. 92 Nun ist es aber exakt dieses Paradoxon, das jene Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie evoziert, auf die sich die Überschrift des die vorliegende Untersuchung einleitenden Kapitels bezieht. Sie ist einer Analogie geschuldet, die evident sein dürfte: Odo Marquard hatte sich mit seinem Bekenntnis, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie zu haben,93 in die zwischen Blumenberg, Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith und Schmitt statthabende Diskussion um die Legitimität bzw. Illegitimität der Neuzeit sowie der philosophischen Verwendung des Säkularisierungstheorems eingeschaltet. 94 Seine Schwierigkeiten resultieren aus einer ,. Zweideutigkeit« bzw. •Aporie«, die der Begriff der Geschichtsphilosophie in sich birgt. Marquard begreift die Geschichtsphilosophie als eine »datierbare Formation«, welche »die eine Weltgeschichte proklamiert mit dem einen Ziel und Ende, der Freiheit aller; diejenige also, die gegen das scheinbar Unvermeidliche antritt, daß Menschen vom Leiden anderer Menschen leben; diejenige, die Fortschritt sieht und will und Kritik der vorhandenen Wirklichkeit als Unterscheidung zwischen dem, was ihn fördert, und dem, was ihn nicht fördert, und die dabei mit einer letzten Krise rechnet und mit ihrer definitiven Lösung; kurz: es ist diejenige, die aufruft zum Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit dadurch, daß sie sich aus Heteronomien befreien und sich selber autonom zum Herrn ihrer Welt machen. Geschichtsphiloso-

90 Henrich, "Was ist Metaphysik, was Moderne?", S. 501. 91 Habermas, "Metaphysik nach Kant", S. 425.

92 Gerhardt, "Metaphysik und ihre Kritik", S. 70. 93 Vgl. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. 94 Vgl. Blumenberg, "Säkularisation" , Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 9ff, Blumenberg, Säkularisierung und Selhstbehauptung, Gadamer, "Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit", Löwith, "Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit" und Schmitt, Politische Theologie II; vgl. zu dieser Debatte weiterhin Oeing-Hanhoff, "Psychotherapie des philosophischen Bewußtseins" sowie Faber, Der Prometheus-Komplex, S. 75ff.

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phie: das ist der Mythos der Aufklärung. Ist sie also Mythos oder ist sie Aufklärung? Da steckt die Zweideutigkeit, da liegt die Aporie«. 95 In der Tat bin ich der Meinung, daß die begriffliche Opposition von Metaphysik und Modeme, die uns gelegentlich unserer vorstehenden Auseinandersetzung mit der Gesellschaftstheorie Habermas' begegnet ist, der anderen, von Marquard hinsichtlich der Geschichtsphilosophie ins Spiel gebrachten begrifflichen Opposition von Mythos und Aufklärung entspricht. Das von Renrieb beschriebene gesellschaftstheoretische Paradoxon korrespondiert der geschichtsphilosophischen Aporie, die Marquard zum Kern seiner Reflexionen macht. Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, sofern es sich bei letzterer um die Tradition normativer Integration handelt, lassen sich als zwei Seiten ein und derselben Medaille betrachten. Wiederum im Rekurs auf das Werk Comtes ist es möglich, das Identische beider Disziplinen nach Dynamik und Statik zu differenzieren. Stellt die Geschichtsphilosophie auf die »soziale Dynamik oder die Lehre vom Fortschrittc96 ab, so ist es der Gesellschaftstheorie um die »soziale Statik« oder, in Comtes Umschreibung: um die ,.Theorie von der natürlichen Ordnung der Gemeinschaftenc97 zu tun. Daß beide Aspekte nicht nur in den Arbeiten Comtes,98 sondern auch in denen von Habermas intrinsisch verschränkt sind, zeigt ein erster Blick in seine Theorie des kommunikativen Handeins, wo die Herausbildung sozialer Ordnung stets mit Blick auf eine positive Utopie betrachtet und solchermaßen in einen Prozeß evolutionären Fortschritts eingelagert wird. Als eine »Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisenc,99 ist sie in gleicher Hinsicht zugleich Geschichtsphilosophie. Um die aus dem aporetischen Charakter der Geschichtsphilosophie resultierenden Schwierigkeiten weiter zu bestimmen, bezeichnet Marquard die Geschichtsphilosophie als eine »datierungsmäßig neuzeitliche Vomeuzeitlichkeit«, sie wird von ihm »als neuzeitlicher Rückfall ins Vorneuzeitliche be-

95 Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 14. 96 Comte, Die Soziologie, S. 137. 97 Comte, Die Soziologie, S. 118. 98 Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 25 will Comtes Position freilich nur als eine geschichtsphilosophische Schwundform durchgehen Jassen: ,.zu den frühen und dauernden Schwundstufen der Geschichtsphilosophie gehört jene Gestalt des fortschrittstheoretischen Positivismus, die aus der Portschrittsidee die revolutionären Intentionen und hierfür notfalls auch die politischen Probleme streicht und dann Fortschritt nur mehr als den der Wissenschaften und Technologien zuläßt•. Auf den Status der Position Comtes, ob sie denn nun eine Geschichtsphilosophie befordert oder nicht, wird noch einzugehen sein. 99 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 7.

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I. Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie

stimmt, als Regression«. 100 Marquard will die •enge Verbindung zwischen moderner Geschichtsphilosophie und Neuzeit lösen•, und seine These ist von einem geradezu provozierenden Charakter: •die moderne Geschichtsphilosophie und ihre Revolutionen sind nicht die eigentliche Neuzeit, sondern - als Regression in die biblische Eschatologie - deren datierungsmäßig neuzeitliche Negation: die Gegenneuzeit-. 101 Die besagten Schwierigkeiten, so folgert Marquard, indem er mit den beiden uns von Comte her bekannten Konnotationen des Säkularisierungsbegriffes jongliert, bestehen nun gerade nicht darin, daß in der Geschichtsphilosophie •die biblische Eschatologie säkularisiert wurde, sondern, daß durch sie die biblische Eschatologie zu wenig säkularisiert wurde: die revolutionäre Geschichtsphilosophie ist die mißlungene Säkularisierung der biblischen Eschatologie und darum "politische Theologie"" .I 02 Über Blumenberg hinausgehend, der das Säkularisierungstheorem in globo attackiert und als eine historische Kategorie der Illegitimität zurückweist, weil es die Neuzeit diskriminiert, und der weiterhin die Legitimität der Neuzeit »in ihrer Diskontinuität zu ihrer Vorgeschichte« 103 begreift, insistiert Marquard darauf, daß •die Geschichtsphilosophie gar nicht zu dem gehört, was Blumenberg mit seinem Angriff verteidigt: zur Neuzeit ... denn so wenig ist die Geschichtsphilosophie durch ihre Neuzeitlichkeit spezifisch definiert, daß vielmehr gilt: in der Geschichtsphilosophie mißlingt die Neuzeit . .. es ... ist bei der Geschichtsphilosophie das Schlimme weder die Säkularisation noch das Operieren mit dem Begriffe Säkularisation, sondern vielmehr dieses: daß in ihr die Säkularisation nicht oder zu wenig stattfand, daß sie in ihr nicht gelang. Daher ... ist die Geschichtsphilosophie nicht Neuzeit, in ihr mißlingt die Neuzeit«. 104 Was Marquard für die Geschichtsphilosophie konstatiert, gilt mutatis mutandis fiir die Gesellschaftstheorie. Auch in ihr mißlingt die Neuzeit, sie stellt ebenfalls eine Regressi>Gott••

Setzt demzufolge Spencer seinen Begriff des Militärischen an die theoretische Funktionsstelle, die ehedem Hobbes' Begriff des Naturzustandes innehatte, so stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, durch welche Konzepte er die Robbesseben Begriffe Staat und Gott ersetzt. Klären wir zunächst das funktionale Äquivalent des Begriffes Gott. Ein Blick in Spencers Werk zeigt, daß dieser den Terminus des Militärischen als Oppositionsbegriff zu einem sogenannten Industriellen einführt,39 und in diesem Sinne wird der begriffliche Zusammenhang von der Forschung auch rezipiert: •Spencer thought it most useful to construct two extremely dissimilar types - so dissimilar as to constitute a "polarity" - the "Militant" and the "Industrial"«,40 Nehmen wir diese strikt gesetzte Polarität beim Wort und folgen der bisherigen Logik von Spencers Gedankenfiihrung, dann läßt sich für eine nähere Charakterisierung des Industriellen das Folgende schließen: Erstens wird das Industrielle in der Zukunft liegen; zweitens wird sich die konsequent negativ gedachte Anthropologie ins genaue Gegenteil verkehren; drittens ist es plausibel anzunehmen, daß das dominierende Strukturmuster des menschlichen Miteinanders im Industriellen nicht die Feindschaft, sondern die Freundschaft sein wird, weswegen auch nicht Krieg, sondern Friede herrschen wird. Es erübrigt sich hinzuzufügen, daß Spencer das Industrielle selbstredend auch nicht als rein abstraktes Gedankending konzipieren kann. Seiner historisch konkretistischen Verfahrensweise gemäß, muß die Hobbessche Vorstellung Gottes ebenfalls in eine Art von "Zustand", mit Aussagen zur Natur des Menschen und zum Prinzip des Miteinanders von Ego und Alter, überführt werden. Die Validität der ersten Schlußfolgerung zu belegen, ist nicht weiter schwierig. Spencer spricht wiederholt davon, daß das Industrielle in einer »remote future«41 anzusiedeln sei. Auch in der Sekundärliteratur herrscht

39 Vgl. Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 564ff sowie Spencer, The principles ofsociology, Bd. 2, S. 603ff. 40 Fletcher, Themakingof sociology, Bd. 1, S. 282; vgl. hierzu auch Turner, Herherr Spencer, S. 92ff und Kellennann, "Herbert Spencer", S. 178, der von •entgegengesetzten Gesellschaftstypen • spricht. 41 Spencer, The study ofsociology, S. 174. 7 Wagner

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III. Von Hobbes über Spencer zu Durkheim

daran kein Zweifel; so konstatiert etwa Tönnies, die »reine Ausbildung« des Industriellen liege »in der Zukunft«. 42 Was den zweiten Punkt anlangt, insistiert Spencer- über das in dieser Hinsicht ahistorische Denken Hobbes' hinausgehend und in Ergänzung seiner eigenen Ausführungen zur Charakterisierung des Militärischen43 - darauf, daß die menschliche Natur grundsätzlich »modifiablec44 sei. Daß der Mensch in der Vergangenheit »desperately wicked« 45 gewesen sei, bedeute nicht, daß er dies immer und für alle Zeiten sein müsse. Dachte er mit Blick auf die Vergangenheit »pessimistic about human nature.. , 46 so ist er nun der Auffassung, daß sich vereinzelt verhältnismäßig früh »höhere Gefühlec47 finden lassen. Die oben bereits erwähnten Fijian, »Which despotism based on cannibalism is without check«, sollen beispielsweise ein rudimentäres »Sentiment of friendshipc48 gekannt haben. Neben diesen höheren Gefühlen existieren Spencer zufolge bei den Wilden andere, niederere Gefühle, welche, die höheren Gefühle gewissermaßen unterstützend, den ursprünglichen Egoismus sowie die anfängliche Vereinzelung überwinden helfen und die Individuen zu einem Zusammenleben mit anderen geneigt machen. Spencer erwähnt in diesem Zusammenhang insbesondere die Liebe zum Beifall und zur Bewunderung, die ein Verhalten provoziere, das er •ego-altruistic« nennt: •Before there exist in considerable degrees the sentiments which find satisfaction in the happiness of others, there exist in considerable degrees the sentiments which fmd satisfaction in the admiration given by others. Even animals show themselves gratified by applause after achievement; andin men the gregarious life early opens and enlarges this source of pleasure«. 49 Relativieren diese Gefühle das Böse und die Isolierung des Menschen im Laufe der Zeit immer mehr, so läßt sich 42 Tönnies, "Herbert Spencers soziologisches Werk", S. 86; vgl. dieselbe Einschät43 44

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zung bei Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung, S. 82 und Perrin, "Herbert Spencer's four theories of social evolution", S. 1343. Tönnies, "Herbert Spencers soziologisches Werk", S. 86 spricht in diesem Kontext von einer •merkwürdigen Wandlung• im Denken Spencers. Daß es sich hierbei mitnichten um eine Wandlung handelt, werde ich noch ausführen. Spencer, On social evolution, S. 108. Spencer, On social evolution, S. 109. Simon, "Herbert Spencer and the »social organism•", S. 298. Tönnies, "Herbert Spencers soziologisches Werk", S. 84. Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 63. Ein weiteres Beispiel gibt Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 68: ,.While the Bhils are reputed to be cruel, revengeful, and ready to play the assassin for a trifling recompense, the Nagas are described as "good-natured and honest"; the Bodo and Dhimal as "full of amiable qualities", "honest and truthful" , "totally free from arrogance, revenge, cruelty" ; and of the Lepcha, Dr. Hooker says bis disposition is "amiable", "peaceful and no brawler": thus "contrasting strongly with bis neighbours to the east and west•.

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vom heutigen - i.e. Spencers - Standpunkt aus betrachtet gar behaupten: »the human character has changed«. 50 Und weil dieser Veränderungsprozeß nicht stillsteht, sondern weiter voranschreitet, kann für den Menschen der fernen Zukunft in Spencers Augen ein vollständig unproblematisches Wesen vorhergesagt werden. Robert G. Perrio nennt diesen Vorgang zu Recht einen »longrange changeinhuman nature itself«, der letztlich zu einer »peaceful cooperation for an indefinite period of time«5l führe. Damit sind wir beim dritten Punkt angelangt: Während sich die Menschen der Vergangenheit ihrer anthropologischen Ausstattung und dem Strukturprinzip der Feindschaft entsprechend »Utterly-egoistic«52 gebärdeten, »destroying the lives of others«, 53 soll der •aggressive egoism of the militant life«5 4 den Menschen des Industriellen vollkommen unbekannt sein. Diese agierten vielmehr »entirely altruistic«, 55 und demzufolge stellt Spencer gleichsam idealtypisch einem »regime of war«5 6 einen Zustand gegenüber, den er als •permanently peaceful«57 umschreibt. Der Mensch sei nicht länger böse, das vorherrschende Strukturierungsprinzip des menschlichen Miteinanders nun nicht mehr die Feindschaft, sondern die Freundschaft. •Sociality«, so formuliert Spencer, sei »Strong in the civilized man«5 8 des Industriellen. Um Spencers diesbezügliche Überlegungen etwas anschaulicher zu fassen, sei an dieser Stelle an die im vorstehenden Kapitel gemachte Bemerkung erinnert, daß Hobbes seine Freund/Feind-Differenzierung völlig asymmetrisch konzipiere; zwar entwickele er einen differenzierten Begriff der Feindschaft, aber keinen der Freundschaft.59 Der Grund für diese begriffliche Enthaltsamkeit, so können wir nun hinzufügen, ist darin zu sehen, daß Hobbes schlicht und ergreifend keinen Bedarf für eine derartige Kategorie hatte. Mit seinem Begriff von Gott, der, wie wir gesehen haben, in ordnungsstiftender Manier in das menschliche Treiben des Naturzustandes eingreifen kann, verfügt er nämlich a priori über einen Kontrapunkt zum Begriff der Feindschaft, wobei

49 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 1, S. 63f. 50 Spencer, Social statics, S. 233 . Peel, "lntroduction", S. xiverwähnt einige Positionen in der Ideengeschichte, die Spencer glauben machen konnten, •that men were essentially good•. 51 Perrin, "Herbert Spencer's four theories of social evolution", S. 1344. 52 Spencer, The study ofsocio/ogy, S. 179. 53 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 2, S. 607. 54 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 2, S. 640. 55 Spencer, The study ofsocio/ogy, S. 180. 56 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 2, S. 595. 57 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 2, S. 631. 58 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 1, S. 71. 7•

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sowohl die Vorstellung eines positiven Menschenbildes als auch die der Freundschaft und eines Zustandes friedlichen Miteinanders gewissermaßen im relativ abstrakten Begriff Gottes enthalten sind. Spencer hingegen, der historisch und konkretistisch verfährt und das funktionale Äquivalent Gottes folglich ebenfalls als einen "Zustand" konzipieren muß, kreiert neben einem positiven Menschenbild einen eigenständigen und ausdifferenzierten Begriff der Freundschaft, um auf diese Weise seinen an die Funktionsstelle Gottes treten sollenden Begriff des Industriellen konnotieren zu können. Daß das Industrielle dabei eine in der Zukunft angesiedelte Fiktion darstellen sollte, kam ihm nur zupaß, denn das Kontrafaktische, Utopische gestattet bekanntlich Aussagen, die einer empirischen Überprüfungper dejinitionem unzugänglich sind. Obschon die Kategorie des Industriellen prima vista völlig säkular anmutet, handelt es sich dabei doch um eine theologische Qualität. Freilich muß bei ihrer Handhabung dieselbe Vorsicht walten, die oben im Falle des Begriffs des Militärischen angemahnt wurde, denn auch das Konzept des Industriellen birgt eine bewußt gewollte Mehrdeutigkeit, die dem Vexierspiel zwischen abstrakt und konkret entspringt, das den Transformationsprozeß der Robbessehen Begriffe kennzeichnet. Das Industrielle soll nämlich nicht nur das Ergebnis von Spencers Historisierungs- und Konkretisierungsprozeß von Hobbes' abstraktem Gottesbegriff- im Sinne einer Bezeichnung geschichtlich eindeutig identifizierbarer Typen menschlichen Miteinanders, »based upon amity, individual altruism, an elaborate specialization of functions, criteria which recognize only achieved qualities (as opposed to ascribed ones), and, primarily, a voluntary cooperation among highly disciplined individuals«60 zum Ausdruck bringen, sondern in gleicher Hinsicht auch den Ausgangspunkt dieser Konkretion - den Begriff Gottes - fixieren und den Anschluß an Hobbes' Gedankengut bewahren, indem es dessen abstrakte Vorstellungen im Sinne Hegels aufhebt. Auf diese Weise wird nun auch der Begriff des Industriellen einerseits geschmeidig genug, um ihn bei der Analyse konkreter historischer Entitäten zur Anwendung zu bringen; und andererseits vermag sein Gebrauch stets an die im abstrakten Begriff Gottes inkarnierten Vorstellungen eines positiven Menschenbildes, von Freundschaft und eines Zustands paradiesischer Friedfertigkeit zu erinnern. In Abwandlung von Tönnies ließe sich hier formulieren, bald dünke Spencer das Industrielle gleichartig mit Gott und der Friedfertigkeit, zu der sich das Menschengeschlecht allmählich entwikkele; bald bedeute es ihm die Kultur selber in ihren zu erwartenden empirischen Gestaltungen. 6 1 Aber auch in diesem Falle muß noch ein Weiteres be59 Dasselbe war im Kapitel "Schwierigkeiten mit der Gesellschaftstheorie" mit Bezug auf Schmitt angemerkt worden. 60 Perrin, "Herbert Spencer's four theories of social evolution", S. 1343. 61 Vgl. Tönnies, "Herbert Spencers soziologisches Werk", S. 83.

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achtet werden. Denn indem das Industrielle- wie ehedem Hobbes' Gottesbegriff- das Gute, die Freundschaft und die absolute Friedfertigkeit fixiert, ist im Eingedenken des durch das Militärische zum Ausdruck gebrachten Sündenfalls mit ihm zugleich eine Vorstellung von Erlösung - sozusagen in Gott benannt und markiert. Die mit den polar gesetzten Begriffen des Militärischen und Industriellen implizierten Vorstellungen von Sündenfall und Erlösung verweisen auf einen theologischen Bezugsrahmen, in den die gesamte theoretische Konstruktion Spencers eingelagert ist. Wiewohl Spencer diesen Bezugsrahmen an keiner Stelle seines Werkes ausführlich diskutiert, fmden sich genügend Hinweise, die eine Explikation desselben erlauben. So präsentiert Spencer beispielsweise seine Vorstellungen von Egoismus und Altruismus, Feindschaft und Freundschaft in einer theologischen Terminologie. Spencer kodifiziert das Strukturierungsprinzip des Militärischen als •religion of enmity«, das des Industriellen als »religion of amity«, 62 und er projiziert beide Begriffe auf seine historische Folie: »lt would clear up our ideas about many things, if we distinctly recognized the truth that we have two religions. Primitive hurnanity has but one. The humanity of the remote future will have but one. The two are opposed; and we who live midway in the course of civilization have to believe both. These two religions are adapted to two sets of social requirements alien in their natures. The one set is supreme at the beginning, the other set will be supreme at the end; and a compromise has to be maintained between them during the progress from the beginning to end. On the one band, there must be social self-preservation in face of extemal enemies. On the other band, there must be co-operation among fellow-citizens, which can exist only in proportion as fair dealing creates mutual trust«. 63 Bevor wir jedoch an die Explikation des theologischen Bezugsrahmens Spencers gehen, ohne die ein Verständnis seines Werkes überhaupt nicht möglich ist, soll zunächst dessen Transformation der dritten Hobhesseben Kategorie erläutert werden.

3. Das funktionale Äquivalent von »Staat.. Welches funktionale Äquivalent hat Spencer zufolge an die Stelle von Hobbes' Begriff des Staates zu treten? Spencer ist in diesem Punkt in terminologischer Hinsicht am wenigsten präzise. Mal spricht er - die bereits in der damaligen Philosophie übliche systematische Differenzierung von Staat und Gesell-

62 Spencer, The study ofsociology, S. 174, 292. 63 Spencer, The study ofsociology, S. 174.

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schaft offensichtlich suspendierend64 - ebenfalls von •the State«, 65 an anderer Stelle von •the social state«. 66 Die dritte und letztlich wohl gültige Begriffswahl lautet schlicht •society«. 67 Doch ist diese terminologische Unklarheit von nachrangiger Bedeutung, allein schon deswegen, weil, wie wir ihm letzten Kapitel sahen, Hobbes selbst die Begriffe Staat und (bürgerliche) Gesellschaft synonym gebraucht. 68 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang vielmehr, daß Spencer seine Begriffe state und society als historisch-prozessurale entwickelt. Referiert Hobbes' Staatsbegriff auf ein fixes, punktuelles und gleichsam transhistorisches Gebilde, so kommt es Spencer zunächst darauf an, eine Kategorie zu schöpfen, die die Entwicklung vom Militärischen zum Industriellen auszudrücken in der Lage ist. State und society sollen gewissermaßen das Medium darstellen, in dem sich der Veränderungsprozeß vom Militärischen zum Industriellen vollziehen kann. Die Begriffe referieren demzufolge auf ein zeitliches Kontinuum, das sich von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt und je nach dem Grad der Entwicklung des vorherrschenden Strukturmusters nach militärisch und industriell differenziert werden kann. Mit anderen Worten, das zwischen den beiden Polen des Militärischen und Industriellen sich aufspannende Kontinuum mit seinen •Ablagerungen der Entwicklungsbewegung«69 läßt sich einteilen •into the predominantly militant and the predominantly industriak 70 Solchermaßen zwischen dem Militärischen in der Vergangenheit und dem Industriellen in der Zukunft verortet, können wir society, das sei der Logik von Spencers Gedankenführung folgend hinzugefügt, als Gegenwart bezeichnen - »We who live midway in the course of civilization«. 7 1 Ein Schaubild soll diesen Zusammenhang veranschaulichen.

64 Vgl. hierzu z.B. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Heller, "Die Ent65

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stehung der deutschen Staatssoziologie", S. 6f sowie Angermann, "Das »Auseinandertreten von Staat und Gesellschafte im Denken des 18. Jahrhunderts" . Spencer, Social statics, S. 250. Spencer, Social statics, S. 233, 235. Spencer, The principles ojsociology, Bd. 1, S. 8ff. Vgl. Hobbes, Vom Barger, S. 128. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 367. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 538. Spencer, The study ojsociology, S. 174.

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Schaubild 6

Industrial

Mll1tant

Es ist diese historisch-proz.essurale Auffassung von state und society - der Einfachheit halber soll im folgenden nur noch von society die Rede sein - als einem Kontinuum, die in der Theorie Spencers weiterhin die Basis einer Konkretion auch im Bereich der dritten Kategorie bildet. Das Kontinuum society soll sich nicht nur abstrakt nach der mehr oder weniger ausgeprägten Dominanz der jeweiligen Strukturprinzipien des Militärischen und des Industriellen bestimmen lassen. Vielmehr sollen nun auch konkrete Typen von society mit diesen Begriffen bezeichnet werden können- »those in which the organization for offence and defence is most largely developed, and those in which the sustaining organization is most largely developed«. 72 Indem Spencer den Begriff society auf diese Weise an die jeweiligen konkret-empirischen Enden der Kategorien des Militärischen und des Industriellen anknüpft, ermöglicht er nicht nur dessen Verwendung im Plural, sondern auch eine Klassifizierung konkreter Gesellschaften, je nach dem »relative preponderancec73 des Militärischen oder Industriellen, in »militant societies« und »industrial 72 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 538. 73 Fletcher, Themaking ofsociology, Bd. 1, S. 276.

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societes«. 74 Es ist wichtig, in diesem Kontext zu betonen, daß - abgesehen von den polaren Grenzen des Kontinuums - gilt: •both regulating and sustaining systems always existed in some conjunction; both militant and industrial aspects existed in some combination in all societies«. 75 Mit dieser Formulierung macht Fleteher darauf aufmerksam, daß sich wie im Falle von Hobbes' abstraktem Staatsbegriff in Spencers historisierten und konkretisierten societies zwei Strukturmuster wechselseitig durchdringen. Egoismus und Altruismus, Feindschaft und Freundschaft, menschliche und göttliche Vernunft treffen aufeinander, damit soziale Ordnung entstehen kann. In dieser »bewußten Anwendung beider Prinzipien« erkennt auch Kellermann einen »Kompromiß«, da im voranschreitenden Entwicklungsprozeß der societies •weder permanenter Krieg aller gegen alle wie ehemals herrschen noch ein industrieller Frieden wie in der Zukunft sein könne«. 76 Tatsächlich drückt Spencers Begriff des Kompromisses exakt jene gleichzeitige Anwesenheit zweier an sich heterogener Prinzipien aus, die an die spezifische Entstehungssituation der Robbessehen Theorie zu Beginn der Neuzeit und an das theoretische Erbe der Stoa erinnert. 77 Über diese erste Bestimmung von society, Medium des Entwicklungsprozesses vom Militärischen zum Industriellen zu sein, hinausgehend, stellt Spencer im ersten Band seiner Principles of sociology die grundsätzliche, auf jene •controversy between nominalism and realism« zielende Frage: ,.What is a society?c78 Bei der Beantwortung dieser Frage entschließt er sich ohne zu zögern, die Auffassung, society sei •but a collective name for a nurober of individuals«, abzulehnen - gälte dieser nominalistischen Sichtweise zufolge doch: »the units of a society alone exist, while the existence of the society is but verbal«.79 Spencer möchte vielmehr im Sinne des Realismus »society as a thing« betrachten, denn »the constant relations among its parts make it an entity«. 80 Und er formuliert in dieser Hinsicht pointiert: ,.The arrangement, 74 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 537ff sowie Spencer, The principles of sociology, Bd. 2, S. 568ff, 603ff. Zu Spencers Klassifizierung von Gesellschaften nach militärisch und industriell sowie nach deren »degree of composition« vgl. auch Fletcher, Themakingof sociology, Bd. 1, S. 276ff und Turner, Herherr Spencer, S. 92ff. 75 Fleteher, The making of sociology, Bd. 1, S. 282. 76 Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung, S. 82. 77 Vgl. hierzu auch Spencer, The study of sociology, S. 174. 78 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 435. 79 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 435. 80 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 436. Spencers Begriff Entität ist möglicherweise Mill entliehen; vgl. dazu Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 4lf. Vgl. in diesem Kontext auch Stark, "Herbert Spencer's three sociologies", S. 516: •This nominalism, this defmition of society as a multiplicity, this insistence that society is in the last analysis merely a word, a linguistic fiction , appears to

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temporary in the one case, is permanent in the other; and it is the permanence of the relations among component parts which constitutes the individuality of a whole as distinguished from the individualities of its parts«. 8! Spencer arbeitet also wie seinerzeit Hobbes mit dem aus der Stoa stammenden Paradigma vom Ganzen und seinen Teilen. Aber damit nicht genug. Um eine weitere Qualifizierung von society als Entität vornehmen zu können, schlägt Spencer vor, die konstanten Relationen ihrer Bestandteile mit den konstanten Relationen von Teilen anderer Entitäten zu vergleichen: »Between a society and anything eise, the only conceivable resemblance must be one due to parallelism of principle in the arrangement of components«. 82 Nun existieren in Spencers Augen vor allem zwei Klassen von Aggregaten, mit denen man das soziale Aggregat vergleichen kann: »the inorganic and the organic«, und von daher stellt sich ihm das Folgeproblem: •Are the attributes of a society in any way like those of a not-living body? or are they in any way like those of a living body?«83 Spencer verwirft die erste Möglichkeit und fordert eine eingehende Klärung der konstanten Relationen zwischen den Teilen lebendiger individueller Körper in ihrer Affinität zu denen lebendiger sozialer Körper. Die Affinität zu Hobbes dürfte hier klar zu Tage liegen. Dieser verstand sein Drittes ja ebenfalls als eine (bürgerliche) ,. Person«, 84 die sich - wie dem Titelkupfer des Leviathan anzusehen ist - aus einzelnen, identifizierbaren Teilen zusammensetzt und auf diese Weise ein Ganzes bildet. Daß Hobbes den Leviathan darüber hinaus einen sterblichen Gott nennt, 85 verstärkt noch den Eindruck, dieser habe seine Konzeption ebenfalls mit einer Organismusanalogie im Hinterkopf entwickelt. Spencer selbst hat Hobbes jedenfalls in dieser Richtung interpretiert. In seinem Aufsatz "The social organism" referiert er auf den Leviathan, dessen Grundkonstruktion auf einer angenommenen Parallelität von Gesellschaft und menschlichem Körper beruhen soll: »And Hobbes carries this comparison so far as actually to give a drawing of the Leviathan - a vast human-shaped figure, whose body and limbs are made up of multitudes of men«. 86 Wiewohl Spencer diese Parallelschaltung zu wenig raffiniert deucht, gesteht er doch,

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him (Spencer; d. Verf.) entirely erroneous. No , we must plump for the other alternative. We must say that society is an entity, a tangible reality, and only if we take this view are we in accord with the facts«. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 435. Spencer, The principles ojsociology, Bd. 1, S. 436. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 436. Hobbes, Vom Bürger, S. 128. Vgl. Hobbes, Leviathan or the matter, forme and power of a Commonwealth ecclesiasticall and civil, S. 112. Spencer, Essays, Bd. 1, S. 270; vgl. dazu auch Spencer, The principles ojsociology , Bd. 1, S. 578ff.

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»these speculations have considerable significance«. 87 Der Ähnlichkeit nämlich, die Hobbes mit primitiven Mitteln zwischen der Gesellschaft und dem menschlichen Körper darstellen konnte, eigne eine gewisse Evidenz; sie weise auf gute Gründe hin ,.for suspecting that some analogy exists ... since early ideas are usually but vague adumbrations of the truth. Lacking the great generalizations of biology, it was . . . impossible to trace out the real relations of social organizations to organizations of another order. We propose here to show what are the analogies which modern science discloses«. 88 Die erste Annahme, die Spencer im Rahmen der Diskussion seiner These »A society is an organism« einführt, besagt, daß das Moment des Wachstums - »growth« -den »living bodies and societies« gemein wäre: »Many organisms grow throughout their lives; and the rest grow throughout considerable parts of their Jives. Social growth usually continues either up to times when the societies divide, or up to times when they are overwhelmed«. 89 Zwar sind die Primitiven, etwa die Cayaguas, Spencer zufolge »SO little social that "one family Jives at a distance from another"c. 90 Doch fOrdern, wie erinnerlich, höhere und andere Gefühle ein Miteinander. In Spencers Augen nimmt das gesellschaftliche Wachstum seinen Anfang bei Paaren, Familien oder »small wanderlog hordesc91 : »We habe Wood-Veddahs living sometimes in pairs, and only now and then assembling; we have Bushmen wanderlog about in families, and forming larger groups but occasionally; we have Fuegins clustered by the dozen or the score. Tribes of Australians, of Tasmanians, of Andamanese, are variable within the Iimits of perhaps twenty to fifty«. 92 Günstige Einflüsse der Umwelt, wie etwa fruchtbare Böden, führen dann allerdings, indem sie eine Permanenz des Zusammenseins begünstigen, zur Bildung von ,.Jarger social aggregatesc. 93 Bei diesem Vorgang, den Spencer als •massing of groupsc94 bezeichnet, handelt es sich um einen Prozeß, der •from simple groups to compound groups, from compound groups to doubly compound ones« verläuft und an dessen Ende Spencer die hocbaggregierten »civilized nations«95 verortet.

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Spencer, Essays, Bd. 1, S. 271. Spencer, Essays, Bd. 1, S. 272. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 437. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 459f. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 451. Spencer, The principles of sociology, Bd. 1 , S. 452. Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 452. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 582. Fletcher, Themaking ofsociology, Bd. 1, S. 277ff; vgl. hierzu auch Spencer, The principles of sociology, Bd. l, S. 537ff.

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Über diese Annahmen hinausgehend, bemerkt Spencer, daß wie alle »living bodies« auch •social bodies« nicht nur der Größe ~ •sizec - nach, sondern auch der Struktur nach wachsen: •while they increase in size they increase in structure. Like a low animal, the embryo of a high one has few distinguishable parts; but while it is acquiring greater mass, its parts multiply and differentiale. lt is thus with a society. At first the unlikenesses among its groups of units are inconspicuous in nurober and degree; but as population augments, divisions and sub-divisions become more numerous and more decided. Further, in the social organism as in the individual organism, differentiations cease only with that completion of the type wbich marks maturity and precedes decay... 96 Mit der Entwicklung von relativ kleinen zu größeren Gruppierungen geht Spencer zufolge also eine strukturelle Differenzierung einher, wobei »the unlikenesses of parts increase. The social aggregate, homogeneous when minute, habitually gains in heterogenity along with each increment of growth«. 97 Für Spencer steht es außer Frage, daß •like parts being perma~ nently held together«, die Bedingung der Möglichkeit von Differenzierung überhaupt ist. Die erste echte strukturelle Differenzierung erblickt Spencer in der Ausbildung von »chieftainship«: »In the lowest tribes this is rudely represented only by the contrast in status between the sexes«. 98 Während es sich bei kleinen Horden noch um »headless clusters« handelt, wird mit fortschreitender Entwicklung - über die Stufen •occasional headsbip, vague and unstable headship, stable headship«99 ~ eine •ruling agency.. 100 ausdifferenziert, die ihren Charakter verändert von einer anfänglichen Despotie (das Militärische) zu einer hinkünftigen Idealform (das Industrielle), welche in ihrer näheren Ausgestaltung zweifelsohne dem liberalen Nachtwächterstaat abgeschaut ist.1°1 Spencer begreift das sich vom Homogenen zum Heterogenen vollziehende strukturelle Wachstum als Moment eines umfassenden Prozesses, den er Evolution nennt: •The transformation here illustrated, is, indeed, an aspect of that transformation of the homogeneous into the heterogeneous which everywhere characterizes evolution ... it characterizes the evolution of individual organisms and of social organisms«.102 96 Spencer, The principles ofsociowgy, Bd. 1, S. 437f. 97 Spencer, The principles of sociowgy, Bd. 1, S. 459. 98 Spencer, The principles ofsociowgy, Bd. 1, S. 460. 99 Fletcher, Themaking ofsociowgy, Bd. 1, S. 279. 100 Spencer, The principles ofsociowgy, Bd. 1, S. 460. 101 Spencer, Social statics, S. 249f. Plessner, "Der Weg der Soziologie in Deutschland", S. 192 bemerkt ebenfalls, daß von Spencer, •wie es zur Epoche des "early victorian" paßt, die offene Welt des Freihandels als befriedende Macht« verstanden wird. 102 Spencer, The principles of sociowgy, Bd. 1, S. 465. Auf den Umstand, •that during its development each organism passes from a state of homogeneity to a state

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Der Evohttionsprozeß manifestiert sich Spencer zufolge aber nicht nur auf den Ebenen von size und structure, sondern auch auf der funktionalen Ebene: •progressive differentiation of structures is accompanied by progressive differentiation of functions«.IOJ Hören wir diesbezüglich Spencer etwas ausführlicher: •The divisions ... which arise in a developing animal, do not assume their major and minor unlikenesses to no purpose. Along with diversities in their shapes and compositions go diversities in the actions they perform: they grow into unlike argans having unlike duties. Assuming the entire function of absorbing nutriment at the same time that it takes on its structural characters, the alimentary system becomes gradually marked off into contrasted portions; each of which has a special function forming part of the generat function. A limb, instrumental to locomotion or prehension, acquires divisions and subdivisions which perform their leading and their subsidiary shares in this office. So is it with the parts into which a society divides. A dominant class arising does not simply become unlike the rest, but assumes control over the rest; and when this class separates into the more and the less dominant, these, again, begin to discharge distinct parts of the entire control. With the classes whose actions are controlled it is the same. The various groups into which they fall have various occupations: each of such groups also, within itself, acquiring minor contrasts of parts along with minor contrasts of duties«,I04 Tatsächlich geht mit dem strukturellen •increase of heterogeneity«IOS eine funktionale Differenzierung einher. So ist beispielsweise in einer führerlos umher wandemden Horde jeder der Teile •at once warrior, bunter, and maker of bis own weapons, hut, etc.«, 106 was Spencer schließen läßt, daß in •low aggregates, both individual and social, the actions of the parts are but little dependent on one another«. 107 Mit zunehmender Entwicklung, die durch einen •change from homogeneaus to heterogeneous«I08 gekennzeichnet ist, übernehmen jedoch die Teile - etwa die der civilized nations unterschiedliche Aufgaben, 109 so daß sie immer mehr aufeinander verwiesen werden, und es gilt deshalb: •in developed aggregates of both kinds, that combination of actions which constitutes the life of the whole, makes possible

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of heterogeneity•, weist Spencer immer wieder hin; vgl. etwa Spencer, First principles, S. 270,291, 449 oder Spencer, Essays, Bd. 1, S. 19ff. Spencer, Theprinciples ofsociology, Bd. 1, S. 438. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 438f. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 461. Spencer, Theprinciples ofsociology, Bd. 1, S. 474. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 475. Spencer, First principles, S. 275. Vgl. dazu auch in historischer Perspektive Spencer, First principles, S. 276ff.

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the component actions which constitute the live of the partsc. 110 Betrachtet Spencer demzufolge bei individuellen und sozialen Körpern diese eben skizzierten »unlike actions of unlike parts« 11 1 als Funktionen, so ist es ihm dabei wichtig hervorzuheben, daß Evolution nicht einfach zu einer einseitigen funktionalen Differenzierung führt. Sowohl im Falle individueller, d.h. pflanzlicher, tierischer und humaner Körper, als auch in dem sozialer Körper gilt vielmehr: »the changes in the parts are mutually determined, and the changed actions of the parts are mutually dependent. In both, too, this mutuality increases as the evolution advances«.112 Mit anderen Worten, es erwachsen »definitely-connected differences - differences such that each makes the other possiblec. 113 Spencer spricht in diesem Zusammenhang von einer »reciprocal aid«, 11 4 welche sich die funktional differenzierten parts lebender Körper wechselseitig angedeihen lassen, so daß die einzelnen Komponenten voneinander abhängig werden und auf diese Weise ein Ganzes bilden. Der individuellen Körper eingedenkend, bemerkt Spencer mit Blick auf soziale Körper, »the mutually-dependent parts, living by and for one another, form an aggregate constituted on the same general principle as is an individual organism«. 115 Auf dieser Grundlage schließt Spencer auf einen doppelten Charakter der Evolution und behauptet, der Differenzierungsprozeß werde auf seinen sämtlichen Ebenen von einem Integrationsprozeß begleitet, 116 und zwar »simultaneouslyc.11 7 Wie Otto Gaupp zu Recht bemerkt, konsolidieren sich die sich entwickelnden Teile eines Aggregates immer mehr und differenzieren sich zu gleicher Zeit mehr .und mehr voneinander. 118 War Spencer bis zu diesem Punkt der Entwicklung seines Begriffes society strikt in Analogie zum individuellen Organismus verfahren, so möchte er diese Analogiebildung auch bei der weiteren Qualifizierung des Prinzips der besagten »mutual dependence« von Komponenten sozialer Entitäten beibehalten. Von daher erklärt sich seine Wahl des Begriffs der Arbeitsteilung zur nä110 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 475. 111 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 439. 112 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 439. Vgl. hierzu auch Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 450: »As it (society; d. Verf.) grows, its parts become unlike: it exhibits increase of structure. The unlike parts simultaneously assume activities of unlike kinds. These activities are not simply different, but their differences are so related as to make one another possible«. 113 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 439. 114 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 450. 115 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 450. 116 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 438. 117 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 584. 118 Vgl. Gaupp, Herbert Spencer, S. 56.

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heren Bezeichnung jenes die beiden Aspekte Differenzierung und Integration umfassenden Prinzips der Entwicklung von society. Denn dieser Begriff findet sich sowohl in der Biologie als auch in der sogenannten Politischen Ökonomie: •This division of labour, first dwelt on by political economists as a social phenomenon, and thereupon recognized by biologists as a phenomenon of living bodies, which they called the "physiological division of labour", is that which in the society, as in the animal, makes it a living whole. Scarcely can I emphasize enough the truth that in respect of this fundamental trait, a social organism and an individual organism are entirely alike«.119 Tatsächlich glaubt Spencer, mit dem Begriff der Arbeitsteilung das evolutionäre Grundprinzip von Differenzierung und Integration umschreiben zu können, das, wiewohl anfänglich nur schwach entwickelt - Spencer denkt hier insbesondere an die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern -, 120 bereits in primitiven Gesellschaften als Basis sozialer Ordnung gedient hat und das in seiner optimalen Umsetzung auch als Grundlage zukünftiger Gesellschaften wird dienen können: •each aids all, and all aid each with increasing efficiency; and the total activity we call life, individual or national, augments«. 12 1 Es ist auch in diesem Kontext hilfreich, Spencers Ausführungen an Hobbes' Theorie rückzubinden. Spencer spricht nämlich ganz bewußt vom Vertragsgedanken als der Idee, die der Arbeitsteilung zugrundeliege. Im Falle von Organismen konstituiere die Arbeitsteilung eine Art •physiological contract«, 122 und diese Metapher soll sich Spencer zufolge auch auf den superorganischen Bereich übertragen lassen, um auf diese Weise die Rede vom Gesellschaftsvertrag zu legitimieren. Mit anderen Worten, Arbeitsteilung und Vertrag sind -jedenfalls in den Augen Spencers - zwei Seiten ein und derselben Medaille. Nun ist es in diesem Zusammenhang, in dem das biologische wie ökonomische Prinzip der Arbeitsteilung zur Diskussion steht, einigermaßen frappierend zu sehen, daß Spencer bei dessen Einführung in den Principles of so119 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 440. Zur •physiological division

of labour« sowie zur Analogie von •physiological« und •sociological division of labour« vgl. auch Spencer, Essays, Bd. 1, S. 279 sowie Spencer, The data of ethics, S. 146f. Zum Prinzip der Arbeitsteilung im allgemeinen vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 3, S. 335ff. 120 Vgl. etwa Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 460: •the men, having unchecked control, carry on such external activities as the tribe shows us, chiefly in war; while the women are made drudges who perform the less skilled parts of the process of sustentation«. 121 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 477. Vgl. hierzu auch treffend Wiese, Zur Grundlegung der Gesellschaftslehre, S. 44: •Jede über das einfachste Stadium hinausgehende Entwicklung weist den Vorgang zunehmender Arbeitsteilung, einen Differenzierungsprozeß auf, der sich nicht nur auf dem Gebiete der Soziologie und Biologie, sondern im abgeschwächten Maße sogar in der Astronomie und Geologie beobachten läßt«. 122 Spencer, The data of ethics, S. 144.

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ciology weder biologische noch ökonomische Theoreme heranzieht. Die ihm bekannten ökonomischen Theoretiker der Arbeitsteilung, wie etwa Smith, Comte oder Mill, werden nicht einmal genannt; in puncto Biologie ist es nicht viel anders, auch Charles Darwin fmdet keine Erwähnung. Ja mehr noch, Spencer verzichtet in seinen Principles of sociology zur Gänze auf eine weitere Klärung des angesprochenen begrifflichen Zusammenhangs, um sich zunächst einer Klassifizierung von social types zuzuwenden, 123 bevor er dann überleitet zu einer Behandlung der domestic institutions, 124 der ceremonial institutions, 125 der political institutions, 126 schließlich der ecclesiastical institutions, 127 der professional institutions 128 und der industrial institutions . 129 Nach den Gründen für diese Vorgehensweise muß freilich nicht lange gesucht werden. Sie sind darin zu sehen, daß erstens Spencers Principles of sociology lediglich einen Teil seines umfänglichen Werkes ausmachen, eine Klärung mithin an anderer Stelle bereits durchgefiihrt worden ist; und daß zweitens Spencer ein sozusagen über Biologie und Ökonomie stehendes, die Annahmen beider Disziplinen gleichwohl integrierendes Gedankenmuster entdeckt hat, mit dessen Hilfe er den Zusammenhang von Evolution, Arbeitsteilung, Individuum und Gesellschaft adäquater zum Ausdruck bringen kann. Tatsächlich findet sich die in den Principles of sociology vermißte Klärung des angesprochenen Zusammenhangs bereits in Spencers Frühwerk, der 1850 erstmals erschienenen Untersuchung Social statics.130 Und in diesem Werk stellt Spen-

123 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 537ff; vgl. hierzu auch Turner/Beeghley, The emergence ofsociological theory, S. 92ff. 124 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 589ff. 125 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 2, S. lff. 126 Vgl. Spencer, The principles ofsociology , Bd. 2, S. 227ff. 127 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 3, S. lff. 128 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 3, S. 177ff. 129 Vgl. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 3, S. 319ff. 130 Daß der Titel von Spencers Frühwerk an Comte gemahne, bemerkt Gaupp, Herbert Spencer, S. 73f, der einen Einfluß des Franzosen jedoch für diesen Zeitpunkt für unwahrscheinlich hält: •Spencer hatte s~~n erstes größeres Werk ... Social statics genannt, und da Comte als erster die Ubertragung der Ausdrücke "Statik" und "Dynamik" aus der Mechanik in die Soziologie vorgenommen hat, lag natürlich der Gedanke nahe, daß Spencer schon sein erstes Werk unter dem Einfluß des französischen Philosophen geschrieben habe. Spencer hat uns aber selbst mitgeteilt, daß Anfang der fünfziger Jahre, wo er sich mit diesem Werk trug, Comte nicht mehr als ein bloßer Name für ihn war, und daß er den Ausdruck aus John Stuart Mills Grundslitze der politischen Ökonomie übernommen hat, ohne zu wissen, daß Mill selbst ihn von Comte geborgt hatte. Daher kommt es auch, daß der Ausdruck bei Spencer eine ganz andere Bedeutung hat als bei Comte, während das Werk selbst, das ihn als Titel trägt, beinahe in allen Punkten das gerade Gegenstück der Comteschen Lehren ist«. Zum selben Schluß gelangt auch Peel, Herbert Spencer, S. 82ff; vgl. zum Verhältnis Comte/Spencer auch Eisen,

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cerauch die Gedanken vor, welche die Aussagen der Biologie und Ökonomie auf sich vereinen. Auf dieser erweiterten Textgrundlage wird nun einsichtig, daß Spencers Ausführungen zu Evolution, Arbeitsteilung, Individuum und Gesellschaft in einem umfassenden philosophischen Begriff des Lebens gründen, was meines Wissens von der - ohnehin recht spärlichen - Rezeption bislang überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Wie wir gesehen haben, eröffnet Spencer die Entwicklung seines Begriffs von Gesellschaft mit der Differenzierung von not-living bodies und living bodies.l31 Er bestimmt seine Auffassung des Lebens aber nicht in Differenz zu der des Todes, leben nicht in Abhebung von sterben oder nicht mehr leben. Die Begriffe, die er einander gegenüberstellt, lauten vielmehr livinglinanimate bzw. organiclinorganic. Mit Leben wird demnach auf einen Bereichreferiert, der - strenggenommen -jenseits des anorganischen, unbelebten Terrains der Metalle, Kristalle und sonstigen geologischen Entitäten beginnt bei den Organismen, wie wir sie in einfachen Pflanzen und Tieren antreffen. Obschon Spencer erkennt, daß eine strikte Grenzziehung zwischen dem Anorganischen und Organischen im Grunde nicht möglich ist - der Begriff der Evolution selbst suggeriert ja einen gleichsam fließenden Übergang -, versucht er doch, präzise Abgrenzungskriterien anzuführen. So räumt er in diesem Zusammenhang zwar ein, daß sich die Vorstellung von Wachstum auch bei »inorganic aggregates« finden lasse: »Some of these, as crystals, grow in a visible manner; and all of them, on the hypothesis of evolution, have arisen by integration at some time or other«. 132 Doch bestehe ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich des Größenwachstums zwischen »social and organic aggregates« auf der einen Seite und »inorganic aggregates« auf der anderen Seite: »Nevertheless, compared with things we call inanimate, living bodies and societies so conspicuously exhibit augmentation of mass, that we may fairly regard this as characterizing them both«. 133 Es ist also zunächst einmal dieser die Größe betreffende Punkt, in dem sich Gesellschaften und die gesamte »organic world« in substantieller Weise von der »inorganic world«1 34 unterscheiden. Auf der Ebene struktureller Differenzierung macht Spencer ebenfalls zunächst ein Zugeständnis, um es dann sofort wieder zu entkräften: ,.Though in inorganic aggregates also, as in the entire Solar System and in each of its members, structural differentiations accompany the integrations; yet these are so relatively slow, and so relatively simple, that they may be disregarded. The multiplication of contrasted parts in bodies politic and in living "Herbert Spencer and the spectre of Comte« sowie Tumer/Beeghley, The emergence ofsocio/ogical theory , S. 61f. 131 Vgl. Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 1, S. 436. 132 Spencer, The principles ofsocio/ogy, Bd. 1, S. 437. 133 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 437.

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bodies, is so great that it substantially constitutes another common character which marks them off from inorganic bodies«. 135 Der bedeutendste Unterschied zwischen dem Anorganischen und dem Organischen tritt freilich dann zutage, wenn man den funktionalen Aspekt hinzunimmt. Während im organischen Bereich mit der strukturellen Differenzierung eine funktionale einhergeht, trifft dies für den anorganischen Bereich nicht zu: •differences of structures as slowly arise in inorganic aggregates, arenot accompanied by what we can fairly call differences of function«. 136 Spencer bemerkt hierzu, daß die Komponenten anorganischer Aggregate auf eine Weise verbunden sind, •that one may change greatly without appreciably affecting the rest«. 137 Im organischen Bereich hingegen biete sich ein vollkommen anderes Bild: ,.Jt is otherwise with the parts of an organic aggregate or of a social aggregate. In either of these, the changes in the parts are mutually determined, and the changed actions of the parts are mutually dependent. In both, too, this mutuality increases as tbe evolution advances«. l38 Es ist demnach hauptsächlich das Vorhandensein funktionaler Differenzierung, was die di.fferentia speci.fica des Organischen und damit das wesentliche Charakteristikum von Leben in Spencers Augen ausmacht. 139 Diese Ausführungen Spencers lassen sich nun in zweierlei Hinsicht näher bestimmen. Erstens wird Leben von Spencer als prozessuraler Begriff eingeführt, um einen graduell abstufbaren, steigerungsfähigen Hergang zu bezeichnen. Es ist in Spencers Schriften wiederholt die Rede davon, daß die Lebendigkeit eines Organismus bzw. einer Gesellschaft mit fortschreitender funktionaler Differenzierung wächst: »the vitality increases as fast as the functions become specialized«. 140 Simplen, kaum entwickelten Organismen kann demzufolge weniger Lebendigkeit zugebilligt werden als den •higher organic 134 Spencer, 135 Spencer, 136 Spencer, 137 Spencer,

The principles ofsociology, Bd. 1, S. 437. The principles ofsociology, Bd. 1, S. 438. The principles of sociology, Bd. 1, S. 439. The principles of sociology, Bd. 1, S. 439. Vgl. weiterhin Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 473f: •The lowest animal-aggregates are so

constituted that each portion, similar to every other in appearence, carries on similar actions; and here spontaneous or artificial separation interferes scarcely at all with the life of either separated portion. When the faintly-differentiated speck of protoplasm forming a Rhizopod is accidentally divided, each division goes on as before«. 138 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 439. 139 Daß Spencers Theorie des Lebens dem heutigen Stand der Forschung nicht standhält - obschon sie beispielweise noch von Schlick, Grundzüge der Naturphilosophie, S. 59 zur Bestimmung der Kriterien des Lebens herangezogen "Y.\Jrde -, dürfte außer Frage stehen; zum Stand der aktuellen Forschung vgl. den Uberblick von Horgan, "In the beginning ...". 140 Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 477. 8 Wagner

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entities«. 141 Zweitens findet der Begriff des Lebens sowohl im Hinblick auf den individuellen wie sozialen Organismus als Ganzem als auch für beider Teile Verwendung. Spencer spricht denn auch von •the aggregate Iife« und von »the lives of components«, 142 wobei diese in einem intrinsischen Zusammenhang mit jenem stehen sollen. Zur weiteren Präzisierung dieser beiden Punkte, d.h. des Charakters von Leben als etwas Steigerbarem wie auch der »relation between the Jives of the units and the life of the aggregate«, 143 gebraucht Spencer die Vorstellung zunehmender Individualisierung. Wurde vorne bereits darauf hingewiesen, daß Spencers Auffassung zufolge im voranschreitenden Entwicklungsprozeß des Organischen die Permanenz der Beziehungen zwischen den Teilen eines Ganzen die Individualität dieses Ganzen im Unterschied zur Individualität der Teile konstituiert, 144 so läßt sich nun hinzufügen, daß in Spencers Augen Leben überhaupt und prinzipiell als eine •tendency to individuation« 145 begriffen werden kann. Mit zunehmender funktionaler Differenzierung - i.e. Lebendigkeit - wird beides, die Teile wie auch das Ganze eines Organismus, immer individueller. Um diesen Schritt zu begründen, gibt Spencer ein Beispiel, das im Eingedenken der Problematik eines gleichsam fließenden Übergangs vom Anorganischen zum Organischen und auf der Grundlage der Bestimmung der differentia specifica des Organischen als funktionale Differenzierung diesen Individuationsprozeß exemplifizieren soll: •Restricting our illustrations to tbe animal kingdom, and beginning where the vital attributes are most obscure, we have, for instance, in tbe Porifera, creatures consisting of nothing but amorphous semifluid jelly, supported upon bomy fibres (sponge). This jelly possesses no sensitiveness, has no organs, absorbs nutriment from the water which permeates its mass, and, if cut in pieces, Jives on, in each part, as before. So that this "gelatinous film", as it has been called, shows little more individuality than a lump of inanimate matter; for, like that, it has no greater completeness than the pieces it is divided into. In some compound polyps which stand next ... the progress towards individuality is manifest; for there is now distinction of parts. To the gelatinous mass with canals running through it, we have superadded, in the Alcyonidae, a number of digestive sacks, with accompanying mouths and tentacles. Here is, evidently, a partial segregation into individualities. There is still complete community of nutrition, while each polyp has a certain independent sensitiveness and contracility«.146 141 142 143 144 145 146

Spencer, Social statics, S. 254. Spencer, Theprinciplesojsociology, Bd. 1, S. 442. Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 443. Vgl. hierzu Spencer, The principles ofsociology, Bd. 1, S. 435. Spencer, Social statics, S. 251. Spencer, Social statics, S. 252.

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In der Entwicklung von der Porifera zur Alcyonidae wird deswegen eine »greater individualityc 147 erreicht, weil mit der funktionalen Differenzierung erstens sich die einzelnen Komponenten des Organismus unähnlich werden und zweitens sich der Organismus in seiner Ganzheit von anderen als ein solcher allererst zu unterscheiden beginnt, mit der Konsequenz, daß er dadurch »more separate, more individuaJ«l48 wird. Demgegenüber kann, folgen wir Spencers Ausführungen, im Falle der Porifera strenggenommen noch gar nicht von Individualität gesprochen werden. Erst funktionale Differenzierung konstituiert ein Individuum und bringt auf diese Weise jene •total activity we calllifec 149 auf den Weg. Spencer ist weiterhin der Auffassung, dieser Individuationsprozeß sei »traceable throughout the whole range of animal lifec.l50 Im Menschen, in dessen Persönlichkeit und Selbstbewußtsein, finde die tendency to individuation dann zwar ihren (vorläufigen?) Höhepunkt: •In man we see the highest manifestation of this tendency. By virtue of bis complexity of structure, he is furthest removed from the inorganic world in which there is least individualityc. 151 Doch weise die Logik der Evolution eindeutig über den Menschen hinaus, denn die gesamte Entwicklung des Organischen müsse als »progress towards complete individuality«152 konzipiert werden. Daß diese Entwicklungslogik hin zu einer »most elaborate subdivision of labour« und dadurch zu einer »extremest mutual dependencec1 53 der Komponenten auch für den superorganischen Bereich des Sozialen gilt, dürfte außer Frage stehen: ,.The development of society, as weil as the development of man and the development of life generally, may be described as a tendency to individuatec.154 Auch in diesem Bereich lasse sich ein simultan verlaufender Prozeß von Differenzierung und Integration konstatieren, an dessen Ende sich die »highest individuation« mit der »greatest mutual dependencec1 55 verschränke: »Paradoxical thougb tbe assertion Iooks, tbe progress is at once towards complete separateness and complete union. But the separateness is of a kind consistent with the most complex combinations for fulfilling social wants; and the union is of a kind that does not hinder entire development of each personality.

147 Spencer, Social statics, S. 253 . 148 Spencer, Social statics, S. 254. 149 Spencer, The principles of sociology, Bd. 1, S. 471.

!50 Spencer, 151 Spencer, 152 Spencer, !53 Spencer, !54 Spencer, 155 Spencer, s•

Social statics, Social statics, Social statics, Social statics, Social statics, Social statics,

S. 254. S. 254. S. 250. S. 256. S. 268. S. 255.

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Civili.zation is evolving a state of things and a kind of character, in which two apparently conflicting requirements are reconciled«. 156 Um Spencers Begriff des Lebens noch schärfer fassen zu können, ist an dieser Stelle der Hinweis angezeigt, daß Spencer dieses Konzept von dem englischen Literaten und Philosophen Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) 157 übernimmt. 158 Spencer selbst macht in Social statics auf den Einfluß, den Coleridge in diesem Punkt auf ihn ausübte, 159 aufmerksam: »A theory of life developed by Coleridge has prepared the way for this generalization. "By life", says he, "I everywhere mean the true idea of life, or that most general form under which life manifests itself to us, which includes all other forms. This I have stated to be the tendency to individuation; and the degrees or in156 Spencer, Social statics, S. 255. An dieser Stelle sei schon an das zentrale Anliegen von Durkheims Dissertation Ober soziale Arbeitsteilung, S. 82 erinnert: ~Die Frage, die am Anfang dieser Arbeit stand, war die nach den Beziehungen zwischen der individuellen Persönlichkeit und der sozialen Solidarität. Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein? Denn es ist unwiderlegbar, daß diese beiden Bewegungen, wie gegensätzlich sie auch erscheinen, parallel verlaufen•. 157 Nicht zu verwechseln mit Samuel Coleridge-Taylor (1875-1912), der - laut Brockhaus -ein ~eng!. Negerkomponist• war. 158 Die Erforschung des Verhältnisses von Coleridge und Spencer stellt in der soziologischen bzw. gesellschaftstheoretischen wie auch in der Iiteraturwissenschaftlichen Literatur ein echtes Desiderat dar. Soweit ich sehen kann, wurde das Verhältnis in der Gesells